Inszenierung religiöser Differenzen: Das Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog [1 ed.] 9783737014557, 9783847114550

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Inszenierung religiöser Differenzen: Das Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog [1 ed.]
 9783737014557, 9783847114550

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Veröffentlichungen des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück

Band 12

Herausgegeben von Bülent Uçar, Martina Blasberg-Kuhnke, Rauf Ceylan und Andreas Pott

Die ersten vier Bände dieser Reihe sind unter dem Reihentitel »Veröffentlichungen des Zentrums für Interkulturelle Islamstudien der Universität Osnabrück« erschienen.

Anne D. Rüdel

Inszenierung religiöser Differenzen Das Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog

Mit 6 Abbildungen

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen bei V&R unipress. Überarbeitete Fassung der Dissertation »Inszenierung religiöser Differenzen. Das Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog« zur Erlangung des Doktorgrades des Fachbereichs Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück. Osnabrück 2021. © 2023 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5324 ISBN 978-3-7370-1455-7

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Das Theater Osnabrück und der interreligiöse Dialog 1.1 Fragestellung und Forschungssituation . . . . . . 1.2 Theater Osnabrück . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Perspektive und Methodik . . . . . . . . . . . . . 1.4 Überblick über die vorliegende Arbeit . . . . . .

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2. Theater und interreligiöser Dialog – Theoretische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Zum (Selbst-)Verständnis des Theaters . . . . . . . . . . . 2.1.1.1 Ansprüche und Erwartungen – Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und künstlerischer Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2 Theater und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Theater als Ort der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.1 Theater als Erfahrung des Anderen . . . . . . . . . . 2.1.2.2 Theater als Erfahrung von Differenz . . . . . . . . . 2.1.2.3 Theater als Ort der leiblichen Teilhabe . . . . . . . . 2.1.2.4 Dialog aus doppelter Distanz . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Zur theaterwissenschaftlichen Methodik . . . . . . . . . . . 2.1.3.1 Theatrale Verhältnisbestimmungen . . . . . . . . . 2.1.3.2 Zum Analyseverfahren der Arbeit . . . . . . . . . . 2.2 Interreligiöser Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Grundlagen des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Voraussetzungen des Dialogs . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Perspektiven des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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3. »Religiöse Differenzen« – Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 »Das Ebenbild« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Kontext der Aufführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Theaterfestival . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 »Transreligiöse Reibungsflächen« . . . . . . . . . . . 3.1.1.3 Schauplatz Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Analyse des Theatertextes – das Libretto . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Der Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Erstes Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3 Zweites Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4 Drittes Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.5 Exegetische Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Aufführungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.1 Situation der Aufführungen . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.2 Interpretationsansatz und Ausgangshypothese . . . 3.1.3.3 Einzelne Dominanten der Inszenierung . . . . . . . 3.1.3.4 Werkimmanente Darstellung der Religion(en) . . . 3.1.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Stadtprojekt »Nathan«: »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 »Nathan der Weise« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Kontext: Das Stadtprojekt »Nathan« . . . . . . . . . 3.2.1.2 Inszenierungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.3 Werkimmanente Darstellung der Religion(en) . . . 3.2.1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 »Urban Prayers Osnabrück« . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Kontext: Björn Bickers »Was glaubt ihr denn« . . . 3.2.2.2 Analyse des Theatertextes . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Inszenierungsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3.1 Urban Prayers Osnabrück I . . . . . . . . . 3.2.2.3.2 Urban Prayers Osnabrück II . . . . . . . . .

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2.2.1.3 Dialog als Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.4 Orte des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Theoretische Modelle des interreligiösen Dialogs . . . . 2.2.2.1 Religionstheologischer Pluralismus . . . . . . . . 2.2.2.2 Differenzhermeneutik und interreligiöser Dialog 2.2.2.3 Komparative Theologie – Wechselseitiges Lernen 2.3 Theater und Dialog als Begegnung mit dem Anderen . . . . .

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4. Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung . . . . . 4.1 Andere Perspektiven auf den Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Religionen auf der Bühne – eine Zusammenfassung . . . . . 4.1.2 Warum Nathan in Osnabrück scheitert – Kritik am Ideal der Vernunft und am religionstheologischen Pluralismus . . . . 4.1.2.1 Die Ringparabel als Beispiel pluralistischer Religionstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.2 Kritik an religionsübergreifenden Wertmaßstäben . . 4.1.2.3 Eine Absage an klassische religionstheologische Schemata? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Das Theater als »Instanz des Dritten« . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.1 Die »Instanz des Dritten« . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.2 Das Theater als »Instanz des Dritten« im interreligiösen Dialog? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Andere Themen des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2.2.3.3 Urban Prayers Osnabrück III . . . . . . . 3.2.2.4 Werkimmanente Darstellung der Religion(en) . . 3.2.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 »San Paolo« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Kontext des Musiktheaters . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.1 Ein Filmprojekt von Pier Paolo Pasolini . . . . . . 3.3.1.2 Pier Paolo Pasolini . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.3 Der heilige Paulus – ein Drehbuchentwurf . . . . . 3.3.1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Analyse des Theatertextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Inszenierungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 Interpretationsansatz und Ausgangshypothese . . 3.3.3.2 Einzelne Dominanten der Inszenierung . . . . . . 3.3.3.2.1 Bühnenraum und Bühnenbild . . . . . . . 3.3.3.2.2 Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.2.3 Szenenauswahl im Kontext des biblischen Paulusbildes . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.2.4 Konfliktkonstellationen . . . . . . . . . . 3.3.3.2.5 Musik und Sprachen . . . . . . . . . . . . 3.3.3.3 Werkimmanente Darstellung der Religion . . . . . 3.3.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.2.1.1 Zwischen Sinn und Wahrheit – eine religionswissenschaftliche und kulturphilosophische Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1.1 Zum Mythosbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1.2 Mythosbegriff und Religionen . . . . . . . . . 4.2.1.1.3 Sinn und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.2 Das Musiktheater »Das Ebenbild« als Mythos . . . . . 4.2.1.3 Mythos als Ressource – zwischen Wissenschaft und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.4 Mythos und interreligiöser Dialog . . . . . . . . . . . 4.2.2 Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Utopie als Gegenwelt – eine kulturwissenschaftliche Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.2 Utopie im Stadtprojekt Nathan . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3 Utopie und religiöse Hoffnung . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3.1 Eschatologie und Utopie in Christentum und Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3.2 Hoffnung und Gesellschaft bei Jürgen Moltmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3.3 Der »Geist der Utopie« bei Paul Tillich . . . . 4.2.2.3.4 Utopien in der arabisch-islamischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.4 Utopie als gesellschaftliche Ressource . . . . . . . . . 4.2.2.5 Utopie und interreligiöser Dialog . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Irritation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.1 Der Reiz der Verunsicherung . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.2 Zwischen Reflexion und Irritation – »San Paolo« . . . 4.2.3.3 Irritation als Ressource der Religion . . . . . . . . . . 4.2.3.3.1 »Radikaler und frömmer werden« . . . . . . 4.2.3.3.2 Leiden an der Wirklichkeit . . . . . . . . . . 4.2.3.3.3 »Stell dich auf und warne!« . . . . . . . . . . 4.2.3.4 Impulse für den interreligiösen Dialog . . . . . . . . . 4.2.4 Kooperative Übersetzungsprozesse zwischen säkularer Gesellschaft und den Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog . . . . 4.3.1 Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

»Es gibt keinen Frieden in der Welt, ohne den bewussten Einsatz der Anhänger der großen Religionen für den Weltfrieden«. Mit diesen Worten unterstreicht der Islamwissenschaftler Abdoljavad Falaturi die besondere Verantwortung der Weltreligionen für ein globales friedliches Miteinander. In unserer heutigen Zeit sind die Vertreterinnen und Vertreter der großen Religionen mehr denn je aufgefordert, die moralischen Ressourcen ihrer religiösen Traditionen für die gemeinsame konstruktive Bewältigung der vielfältigen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen fruchtbar zu machen. Der interreligiöse Dialog ist dabei Grundlage für die produktive Gestaltung religiöser Differenzen. Genau diesem Projekt widmet sich das Osnabrücker Graduiertenkolleg »Religiöse Differenzen gestalten – Pluralismusbildung in Christentum und Islam«. Im Rahmen dieses Kollegs werden in Kooperation der Institute für evangelische, katholische und islamische Theologie der Universität Osnabrück fünf Dissertationsprojekte mit interreligiösem Fokus nach dem Tandem-Prinzip betreut. Die Promovierenden erforschen dabei Fragestellungen an den Schnittstellen zwischen Theologie, Poesie, Moralphilosophie und vielen weiteren fachlich sowie gesellschaftlich relevanten Bereichen. Ein überaus erfolgreiches Resultat dieser religionsübergreifenden Zusammenarbeit, dessen Entstehung ich in der Rolle des Zweitbetreuers gemeinsam mit meinem Kollegen Prof. Dr. Gregor Etzelmüller begleiten durfte, ist die Dissertation von Frau Anne Danielle Rüdel. Sie war die erste Dissertation, die aus dem genannten Osnabrücker Graduiertenkolleg hervorgegangen ist. Unter dem Titel »Inszenierung religiöser Differenzen. Das Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog« geht sie der Frage nach, welche Impulse aus der säkularen Darstellung religiöser Differenzen, wie man sie am Osnabrücker Theater beobachten kann, für eine theologische Reflexion interreligiöser Begegnungen fruchtbar gemacht werden können. Hierfür untersucht sie ausgewählte Theaterstücke, wie beispielsweise »Nathan der Weise« oder »Urban Prayers Osnabrück«, welche zwischen 2016 und 2019 am Osnabrücker Theater aufgeführt worden sind. Mit ihrer wissenschaftlich fundierten und innovativen

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Vorwort

Forschungsarbeit trägt die Autorin zur Schließung einer klaffenden Forschungslücke an der Schnittstelle zwischen Theologie und künstlerischer Rezeption von Religion bei. Im Zuge ihrer interdisziplinären Analyse gelingt es ihr hervorragend, die Funktion des Theaters als Begegnungsstätte, dessen konstruktiv vermittelnde Rolle, in der es Forderungen der Gesellschaft an die Religion formuliert, sowie dessen Potenzial, Angehörigen verschiedener Konfessionen als Bühne zu dienen, zu erschließen. Die Relevanz des Osnabrücker Theaters für den interreligiösen Dialog wird besonders anhand der historischen Besonderheit der Stadt Osnabrück deutlich, welche im Westfälischen Frieden von 1648 in der Schlichtung eines verheerenden konfessionellen Konflikts eine Schlüsselrolle übernahm. Vor diesem Hintergrund ist zu hoffen, dass dieser historischen Verantwortung auch in unserer Zeit, etwa im christlich-muslimischen Dialog, Rechnung getragen wird. Forschungsansätze wie der hier vorliegende sind wichtige Schritte in diese Richtung. Die interdisziplinäre Arbeit von Frau Rüdel, die an der Schnittstelle zwischen Theologie und Theaterwissenschaft ansetzt und so Neuland erschließt, ist auch für die Islamische Theologie in Deutschland von besonderem Interesse. Schließlich ist das Ästhetische für Musliminnen und Muslime, etwa durch die prophetische Beschreibung Gottes als den Schönen, die Rhetorik, die melodische Rezitation und kalligrafische Darstellung des Korantextes, den musikalischen Ausdruck religiösen Erlebens in Form spirituellen Gesangs (nasˇ¯ıd), die harmonische und vielfältige Architektur der Gotteshäuser sowie weitere unterschiedliche Ausdrucksformen, eine theologisch verankerte und historisch gewachsene Dimension ihres religiösen Selbstverständnisses. Da das ästhetische Element des Islams jedoch in jüngster Vergangenheit – verglichen mit anderen Themengebieten – eine unverhältnismäßig geringe Beachtung erfuhr, sind interreligiös ausgerichtete Arbeiten mit theologischem Erkenntnisinteresse, welche für ästhetisches Erleben auf verschiedenen Ebenen sensibilisieren, als äußerst begrüßenswerte Anstrengungen zu erachten. Die vorliegende Forschungsarbeit und die Arbeiten der anderen Promovierenden des Graduiertenkollegs wären ohne die hervorragende überkonfessionelle Zusammenarbeit der theologischen Lehrstühle nicht denkbar gewesen. An dieser Stelle möchte ich insbesondere meinem evangelischen Kollegen Prof. Dr. Gregor Etzelmüller für die großartige Zusammenarbeit in der gemeinsamen Betreuung der vorliegenden Dissertation danken. Die Kooperation der theologischen Lehrstühle birgt große Potenziale zur multiperspektivischen Erschließung theologisch sowie gesellschaftlich hochrelevanter Phänomene. Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit der differenten theologischen Traditionen vermag einzigartige und über den akademischen Kontext hinaus relevante Synergieeffekte zu entfalten, die zu einem konstruktiven Miteinander in unserer pluralen Gesellschaft beitragen können. Auch für die Etablierung der noch

Vorwort

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jungen Islamischen Theologie kann der Stellenwert überkonfessioneller akademischer Zusammenarbeit kaum genug betont werden. Aus diesen Gründen war und bin ich gerne stets bereit, Studierende und Promovierende, besonders in ihren Arbeiten mit interreligiösem Fokus, zu unterstützen. Ein Beispiel unter vielen ist etwa Herr Kadir Çapan, dessen Bachelor- und Masterarbeit ich gemeinsam mit meiner katholischen Kollegin Prof. Dr. Margit Eckholt betreut habe. Ferner bin ich meinen verehrten Kolleginnen und Kollegen aus dem Graduiertenkolleg, ganz besonders aus der evangelischen und katholischen Theologie, die mir die Ehre zuteilwerden ließen, das Vorwort für dieses Werk zu verfassen, zu Dank verpflichtet. Auch möchte ich ihnen und Frau Rüdel im Namen des Instituts für Islamische Theologie dafür danken, dass diese vorzügliche Arbeit in der Reihe der »Veröffentlichungen des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück« erscheinen wird. Osnabrück, im August 2022 Prof. Dr. Merdan Günes

Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des Graduiertenkollegs »Religiöse Differenzen gestalten – Pluralismusbildung in Christentum und Islam« entstanden. Mein Dank gilt daher dem Graduiertenkolleg der Universität Osnabrück sowie allen daran Beteiligten aus den Instituten für evangelische, katholische und islamische Theologie. Die offene, produktive und wertschätzende Atmosphäre, der konstruktive Austausch und das interreligiöse Miteinander haben wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Besonderer Dank geht dabei an Herrn Prof. Dr. Gregor Etzelmüller, der mir die Möglichkeit gegeben hat dieses ungewöhnliche Thema zu bearbeiten. Ich danke ihm sowie Herrn Prof. Merdan Günes für die hervorragende Betreuung, die wertvollen Anregungen und die Hilfsbereitschaft. Zudem danke ich den Herausgebern der Reihe »Veröffentlichungen des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück« für die Aufnahme dieser Arbeit, die den interreligiösen und interdisziplinären Ansatz unterstützt. Ebenso danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des V&R Verlags, insbesondere Herrn Oliver Kätsch. Weiterhin danke ich insbesondere den Beteiligten der Theaterprojekte, vor allem Haitham Assem Tantawy und Christoph Lang, die mir außergewöhnliche Einblicke in die Welt des Theaters ermöglicht haben, ebenso dem ehemaligen Intendanten des Theaters Osnabrück, Dr. Ralf Waldschmidt. Für die finanzielle Unterstützung bedanke ich mich bei der Evangelischen Landeskirche von Westfalen, sowie dem Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück. Für die große Hilfe bei der formalen Umsetzung der Arbeit bedanke ich mich bei Tobias Rüdel, Doris Poddig, Annika Göbel, Jan Turck sowie Evelin und Helmut Turck. Bei meinen Eltern bedanke ich mich zusätzlich für ihre uneingeschränkte und liebevolle Unterstützung während meines Studiums, ohne die auch diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre.

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Danksagung

Ich widme dieses Buch meinem Ehemann Tobias Rüdel, der mich von Beginn an ermutigt hat diese Arbeit zu schreiben – ich danke dir für alles. Anne D. Rüdel

Altena, im Juli 2022

1.

Das Theater Osnabrück und der interreligiöse Dialog

»Es geht hier ganz sicher nicht um Theologie. Es geht um uns. Es geht um Moslems. Es geht um Christen. Es geht um Juden. Es geht um unser Leben. Es geht um euer Leben. Es geht um Osnabrück. Wenn es um diese Stadt geht. Wenn es wirklich um diese Stadt geht. Dann geht es auch um Niedersachsen. Um Deutschland. Um Europa. Um die Welt. Dann geht es um Alles. Es geht darum, dass wir glauben. Es geht nicht darum, was wir glauben. Glaubt ihr, es gibt nichts zu glauben?«1

Die, die so sprechen, sind Gläubige, Anhänger verschiedener Religionen. Sie sprechen mit unterschiedlichen Stimmen und doch zusammen. Es wird ein Dialog eröffnet, in dem es um konkrete Inhalte geht. Den Gläubigen geht es hier um das Glauben selbst, darum, dass geglaubt wird, an konkreten Orten und obwohl andere nicht glauben. Es geht auch darum, mit diesen Anderen ins Gespräch zu kommen – über den Glauben, aber ohne Theologien. Die zitierten Stimmen des sog. Chor der Gläubigen aus der »Urban Prayers«Reihe scheinen mitten in das Zentrum interreligiöser Begegnung zu sprechen. Und doch widersprechen sie dem klassischen Verständnis eines interreligiösen Dialogs. Denn dort geht es genau um das, was geglaubt wird. Im Zuge eines 1 Text auf der Rückseite des Veranstaltungsflyers zu »Urban Prayers Osnabrück« Triple Vorstellung. Text orientiert an Bicker, Björn: Was glaubt ihr denn. Urban Prayers. Bilder von Andrea Huber. München 2016. 21; 53.

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Das Theater Osnabrück und der interreligiöse Dialog

interreligiösen Dialogs geht es darum, sich über verschiedene Glaubensinhalte und Praktiken zu verständigen. Immer gibt es dort neben der eigenen religiösen Perspektive eine oder mehrere andere Positionen. Dabei geht es oftmals vor allem um Theologie. Das Theater an einem solchen Dialogprozess zu beteiligen scheint ungewöhnlich. Ein Theater verkörpert eine andere, eine bewusst religions-unabhängige Perspektive. Dem Theater geht es wie den zu Beginn zitierten Stimmen nicht um Theologie. Und doch lässt das Theater Osnabrück mit Projekten wie den »Urban Prayers« religiöse Stimmen laut werden. Die Inszenierungen präsentieren Beobachtungen, bei denen es um den Glauben innerhalb der Gesellschaft geht. Das Theater beobachtet zunächst, dass dort jemand glaubt und dieser Glaube vielfältig ist. Es geht um »Moslems«, »Christen« und »Juden«, aber – und das scheint das Entscheidende zu sein – es geht damit auch um »unser Leben«. Der Chor der Gläubigen, der das oben genannte spricht, bezieht die Anderen, das Publikum mit ein. Die Verständigung der Religionen wird so zu einer Angelegenheit, die alle etwas angeht. Der interreligiöse Dialog wird so zu einer Aufgabe, der sich nicht nur die Theologien stellen müssen. Mit den eingangs zitierten Stimmen der Gläubigen bietet das Theater eine andere Sicht auf religiöse Vielfalt und Heterogenität an. Dass es dabei gerade nicht um Theologie, sondern um das Glauben als solches geht, kann auch die Diskurse des interreligiösen Dialogs vor neue Herausforderungen stellen. Was bedeutet es, wenn sich eine säkulare Institution solcher Themen annimmt? Was legitimiert ein Theater wie das Haus in Osnabrück sich mit solchen und anderen religiösen Fragen auseinanderzusetzen? Was kann die Theologie davon lernen, wie das Theater Osnabrück als säkulare Instanz religiöse Vielfalt und religiöse Differenzen inszeniert?

1.1

Fragestellung und Forschungssituation

Die oben genannten Gedanken lassen sich in folgender Fragestellung bündeln, die dieser Arbeit zurgunde liegt: Welche Impulse können aus der säkularen Darstellung religiöser Differenzen, wie sie am Theater Osnabrück zu beobachten ist, abgeleitet und für eine theologische Reflexion interreligiöser Begegnungen fruchtbar gemacht werden? Das Theater bei der Frage nach der Gestaltung von religiösen Differenzen miteinzubeziehen, ist in drei Hinsichten sinnvoll. Zuerst bietet das Theater wie kein anderes kulturelles oder künstlerisches Medium das Potenzial zu intersubjektiver Begegnung. Erika Fischer-Lichte und andere haben dies im Feld der Theaterwissenschaften im Zuge des performative turn deutlich herausgestellt.2 2 Vgl. hierzu etwa Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung. 2. unveränd. Auflage.

Fragestellung und Forschungssituation

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Auch an den Schnittstellen zur Liturgie- und Ritualforschung sind zahlreiche Beiträge entstanden.3 Ebenso hat die Praktische Theologie z. B. über den Arbeitskreis Kirche und Theater vielfältige Impulse aus dem Bereich des Darstellenden Spiels aufgenommen4. Die Erfahrung einer Begegnung mit Anderen, sowohl auf der Bühne die Interaktion zwischen den Darstellenden als auch zwischen Darstellenden und Publikum, ist dabei das zentrale Geschehen. Die Konfrontation mit dem Anderen wird durch den Prozess der Performativität noch verstärkt. »In Aufführungen wirkt also der phänomenale Leib der Beteiligten mit seinen je spezifischen, physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Zuständen unBielefeld 2013; Volbers, Jörg: Performative Kultur. Eine Einführung. Wiesbaden 2014; Hempfer, Klaus W.; Volbers, Jörg: Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld 2011; oder Mersch, Dieter: Ereignis und Aura: Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. 4. Aufl. Frankfurt am Main 2011 sowie Sternagel, Jörg; Mersch, Dieter ; Stertz, Lisa (Hg.), Kraft der Alterität. Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen. Bielefeld 2015. Zu den Phänomenen der Zwischenleiblichkeit vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übersetzt und eingeführt von Rudolf Boehm. Berlin 1966 und Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist (1961). In: Bermes, Christian (Hg.): Maurice Merleau-Ponty. Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hamburg 2003. 275–317, sowie zu Fragen zur Bedeutung der Leiblichkeit für die Kommunikation und Identitätsbildung. Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart 2000. Zur Bedeutung des Theaters bei der Rezeption des Anderen siehe: Englhart, Andreas: Das Theater des Anderen. Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute. Bielefeld 2018 oder Huber, Thomas R.: Ästhetik der Begegnung. Kunst als Erfahrungsraum der Anderen. Bielefeld 2013. 3 Vgl. grundlegende Darstellungen z. B. Böckel, Holger, Inszenierung als Leitmotiv in praktischer Theologie und Religionspädagogik. Theatrale Aspekte in Kultur, Kirche und Bildung. Berlin 2017 sowie Gräb, Wilhelm et al. (Hg.) Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Frankfurt a. Main 2007 und Klie, Thomas; Kühn, Jakob (Hg.): Das Jenseits der Darstellung: postdramatische Performanzen in Kirche und Theater, Bielefeld 2020. Sowie unter dezidiert religionspädagogischer Perspektive: Brinkmann, Frank Thomas: Gott in Szene setzen. Bibelperformance und Religionstheater im Unterricht. Göttingen 2013. Auch das Theater bezieht vermehrt religiöse Strukturen ein, vgl. u. a. Bornemann-Quecke, Sandra: Heilige Szenen. Räume und Strategien des Sakralen im Theater der Moderne. Stuttgart 2018. Für einen historischen Überblick siehe. Kasten, Ingrid; Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel des Mittelalters. Berlin 2002. Für eine kritische Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Theaters vgl. Pilz, Dirk: Ahnungsloses Schauspiel. Das Theater holt die Religion ständig auf die Bühne – um sich dann nur über sie lustig zu machen. Was soll das? In: ZEIT Nr. 10/2018. 4 Hier sind v. a. die beiden Bände: Hentschel, Ingrid; Hoffmann, Klaus (Hg.): Theater- RitualReligion. In: SCENA: Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 1. Münster 2004 und Hentschel, Ingrid; Hoffmann, Klaus (Hg.): Irritation und Vermittlung. Theater in einer multireligiösen Gesellschaft. SCENA. Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 4 Berlin 2010, zu beachten. Aus katholischer Perspektive stellt Inszenieren – Inspirieren – Konfrontieren. Potenziale zwischen Kirche und Theater. Hrsg. vom Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Bonn 2011, ein vergleichbares Projekt dar.

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Das Theater Osnabrück und der interreligiöse Dialog

mittelbar auf den phänomenalen Leib anderer ein und vermag in diesen je besondere physiologische, affektive, energetische und motorische Zustände hervorzurufen.«5

Die Ereignis- und Erlebnishaftigkeit des Theaters führt dazu, dass Differenzen intensiv und unmittelbar wahrgenommen werden können. Dem Theater wird daher von je her eine große Kompetenz bei der Darstellung und Vermittlung von Differenzen zugeschrieben.6 Es stellt auf diese Weise vielfältige Rezeptionsstrategien des Anderen zur Verfügung: Das Geschehen auf der Bühne ermöglicht sowohl eine Intensivierung der Konfrontation mit dem Fremden als auch eine Abschwächung, je nach dem welche gestalterischen Mittel zum Einsatz kommen. Zweitens liegt die Fragestellung dieser Arbeit an einer spannungsvollen Schnittstelle zwischen Religion(en) und Gesellschaft. Hierzu liegen zahlreiche Arbeiten aus theologischen und nicht theologischen Disziplinen vor. Die Diskussion über Verständigungsprozesse zwischen den Religionen wird durch die Einbeziehung des Theaters von vorn herein aus dem alleinigen Zugriff der Theologie herausgelöst. Die Inanspruchnahme des Theaters reagiert dabei zunächst ganz grundlegend auf die Pluralisierung der Gesellschaft in Bezug auf eine Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen, wie sie aus sozialwissenschaftlicher und auch aus theologischer Perspektive seit langem festzustellen sind. Dabei tritt in den Debatten vor allem die Dialektik von Säkularisierung und Religion hervor.7 Die Wahl einer unabhängigen Perspektive scheint hinsichtlich dieser Heterogenität sinnvoll und angebracht, gerade auch um die stetige Konkurrenz zu überwinden. Es ist daher völlig zurecht zu fragen: »Können Bereiche von Religion und Säkularität über ein gemeinsames Drittes kreativ in Beziehung zueinander gesetzt werden – über ein verbindendes Narrativ, das mit Blick auf die Frage der Gestaltung der Gesellschaft und des Gemeinwohls Kräfte, Ideen und Konzepte konstruktiv zusammenfließen lässt, ohne Religion und das Andere von Religion je zu verzwecken, und ohne die Differenz zwischen beiden zu nivellieren?«8

Vor diesem aufgezeigten Hintergrund kann das Theater ins Spiel gebracht werden. Aus einer solchen kreativen Perspektive heraus liefert die Auswahl der 5 Fischer-Lichte, Performativität, 62. 6 Vgl. Sting, Wolfgang: Interkulturalität und Migration im Theater. In: Hentschel, Ingrid; Hoffmann, Klaus (Hg.), Irritation und Vermittlung. Theater in einer multireligiösen Gesellschaft. SCENA. Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 4. Berlin 2010. 21–30. 26. 7 Vgl. klassisch: Taylor, Charles: A Secular Age. Cambridge 2007; sowie Joas, Hans: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. Br. 2012; und Habermas, Jürgen: Die Dialektik der Säkularisierung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4 (2008). 33–46. Neue Beiträge sind etwa Schmidt, Thomas M.; Pitschmann, Annete (Hg.): Religion und Säkularisierung: ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2014. Des Weiteren: Ströbele, Christian et al. (Hg.): Säkular und religiös. Herausforderungen für islamische und christliche Theologie. Regensburg 2020 und Wiese, Christian; Alkier, Stefan; Schneider, Michael (Hg.): Diversität – Differenz – Dialog. Religion in pluralen Kontexten. Berlin / Boston 2017. 8 Ströbele, Christian et al. (Hg.): Säkular und religiös. 18f.

Fragestellung und Forschungssituation

21

untersuchten Theaterprojekte wichtige Impulse für die Verhältnisbestimmung zwischen Religionen und Gesellschaft. Insbesondere richten die Stücke die Aufmerksamkeit auf das Zusammenleben von Religiösen und Nicht-Religiösen. Es geht dabei mit Jürgen Habermas gesprochen um die »kooperative Übersetzung religiöser Gehalte«9, um »doppelte Lernprozesse« zwischen den Säkularen und Religiösen,10 bei denen neu kommuniziert werden müsse, was religiöse Sprache und Bilder zu sagen haben, bei denen ein »Bewußtsein von dem, was fehlt« geschaffen werden müsse.11 Dabei werden Bereiche in den Fokus gestellt, bei denen es um soziale und politische Fragen des konkreten gemeinsamen Lebens geht, aber z. B. auch um grundlegende ethische Konfliktfelder der Medizin. Solche »Übersetzungsleistungen« tangieren – auch in den analysierten Theaterprojekten – immer auch die klassische Frage nach Vernunft als übergeordneter Instanz.12 Gerade hier kann der Verweis auf ein Bewusstsein für Differenzen hilfreich sein. »Die Funktion der Religion besteht also nicht in einer ethischen Einbettung autonomer Moral […], sondern in der Schärfung und Bearbeitung der Differenz zwischen autonomer säkularer Gesellschaft und Vernunft.«13 Der Fokus, den das Theater auf die Darstellung religiöser Differenzen – sowohl interreligiös, als auch zwischen der säkularen Gesellschaft und den Religionen – legt, bringt drittens auch eine neue Sichtweise in den theologischen Diskurs zum interreligiösen Dialog ein. Neben einem alternativen Ansatz zu den

9 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2001.12. 10 Vgl. Habermas, Jürgen: Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates – Stellungnahme. In: zur debatte. Themen der katholischen Akademie in Bayern. Jg. 34, 1 (2004). 2–4. 2. 11 Vgl. Habermas, Jürgen: Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. In: Reder, Michael; Schmidt, Josef (Hg.): Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt a.M. 2008. 26–36. 30f. 12 Vgl. Habermas, Jürgen: Wann müssen wir tolerant sein? Über die Konkurrenz von Weltbildern, Werten und Theorien. Festvortrag zum Leibniztag. 29. Juni 2002; Schmidt, Thomas M.: Reflexive Säkularisierung: Religion als Differenzbewusstsein der Moderne. 115–126. In: Peter, G.; Krauße, R. (Hg.): Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft und die neuen Grenzen des Sozialen. Wiesbaden 2012. Des Weiteren verbinden sich mit der Bedeutung von Vernunft konkretere Debatten wie in: Schröder, Stefan: Dialog der Weltanschauungen? – Der Humanistischer Verband Deutschlands als Akteur im interreligiösen Dialoggeschehen. In: Führding, Steffen; Antes Peter (Hg.): Säkularität in religionswissenschaftlicher Perspektive. Göttingen 2013. 169–185 oder Harrison, Peter: »Wissenschaft« und »Religion«: Das Konstruieren der Grenzen. In: Tapp, Christian; Breitsameter, Christof Breitsameter (Hg.): Theologie und Naturwissenschaften. Einleitung. Berlin/ Boston 2014. 39–68. 13 Schmidt, Reflexive Säkularisierung, 125.

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Das Theater Osnabrück und der interreligiöse Dialog

klassischen Modellen des Religionstheologischen Pluralismus14 wird die Einbindung einer »Dritten Instanz« ins Spiel gebracht. Hier kann zum einen direkt an die Ansätze der sog. Komparativen Theologie angeknüpft werden, die eine solche Instanz bereits als Akteur im interreligiösen Dialog etablieren. Zum anderen stellt auch das übergeordnete kulturwissenschaftliche Paradigma des »Dritten« einen Ausgangspunkt der Überlegungen dar.15 Das Theater scheint aufgrund seiner konfessionellen Unabhängigkeit und seiner heterogenen Verfasstheit sehr gut geeignet, eine solche Position zu übernehmen. »Es kennzeichnet solche Strukturen, dass sie nicht allein in sich unruhig sind, sondern auf Seiten des Beobachters wandernde Blickpunkte erzwingen und insofern auf unumgängliche Weise mehrdeutig bleiben.«16 Gerade die Offenheit in der Interpretation der vom Theater gezeigten Inhalte und der Ereignischarakter jeder einzelnen Aufführung ist hier als Vorteil zu sehen, der die Position des sog. Dritten stärkt.

1.2

Theater Osnabrück

Als Bindeglied zwischen religiösen und säkularen Positionen stellen auch die Projekte des Theaters Osnabrück eine solche vermittelnde Instanz dar. Die Arbeit des Theaters bietet damit eine ausgezeichnete Ausgangslage für die Bearbeitung der Frage nach der Inszenierung religiöser Differenzen. Grundsätzlich hat das Theater Osnabrück in den letzten Jahren eine thematische Offenheit für religiöse Inhalte gezeigt. Auffallend ist, dass diese Entwicklung mit der Intendanz Dr. Ralf Waldschmidts17 zusammenzufallen scheint (ab der Spielzeit 2010/11). Wald14 Vgl. hier u. a. die klassischen Ansätze von John Hick: Hick, John: An Interpretation of Religion: Human Responses to the Transcendent. 2. Aufl. New Haven/ London 2004; Hick, John (Hg.): Wurde Gott Mensch? Der Mythos vom fleischgewordenen Gott. Aus dem Engl. übersetzt v. Ulrich Hühne. Güterloh 1979. Für einen weiterführenden Ansatz siehe etwa die Arbeiten von Schmidt-Leukel, z. B. Schmidt-Leukel, Perry: Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie. Übers. v. Monika Ottermann, bearb. u. autorisiert v. Perry Schmidt-Leukel. Gütersloh 2019. 15 Hier sind v. a. die Beiträge von Francis X. Clooney und Klaus von Stosch maßgeblich. Vgl. Clooney, Francis X.: Komparative Theologie. Eingehendes Lernen über religiöse Grenzen hinweg. Paderborn 2013; Stosch, Klaus von: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen. Paderborn 2012. 16 Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Eßlinger, Eva et al. (Hg.): Die Figur des Dritten: Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt a.M. 2010. 9– 31. 18. 17 Dr. Ralf Waldschmidt war zwischen der Spielzeit 2011/2012 und dem Sommer 2021 Intendant des Theaters Osnabrück. Geboren ist er 1958 in Hanau am Main. Waldschmidt studierte zunächst Germanistik, Anglistik und Theaterwissenschaften in Frankfurt, bevor er 1987 zu Wagners Parsival promovierte. Bevor er die Intendanz am Theater Osnabrück übernahm, war er an insgesamt 10 Staats- und Landestheatern als Dramaturg und Operndirektor tätig. Vgl.

Theater Osnabrück

23

schmidt erkennt darin auch das Erbe Osnabrücks als Friedensstadt. In einem Radio-Interview gibt er 2018 an, die Idee des friedlichen Zusammenlebens der Konfessionen und Religionen könne und sollte auch durch das Theater weiterverfolgt und ausgestaltet werden. Dabei könne Theater als Resonanzraum relevante Entwicklungen in ihrer Multidimensionalität und Mehrschichtigkeit oft besser zur Sprache bringen, als tagesaktuelle Medien. Verschiedene Perspektiven könnten so miteinbezogen und das Publikum zur Auseinandersetzung ermutigt werden. Theater sei in diesem Sinne auch Raum für Fantasie und ermögliche die Konzentration auf Themen, für die im Alltag oft wenig Zeit bleibe.18 Ein solches Interesse und die Bereitschaft sich mit religiösen Themen und Fragestellungen auseinanderzusetzen, ist keineswegs selbstverständlich für einen säkularen Akteur wie das Theater. Zwar lässt sich bundesweit eine ähnliche Tendenz zu religionsaffinen Programmen wahrnehmen,19 oftmals ist die Darstellung der Religion dabei aber wenig differenziert und engagiert. Dirk Pilz spricht in diesem Kontext von »Ahnungslosigkeit« und »Religionsdummheit«20. Ein weiterer Vorwurf resultiert aus der historisch gewachsenen Konkurrenz von Theater und Religion zur Gewissensbildung der Menschen beizutragen. »Aus der Absage an die Religion bezieht das Theater entsprechend sein Selbstwertgefühl. Denn in Theaterkreisen geht man mehrheitlich noch immer von einer simplen Säkularisierungsthese aus: von der Annahme, dass wachsende Aufklärung zu schwindender Religiosität führt, dass den Glauben nahezu automatisch verliert, wer auf die Vernunft vertraut.«21

Das Theater Osnabrück zeigt in seinen Programmen ein anderes Bild: In den letzten Jahren wurden konkrete Projekte umgesetzt, die genau in die Schnittstellen von Gesellschaft, Theater und Religionen fallen und sich differenziert mit Fragestellungen des interreligiösen Zusammenlebens befassen. Dabei wird auch die Frage nach der Vernunft gestellt und diskutiert. Zu nennen sind hier innovative Stücke wie das Tanztheater »Corpo d’Anima« (2013) oder die erstmalige Bühnen-Inszenierung der Johannes-Passion Bachs (2014). Ebenso Uraufführungen wie die Musiktheater »San Paolo« (2017/18) oder im Rahmen des Spieltriebe Festivals »Mensch« (2019) das Stück »Das Ebenbild«. Aber auch klassische und bereits etablierte Stoffe, wie »Nathan der Weise« (2016) oder die Inszenierungen der »Urban Prayers«-Reihe (2016) zeigen die vielfältige

18 19 20 21

theater-osnabrueck.de. In den zehn Jahren in Osnabrück lag der Schwerpunkt seiner künstlerischen Leitung immer wieder auf komplexen gesellschaftspolitischen Fragestellungen, die die thematische Ausrichtung der einzelnen Spielzeiten vorgaben. Er selbst wirkte an Opernproduktionen wie »Fidelio«, »Das große Heft« oder »San Paolo« mit. Vgl. Interview vom 24. 09. 2018 in OS-Radio. Vgl. Pilz, Ahnungsloses Schauspiel, ZEIT 10/2018. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

24

Das Theater Osnabrück und der interreligiöse Dialog

Auseinandersetzung.22 Für die detaillierte Analyse dieser Arbeit wurden vier Stücke ausgewählt, die möglichst aktuell sind, d. h. die zum Zeitpunkt der Bearbeitung nicht älter als fünf Jahre, und sowohl eine Mischung aus verschiedenen Sparten, Musiktheater und Schauspiel, als auch aus etablierten und uraufgeführten Stoffen darstellen. Die Auswahl fiel damit auf die beiden Musiktheater »Das Ebenbild« und »San Paolo« sowie auf die Sprechtheater des Stadtprojekts Nathan, »Nathan der Weise« und die insg. drei Inszenierungen der »Urban Prayers Osnabrück«. Nicht zuletzt war auch der regionale Bezug sowie die bestehende Zusammenarbeit mit der Universität Osnabrück ein Kriterium für die Auswahl des Stadttheaters Osnabrück.

1.3

Perspektive und Methodik

Die bisherigen Erläuterungen machen bereits deutlich, dass die Frage nach dem Nutzen des Theaters für einen Dialog der Religionen nur innerhalb eines interdisziplinären Gefüges beantwortet werden kann. Bereits das zu untersuchende Material von Theatertexten und Inszenierungen zeugt aufgrund seiner sprachlichen und künstlerischen Struktur von einer großen inhaltlichen Dichte und erfordert einen ästhetisch-theatralen Zugang. Dabei muss nicht nur der methodische Zugriff, sondern auch die historische Entwicklung des Verhältnisses von Theater und Religionen theaterwissenschaftlich berücksichtigt werden. Auch das Theater als gesellschaftliche Institution ist wiederum in einem kulturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Geflecht verortet. Ebenso werden hier politische und philosophische Verhältnisbestimmungen zwischen den Religionen und einer säkularen Gesellschaft tangiert. Hinzu kommt der Ausgangspunkt einer interreligiösen Fragestellung nach den Dialogprozessen zwischen den Religionen, die sowohl aus konfessioneller als auch aus religionswissenschaftlicher Perspektive zu diskutieren ist. 22 Hier eine chronologische Auswahl verschiedener Projekte des Theaters die sich mit der Darstellung von Religion(en) beschäftigen: »Leben des Galilei« (Regie: Michael Helle), 2012; »Corpo d’Anima« (Leitung: Mauro de Candia), 2013; »Der aus der Löwengrube errettete Daniel« (Regie: Jan David Schmitz), 2013; Johannes Passion (Bühneninszenierung, Regie Andrej Woron), 2014; »Dschihad-Express« (Regie: Pascal Wieandt), 2015; »Exit_us« (Regie: Dietz-Ulrich von Czettritz), 2015; »Nathan der Weise« (Regie: Dominique Schnizer), 2016; »Urban Prayers I–III«, 2016; »Danse Macabre« (Regie: Mauro de Candia u. a.) 2017; »San Paolo« (Regie: Alexander May) 2018; »Das Ebenbild« (Regie: Haitham A. Tantawy) 2019. Darüber hinaus gibt es auch immer wieder Kooperationen zwischen dem Theater und religiösen Gemeinschaften innerhalb Osnabrücks. Z. B. Einbettung von Inszenierungen in Gottesdienste (Themenreihe »Der Andere Gottesdienst« der Evangelischen Südstadtkirchengemeinde 2019) oder Verlegung von Aufführungen in Gotteshäusern (Osnabrücker Dom, Ev. Kirchen, der Osnabrücker Ditib Moschee und der Osnabrücker Synagoge).

Perspektive und Methodik

25

Diese vielfältigen Verflechtungen und interdisziplinären Berührungspunkte scheinen auf den ersten Blick verwirrend, stellen aber, wie gezeigt werden konnte, auf den zweiten Blick ein konstruktives und chancenreiches Netz dar. Die Frage nach dem Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog zieht dabei eine Linie, deren Richtung durch die Analyseergebnisse maßgeblich bestimmt wird. Auch wenn dabei nicht allen thematischen Abzweigen nachgegangen werden konnte, werden wichtige Wegmarken und Orientierungspunkte für eine kontinuierliche Orientierung erkennbar gemacht. Am Anfang stand die Annahme, dass die spezielle Art der Darstellung religiöser Stoffe am Theater Osnabrück auch theologisch etwas beizutragen hätte. Die Auswertung des untersuchten Materials hat dies bestätigt und in konkreten Ergebnissen sichtbar werden lassen. Von Beginn an wurde das Material in einer induktiven Vorgehensweise bearbeitet. Das heißt konkret, dass zuerst alle Theaterprojekte untersucht und die jeweiligen Inszenierungs- bzw. Aufführungsanalysen erstellt wurden. Im Zentrum stand dabei die werkimmanente Interpretation der verschiedenen Stücke mittels Aufführungsaufzeichnungen. Für eine entsprechende Kontextualisierung wurden auch die zugrundeliegenden Theatertexte untersucht. Die Analysen der Theaterstücke sind bewusst von einem in erster Linie theologischem Erkenntnisinteresse geleitet. Daraus geht eine klare Konzentration auf die Inszenierung von Religion/Religionen, religiöser Sprache, religiösen Motiven und Bildern sowie auf inter- bzw. intrareligiöse Verständigungsprozesse hervor. Trotz dieser theologischen Fokussierung wurde ein theaterwissenschaftliches Analyseverfahren nach den entsprechenden fachlichen Standards zugrunde gelegt. Es wurde dabei die Transformationsanalyse nach einem Ansatz von Guido Hiß ausgewählt. Die daraus abzuleitenden Beobachtungen wurden dann in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit für eine theologische Diskussion zum interreligiösen Dialog hinterfragt und im Schlussteil theologisch reflektiert vorgestellt. Die Annäherung an die Fragestellung und die Auswertung der Ergebnisse sind dabei zwar stark von einer evangelisch-theologischen Position geprägt, gerade für eine islamisch-theologische Rezeption ergibt sich aber einiges Diskurspotenzial, etwa bei der Verwendung des Mythosbegriffs oder dem Verständnis von Säkularität. Die zentrale Frage nach den Herausforderungen, die das Theater an die Religionen übermittelt, kann daher immer auch konfessionell unabhängig und religionsübergreifend adressiert werden.

26

1.4

Das Theater Osnabrück und der interreligiöse Dialog

Überblick über die vorliegende Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in vier Hauptkapitel. Nach der Einleitung erfolgt eine theoretische Einführung zur Theorie des interreligiösen Dialogs und theaterwissenschaftlichen Grundlagen. Beide Bereiche stellen wichtige theoretische Fundamente dar, auf die die späteren Überlegungen aufgebaut werden. Die Ergebnisse der im dritten Kapitel vorgestellten Analysen bilden den Hauptteil der Arbeit und stellen die entscheidenden Weichen für die Interpretation. Im vierten Kapitel schließen sich dann die theologische Auswertung und die Reflexion der Ergebnisse an. Inszenierungen und Differenzen – Theoretische Rahmenbedingungen Unter 2.1 werden grundlegende Einsichten zum Selbstverständnis des Theaters als säkulare Institution vorgestellt. Im Zuge der Diskussion möglicher Ansprüche und Erwartungen zeigt sich die Ambivalenz des Theaters zwischen künstlerischer Autonomie und gesellschaftlicher Verantwortung. Dies wirkt sich auch auf die Verhältnisbestimmung von Religion(en) und Theater aus. Vertiefend wird das Theater als genuiner Ort der Begegnung und Erfahrung des Anderen vorgestellt. Der Umgang mit Heterogenität und Differenzen sowie die leibliche Teilhabe aller Akteure zeigen sich dabei als Schlüsselqualifikation für die Ermöglichung vielfältiger Dialogerfahrungen. Ein Überblick über die theaterwissenschaftliche Methodik und die Erläuterung der Vorgehensweise in Bezug auf die Analysen schließen das Kapitel ab. Eine weitere theoretische Grundlage für die Arbeit stellen die theoretischen Entwürfe zum interreligiösen Dialog dar. Diese werden unter 2.2 systematisiert vorgestellt. Die Wahl fiel dabei auf diejenigen Ansätze, die sich als überkonfessionell anschlussfähig gezeigt haben und gegenwärtig noch rezipiert und diskutiert werden. Im Anschluss an allgemeine Darstellungen zur Voraussetzung, Perspektivität und Lokalität der interreligiösen Begegnung werden dann die theoretischen Konzepte zum Religionstheologischen Pluralismus, zur Differenzhermeneutik und zur Komparativen Theologie erläutert. Die Vorstellung der einzelnen Ansätze findet an dieser Stelle überblicksartig, unter Rückgriff auf die zentralen historischen und konzeptionellen Entwicklungen sowie ihre wichtigsten Vertreter, statt. Inszenierung religiöser Differenzen – Analysen Die Analysen zu den ausgewählten Theaterprojekten »Das Ebenbild«, Stadtprojekt »Nathan« mit den Inszenierungen »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück« und »San Paolo« (3.1–3.3) folgen der Vorgehensweise der Transformationsanalyse. Für die einzelnen Analysekapitel ergibt sich dadurch ein vergleichbarer Aufbau von Analyse des Theatertextes, Interpretationsansatz/

Überblick über die vorliegende Arbeit

27

Hypothesenbildung, Darstellung ausgewählter Dominanten der Inszenierung und Vergleich. Lediglich bei der Darstellung des Stücks »Nathan der Weise« wurde eine komprimierte Struktur gewählt. Die Resultate der Inszenierungsanalysen wurden dann am Ende jedes Kapitels geordnet und als immanente Darstellung von Religion(en) systematisiert zusammengefasst. Die Reihenfolge der Bearbeitung der Stücke ergibt sich dabei nicht aus der zeitlichen Abfolge der Aufführung, sondern aus der Auswertung und Interpretation der Ergebnisse. Dem »Ebenbild« liegt ein archaisches Konzept zugrunde, das auf die mythologischen Fundamente der Religionen rekurriert. Das Stück zeigt zwar wie alle ausgewählten Projekte einen deutlichen Gegenwartsbezug auf, fokussiert aber die gemeinsamen mythischen Ursprünge der Religion(en). Dem gegenüber gestellt werden kann das Stadtprojekt »Nathan«, das im Kontrast zum Mythos die Utopie als gemeinsame Erzählung der Religionen stark macht. Der Blick wird dabei jedoch nicht in die Zukunft gerichtet, sondern die Vision will in der Gegenwart verwirklicht und konkretisiert werden. Ebenfalls das Religiöse aktualisieren will das Musiktheater »San Paolo«. Am Beispiel des Apostel Paulus kristallisiert sich in Bezug auf gesellschaftlichen Konsens und religiösen Aktionismus eine Spannung zwischen Anpassung und Irritation heraus. Das Theater als Herausforderung – Theologische Reflexion Die Analysen haben eine Verschiebung erkennbar werden lassen, die zuerst die Perspektive auf den interreligiösen Dialog betrifft. Dabei werden unter 4.1 zunächst diejenigen Aspekte der Inszenierungen noch einmal zusammengefasst, die zu einer Wahrnehmung von Religion im Plural führen. Darüber hinaus kann eine Kritik am religionstheologischen Pluralismus und am Ideal der Vernunft konstatiert werden. Ein ganz entscheidender Perspektivwechsel wird vollzogen, indem das Theater als »dritte Instanz« selbst als Akteur im interreligiösen Dialog gelesen werden kann. Sowohl eine kulturwissenschaftliche als auch eine theologische Rahmenstruktur steht dafür zur Verfügung. Eine zweite Verschiebung betrifft die Themen des interreligiösen Dialogs. Indem sich die in den Theaterprojekten gezeigten Differenzen von einer interreligiösen Auseinandersetzung zu einer gesellschaftlich-religiösen hin verlagert haben, ergeben sich auch neue Diskursfelder, die in den Dialog eingebracht werden können. Als solche anderen Themen werden unter 4.2 die Vorstellungskomplexe von Mythos, Utopie und Irritation eingeführt. Diese Motive werden jeweils begriffs- und rezeptionsgeschichtlich dargestellt und dann als religiöse Ressource innerhalb ihres gesellschaftlichen Kontexts diskutiert. Abschließend wird auch hier jeweils Bezug zum interreligiösen Dialog hergestellt und die verschiedenen Leitbilder auf ihr interreligiöses Potenzial hinterfragt. Im Zuge der Reflexion zeichnet sich hier bereits die wichtige Rolle ab, die das Theater in der Darstellung von Differenzen einnimmt und sich auf diese Weise

28

Das Theater Osnabrück und der interreligiöse Dialog

auch an kooperativen Übersetzungsprozessen zwischen den Religionen und der säkularen Gesellschaft beteiligt. Unter 4.3 schließt sich ein Fazit an, das die vorangehenden Ergebnisse noch einmal konkretisiert und das Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog würdigt.

2.

Theater und interreligiöser Dialog – Theoretische Rahmenbedingungen

2.1

Theater

2.1.1 Zum (Selbst-)Verständnis des Theaters Wenn man den Blick auf das deutsche Theatersystem richtet, wird deutlich, dass das Selbstverständnis des Theaters als Institution gar nicht so eindeutig ist, wie vielleicht anzunehmen wäre. Das Theater ist als säkulare Institution zu Neutralität verpflichtet, gleichzeitig wird aber auch eine klare Positionierung in weltanschaulichen und z. T. auch in religiösen Fragen erwartet.23 Der historische Anspruch, der das deutsche Theater als »moralische Anstalt« qualifizierte, wird heute kontrovers diskutiert. Hinzu kommen ganz unterschiedliche Erwartungen an das Theater, die aus den verschiedenen Perspektiven mit dem Theater verknüpft werden. Dabei ist vor allem eine Diskrepanz zwischen sozialwissenschaftlichen/ gesellschafts-wissenschaftlichen Positionen (Juchler, Baecker, Lehmann, Adorno) und der Position der Theaterwissenschaften (Brauneck) und Theaterschaffenden (Castorf, Reinhard, Bicker) im Diskurs auszumachen. Es ist nicht verwunderlich, dass hier im Zuge der Innen- und Außenperspektiven auch die jeweiligen Interessen vertreten werden. Die Forderung nach Funktionalität trifft hier auf den Wunsch nach künstlerischer Autonomie. Die Frage nach dem Theater im Zusammenhang des interreligiösen Dialogs und die Annahme, das Theater trage durch die Inszenierung religiöser Differenzen etwas zum gelingenden Zusammenleben der Religionen in der Gesellschaft bei, zeigt ebenfalls eine Erwartungshaltung. Es ist daher unumgänglich im Folgenden auch hier die Voraussetzungen in Bezug auf das Verhältnis von Theater und Gesellschaft, von Theater und Religion und das Selbstverständnis 23 Vgl. Weisse im Interview mit Khuon, Ulrich: Theater als Forum der letzten Fragen. In: Irritation und Vermittlung. Theater in einer multireligiösen Gesellschaft. SCENA. Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 4. Hrsg. von Ingrid Hentschel und Klaus Hoffmann. Berlin 2010. 9–19.17.

30

Theater und interreligiöser Dialog – Theoretische Rahmenbedingungen

des Theaters als performatives Erlebnis zu diskutieren. Eine methodische Einführung zu den theaterwissenschaftlichen Voraussetzungen in Bezug auf die Analysen der Beispielstücke erfolgt im Anschluss. 2.1.1.1 Ansprüche und Erwartungen – Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und künstlerischer Autonomie Manfred Brauneck geht in seiner Abhandlung über das deutsche Theater u. a. der Frage nach, was vom Theater eigentlich zu erwarten sei.24 Er hebt dabei in seinen Ausführungen immer wieder auf den Gegensatz von Unterhaltung und Kunst ab und das Spannungsverhältnis, das sich daraus für das Theater ergibt. Brauneck kritisiert diese Entwicklung klar, er spricht von einer Überformung des Theaters als »gesellschaftliches Korrektiv«25. Diese Ansprüche sind historisch gewachsen. Bereits in seiner ursprünglichen Form habe sich das Theater – so der Politikwissenschaftler Ingo Juchler – vor allem auch in der Funktion etabliert, zum politischen Handeln zu motivieren.26 Auch dort seien in erster Linie keine aktuellen Probleme inszeniert worden. »Das Politische erscheint vielmehr im Mythos und ist eingebettet in übergreifende, existentielle Fragen des menschlichen Daseins.«27 Um die erfolgreiche Herausbildung der Demokratie im klassischen Athen gewährleisten zu können, musste eine politische Bildung der Bürger selbst vorausgehen.28 »Das Theater in Athen, die dort aufgeführten Tragödien, können vor diesem Hintergrund als Möglichkeit erachtet werden, der – von den Demokratiekritikern dem einfachen Volk unterstellten – mangelnden politischen Urteilsfähigkeit entgegenzuwirken.«29

Hier knüpfen dann in der weiteren historischen Entwicklung die didaktischen Funktionen des Theaters als Katharsis und »moralische Anstalt« an.30 Seit dem Ende des 18. Jhs. seien diese Entwicklungen vor allem in Deutschland prägend, das Theater werde als übergeordnete Instanz verstanden, dessen Wirken als moralischer Wegweiser der bürgerlichen Gesellschaft.31 Wie schon bei 24 Vgl. Brauneck, Manfred: Die Deutschen und ihr Theater. Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? Bielefeld 2018. 7f. 25 Vgl. a. a. O., 8. 26 Vgl. Juchler, Ingo: Politische Bildung im Theater. Hrsg. v. Ingo Juchler und Alexandra Lechner-Amante. Wiesbaden 2016. 7–15. 7f. Juchler verweist hier auf die Entstehungskontexte der klassischen griechischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. 27 Ebd. 28 Vgl. a. a. O., 10. 29 Ebd. 30 Vgl. a. a. O., 11f. 31 Vgl. Brauneck, Die Deutschen und ihr Theater, 9.

Theater

31

dem Begriff der »moralischen Anstalt« lässt sich auch hier auf Friedrich Schiller verweisen, der die kulturelle Bildung als Werkzeug zur ganzheitlichen »Veredelung« des Menschen verstand.32 Auch heute würde dieser Anspruch von Teilen der Gesellschaft – und Brauneck verweist hier auf die Politik – bewusst eingefordert: Theater solle auch heute als »Zukunftswerkstatt« fungieren, so das Argument der vom Bundespräsidenten Johannes Rau im Jahr 2002 initiierten Arbeitsgruppe »Zukunft von Oper und Theater in Deutschland«.33 Hier schließt sich auch der Kultursoziologe Dirk Baecker an: Theater spiegele die gesellschaftlichen Fragestellungen wider.34 »Das Theater ist die Form schlechthin um der Beobachtung des Menschen durch den Menschen selbst eine Form zu geben und so die Beobachtung zweiter Ordnungen in die Gesellschaft wieder einzuführen und dort auf ihre Verführung und Ansteckung, ihre Risiken und Gefahren hin zu beobachten.«35

Vor allem auch im Bereich der Interkulturalität und gesellschaftlichen Diversität, in den auch die für diese Arbeit relevante Frage nach der interreligiösen Diversität fällt, wird dem Theater gegenüber eine Erwartungshaltung eingenommen. Auch die Autoren des Bandes »Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis«36 sehen das Theater mehrheitlich in der Verantwortung, sich mit dem Thema der Migration zu beschäftigen.37 Schneider verbindet dies mit einem deutlichen Appell: »Die Entwicklung der Theaterlandschaften darf nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben, sondern muss aus Verantwortung, öffentliche Mittel nicht nur den klassischen Kulturnutzern zugutekommen zu lassen, der gesamten Gesellschaft ein Theater für alle ermöglichen.«38

Die Anerkennung kultureller Diversität – und damit auch religiöser Diversität als Teilbereich der Kultur – ist eines der Ziele gelingender Integration.39 Die Auto32 Vgl. Mittelstädt, Eckhard: Kulturelle Bildung und die Freien Darstellenden Künste. Plädoyer für einen Perspektivwechsel der Akteure. In: Mittelstädt, Eckhard; Pinto, Alexander (Hg.), Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland. Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven. Bielefeld 2013. 169–175. 170. 33 Vgl. Brauneck, Die Deutschen und ihr Theater, 164. 34 Vgl. Baecker, Dirk: Das Theater als Trope. Von der Einheit der Institution zur Differenz der Formate. In: Theater der Zeit. Heart of the City: Recherchen zum Stadttheater der Zukunft. 7/ 8 2011. 10–18. 10. 35 Ebd. 36 Schneider, Wolfgang: Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld 2011. 37 Vgl. Schneider, Wolfgang: »Warum wir kein Migranten-Theater brauchen…«. In: Schneider, Wolfgang (Hg.), Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld 2011. 9–20. 9. 38 A. a. O., 18. 39 Vgl. a. a. O., 9.

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rinnen Sandra Czerwonka40 und Bianka Michaels41 erkennen in diesem Bereich bereits auch deutliches Interesse seitens der Theater. Michaels attestiert hier einen »social turn«, der eine neue »Funktionsbestimmung von Theater in der Gesellschaft« ermögliche.42 Hans Thies Lehmann schließt sich hier der Einschätzung Juchlers an und spricht eher von einem indirekten Anspruchsdenken: »Irgendwie wissen wir, dass Theater trotz allem in seiner besonderen Weise zwar nicht direkt politisch ist, aber doch in der Praxis seiner Entstehung und Produktion, seiner Darbietung und seiner Rezeption durch die Zuschauer […]. Das Politische ist ihm einbeschrieben durch und durch, strukturell und ganz unabhängig von seinen Intentionen.«43

Das besondere wechselseitige Verhältnis zwischen Zuschauenden und Bühnengeschehen – als genuiner Bestandteil des Theaterereignisses – schlägt sich in der sog. performativen Wende nieder. Zuschauerinnen und Zuschauer sind aufgefordert, sich nicht nur mit dem Dargestellten zu identifizieren, sondern sich auch aktiv auseinanderzusetzen und daran teilzuhaben. Das Theater bietet Raum für Erfahrungen und fordert durch seine Unmittelbarkeit immer auch Reaktionen ein. »Die Inszenierung geschieht in Hinblick auf die Wahrnehmung durch Andere, die Zuschauer, die Aufführung vollzieht sich als Wechselwirkung körperlicher Handlungen aller im Raum Anwesenden.«44 Laut Adorno kann und muss Theater gesellschaftlich relevante Fragen aufwerfen45. Diese zu beantworten ist jedoch stets Aufgabe des Publikums. »Die Kraft des Theaters als soziale Kunst, narrativer Raum und unmittelbares Erlebnis […] darf nicht unterschätzt werden, denn es kann intensive ästhetische und soziale Wahrnehmung und Erfahrung vermitteln, […]«46. Dies führe – laut Brauneck – unter Umständen zu einem (unangemessenen) Erwartungsdruck, der sich dann negativ auch auf das Verhältnis zu anderen 40 Vgl. Czerwonka, Sandra: Nicht Mangel, sondern Besonderheit. Die Spiegelung des Migrationsbegriffs auf deutschen Bühnen. In: Schneider, Wolfgang (Hg.): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld 2011. 77–82. 41 Vgl. Michaels, Bianca: Da kann ja jeder kommen!? Anmerkungen zu Theater und Migration im Social Turn. In: Schneider, Wolfgang (Hg.): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld 2011. 123–134. 42 Vgl. Schneider, Migranten-Theater, 13f. 43 Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin 2012. 20. Zitiert nach: Juchler, Politische Bildung im Theater, 11f. 44 Fischer-Lichte, Performativität, 56. 45 Vgl. Adorno, Theodor, W: Theorie der Halbbildung. In: Gesammelte Werke, Bd. 8, Soziologische Schriften I, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1980. 93f. 46 Sting, Wolfgang: Interkulturalität und Migration im Theater. In: Hentschel, Ingrid / Hoffmann, Klaus (Hg.), Irritation und Vermittlung. Theater in einer multireligiösen Gesellschaft. SCENA. Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 4. Berlin 2010. 21–30. 23.

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kulturellen Institutionen auswirke, es komme zu einer Bevorzugung zugunsten des Theaters.47 Ebenso unterscheide sich diese Außenperspektive z. T. stark von dem Verständnis der Theaterschaffenden selbst. Brauneck zeigt die Entwicklungen der letzten 20 Jahre auf und macht eine deutliche inhaltliche Abkehr von gesellschaftlich relevanten Themen in den Programmen der Theater erkennbar. Es sei ein »Rückzug aus der Sphäre des Gesellschaftlichen«48 zu konstatieren. Er zitiert weiter Frank Castorf, der die Abkehr von gesellschaftlichen Themen damit rechtfertige, dass Theater für ihn ein Ort des Auslebens privater Obsessionen sei.49 Bereits Ende des 19. Jhs. gab es erste Bestrebungen das Theater zu revolutionieren. Dabei wurden sowohl ein sog. volkspädagogischer Kurs, bei dem das Theater allen sozialen Schichten zugänglich gemacht werden sollte als auch ein Kurs, der den rein künstlerischen Wert des Theaters beförderte, eingeschlagen.50 Insbesondere Max Reinhardt betonte in dieser Zeit den Selbstzweck des Theaters, der für ihn aber auch mit einem unterhalterischen Mehrwert für das Publikum verbunden war. Reinhardt habe sich klar gegen einen didaktischen Ansatz ausgesprochen und vielmehr gefordert, Theater solle eine »Heilstätte für die Seele« und eine »Zuflucht« darstellen.51 Hier wird letztlich der Anspruch der künstlerischen Freiheit deutlich, der sich per se nicht instrumentalisieren lassen will und kann. Selbst Schiller hatte, neben der Aufgabe der Kunst als Werkzeug zur Menschenbildung zu fungieren, gleichsam auch betont, dass die Kunst stets frei von Bestimmung und unabhängig sowie auf ihren immanenten Bereich beschränkt zu sein habe,52 also den Anspruch auf Selbstzweck habe. Dies untermauert die Einschätzung Eckhard Mittelstädts, der beobachtet, dass sich die »Freien Darstellenden Künste«53 nicht gerne mit der sog »Kulturellen Bildung« in Verbindung bringen lassen.54 Auch hier wird die Frage gestellt, welche(s) Ziel(e) Theater in Bezug auf die ästhetische Bildung verfolgen kann.55 Brauneck gibt als abschließende Antwort an:

47 Vgl. Brauneck, Die Deutschen und ihr Theater, 8. 48 A. a. O., 163. Brauneck bergründet dies mit der mangelnden Aufarbeitung aktueller Themen. Angefangen bei der deutschen Wiedervereinigung bis hin zur Flüchtlingsthematik und zur Digitalisierung würden solche komplexen Fragestellungen nur marginal auf der Bühne aufgearbeitet. 49 Vgl. a. a. O., 170. 50 Vgl. a. a. O., 93–98. 51 Vgl. a. a. O., 93. 52 Vgl. Mittelstädt, Kulturelle Bildung und die Freien Darstellenden Künste, 170f. 53 Im Bundesverband freier darstellender Künste sind die sog. Freien Theater deutschlandweit organisiert. Vgl. Website des Verbandes freier darstellender Künste: URL: https://darstellen de-kuenste.de/de/verband/ueber-uns.html. (26. 08. 2019). 54 Vgl. Mittelstädt, Kulturelle Bildung und die Freien Darstellenden Künste, 169. 55 Vgl. a. a. O., 171f.

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»Eine ›moralische Anstalt‹ ist das Theater nicht und wollte dies auch nie sein. Dass es eine ›moralische Anstalt‹ sein könnte, war Schillers Vision in einer Zeit, in der der Absolutismus den Menschen ihre Freiheitsrechte vorenthielt. Dass das Theater heute ein Ort der ›Selbstuntersuchung‹ der Gesellschaft ist, eine ›Zukunftswerkstatt‹ oder ein Ort, der die Menschen über den ›Sinn ihres Lebens‹ aufklärt, ist wohl vor allem Legitimationsrhetorik der Funktionäre und der Statthalter der Theater.«56

Hier ist vor allem aus der Position einiger Theaterschaffender deutlicher Widerspruch zu hören, der dazu veranlasst noch stärker zu differenzieren. Der Autor Björn Bicker versteht etwa das Theater klar als Ort der »produktiven Empörung« und »Medium der Einmischung«57. Ihm persönlich geht es um politisches Engagement.58 Dies steht für ihn aber in keiner Diskrepanz zu einer künstlerischen Erarbeitung: »Es ist wichtig, genau diesen Vorgang transparent zu machen. Also zu sagen: Das hier ist Kunst. Aber Kunst, die sich die Wirklichkeit aneignet, die mit ihr umgeht, die sich für sie interessiert und sie verändert und sie sich nicht nur als Orden oder Deko ans Revers heften will.«59

Auch Haitham Assem Tantawy, dem Regisseur von »Das Ebenbild«, geht es in erster Linie darum, gesellschaftlich relevante Fragen aufzuwerfen und das Publikum mit diesen zu konfrontieren. Für ihn ist das Theater ein Medium, in dem verschiedene Positionen auf der Bühne zusammengebracht und ggf. auch aktualisiert werden können.60 Natürlich liegt auch der vorliegenden Arbeit eine spezifische Erwartung zugrunde, nämlich, dass das Theater religiöse Inhalte thematisiert und durch seine Arbeiten Einfluss auf die interreligiösen Begegnungen zwischen Menschen nimmt. Diese These basiert jedoch nicht auf einem Anspruchsdenken, sondern auf Beobachtung und der inhaltlichen Auswertung der Theaterstücke. Inwieweit man von einer bewussten Intention des Theaters Osnabrück sprechen kann, variiert von Einzelfall zu Einzelfall. Die Entscheidung ein Projekt wie »San Paolo« in den Spielplan aufzunehmen ist bewusster gefallen als etwa die christlichmuslimischen Bezüge in der Oper »Das Ebenbild«. Die Frage, die hier gestellt wird, ist auch nicht, ob man eine solche Auseinandersetzung vom Theater erwarten kann, sollte oder gar muss. Die Frage zielt ausschließlich auf das Wie und den daraus entstehenden Möglichkeiten. Dass so eine Frage überhaupt gestellt 56 Brauneck, Die Deutschen und ihr Theater, 173. 57 Bicker, Björn: In Zukunft für das Theater schreiben. Über die Bedeutung von Kontext und Engagement. In: Theater der Zeit. Heart of the City: Recherchen zum Stadttheater der Zukunft. 7/8 2011. 64–69. 64. 58 Vgl. ebd. 59 A. a. O., 65. 60 Die Antworten ergaben sich aus einem persönlichen Gespräch am Rande der Proben zu »Das Ebenbild« (Osnabrück, 2. September 2019).

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wird, weist jedoch ausdrücklich auf die Vorannahme hin, dass das Theater als kulturell und intellektuell einflussreiche Größe ernstgenommen werden muss. Ganz besonders im Hinblick darauf, dass es sich bewusst um eine säkulare Institution handelt, die dezidiert nicht aus der Perspektive der Religionen oder Theologien agiert. 2.1.1.2 Theater und Religion Der Arbeitskreis für Kirche und Theater in der EKD arbeitet seit 1952 an der Schnittstelle zwischen Theater und Religion. Gegen Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre fanden dazu mehrere internationale Tagungen statt (SCENATHEATER und RELIGION), aus der eine Publikationsreihe entstanden ist. Darin werden sowohl Tendenzen des Gegenwartstheaters als auch interdisziplinäre Entwicklungen diskutiert. Es wird etwa der Frage nachgegangen, wie »religiöse Themen, Zeichen und Fragestellungen auf deutschen Bühnen und in der Theaterpädagogik bearbeitet werden.«61 Generell beobachtet Klaus Hoffman, einer der Herausgeber der Reihe, eine grundsätzliche Entwicklung im Theater, innerhalb der bei der Aufarbeitung von gesellschaftspolitischen Fragestellungen auf »religiöse Texte und Mythen zurückgegriffen wird«62. Maria Magdalena Schwaegermann entwickelte dafür bereits Anfang der 2000er Jahre drei Kategorien, in die sie die Einarbeitung religiöser Stoffe einteilt. Die erste Kategorie umfasst biblische (alt- und neutestamentliche) Textbezüge in Theaterinszenierungen.63 Die zweite Kategorie beschäftigt sich mit der Neuentdeckung von (religiösen) Ritualen. Die dritte Kategorie meint eine allgemeine Auseinandersetzung mit den Themen Tod und Sterben von PerformanceKünstlern64. Der Band »Irritation und Vermittlung«, der sich mit diesem Themenfeld befasst, legt hier jedoch eher einen sozialwissenschaftlichen, politischen Schwerpunkt, der die Notwendigkeit einer interreligiösen Auseinandersetzung eher aus einem allgemeinen, gesellschaftlichen Interesse beleuchtet, als aus einer theologischen Motivation.65 Trotzdem wird aber hier die grundlegende Frage 61 Sting, Köhler et al., Einleitung Band: Irritation und Vermittlung, 2. 62 Hoffmann, Hinführung Band: Theater – Ritual – Religion, 15. 63 Ich würde diese Kategorie erweitern und generell von Bezügen zu religiösen Offenbarungsschriften und weiteren mythischen und epischen Überlieferungen in Textform sprechen (z. B. Das Gilgameschepos). 64 Vgl. Schwaegermann, Maria Magdalena: Spirituelle und religiöse Aspekte im Theater der Gegenwart. In: Hentschel, Ingrid; Hoffmann, Klaus (Hg.): Theater- Ritual- Religion. In: SCENA: Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 1. Münster 2004.19–22. 19f. 65 Vgl. Weisse, Wolfram: Interreligiosität im öffentlichen und akademischen Diskurs. In: Hentschel, Ingrid; Hoffmann, Klaus (Hg.), Irritation und Vermittlung. Theater in einer multireligiösen Gesellschaft. SCENA. Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 4. Berlin 2010. 31– 45. 32.

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gestellt, ob Theater zum Ersatzort für Religion(en) geworden sei? Diese Anfrage wird vom ehemaligen Intendanten des Thalia Theaters in Hamburg, Ulrich Khuon, verneint. Er verweist aber auf das Potenzial des Theaters religiöse Fragestellungen aufzubereiten66. Das Theater hat ähnlich wie die Religionen einen »Unterbrechungscharakter« und agiert als Gegenpol zum Alltäglichen.67 Diese Unterbrechung des Alltags könne durchaus auch in einer religiösen Erfahrung münden. »Körperliche Erfahrung und Transzendenz werden nicht getrennt, nicht nur in traditionellen Ritualen, sondern auch in der zeitgenössischen Theaterproduktion.«68 Das Dargestellte selbst kann einerseits einen religiösen Inhalt vermitteln, andererseits können religiöse Anmutungen und Gefühle bei den Zuschauenden erzeugt werden. Sandra Bornemann-Quecke stellt in ihrer Arbeit »Heilige Szenen« einzelne Analysen zur Inszenierung von Sakralität und Heiligkeit im Theater vor. Hier steht vor allem der Zugang über die Erfahrung von Ästhetik im Vordergrund.69 Sybille C. Fritsch-Oppermann sieht Parallelen zwischen Spiritualität und dem Theaterspiel. »Das spielerische Potenzial befreit aus dem Gefängnis der Worte. Es überwindet den Dualismus von obszön und heilig, von Körper und Seele, von Mensch und Gott.«70 Für Khuon bleibt das Theater jedoch kein expliziter Ort der religiösen Erfahrung, sondern vielmehr der Ort erlebter Zwischenmenschlichkeit71. In Bezug auf Religionen kann dies allerdings ein entscheidender Vorteil sein. Das Theater könne sich so als »neutraler«, im Sinne von keiner Religion oder Weltanschauung verpflichteter, Ort etablieren, was insbesondere für einen interreligiösen Dialog förderlich sei72. Dieser »andere« Blickwinkel kann auch die klassische Theologie befruchten und eine säkulare Perspektive auf den innertheologischen Diskurs ermöglichen. Hier knüpft auch die Einordnung Marcus Luchsingers an: Er wendet die Kategorien von

66 Vgl. Khuon, Theater als Forum, 16f. 67 Vgl. dazu auch Englhart, Das Theater des Anderen, 69. Er beschreibt das Theater als Ort kontrollierter »Grenzüberschreitungen«. 68 Hentschel; Hoffmann, Vorwort, Theater – Ritual – Religion, 2. 69 Vgl. Bornemann-Quecke, Heilige Szenen, 7; 12f. 70 Fritsch-Oppermann, Sybille C.: Spiritualität und Religion – über spielerische und rituelle Formen des Dialogs. In: Hentschel, Ingrid; Hoffmann, Klaus (Hg.): Theater- Ritual- Religion. In: SCENA: Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 1. Münster 2004. 231–241. 241. Weiter schreibt sie an dieser Stelle: »Vielleicht hat Jesus nicht Theater gespielt, aber sich und das Himmelreich inszeniert, wo ihm die Worte fehlten, Gott wörtlich auszusagen. So kann sich andererseits im Theatralischen Sakralität ereignen. Wenn in der Wahrhaftigkeit und Authentizität des Vorspiels Wahrheit nachgedacht werden kann, treffen sich auch hier profan und heilig, […].« 71 Vgl. Khuon, Theater als Forum, 10ff. 72 Vgl. a. a. O., 12.

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Pilger und Tourist bzw. Flaneur73 an. Während er den Besucher eines Gottesdienstes, durch seine bewusste Teilhabe am Geschehen, als Pilger einstuft, ist der Theaterbesucher für ihn wie ein Flaneur, der erscheint, um sich in erster Linie unterhalten zu lassen und mehr oder weniger unbeteiligt und unbeobachtet sein kann.74 Als säkular ist das Theater in der Hinsicht zu beschreiben, als dass es sich hier um eine nicht der Kirche oder einer anderen religiösen Institution zugehörig oder verantwortlich versteht. Steffen Führding definiert Säkularität oder das Säkulare für den religionswissenschaftlichen Diskurs ganz grundsätzlich als »Nichtreligion«.75 Wenn man auf das geschichtliche Verhältnis von Theater und Kirche schaut, wird bis in das 18 Jh. – ganz im Gegenteil – eine starke Verschränkung beider Institutionen sichtbar. Vor allem mittelalterliche und barocke Dichtung war von einem religiösen Selbstverständnis geprägt.76 »Dichtung wird hier als religiöse Unterweisung auf einer untersten Stufe, gleichsam als eine Theologie ersten Grades bestimmt.«77 Bis in die Zeit der Aufklärung schwingt dieses Erbe mit, wie Arno Schilson auch für die Arbeit Lessings, insbesondere am »Nathan« konstatiert. Für Lessing habe das Theater in diesem Zusammenhang als ein »Ort der Entbergung göttlicher Wahrheit« fungiert.78 Heute ist es jedoch 73 Luchsinger greift hier auf die Begriffe von Zygmunt Baumann zurück: siehe dazu Baumann, Zygmunt: From Pilgrim to Tourist- or a short history of identity. In: Hall, Stuart; du Gays, Paul (Hg.): Questions of Cultural Identity. London 1996. 18–36. 74 Vgl. Luchsinger, Markus: Vom Pilger zum Flaneur – Gedanken zu Religion und Theater. In: Hentschel, Ingrid; Hoffmann, Klaus (Hg.): Theater- Ritual- Religion. In: SCENA: Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 1. Münster 2004. 25–34. 33f. 75 Vgl. Führding, Steffen: Der schmale Pfad: Überlegungen zu einer diskurstheoretischen Konzeptionalisierung von Säkularität. In: Führding, Steffen; Antes, Peter (Hg.): Säkularität in religionswissenschaftlicher Perspektive. Göttingen 2013. 71–86. 72. Eine ausführliche Beschreibung der Kategorien Religion und Säkularität findet sich ebenso dort. 76 Vgl. Schilson, Arno: »…auf meiner alten Kanzel, dem Theater«. Über Religion und Theater bei G. E. Lessing. In: Theologie und Glaube. 99 (2009). 409–430. 425f. Die Verbindung von Kirche und Theater war in der katholischen Tradition jeweils noch einmal stärker ausgeprägt als in den protestantischen Kirchen. 77 A. a. O., 425. Vgl. auch Ter-Nedden, Gisbert: Lessings dramatisierte Religionsphilosophie. Ein philologischer Kommentar zu Emilia Galotti und Nathan der Weise. In: Bultmann, Christoph; Vollhardt, Friedrich (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin/New York 2011. 283–335. 288. »Die Bühne ist ihm [Lessing] die bessere Kanzel: die bessere Kanzel, weil ihm die religiöse Aufklärung zu wichtig ist, um sie den Theologen zu überlassen, und weil er – wie alle Intellektuellen der Epoche, wie Rousseau und Voltaire, Goethe und Schiller, Kant und Hegel etc. – das Monopol der kirchlich verfassten, an bestimmten Dogmatiken gebundenen, sich auf sakrosankte Textcodices berufene Offenbarungsreligionen für die religiöse Welt- und Lebensdeutung nicht mehr anerkannten. Die bessere Kanzel, weil der Dramatiker Religion nicht als geglaubte Dogmatik, sondern als gelebte, erfahrbare Lebensdeutung zur Anschauung zu bringen vermag.« Ebd. 78 Vgl. Schilson, Religion und Theater, 427.

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so, dass das Theater als kulturelle Institution seinem Auftrag zur »Auseinandersetzung mit Fragen von allgemeiner Bedeutung« und das »Einwirken auf politische Meinungs- und Willensbildung«79 nachkommen soll. Es steht in erster Linie im Dienst der Gesellschaft, die den Staat trägt und aufgrund dieser Zugehörigkeit kann das Theater auch nicht zur Zurückhaltung bei religiösen Themen verpflichtet werden. Deutlich wird hier auch, dass oftmals eine Irritation erfolgen muss, um eine Auseinandersetzung anstoßen zu können.80 Das Theater bietet somit einen anderen Zugang zur interreligiösen Thematik als der innerwissenschaftliche Diskurs. Vor allem weil der Zugang von einer eng mit dem Begriff Religion verknüpften, aber inhaltlich der Religion komplementär gegenüberstehenden Kategorie ausgeht.81 Wolfram Weisse beschreibt die Vorzüge folgendermaßen: »Im Bereich der Wissenschaft wird der Bereich der Ästhetik oft vernachlässigt, der gleichermaßen für die Konstruktion und die Veränderung von individuellem und gesellschaftlichem Bewusstsein bedeutsam ist. […] Derartige szenische Verarbeitungen bieten unvermutete, ungewöhnliche, die eigene Erfahrung aufnehmende und über diese hinausgehenden Ansätze, die für das Verstehen sowohl der Hemmblöcke als auch der Möglichkeiten von interreligiösem Dialog eine kaum zu überschätzende Bedeutung besitzen.«82

Haitham Assem Tantawy, der sich in seinen Stücken oftmals mit verschiedenen religiösen Traditionen auseinandersetzt83, sieht seine Aufgabe darin, religiöse Stoffe regelrecht zu »säkularisieren«. Für ihn bedeutet dies, nicht nur verschiedene Religionen, sondern auch andere säkulare oder atheistische Weltanschauungen auf eine Bühne und damit in den Dialog zu bringen.84

79 Sutor, Bernhard, Christliche Ethik im säkularen Staat, 1.Bpb, URL: http://www.bpb.de/apu z/32082/christliche-ethik-im-saekularen-staat-freiheitlicher-verfassung?p=all. Abgerufen am 20. 08. 2019. 80 Vgl. Sting, Köhler et al., Einleitung, Irritation und Vermittlung, 3. Dazu auch Sting: »Die Auseinandersetzung mit unserer gesellschaftlichen Heterogenität birgt nicht zwangsläufig Dialog und Vermittlung, sondern auch Konfrontation und Irritation.« Sting, Interkulturalität und Migration, 22. 81 Vgl. Führding, Der schmale Pfad, 78. Die enge Verbindung ergibt sich hier durch die Genese der Begriffe, da der eine ohne den anderen nicht existieren kann. 82 Weisse, Interreligiosität im öffentlichen und akademischen Diskurs, 44. 83 Vgl. Veranstaltungsflyer Spieltriebe. 84 Die Antworten ergaben sich aus einem persönlichen Gespräch mit Herrn Tantawy am Rande der Proben zu »Das Ebenbild« (Osnabrück, 2. September 2019).

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2.1.2 Theater als Ort der Begegnung Aus der oben angezeigten Kontroverse wird deutlich, dass das Theater im Mindesten ein Ort der Begegnung ist, in erster Linie zwischen Menschen vor und auf der Bühne, aber auch mit Inhalten, die für den einzelnen Zuschauer erfahrbar und erlebbar werden. Dies sind die beiden Konstanten, die die Tätigkeit des Theaters ausmachen. Beides muss daher auch für die weitere Beschäftigung mit der Frage, wie das Theater diese Begegnung ermöglicht, bedacht werden. Auch beim interreligiösen Dialog geht es immer um den Anderen, den Anders-Glaubenden und Lebenden, aber auch einfach den Anderen als Gegenüber. Hier deutet sich bereits kurz umrissen ein Konnex zwischen Theater und Dialog an, der unter 2.3 vertieft wird. Es soll daher im Folgenden der Schwerpunkt auf genau diese strukturellen Ähnlichkeiten beim Zusammentreffen mit dem Anderen im Theater gelegt werden. Auch hier sind die beiden Dimensionen sichtbar: die Erfahrung des Anderen als leibliches Gegenüber und die Erfahrung mit dem Anderen als der mir fremd Denkende und Handelnde. Beide sind, wie sich zeigen wird, im Rahmen des Theaters wechselseitig aufeinander bezogen und bedürfen der gegenseitigen Korrektur, bilden jedoch auch ganz unterschiedliche Zugänge ab. Im Kontext des interreligiösen Dialogs und seiner Theorien wird diese Dimension bisher noch zu wenig beachtet (siehe Kapitel 2.2). Die Annäherung über das Theater kann hier ggf. den Zugang erleichtern. 2.1.2.1 Theater als Erfahrung des Anderen Die Auseinandersetzung und Thematisierung des Anderen war von der Aufklärung an für das Theater konstituierend. Zunächst tritt dabei von vorn herein die Eigenheit des Theaters heraus in dem Sinne, dass es eine direkte Konfrontation mit dem Anderen erlaubt – anders als etwa über den Bildschirm. Das Andere komme weiterhin auf zweifache Weise zum Ausdruck bzw. werde auf unterschiedliche Weise vom Publikum verstanden, einmal durch die sinnliche oder auch kognitive Auseinandersetzung (den »Blick«), mit dem, was auf der Bühne gezeigt wird und einmal durch die Erfahrung, die Begegnung mit dem Anderen selbst.85 Die Rezeption bewege sich im Rahmen von Ergriffenheit und Distanz. 85 Vgl. Englhart, Das Theater des Anderen, 14. »[Es] gilt seit langem, dass es grundsätzlich zwei Wege der Verständigung gibt: Der Andere wird interpretiert/verstanden/kausal hergeleitet/ be-griffen; und: Der Andere wird erfahren, begegnet als Anmutung, als Eigenart des Anderen.« Ebd. Englhart bringt an dieser Stelle selbst den Einwand ein, ob das Andere überhaupt in der Mimesis (im aristotelischen Sinne) als real erfahren werden könne und inwieweit ein zu hohes Maß der Entfremdung den Prozess beeinträchtigen kann. Vgl. a. a. O., 15. Die Frage wird von ihm auch am Ende des Kapitels, bei der Beschreibung der historischen Entwick-

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Es ist die Atmosphäre, die über die Ergriffenheit entscheidet, es geht hier um ein spezifisches Erleben, das Englhart auch in seiner Abhandlung immer wieder als Anmutung bezeichnet. »Relevant sind dafür Wahrnehmungen, die von persönlichem Interesse sind; […]. Aufmerksam wird der Betrachter bzw. Zuschauer demzufolge auf Reize, deren Anziehung als Wirkung im Betrachter durch semiotische Methoden nicht erklärt werden können. Die Psychologie spricht hier von Anmutungen, welche mit der kognitiven Verarbeitung konvergieren, im gemeinsamen Wirkungsverhältnis aber generell den stärkeren Part übernehmen.«86

Englhart greift im Anschluss an Barthes den Begriff des »dritten Sinns«87 auf, der eine Wahrnehmung über das reine Sehen ermögliche, »sodass eine Anziehungskraft der Bühne erzeugt wird, die eine reine Sichtbarkeit der Dinge überschreitet. Der blinde Fleck, auf den das Bild dadurch verweist, dass es dem Betrachter signalisiert, sein Auge sehe nicht alles bzw. könne nur deshalb sehen, weil es das Unsichtbare gibt, wird im Akt der Anschauung indirekt erkannt – womit eine Ethik des Bildes als Kunstwerk bzw. der Erscheinung des Anderen im Theater in der experimentellen Öffnung der Wahrnehmung des Betrachters zu fundieren wäre.«88

Dem entgegen stehe die Unmöglichkeit das Andere auf der Bühne abbilden zu können. Englhart bringt in einem der nachfolgenden Kapitel dazu den Begriff der »mimetischen Differenz« ein. Er weist damit auf die Schwierigkeiten der Darstellung des Anderen hin, er benennt eine »ästhetische Grenze«, die zur Distanzierung des Publikums führe und eine grundsätzliche Verständigung »vereitelt«. Weiterhin sei »der Andere in seiner genuinen Fremdheit im Sinne seiner unendlichen Andersheit nicht entschlüsselbar, […].«89 Weiterhin ist hier grundlegend zwischen zwei Formen der Mimesis zu unterscheiden: der Mimesis im aristotelischen Sinne, als »Vermittlung einer bereits gegebenen Wirklichkeit«, und der platonisch verstandenen Mimesis als die Schaffung eines AbBildes der Wirklichkeit.90 Letztere würde vermutlich eher eine sinnlich-kognitive Rezeption nach sich ziehen, während das aristotelische Verständnis dem Erlebnis der »Anmutung« entsprechen würde. Die Positionierung

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lungen, offen gelassen: »Ob das, was erfahren wird, wirklich die Wahrheit des Anderen ist, blieb weiterhin die Frage und die Herausforderung für die darstellenden sowie performativen Künste.« Englhart, Das Theater des Anderen, 18. A. a. O., 76. A. a. O., 77. A. a. O., 78. A. a. O., 74. A. a. O., 28. Dabei ist zu beachten, dass v. a. im Kontext des aristotelischen Mimesis-Verständnis sich die Problematik auswirkt, dass die Rückbindung der Ideen immer an konstituierende Normen und eine spezifische gesellschaftlich-historische Epoche erfolgen muss. Vgl. a. a. O., 84.

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zwischen dem Verständnis der Mimesis und dem Rezeptionsverhalten der Zuschauenden führt zu unterschiedlichen Schwerpunkten: Die Eingebundenheit in die Handlung bewegt sich zwischen Illusion und ästhetischen Grenzen, in Bezug auf die Rezeption zwischen Ergriffenheit und Distanz. Diese verschiedenen Konzepte in der Darstellung von Andersheit spiegeln sich laut Englhart in der Theaterhistoriografie. Der religiös Andere ist hier nur eine unter vielen Kategorien. Englhart definiert das Andere hier grundlegend als etwas »der oder das sich unterscheidet.«91 Auf Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte geht das später von Quentin Meillassoux formulierte Konzept des Korrelationismus zurück92, das Englhart auch gegenwärtig als signifikant für die Arbeit des Theaters anerkennt.93 Die Annäherung an den Anderen von der eigenen unveränderlichen Position heraus ist demnach nicht zu umgehen. »Damit [mit dem korrelationistischen Zirkel] begründet sich das Andere immer als das, was wir existenziell zu verstehen und zu erfahren haben, von dem wir aber nie wissen werden, wie es ›wirklich‹ ist. Die Wirklichkeit des Anderen erreicht uns stetig als Herausforderung, Anziehung, Verstörung, als etwas, das uns neugierig macht, gerade weil wir es nicht ganz erfassen können […]«.94

Englhart spricht weiterhin auch von einer »Wahrnehmungsmedialität« und meint damit die allgemeine Möglichkeit, Bedeutung zu erkennen.95 Ab 1800 dominierten die Erfolge der naturwissenschaftlichen Expeditionen und die neugewonnenen Erfahrungen aus anderen Kulturen die Darstellung der Theater und führten zeitweise sogar zu einem »Zwang der Repräsentation des Anderen«96. Auch die Romantik habe zu einer weiterführenden Diskussion beigetragen, allerdings in dem sie die Möglichkeit zur Abbildung des Anderen infrage stellte und bezweifelte, das das Andere überhaupt vollständig abzubilden sei (Dekonstruktion).97 Diese Zurücknahme des eigenen Anspruchs wirkte in den 1960er Jahren nach: Durch die Veränderung des experimentellen Theaters und 91 Englhart, Das Theater des Anderen, 10. 92 Vgl. a. a. O., 13. 93 Vgl. Ebd. »Seither substituierte das Denken der Korrelation, vor allem in einem starken Konstruktivismus, das Denken der Substanz bzw. des metatphysischen Substrats, was für die Frage nach der Mimesis und Repräsentation in und außerhalb des Theaters immens relevant ist.« Ebd. 94 A. a. O., 18f. 95 Vgl. a. a. O., 52. 96 A. a. O., 16. 97 Vgl. a. a. O., 17. Englhart bringt in einem der nachfolgenden Kapitel dazu den Begriff der »mimetischen Differenz« ein. Er weist damit auf die Schwierigkeiten der Darstellung des Anderen hin, er benennt eine »ästhetische Grenze« die zur Distanzierung des Publikums führe und eine grundsätzliche Verständigung »vereitelt«. Weiterhin sei »der Andere in seiner genuinen Fremdheit im Sinne seiner unendlichen Andersheit nicht entschlüsselbar, […].« A. a. O., 74.

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der Entwicklung der Performance setzte sich eine Tendenz zu mehr Diversität in der Darstellung durch.98 Es komme mehr und mehr zu einer Dekonstruktion der reinen Abbildung, zu einer bewussten Auflösung von Grenzen und zur gewollten Irritation.99 Das Andere werde somit in seiner Eindeutigkeit hinterfragt. Für die Haltung dem Anderen gegenüber führt dies zur »Anerkennung des Heterogenen« und zu einer Akzeptanz der Unverfügbarkeit des Fremden. Englhart greift hier auf Dieter Mersch zurück, der in diesem Zusammenhang von einer »Ethik der Differenz, statt der Identität, Gleichheit oder Reziprozität« spricht.100 2.1.2.2 Theater als Erfahrung von Differenz »Aktivieren wir die Differenzen«101 Irritation ist die natürliche Konsequenz wahrgenommener Differenz und Divergenz. Sting sieht ebenso wie Mersch, vor allem bei der Thematisierung der Differenz und Alterität großes Potenzial für das Theater.102 »Die Arbeit mit der Differenz heißt: nicht das allgemein Bekannte steht im Mittelpunkt, sondern das Zeigen der Differenz, um darüber in einen Dialog zu kommen.«103 Thomas Huber spricht hier von einer Differenz als »Raum für Transformationen«.104 Sting greift auf einen Ansatz zurück, der die Haltung des Theaters in Bezug auf Interkulturalität beschreibt. Es wird in Exotismus, Intentionalität, Transkulturalität und Hybridkulturalität unterschieden.105 Diese Kategorien lassen sich auch auf den Bereich der Interreligiösität übertragen. Während der Exotismus nicht über ein »Bestaunen« des Anderen und der Intentionalismus nicht über ein dualistisches, passives Nebeneinander hinauskomme, versuchten die Konzepte von Transkulturalität und Hybridkultur etwas Neues, Übergeordnetes aus der Heterogenität entstehen zu lassen.106 Sting sieht vor allem die letzten beiden Kategorien als sinnvoll für einen Dialog an, wobei es bei der Hybridkultur tatsächlich auch zu einer Verwischung von Grenzen kommt.107 Huber warnt vor einer Überforderung in der Beschäftigung mit der Differenz des Anderen, sie könne einerseits in

98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

Vgl. Englhart, Das Theater des Anderen, 19. Vgl. a. a. O., 20f. Mersch, Ereignis und Aura, 294. Lyontard, Jean-François: »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«. In: Lyotard, Jean- François: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, hrsg. von Peter Engelmann. Wien 1987, 30–31. Zitiert nach Hiß, Der theatralische Blick, 28. Vgl. Sting, Interkulturalität und Migration. 26. A. a. O., 28. Vgl. Huber, Ästhetik der Begegnung, 36. Vgl. Sting, Interkulturalität und Migration, 25. Vgl. a. a. O., 26. Vgl. ebd.

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Diskriminierung oder in einem »fetischartigen Interesse« münden.108 Der Andere müsse vielmehr um seiner selbst willen und nicht als Repräsentant seiner Gruppe oder Zeichenträger wahrgenommen werden. »Die Arbeit mit der Differenz bedarf der Prozessqualität in der Begegnung, um zur lebendigen intersubjektiven Distanz zu werden. Grundvoraussetzung hierfür ist die Bereitschaft, die Anderen wirklich in die Begegnung hereinzulassen – nicht nur als Zeichen, beziehungsweise Zeichenträger, die in ihrer Objektiertheit immer die Qualität von Stereotypen haben. In intersubjektiven Prozessen tritt die Erfahrung der Begegnung vor die Lektüre der Zeichen, und die Differenz wird in der Interaktion als lebendige Distanz wirksam.«109 Hier deutet sich bereits schon die Tendenz an, auf die rein leibliche Begegnung zwischen den Akteuren zu schauen, deren Auseinandersetzung miteinander im Performanzbegriff mündet. 2.1.2.3 Theater als Ort der leiblichen Teilhabe Mit den oben vorgestellten Überlegungen geht ein Verständnis von Leiblichkeit einher, in dem der Mensch durch den eigenen Leib Zugang zur Welt erhält. Dem zugrunde liegt ein ganzheitliches Verständnis von menschlicher Leiblichkeit. Der Mensch nimmt über die ihm eigene »Zwischenleiblichkeit« seine Umwelt über die leibliche Erfahrung menschlicher Interaktion wahr.110 Aber nicht nur der Mensch ist nach Thomas Fuchs auf den Impuls aus der intersubjektiven Begegnung angewiesen, ein zwischenleibliches Umfeld ist notwendig, um sich verwirklichen zu können. Das Selbst wird demnach in der Auseinandersetzung mit dem Anderen erfahrbar, im Rückgriff auf Blaise Pascal111 betonen Sternagel und Mersch den besonderen Charakter der Erfahrung, der Andere wird nicht »erkennbar«, sondern »erlebbar«112. Dies berührt sich mit einem Verständnis von Performativität, bei dem es eben auch um das Erleben einer Situation oder Handlung oder ganz allgemein der Welt geht. Dieser Kontext ist in der Regel dynamisch und prozesshaft zu verstehen. Indem man in die Auseinandersetzung 108 Vgl. Huber, Ästhetik der Begegnung, 36. 109 A. a. O., 38. 110 Vgl. zum Phänomen der Zwischenleiblichkeit bei Merleau-Ponty: Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übersetzt und eingeführt von Rudolf Boehm. Berlin 1966. Merleau-Ponty, Der Philosoph und sein Schatten (1959) sowie Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist (1961). Sowie zu Fragen zur Bedeutung der Leiblichkeit für die Kommunikation und Identitätsbildung siehe: Fuchs, Leib, Raum, Person und Fuchs, Thomas: Verkörperung, Sozialität und Kultur. In: Breyer, Thiemo et al. (Hg.): Interdisziplinäre Anthropologie. Leib – Geist – Kultur. Heidelberg 2013. 11–34. 111 Nach Blaise Pascal nimmt der Mensch seine Umwelt über das Fleisch, die Sinne, den Geist und den Willen wahr, die Auseinandersetzung mit der Umwelt wird über diese Kanäle ermöglicht. Vgl. Sternagel, Mersch, Kraft der Alterität, Einleitung, 8. 112 Vgl. a. a. O., 9.

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eintrete, sei es durch eine sprachliche, emotionale oder kognitive Reaktion, werde man selbst zu einem aktiven Teil des Ganzen, man re-agiert113. Eine »leibliche KoPräsenz« von Schauspielern und Zuschauern ist daher für das Theater konstitutiv.114 Die sog. »performative Wende«115 und das Konzept der Performanz, das in den 1980er und 1990er Jahren daraus entwickelt wurde, versuchte einen neuen Aspekt hervorzuheben. Anstelle des Inhaltes auf der Bühne sollte der Fokus auf den Prozess der Rezeption durch das Publikum gelegt werden. Es geht dabei zunächst um Grenzüberschreitungen: Einerseits werde die Grenze zwischen dem Bühnengeschehen und dem Publikum aufgehoben, durch eine Unmittelbarkeit, die die klassische Illusion überlagert116. Andererseits komme es zu einer Grenzüberschreitung am Leib des Schauspielenden selbst. Erika Fischer-Lichte spricht hier davon, dass sich die Grenze zwischen dem semiotischen Körper und dem phänomenalen Leib des Akteurs auflöst117. Diese zunächst primäre Grenzüberschreitung wirkt sich dann zu einer übergeordneten sekundären Grenzüberschreitung aus. »In Aufführungen wirkt also der phänomenale Leib der Beteiligten mit seinen je spezifischen, physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Zuständen unmittelbar auf den phänomenalen Leib anderer ein und vermag in diesem je besondere physiologische, affektive, energetische und motorische Zustände hervorzurufen.«118

Das erklärt, warum für Fischer-Lichte der performative Akt nicht anders als verkörpert gedacht werden kann.119 Dies weist auch den Zuschauenden neue »Rollen« zu: »Die Zuschauer erscheinen nicht länger als distanzierte oder einfühlsame Beobachter von Handlungen, welche die Schauspieler auf der Bühne vollziehen und denen sie – die Zuschauer – auf der Grundlage ihrer Beobach113 Vgl. Sternagel, Mersch, Kraft der Alterität, 12. »Die Arbeit mit dem Begriff des Performativen verlagert damit unsere Aufmerksamkeit und Tätigkeit gleichsam in die Welt, auf das Erlebnis eines Geschehens, das nicht einfach gegeben ist, sich nicht durch bloße Fakten oder Zahlen erschließen lässt, sondern in einem dynamischen Prozess in Raum und Zeit erfahren wird, in Dimensionen, die sich mit Aktivität, Machen und Herstellen beschreiben lassen: Wir reden nicht nur über die Welt, sondern tun, indem wir sprechen, etwas innerhalb der Welt. Wir sind nicht einfach auf der Welt, jeder allein für sich, als autonomes Subjekt, sondern existieren zusammen mit Anderen, mit anderen Menschen. Wir agieren und reagieren mit unserer Sprache, unserer Stimme, unserem Gesicht, unserem Körper, unseren Gesten.« (Die Hervorhebungen der Autoren wurden in diesem Zitat nicht übernommen.) Ebd. 114 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 54. 115 Vgl. a. a. O., 9f. 116 Vgl. a. a. O., 12. 117 Vgl. a. a. O., 10. Fischer-Lichte beschreibt das körperliche Tun, die Bewegung des Schauspielers auf der Bühne als den semiotischen Körper, den eigentlichen Leib der Person als phänomenalen Leib. Vgl. a. a. O., 62. 118 Ebd. 119 Vgl. a. a. O., 44.

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tungen und ihrer Kenntnis des Stücks bestimmte Bedeutungen beilegen. Sie werden auch nicht als intellektuelle Entzifferer von Botschaften begriffen, die mit bzw. von den Handlungen und Reden der Schauspieler formuliert werden. Die kreative Beteiligung der Zuschauer bleibt dabei keineswegs auf ihre Einbildungskraft beschränkt. Vielmehr handelt es sich um körperliche Prozesse, die sich zwischen Darstellern und Zuschauern vollziehen.«120 Gronau und Lagaay bringen hier eine ethische Dimension des Performativen ein: Die Beziehung zum Anderen führe im theatralen Kontext zu einer unmittelbaren jedoch stets auch unverfügbaren Mit-Beteiligung und Mit-Verantwortung der Zuschauenden.121 An dieser Stelle kann auch die von Mersch beschriebene Ethik der Differenz eingebunden werden. Sowohl das Performative als auch das Differente lebe von der körperlichen Affiziertheit des Anderen. Vor allem das von Fischer-Lichte vertretene Konzept folgt einem Idealbild von Performativität, das rein theoretisch möglich, aber praktisch nicht immer einzulösen ist. Es kann sicherlich zu einer ganzheitlichen Einbindung der Zuschauer kommen, wenn das volle performative Potenzial ausgeschöpft wird. Dies soll keineswegs eine Relativierung der vorgestellten Abläufe sein, vielmehr sollen so die weitreichenden Möglichkeiten – nicht nur für die Theater-Praxis – ins Bewusstsein gerufen und auch im Folgenden weiter ausgeführt werden.

120 Fischer-Lichte, Performativität, 20. 121 Vgl. Gronau, Barbara; Lagaay, Alice: »…die Einladung widersprüchliches zu ertragen…« Schlaglichter auf den performative turn in Philosophie und Theater/wissenschaft. In: Sternagel, Jörg; Mersch, Dieter; Stertz, Lisa (Hg.): Kraft der Alterität. Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen. Bielefeld 2015. 23–34. 31. Fabian Goppelsröder widmet sich in einem im Sammelband »Kraft der Alterität« erschienenen Aufsatz ganz der Frage nach einer Ethik des Performativen. Für den Kontext dieser Arbeit zeichnen sich dort einige interessante Beobachtungen ab. Goppelsröder geht ganz grundsätzlich auf die Haltung ein, die dem Performativen zugrunde liegt, und zeigt auf, dass es dabei nicht um die Einhaltung von Normen geht (vgl. Goppelsröder, Florian: Ethik der Performativität. In: Sternagel, Jörg; Mersch, Dieter; Stertz, Lisa (Hg.), Kraft der Alterität. Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen. Bielefeld 2015. 51–66. 54), sondern um die Praxis an sich. Es geht ihm, unter Rückgriff auf Wittgenstein um das »Aushalten und Annehmen des sich zeigenden Unsagbaren, der bereichernden Erfahrung an den Grenzen des Cogito, […]«. A. a. O., 60. Auch hier schwingt der Erlebnischarakter der Aufführung mit. Darüber hinaus hebt Goppelsröder die wittgensteinsche Verbindung des Ethischen mit dem Ästhetischen heraus, er nutzt dazu den Begriff der Anmut und stellt diese als den paradiesischen Zustand der Unschuld oder Gottgefälligkeit vor. Vgl. a. a. O., 62; 65. Letztere definiert er als »keine Folge gerechten Handelns und noch weniger eine des Verstandes. Sie ist physikalisch bzw. physiologisch bestimmt und nur aisthetisch zu beurteilen.« A. a. O., 65. Die Ethik der Performativität liegt demnach auch wieder in der Körperlichkeit, die Praxis als solche ist auf dieser Grundlage als die einzig ethische Möglichkeit der Auseinandersetzung, da Normativität und Kognitivität dem Ästhetischen entgegenwirken. Für die Begegnung mit dem Anderen müsste dies – auf die Spitze getrieben – bedeuten, die Begegnung als körperliches, zwischenleibliches Erlebnis zu betrachten – alles Andere wäre unethisch.

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Die Aufführung wird hier als in erster Linie soziales Ereignis verstanden und von dem Begriff der allgemeinen Inszenierung noch einmal abgegrenzt122. Die Aktivierung der Auseinandersetzung wird hier über die Zwischenleiblichkeit erklärt. Dass bei der Aufführung am Theater Menschen in ihrer Leiblichkeit vor und auf der Bühne interagieren ist eine Besonderheit, die in anderen medialen Formaten fehlt. Darüber hinaus definiert Fischer-Lichte die Performativität des Theaters auch über die oben bereits angesprochene Dynamik der Wahrnehmung. Der Wechsel zwischen den Rezeptionsstrategien macht für sie diese Performativität aus. »Es ist also die Wahrnehmung, die zwischen Zeichenhaftigkeit und Phänomenalität, Konstitution von Bedeutung und somatischer Erfahrung, oszillierend hin- und hergeleitet, einen performativen Prozess erst als einen solchen scheinen lässt bzw. zu einem solchen macht.«123 In der Performativität zeigt sich gleichsam ein Alleinstellungsmerkmal des Theaters innerhalb der kulturellen Institutionen: Hier wird ein direkter Kanal zwischen Inhalt und Rezeption, zwischen Reden und Tun geöffnet, der eine fluide Verbindung zwischen beiden Seiten ermöglicht. Der Fluss, in dem sich gleichsam alle Beteiligten befinden ist somit Selbstzweck und Ziel einer jeden Aufführung. 2.1.2.4 Dialog aus doppelter Distanz Das Theater stellt im Hinblick auf die Frage der Arbeit ein (interreligiöses) Dialogangebot aus doppelter Distanz dar. Zunächst verhandelt das Theater selbst religiöse Themen aus einer in der Regel neutralen und distanzierten Außenperspektive. Inhalte und Fragen werden demnach nicht aus der Sicht einer Religionsgemeinschaft thematisiert. Was überhaupt zur religiösen Frage oder zum Thema gemacht wird, entscheidet nur das Theater. Dabei spielt auch die Wahl spezifischer Abbildungskonzepte von Heterogenität eine Rolle, etwa inwieweit differenzbasiert (Ethik der Differenz) oder hybridisierend gearbeitet werden soll. Die Zuschauer werden ihrerseits nur über die Bühne mit dem Thema konfrontiert. Die Bühne stellt einen Zwischenschritt dar, der sowohl Filter (in einer abschwächenden Funktion) als auch Katalysator (in einer verstärkenden Funktion) sein kann. Als Katalysator fungiert die Bühne dann, wenn der Inhalt primär über das Erlebnis (Anmutung) eine Rezeption anstößt und wenn das »Erkennen des Anderen« eine identitätsbildende Auseinandersetzung verursacht. Die Ambivalenz der Darstellung kann hier nach Englhart sowohl zu einer Freiheit aber auch zur Überforderung im Umgang mit dem Inhalt führen.124 Die Zuschauenden werden indirekt in den auf der Bühne eingeleiteten Dialog involviert. Als 122 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 20. 123 A. a. O., 67. 124 Vgl. Englhart, Das Theater des Anderen, 24.

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Filter wirkt die Bühne, wenn der Inhalt primär sinnlich erfahren wird, hier zeigt sich eine bleibende Distanz zwischen Zuschauenden und Bühnenhandlung. Die Ambivalenz der Annäherung an das darzustellende Andere führt eher zu einer eigenen Zurückhaltung. Das Andere kann in diesem Modell sowohl die Gesamtheit der Inszenierung als auch ein einzelnes Gegenüber innerhalb der Inszenierung, etwa eine spezifische Figur, sein. Englhart weist in seiner Darstellung auf die Konzepte von »Schirm«, »Wand« und »Geflecht« hin. Diese sind ebenfalls als Hürde zu verstehen, scheinen aber eher einen kollektiven Fundus an kulturellen und gesellschaftlichen Informationen/Codes zu beinhalten, ohne den ein Bild bzw. eine Inszenierung nicht verstanden werden kann.125 Beide Rezeptionspfade sind als wechselseitiges Geschehen zu betrachten, sie können parallel ablaufen und sind – nach Englhart – für ein umfängliches Theatererlebnis gleichermaßen notwendig.126 »Theater solle Medium der ver-störendenden Präsenz und zugleich Gestaltung, Interpretation und Bewertung des Anderen sein, was sich aus seiner mimetischen Differenz ergibt.«127 Es kann dabei jedoch um keine religiöse oder spirituelle Erfahrung gehen. Diese Abgrenzung ist zentral, da es im Rahmen dieser Arbeit nicht um die potenziellen religiösen Funktionen und Erfahrungen des Theaters gehen kann. Stattdessen sollen die Auswirkungen der inhaltlichen Thematisierung religiöser Motive hinterfragt werden. Bei den Zuschauenden werden solche Erfahrungen erzeugt, die zu einer inhaltlichen Reflektion z. B. über das interreligiöse Miteinander anstoßen können.128 Aus theatertheoretischer Sicht ist der Zuschauende, im Sinne der Performanztheorie, als Teil der Inszenierung gleichsam

125 Vgl. Englhart, Das Theater des Anderen, 55. 126 Vgl. a. a. O., 39. Auch Erika Fischer-Lichte teilt die Wahrnehmung einer Aufführung in verschiedene Stränge ein. Der erste Strang entspricht einer assoziativen Wahrnehmung, die ungeordnet und »chaotisch« abläuft, das Gegenüber auf der Bühne wird dabei als »Etwas« wahrgenommen (Rezeptionsstrategie 1). Der andere Strang beschreibt die Wahrnehmung von etwas, allerdings als Zeichen (Rezeptionsstrategie 2). Hier wird bereits eine Bedeutung vorausgesetzt, sodass die Wahrnehmung zielgerichtet abläuft. Auch bei Fischer-Lichte laufen diese beiden Vorgänge dynamisch und abwechselnd. Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 66. 127 Englhart, Das Theater des Anderen, 30. Mit mimetischer Differenz ist hier die gegenläufige Vorstellung von Mimesis gemeint: das aristotelische Verständnis der Darstellung als Vermittlung von Wirklichkeit (würde die Funktion der Bühne als Katalysator stützen) und das platonische Verständnis von der Schaffung eines Nach- Bildes von Wirklichkeit (würde die Funktion der Bühne als Filter stützen). Vgl. a. a. O., 28. 128 Vgl. dazu auch Englhart, Das Theater des Anderen, 22, der in diesem Zusammenhang von einem »inneren und äußeren Kommunikationssystem« spricht. Weiter führt er aus, es würden sich »aus Sicht der Zuschauer als Mit-Performer im Prozess der Performance Wahrnehmungskonturen in der individuellen Erfahrung […] unabhängig produzierte Einzelaktionen« ergeben. Ebd.

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Mitakteur. Dies kann sowohl Chance als auch Herausforderung sein.129 Gerade bei heiklen Themen, die religiöse Überzeugungen und Gefühle tangieren, kann dies auch zur Überforderung führen.130 Bei einer Dialogsituation, in der die verschiedenen Positionen bereits auf der Bühne repräsentiert sind, kann es zu einer Entlastung der Zuschauenden kommen. Die empfundene Distanz kann gerade bei sensiblen Fragen den Druck nehmen sich unmittelbar zu positionieren. Bei der Thematisierung religiöser Stoffe, hat der Zuschauende die Möglichkeit in erster Linie Zuschauer oder Zuschauerin eines Dialogs sein zu können, der sich zwischen den Akteuren auf der Bühne ereignet. Die unterschiedlichen Rezeptionsstrategien sind in Abbildung 1 zusammengefasst: Dialog auf der Bühne

„Der Andere“

Dialog zwischen Publikum und dem Bühnengeschehen

Filter

Katalysator - Erlebnis (Anmutung) - Auseinandersetzung - Assozia"ve, „chao"sche“ Wahrnehmung (als „Etwas“) - Identitätsbildung (“sich erkennen im Anderen“) - Ambivalenz der Annäherung -> Freiheit/Überforderung

- Kogni"ve/ sinnliche, v. a. zielgerichtete Wahrnehmung ( als Zeichen) - Distanz - Bewertung/ Interpreta"on - Ambivalenz der Annäherung -> Zurückhaltung

Abbildung 1: Rezeptionsstrategien des Anderen im Theater

129 Ulrich Khuon antwortet auf die Frage nach dem Potenzial des Theaters als »sinnlichem Ereignis« und der Möglichkeit den Zuschauer als »Mitakteur in einen Handlungskontext« hineinzuziehen (vgl. Khuon, Theater als Forum der letzten Fragen, 13.), folgendermaßen: »[…] Ich bin für eine Balance zwischen Empfinden und Denken und da ist im Grunde das Dabeisein als Zuschauer wichtig. […] Ich muss nicht mit meinem Nachbarn rumdiskutieren, ich kann aber. Also, das heißt, das Theater bietet für mich eben auch in dieser Hinsicht einen offenen freien Raum für Begegnung, ohne sie zu erzwingen.« A. a. O., 14. 130 Vgl. dazu auch Englhart, Das Theater des Anderen, 24.

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2.1.3 Zur theaterwissenschaftlichen Methodik 2.1.3.1 Theatrale Verhältnisbestimmungen Jede Form der Inszenierung basiert auf einer Grundlage: Beim Sprechtheater ist dies klassischerweise der Text.131 Es muss sich dabei aber nicht zwingend um einen Dramentext handeln, es wird vor allem im zeitgenössischen Theater vermehrt auch mit Drehbüchern oder Romantexten gearbeitet. Die Theaterwissenschaft bezeichnet diese jeweilige Grundlage als Theatertext.132 Dieser wird im Zuge der einzelnen Bearbeitungsschritte noch einmal in drei Ebenen unterteilt: Man unterscheidet dabei zwischen drei Textformen: dem Theatertext als der (schriftlichen) Vorlage, die aufgeführt werden soll, dem Inszenierungstext als dem künstlerischen Gesamtprodukt, und dem Aufführungstext als die einmalige Realisierung der konkreten Aufführung.133 Hier deutet sich bereits die Unterscheidung zwischen Aufführung und Inszenierung an. Christopher Balme folgt diesem Ansatz in seiner Einführung und definiert die Inszenierung als »theatrales Produkt«, dem eine »intentionale Organisation von Zeichen und Zeichensystemen«134 zugrunde liege. Das systematische Treffen von vielerlei Entscheidungen steht hierbei im Fokus. Die Aufführung ist wiederum Produkt der Inszenierung, jedoch als einzelnes, nicht- wiederholbares Ereignis, viel transitorischer und direkter durch die Rezeptionsstrategien und die verschiedenen Interaktionsformen, die sich unmittelbar auf und vor der Bühne ereignen.135 Die Aufführung ist nach Weiler und Roselt von Ereignischarakter, einer leiblichen Ko-Präsenz, Relationalität und Intersubjektivität geprägt.136 Die vorliegende Arbeit wird sich mit beiden Produkten beschäftigen, wobei in drei von vier Fällen eine Inszenierungsanalyse durchgeführt wird. Dies hängt mit den vorliegenden Materialien zusammen. Die Produktionsquellen zu den ausgewählten Stücken wurden aus erster Hand zur Verfügung gestellt und liegen systematisiert vor. Auf geeignete Quellen zur Rezeption kann nur bedingt zurückgegriffen werden. Die zeitliche Distanz zu den Aufführungszeiträumen der 131 132 133 134

Vgl. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. 4. Aufl. Berlin 2008. 77. Vgl. a. a. O., 79. Vgl. a. a. O., 87. Vgl. Balme, Einführung, 87. Die terminologische Unterscheidung der Begriffe ist in der Theaterwissenschaft nicht durchgängig gebräuchlich. Guido Hiß nutzt die Begriffe Aufführung und Inszenierung synonym. Vgl. ebd. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass letztlich kaum eine Inszenierungsanalyse möglich ist, ohne eine entsprechende Analyse der Aufführung. Beides bedingt sich gegenseitig. Balme weist allerdings darauf hin, dass oftmals bei der Analyse der Aufführung soziologische bzw. psychologische empirische Fragestellungen zur Rezeptionsästhetik etc. verfolgt werden. Vgl. ebd. 135 Vgl. ebd. 136 Vgl. Weiler, Christel; Roselt, Jens (Hg.): Aufführungsanalyse. Eine Einführung. Tübingen 2017. 4ff.

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meisten Beispiele lässt keine Verwendung von Probenbeobachtungen oder empirisch erhobenen Daten zu. Eine sog. ereignisorientierte Untersuchung, die die Aufführungssituation einschließt, kann daher exemplarisch nur zum Stück »Das Ebenbild« im Kapitel 3.1 erfolgen. Die Untersuchungen sind daher im theaterhistoriografischen Bereich anzusiedeln, da nur im Fall von »Das Ebenbild« aufführungsanalytisch gearbeitet werden kann.137 Dabei wird anhand einer Ausgangshypothese eine Quellenauswahl vorgenommen, die in Bezug auf die Fragestellung entweder vom Besonderen zum Allgemeinen oder vom Allgemeinen zum Besonderen hin ausgewertet wird.138 Für die Arbeit ist der letztere Ansatz geeignet: Die verschiedenen Stücke werden unter theologischer und interreligiöser Perspektive betrachtet, die das Erkenntnisinteresse leiten. Zudem ist hier zu bemerken, dass es sich bei der theaterwissenschaftlichen Untersuchung auch immer um einen hermeneutischen Ansatz handelt, der im Rahmen seiner Fragmentarität und Partikularität139 hin verstanden werden muss.140 Es geht dabei weniger um die Summe einzelner Beobachtungsergebnisse, sondern um das reziproke Verhältnis zwischen dem eigenen, teils durch Vor-Urteile141 geprägten, Vorverständnis und dem neuen.142 2.1.3.2 Zum Analyseverfahren der Arbeit Methodisch wird bei den Analysen größtenteils auf die Überlegungen zur theatralischen Bedeutung und zum Verfahren der Transformationsanalyse von Guido Hiß zurückgegriffen. Im Folgenden sollen die Hauptaspekte seiner Theorie kurz skizziert werden.

137 Es wird hier die Unterscheidung von Fischer-Lichte übernommen, die in ihrer Methodik zwischen Aufführungsanalyse und Theaterhistoriografie differenziert. Eine Aufführungsanalyse im eigentlichen Sinne ist nur dann möglich, wenn die analysierende Person körperlich bei mindestens einer Aufführung anwesend war. Vgl. Kap. 3.1.3 sowie Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft. Einführung in die Grundlagen des Fachs. Tübingen/ Basel 2010. 70f. 138 Vgl. a. a. O., 121. 139 Vgl. hier auch den »Doppelungs-Ansatz« von Manfred Wekwerth (vgl. dazu: Wekwerth, Manfred: Theater und Wissenschaft. München 1974.) Das theatrale Geschehen ist demnach immer in zweifacher Hinsicht zu verstehen: es ist zum einen ein Abbild von bereits vorhandener Wirklichkeit, zum anderen immer auch eine im Entstehen begriffene neue Wirklichkeit. Vgl. Hiß, Guido: Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse. Berlin 1993. 17. 140 Vgl. a. a. O., 15. 141 Hiß bezieht sich hier auf Hans Georg Gadamer und legt dessen Ansatz zur hermeneutischen Synthese zugrunde. Siehe dazu: Gadamer, Hans Georg: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1965. 291. 142 Vgl. Hiß, Der theatralische Blick, 23.

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Zwischen Vagem und Bestimmtem Als Endprodukt versteht Hiß die Bildung eines sog. »Simulacrums« und greift dabei auf die Überlegungen Roland Barthes zurück143. Das »Simulacrum« stellt das Ziel eines Analyseverfahrens dar und besteht aus einer »Zerlegung« des Stoffes sowie eines anschließenden »Arrangements« der einzelnen Beobachtungsaspekte.144 Um zum »Simulacrum« vorzustoßen sind eine Reihe von Grundausrichtungen des Theaters zu benennen. Hiß bezieht sich hier auf die Korrespondenzen, die Komposition, das Verhältnis zwischen dem Vagen und Bestimmten, den syntagmatischen Kontext sowie die Konventionen. In den beiden ersten Bereichen geht es ihm um das Verhältnis verschiedener Zeichensysteme. Z. B. wie sich das Verhältnis von Sprache und Musik bestimmen lässt. Im Theater korrespondiert eine Vielzahl an unterschiedlichen Systemen miteinander. Diese Synthesen werden durch bewusste Entscheidungen hervorgerufen und dadurch Bedeutungszusammenhänge erzeugt.145 Solche Auswahlprozesse lassen sich auch als Komposition beschreiben, vor allem solche Aspekte, die besonders verdeutlicht werden sollen, müssen mehrfach, d. h. mit verschiedenen Systemen dargestellt oder wiederholt werden.146 Dies ist nicht leicht umzusetzen, da das Dargestellte ja auch nicht tautologisch erscheinen soll. Dies ist zu vermeiden, indem »das visuelle Zeichensystem sich zu bestimmten Aspekten des Partnersystems parallel setzt, ›wiederholt‹ es das dort Ausgedrückte nicht pauschal, sagt nicht einfach mit bildlichen Mitteln ›das gleiche‹ wie das sprachliche, sondern akzentuiert eine Möglichkeit seines Bedeutungsfeldes.«147 Diesen Ansatz greift Hiß weiter auf, es geht ihm nicht darum, jedes Einzelsystem zu untersuchen, sondern vielmehr die Wechselwirkungen der Systeme in den Blick zu nehmen. Darum geht es ihm auch, wenn er den sog. syntagmatischen Kontext beschreibt. Dieser ist entscheidend, um ein dem Stück genuines Verständnis bei den Zuschauenden zu erzeugen oder dieses zu verhindern. Die »Theatersprache« kann sich von Stück zu Stück verändern, d. h. man kann nicht davon ausgehen, dass z. B. die Bedeutung einzelner Requisiten bestehen bleibt. 143 Vgl. hierzu: Barthes, Roland: Die Strukturalistische Tätigkeit. In: Essays critiques. Edition du Deuil. Paris 1964. Deutsche Übersetzung von Moldenauer, Eva, in: Der französische Strukturalismus. Hrsg. von Günther Schiwy. Reinbek 1969. 154. »(D)as Simulacrum, das ist der dem Objekt hinzugefügte Intellekt… Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer Abdruck der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern einsehbar machen will.« Ebd. zitiert nach Hiß, Der theatralische Blick, 14. 144 Vgl. a. a. O., 13f. Zentral für die Vorgänge von Zerlegung und Arrangement ist die bereits zuvor genannte Wechselwirkung von Eigenem und Neuem. 145 Vgl. a. a. O., 34f. 146 Vgl. a. a. O., 44. Redundanzen sind immer dann erforderlich, wenn das Verständnis in Bezug auf ein möglichst großes Publikum sichergestellt werden möchte. Vgl. a. a. O., 47. 147 A. a. O., 50 (im Original teilw. mit Hervorhebungen).

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»Die Sprachen des Theaters sind dadurch gekennzeichnet, daß sie sich, entsprechend besonderer Rückfrageprozesse zwischen Zuschauenden und Aufführungstext, stabilisieren, indem sie sich teilweise neu bilden.«148 Vor allem zu viele aufführungsimmanente Bezüge können das Verständnis der Zuschauenden aber auch massiv behindern.149 Um überhaupt Verständnis im so vielschichtigen Theaterkontext zu ermöglichen, sind Konventionen notwendig, auf die sich alle Beteiligten berufen können. Hiermit werden größtenteils Ordnungssysteme (klassische Strukturen wie die Einteilung in Akte und Szenen, aber auch moderne zusammenhangschaffende Einheiten, wie Leitmotive oder dominante Figuren) beschrieben, die den Zuschauenden innerhalb der Aufführung Orientierung bieten.150 Konventionen könnten allerdings von den Zuschauenden auch erlernt werden, die sog. rezeptive Kompetenz könne verändert oder bewusst trainiert werden.151 Am deutlichsten wird Hiß’ Ansatz bei seiner Überlegung zum Vagen und Bestimmten. Er verweist hier zunächst auf den theaterwissenschaftlichen Diskurs in der Bestimmung ikonischer und symbolischer Zeichen (hier besteht weitestgehend noch Konsens, nämlich, dass es sich beim Theatertext um symbolische und bei der Ausgestaltung des Bühnenbildes um ikonische Zeichen handelt) bzw. ihrer Zuordnung zum Allgemeinen bzw. Konkreten (hier scheiden sich die Geister: Manfred Pfister versteht die Sprache etwa als das Konkrete, Erika Fischer-Lichte hingegen, wertet die Sprache als das Vage, die Requisite als das Konkrete152), um zu der Einsicht zu kommen, dass solche Zuteilungen hier nicht weiterhelfen. Hiß geht es um die einfache Unterscheidung von und die Wechselwirkungen zwischem dem Unbestimmten, dem Vagen, und dem Bestimmten. Hierin sieht er den Schlüssel zum Verständnis von Ikonischem und Symbolischem und verspricht sich eine Methodik, die sich durch Flexibilität und Dynamik auszeichnet.153 Für die Analyse braucht es auf diesen Grundannahmen basierende Vorüberlegungen zu einem Stück, die die Interpretation als sog. »Sinnklammern« stützen. Hilfreich dabei kann die Orientierung an Isotopien sein, etwa die Figurenisotopie.154 Wichtig ist, diese »Sinnpfade« – wie Hiß sie bezeichnet – transparent zu beschreiben und zu durchlaufen.155

148 149 150 151 152 153 154 155

Hiß, Der theatralische Blick, 67. Vgl. a. a. O., 69. Vgl. a. a. O., 72f. Vgl. a. a. O., 70. Vgl. a. a. O., 59f. Vgl. a. a. O., 63. Vgl. a. a. O., 79. Vgl. a. a. O., 80.

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Transformationsanalyse Hiß’ Ansatz ermöglicht etwa im Vergleich zu anderen Modellen156 eine große Flexibilität im Umgang mit den heterogenen Theatertexten, anders als bei Methoden, die stärker von einem direkten Zugang zum Inszenierungstext ausgehen, etwa eine vom sprachlichen Text ausgehende Betrachtung. Hier bietet sich eine sog. Transformationsanalyse bzw. eine transformatorische Untersuchung an, die den Theatertext mit dem Inszenierungstext in Beziehung setzt. Diesem Zugang liegt die Haltung zugrunde, dass es sich bei der Inszenierung nicht um die schlichte Umsetzung eines Theatertextes handelt, sondern um eine Transformation.157 »Wer von Umsetzung spricht, unterstellt damit das Ideal, dass ein Stück möglichst unbeschadet auf die Bühne gelangen könne. Da sich ein Dramentext aud die Theaterbühne unterschiedlicher kultureller Zeichensysteme bediene, geht jede Inszenierung notwendig mit einem Wandel des Zeichenrepertoires einher.«158

Der analytische Blick auf die Inszenierung und die jeweilige Textgrundlage ist somit gleichermaßen geboten. Dies ist bei Stücken wie »San Paolo« oder dem »Urban Prayers Projekt« sinnvoll, da in diesen Fällen jeweils schon im Drehbuch bzw. im dramatischen Text ein intentionaler Schwerpunkt mitgeliefert wird, der bereits in theologischer Hinsicht fruchtbar zu machen ist. Weierhin handelt es sich bei »Das Ebenbild« und »San Paolo« um Uraufführungen, d. h. die Inszenierungen basieren auf bisher nicht veröffentlichten Textvorlagen. Zu bemerken ist an dieser Stelle auch, dass Transformation im eigtl. Sinne im Falle dieses Untersuchungsvorhabens auch bereits zwischen den religiösen Ursprungsthemen und Motiven und der jeweiligen Adaption durch das Theater stattfindet. Auch dies soll jeweils Teil der Analysen sein. Die Transformationsanalyse kann, obwohl ursprünglich für das Sprechtheater entwickelt, überdies auch für das Musiktheater übernommen werden.159 Dabei wird in einem ersten Schritt eine Analyse des Theatertextes erarbeitet.160 Von dort aus wird das Profil des Textes und ein möglicher Interpretationsansatz 156 157 158 159

Zu nennen ist hier etwa die sog. »Strukturanalyse« nach Erika Fischer-Lichte. Vgl. Weiler; Roselt, Aufführungsanalyse, 213. Ebd. Vgl. Balme, Einführung, 111; 113. Vor allem der ›performative turn‹ hat die Analyseschwerpunkte in den letzten Jahren stark mit den mehr auf das Drama ausgerichteten Theaterwissenschaften verschränkt. Vgl. Daude, Daniele: Oper als Aufführung: neue Perspektiven auf Opernanalyse. Bielefeld 2014. 70. 160 Bei Hiß ist damit die tatsächliche Textgrundlage eines Stücks gemeint. Konkret erfolgt im Fall von »Das Ebenbild« und »San Paolo« eine Analyse des Librettos. Im Falle der »Urban Prayers« Inszenierung liegt die Textgrundlage von Björn Bicker vor, direkte Zitate sind dem Aufführungstext entnommen.

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Theater und interreligiöser Dialog – Theoretische Rahmenbedingungen

bestimmt sowie eine Hypothese formuliert. In einem zweiten Schritt wird eine Aufführungs-161 bzw. eine Inszenierungsanalyse durchgeführt, dabei wird sich auf die Dominanten beschränkt, die für die Analyse zentral erscheinen, etwa, dramaturgische Einrichtung, Bühnenbild oder Figuren. Im Zuge dessen kommt es zum Vergleich beider Produkte sowie zur Diskussion des ideologischen bzw. bei dieser Arbeit des theologischen Kontexts der Inszenierung.162 Dazu wird zunächst im direkten Anschluss an die einzelnen Analysen eine Untersuchung zur immanenten Darstellung der Religion(en) durchgeführt. In Kapitel vier erfolgt dann die gebündelte Auswertung der Inhalte unter theologischer Perspektive. Auch beim Musiktheater163 geht es um das jeweilige Verhältnis zwischen dem Text (Partitur/ Libretto) und der Inszenierung. Diese steht – anders als beim Sprechtheater – in der Verantwortung zweier Akteure, dem Komponisten und dem Librettisten. Diese sog. »doppelte auktoriale Funktion« erschwert nicht nur die Interpretation, sondern eröffnet eine zusätzliche Dimension. Partitur und Libretto stehen in gegenseitigem Bezug und erfüllen zudem jeweils unterschiedliche dramatische und szenische Funktionen.164 So diente die Musik im Kontext der Oper lange Zeit als Ausdruck von Affekten. Generell ermöglichen Musik und Schauspiel eine viel direktere Vergegenwärtigung der Handlung.165 Dies ist auch einer der Gründe, weshalb die Aufführung beim Musiktheater einen größeren Stellenwert einnimmt. Der Text fällt hier stärker ins Gewicht, da das Theatererlebnis viel stärker an die musikalischen Darbietungen von Sängern und Orchester gebunden ist.166 Des Weiteren lässt sich im Bereich des Musiktheaters zwischen einer formalen und symbolischen Analyse unterscheiden. Bei einer formalen Analyse geht es vornehmlich um »innermusikalische Untersuchungen«167, also um eine eher technische Analyse der Musik. Der symbolische Ansatz fragt nach dem übergeordneten Leitmotiv, geht auf Verweise ein und versucht die »mehrschichtige Vernetzung«168 des Stoffes offen zu legen.169 Auch in 161 Dies betrifft das Musiktheater »Das Ebenbild«. 162 Vgl. Schaubilder bei Balme, Einführung, 98; 111. Hiß’ Ansatz wurde in den einzelnen Zwischenschritten leicht abgewandelt: So wurde eine Hypothesenbildung zum ersten Schritt ergänzt. Vgl. a. a. O., 112. 163 Obwohl die Unterscheidung zwischen Oper und Musiktheater durchaus umstritten ist, wird im Folgenden durchgängig der Begriff Musiktheater für die Inszenierung von »San Paolo« verwendet. Zum einen gebraucht das Theater Osnabrück selbst diesen Begriff, zum anderen spricht rein definitorisch vieles, wie etwa, dass es sich um keinen historischen Stoff und keine klassische Opernproduktion handelt, dafür. Zur weiteren Geschichte und Verwendung des Opernbegriffs, siehe Daude, Oper, 11–13. 164 Vgl. Balme, Einführung, 105. 165 Vgl. ebd. 166 Vgl. a. a. O., 109. 167 Daude, Oper, 29. 168 Ebd.

Interreligiöser Dialog

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der Betrachtung der für diese Arbeit ausgewählten Stücke »San Paolo« und »Das Ebenbild« soll der letztgenannte Ansatz verfolgt werden. Zum einen wäre eine systematische musiktheoretische Analyse in dem vorgegebenen Rahmen und ohne musikwissenschaftliche Ausbildung kaum in angemessener Qualität zu leisten. Darüber hinaus ist eine solche formale Analyse im Hinblick auf die gesetzten Hypothesen der Arbeit nicht zwingend erforderlich. Es wird daher bei den beiden untersuchten Musiktheaterinszenierungen auf die formale Analyse verzichtet.

2.2

Interreligiöser Dialog

2.2.1 Grundlagen des Dialogs Der Umgang mit religiöser Heterogenität kann vielfältig sein. Eine Möglichkeit, der Begegnung mit dem (religiös) Anderen eine Form zu geben, ist der (organisierte) interreligiöse Dialog. Am Anfang steht hier die einfache Frage »Was glaubst du?«. Antworten ergeben sich dann aus dem aufeinander Zugehen, dem gegenseitigen Kennenlernen und dem stetigen Hinterfragen der eigenen Position. Ulrich Dehn spricht in der Einleitung zum 2017 erschienenen Handbuch zur Theologie der Religionen vom interreligiösen Dialog als einer kontinuierlichen »Suchbewegung«170. Bei der Beschäftigung mit Theorien zu diesem Feld sammelt man in der Tat höchstens Mosaiksteinchen, die sich nur schwer zu einem vollständigen Bild zusammenbringen lassen. Die Komplexität, die sich hier zeigt, ist auf die Multiperspektivität zurückzuführen, mit der man es auf dem Feld der Theologie der Religionen unweigerlich zu tun hat. In jeder einzelnen Religion konkurrieren Strömungen, Traditionen und Konfessionen und finden darüber hinaus mehr oder weniger Niederschlag in der jeweiligen Theologie. Hinzu kommen die Religionswissenschaften, die zwar keiner konkreten Religion verpflichtet, jedoch trotzdem der allgemeinen Sache der Religion verschrieben sind. Um eine tragfähige Theorie des interreligiösen Dialogs zu entwickeln, müssen die unterschiedlichen Religionen und ihre Theologien beteiligt werden. Dabei kann es jedoch von Vorteil sein, wenn wiederum innerhalb einer Religion ein Konsens über die Position zu und den Umgang mit anderen Religionen herbeigeführt worden ist. Im Folgenden soll daher zunächst der Blick auf das Gefüge von 169 Daude, Oper, 28f. 170 Dehn, Ulrich: Einleitung: Der (inter-)religiöse Dialog und die Theologie der Religionen. In: Dehn, Ulrich; Caspar-Seeger, Ulrike; Berstorff, Freya (Hg.): Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog. Freiburg i. Br. 2017. 11– 25. 11.

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unterschiedlichen Perspektiven, Begegnungsformen und Orten des interreligiösen Dialogs geworfen werden, bevor im zweiten Schritt einige ausgewählte Theorien vorgestellt werden. 2.2.1.1 Voraussetzungen des Dialogs Mit welchen Voraussetzungen sich Einzelne überhaupt für einen Dialog einsetzen hängt mit der eigenen Überzeugung von religiöser Wahrheit zusammen und kristallisiert sich oft im Absolutheitsanspruch einer Religionsgemeinschaft. Seit den 1980er Jahren hält sich die von Alan Race und John Hick entwickelte Einteilung von exklusivistischen, inklusivistischen und pluralistischen Begegnungsmodi171 mit dem religiös Anderen. Der Vorteil liege darin, dass es sich um ein systematisches Konzept handle, das es ermögliche, dass »jede Religion ihr Verhältnis zu den anderen Religionen prinzipiell im Sinne einer der drei Optionen bestimmen [kann].«172 Auch gegenwärtig gibt es Konzepte und Ansätze, die sich den Hick’schen Kategorien zuordnen lassen. Ebenso finden sich aber auch Strömungen, die sich kritisch zu der Kategorisierung verhalten, z. B. die Komparative Theologie nach Klaus v. Stosch und Francis Clooney.173 Es wird darin problematisiert, dass es im Zuge des Schemas nicht möglich sei, eine wohlwollende, wertschätzende Haltung gegenüber einer anderen Religion zu vertreten und gleichzeitig die eigene, z. B. die christliche Überzeugung, dass etwa Jesus Christus der Heilsbringer sei, nicht zu verleugnen.174 Das Ziel der Komparativen Theologie ist es, den religiös Anderen über die vergleichenden Studien religiöser Texte, Rituale, Dogmen etc. kennenzulernen und aus der Begegnung die eigene theologische Erkenntnis zu bereichern.175 Dabei spielt die Praxis, die Begegnung per se, eine große Rolle.176 Für alle Theologie der Religionen gilt, ohne Rückbindung an die eigene Religionsgemeinschaft agieren Theologien im luftleeren Raum und machen einen praktischen Dialog unmöglich. Es ist vielfach so, dass sich Theorie und Praxis des interreligiösen Dialogs scheinbar gegenseitig behindern: Das, was die Praxis, die einzelnen Akteure aus den tatsächlichen 171 Vgl. dazu eine ausführliche Diskussion des Schemas in Schmidt-Leukel, Perry: Zur Einteilung religionstheologischer Standpunkte. In: Dehn, Ulrich; Caspar-Seeger, Ulrike; Berstorff, Freya (Hg.): Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog. Freiburg i. Br. 2017. 252–295. 172 Schmidt-Leukel, Zur Einteilung religionstheologischer Standpunkte, 260. 173 Die Kritikpunkte sind vielfältig. Schmidt-Leukel versucht einige zu widerlegen in: A. a. O., 267–282. 174 Vgl. a. a. O., 283. 175 Vgl. Stosch, Klaus von: Komparative Theologie. In: Dehn, Ulrich; Caspar-Seeger, Ulrike; Berstorff, Freya (Hg.): Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog. Freiburg i. Br. 2017. 217–337. 317. 176 Vgl. a. a. O., 320.

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Begegnungen zwischen Menschen erfahren, scheint in theoretischer Hinsicht oft nicht tragfähig zu sein und das, was systematisch und konzeptionell für die Begegnung entwickelt wird, scheitert schon bei dem Versuch der Umsetzung.177 Entscheidend scheint jedoch oftmals der Wille zur wahrhaftigen und authentischen Begegnung. Dabei ist in erster Linie die Begegnung mit dem einzelnen anderen Menschen gemeint, mit demjenigen, der etwas anderes glaubt als ich. Es ist also eine physische und eine geistige Begegnung, die zwischen mir und meinem Gegenüber Raum für etwas inhaltlich erfahrbares und intersubjektiv erlebbares Neues entstehen lassen kann. Der methodische Rückgriff auf Texte, Themen oder Gesprächsleitfäden wird dann zweitrangig. Fruchtbar können vor diesem Hintergrund auch ritualhermeneutische Zugänge sein, wie der Ansatz zur interreligiösen Gastfreundschaft von Marianne Moyaert178, der auf das Potenzial ritueller Partizipation und liturgischer Begegnung setzt. 2.2.1.2 Perspektiven des Dialogs Darüber hinaus muss weiter gefragt werden, von welchem Standpunkt man sich der Aufgabe des Dialogs nähert: von innen, aus der eigenen religiösen Überzeugung heraus oder von außen, das hieße zumindest von einem religionswissenschaftlichen, wenn nicht von einem rein säkularen Standpunkt. Reinhold Bernhard definiert die beiden Perspektiven hier folgendermaßen: »Die innenperspektivische Sicht besteht nicht im Blicken nach innen, auf den Glauben des Glaubenden, sondern von innen – mit den Augen des Glaubenden. Und die außenperspektivische Betrachtung sieht nicht nach außen auf die Objektivierungen der Religion, sondern im Modus relativer Neutralität von außen. Die beiden Perspektiven unterscheiden sich im Grad der Partizipation des Subjekts an der Wirklichkeit, zu der es in einer erkennen- bzw. verstehen wollenden Beziehung steht: die Sicht des engagierten Teilnehmers und die des unbeteiligten Betrachters.«179 Für eine Sicht von außen spricht

177 Einen Versuch die praktische Umsetzung des Dialogs mit analytischen Verfahren zu kombinieren stellt der methodologische Ansatz des Forschungslabors Dialogische Theologie als Teil des ReDi-Projektes dar. Vgl. dazu Weisse, Wolfram: Auf dem Weg zu einer Dialogischen Theologie. Offenheit gegenüber Anderen in den Ursprungstexten von Religion und eine dialogisch-interreligiöse Hermeneutik. In: Eckholt, Margit; El Mallouki, Habib; Etzelmüller, Gregor (Hg.): Religiöse Differenzen gestalten. Hermeneutische Grundlagen des christlichmuslimischen Gesprächs. Freiburg im Breisgau 2020. 268–283. 279. 178 Vgl. Moyaert, Marianne: Unangemessenes Verhalten? Über den rituellen Kern von Religion und die Grenzen interreligiöser Gastfreundschaft. In: Bernhardt, Reinhold; Schmidt-Leukel, Perry (Hg.): Interreligiöse Theologie. Chancen und Probleme. Zürich 2013. 53–72. 132ff. 179 Bernhardt, Reinhold: Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion. Beiträge zu einer Theologie der Religionen Bd. 2. Zürich 2005.139.

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sich etwa die islamische Theologin Katajun Amirpur aus: »Denn eine säkulare Sicht auf die Religionen ist meiner Ansicht nach die allererste Voraussetzung für den Dialog.«180

Für beide Vorgehensweisen sprechen unterschiedliche Gründe. Für Raimon Panikkar etwa muss die interreligiöse Begegnung »eine wahrhaft religiöse« sein.181 Dialog zwischen den Religionen sei nur dann wirklich fruchtbar, wenn sich die einzelnen Teilnehmer ihrer eigenen Religiosität, ihrem »Glauben«, bewusst sind und sie in die Begegnung mit einbringen.182 Dies schließt insbesondere für Panikkar aber auch die Zugehörigkeit zu mehr als nur einer Religion nicht aus. Inwieweit eine solche multiple religiöse Identität183 überhaupt infrage kommt und welche Spielräume sie für den interreligiösen Dialog eröffnen soll, ist umstritten. Auch die Komparative Theologie will sich als »konfessionelle Theologie einer bestimmten religiösen Gemeinschaft«184 verstanden wissen. Laut Schmidt-Leukel ist sogar die pluralistische Theologie der Religionen und die Inanspruchnahme des Hick’schen Schemas an einen religiösen Standpunkt ge180 Amirpur, Katajun: Die Anerkennung des Anderen – islamische Texte neu gelesen. In: Dehn, Ulrich; Caspar-Seeger, Ulrike; Berstorff, Freya (Hg.): Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog. Freiburg i. Br. 2017. 454–472. 460. Amirpur greift in ihrer Antrittsvorlesung in Hamburg auf die Ansätze Mohammad M. Shabestaris zurück, der zwischen einem individuellen und einem objektiven Absolutheitsanspruch unterschied. Während der individuelle Anspruch der einzelnen Religion, die Beziehung zwischen Mensch und Gott betreffe, wirke sich der objektive Wahrheitsanspruch, der auf ein plurales Verständnis abzielt, auf das Zusammenleben der Menschen (unterschiedlicher Religionen) aus. Auf dieser zweiten Ebene sei ein friedliches Zusammenleben nur dann möglich, wenn die religiösen und politischen Systeme getrennt voneinander betrachtet werden. Vgl. a. a. O., 459. Davon abzugrenzen ist z. B. das Engagement des Humanistischen Verbands Deutschland, der sich im »Forum der Religionen« in Hannover seit 2010 als ständiges Mitglied am interreligiösen Dialog beteiligt. Die Motive dafür liegen laut Schröder weniger im Interesse am Austausch zwischen den Akteuren, sondern mehr in der Steigerung der öffentlichen Wahrnehmung des Verbandes. Vgl. dazu Schröder, Dialog der Weltanschaungen? 170f; 174f.; 176f. 181 Panikkar, Raimon: Die Spielregeln der religiösen Begegnung. In: Dehn, Ulrich; CasparSeeger, Ulrike; Berstorff, Freya (Hg.): Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog. Freiburg i. Br. 2017.132–145. 132. 182 Vgl. a. a. O., 142f. »Mit Glaube meine ich eine Haltung, die die nackten Tatsachen ebenso transzendiert wie die dogmatischen Formulierungen der verschiedenen Konfessionen; eine Haltung, die ein Verstehen ermöglicht, auch wenn Worte und Begriffe einander widersprechen, weil sie dies gleichsam durchdringt und bis in die Tiefe jedes Bereiches vorstößt, der der religiöse Bereich schlechthin ist. Wir erörtern nicht Systeme, sondern Wirklichkeiten und die Weisen, wie sich diese Wirklichkeiten zeigen und kundtun, damit sie auch unserem Gesprächspartner verständlich werden.« A. a. O., 143. 183 So benennen es Bernhard und Schmidt-Leukel im Titel ihres Bandes: Bernhardt, Reinhold; Schmidt-Leukel, Perry: Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen. Zürich 2008. 184 Stosch, Komparative Theologie, 317. In den Arbeiten von Keith Ward und Robert Cummings Neville tritt die konfessionelle Rückbindung allerding zugunsten einer eher systematischen Ausrichtung der Theorie zurück. Vgl. a. a. O., 322.

Interreligiöser Dialog

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bunden, da aus naturalistischer oder atheistischer Sicht diese Optionen gar nicht zu vertreten wären.185 Bernhardt sieht drei »hermeneutische Erfordernisse« für den Umgang mit interreligiösen Inhalten als relevant an: die Darstellung der eigenen Innenperspektive, das sich Einlassen auf die fremde Innenperspektive und die Außenperspektive auf die eigene und die fremden Religionen. Letztere solle »vorurteilslos« und »möglichst wertfrei« eingenommen werden.186 Inwieweit ist eine solche Unvoreingenommenheit aber überhaupt möglich? Dehn stellt dazu völlig zurecht fest: »Unsere jeweiligen Lebenswelten, Beziehungen und Sozialisationszusammenhänge spielen eine beeinflussende Rolle bei dem Blick auf das andere. Unsere Wahrnehmungen auch des anders Religiösen beruhen immer auf einer spezifischen Lesung der Zeichensysteme religiöser Traditionen und religiös Handelnder, die nicht eindeutig sind, sondern von uns mit unterschiedlichen Assoziationen und Konnotationen versehen werden.«187 2.2.1.3 Dialog als Begegnung »[D]as Antlitz des Nächsten188« wahrnehmen.

Damit die interreligiöse Begegnung zu einem Dialog werden kann, müssen laut Bernhardt die Grundhaltungen von »Verstehen« und »Mitteilen« eingenommen werden.189 Er ergänzt in einem späteren Band, es gehe dabei nicht um »Verhandlungen über Forderungen, Interessen und Absichten«190. Der Dialog ist demnach ein Prozess, in den beide Partner bzw. alle Akteure aktiv eintreten. Das Ausmaß, mit dem der Dialog auf die Beteiligten einwirke, könne unterschiedlich sein, das Spektrum reiche von einer rein kognitiven Verständnisebene bis hin zu einer starken persönlichen Transformation.191 »Dialog«, so beschreibt Bernhardt, »vollzieht sich also in der dynamischen Balance zwischen zwei Haltungen, die jeder der Dialogpartner wechselseitig einnimmt, die in ihm selbst in einer dialogischen Beziehung zueinander stehen und innere Dialoge provozieren: der empathischen Haltung des verstehen-wollenden Einfühlens in den Anderen und der (im weiten und wertfreien Sinne) ›konfessorischen‹ Haltung, in der eine Bezeugung der eigenen Gewissheitsgrundlagen stattfindet.«192 185 186 187 188 189 190

Vgl. Schmidt-Leukel, Zur Einteilung religionstheologischer Standpunkte, 260. Bernhardt, Ende des Dialogs?, 164f. Dehn, Einleitung, 23. Weisse, Interreligiosität im öffentlichen und akademischen Diskus, 43. Bernhardt, Ende des Dialogs?, 92f. Bernhardt, Reinhold: Inter-Religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen Bd. 16. Zürich 2019. 185. Im Weiteren schreibt Bernhardt auch vom Dialog als »Beziehungsmuster« Vgl. ebd., 186f. Zur historischen Entwicklung des Dialogbegriffs im Kontext von Interreligiosität siehe a. a. O., 183–223. 191 Vgl. Bernhardt, Ende des Dialogs, 92. 192 A. a. O., 93.

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Das Verstehen als ein Bestandteil des Dialogs wirke gleichermaßen auf die Außenperspektive, die Innenperspektive und die Innenperspektive des Anderen ein. Ein gänzliches Eintauchen in die fremde Eigenperspektive sei nur als eine »relative Annäherung«193 möglich, habe aber das Potenzial die eigene Standortgebundenheit dahingehend zu transzendieren.194 Es werden daher insgesamt drei Dimensionen oder Grade des Verstehens unterschieden: 1.) Verstehen der begegnenden Andersheit (sachlich oder personell; in der Außenperspektive), 2.) vertieftes Verstehen eigener Auffassungen (Innenperspektive) und 3.) Verstehen der göttlichen Wirklichkeit in den Konzepten der eigenen und fremden Religion (fremde Innenperspektive über Transzendenzerfahrung).195 Mit dem Verstehen einher geht stets das Mitteilen der eigenen Glaubenswelt. Dieses Muster ist nicht nur auf tatsächliche Sprechakte zu begrenzen. Bernhardt öffnet das Verständnis des Dialogs generell für Interaktionen, die »in einem grundlegenderen Sinn auf eine bestimmte Kommunikationshaltung hinweisen, die von gegenseitiger Achtung getragen ist.«196 Somit beschreibe der Dialog nicht nur einen bestimmten »Beziehungsvollzug«, sondern auch ein »Beziehungsmuster«197. Es geht beim Dialog also in erster Linie nicht um eine Gesprächssituation, sondern um eine Einstellung zum (religiös) Anderen. Mit den vorangehenden Einblicken in die systematischen Voraussetzungen eines interreligiösen Dialogs verbinden sich auch die Fragen, was überhaupt diese Kommunikationsvollzüge veranlasst. Eine Haltung in die Begegnung mit Anders-Glaubenden zu treten, lässt sich aus den Normen aller großen Religionsgemeinschaften ableiten.198 In Lindau trafen sich im August 2019 Vertreter von über 70 kleineren Religionsgemeinschaften und der Weltreligionen zur »10th World Assembly of Religions for Peace«. Der Zusammenschluss hat sich in erster Linie der gemeinsamen Arbeit an friedlichen Lösungen weltweiter Konflikte verpflichtet. Trotzdem ist auch hier der erste und grundlegende Leitsatz »Respect religious differences«, gefolgt von den Zielen »Preserve the identity of each religiuos community« und »Honor the different ways religious communities are organized«.199

193 Bernhardt, Ende des Dialogs, 95. 194 Vgl. a. a. O., 96. 195 Für die Einteilung siehe a. a. O., 98, in Klammern wurden Anmerkungen der Autorin ergänzt. 196 Bernhardt, Inter-Religio, 206. 197 Vgl. ebd. 198 Vgl. Görrig, Detlef; Ghaemmaghami, Seyed Abbas Hosseini: Den Glauben bezeugen: Zum Verhältnis von Dialog und Mission. In: Meißner, Volker et al. (Hg.): Handbuch christliche – islamischer Dialog. Grundlagen – Themen – Praxis – Akteure. Freiburg i. Br. 2014. 238–247. 246. 199 Vgl. URL: https://rfp.org/learn/vision-mission/. (14.10.19).

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Die gemeinsamen Interessen und der praktische Ansatz sind hier als Ziele des interreligiösen Dialogs verstanden, dieser wird hier in erster Linie über das gemeinsame Handeln definiert. Ganz ähnlich, wie bereits Hans Küng die Religionen mit dem Projekt »Weltethos« in den 1990er Jahren über eine gemeinsame Ethik zu verbinden suchte. Diese Bewegungen stehen in einer Reihe mit institutionellem und privatem Engagement im öffentlichen Leben, es ist aber auch die Frage, ob nicht schon die nachbarschaftliche oder kollegiale Begegnung zwischen unterschiedlich Glaubenden hier hinzuzuzählen ist. Die Herausgeber des Handbuches christlich-islamischer Dialog200, stellen neben den Akteuren und Orten des Dialogs auch die Themen eines solchen dar. Vor allem die Auseinandersetzung mit gemeinsamen Fragestellungen und Problemen, so scheint es, ist für die Begegnung besonders fruchtbar. Durch den gemeinsamen Monotheismus ergeben sich so, zumindest für das christlichmuslimische Gespräch Schnittmengen, die eine Diskussion auf Augenhöhe ermöglichen, gleichzeitig aber starre Bilder schaffen, die »zur Bildung von Vorurteilen und Stereotypen beitragen«.201 Für die persönliche Begegnung von z. B. Muslimen und Christen sind es in erster Linie nicht konkrete theologische Inhalte die das Gespräch fördern. Es ist vielmehr eine persönliche Begegnung unter Nachbarn, Kommilitoninnen oder Kollegen über die Spuren die, die individuelle Religiosität im Alltag hinterlässt. Wolfram Weisse spricht in diesem Zusammenhang davon »das Antlitz des Nächsten« wahrzunehmen.202 Es geht also darum den Anderen überhaupt erst einmal zu bemerken, ihn anzuschauen und zu studieren, bevor man etwas über ihn oder sich selbst aussagen kann. 2.2.1.4 Orte des Dialogs Die Orte, an denen ein interreligiöser Dialog stattfindet, sind so vielgestaltig, wie die Methoden und Konzepte, die diesem zugrunde liegen. Traditionell lässt sich unter institutionellen und privaten Rahmenbedingungen unterscheiden, wobei die Institutionen sich in religiöse oder konfessionelle und in gesellschaftliche Träger aufgliedern. Neben Kirchen, Moscheen und anderen liturgischen Versammlungsorten treten so auch Bildungsträger wie Schulen, Hochschulen sowie Erwachsenen- und Weiterbildungseinrichtungen. Des Weiteren finden kulturelle und politische Veranstaltungen statt, die sich mit interreligiösen Themen befassen. Hinzukommen zahlreiche indirekte Dialogformen, die sich im Zuge

200 Siehe: Meißner, Volker et al. (Hg.): Handbuch christlich – islamischer Dialog. Grundlagen – Themen – Praxis – Akteure. Freiburg i. Br. 2014. 201 Weisse, Interreligiosität im öffentlichen und akademischen Diskus, 43. 202 Ebd.

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sportlicher, künstlerischer oder diakonischer Zusammenkünfte ergeben. Hier überschneiden sich auch privates und institutionelles Engagement. Anzumerken ist hier, dass es neben dem Interesse der Religionen untereinander auch ein »säkulares« Interesse der Gesellschaft am Austausch der Religionen gibt. Diese bezieht sich allerdings weniger auf Fragen nach religiöser Wahrheit, sondern auf das übergeordnete Friedenspotenzial der Religionen.203 »Der interreligiöse Dialog hat sich seit Ende der 1970er Jahre zu einem Label entwickelt, unter dem sich der weltanschaulich-religiöse Diskurs in Deutschland wesentlich formiert. Unter vielen Vertretern von Religionsgemeinschaften, Politikern, Medienvertretern und Wissenschaftlern scheint Konsens darüber zu bestehen, dass interreligiöser Dialog ein wichtiger und wertvoller Beitrag für friedliches Zusammenleben und das Funktionieren des Gemeinwesens ist.«204

Auch Christian Wiese sieht die Notwendigkeit des Dialogs gesellschaftlich geboten, er spricht im Anschluss an Christoph Schwöbel von einem »dialogischen Imperativ«, der maßgeblich das Zusammenleben bestimme.205 Der Theologe Wolfram Weisse begründet das gesellschaftliche Interesse am Dialog mit dem Ziel der Anerkennung des (religiös) Anderen.206 Unter Rückgriff auf Ricœr und Levinas sowie Helmut Peukert stellt Weisse in diesem Kontext die Potenziale dieser Auseinandersetzung mit dem jeweils Anderen für die Ausbildung der eigenen Identität heraus: »Identität ist nicht als das fertig gepackte und umschnürte Paket von Tradition und Organisation zu denken, sondern als abschließbares und auf Gnade verwiesenes Sehnen, in dem das Eigene nicht ohne den Anderen Gestalt gewinnen kann. […] Wenn die Anerkennung und das Erkennen des Anderen ein notwendiger Pol für die Erkenntnis des Subjekts und das Anerkanntsein im sozialen Leben ist, dann bildet die Pluralität religiöser Positionen eine Chance, wechselseitige Anerkennung einzuüben.«207

Wie im vorangehenden Kapitel dieser Arbeit aufgezeigt wird, ist die Förderung von Identitätsausbildung in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Heterogenität auch eine Kernkompetenz der Theater. Inwieweit das Theater daher auch

203 Vgl. Anhelm, Fritz Erich: Zugänge zum christlich-islamischen Dialog aus gesellschaftswissenschaftlicher und politischer Perspektive. In: Meißner, Volker et al. (Hg.): Handbuch christliche – islamischer Dialog. Grundlagen – Themen – Praxis – Akteure. Freiburg i. Br. 2014. 59–67. 61. 204 Schröder, Dialog der Weltanschauungen? 179. 205 Vgl. Wiese, Einleitung, 3. Mit Verweis auf Schwöbel, Christoph: Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Religion der Kultur, Tübingen 2003. 1. 206 »Hierfür reicht es nicht aus, ein Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher sprachlicher, kultureller und religiöser Zugehörigkeiten zu dulden; vielmehr ist es mehr denn je notwendig, auf die Anerkennung des Anderen zuzugehen.« Weisse, Interreligiosität im Diskurs, 32. 207 A. a. O., 34.

Interreligiöser Dialog

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als ein Ort des interreligiösen Dialogs verstanden werden kann, stellt eine der Ausgangsfragen dieser Arbeit dar. Auch im universitären Kontext etablieren sich im Rahmen der Theologien in den letzten Jahrzehnten verschiedene Theorien und Ansätze. Im Folgenden soll ein knapper Überblick über drei Modelle gegeben werden. Ausgewählt wurden hierfür der sog. religionstheologische Pluralismus, ein differenzhermeneutischer Ansatz und die sog. Komparative Theologie. Alle Modelle werden gegenwärtig nicht nur im deutschsprachigen Kontext rezipiert und diskutiert, sondern bieten auch fruchtbare Impulse für die theologische Reflexion der theaterwissenschaftlichen Beobachtungen. Der Überblick über den religionstheologischen Pluralismus bietet dabei zunächst die Grundlage, an der sich die beiden neueren Entwürfe der Differenzhermeneutik und der Komparativen Theologie abarbeiten.

2.2.2 Theoretische Modelle des interreligiösen Dialogs 2.2.2.1 Religionstheologischer Pluralismus »Alles Heil ist das Werk Gottes«208

Überblick Ein zentraler Punkt in Bezug auf den religionstheologischen Pluralismus ist die Abgrenzung vom sog. religiösen Relativismus209. Laut Schmidt-Leukel besteht die Aufgabe eben darin, nicht bei einem Relativismus stehenzubleiben, sondern Gleichwertigkeit als Norm für Pluralismus zu etablieren.210 Diese potenzielle Gleichwertigkeit der Religionen ist zusammen mit einer grundsätzlichen Akzeptanz der anderen Religionen die Basis des Entwurfes: »Its about to combine religious diversity with the notion of theological parity.«211 Die Begründung für 208 Hick, John: Jesus und die Weltreligionen. In: Hick, John (Hg.): Wurde Gott Mensch? Der Mythos vom fleischgewordenen Gott. Aus dem Engl. übersetzt v. Ulrich Hühne. Güterloh 1979. 175–194. 190. Das Zitat ist oben verkürzt abgedruckt, in ganzer Länge lautet es: »Meines Erachtens würde es am Ende auf etwa folgendes hinauslaufen: Alles Heil – d. h. alle Erschaffung von Gotteskindern aus menschlichen Tieren – ist das Werk Gottes.« 209 Relativismus meint hier, dass keine Religion überlegen sein kann, da es keine Kriterien gibt, die Überlegenheit zu bewerten. Toleranz beschreibt in diesem Kontext, das reine Dulden einer anderen Religion. Vgl. Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 22. 210 Vgl. Schmidt-Leukel, Perry: Pluralist Theologies. In: The Expository Times 122 (2010), 53– 72. 56. Schmidt-Leukel geht mit dieser Haltung hier auch auf die Kritik Joseph Ratzingers ein, der z. B. dem Entwurf von John Hick zu große Beliebigkeit und fehlende Normativität vorwarf. Vgl. a. a. O., 56. 211 Gilkey, Langdon: Plurality and it’s Theological Implication. In: Hick, John; Knitter, Paul (Hg.): The Myth of Christian Uniqueness: Toward a Pluralistic Theology of Religions. Ma-

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die Gleichwertigkeit basiert auf dem Verständnis, dass die unterschiedlichen Religionen »Antworten« auf eine allgemeine (göttliche) Transzendenz sind. Ihre Vielfalt ergebe sich aus den unterschiedlichen (kulturellen) Entstehungszusammenhängen.212 Allen Ansätzen des religionstheologischen Pluralismus liegt die Frage zugrunde, wie Gleichwertigkeit in den verschiedenen Religionen theoretisch begründet und von den einzelnen Akteuren auch vertreten werden kann. Historisch lässt sich das Konzept auf teils sehr unterschiedliche Ansatzpunkte und Begründungen zurückführen, die wichtigsten Herleitungen sollen hier kurz benannt werden. Der Schweizer Frithjof Schuon argumentiert, dass einer göttlichen Quelle einer Offenbarung jeweils eine Vielzahl an Rezipienten gegenübersteht, die die Individualität der Menschheit spiegelt. Der oft als exklusiv formulierte Anspruch auf Wahrheit in den Religionsgemeinschaften ergebe sich aus der individuellen Zuwendung Gottes. Schuon greift hier auf die Metapher der Sprache zurück, um seinen Ansatz zu verdeutlichen: »In other words, if the religions are true it is because each time it is God who has spoken, and if they are different, it is because God has spoken in different ›languages‹ in conformity with the diversity of the receptacless. Finally, if they are absolute and exclusive, it is because in each of them God has said ›I‹.«213

Während Schuon eher die eine Quelle der Religion betont, nähert Wilfried Cantwell Smith sich dem Universalismus über die Unterscheidung der Begriffe »faith« und »belief«, wobei hier »faith« mit Glaube als eine universale Orientierung an einer Transzendenz und »belief« die Orientierung an religiösen Ideen und Traditionen verstanden werden kann. Für Smith ist jeder »faith« dem Wesen nach universal und auch heilsbringend, in dem Sinne, dass er einem religionsübergreifenden Modus des »gerettet seins« entspricht.214 Die religiöse Tradition im Sinne des »belief« ist dafür jedoch nicht entscheidend. John Hick geht der Frage nach, wie das Transzendente überhaupt durch menschliche Annäherung erschlossen werden könne und deutet darauf hin, dass ryknoll 1987. 37–52. Zitiert nach: Schmidt-Leukel, Pluralist Theologies, 55. Bernhard formuliert folgendermaßen: »Der religionstheologische Pluralismus besteht im Kern aus zwei Thesen: zum einen aus dem Postulat eines transzendenten Einheitsgrundes der gesamten Wirklichkeit von Natur und Geschichte und damit auch der Religionsgeschichte; zum anderen aus der Behauptung, die in den Religionen erschlossenen Beziehungen zu diesem Grund und die sich daraus ergebenden heilshaften Transformationen der menschlichen Existenz seien im Prinzip gleichwertig.« Bernhard, Inter-Religio, 354. 212 Vgl. Hick, John: Auf dem Weg zu einer Philosophie des religiösen Pluralismus. In: Dehn, Ulrich; Caspar-Seeger, Ulrike; Berstorff, Freya (Hg.): Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog. Freiburg i. Br. 2017. 146–171. 169. 213 Zitiert nach Schmidt-Leukel, Pluralist Theologies, 60. 214 Vgl. a. a. O., 63.

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Religion nie direkt zu dem Transzendenten führe, sondern es zunächst zu einer Erfahrung des Göttlichen komme.215 Diese Form der Erfahrung unterteilt er in zwei Dimensionen, erstens in die Erfahrung, die eine Orientierung ermögliche und zweitens in eine darüber hinausgehende Dimension, in der die Erfahrung auch zur Erlösung führe. Generell gesteht Hick jeder der nach der oder während der sog. Achsenzeit der Menschheit216 entstandenen Religionen die Möglichkeit zu, das eigene Existenzverständnis zu transformieren. Dabei solle sich der Mensch anstelle des eigenen Ichs einer übergeordneten Transzendenz zuwenden, die von Hick als die eine göttliche Wirklichkeit oder »the Real« bezeichnet wird.217 Jede Religion sei dabei Ausformung einer spezifischen jedoch auch nur defizitären Antwort auf die Existenz des Transzendenten. »Wir verfügen über ein System, das die unendliche göttliche Realität ausfiltert und diese auf Formen reduziert, mit denen wir umgehen können. Dieses System ist die Religion, die unseren Widerstand (analog zu dem in der Elektronik verwendeten Begriff) gegenüber Gott darstellt. Die Funktion der verschiedenen Religionen besteht durchaus darin, uns zu einem Bewusstsein von Gott zu befähigen, allerdings nur partiell und selektiv, in Übereinstimmung mit unserer jeweiligen spirituellen Entwicklung als Individuum wie auch als Gemeinschaft.«218

Bei Hick wird weiterhin das Transformationspotenzial einer Religion zum zentralen Kriterium. »Religious traditions and their various components […] have greater or less value according as they promote or hinder the salvific transformation«219 Es kommt hier nicht nur zu einer deskriptiven, sondern auch zu einer normativen Unterscheidung religiöser Traditionen und Praktiken, die es dem Menschen ermöglichen in eine Beziehung zum Transzendenten zu treten. Perry Schmidt-Leukel entwickelte einige Argumente des religionstheologischen Pluralismus weiter und prägte die sog. Interreligiöse Theologie. Laut Schmidt-Leukel bedürfe der religionstheologische Pluralismus eine je eigene Ausprägung in den verschiedenen Theologien der Religionsgemeinschaften, um das Potenzial des Ansatzes aus der Innensicht der Religionen erkennen zu können.220 »[…] Pluralismus kann es nur geben als christlichen Pluralismus, jüdischen Pluralismus, muslimischen Pluralismus und so weiter.«221 In seinem aktuellen Buch »Wahrheit in Vielfalt« versucht Schmidt-Leukel die Möglichkeiten hierfür auszuloten. Dabei argumentiert er auch damit, dass er die Religionen als fraktale Systeme versteht, die in sich selbst schon eine intra-religiöse Plura215 216 217 218 219 220 221

Schmidt-Leukel, Pluralist Theology, 64. Vgl. Hick, Auf dem Weg, 170. Vgl. Bernhardt, Inter-Religio, 355f. Hick, Auf dem Weg, 169. Hick, An Interpretation of Religions, 300. Vgl. Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 27. Ebd.

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lität besitzen.222 Diese vorhandenen Muster ließen sich dann auch auf den interreligiösen Pluralismus ausweiten. In diesem »fraktalen Verständnis« der religiösen Vielfalt sieht Schmidt-Leukel ein »bedeutendes hermeneutisches Werkzeug« für die Theologien als solche und eine Perspektive für eine interreligiöse Theologie.223 Eine weitere Klassifizierung im Kontext der pluralistischen Religionstheologie ist die Einteilung in drei Religionstypen: Religionen mit prophetischen (Monotheismus), mystischen (Hinduismus und Buddhismus) und weisheitlichen (Konfuzianismus und Daoismus) Grundlegungen. Hick unterscheidet hier zwischen personalen, nicht-personalen und jegliche Beziehung auflösenden (mystischen) religiösen Erfahrungen.224 Dabei ist es aber auch hier so, dass alle Aspekte in allen Religionen enthalten sind oder sein können, nur in unterschiedlich hohem Maße.225 »The Real« »Der religionstheologische Pluralismus besteht im Kern aus zwei Thesen: zum einen aus dem Postulat eines transzendenten Einheitsgrundes der gesamten Wirklichkeit von Natur und Geschichte und damit auch der Religionsgeschichte; zum anderen aus der Behauptung, die in den Religionen erschlossenen Beziehungen zu diesem Grund und die sich daraus ergebenden heilshaften Transformationen der menschlichen Existenz seien im Prinzip gleichwertig.«226

So fasst Bernhard die zentralen Aspekte des religionstheologischen Pluralismus zusammen. Im Folgenden soll vor allem der erstgenannte Punkt weiter erläutert werden: Hick beschreibt den universalen transzendenten »Urgrund« oft als »the Real«227. In deutscher Übertragung wird dies als das »Transzendente«, das »Göttliche«, der »Dharma«, das »Absolute«, das »Tao«, das »Sein selbst«, »Brahman« oder »die letzte göttliche Realität« wiedergegeben.228 Hick ist sich aber bewusst darüber, dass eine Terminologie hier schwierig ist, da die Vorstellungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu heterogen sind. Ihm geht es dabei grundsätzlich um die Unterscheidung zwischen dem jeweiligen »Gott« und einer übergeordneten »Gottheit«. Hick bezieht sich dabei auf das in den monotheistischen Religionen zu erkennende Konzept, dass dem jeweils als Gott verehrten Gott (wie Allah, der christl. Gott, Jahwe) ein stets universelleres 222 223 224 225 226 227 228

Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 353; 355. Vgl. a. a. O., 352. Vgl. Hick, Auf dem Weg, 150f. Vgl. Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 346; 349. Bernhardt, Inter-Religio, 354. Vgl. dazu etwa a. a. O., 355. Hick, Auf dem Weg, 149.

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Konstrukt von Gottheit übergeordnet ist.229 Diese Strömungen finden sich vor allem in den Mystiken von Judentum, Christentum und Islam. Entscheidend sei dabei, dass »the Real« nicht personell gedacht wird, da das Person-Sein bereits ein menschliches Konzept ist. Damit könne beispielsweise nicht (mehr) von Offenbarung als (Selbst)-Mitteilung eines Gottes ausgegangen werden.230 Dies heißt freilich nicht, dass nicht im Laufe der Entwicklung in den vielfältigen kulturellen Kontexten adäquate »Gottesbilder« entstanden seien. Aber auch hier gelte, dass sich die Vorstellungen nach und nach von den stark anthropomorphen Bildern (etwa der griechischen Götter) abgewendet und zu immer komplexeren religiösen Systemen ausgeweitet hätten.231 Auch wenn Hick die bedeutendsten Schritte für die Entstehung der heutigen Weltreligionen um das Jahr 800 v. Chr und später ansetzt, sind auch archaische Formen nach wie vor von Bedeutung. Kritik Kritisiert wird neben dem Vorwurf des Relativismus häufig die Perspektive, von der aus vor allem John Hick die Vielfalt der Religionen beurteilt. Ihm geht es in erster Linie nicht um einen aus der Innenperspektive der Religion gewonnenen Pluralismus.232 »Dabei bezieht er einen metareligiös-traditionsübergreifenden, d. h. überpluralistischen religionsphilosophischen Standpunkt und blickt von dort aus in einer umfassenden Zentralperspektive auf die Welt der Religionen in Geschichte und Gegenwart.«233 Kritik an der Perspektivität äußert auch die EKD in ihrer theologischen Leitlinie zum Dialog. Unter Rückgriff auf das vielzitierte Elefantengleichnis234 merkt sie an, dass die übergeordnete Perspektive, die so229 Vgl. Hick, auf dem Weg, 150. 230 Vgl. Bernhard, Ende des Dialogs?, 188. Diese Annahmen haben zweifelsohne große Auswirkungen auf die einzelnen religiösen Wahrheiten, die an dieser Stelle hier nicht vertieft werden sollen. Bernhard geht in seinem Kapitel dazu weiter in Anlehnung an Hick auf die Christologie ein. Vgl. a. a. O., 190ff. 231 Vgl. Hick, Auf dem Weg 170f. 232 Vgl. dazu auch Hicks Haltung im Vorwort zu: Wurde Gott Mensch? 7–9. 233 Bernhard, Ende des Dialogs?, 206f. 234 »Man darf sich dieses Problem an einem in den Verständigungsbemühungen der Religionen oft zitierten Bild klarmachen: dem Bild vom Elefanten, der von Blinden aus verschiedenen Standorten jeweils an einem Körperteil ertastet wird, sodass diese in einem Streit über ihre Vorstellungen ausbrechen: Der eine kennt nur den Rüssel, der andere nur ein Ohr, ein Dritter allein den Schwanz. Artikuliert wird mit diesem Bild der Wunsch, die einzelnen Religionen mögen sich auf die Nichtwidersprüchlichkeit ihrer unterschiedlichen Wahrnehmungen aufgrund der Einheit der Realität und zugunsten des Friedens verständigen.« EKD, Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt, 61. Zur Rezeption des Gleichnisses siehe z. B. Amirpur, Katajun: »Straith Paths«. Thougts on a Theology of Dialoque. In: Weisse et al. (Hg.): Religions and Dialogue. Münster 2014. 187–199. 194. Amirpur gibt als Quelle hier eine Übersetzung ins Englische von R.A. Nicholson an. Vgl. R. A. Nicholson: The Mathnawi of Jalálu’ddin Rúmi. Luzac, vol IV, Book III, Beyt 1259f. (1930).

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wohl der Erzähler als auch die Rezipienten einnehmen, in einem realistischen Diskurs gar nicht möglich sei.235 Die EKD warnt weiter vor einer reinen »Suggestion abstrakter Einheit« in den Entwürfen zu einer übergeordneten transzendenten Realität.236 Hick versucht dem Vorwurf der Relativität zu umgehen, indem er Kriterien entwickelt, mit dem das Transformationspotenzial einer Religion nachzuweisen sei.237 Diese Grundvoraussetzung kann einerseits einen Vorteil auch für den interreligiösen Dialog bedeuten, andererseits aber auch als Defizit verstanden werden. Hinzukommt der Vorwurf, der Religionspluralismus sehe über die Spezifika der Religionen, oftmals zentrale Dogmata, leichtfertig hinweg, indem er den Gemeinsamkeiten zu große Aufmerksamkeit schenke. 2.2.2.2 Differenzhermeneutik und interreligiöser Dialog Ein ganz anderer Zugang zur Pluralität der Religionen spiegelt sich in der sog. Differenzhermeneutik wider. Der Blick wird hierbei nicht auf einen möglichen homogenen Kern der Religionen oder andere Gemeinsamkeiten gerichtet, sondern auf die inhaltlichen und praktischen Unterschiede sowie die individuelle Erfahrung von grundsätzlicher Verschiedenheit der Gesprächspartner. Es wird dabei im Kern davon ausgegangen, dass Religion(en) und Ambivalenz zusammengehören und es dabei unweigerlich zur Entstehung von Differenzen kommt. Die eigentliche Herausforderung (inter-)religiöser Begegnungen liege daher in den Modi von Kommunikation und Positionierung. Es gehe dabei aber keineswegs darum einen »Konsens« zu erreichen, wie etwa die Einigung auf eine übergeordnete transzendente Wirklichkeit, vielmehr liegt ein produktives Verständnis von Konflikten und Differenzerfahrungen vor.238 Dabei wird u. a. die Auseinandersetzung mit und durch Differenzen als förderlich für die Identitätsbildung angesehen. So zeigt sich etwa bei Theo Sundermeier, dass »[…] die Hermeneutik einer interkulturellen Begegnung nicht auf Harmonie aus ist.«239 Bernhardt führt hier weiter aus: »Es ist gerade die Differenz, die verbindet. Diese Verbindung bei bleibender Unterschiedenheit besteht in fortwährenden Kommunikationsprozessen.«240 Progressiver formulierte Ansätze, etwa der Uwe 235 Vgl. EKD: Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Gütersloh 2015. 61f. 236 Vgl. ebd. 237 Vgl. Schmidt-Leukel, Pluralist Theologies. 65. 238 Vgl. Wiese, Diversität – Differenz – Dialogizität. 9. 239 Sundermeier, Theo: Erwägungen zu einer Hermeneutik interkulturellen Verstehens. In: Sundermeier, Theo (Hg.): Die Begegnung mit dem Anderen. Gütersloh 1991. 13–28. 27. 240 Bernhardt, Reinhold: Die Differenz macht den Unterschied. Differenzhermeneutische Ansätze in der Religionstheologie. In: Wiese, Christian; Alkier, Stefan; Schneider, Michael (Hg.): Diversität – Differenz – Dialog. Religion in pluralen Kontexten. Berlin/ Boston 2017.

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Gerbers241, sehen ihre Aufgabe zusehends in der Benennung und Anerkennung »radikaler Fremdheit« und »radikaler Differenz«. Überblick Theo Sundermeier geht es in den 1990er Jahren bei seinen Überlegungen zur Differenz um eine grundlegende Hermeneutik der Beziehung zum Fremden. Für ihn meint Hermeneutik grundsätzlich immer ein prozesshaftes Verstehen, das auch ein Tun voraussetzt und im Ergebnis offen bleibt. »Die Praxis geht dem Verstehen voran, aus ihr heraus ergibt sich ein neues Verstehen in vielfacher Brechung und Neusetzung.«242 Beim Vorgang des Verstehens gehe es auch immer wie oben benannt um das Verstehen des eigenen Ichs, wobei Sundermeier betont, dass dies vor allem in Bezug auf interreligiöse Beziehungen nicht genügt.243 Er fordert darüber hinaus eine hermeneutische »Vieldeutigkeit und Offenheit« ein, wobei er »offen« im Sinne von »nicht eindeutig« oder »noch nicht vollendet« versteht.244 Dies bezieht Sundermeier zunächst auf die intrareligiösen Verstehensprozesse, auf die biblische Exegese und das Verhältnis von Religion und Gesellschaft: »Stärker noch als in der bisherigen Exegese wird dadurch die Einheimischwerdung der Theologie freigegeben und der Horizont eröffnet, intensiver danach zu suchen, wie das Evangelium im Wechsel von einer Kultur zur anderen neue Denkhorizonte erschließt und seine ›Sache‹ neu wird. In der Neusetzung seiner selbst erweist es seine Kraft. Der Interpret und Hörer des Evangeliums wird nicht zum passiven Objekt degradiert, sondern zum Subjekt, das der Geist in alle Wahrheit leitet. Der Zuwachs an Offenheit bedeutet dann auch einen Zuwachs an Verständnis des Gemeinten und seiner Kraft. Information nimmt zu, sie ist theologische Bereicherung.«245

Sundermeier leitet seine Hermeneutik beispielhaft aus dem Umgang mit Kunstwerken und Symbolen ab, auch diese seien im Hinblick auf ihre Bedeutung

241 242 243 244 245

29–47. 31. Der Differenzhermeneutik liegt hier dasselbe Prinzip zugrunde wie in den Prozessen des Theaters zu beobachten ist. Die Darstellung von Alterität erfüllt hier in beiden Kontexten den Zweck der eigenen Identitätsausbildung und ermöglicht den Eintritt in Kommunikationsprozesse. (Vgl. dazu Kap. 2.1.3) Inwieweit dies möglich ist, wird immer wieder infrage gestellt. Bernhardt spricht von »Kunst der Perspektivübernahme« und einem Ideal, das erwartet würde. Als Brücke kann hier die Methode des Theaters dienen: Das Theater könnte die Perspektivübernahme hier teilweise vorwegnehmen und den Zuschauer dadurch entlasten. Das Ideal würde auf der Bühne abgearbeitet, das Publikum könnte dann nur in der Weise partizipieren, die die subjektive Verfassung zulässt. Vgl. a. a. O., 32. Vgl. dazu die »Alteritäts-Theologie der Religionen« nach Gerber. Gerber, Uwe: Interreligiöser Dialog zur Friedensförderung. Abgrenzung – Toleranz – Differenz. In: Gerber, Uwe (Hg.): Auf Differenz kommt es an. Interreligiöser Dialog mit Muslimen. Leipzig 2006. 63–78. Sundermeier, Erwägungen zu einer Hermeneutik, 16. Vgl. a. a. O., 17f. Vgl. a. a. O., 25. Ebd.

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zumindest vom Ansatz her »offen« und böten eine Vielzahl von potenziellen Wahrheiten.246 »Die von ihnen [den Kunstwerken] intendierte, die ihnen zugrunde liegende Sache steht nicht wie ein vergrabener Backstein fest, der nur aus seiner Ummantelung und schmutzigen Hülle befreit werden muß, sondern sie stellt sich für eine Interpretation jeweils neu dar und verändert sich mit den Umständen (z. B. der Übersetzung in eine andere Sprache und Kultur) und dem Interpreten, je nach dessen Wahrnehmungs- und Interpretationsvermögen.«247

Diese Konzeption wird weiter auch auf die konkrete Einstellung zum (religiös) Anderen übertragen. Auch für die Entwicklung des eigenen Glauben sei die Erfahrung des Anderen notwendig.248 Dies impliziert immer auch Differenzen und Konflikte, diese führen zwar stets zur Reflexion des eigenen Standpunkts, obgleich der bloße Akt der Erkenntnis immer auch schmerzhaft sein könne. Sundermeier kommt an dieser Stelle auf den Begriff der »Heimsuchung« von Emmanuel Levinas zurück. »Der andere bietet mir zwar Existenzrecht, aber er sucht mich auch heim, er stellt mich in Frage. Das Antlitz des anderen tritt uns nah, es tritt uns zu nah. In dieser Nähe und Plötzlichkeit, in der es mir begegnet, ist es für mich eine Störung (Levinas, 1983, 242 A.)249, der ich nicht ausweichen kann. Mein Gehäuse bleibt nicht mehr intakt, nicht mehr so, wie es zuvor war. Ich muß der Störung standhalten und Antwort geben.«250

Der wichtigste gegenwärtige Vertreter der Differenzhermeneutik ist der protestantische Theologe Christian Danz. Auch er übt zunächst Kritik an den Positionen der pluralistischen Religionstheologie und spricht hier vor allem von einer »Nivellierung der geschichtlichen Religionen« und einer »interpretatorischen Gleichschaltung« durch die Annahme einer übergeordneten Realität.251 Nach Danz liegt das Ziel des differenzhermeneutischen Ansatzes darin, »das religiös Eine im Unterschied zum religiös Fremden zu thematisieren.«252

246 Sundermeier, Erwägungen zu einer Hermeneutik, 26. Nach Sundermeiner wäre hier zu ergänzen, dass sich die Hermeneutik ebenso durch eine Dynamik auszeichnet, die sich aus der inhaltlichen Grenzüberschreitung ergibt sowie durch die entsprechende Performanz, die eine wechselseitige Beziehung zwischen Kunstwerk und Rezipient ermöglicht. 247 A. a. O., 25. 248 Vgl. a. a. O., 26. 249 Die Angabe wurde von Sundermeier als Teil des Zitats übernommen. 250 Sundermeier, Erwägungen zu einer Hermeneutik, 27 sowie Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Frankfurt a. M. 1983. 242. 251 Vgl. Danz, Christian: Theologie der Religionen als Differenzhermeneutik. Ihre religionstheoretischen und systematischen Voraussetzungen. In: Danz, Christian; Körtner, Ulrich H. (Hg.): Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie. Neukirchen-Vluyn 2005. 77–103. 79. 252 A. a. O., 100.

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Dabei scheine schon aus einem gewissen »Eigeninteresse« für das Christentum notwendig, sich mit nicht-christlichen Religionen auseinanderzusetzen. Danz geht stets von einer sog. »nichtreduzierbaren« Andersheit der Anderen aus.253 Dies geschehe jeweils zugunsten der eigenen Identitätsausbildung254. »Denn für die Bestimmtheit der eigenen religiösen Identität ist anderes immer schon beansprucht. Eine Religion ist nur dadurch das, was sie ist, daß sie sich zugleich auf anderes bezieht und von diesem unterscheidet. In der Reflexion des Verhältnisses zwischen Christentum und anderen Religionen leistet die Religionstheologie somit primär einen Beitrag zur Selbstbeschreibung des Christentums unter den Bedingungen multireligiöser Gesellschaften.«255

Danz betont weiterhin eine notwendige Standortbezogenheit des Ansatzes, ein übergeordneter Blick auf religiöse Heterogenität und die sich daraus ergebenden Beziehungen sei nicht möglich. Jedoch sei diese Form der Binnenperspektivität nicht zwangsläufig durch »theologische Selbstbeschreibungen« zu erfüllen. Es könne stattdessen versucht werden aus der eigenen Tradition heraus eine Außenperspektive einzunehmen. Ein geeignetes Instrument stelle etwa der Religionsbegriff dar.256 Problematisch ist in dieser Hinsicht auch der Vorwurf des Exklusivismus. Danz begegnet diesem so, dass er die wechselseitige Abhängigkeit der eigenen Identität vom Anderen betont. »Die Behauptung eines exklusivistischen Überlegenheitsanspruches für die eigene Position beruht nicht nur auf einem Selbstwiderspruch, sondern sie hebt sich auch selbst auf, da sie immer schon das in Anspruch nehmen muß, was sie ausschließt.«257

Danz greift hier auf den von Paul Tillich formulierten Grundsatz von »Annahme und Ablehnung« zurück, durch den jede interreligiöse Beziehung geprägt und bestimmt sei.258 Nach Tillich ist das, was die Menschen »unbedingt angeht«, kein religiöser »Referenzpunkt« entsprechend einer übergeordneten Wirklichkeit, wie bei Hick, sondern eine spezifische Qualifikation des menschlichen Bewusstseins.259 Jede Auseinandersetzung mit dem religiös Anderen sei demnach sowohl selbstreferenziell an die eigene Erfahrung gebunden, als auch universell, da der Begriff des Bewusstseins nicht nur spezifisch christlich-religiöse Erfah-

253 Danz, Theologie der Religionen als Differenzhermeneutik, 100. 254 Zur Identitätsbildung durch Differenzrelationen bezieht sich Danz auch auf Grünschloß und führt dies in Danz, Christian: Einführung in die Theologie der Religionen. Wien 2005. 229f. weiter aus. 255 Danz, Theologie der Religionen als Differenzhermeneutik, 102f. 256 Vgl. a. a. O., 102. 257 A. a. O., 100. 258 Vgl. a. a. O., 92; 96. 259 Vgl. a. a. O., 90. Für die Herleitung des Ansatzes aus der Religionstheorie Paul Tillichs, siehe v. a. die Seiten 81–98 a. a. O.

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rungen beschreibe.260 Im Anschluss an Tillich zeigt Danz auf, dass der individuelle (christliche) Glaube von Unbedingtheit geprägt sei. Diese vereinfache es, auf den religiös Anderen zuzugehen, ihn zu akzeptieren ohne ihn zu relativieren.261 »Auf diese Weise führt gerade die individualitätstheoretische Zuspitzung des Religionsbegriffs zu einer positiven Würdigung einer unreduzierbaren Pluralität von religiösen Selbst- und Weltdeutungen. Die Pluralität der religiösen Selbst- und Weltdeutungen wird damit prinzipiell.«262

Bernhard kommt überdies zu einer kritischen Einschätzung. »Die Differenzbestimmung vollzieht sich demnach nicht in der realen Interaktion mit außerchristlichen Religionsformen, sondern im innerchristlichen Selbstgespräch. Ein wirkliches Verstehen dieser Traditionen ist weder möglich (weil aus Scheu vor einem hermeneutischen Inklusivismus kein Perspektivwechsel vollzogen werden darf) noch nötig. Es fragt sich dabei allerdings, ob auf diese Weise die von Danz geforderte ›Anerkennung der Selbständigkeit fremder Religionen‹ (123)263 wirklich eingelöst werden kann. Anerkennen ohne Verstehen bleibt ein Akt selbstgenügsamen Wohlwollens und muss sich davor hüten, nicht in Herablassung überzugehen.«264

Bernhard merkt weiter an, dass bei Danz nicht klar sei, auf wen sich die Anerkennung beziehen lasse, ob etwa auf die einzelne Person oder auf die inhaltlichen Positionen der Glaubensgemeinschaften.265 Pluralitätsfähigkeit und Dialogizität – Bedeutung von Kontexten Christian Wiese und die weiteren Herausgeber des Projektbandes »Diversität – Differenz – Dialogizität« setzen den Schwerpunkt auf die sog. Modalitäten und Konstellationen der interreligiösen Begegnung.266 Bei diesen Begegnungen werden mögliche Differenzen immer schon mitgedacht und der Umgang mit ihnen stellt im Zusammenhang mit religiöser Heterogenität die übergeordnete Herausforderung dar. Dabei ist sowohl die intrareligiöse als auch die interreligiöse Vielfalt gemeint. Die Erfahrung von Diversität kann dabei auch immer zu einer Erfahrung der Differenz werden, auf die dann jeweils unterschiedlich reagiert werden kann, z. B. negativ mit Diskriminierung oder Unterdrückung oder positiv

260 261 262 263

Vgl. Danz, Theologie der Religionen als Differenzhermeneutik, 92; 98. Vgl. a. a. O., 236f. A. a. O., 237. Bernhardt verweist hier auf: Danz, Christian: Wahrnehmung von Religionen aus theologischer Perspektive. Zur Grundlegung einer protestantischen Theologie der Religionen. In: Kerygma und Dogma (KuD) 51 2005. 100–125. 264 Bernhardt, Ende des Dialogs?, 287. 265 Ebd. 266 Vgl. Wiese, Diversität – Differenz – Dialogizität. 4.

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mit Akzeptanz und Anerkennung. Die Fähigkeit zur Reaktion sieht Wiese in den Religionen selbst begründet. »Auf dem Hintergrund dieser möglichen alternativen Folgen erfahrener Diversität stellt sich die Frage, welches Potenzial, aber auch welche Widerstände Judentum, Christentum und Islam (sowie andere religiöse Traditionen) hinsichtlich eines konstruktivdialogischen Umgangs mit religiöser und/oder weltanschaulicher Differenz in sich bergen.«267

Immer wieder werden dazu die Stichworte »Pluralismusfähigkeit« und »Dialogizität« vorgebracht.268 Beide Begriffe benennen zunächst eine positive Haltung gegenüber einer interreligiösen Begegnung sowie eine selbstkritische Zurückhaltung der eigenen Position. Dabei sind weniger inhaltliche Standpunkte als vielmehr die tatsächlichen kontextuellen und situativen Standpunkte beider Gesprächspartner oder -parteien gemeint. »Die Frage, ob religiöse Positionierungen einen eher destruktiven, integrativen oder dialogischen Charakter haben und das Maß ihrer Pluralismus/un/fähigkeiten hängen nicht primär vom Inhalt der vertretenen Position ab, sondern von den jeweiligen […] Konstellationen, in denen sie sich vollziehen, sowie von den Modalitäten, unter denen sie in gesellschaftliche Diskurse eingebracht werden.«269

Der Rahmen der Begegnung bekommt hier eine höhere Relevanz. Mit dem Begriff der »Dialogizität« verbindet sich, wie oben benannt, zunächst eine grundlegende Bereitschaft, die darüber hinaus dazu dienen kann die »Pluralismusfähigkeit« zu qualifizieren. »Dialogizität« impliziert verschiedene Voraussetzungen wie Freiwilligkeit oder Ergebnisoffenheit, aber auch die Fähigkeit sich selbst zu positionieren. Dialogizität »verweist im Wesentlichen auf die Möglichkeit eines dialogischen Verständnisses von Positionierung, das programmatisch die Möglichkeit der Anerkennung bleibender, vielleicht unaufhebbarer, Pluralität und Differenz mit ins Kalkül zieht und so eine kommunikative Praxis zu begründen versucht, die auf Bejahung der Polyphonie differenter Wahrheiten beruht und dazu befähigt, den eigenen Standpunkt zu affirmieren, ohne ihn monologisch geltend zu machen oder absolut zu setzen, […].«270

267 Vgl. Wiese, Diversität – Differenz- Dialogizität, 5f. Als Beispiel für die unterschiedlichen Reaktionen auf intrareligiöse Differenzen siehe das Musiktheater »San Paolo«. Es findet sich dort etwa das von Wiese als »argumentative Werben«, das »pragmatische Ertragen der Existenz des Anderen« sowie zu Gewalt und Unterdrückung. Vgl. a. a. O., 6. 268 Vgl. zu Pluralismusfähigkeit: a. a. O., 9. Zu Dialogizität: A. a. O., 10. 269 Wiese, Diversität – Differenz – Dialogizität. 9. 270 A. a. O., 10.

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2.2.2.3 Komparative Theologie – Wechselseitiges Lernen Überblick Eine weitere Linie der Religionstheologie wurde in den 1990er Jahren mit der sog. Komparativen Theologie entwickelt.271 Die gegenwärtig populärsten Hauptvertreter dieses Zugangs, der amerikanische Jesuit Francis X. Clooney und der deutsche Theologe Klaus von Stosch, haben selbst zwar einen katholischen Hintergrund, die Komparative Theologie und die daraus resultierende Praxis wird jedoch als universell verstanden.272 Komparative Theologie wird dabei als ein wechselseitiges interreligiöses Lernen begriffen, das eine sowohl natürliche als auch notwendige Bereicherung der eigenen Tradition darstellt.273 Clooney versteht die Komparative Theologie nicht als Analyse oder Vergleich verschiedener religiöser Phänomene, sondern als spirituelle Praxis, »durch das wir den Anderen im Lichte unseres Eigenen sehen, und unser Eigenes im Lichte des Anderen.«274 Auch von Stosch formuliert ähnlich: »Die Komparative Theologie will den eigenen Glauben und den Glauben anderer Menschen besser verstehen, um dadurch der Wahrheit näher zu kommen und Gott die Ehre zu geben.«275 Der hybride Charakter zwischen theologischer Disziplin und spiritueller Erkundung ist dabei nicht leicht zu verstehen und hängt oft auch mit der biografischen und spirituellen Involviertheit des Theologietreibenden in ambivalente religiöse Erfahrungs-und Lebenskontexte zusammen. »Komparative Theologen müssen mehr tun als nur anderen zuhören, wenn diese ihren Glauben erläutern; sie müssen willens sein, andere Traditionen tiefgründig entlang der eigenen zu studieren und sich beide zu Herzen zu nehmen.«276

Ähnlich wie bei differenzhermeneutischen Zugängen geht es im Zuge der Komparativen Theologie auch immer um die eigene Identitätsbildung. »Tatsächlich aber ermöglicht eine erhöhte Achtsamkeit für die Verbundenheit der Traditionen untereinander, die mit Sensibilität für den Glauben wie für die Vernunft einhergeht, eine tiefere Bestätigung und Intensivierung jeder einzelnen Tradition.«277

271 Bernhardt; von Stosch, Komparative Theologie, 7. 272 Andere Vertreter sind David Tracy, Keith Ward, Robert Neville. Vgl. Clooney, Komparative Theologie, 49. 273 Vgl. Clooney, Komparative Theologie, 15; 17. 274 A. a. O., 21. 275 von Stosch, Komparative Theologie als zeitgemäße Gestalt, 155. 276 Clooney, Komparative Theologie, 24. 277 A. a. O., 15.

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Dabei diene die Sichtweise des Anderen auf die eigenen Grundlagen als Instrument, um selbst auch ein neues oder verändertes Verständnis zu gewinnen.278 Man kann dabei zwischen zwei Hauptströmungen der Komparativen Theologie unterscheiden: Zum einen arbeitet eine Gruppe um Francis X. Clooney und James L. Frederickson aus einer starken konfessionellen (in Fall von Clooney und Frederickson einer katholischen) Perspektive heraus, die eher inklusivistisch verortet werden kann. Im Fokus steht dabei oft die vergleichende Arbeit mit Texten.279 Auch von Stosch ist hier zu verorten. Eine zweite Strömung versteht sich als »öffentliche« Komparative Theologie, die sich um eine allgemein-philosophisch begründbare Wahrheit bemüht ohne starke Verbundenheit mit einer konkreten Religion. Hier sind Robert Cummings Neville und Keith Ward wichtige Vertreter.280 Zwischen Diversität und Tradition Dabei hängen die eigene Glaubenstradition und religiöse Diversität im Verständnis der Komparativen Theologie eng zusammen. Es liegt demnach eine Haltung zugrunde, die sich sowohl der gesellschaftlich zu beobachtenden religiösen und kulturellen Pluralität als auch der jeweiligen Glaubenstradition verantwortlich fühlt. »Komparative Theologie ist eine Art und Weise des Lernens, die Diversität und Tradition, Offenheit und Wahrheit ernstnimmt und keiner von ihnen gestattet, die Bedeutung unserer religiösen Situation ohne Rekurs auf die je andere zu bestimmen.«281 Exklusivismus und Relativismus sind als Extreme der interreligiösen Verhältnisbestimmungen dabei keine Optionen.282 Auch in der Praxis der Komparativen Theologie wird die Wahrheitsfrage verhandelt, die Auseinandersetzung erfolgt nicht aus einer allgemeinen Perspektive heraus, sondern stets in einem konkreten Zusammenhang und aus der persönlichen und direkten Begegnung heraus.283 »Komparative Theologie ist nicht mit der Distanz ausgestattet, die für Urteile über Religionen erforderlich wäre; ihre Beschäftigung mit der Wahrheit oder den Wahrheiten von Religionen ist teilnehmend, eine praktische Untersuchung, die den Pfad bestreitet von der eigenen Tradition bis zu der der anderen Tradition, abgeschlossen meist mit der Rückkehr nach Hause.«284

278 Vgl. Stosch, Klaus von: Komparative Theologie als Hauptaufgabe der Theologie der Zukunft. In: Bernhardt, Reinhold; Stosch, Klaus von (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie. 2009 Zürich. 15–34. 20. 279 Vgl. von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser, 139. 280 Von Stosch, Komparative Theologie als zeitgemäße Gestalt, 139. 281 Clooney, Komparative Theologie, 19. 282 Vgl. a. a. O., 18. 283 Vgl. Bernhardt; von Stosch, Komparative Theologie, 8. 284 Clooney, Komparative Theologie, 26.

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Theater und interreligiöser Dialog – Theoretische Rahmenbedingungen

Laut von Stosch sollte die Verhandlung von Wahrheitsfragen immer in konkrete Kontexte, in die sog. »Tiefengrammatik« der jeweiligen Religion eingebettet sein.285 Die Komparative Theologie reagiert hier laut Clooney auch auf Tendenzen, die die gesellschaftliche und damit verbundene religiöse Pluralität mehr und mehr als Bedrohung wahrnehmen und sich in ihrer (religiösen) Identität herausgefordert fühlen.286 Durch die Verknüpfung von eigenen Traditionen mit dem Phänomen der religiösen Diversität wird ein Ausweg aus dieser Ohnmacht bereitgestellt. Komparative Theologie in der Praxis Von Stosch schlägt sechs Voraussetzungen für die Komparative Theologie vor, die an dieser Stelle kurz paraphrasiert werden sollen.287 Zunächst beschäftigt sich die Komparative Theologie mit konkreten Beispielen (1) im Zuge einer mikrologischen Vorgehensweise. Es gehe dabei um »Konzentration auf den interreligiösen und interkulturellen Vergleich genau spezifizierter theologischer, literarischer oder konfessorischer Texte, konkreter Rituale, klar umgrenzter Glaubensinhalte und bestimmter theologischer Konzeptionen, jeweils in konkreten Kontexten und historisch genau bestimmten Zeiträumen.«288 Die Inhalte, die auf diese Weise verhandelt werden, sollten sich mit tatsächlich (alltags-)relevanten Fragen (2) beschäftigen, die universell und anthropologisch bedeutsam sind (etwa Heil, Sinn oder Wahrheit).289 Dabei wird drittens vorausgesetzt, dass alle Beteiligten eine Offenheit für die Integration neuer Perspektiven (3) in den eigenen Standpunkt mitbringen. Es geht dabei um einen Perspektivwechsel, der von der eigenen Erfahrung lebt, in einer Religion beheimatet zu sein. Ebenso muss die »Weltdeutung des Anderen als locus alieni« anerkannt und in die eigene Wahrheitssuche eingebunden werden.290 Die sog. »Instanz des Dritten« (4) wird in diesen Prozessen laut von Stosch notwendig, um zu verhindern, dass zwei Positionen aus ihrer konfessionellen Innensicht zu schnell zu einem Konsens gelangen und das jeweilige Problem »trivialisieren«. Es ist daher sinnvoll einen dritten Interaktionspartner hinzuzubitten, der eine eigenständige, bewusst nicht vertretene (z. B. atheistische oder religionskritische), Position vertritt.291 Weiterhin muss stets ein Bezug zur Praxis (5) eingehalten werden, damit sowohl die Reflexion über die religiösen 285 286 287 288 289 290 291

Von Stosch, Komparative Theologie als Hauptaufgabe, 19. Vgl. Clooney, Komparative Theologie, 15. Vgl. dazu von Stosch, Komparative Theologie als Hauptaufgabe, 20–28. A. a. O., 21. Vgl. a. a. O., 22. Vgl. a. a. O., 23f. Vgl. a. a. O., 25. Die »Instanz des Dritten« wird unter 4.1.3 ausführlich erläutert und auf ihr Potenzial für die Einordnung des Theaters als säkulare Institution diskutiert.

Interreligiöser Dialog

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Praktiken einer Gemeinschaft als auch die Option auf die praktische Dimension eines interreligiösen Dialogs, der aus der Komparativen Theologie entstehen kann, präsent bleibt.292 Zuletzt muss auch eine Bereitschaft zur Verwundung oder Falsifizierung (6) des eigenen Standpunktes bei allen Parteien gegeben sein293, da die Zielvorstellung des wechselseitigen Lernens dies voraussetzt. Kritik an der Komparativen Theologie Einerseits wird der Komparativen Theologie vorgeworfen keinen religionstheologischen Standpunkt zu vertreten. Sie versuche sich der Klassifizierung (Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus) bewusst zu enthalten, was nach Reinhold Bernhardt aber nicht gelingen könne.294 Auf der anderen Seite wird die Komparative Theologie – je nach Position des Kritikers – entweder als »verkappter« Pluralismus oder Inklusivismus aufgefasst.295 Sie vertrete also letztlich doch religionstheologische Positionen, ohne diese öffentlich zu benennen. Der Grund für diese teils gegenläufigen Anfragen könnte in der mikrologischen und beispielbezogenen Vorgehensweise der Komparativen Praxis liegen. Theoretisch ist es so möglich, dass je nach Einzelfall auch unterschiedliche Lernprozesse durchlaufen werden können, die heterogene Urteile über das Verhältnis der beteiligten Religionen hervorbringen. Von Stosch betont darüber hinaus, dass die Kriterien für die Vergleiche unabhängig von der eigenen konfessionellen Überzeugung seien.296 Ein weiterer Kritikpunkt liegt auf einer grundsätzlicheren Ebene und betrifft die Unmöglichkeit eines vollständigen Perspektivwechsels, im Zuge dessen tatsächlich der Standpunkt der anderen Religion nachvollzogen werden könne.297 Hier verweist von Stosch auf einen stets dynamischen Prozess der Begegnung und entgegnet, dass dies in der Tat nur stückweise möglich sei, er führt daher aus: »Komparative Theologie ist so bleibend auf den Dialog verwiesen, damit die Innensicht des je anderen mir als Korrektiv für meine Rekonstruktionen seiner Geltungsansprüche zur Verfügung steht.«298 292 Komparative Theologie als Hauptaufgabe Vgl. Komparative Theologie als Hauptaufgabe, 26f. Dies lässt sich auch mit der Haltung zusammenbringen, die die Theologin Catherine Cornille aus der Komparativen Theologie ableitet und als Voraussetzung für den interreligiösen Dialog ausarbeitet. Vgl. dazu Cornille, Cathrine: The im-possibility of interreligious dialogue, New York 2009. Sie nennt da u. a. die Tugenden von Demut und Gastfreundschafft für die Wahrheit des Anderen. Vgl. dazu Cornille, The im-possibility of interreligious dialogue, 29f; 177. 293 Vgl. von Stosch, Komparative Theologie als Hauptaufgabe, 28. 294 Vgl. Bernhardt, Ende des Dialogs?, 277. 295 Vgl. von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser, 243ff. 296 Vgl. a. a. O., 246. 297 Vgl. von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser, 249. 298 Vgl. ebd.

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2.3

Theater und interreligiöser Dialog – Theoretische Rahmenbedingungen

Theater und Dialog als Begegnung mit dem Anderen

Die Beobachtungen zum Umgang von Inszenierungen und Differenzen, wie sie am Beispiel des Theaters und des interreligiösen Dialogs gemacht werden konnten, zeigen auffällige Verschränkungen. Vieles, was sich mit Blick auf die Arbeitsweise des Theaters feststellen ließ, kann ohne Weiteres auch auf die Funktionsweisen des (interreligiösen) Dialogs übertragen werden. Zunächst verbindet beide eine gesellschaftliche Erwartungshaltung, sich auf dem Feld der interkulturellen und damit auch der interreligiösen Verständigung zu betätigen. Auch wenn dies im Falle des Theaters durchaus ambivalent diskutiert wird, so lässt sich auch dort insgesamt eine große Offenheit für religiöse Themenbereiche erkennen. Weiterhin wird deutlich, dass die Beschäftigung mit (religiösen) Differenzen, wie sie etwa dezidiert in der theologischen Differenzhermeneutik verfolgt wird, in erster Linie auch eine Kernkompetenz des Theaters darstellt. Die Darstellung von Heterogenität und das Management divergierender Positionen wird dabei vor allem durch intersubjektive Prozesse verstärkt. Dabei steht aus Sicht des Theaters weniger die ergebnisorientierte Klärung oder Aufhebung von Differenzen, sondern vielmehr die Darstellung der Unterschiede im Zentrum. Die Differenz bleibt dort als »Raum für Transformation«299 bestehen. Die szenische Verarbeitung der Themen zeigt dabei Perspektiven auf, die die rein wissenschaftliche Auseinandersetzung und konkret den theologisch-theoretischen Diskurs erweitern und ergänzen können. Dabei spielt insbesondere die Beziehung zum Anderen eine große Rolle. Der Blick auf die theoretischen Ansätze zum interreligiösen Dialog hat deutlich gemacht, dass auch aus theologischer Sicht keine einheitliche Vorgehensweise bei der Begegnung mit dem religiös Anderen vorgelegt werden kann. Vor allem im Hinblick auf die theoretischen Voraussetzungen des interreligiösen Dialogs ist das Zugehen auf den Anders-Gläubigen von vielerlei Faktoren geprägt. So sind sowohl äußere Kontexte und methodische Fragen als auch die persönliche Haltung und Motivation der Teilnehmenden prägend. Sowohl das Theater als auch der interreligiöse Dialog verstehen sich als dezidierte Orte der Begegnung mit dem Anderen. Von Seite des Theaters wird dabei vor allem die Erfahrung gegenüber dem Verstehen des Anderen als wichtige Komponente der Begegnung betont. Von Englhart wird dazu der Begriff der Anmutung eingeführt. Damit verbindet sich die Funktionsweise der Performativität, die für jede theatrale Situation grundlegend ist. Das Theater ist durch die Performativität des Erlebnisses durchdrungen und ausgezeichnet. Dadurch, dass sich die Aktivität des Ereignisses auf beide Seiten der Bühne erstreckt und wechselseitig auswirkt,

299 Vgl. Huber, Ästhetik der Begegnung, 36.

Theater und Dialog als Begegnung mit dem Anderen

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kommt es zu einer erlebten Zwischenmenschlichkeit und damit zu einer dialogischen Handlung. »Die Arbeit mit dem Begriff des Performativen verlagert damit unsere Aufmerksamkeit und Tätigkeit gleichsam in die Welt, auf das Erlebnis eines Geschehens, das nicht einfach gegeben ist, sich nicht durch bloße Fakten oder Zahlen erschließen lässt, sondern in einem dynamischen Prozess in Raum und Zeit erfahren wird, in Dimensionen, die sich mit Aktivität, Machen und Herstellen beschreiben lassen: Wir reden nicht nur über die Welt, sondern tun, indem wir sprechen, etwas innerhalb der Welt. Wir sind nicht einfach auf der Welt, jeder allein für sich, als autonomes Subjekt, sondern existieren zusammen mit Anderen, mit anderen Menschen. Wir agieren und reagieren mit unserer Sprache, unserer Stimme, unserem Gesicht, unserem Körper, unseren Gesten.«300

Würde man diesen Aspekt auf die interreligiöse Begegnung im theologischen und institutionellen Kontext (etwa in Kirche) übertragen, hieße dies zunächst die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überwinden: Vor einem solchen Hintergrund würde man dann in erster Linie als Individuen zusammenkommen, als sog. »Zeichenträger«, um die Unterschiede, so mit Huber gesprochen, zu einer »lebendigen, intersubjektiven Distanz«301 werden zu lassen.302 Vor allem die Ansätze der Komparativen Theologie stellen das gemeinsame Erlebnis, etwa beim Lesen religiöser Texte, heraus. Auch dort ist das Spektrum groß: Es reicht von einer kognitiven Ebene des gegenseitigen Verstehens bis zur persönlichen Transformation der eigenen Glaubensüberzeugungen. In jedem Fall ermutigt der Blick auf das Theater, die zwischenleibliche Begegnung als solche zu schätzen. Vor allem, wenn es um die Wahrnehmung der Differenzen und die Weiterentwicklung des eigenen Standpunktes geht, scheint dies elementar. Mersch verweist in diesem Kontext auch auf die direkte Verbindung zwischen dem Performativen und dem »Religiösen«. »Kunst restituiert derart die elementare Erfahrung des Religiösen. Sie konfrontiert mit dem Anderen, das begegnet, anblickt und angeht und darin den eigenen Blick entmächtigt.«303

300 Sternagel, Mersch, Kraft der Alterität, Einleitung, 12f. 301 Huber, Ästhetik der Begegnung, 38. 302 Fritsch-Oppermann erkennt in Inszenierung eine theatralische Sakralität. Die »Wahrhaftigkeit und Authentizität« die sie im Theater erkennt und vor allem auch an der Körperlichkeit der Begegnung festmacht (»inkarnatorische Funktion der Leib-Geist-Einheit« Vgl. Fritsch-Oppermann, Spiritualität und Religion, 241.) können auch für die organisierten Begegnungen des interreligiösen Gesprächs nutzbar gemacht werden. 303 Mersch, Ereignis und Aura, 294.

3.

»Religiöse Differenzen« – Analysen

3.1

»Das Ebenbild«

3.1.1 Kontext der Aufführungen 3.1.1.1 Theaterfestival Das Musiktheater »Das Ebenbild« ist eigens für das zweijährig in Osnabrück stattfindende Theaterfestival »Spieltriebe«304 konzipiert worden. Eine Besonderheit des Festivals ist die Aufteilung in verschiedene Routen, die die Besucher im Vorfeld auswählen können. Die Aufführungsorte wechseln dabei ständig, sodass die Zuschauer z. T. zu ungewöhnlichen Schauplätzen geleitet werden. Im Jahr 2019 fand die 8. Auflage des Festivals unter dem Titel »Mensch®« statt.305 Das Spieltriebe Festival ist deutschlandweit einzigartig. »Das Ebenbild« war Endstück der »Route Rot« mit dem Titel »Gottes Konkurrenz«.306 Teil dieser Route waren »Die Menschenfabrik«307, aufgeführt im großen Haus, sowie das Tanzprojekt »Tabula Rasa«308, die Installation »Wir lassen () vorbei«309, die

304 Es handelt sich dabei um ein dreitägiges Festival bei dem die Besucher neben modernen Theaterinszenierungen auch künstlerische Installationen und Konzerte erleben können. 305 6.–8. September 2019. 306 Vgl. dazu den Veranstaltungsflyer »Spieltriebe 8«. 307 Das Theaterstück basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Oskar Panizza, Regie führte Jakob Fedler. Das Stück gibt einen dystopischen Ausblick in die Zukunft der Stadt Osnabrück. Vgl. URL: https://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?s tid=703 (27. 08. 2019). 308 Choreographie von Mauro di Candia, Musik von Mariachiara di Cosimo. Das Stück beschäftigt sich mit der Frage, ob sich die Start- bzw. Re-Start- Fähigkeit der Technik auch auf den Menschen übertragen lässt. Das Tanzprojekt wird in der Liebfrauen Kirche in Osnabrück aufgeführt. Vgl. URL: https://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spieltriebe-8/rou te-rot.html (27. 08. 2019). 309 Die Installation der Künstlerin Yi-Jou Chuang beschäftigt sich mit der Orientierungs-(losigkeit) im modernen Nachrichten-Dschungel. Das Projekt wird zusammen mit »Der alte Traum« und »Das Ebenbild« in den Hallen der Duni-Fabrik inszeniert.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

Konzert-Installation »Der alte Traum« und schließlich als Abschluss das Musiktheater »Das Ebenbild«310. Es handelte sich bei allen Produktionen um Uraufführungen. Die drei letztgenannten Projekte sind zusammen in den Hallen des Unternehmens Duni in Osnabrück (Atterstraße 72) aufgeführt worden, wobei die Kunstinstallation in Halle 2 und die beiden Musikproduktionen in Halle 1 zu sehen waren. Bei »Der alte Traum« wird das menschliche Streben nach Macht und Eigenständigkeit dargestellt, das, angelehnt an den Turmbau zu Babel, in menschlicher Selbstüberschätzung mündet. Nicht nur aufgrund der räumlichen Nähe sind »Der alte Traum« und »Das Ebenbild« als thematische Einheit zu betrachten. So heißt es etwa in der Kurzbeschreibung zum Stück: »Der alte Traum« setze so einen Rahmen für die anschließend stattfindende Oper »Das Ebenbild«.311 Diese führt die Linie um ein moralisches Ringen nach technischem Fortschritt weiter aus. Beide Produktionen stecken einen Rahmen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab. Es findet eine Art Zeitreise statt, die von der ersten »Orientierungslosigkeit« und der ursprünglichen Sehnsucht nach Wissen, um den »richtigen« Umgang mit technischem Fortschritt führt, bis hin zum Versuch so zu sein wie Gott. Konkret beschäftigt sich »Das Ebenbild« mit der Frage wie mit den medizinisch-technischen Möglichkeiten heute umzugehen ist. Am Beispiel des reproduktiven Klonens von Menschen werden die moralischen Grenzen ausgelotet und diskutiert.312 Dabei wird auf subtile Weise die Frage aufgeworfen, inwieweit die Religion oder Religionen diese moralischen Standards in Zukunft prägen. »Das Ebenbild« zeigt ein durch die Technologisierung beeinflusstes Menschenbild und die ethisch-moralische Auseinandersetzung damit. Dabei ist die Argumentation bewusst aus vielfältigen religiösen Strömungen der Menschheitsgeschichte abgeleitet. Sowohl christliche als auch muslimische Traditionen und Motive werden hier verwertet, aber auch altorientale Traditionen wie das Gilgamesch-Epos oder Vorstellungen der altägyptischen Anthropologie werden eingebracht. Ebenso wird auch die Frage nach dem Leid und der Umgang mit persönlichen Schicksalsschlägen verhandelt. Hier zeigen sich Parallelen zur christlichen Theodizee-Frage sowie zu der alttestamentlichen und koranischen Gestalt des Hiob oder Ayyu¯b313. Im Stück soll die Ambivalenz zwischen Realität 310 »Das Ebenbild«. Oper mit Kammerensemble. Libretto: Haitham Assem Tantawy, Christoph Lang. Inszenierung: Haitham Assem Tantawy, Bühne und Kostüme: Sonia Hilpert, Dramaturgie: Christoph Lang, Komposition: Kyungjin Lim. 311 Vgl. Veranstaltungsflyer »Spieltriebe 8«. 312 Vgl. a. a. O. 313 In beiden Religionen ist Hiob/Ayyu¯b als Leidensgestalt bekannt. Während das Alte Testament ein ganzes Buch mit der Geschichte Hiobs füllt, sind im Koran mehrere kurze Erwähnungen und Zusammenfassungen von Hiobs Schicksal vorhanden. Hiob gilt dort auch als Prophet. Vgl. dazu Suren 4, 161; 6, 84; 21,83f.: »Und (gedenke) Hiobs, als er zu seinem Erhalter ausrief: ›Heimsuchung hat mich getroffen: aber Du bist der Barmherzigste der

»Das Ebenbild«

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und Absurdität für das Publikum nahbar und nachvollziehbar werden, die Frage sei keine Science -Fiction, sondern ein »alter Menschheitstraum«.314 »Der alte Traum« und »Das Ebenbild« bilden somit eine Mikroeinheit, auf die sich im Folgenden auch die Analyse konzentrieren wird. Die Makroeinheit stellt die »Route Rot« dar, deren Untertitel »Gottes Konkurrenz« allerdings eine ebenso wichtige wie grundlegende Weichenstellung vornimmt. Die Einordnung der inszenierten menschlichen Anstrengungen als Konkurrenz zu einer übergeordneten transzendenten Größe wird hier bereits vom Theater vorgegeben. Der äußere Rahmen des Festivals ist hier eher von struktureller Bedeutung, da er den innovativen Charakter der einzelnen Produktionen noch einmal betont und einen Kontrast gegenüber dem regulären Spielzeitprogramm ermöglicht. 3.1.1.2 »Transreligiöse Reibungsflächen« In »Das Ebenbild« zeigt sich ein Schwerpunkt in der Arbeit des ägyptischen Regisseurs Haitham Assem Tantawy315. Wie schon in anderen Stücken arbeitet er an einer »Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen und deren Schnittstellen.«316 Tantawy tritt hier besonders hervor, da er sowohl in seiner Person als auch in seinen Projekten eine große religiöse Sensibilität zeigt. In seiner Biographie verbinden sich interkulturelle und interreligiöse Erfahrungen, die er bewusst in seine Arbeiten hineinträgt. Die Verbindung von Religion und theatraler Ästhetik ist für seine Stücke paradigmatisch und zeichnet ihn als Ansprechpartner für die Fragen dieser Arbeit aus. Im Rahmen eines Interviews gibt er an, dass es ihm darum gehe verschiedene Perspektiven auf der Bühne zusammenzubringen. »Mein Wunsch oder meine Vision ist, […] dass wir auf eine Art zusammenkommen, dass wir durch die Geschichten die wir teilen, auch wenn jeder seinen eigenen Blick darauf hat, etwas Kollektives und als Gesamtes etwas entdecken, was »mehr« ist, eine »Trance-Ebene«, die über den Einzelnen hinausgeht […]. Dass wir nicht mehr nur – wie in der Musik – die eine Geige oder das eine Klavier oder das eine Cello erleben, sondern die Musik erleben, die uns alle berührt und die aus allen diesen Elementen zusam-

Barmherzigen!‹ – woraufhin Wir ihn erhörten und all die Heimsuchung hinwegnahmen, an der er litt; und Wir gaben ihm neue Nachkommenschaft in doppelter Zahl als ein Akt der Gnade von Uns und als eine Erinnerung für alle, die Uns anbeten.« Ebenso auch: Sure 38,40– 44. 314 So äußerte sich Tantawy dazu im Juni 2019 während der Konzeptionsprobe im Theater. 315 Haitham Assem Tantawy hat auch als Regiehospitant in dem Musiktheater »San Paolo« mitgearbeitet. 316 URL: https://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spieltriebe-8/route-rot.html (27. 09. 2019).

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

mengesetzt ist. […] Die Diversität ist eigentlich kein Problem, es ist diese Diversität aus der wir zusammen die Musik machen.«317

Tantawy, in Kairo geboren, arbeitet als Musiktheater-Regisseur, Komponist sowie als Schauspieler und Schauspiel-Trainer. Er ist zudem seit 2015 Leiter des von ihm gegründeten »SINAI Orchestral Theatre« in Berlin, dessen Schwerpunkte auf der Arbeit an »transkulturellen und transreligiösen Reibungsflächen«318 liegen. Es heißt dort weiter: »In den verschiedenen künstlerischen Dimensionen oszillieren gleichsam die kulturellen Frequenzen umeinander und erzeugen Harmonien und Dissonanzen in einem Panorama über das Leben, das Sein und die Menschlichkeit.«319 Tantawy will durch seine Arbeiten den Versuch unternehmen die Auseinandersetzung mit religiösen Themen auf eine andere Ebene zu bringen: »[I]ch bin nicht zufrieden mit unserer heutigen Wahrnehmung von Religion«320 sagt er. »Die meisten von uns sind aufgewachsen mit der Lehre solcher Geschichten [gemeint sind hier religiöse Überlieferungen], man sollte sie auf eine bestimmte Art lernen, das ist so und das ist so. Irgendwann dachte ich, ok, wenn man von Religion spricht, dann sollte das für alle Zeiten gelten und nicht nur für die Zeit vor 2000 Jahren oder so. Was bieten diese Geschichten für uns heute?«

Dabei ist für Tantawy die Frage nach dem Was und dem Wie, nach Inhalt und Vermittlung gleichermaßen von Bedeutung: »Im Theater fragen wir immer nach dem Was und dem Wie, das Was in meiner Arbeit sind die Geschichten der Religionen, das Wie ist die Frage, ob es Geschichten für Kinder sind, die vergessen werden, oder ein Bezug zu heute geschaffen werden kann. Was ist Religion heute? Die Frage interessiert mich sehr … und auch die verbindenden Elemente zwischen den Religionen.«321

3.1.1.3 Schauplatz Ägypten Dem Libretto zu »Das Ebenbild« ist folgendes Vorwort vorangestellt: »Die alten Ägypter glaubten, dass, wenn ein Mensch starb, seine Seele dessen Körper verließ. Die Seele würde dann zurückkehren und mit dem Körper nach dem Begräbnis wieder vereint werden. Die Seele musste jedoch den Körper finden und erkennen können, um für immer leben zu können. Aus diesem Grund mumifizierten die alten

317 318 319 320 321

Interview vom 15.12.19. Vgl. URL: https://www.sinai-orchestraltheatre.de/profil (25. 11. 2019). URL: https://www.sinai-orchestraltheatre.de/profil (25. 11. 2019). Interview vom 15.12.19. A. a. O.

»Das Ebenbild«

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Ägypter ihre Toten. Dies ist eine zeitgenössische Geschichte eines alten ägyptischen Glaubens.«322

Darin werden sowohl das allgemeine Setting als auch die Rahmenbedingungen für die Handlung des Musiktheaters benannt. Das Vorwort steckt den geographischen und zeitlichen Kontext für die Geschichte ab. Die Handlung spielt demnach in Ägypten, allerdings in der Gegenwart bzw. vom Zeitpunkt der Aufführungen aus gesehen in der Zukunft, im Jahr 2020. Hinzu kommen im Verlauf des Stücks vielfältige Bezüge auf religionswissenschaftliche, religionsgeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen innerhalb Ägyptens. Im Folgenden sollen diese Kontexte kurz erläutert werden. Altägyptische Begräbnispraxis Was sich hinter der Formulierung »eines alten ägyptischen Glaubens« verbirgt, wird im Libretto nicht weiter ausgeführt. Es wird hier eine Vorstellungswelt aufgerufen, die auf den ersten Blick eine symbolische Wirkung zeigt, auf den zweiten Blick jedoch ein dichtes Gefüge religionswissenschaftlicher Narrative aufführt. Es ist anzunehmen, dass es hier um ein Konglomerat verschiedener religionsgeschichtlicher Elemente geht, in denen etwa die Praktik der Mumifizierung mit der Vorstellung von einer unsterblichen Seele verbunden wird, bei der eine grundsätzliche Trennung von Leib und Seele vorauszusetzen wäre. Letzterer Aspekt ist dabei eher auf griechische als auf klassische ägyptische Vorstellungen zurückzuführen.323 Eine Trennung von Leib und Seele innerhalb der ägyptischen Jenseitsvorstellungen kann, wenn jedoch vor allem während der römischen Zeit vermutet werden. Laut Zivie-Coche und Dunand ließe sich etwa das Bild des Vogels Ba, der klassischerweise über der Begräbnisstätte umherfliegt als die vom Körper losgelöste Seele interpretieren.324 »[…] der mumifizierte Körper blieb im Grab, während sein Ba ihn verlassen konnte, um in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Doch im Gegensatz zum griechischen Denken war diese Trennung zeitlich begrenzt; damit das Individuum nach dem Tode weiterleben konnte, mussten sämtliche materiellen wie immateriellen Elemente, die die Person konstituierten, vereint sein.«325

322 Libretto »Das Ebenbild«, 2. 323 Vgl. Zivie-Coche, Christiane; Dunand, Francoise: Die Religionen des Alten Ägyptens. Stuttgart 2012. 559. 324 Vgl. ebd. 325 Ebd.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

Religionshistorische Bedeutung Ägyptens Darüber hinaus muss hier auf Ägyptens besondere historische Bedeutung für die Religionsgeschichte verwiesen werden. Die monotheistischen Religionen haben hier ebenso wie die altägyptischen Formen innerhalb ihrer Entwicklung und Expansion wichtige Stationen durchschritten. Die ägyptische Gesellschaft und Kultur ist durch die Kontakte des christlichen und islamischen Monotheismus geformt. Dies zeigt sich auch an rituellen Mischformen vor allem im ländlichen Raum, die etwa islamische und altägyptische oder christliche und altägyptische Traditionen aufgreifen und auch noch nach dem 4. Jh. bzw. 7. Jh. zu beobachten sind.326 So werden beispielsweise Elemente antiker Bauten (sog. Spolien) aus der Pharaonenzeit in Moscheen verbaut.327 Stauth spricht von diesen Phänomenen als »außerordentliche[m] Toleranzraum«328. Die Wirkungsgeschichte zeigt, dass bereits in der Antike ein ausgewiesenes Interesse an der »ägyptischen Religion« bestand, die Aufmerksamkeit wurde vor allem auf die Riten und potenzielles Geheimwissen, z. B. Hermetik oder Gnosis, gelenkt.329 Bemerkenswert scheint hier, dass ebenfalls seit der Antike die Tendenz bestand, die religiösen Traditionen und Götter der Ägypter in Beziehung zur eigenen religiösen Vorstellungswelt zu setzen. So bemüht sich etwa der griechische Geschichtsschreiber Diodor (1. Jh. n. Chr.) die ägyptischen Götter möglichst positiv, als »Helden der Zivilisation«, darzustellen und sie auf diese Weise nahbarer erscheinen zu lassen.330 Seit der europäischen Neuzeit nehmen die Auseinandersetzungen mit dem ägyptischen Erbe größtenteils esoterische Züge an.331 Es gab jedoch auch einige ernsthafte – wenn auch aus heutiger Sicht wegen 326 Vgl. Stauth, Georg: Herausforderung Ägypten. Religion und Authentizität in der globalen Moderne. Bielefeld 2010. 84ff. Vgl. auch Zivie-Coche; Dunand, Die Religionen des Alten Ägypten, 571. 327 Vgl. a. a. O., 86. Stauth nennt hierfür ausführlich als Beispiel die ägyptische Stadt Fuwa. Vgl. dazu Vgl. a. a. O., 87–89. 328 A. a. O., 88. »Der Islam steht mit seiner in Perioden offenen Attitüde den Spolien gegenüber – ganz zu schweigen von der Idee des Pharaos – nicht alleine da. Die Monumente und alten Stätten und auch die Spolien in Schreinen, Medressen und Moscheen sind im heutigen Leben gegenwärtig, ja, sie spielen allein durch ihre gestaltende Präsenz in der Realität des Alltags, im traumatischen Bezug zur Geschichte, in Geschichten, Legenden und in den kanonischen Texten des Islams eine große Rolle.« Stauth, Herausforderung Ägypten, 84. 329 Vgl. Zivie-Coche; Dunand, Die Religionen des Alten Ägypten, 650; 653–657. 330 Vgl. a. a. O., 648. Es wird etwa von Diodor herausgestellt, dass es den ägyptischen Göttern zu verdanken sei, dass sich die Menschheit von der Praxis des Kannibalismus entfernt habe. Vgl. a. a. O., 647. Ebenso versucht der Philosoph Iamblichos (240/45–320/25 n. Chr.) in seinem Text »Mysterien der Ägypter« die griechische Philosophie mit den theologischen Vorstellungen der Ägypter zu verbinden. Vgl. a. a. O., 652. 331 Vgl. hier etwa die Rezeption (pseudo)-ägyptischer Inhalte in den Geheimbünden von Rosenkreuzern und Freimaurern sowie in den Theosophiebewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Vgl. dazu die Kapitel »Rosenkreuzer und Freimaurer« (662–665) sowie »Zeitgenössische Formen der Esoterik« (665–667) a. a. O., 662–667.

»Das Ebenbild«

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mangelnder Quellenkenntnis nicht mehr haltbare – Bemühungen: Bereits im 17. Jh. vertrat der Jesuit Athanasius Kircher (1602–1680) die These, Ägypten sei als Ursprungsland einer allgemeinen religiösen Tradition zu verstehen.332 Ähnliches versuchte auch der Brite Ralph Cudworth (1617–1688). Er legte dar, dass »allen Völkern« eine gemeinsame Vorstellung von Gott zugrunde liegen müsse.333 »So postuliert Cudworth, die Ägypter hätten in ihrem höchsten Gott den All-Einen, nämlich in einem das Ursprungsprinzip und sein Werk, die Natur, (an)erkannt.«334 Gegenwärtig scheint sich die Diskussion eher auf die Frage verlagert zu haben, inwieweit die »ägyptische Religion« Tendenzen des Monotheismus selbst gezeigt oder beeinflusst habe. Die biblische Figur des Mose ist hier relevant, da sie als personifizierte Verbindung zwischen Ägypten und Israel angesehen wird.335 Zivie-Coche und Dunand diskutieren in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit der sog. Amarna-Monotheismus (während der 17jährigen Regierung Echnathons) mit der Entstehung des Monotheismus in Israel zu tun habe, kommen aber zu der Einschätzung, dass hier aufgrund der zeitlichen Abstände und der eigenen Komplexität des Phänomens keine Schlüsse gezogen werden könnten.336 In diesem knappen Abriss zeigt sich zum einen die kontinuierliche Faszination ägyptischer Religion und Kultur, zum anderen resultiert daraus der Versuch ihr Erbe in die eigenen Lebens-/ Glaubenskontexte zu transportieren. Auch »Das Ebenbild« greift dies auf und positioniert die gesamte Handlung vor der Folie des »Alten Ägypten«. Ägypten heute Das gegenwärtige Ägypten scheint nunmehr durch die Verortung zwischen Tradition und Moderne geprägt. Nach Georg Stauth gilt Ägypten als beispielhaft für die »Verbindung von Gegenwart und Geschichte«.337 Die Ambivalenz, die diese Entwicklung mit sich bringe, mache Ägypten zu einem »Sonderfall«338. Dies

332 »Sein Werk Oedipus Aegyptiacus, publiziert zwischen 1652 und 1654, behauptet die Existenz einer Tradition, die einst der ganzen Menschheit gemeinsam gewesen und deren älteste Repräsentantin die ägyptische Religion sei.« Zivie-Coche; Dunand, Die Religionen des Alten Ägypten, 659. 333 Vgl. a. a. O., 660. 334 A. a. O., 661. 335 Siehe hier z. B. Assmann, Jan: Mose der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. 7. Aufl. Frankfurt am Main 2011; Assmann, Jan: Echnaton, Tutanchamun und Moses. In: Assmann, Jan; Strohm, Harald (Hg.): Echnaton und Zarathustra. Zur Genese und Dynamik des Monotheismus. München 2012. 13–39. 336 Vgl. Zivie-Coche; Dunand, Die Religionen des Alten Ägypten, 672. 337 Vgl. Stauth, Herausforderung Ägypten, 9. 338 Vgl. a. a. O., 22. »Pharaonismus, Islam und Moderne spiegeln im ›Sonderfall Ägypten‹ – gewissermaßen auf ein Wort verkürzt – die breitere Bedeutung wider, die Masse, Subjekt

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gilt sowohl für das kulturelle als auch das religiöse Erbe des Landes. Ägypten zeige, so Stauth, von jeher eine Auseinandersetzung zwischen Kultur und Religion. »Der ›Pharao‹ und der ›Prophet‹ sind eben keine toten Größen […|«339. Die wechselseitigen Beziehungen seien dabei komplex und kaum voneinander abzugrenzen, da es sich um keine »homogenen Blöcke« handle.340 Der Islam zeige sich dabei eher als pragmatische Religion, er bleibe vor allem als »Selbstbindungsmoment« im Alltagsleben der Ägypterinnen und Ägypter präsent. Abstrakte religiöse Normen seien dabei weniger prägend.341 Heute leben rund 90 % der Bevölkerung als Muslime, rund 10 % als koptisch-orthodoxe Christen.342 Seit der arabischen Eroberung Ägyptens im 7. Jh. konnte die koptische Minderheit ihre religiöse und kulturelle Identität erhalten. Die koptische Sprache, die auch als letzte Stufe des Ägyptischen angesehen werden kann343, konnte sich noch bis Anfang des 8. Jh. (706) als offizielle Sprache der staatlichen Verwaltung halten.344 Danach verschwand das Koptische mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben, konnte sich jedoch bis heute innerhalb der Gemeinschaft erhalten, wenn auch in einer rein liturgischen Funktion.345 Die Inszenierung greift diese Besoderheit durch die Verwendung koptischer Psalmen auf. Dieser gesellschaftliche Kontext, vor allem in seiner Dynamik zwischen Moderne und religiös-kultureller Tradition spiegelt sich in der Konzeption des Musiktheaters wieder.

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und (geformte) Gestalt als Komponenten des globalen modernen Gestaltungswillen beinhalten.« Ebd. A. a. O., 17. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 11. Die Angaben zur Zahl der koptischen Christen schwankt stark, es werden Werte zwischen 5 und 15 % genannt. Das Auswärtige Amt nennt zahlen zwischen 5 und 10 %. REMID (religionswissenschaftlicher Medien und Informationsdienst) gibt einen Anteil von 20 % Kopten für Ägypten an. Vgl. dazu URL: https://www.remid.de/info_kopten/ (29. 11. 2019). Vgl. Grossmann, Eitan; Richter, Tonio Sebastian: The Egyptian-Coptic language: It’s setting in space, time and culture. In: Grossmann, Eitan; Haspelmath, Martin; Richter, Tonis Sebastian (Hg.): Egyptian-Coptic Linguistics in Typological Perspective. Berlin / München / Boston 2015. 69–101. 77. Vgl. Asad, Maurice: Prägung der koptischen Identität, In: Verghese, Paul (Hg.): Koptisches Christentum. Die orthodoxen Kirchen Ägyptens und Äthiopiens. Stuttgart 1973. 87–116. 90. Mit dem Übergang zum Koptischen vollzog sich auch die Entwicklung der Schriftsprache, von den Hieroglyphen über das Kursive bis zum koptischen Alphabet. Vgl. Grossmann; Richter: The Egyptian-Coptic language, 84f. Vgl. Assad, Prägung der koptischen Identität, 90.

»Das Ebenbild«

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3.1.2 Analyse des Theatertextes – das Libretto Bei dem Musiktheater handelt es sich um eine Oper für einen Akt in drei Bildern. Das Libretto346 wurde von Christoph Lang und Haitham Assem Tantawy eingerichtet. Beide wirkten auch in der Inszenierung mit, Lang als Dramaturg und Tantawy als Regisseur und als Schauspieler. 3.1.2.1 Der Titel Der Titel des Musiktheaters zielt zunächst auf das Vorhaben der Protagonistin ab, einen Klon und damit ein biologisches Abbild bzw. ein Ebenbild ihres Mannes erschaffen zu wollen. Darüber hinaus schafft er eine Verbindung zur alttestamentlichen Schöpfungserzählung (Gen 1,27; 5,3; 9,6) und zeigt hier aus christlicher Perspektive eine theologisch-anthropologische Grundvoraussetzung für die Beziehung zwischen Gott und Mensch auf.347 Religionsgeschichtlich betrachtet wird hier bereits auf die Rede vom »Bild Gottes« rekurriert, die vor allem in Mesopotamien und Ägypten bekannt war.348 Mit dem theologischen Ausdruck der Ebenbildlichkeit geht eine Sonderstellung des Menschen einher. »In der Regel geht es dabei um den Menschen als besonderes Geschöpf im Gegenüber zu Gott und die Frage, ob der Mensch dieser Bestimmung gerecht werden kann.«349 Die sog. Ebenbildlichkeit lässt sich im hebräischen Text auf die Begriffe demût und sælæm zurückführen. Dabei meint sælæm eher ein handwerklich erstelltes Ab˙ ˙ bild350, demût beschreibt Gestaltähnlichkeit sowie Gleichartigkeit in Bezug auf die äußere Gestalt.351 346 Es handelt sich um ein unveröffentlichtes Manuskript, das der Autorin vorliegt. 347 Vgl. Wagner, Andreas: Verkörpertes Herrschen. Zum Gebrauch von »treten«/ »herrschen« in Gen 1,26–28. In: Etzelmüller, Gregor; Weissenrieder, Annette (Hg.): Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie. Berlin 2016. 127–141. 132. Wagner geht bei seinen Ausführungen davon aus, dass eine monotheistische Prägung erst in der priesterschriftlichen Literatur in nach-prophetischer Zeit, v. a. im 6. Jh. festzustellen ist. Vgl. a. a. O., 127f. 348 Vgl. Peters, Albrecht: Artikel Bild Gottes. In: TRE, Bd. 6. Berlin 1980. 491–515. 492. Sowie Schellenberg, Annette: Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament und in weiteren altorientalischen Quellen. Zürich 2011. 85–114. Vor allem in Ägypten habe es häufig Bild Gottes Prädikationen gegeben. »So sehr die Bezeichnung eines Menschen als ›Bild‹ auch in Ägypten ein Stück weit metaphorisch ist, insofern Menschen geboren, Bilder aber erschaffen sind, bringen entsprechende Bezeichnungen des Pharaos das ägyptische Verständnis sowohl seiner Funktion als Gottes Repräsentant als auch der Komplexität seiner irdisch-göttlichen Natur doch sehr direkt auf den Begriff: Insofern der Pharao mit der Thronbesteigung als ›Sohn des Re‹ die Rolle des Sonnengottes auf Erden übernimmt und nicht mehr nur menschlicher, sondern auch göttlicher Natur ist, ist er in gewissem Sinn tatsächlich ein ›Bild‹ Gottes.« Schellenberg, Der Mensch, das Bild Gottes?, 106. 349 A. a. O., 15. 350 Vgl. Wagner, Verkörpertes Herrschen, 132.

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»Die Priesterschrift (P) überträgt die Kultbildvorstellung auf den Menschen schlechthin, auf die Menschheit insgesamt; die Aussage zielt dabei auf den Zusammenhang von Statue und Bezugsgrösse: Wie das Kultbild bzw. der König als Statue – nach altorientalischer Vorstellung – einen Gott repräsentiert, so repräsentiert die Menschheit – nach der Vorstellung von P (d. h. im israelitischen Kontext) – Gott. Der Mensch steht in der Welt an Gottes statt.«352

In der Ebenbildlichkeit kommt es zu einer Übertragung dieses Status auf die gesamte Menschheit, nach Wagner erweitert hier die ägyptische Vorstellung, dass (nur) der König der Repräsentant Gottes ist. Er spricht hier auch von einer »Royalisierung« aller Menschen.353 Mit diesem Status verbindet sich der Auftrag die Erde zu beherrschen. Herrschen ist hier als ein verantwortlich sein für die Schöpfung verstanden. Wagner nennt hier wieder das Beispiel des Königs: Es geht dabei nicht um, »Ausbeutungen um jeden Preis, sondern Bemühen um den Erhalt und das Funktionieren des Ganzen!«354 Die Vorstellung des verantwortlichen Herrschens wird im Stück an ihre Grenzen gebracht. Der Mensch wird dort selbst als die Schöpfergestalt vorgestellt: Der Mensch erschafft sich im buchstäblichen Sinne selbst ein Bild, das ihm gleicht und tritt somit in die Parallele zu Gott. Das Problem ist dabei weniger die künstliche Erzeugung eines neuen Menschen, sondern vielmehr eine Kompetenzüberschreitung und eine mögliche Störung des Verhältnisses von Mensch und Gott. In der islamischen Tradition spielt die Ebenbildlichkeit nur eine geringe Rolle.355 Auf ein wörtliches Verständnis der Passage bezieht sich die mystische Strömung nach Ibn al-’Arabı¯, nach der es möglich sei alle menschlichen Eigenschaften soweit zu überwinden, dass sich schließlich »im ›Vollkommenen Menschen‹ alle Facetten der Gottheit manifestieren […]«.356 Die Auslegung des Hadith ist jedoch umstritten. Es kann hier andererseits auch so gedeutet werden, dass der Mensch von Allah so geschaffen wurde, wie es Allahs Menschen-Bild entsprach.357

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Vgl. Wagner, Verkörpertes Herrschen, 134. A. a. O., 133. Vgl. ebd. A. a. O., 138. Nach koranischem Verständnis wird Adam als erster Mensch von Allah aus Tun und Schlamm erschaffen. Es gibt dort zunächst keine Formulierung die der biblischen entspricht. Der Mensch ist als Stellvertreter Gottes über die Schöpfung gesetzt, jedoch dazu verpflichtet, diesem mit Dank und Anbetung zu begegnen. Vgl. Berger, Lutz: Islamische Theologie. Wien 2010. 48. 356 A. a. O., 181. 357 Vgl. ebd.

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3.1.2.2 Erstes Bild Im Stück sind drei Personen aktiv, das Ehepaar Ilyas und Amina, sowie der Mediziner Doktor Javos. Hinzu kommt ein Chor, bestehend aus zwei Sängerinnen und zwei Sängern. Die Beschreibungen im Libretto legen die Charaktere fest: Das Ehepaar führt ein selbstbestimmtes Leben und ist beruflich erfolgreich. Es unterhält weder viel Kontakt zu den Familien noch pflegt es eine konkrete religiöse Tradition. Bei diesen beiden Figuren handelt es sich um fiktive Charaktere, der Arzt, Dr. Javos ist jedoch bewusst an der realen Person von Dr. Panayiotis Zavos orientiert. Zavos ist laut Angaben der Verfasser des Stücks ein zypriotischer Mediziner, der sich in den letzten Jahren durch geheime Experimente dem europäischen und amerikanischen Klonverbot entzogen habe. Er betreibe ein Labor in Ägypten und habe im Jahr 2009 nach eigener Aussage bereits menschliche Embryonen geklont.358 Im ersten Bild treten nur zwei der drei Figuren, das Ehepaar Amina und Ilyas, auf. Die Namen von Ilyas und Amina sind bedeutungstragend und verweisen auf die religiösen Traditionen des Islam: Ilyas ist die arabische Form des Prophetennamen Elija. Dieser spielt sowohl im Alten Testament als auch im Koran eine Rolle359. Der Name Amina ist ebenfalls ein gebräuchlicher arabischer Vorname, ¯ mina bint Wahb, dessen Beliebtheit auf die Mutter des Propheten Mohammed, A zurückgeht. Über sie wird in der Hadith-Literatur berichtet360. Beide Figuren repräsentieren hier die kulturelle Verschmelzung von säkularer Gesellschaft und religiöser Tradition. Das Paar befindet sich in seiner Wohnung, Ilyas leidet seit längerer Zeit an einer Krankheit, er hält es in der Enge des Krankenzimmers nicht mehr aus und tritt zu Amina. Er klagt ihr sein Leid und es wird deutlich, dass er angesichts seines Zustandes längst resigniert hat. Amina versucht ihn zunächst zu beruhigen, macht ihm dann aber auch den Vorwurf sie allein zu lassen. Schließlich gelingt es ihr ihren Mann zu beruhigen und beide versichern sich gegenseitig ewige Liebe. »AMINA: Ilyas! Wohin gehst du? ILYAS: Ich halte diesen Geruch nicht mehr aus. Mein Zimmer ist erfüllt davon! Meine Glieder brennen wie Feuer und mein Augenlicht verschwindet. Die Krankheit wuchert unaufhörlich in mir. Der Geruch, Amina, scheint mir wie aus dem Grabe! 358 Die Autoren des Libretto legen hierzu verschieden Quellen vor. Eine Bewertung der Quellen hinsichtlich ihrer inhaltlichen Qualität und Glaubwürdigkeit kann hier nicht vorgenommen werden. 359 Vgl. Sure 6:85; Sure 37:125. Vgl. Mertek, Muhammet: Türkisch-Deutsches Wörterbuch islamischer Begriffe mit deutsch-türkischem Glossar. 2. überarb. Ausg., Frankfurt am Main 2012. 133. 360 Vgl. a. a. O., 15.

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AMINA: Aber du darfst nicht hinausgehen. ILYAS: Was soll mir noch passieren? Werde ich draußen einen Tag früher sterben als hier drin? Zumindest nicht von diesem Geruch meines zerfallenen Körpers. CHOR: Dein Leben ist ein Wunder, und dein Kämpfen ist großartig; Deine Herrlichkeit war hoch, inmitten der Asketen. AMINA (fürsorglich): Wo möchtest du denn hingehen, Ilyas? Lässt du mich hier alleine zurück? Können wir nicht mehr an das Gute glauben. Du glaubtest immer doch an das Gute. ILYAS (unterbricht sie): Man kann von Aberglauben sprechen, aber ein Glaube existiert nicht mehr in meiner Welt. Nur der an das finstere Schicksal, das über mein Unglück bestimmt. Weißt du, Amina, was mich quält? AMINA: Sag es mir, Ilyas! ILYAS: Es ist alles dahin: Unsere Pläne, unsere Herzenswünsche. Alles scheint mir jetzt, als ob es ein Kriegsdienst wäre. Als wäre ich ein Tagelöhner, der sein ganzes Leben auf Lohn gewartet hat. Doch am Ende kommt nichts. […] CHOR: Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine Seele verliert, wäre dies das Leben der Eitelkeit. Wir bitten Sie, sich an uns zu erinnern!«361

Ilyas Klage beginnt hier mit einer Paraphrase von Ps 102,4: »Meine Glieder brennen wie Feuer und mein Augenlicht verschwindet.«362 Vor allem der »Geruch« des kranken Körpers wird insgesamt drei Mal wiederholt und baut hier bereits einen deutlichen Kontrapol zur Seele auf. Unterbrochen wird die Klage dann durch den Chor. Die Rolle des Chores ist nicht eindeutig zu fassen, es handelt sich laut der Beschreibung um »mythische Geiste«. Diese stehen laut der Zusatzangaben im Libretto für eine »Konfrontation des Menschen mit seiner Sterblichkeit sowie die Sehnsucht nach dem Göttlichen. Sie stammen aus der Vergangenheit und dringen in die neue Welt von Ilyas, Amina und Dr. Javos.«363 Es deutet sich hier eine verbindende Funktion des Chores an, die sich sowohl über eine zeitliche als auch über eine thematische Achse definiert. Der Chor singt hier Stellen »aus

361 Dieser Auszug aus dem ersten Bild sowie alle weiteren Textbeispiele wurde mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber abgedruckt. Der Text wurde z. T. ohne Anmerkungen und Regieanweisungen gedruckt, Setzung und Orthographie wurden z. T. geändert. Libretto »Das Ebenbild«, 5f. 362 Ebd. Der Bibeltext lautet (Luther 85): »Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.« Die Stelle ist hier dem 102. Psalm entnommen, einem sog. Bußpsalm. Der Psalmist klagt hier zunächst sein Leid, bevor der Text ab Vers 13 umschlägt in ein hoffnungsvolles Lob Gottes, der am Ende Rettung (für Zion) bringt. 363 Vgl. Libretto, 4. Orthografie wurde angepasst.

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koptischen Psalmen«364. Darin wird sowohl Mut zum Durchhalten als auch eine Wertschätzung des Leides zum Ausdruck gebracht. Als Reaktion darauf wird auch Amina etwas sanfter, sie geht im Gegensatz zu ihrer ersten Reaktion nun auf den Wunsch Ilyas’ ein (»Wo möchtest du denn hingehen, Ilyas?«), trotzdem appelliert sie aber an »das Gute« zu »glauben«. Hier unterbricht sie Ilyas und setzt den Glauben an das Gute mit Aberglauben gleich, ein »Glaube« im eigentlichen Sinne existiere für ihn nicht, stattdessen bringt er hier das Schicksal ins Spiel und fällt wieder in seine Klage ein, diesmal angelehnt an Hiob 7,1–3. Es steht nicht mehr nur der Körper, sondern die eigene Anstrengung im Vordergrund der Klage, die nun im Angesicht des Todes nichtig erscheint. Hier antwortet nun der Chor mit einem Zitat aus Mt 16,26.365 Der zweite Teil gibt hier Rätsel auf, da nicht klar ist, an wen der Chor die Ermahnung adressiert, an das Ehepaar oder das Publikum. Die Großschreibung des Wortes »Sie« deutet hier eher auf eine Ansprache des Publikums hin. Die Betonung der Seele führt hier zu einem Gegensatz, der in einer daran anschließenden gemeinsamen Rede von Amina und Ilyas weiter ausgeführt wird. Es heißt dort »Wir sind Wesen aus Leib und Seele! Weh dem Leib, […], aber die Seele, sie kam aus dem Nichts. Wird sie auch im Nichts verschwinden? […]« Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ist hier für das Paar zentral. Dieser Gedanke wird dann unmittelbar auf die Gemeinschaft der beiden Eheleute übertragen. Die gemeinsame Rede schließt mit dem bekannten Zitat aus dem Buch Rut (»Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da will auch ich bleiben.«366). Es kommt hier zu einer Verknüpfung von zwei Motiven, die zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben, die Paarbeziehung wird auf eine ähnliche Rolle gehoben, wie die eschatologische Frage nach der Unsterblichkeit. »AMINA: Er ist nur noch ein Schatten seines alten Bildes. Zu gern würde ich ihn ins Leben zurückholen, die Erinnerung lebendig werden lassen. Doch der Rauch, der ihn ersticken lässt, raubt mir die eigene Sicht. Ich kann nichts mehr sehen, außer dem alten Bild von ihm, das noch in mir existiert. Selbst ein Bild eines Sohnes könnte meine Sicht nicht erhellen. CHOR: Die Sonne und der Mond werden mit der Zeit verschwinden, aber du bist derselbe und deine Jahre werden niemals enden.

364 Die Besonderheit, dass hier aus koptischen Psalmen gesungen wird kann zum einen damit erklärt werden, dass die Kopten die älteste christliche Gemeinschaft in Ägypten sind, zum anderen gilt das Koptische, das auch gegenwärtig die Liturgiesprache der Gemeinschaft ist, sonst aber nicht mehr aktiv gesprochen wird, als die letzte Sprachstufe der ägyptischen Sprache. 365 Libretto, Das Ebenbild, 6. 366 Ebd.

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AMINA: Der Gedanke kommt mir aber immer wieder. Er verfolgt jeden wachen Moment, als ob er uns die Hand reichen möchte. Was hat man zu verlieren? Was haben wir zu verlieren, wenn der Tod unser Gast ist.«367

Am Ende des ersten Bildes bleibt Amina allein zurück, sie reflektiert über die Situation ihres Mannes und nimmt das Motiv der »brennenden Glieder« (Ps 102,4) in der Hinsicht wieder auf, dass sie dort weiter denkt und von »Rauch« spricht, der ihr die klare »Sicht« auf die Dinge raubt und sie dadurch ihren Mann nicht mehr als den sehen kann, der er früher einmal war. Sie wird dann ein letztes Mal von dem Chor unterbrochen, auch dieser spricht mit den Worten aus Psalm 102.368 Dieses Psalm-Wort beschreibt die Allgegenwärtigkeit Gottes, Amina bezieht es im Anschluss allerdings auf das Leben ihres Mannes.369 Sie macht sich hier den Gedanken zu eigen, sich den Gebundenheiten von Raum und Zeit zu widersetzen und ewig zu leben. Es kommt hier zu einer Übertragung göttlicher Eigenschaften auf den Menschen, der Traum, Gott gleich zu sein, der schon in den biblischen (Gen 3,5)370 und koranischen (u. a. Sure 7,19f.) Schöpfungs- bzw. Sündenfallerzählung richtungsweisend ist371. Im ersten Bild des Musiktheaters werden zunächst mehrere kulturelle und religiöse Bezüge vermengt: Amina und Ilyas repräsentieren ein islamisches Erbe in ihrer Identität, ihre Kommunikation ist hingegen durchdrungen von biblischer Sprache und Verweisen in den alt- und neutestamentlichen Kontext. Diese »christlich« geprägte Sprache wird auch durch die koptischen Psalmen des Chores noch einmal betont und in den islamisch-ägyptischen Kontext restituiert. Der Rahmen des Bildes ist hingegen von der altägyptischen Tradition vorgegeben

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Libretto, Das Ebenbild, 7. A. a. O., 6. Ebd. »Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf: ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.« 371 Die koranische Erzählung des Sündenfalls enthält ebenfalls die Elemente des verbotenen Baumes (Sure 2,35; 7,19) und der Verführung die menschlichen Grenzen zu überschreiten. Im Koran ist ganz konkret die Vorstellung genannt, dadurch angeblich ewig leben zu können: »Und er sprach: ›Euer Herr hat euch diesen Baum nun verboten, damit ihr nicht Engel würdet oder ewig lebtet.‹« So in der Übersetzung von Max Henning. Asad übersetzt Sure 7,19 so: »Und (was dich angeht), o Adam, wohne du und deine Frau in diesem Garten und eßt ihr beiden, was immer ihr wünschen mögt; aber nähert euch nicht diesem einen Baum, daß ihr nicht Übeltäter werdet.« Anders als in der alttestamentlichen Erzählung ist es zunächst Satan, der direkt mit dem Menschenpaar kommuniziert (Vgl. Suren 2, 36; 7, 20), weiterhin erfolgt eine unmittelbare Vergebung der Tat durch Gott (Vgl. Sure 7, 26f.), sodass kein Konzept von Erbsünde existiert. Auch wird die Rolle der ersten Frau im Koran nicht als negativ hervorgehoben.

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und von der grundlegenden und kulturübergreifenden Frage nach der unsterblichen Seele dominiert.372

372 Bereits im Vorwort wird ein dualistisches Verständnis von Körper und Seele vorausgesetzt, beide stellen im Kontext des Stücks abgegrenzte Einheiten dar, die zum Zeitpunkt des Todes voneinander getrennt werden. Erst nach der Bestattung besteht die Möglichkeit, dass beide wieder zusammenfinden. Das Ritual der Mumifizierung kann hier, wie oben beschrieben, als Hilfsmittel verstanden werden, diesen Zustand zu erreichen. (Vgl. dazu Hasenfratz, Hans-Peter: Artikel Seele I. In: TRE, Bd. 30. Berlin 1999. 733–737. 735.) Im Vorwort wird deutlich darauf verwiesen, dass es sich dabei um eine altägyptische Vorstellung handelt, es wird vorausgesetzt, dass diese trotz der historischen und kulturellen Hürden bis in die Gegenwart relevant ist. Die Bedeutung der Seele ist auch in christlicher Tradition eng mit der Vorstellung von einem Leben nach dem Tod verknüpft, wenngleich sich genau hier eine Kontroverse abzeichnet. (Vgl. dazu weiterführende Werke: Bernd Janowski, Christoph Schwöbel (Hg.): Gott – Seele – Mensch. Interdisziplinäre Beiträge zur Rede von der Seele. Neukirchen – Vluyn 2013; Høystad, Die Seele. Eine Kulturgeschichte. Köln 2017.) Während eine unsterbliche Seele in der Vorstellungswelt des Alten Testaments fremd war und Leib und Seele eine untrennbare Einheit darstellten (Vgl. Schöpflin, Karin: Seele II. In: TRE, Bd. 30. Berlin 1999. 737–740. 740.), änderte sich dies unter Einfluss des platonischen Denkens in der Spätantike und prägte bis in das 20. Jh. auch die Theologie. Gegenwärtig herrscht dort ein plurales Konzept von Seele vor, das sich v. a. in interdisziplinären Diskussionen mit den Naturwissenschaften, weiterzuentwickeln versucht. (Vgl. Janowski, Schwöbel, Einleitung, VII.) Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass in theologischer Hinsicht eine Person als die individuelle Einheit von Leib und Seele verstanden wird, wie etwa Wolfhart Pannenberg betont hat. (Vgl. Stock, Konrad: Seele VI. In: TRE, Bd. 30. Berlin 1999. 759–773. 770.) Für die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod wird entweder klassischerweise von einem dualistischen Verhältnis von Leib und Seele ausgegangen, bei dem der Leib vergeht, die Seele aber weiterlebt (Vgl. dazu Hermanni, Friedrich: Über das Verhältnis von Leib und Seele. In: Bernd Janowski, Christoph Schwöbel (Hg.): Gott – Seele – Mensch. Interdisziplinäre Beiträge zur Rede von der Seele. Neukirchen – Vluyn 2013. 56–70. 69.), oder ein ganzheitliches Konzept angewendet, indem auch über den Tod hinaus die individuelle Einheit von Leib und Seele erhalten bleibt. (Vgl. Stock, Seele VI. 771.) In islamischer Vorstellung scheint der Dualismus von Leib und Seele weniger stark präsent. (Vgl. Høystad, Die Seele, 389.) Auch hier existiert wie bei den alttestamentlichen Termini keine absolute Sicherheit bei Verständnis und der Exegese dieser Konzepte. Im Koran sind beide Formen (nafs und ruh) verwendet. (Vgl. Elleisy, Magdy: Die Seele im Islam. Zwischen Theologie und Philosophie. Hamburg 2013. 21.) Wobei nur nafs direkt mit »Seele« übersetzt wird. (Vgl. Calverly, E.E.; Netton, I.R.: Art. Nafs. In: Encyclopedia of Islam. Bd. 7. 880a–884a. Online 2012.) Die Seele ist hauptsächlich in einer eschatologischen Perspektive relevant, der Koran spricht als Perspektive für alle rechtgläubigen Menschen von der Erlösung der Seele und einer Auferstehung der Toten. (Vgl. Høystad, Die Seele, 383; 386. Vgl. Sure 50, 24–26.) Nach dem Tod erfolgt eine »Wiedervereinigung« von Körper und Seele. Dabei hat die Seele stets einen höheren Stellenwert als der Körper, da dieser eher eine Behausung darstellt. (Vgl. a. a. O., 389–391.) In der islamischen Tradition erscheint die Seele als ambivalentes, fragiles Gebilde, das den Menschen potenziell in Gefahr bringen kann. (Vgl. a. a. O., 379. Vgl. u. a. Sure12, 53: »Und ich behaupte nicht, dass ich unschuldig sei. Die Seele verlangt gebieterisch nach dem Bösen – soweit mein Herz sich nicht erbarmt. […].«) Der arabische Begriff nafs, der teilweise mit Seele übersetzt wird, beschreibt als sog. nafs amma¯ra vor allem die triebhaften Begierden des Menschen, die in jedem Fall negativ konnotiert sind. (Vgl. dazu Calverley; Netton, Art.

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3.1.2.3 Zweites Bild Im zweiten Bild wechselt der Schauplatz, die Szene spielt im Labor des Arztes Javos. Eingeleitet wird die Szene durch den Chor, diesmal mit dem Hinweis »Aus dem Alten Testament«. Es werden immer wieder Teilsequenzen aus der Geschichte rund um den Turmbau zu Babel gesungen, die sich im Bild steigern. Hier ist auch ein Konnex mit der Installation »Der alte Traum« zu erkennen, der ja auch das Motiv der Hybris des Turmbaus zu Babel inszeniert hat. »[…] AMINA: […] aber: Wie kann ein toter Mann wieder leben? Doktor JAVOS: Die Frage ist: Welcher Teil von ihm stirbt? Unsere Seelen sind unsterblich. Nachdem sie unsere Körper verlassen haben, leben sie immer wieder in neuen Wesen fort. Was ich tue, ist der Versuch, ihre biologische Präsenz in dieser Welt fortzusetzen.

Nafs I.) Z. B. ist von sog. »Einflüsterungen« (Sure 50, 15) und von Habsucht (Sure 59, 9b) die Rede. »Und nicht rechtfertige ich mich selber; siehe, die Seele ist geneigt zum Bösen, es sei denn, dass sich mein Herr erbarmt; […].« Sure 12, 53. Die Seele muss daher »erzogen« werden. Høystad nennt in diesem Zusammenhang den Ausdruck »der große jihad ( jihad-eakbar)« und beschreibt diesen als »Krieg gegen die eigene Seele«. (Høystad, Die Seele, 381.) Des Weiteren fungiert die Seele als eine Art des Gewissen, das den Menschen tadelt (»Ich schwöre beim Tag der Auferstehung, und bei der Seele, die an allem etwas zu tadeln findet.« Sure 75, 1f.) Die besondere Komplexität der Begrifflichkeit ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, dass sowohl nafs als auch ruh für Seele verwendet werden, sondern in der islamischen Tradition eine starke Dreierverbindung von Seele, Geist und Herz vorherrscht. (Vgl. Høystad, Die Seele, 391f.) »In der postkoranischen Literatur wird ru¯h öfter für die Seele gebraucht als nafs, das hauptsächlich für die geistige Dimension verwendet wird, die der Mensch im irdischen Leben in sich trägt (die also im Körper wohnt). Ru¯h hingegen wird für die geflügelte Seele benutzt, die den Körper verlassen und selbst Geist werden kann. Doch nafs ist enger mit dem ru¯h des Herzens verbunden als mit dem Körper. Sie gehören zusammen wie Liebhaber und Geliebte und das Herz in seiner Zwischenstellung vermittelt zwischen ihnen.« (Høystad, Die Seele, 392.) Der Ort der Seele ist dabei das Herz des Menschen, hierin liegt auch die Bedeutsamkeit der islamischen Mystik begründet. Dabei geht es um die Hinwendung zu Gott und Erkenntnis durch den Blick in das eigene Innere. (Vgl. a. a. O., 394.) So wie Gott als absolut einheitlich vorgestellt wird, wird auch die endgültige Bestimmung der Seele als eine Einheit mit Gott vorgestellt. (Vgl. a. a. O., 384.) »Das Ziel der Seele ist die Einheit, Gottes Einheit, tawhid, die absolute Einheit mit dem Einen, mit Gott.« (Ebd.) Im Verständnis des Stückes zeigt sich in den Absichten Aminas ein klarer Dualismus. Sie geht davon aus, dass die Seele ihres Mannes der eigentliche und wichtige Teil seiner Persönlichkeit ist. Der Körper wird von ihr als reproduzierbare Hülle verstanden, deren äußere Gestalt ihr etwas bedeutet, sie aber bereit ist, die körperlichen Veränderungen (ihr Mann wäre zunächst ein Säugling, dann ein Kind usw.) zu tolerieren. Die Haltung des Doktors scheint hier keine Rolle zu spielen, er unterstützt Amina in ihrem Glauben. Man hat allerdings den Eindruck, dass der Arzt hier lediglich aus Eigennutz Position bezieht. Ilyas lehnt das gesamte Vorhaben ab, ob seine Vorstellungen von Leib und Seele dabei eine Rolle spielen, wird nicht klar.

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AMINA: Ilyas wird dies niemals erlauben! Es widerspricht seinem Wesen und seinem Glauben. Doktor JAVOS: Was soll ich denn tun, wenn ihr Mann selbst es nicht will? CHOR: Babel! AMINA: Er wird nicht daran glauben, dass er dem Tod entkommen kann. Sein Glaube wird verhindern, dass er daran glauben kann. In seinen Augen ist es gegen die Natur…373«

Amina schildert Dr. Javos das Problem und er unterbreitet ihr die Möglichkeit Iljas Seele durch die Erschaffung eines neuen Körpers durch das Klonverfahren weiterleben zu lassen. Javos spielt hier auf die Reinkarnation an.374 An dieser Stelle wird durch eine Fußnote auf eine Sequenz aus Ovids Metamorphosen verwiesen. Hier soll vermutlich auf die Vorstellung der Seelenwanderung hingedeutet werden. Diese Vorstellung existiert in unterschiedlichen Kontexten. Im Allgemeinen trifft sie hier nur teilweise auf das dargestellte Geschehen zu. Von Seelenwanderung ist dann zu sprechen, wenn erstens bei der Zeugung eines Kindes keine neue Seele entsteht, sondern eine »bereits existierende Seele sich einzukörpern vermöge«.375 Zweitens sollte es sich dabei um einen mehrfachen Prozess handeln, was aber in Aminas Fall so nicht beabsichtigt ist. Im Verständnis des platonischen Seelenmythos handelt es sich bei der Seele um eine der göttergleichen Existenzen im Reich der Ideen. Durch ein ständiges Kontrollieren ihrer Begierden kann diese entweder verkörpert oder vollkommen frei existieren.376 In der angegebenen Textpassage der Metamorphosen wird dieses platonische Verständnis vorausgesetzt. Es geht dort um die Vergänglichkeit von Körper und Seele: »Frei von Tod sind die Seelen, nachdem sie den früheren Sitz verlassen haben, leben sie fort und wohnen immer wieder in neuen Behausungen, die sie aufnehmen.«377 Amina reagiert auf diesen Vorschlag zunächst ablehnend, da sie davon ausgeht, dass Ilyas damit nicht einverstanden wäre. Sie argumentiert hier mit seinem 373 Libretto, Das Ebenbild, 9. 374 Vgl. ebd. 375 Vgl. Hasenfratz, Hans-Peter: Artikel Seelenwanderung I. In: TRE, Bd. 31. Berlin 2000. 1–4.; sowie Halfwassen, Jens: Was leistet der Seelenbegriff der klassischen griechischen Metaphysik? In: Bernd Janowski, Christoph Schwöbel (Hg.): Gott – Seele – Mensch. Interdisziplinäre Beiträge zur Rede von der Seele. Neukirchen – Vluyn 2013. 44–55. 55; und zum triadischen Modell Platons: Halfwassen, Seelenbegriff, 46f. 376 Hasenfratz, Seelenwanderung, 2. 377 Ovid: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Hg. u. übersetzt v. Niklas Holzberg. Berlin / Boston 2017. XV. 158f. Vgl. Libretto, Das Ebenbild, 9. Groß – und Kleinschreibung wurde hier angepasst. Siehe dazu die Übersetzung von Holzberg: »Seelen sterben nicht; stets ihren früheren Wohnsitz verlassend, leben sie, aufgenommen von neuen Häusern, dort wohnend.«

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

»Glauben«. Hier ist unklar, was Amina meint, bisher ist keine religiöse Glaubensüberzeugung bei Ilyas erwähnt worden. Es könnte sich um eine allgemeine Orientierung an islamische Traditionen handeln oder – und das scheint durch den Kontext wahrscheinlicher – eher eine weltanschauliche säkulare Gesinnung, nach der es aus seiner Sicht einfach »gegen die Natur« ist.378 Hierauf bezugnehmend verweist Javos im weiteren Verlauf des Gesprächs auf die Naturwissenschaften und die Weisheit, die sich der Mensch im Laufe seiner Entwicklung zu Nutze machen konnte. Die Art und Weise wie im Stück auf die realen Medizinerpersönlichkeiten (Dr. Zavos, Dr. Dotto) verwiesen wird, suggeriert eine gewisse Rationalität und Überprüfbarkeit. Diese steht in deutlichem Kontrast zu den mythischen Narrativen, die im Stück aufgerufen werden. Besonders deutlich wird die Polarität im zweiten Bild, da sich dort die personalisierte Wissenschaft (Dr. Javos) mit den diffusen und irrationalen Babel-Fragmenten mischt. Weisheit ist hier schon als das zweite göttliche Attribut gekennzeichnet (durch einen Verweis in den Fußnoten auf Hi 12,3), mit dem der Arzt auftritt. Bereits zu Beginn des Bildes tritt er als »Schöpfer« in Erscheinung (»Ich kann ein Ebenbild erschaffen, […].«379). Amina scheint hier in einem doppelten Konflikt, sie hat zum einen Angst gegen den Willen ihres Mannes zu handeln, zum anderen ist sie nicht sicher, ob sie Javos überhaupt vertrauen kann: »Ist es Weisheit oder Illusionen?«380 Hier steigert sich auch der Chor zu seinem Höhepunkt: »Auf, bauen wir eine Stadt! Einen Turm bis in den Himmel!«381 Dieser Klimax verbindet sich mit einer »leidenschaftlich« vorgetragenen Passage von Dr. Javos. »Doktor JAVOS (leidenschaftlich): Nicht um des Schaffens selbst willen. Ich will Ihnen helfen, aber auch der gesamten Menschheit. Denn wie hätte der Mensch bis jetzt überlebt, wenn nicht durch seine fortwährenden Bemühungen, sich gesund und zufrieden zu halten. Jesus heilte Lepra-Kranke, ließ Gelähmte laufen und Blinde wiedersehen. Er tat das selbst unter Missachtung der Sabbat-Gesetze wie auch der Naturgesetze. Und heißt es nicht: ‚Wer einen Menschen wiederbelebt hatte, war, als hätte er das gesamte Volk wiederbelebt‘. Warum sollten wir uns das nicht zum Vorbild nehmen, auch wenn es um so ein Verfahren geht? Was uns früher Meilen entfernt stand, liegt uns nun sehr nah. Der mögliche Nutzen unserer neuen Verfahren ist unermesslich groß. In dem Augenblick, in dem wir daran zweifeln, dass wir noch mehr erreichen können, haben wir für immer die Fähigkeit verloren, irgendetwas zu erlangen. AMINA: Also… nicht zweifeln… Doktor JAVOS (versucht sie zu beruhigen): Es ist ein beschwerlicher Weg, doch ich will ihn beschreiten. Mutig will ich ihn beschreiten. Jemand muss den Mut haben, der erste zu sein. 378 379 380 381

Vgl. Libretto, Das Ebenbild, 9. A. a. O., 8. A. a. O., 9. A. a. O., 10.

»Das Ebenbild«

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(Pause) AMINA (für sich): Dem Mutigen gehört die Welt, dem Gläubigen gehört der Himmel. Aber vom Himmel wissen wir leider nichts Gewisses…«382

Hier präsentiert sich Dr. Javos gleichsam als Erlöser der Menschheit und stellt sich auf eine Stufe mit Jesus Christus. Es geht ihm um die Überschreitung von Grenzen, hier in erster Linie der natürlichen, aber auch der moralische Grenzen von Leben und Tod. Javos werden hier die Worte des italienischen Wissenschaftlers Gian-Paolo Dotto383 in den Mund gelegt: »Jesus heilte Lepra-Kranke, ließ Gelähmte laufen und Blinde wieder sehen. Er tat das selbst unter Missachtung der Sabbat-Gesetze wie auch der Naturgesetze.«384 Die Kopplung zwischen der Überschreitung zweier Grenzen ist hier bemerkenswert. In einem Zug wird durch das Handeln Jesu, die moderne medizinische Forschung und die Überschreitung religiöser Normen legitimiert. Mit Dotto wird hier eine Wissenschaftlerpersönlichkeit eingebracht, die scheinbar eine der Religion zuträgliche Forschungsposition verkörpert. Hier zeigt sich bereits ein Versuch Religion und medizinischen Fortschritt in einer Weise zu verbinden, in der beide Partner voneinander profitieren könnten. Weiterhin wird hier zum ersten Mal auf eine Koransure (Sure 5,32) verwiesen.385 Diese wird Dr. Javos hier zu eigen gemacht. »Deswegen haben Wir für die Kinder Israels verordnet, daß, wenn irgendeiner einen Menschen tötet – es sei denn (als Strafe) für Mord oder für Verbreiten von Verderbnis auf Erden –, es sein soll, als ob er alle Menschheit getötet hätte; während, wenn ir-

382 Libretto, Das Ebenbild, 10. 383 Dotto ist Arzt, Biochemiker und Gentechniker, er ist in der Krebsforschung tätig. Er lehrt und arbeitet in der Schweiz und den USA. Siehe für weiter Infos die Webseite der Fakultät für Medizin und Biologie der Universität Lausanne. URL: https://www.unil.ch/ib/en/home/me nuinst/research/dotto-gian-paolo.html Das im Libretto verwendete Zitat stammt aus einem Online-Artikel der Zeitung »Osservatore Romano« vom 27. Januar 2018. Dotto plädiert darin dafür, dass eine »angemessene Genforschung« auch von kirchlicher Seite gefördert werden sollte. Vgl. dazu die Berichterstattung der Erzdiözese Wien URL: https://www.erzdi oezese-wien.at/site/home/nachrichten/article/63052.html (7. 10. 2019). Das benannte Zitat wurde aus dem Italienischen übersetzt und leicht verändert. Für den originalen Wortlaut siehe: »È scritto nei vangeli che Gesù sanava i lebbrosi, faceva camminare i paralitici e vedere i ciechi, richiamava in vita persone già morte. Nel fare questo, egli ha voluto ridare speranza e vita a chi non ne aveva più, senza preoccuparsi di infrangere le leggi del sabato, né quelle della natura.« URL: http://www.osservatoreromano.va/it/news/una-notizia-che-va-ridimen sionata (10. 10. 2019). 384 Libretto, Das Ebenbild, 10. 385 Es erstaunt ohnehin, dass das Stück zwar in Ägypten angesiedelt ist, bisher aber deutlich biblische Textverweise überwiegen. Warum nicht mehr Koranzitate hier Verwendung finden bleibt offen. Zu vermuten wäre, dass der Aufführungskontext hier berücksichtigt wurde und man davon ausgehen kann, dass biblische Sprache einen höheren Wiedererkennungswert beim Publikum hat.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

gendeiner ein Leben rettet, es sein soll, als ob er aller Menschheit das Leben gerettet hätte.«386

Vers 32 gibt hier ein jüdisches Gebot wieder, dessen Einhaltung als positiv anerkannt wird. Es handelt sich dabei um einen Weisheitsspruch der Mischna (Sanhedrin 4:5), der der Erläuterung des Streits zwischen Kain und Abel in Gen 4 dient und insbesondere das Problem um den Vers 11387 erklären soll388. Darüber hinaus spiegelt sich in dem Vers laut Michael Pregill ein allgemein verbreitetes Motiv nachöstlicher Weisheitstradition.389 Er merkt aber an, dass es sich in der koranischen Übernahme des Motivs um eine Ausweitung der jüdischen Parallele handelt. »The larger ›ethopolitics‹ of the passage are interesting when we compare it to the Mischnah, since in the original the dictum states specifically that one who kills or saves a member of Israel kills or saves the world entire; here the principle is extended to all humanity. […] In contrast, the Qur’a¯nic context is deliberately universalizing; cf. vv. 18–19 preceding, where the exclusivist claims of Jews and Christians are explicitly challenged.«390

Dagegen argumentiert allerdings Holger Zellentin: Die »Universalisierung« sei weniger durch eine bewusste Ausweitung der Passage im Koran zu erklären, sondern stattdessen durch eine stärkere Orientierung an dem palästinensischen Talmud.391 Generell zeichnet sich die Sure 5 unter anderem durch die zahlreichen Anspielungen auf die Anhänger des Juden- und Christentums aus. Es wird dabei sowohl auf Gemeinsames als auch auf Unterschiede verwiesen. Die Beurteilung 386 Wenn nicht anders vermerkt, wird in dieser Arbeit die Übersetzung von Muhammad Asad verwendet. 387 Es ist dort unklar, wie sich die Pluralform von Blut an dieser Stelle übersetzen lässt. Vgl. Firestone, Reuven: Q 5:32. In: Azaiez, Mehdi; Reynolds (Hg.): The Qur’an Seminar Commentary – Le Qur’an Seminar. A Collaborative Study of 50 Qur’anic Passages – Commentaire collaboratif de 50 passages coraniques. Berlin/ Boston 2016. 108. Darüber hinaus ist der Zusammenhang dieses Verses mit dem Brudermord von Kain und Abel beachtlich. Es handelt sich dabei um das erste (Gewalt)-Verbrechen der Menschheit. Die Tatsache, dass diese Stelle dem Zitat Javos zugeordnet wird, schafft eine zusätzliche Deutungsebene. Er legitimiert hier seine Unrechtstat durch das Verbrechen Kains. Vgl. dazu auch Fischer, Georg: Genesis 1–11. Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament. Freiburg im Breisgau 2018. 278. 388 Vgl. Firestone, Q 5:32, 108. 389 Vgl. Pregill, Michael: Q 5:32. In: Azaiez, Mehdi et al. (Hg.): The Qur’an Seminar Commentary – Le Qur’an Seminar. A Collaborative Study of 50 Qur’anic Passages – Commentaire collaboratif de 50 passages coraniques. Berlin/ Boston 2016. 108–109. 109. 390 Pregill, Q 5: 32, 109. Hervorhebungen der Autorin wurden im Zitat übernommen. 391 Vgl. Zellentin, Holger: Q 5:32. In: Azaiez, Mehdi et al. (Hg.): The Qur’an Seminar Commentary – Le Qur’an Seminar. A Collaborative Study of 50 Qur’anic Passages – Commentaire collaboratif de 50 passages coraniques. Berlin/ Boston 2016. 110. »I think the Babylonian rabbis ›particularized‹ the more universalist Aplestinian version, with which the Qur’a¯n is familiar – without the restriction that only Israelites are concerned.«

»Das Ebenbild«

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der Anderen geht dabei sowohl mit klarer Ablehnung als auch mit Akzeptanz einher392. Durchdrungen ist der Text mit Ermahnungen393 der Gläubigen, die verschiedenen Praktiken der christlichen und jüdischen Gläubigen nicht »nachzuahmen«.394 Der Verweis des Javos auf diese Sure zeigt zum einen, dass er scheinbar versucht, wie bereits bei den Bibelzitaten, den Glauben mit Argumenten aus der jeweiligen Religion selbst zu kritisieren und zu verwirren. Zum anderen könnte der Verweis gerade auch auf den problematischen Umgang der Religionen untereinander abzielen, um die Positionen aus der religiösen Perspektive einer »konkurrierenden« Religion heraus anzugehen. Damit gelingt es Javos Amina zumindest teilweise zu überzeugen, diese scheint sich selbst aber noch nicht wirklich entschieden zu haben, der Akt bedeutet für sie eine Entscheidung zwischen Diesseits und Jenseits, wie es scheint. »Dem Mutigen gehört die Welt, dem Gläubigen gehört der Himmel. Aber vom Himmel wissen wir leider nichts Gewisses…«395 Hierbei handelt es sich um ein Zitat aus Rudolf Presbers’ Gedicht »Die Wahl«396. Es wird hier nicht deutlich, inwieweit mit diesem Ausspruch eine tatsächliche religionskritische Haltung einhergeht. Der Aufruf des lyrischen Ichs, sich zu entscheiden, scheint hier eher durch einen natürlichen Pragmatismus beeinflusst, als durch religiöse Zweifel.397 Am Ende des Bildes entscheidet sich Amina, Javos’ Angebot anzunehmen und den Klon ihres Mannes sogar selbst auszutragen. Anders als im ersten Bild spielt die Leib-Seele-Problematik hier keine große Rolle mehr, es geht vielmehr um die ethisch-moralische Rechtfertigung in die Abläufe von Leben und Tod einzugreifen. Dazu wird zum einen das göttliche Auftreten des Arztes betont, zum anderen wird der Gewissenskonflikt der Protagonistin dargestellt. Auch wenn sie selbst, genau wie ihr Mann, nicht als religiöse Menschen vorgestellt werden, scheinen sie sich innerlich doch einer (religiösen) Moral verpflichtet zu fühlen. Diese Moralvorstellungen werden nicht weiter expliziert, es scheint eher eine 392 Vgl. etwa Sure 5,48; 69. 393 Vgl. dazu Ali, Maulana Muhammad: Der Heilige Koran. Arabischer Text mit Deutscher Übersetzung und Kommentar. Dublin Ohio 2006. 265f. 394 Asad, Mohamad (Üb. u. Komm.): Die Botschaft des Koran. 2. Aufl. Ostfildern 2011. 194. 395 Libretto, Das Ebenbild, 10. 396 Das kurze Gedicht stammt aus dem Bändchen »Aus Traum und Tanz« (Presber, Rudolf: Aus Traum und Tanz. Stuttgart/ Berlin 1908.), S. 181f. Presber war vor allem in den 1920 und 30er Jahren bekannt und beliebt. Er verfasste Gedichte und Erzählungen. Vgl. Sturies, Andreas: Art. Presber, Rudolf. In: Kühlmann, Wilhelm (Hg.), Killy Literaturlexikon – Autoren und Werke des deutschsprachigen Literaturraumes. Bd. 9. Online 2010. 397 Siehe dazu den Kontext der zitierten Verse: »So ist das rechte Maß bestellt/ Der Menschheit drängelndem Gewimmel:/ Dem Mutigen gehört die Welt,/Dem Gläubigen gehört der Himmel./ Und weil man nun, mit allem Fleiß/ Den Wert erforschend von den beiden,/ Vom Himmel nichts Gewisses weiß, /Will ich mich für den Mut entscheiden!« Presber, Aus Traum und Tanz, 181f.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

diffuse Ethik zu sein, die sich teils an christlichen (Jesus) oder islamischen (Sure 5) Vorstellungen orientiert, teils aber auch eine allgemeine Weltanschauung zeigt. Diese Vorstellungen werden durch die gezielten Argumente Javos’ ausgehebelt. Dies gelingt aber nur zum Teil, schlussendlich scheint erst die von Amina in lyrischer Form vorgebrachte kritische Abwägung den Ausschlag zu geben. Der Chor bringt hier eine weitere Perspektive auf das Geschehen ein: von Beginn an wird das Handeln der Figuren als »zweiter Turmbau« zu Babel deklariert und damit eine indirekte Wertung vorgenommen: Der Turmbau zu Babel, der in seiner Rezeptionsgeschichte zum Sinnbild für die menschliche Selbstüberschätzung wurde, wird hier unmissverständlich auf das Vorhaben der beiden Figuren projiziert. Die biblische Erzählung ist in einem urzeitlichen Kontext angesiedelt.398 Der Mythos zeichnet sich durch die noch uneingeschränkte Gemeinschaft und Zusammenarbeit der Menschheit aus399, deren Projekt in erster Linie keine böse Absicht spiegelt und als universaler Orientierungspunkt einer Zerstreuung entgegenwirken soll.400 Erst infolge der Konsequenzen ihres Tuns wird dieser (Ideal)-Zustand beendet. Gertz nennt als mögliche motivgeschichtliche Parallele hier das sumerische »Enmerkara und der Herrscher von Arata«-Epos (2. Jt. v. Chr.).401Auch in der islamischen Tradition ist das Turmbau-Motiv bekannt, dort wird es allerdings an die Figur des Königs Namru¯d geknüpft. Dieser gab einen Turm in Auftrag, um dem Gott Ibra¯hı¯ms näher zu kommen. Er war im Wettstreit, so sein zu können wie Gott, zuvor schon bei anderen Prüfungen gescheitert. Als Reaktion auf den Turm verwirrt Gott die Sprachen und schickt zur Strafe eine Mückenplage.402

398 Vgl. Gertz, Jan Christian: 1. Mose (Genesis) I–II. Die Urgeschichte Gen 1–11. Das Alte Testament Deutsch (ATD) Bd. 1. Göttingen 2018. 332. Gertz weist hier auf die bewusste Verwendung von veralteter Terminologie im Bibeltext hin, um den »urgeschichtlichen Charakter« zu suggerieren. Vgl. a. a. O., 334. Siehe dazu auch die Ausführungen Gerhards: »Aufgrund des urgeschichtlichen Charakters der Erzählung und des kaum ›historischen‹, sondern in erster Linie Traditionen aktualisierenden Interesses des kulturellen Gedächtnisses ist damit zu rechnen, dass sich in Gen 11,1–9 geschichtliche Hintergründe nur in Form historischer ›Versatzstücke‹ spiegeln.« Gerhards, Meik: Conditio humana. Studien zum Gilgameschepos und zu Texten der biblischen Urgeschichte am Beispiel von Gen 2–3 und 11, 1–9. Neukirchen-Vluyn 2013. 286. Es gibt dabei durchaus Tendenzen, den beschriebenen Turmbau auf reale Bauprojekte (diskutiert wird bei Gertz der Stufentempel Etemenanki in Babylon) zurückzuführen, der Text wäre dann etwa auf das 5 Jh. v. Chr. zu datieren. Vgl. dazu Gertz, Urgeschichte, 335, sowie Gerhards, Conditio humana, 287f. 399 Vgl. Gertz, Die Urgeschichte, 332. 400 Vgl. dazu Gerhards, Conditio humana. 320. 401 Vgl. Gertz, Die Urgeschichte, 333. 402 Vgl. Heller, C.: Art. Namru¯d In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Ed. by P. Bearman, Th. Bianquis, C. E. Bosworth, E. van Donzel, W. P. Heinrichs. Online 2012.

»Das Ebenbild«

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3.1.2.4 Drittes Bild Mit Beginn des dritten Bildes scheint Amina ihren Gewissenskonflikt endgültig überwunden zu haben. Die Szene beginnt mit einem Lied, das die mittlerweile hochschwangere Protagonistin am leeren Kinderwagen singt. Zweimal wird dort der Vers wiederholt: »Sei ich die Geliebte, sei ich die Mutter /Die Liebe kommt aus dem Ewigen, /Und in Ewigkeit werden wir vereint.«403 Der Verweis auf das »Ewige« deutet hier auf die Unbestimmtheit der vorgestellten Transzendenz hin. Anders als in Bild eins, wo ja auf biblische Bilder zurückgegriffen wurde, ist nicht klar, welche konkreten Vorstellungen hier für Amina infrage kommen. Ihr Bezugssystem scheint viel allgemeiner geworden zu sein, auch wenn sie in der ersten Strophe von ihren »Gebeten« singt404. Die Sehnsucht nach der ewigen Gemeinschaft mit Ilyas scheint hier eher aus einer romantischen Leidenschaft als aus einer religiösen Vorstellung heraus motiviert zu sein. In der scheinbaren Gleichgültigkeit »Sei ich die Geliebte, sei ich die Mutter« spricht blinde Naivität. Der eingesetzte Chor schafft eine direkte Verbindung mit Bild eins und bringt das Motiv der Seele hier zum ersten Mal wieder ins Spiel. Auf die Ausrufe »Lass die Seele leben« folgt das erste von insgesamt drei Zitaten aus dem Neuen Testament, die hier von Chor leicht umformuliert vorgetragen werden. Zuerst wird eine Umschreibung Gottes verwendet, die so auch in der Offenbarung, in dem Grußwort an die sieben Gemeinden, verwendet wird: »Der, der ist und der war, der kommt und der wiederkommen soll.«405 Auch hier ist der Bezug nicht eindeutig: Es bleibt offen, ob Ilyas hier mit diesen göttlichen Attributen angesprochen werden soll oder ob es sich um eine Aufforderung an Gott handelt, die Seele leben zu lassen. Zumindest wacht Ilyas daraufhin aus dem Koma auf, er kommt zunächst langsam zu sich und bemerkt im weiteren Verlauf Aminas Schwangerschaft und die Anwesenheit Doktor Javos’. »ILYAS: […] Was ist mit deinem Bauch? Wo sind wir? AMINA: Dich werde ich nicht lassen, Ilyas. Das haben wir uns für immer versprochen, verstehst du!? Ich werde deinen Körper gebären. Genau dieser wird neu leben und nach deiner Seele rufen. ILYAS: Was sagst du?! Doktor JAVOS (zu Ilyas): Sie und ihre Frau sind Teil einer edlen Mission. Es gibt ein größeres Ziel, dem wir alle zusammen dienen. Seien sie sicher, es wird uns allen gut gehen.

403 Libretto, Das Ebenbild, 10. 404 A. a. O., 12. 405 Ebd. Vgl. Offb. 1,4. Wobei der Zusatz »der wiederkommen soll« nicht biblisch ist.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

ILYAS: Gut gehen? AMINA: Glaube mir, du wirst zurückkommen. ILYAS: »Wer zu den Toten hinunterfährt, der kommt nicht mehr zurück!! Dieses Kind in deinem Bauch, Amina. Wer wird das sein?! Gott! Träume ich immer noch?«406

Ilyas reagiert geschockt und fühlt sich hintergangen. Auch hier verbirgt sich ein Hiobzitat (Hi 7,9f.). Dass Ilyas sich dieses zu eigen macht zeigt, dass er sich nunmehr mit seinem Tod abgefunden zu haben scheint, er akzeptiert sein Schicksal und erkennt an, dass es Grenzen unterliegt. Ilyas stellt Amina weiter zur Rede: »ILYAS: Was hast du uns getan, Amina? Was hast du dir selbst getan? CHOR: Denn sie wissen nicht, was sie tun, weil ihre Herzen blind sind. ILYAS: Was du suchst wirst du nicht finden. CHOR: Warum suchst du die Lebenden unter den Toten? ILYAS: Verflucht ist mein Körper? So wirst du unter den Toten leben und in der Finsternis neben mir liegen.«407

Der Chor antwortet auf Ilyas Anklage mit einem Zitat aus Lk 23,34 »Denn sie wissen nicht was sie tun, […]«408. Dies ist ein Jesuswort, er betet hier während der Kreuzigung zu seinem Vater. Ob diese Entschuldigung hier als Bestätigung für das Unrecht Aminas angesehen werden muss oder eine bewusste Irritation darstellt ist nicht klar. Letztere würde dann darauf hinweisen, dass es durchaus Dinge gibt, die nicht nachvollzogen werden können, sogar unrecht sind, aber getan werden müssen.409 Ähnlich schwierig ist der dritte Part des Chores, der hier einen Ausspruch des Engels am leeren Grab Jesu (Lk 24,5) aufnimmt »Warum suchst du die Lebenden unter den Toten?«410 Dies könnte zunächst eine Anfrage an Amina sein, die ja versucht ihren bald verstorbenen Mann wieder ins Leben zurück zu holen. Diese würde aber ihren Sinn gerade verfehlen, da es sich ja bei Jesus um einen Menschen handelt, der gerade diese Grenze überwunden hat, diejenigen, an die sich also diese Anfrage im Lukasevangelium richtet, hatten sich, – ganz anders als Amina – ja mit dem Tod abgefunden.411 Ilyas stellt unterdessen fest: »Was du suchst, wirst du nicht finden.«412 Und zitiert so eine 406 407 408 409

Libretto, Das Ebenbild, 14. A. a. O., 15. Ebd. In diesem Fall würde allerdings indirekt eine Parallele zur Kreuzigung Jesu Christi gezogen, deren Berechtigung hier aus theologischer Sicht durchaus fraglich ist. 410 Ebd. 411 Vgl. Lk 24. 412 Libretto, Das Ebenbild, 15.

»Das Ebenbild«

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Passage aus dem Gilgamesch-Epos.413 Das Epos behandelt die »Geschichte des übermütigen, abenteuerlichen Gilgamesch, der durch den Tod seines Freundes Enkidu in eine Sinnkrise gerät und durch schier übermenschliche Anstrengungen Unsterblichkeit zu gewinnen versucht, […]. Gilgamesch gewinnt Weisheit, indem er mit der Suche nach Unsterblichkeit scheitert; das Epos selbst will als in Stein gehauener Ausdruck der Weisheit gelesen werden, die Gilgamesch auf seinem weiten Weg gewonnen hat (I 9f.) Als seine Kernfrage kann die Möglichkeit sinnvollen Lebens angesichts der unausweichlichen Sterblichkeit bestimmt werden.«414 Meik Gerhards sieht im Epos Urerfahrungen verarbeitet, die er als »conditio humana« zusammenfasst.415 Eine der Grundbedingungen ist die Religiosität, die Gerhards ganz allgemein als »Anlage des Menschen« versteht, »sich auf Gehalte zu beziehen, die in dem Sinne transzendent sind, dass sich die kognitiv erfassbare Wirklichkeit und von der so erfassten Wirklichkeit wissenschaftlich abgeleitete Einsichten übersteigen. Die Aktualisierungen dieser Anlage sind ›Religion‹.«416 Die Bemerkung von Ilyas an dieser Stelle deutet auf die Kluft zwischen den wissenschaftlichen Möglichkeiten und der für die Menschen nicht erreichbaren Wirklichkeit hin. Während er diese Grenze zu akzeptieren scheint, ist Amina weiterhin verblendet. Ilyas ist gegen Ende des Bildes erstaunt und erbost darüber, dass Amina so an ihm festhält. Er vermutet, dass sie für den Rest ihres Lebens durch den Klon an ihn gebunden ist. Kurze Zeit später stirbt er. Der Chor singt ein letztes Mal die Passage aus Ps 102,26–28 und erinnert damit an die Unsterblichkeitsillusion aus Bild eins. Amina erkennt im Moment des Todes, was sie getan hat, die Regieanweisungen beschreiben sie als »alarmiert und gebrochen«417. »AMINA: Doktor Javos! Sie haben versprochen, dass es uns allen gut gehen wird, richtig? Doktor JAVOS: (Überlegend) Richtig… (Doktor Javos dreht sich um) AMINA: Doktor Javos! Wird man uns verurteilen, für das, was wir getan haben? Doktor JAVOS: (Überlegend) Wer wollte über unsere Tat richten?«418

413 Im Libretto wird dort in den Fußnoten angegeben: »Was du suchst, wirst du nicht finden, denn als die Götter den Menschen erschufen, behielten sie die Unsterblichkeit für sich.« Orthografie wurde im Zitat angeglichen. Das Gilgamesch-Epos ist nicht nur ein zentraler Quellentext für die alttestamentliche Urgeschichte, sondern ebenso ein herausragendes literarisches Werk mesopotamischer Dichtung. Vgl. dazu Gerhards, Conditio humana, 3–11. 414 A. a. O., 6. 415 Vgl. dazu v. a. das Kap. V. a. a. O., 40–104. 416 A. a. O., 70. 417 Libretto, Das Ebenbild, 15. 418 A. a. O., 16.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

Amina stellt wegen der vermeintlich falschen Versprechen Javos zur Rede, dieser bleibt selbstgerecht. Sie fragt nach möglichen Konsequenzen für ihr Handeln, es scheint, als könne sie sich hier nicht mehr selbst rechtfertigen, als brauche sie externen Zuspruch für das eigene Gewissen. Javos fühlt sich jedoch keiner Instanz verpflichtet: »Wer wollte über unsere Tat richten?« so fragt er und verlässt das Zimmer. Amina bleibt zurück. Hier ereignet sich sinngemäß ein zweiter exemplarischer »Sündenfall«: Amina ist diejenige die hier agiert, auch sie will im übertragenden Sinne so sein wie Gott, indem sie ins Geschehen, in das Schicksal ihres Mannes, eingreift. Um ihre Liebe zu ihm zu erhalten will sie mehr als ihr zusteht. Das erste Bild zeigt hier beispielhaft ihre Sehnsucht auf, im zweiten Teil trifft sie ihre Entscheidung und handelt, sie ergreift den vermeintlich rettenden Strohhalm. Die Konsequenzen zeigen sich in Bild drei, ihre Augen werden geöffnet und sie erkennt nicht nur die Täuschung, sondern auch die eigene Schuld. Um damit umgehen zu können sucht sie vergeblich sich zu rechtfertigen, doch der ersehnte Zuspruch, durch ihr unmittelbares Gegenüber, – etwa durch Gott, die Gesellschaft, oder das Publikum – bleibt aus. Dr. Javos scheint längst über diesen Punkt hinaus, für ihn existiert keinerlei Instanz, die sein Handeln legitimieren müsste. Es fällt auf, dass die Frage nach dem Leid im letzten Teil des Stücks nach wie vor bestehen bleibt, es ist nun Amina, die Javos damit konfrontiert. Die Wissenschaft ist nun an die Stelle Gottes getreten, die Referenzgröße hat sich geändert, die Frage ist dieselbe geblieben. Das dritte Bild beschäftigt sich hier stark mit dem Thema Schuld und Rechtfertigung. Dass die Kreuzigung Jesu hier mit zwei Verweisen so dezidiert ins Zentrum der Szene gerückt wird, erstaunt. Auch wenn die Deutung hier nicht klar vorzunehmen ist, bleibt eine Irritation. Der Umgang mit Schuld wird auch hier mit der Sehnsucht nach Unsterblichkeit verbunden. Die Passage aus dem Buch der Offenbarung deutet darauf hin. Kontrastiert wird der Umgang an dem Ehepaar Amina und Ilyas. Während Amina weiter an der Hoffnung auf ein letztgültiges Ewiges festhält, scheint Ilyas sich mit den Grenzen zwischen Leben und Tod abgefunden zu haben und bringt kein Verständnis für Aminas Handeln mehr auf. Dr. Javos, der sich der Wissenschaft verpflichtet hat, spielt hier an der Grenze zwischen Leben und Tod nur eine Nebenrolle, er scheint weder für das »Seelenheil« des sterbenden Ilyas noch für den Umgang Aminas mit der eigenen Schuld eine Bedeutung zu haben.

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»Das Ebenbild«

3.1.2.5 Exegetische Leitlinien Tabelle 1: Übersicht über direkte Textverweise in dem Musiktheater »Das Ebenbild« Übergeordnete Motive

Bibel

Koran/ Hadith

»Der > Streben nach Fort- Gen 11419 alte schritt Traum« > Hybris Titel/ >»Ebenbild« Vorwort >Altes Ägypten

Bild 1

Gen 1,27

> Körper/Seele-Dualismus Ps 102,4, > Wunsch nach Selbstbestimmung Hi 7,1–3, Mt 16,26 > Umgang mit Leid Rut 1 Ps 102,26– > Körper/Seele-Dua- 28 lismus

Epen aus sumerischem und griechischem Umfeld

Texte der Moderne

Sahih Muslim, Nr. 2612

Ayyu¯b – Tradition

>Sehnsucht nach Unsterblichkeit Bild 2

> Wunsch nach Selbstbestimmung, Auseinandersetzung mit Zweifeln und Vorbehalten (aus der Religion selbst abgeleitet) > Streben nach Fortschritt > Hybris > Umgang mit Leid > Sehnsucht nach Unsterblichkeit (Reinkarnation, Seelenwanderung)

Gen 11 Hi 12,3, Jesu Heilungen in Evangelien

Turmbau Ovid, Metamorzu Babel, phosen Buch Sure 5,32, XV.158f. Ayyu¯b – Tradition

Panayiotis Zavos; GianPaolo Dotto Rudolf Presber: »Die Wahl«

419 Kursivgesetzte Angaben sind aus dem jeweiligen Inhalt abgeleitete Verweisstellen, z. B. Zitate ohne Textanagabe.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

(Fortsetzung)

Bild 3

Übergeordnete Motive

Bibel

> Umgang mit Schuld > Wunsch nach Rechtfertigung Sehnsucht nach Unsterblichkeit > ewiger Liebe

Offb 1,4; Hi 7,9f.; Lk 23,34; Lk 24,5; Ps 102,26– 28

Koran/ Hadith

Epen aus sumerischem und griechischem Umfeld Gilgameschepos

Texte der Moderne

Zusätzlich zu den vielfältigen Verweisen und Rezeptionen, die bereits in der Analyse des Librettos untersucht wurden, geben die von außen in das Musiktheater eingebrachten Texte Aufschluss über die inhaltliche Schwerpunktsetzung. In der Auswahl der Texte spiegeln sich drei zusammenhängende exegetische Linien. In allen Kategorien werden anthropologische Grundfragen thematisiert und anhand prominenter religionshistorischer Textauszüge verdeutlicht. a)

Aussagen zum Ursprung und der Bestimmung des Menschen, belegt durch Texte der alttestamentlichen Urgeschichte. Bereits durch die Musikinstallation »Der alte Traum« wird das Narrativ des menschlichen Fortschrittsstreben illustriert und so indirekt auf die Zusammenhänge von Gen 11 verwiesen. Direkt aufgegriffen wird das Turmbau-Motiv in Bild zwei, wo es durch den Chorgesang und das Bühnenbild zu einer deutlichen Wiederholung kommt. Über den Titel des Musiktheaters »Das Ebenbild« wird zusätzlich das Motiv der Gottebenbildlichkeit und die damit zusammenhängende Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Gott aufgerufen. Träger dieses Motivs sind sowohl der Chor als auch Doktor Javos. Die Choristen begleiten als transzendente Wesen die Inszenierungen von Beginn bis zum Schluss und senden immer wieder universelle Botschaften an Akteure und Publikum. »Die Sonne und der Mond werden mit der Zeit verschwinden, aber du bist derselbe und deine Jahre werden niemals enden.«420; »Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis in den Himmel!«421 Doktor Javos hingegen scheint die personelle Verkörperung der modernen menschlichen Hybris. (»Es gibt ein größeres Ziel, dem wir alle zusammen dienen.«422 […] »Wer wollte über unsere Taten richten?«423) Auch hier ist jedoch 420 421 422 423

Libretto, Das Ebenbild, 7. A. a. O., 8. A. a. O., 14. A. a. O., 16.

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darauf hinzuweisen, dass seine Argumentation teils biblisch begründet wird, so etwa durch den Verweis auf Hi 12,3 (»Bei Gott ist Weisheit und Gewalt, sein ist Rat und Verstand.«) Javos interpretiert im zweiten Bild so: »Die Natur ist eine zerstörerische Gewalt, aber sie gibt uns auch die Weisheit, zu heilen. Den Geist und die Wissenschaft hat sie geschaffen, die Menschen gegen die grausame Wucht der Natur zu schützen.«424 Ähnlich ist auch die Passage aufgebaut, in der Javos die Begründung des Mediziners Dotto übernimmt, der sich auf Jesu Heilungen beruft um medizinische Forschung zu begründen.425 Dass die Turmbau-Erzählung klare negative Konsequenzen für die gesamte Menschheit zur Folge hat, wird durch die textliche Bearbeitung in »Das Ebenbild« relativiert und infrage gestellt. Ob das menschliche Streben nach Fortschritt als gut oder schlecht zu bewerten ist, wird auf die Religion(en) selbst zurückgeworfen: »Jesus heilte Lepra-Kranke, ließ Gelähmte laufen und Blinde wieder sehen. Er tat das selbst unter Missachtung der Sabbat-Gesetze wie auch der Naturgesetze. Und heißt es nicht: ›Wer einen Menschen wiederbelebt hatte, war, als hätte er das gesamte Volk wiederbelebt‹. Warum sollten wir uns das nicht zum Vorbild nehmen, auch wenn es um so ein Verfahren geht?«426

Die Argumentation berührt hier nicht nur Fragen nach medizinisch-ethischen Maßstäben, sondern stellt gleichsam auch die allgemeine anthropologische Bestimmung des Menschen und die seiner Verantwortungsbereiche zur Diskussion. Auch wenn die alttestamentlichen Verweise hier deutlich überwiegen, wird auch hier durch die Aufnahme der Koranstelle Sure 5,32 aus einer multireligiösen (hier christlich-islamisch) Perspektive heraus argumentiert. b)

Aussagen zum Umgang mit menschlichem Leiden, Schuld und Tod, belegt durch Texte der christlich-islamischen Hiob/Ayyu¯b-Tradition Die Frage nach dem Umgang mit Krankheit und Leiden wird durch die Figuren Ilyas und Amina repräsentiert. Die zahlreichen Anspielungen auf Hiob bzw. Ayyu¯b sind schon in der Libretto-Analyse aufgezeigt worden. Das Hiob-Motiv bindet sich an die Figur des Ilyas und zieht sich so durch das gesamte Stück. Die Rezeption der Figur ist in Christentum und v. a. im Islam eine positive. Hiob repräsentiert den geduldig ausharrenden Glaubenshelden und die Hoffnung auf Vergeltung des Leids427. Der Rückgriff auf eine zentrale Gestalt des Leidenden ist

424 425 426 427

Libretto, Das Ebenbild, 9. Vgl. a. a. O., 10. Ebd. Vgl. dazu etwa Jak 5, 11: »Siehe wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, zu welchem Ende es der Herr geführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer.« Sowie Sure 6, 84: »Und Wir gewährten ihm Isaak und Jakob; und Wir leiteten jeden von ihnen recht, wie Wir vordem Noah rechtgeleitet hatten. Und von

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bereits vor Entstehung des alttestamentlichen Hiobbuches belegt. So finden sich in der altägyptischen Literatur Motive des Hiobkonzeptes ebenso wie im akkadischen und sumerischen Umfeld.428 Im ersten Bild und im dritten Bild zitiert Ilyas aus dem siebten Kapitel des Hiobbuchs (»Alles scheint mir jetzt, als ob es ein Kriegsdienst wäre. Als wäre ich ein Tagelöhner, der sein ganzes Leben auf Lohn gewartet hat.«429; »Wer zu den Toten hinunterfährt der kommt nicht mehr zurück.«430) Hier wird vor allem auf das siebte Kapitel verwiesen, indem Hiob sein Leid beklagt. Zu beachten ist hier, dass im Kapitel auch direkte Anfragen an Gott formuliert werden431, diese werden im Musiktheater aber nicht rezipiert. Während Ilyas als personifizierter Hiob dazu neigt, angesichts seiner Situation eher passiv zu bleiben und die Situation zu ertragen, kommt Amina der scheinbar schwerere Teil zu. Sie steht theoretisch vor einer doppelten Konfrontation mit dem Leid: sie muss zum einen mit ihrem Mann mitleiden, ertragen, wie er leidet, zum anderen die Angst vor Trennung und Verlust verarbeiten. In der Erzählung des Stücks dominiert jedoch von vorn herein die zweite Leiderfahrung. (»In dieser Zeit der Liebestodesangst, habe ich mehr Angst ihn zu verlieren, als ich seine Liebe zu schätzen weiß. Es ist unmöglich seine Schmerzen zu ertragen. Es ist unmöglich ohne ihn zu sein.«432) Die Angst vor dem Verlust ist die Triebfeder für Aminas Handeln. Dabei kommt es zu keiner direkten Formulierung der Theodizee-Frage, der Vorwurf des zu Unrecht Leidenden wird nicht erhoben. Amina bleibt mit der Verarbeitung ihres Leides innerweltlich verhaftet, da sie versucht eine Lösung mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln herbeizuführen. An eine göttliche Transzendenz wendet sie sich im Stück nicht. Es erstaunt hier, dass trotz der Fülle an religiösem Textmaterial und der Gestalt des Hiob als Bezugsgröße hier eine Leerstelle erzeugt wird. Es scheint so, als sollte die Theodizee-Frage bewusst nicht gestellt wird, um aufzuzeigen, dass das nichtFragen keine Option darstellt. Die Möglichkeit sich in Zeiten des Leids an ein transzendentes Gegenüber zu wenden, scheint hier den Religionen vorbehalten.

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429 430 431 432

seinen Nachkommen (gewährten Wir das Prophetentum) David und Salomon und Hiob und Josef und Moses und Aaron: denn so belohnen Wir die, die Gutes tun; […]« Vgl. Müller, Hans-Peter: Das Hiobproblem: seine Stellung und Entstehung im Alten Orient und im Alten Testament. Darmstadt 1978. 49–72. Zu nennen sind hier u. a. als altägyptische Parallelen für die Gattung des weisheitlichen Streitgesprächs, Papyrus Anastasi I (B.M. 10247), sowie für die Gattung der Klage, das sog. »Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba« (Papyrus Berlin 3024) oder die sog. »Mahnworte des Ipu-Wer« (Papyrus Leiden I 344 recto). Vgl. a. a. O., 69f. Darüber hinaus der akkadische Text »Ludlul be¯l ne¯meqi« (K 3972). Vgl. a. a. O., 49f. Libretto, Das Ebenbild, 6. Hi 7, 1–3. A. a. O., 4. Hi 7, 9–10. Vgl. dazu etwa Hi 7, 17–20. A. a. O., 8.

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Der Mensch als alleiniger Adressat der Frage nach dem Leid und ein Ilyas, der wie Hiob im siebten Kapitel, sein Leid erträgt, scheint keine zufriedenstellende Antwort zu bieten. Da es aber für Amina keinen (gerechten) Gott gibt, an den sie ihre Anfragen richtet, bleibt sie auf sich selbst gestellt. So wundert es nicht, dass Amina die einzige der drei Figuren ist, der keine Zitate religiöser Texte in den Mund gelegt werden. Wie bereits deutlich wurde, ist es am Ende schließlich das Leid, selbst schuldig geworden zu sein, dass Amina ertragen muss. c)

Aussagen über die Sehnsucht nach Unsterblichkeit und ewigem Leben, belegt durch Textmaterial sumerischer und altgriechischer Epen und biblischem Material zu Tod und Auferstehung. Hierbei wird besonders heterogenes Textmaterial verwendet. Die zeitliche Spanne reicht von 2. Jt. v. Chr. (Gilgamesch-Epos/Altägyptische Vorstellungen) bis in das Ende des 1. Jh. n. Chr. (Johannes-Apokalypse), neben altorientalischen Epen stehen hier neutestamentliche Texte. Das Thema der menschlichen Unsterblichkeit zieht sich von Beginn an durch alle Bilder. Im dritten Bild kommt es allerdings zu einer Verdichtung. Der Tod von Ilyas und die Geburt des Klons rücken hier zeitlich dicht zusammen, sodass auch die Hoffnungen, die mit der Seelenwanderung und Unsterblichkeit verbunden sind sich hier kristallisieren. Als erstes Textzitat wird in Bild zwei das 15. Buch der Metamorphosen eingebracht, indem ein platonisches Seelenverständnis zum Ausdruck kommt.433 Im Libretto wird so Doktor Javos Sichtweise bestätigt. Es folgt dann im dritten Bild ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes, welches Jesus Christus als den umschreibt »der ist und der war, der kommt und der wiederkommen soll.«434 Es ist hier die erste Stelle, in der auf christologische Vorstellungen angespielt wird. Es ist durchgehend der Chor, der hier ein christliches Auferstehungsverständnis einbringt. Ebenfalls im dritten Bild folgt der Verweis auf das Gilgamesch-Epos, Ilyas fragt dort: »Was du suchst, wirst du nicht finden.«435 Es zeigt sich auch darin seine Resignation, denn im Gilgamesch-Epos heißt es weiter, »denn als die Götter den Menschen erschufen, behielten sie die Unsterblichkeit für sich.«436 Während in den Metamorphosen die Vorstellung der unsterblichen Seele mitschwingt, hat der Mensch im Gilgamesch-Epos keine Möglichkeit diese zu erlangen. Die Zitate aus dem Lukasevangelium wirken wie eine Brücke zwischen den beiden Vorstellungen, wörtlich zwischen Tod (Lk 23, 34) und Auferstehung (24,5) und erläutern so im Nachhinein die Zuschreibung aus Offb 1,4.

433 434 435 436

Libretto, Das Ebenbild 9. A. a. O., 12. Vgl. Offb 1,4b. A. a. O., 15. Ebd.

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3.1.2.6 Zusammenfassung Die Figur des Hiob ist sowohl durch die Textverweise als auch durch die Frage nach dem Umgang mit Leid in allen Bildern präsent. Dass die Frage bewusst nicht als Theodizee formuliert wird, zeugt hier von einem weiteren Versuch des Menschen sich selbst zu überhöhen. Die zentrale Handlung im Libretto ist die Selbstermächtigung des Menschen, die durch die Anspielungen auf den Sündenfall und den Turmbau zu Babel eindeutig ausgewiesen ist. Hier setzt auch die Klammer zu »Der alte Traum« an. Der Titel der Festival-Route fasst dies treffend in der »Gottes Konkurrenz« zusammen. Motiviert ist dieses Streben durch eine scheinbar universale, allen Religionen und Weltanschauungen übergeordnete Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Die Sorge Aminas um die Seele ihres Mannes, aber auch um ihre eigene, scheint hier als ein zentrales menschliches Bedürfnis, der Anspruch darauf wie eine Selbstverständlichkeit. Die Erfüllung dieses Bedürfnisses wird jedoch nicht von einer Transzendenz erwartet, sondern in den eigenen weltlichen Verantwortungsbereich übernommen. Der Gegensatz zur Welt, nämlich eine übergeordnete religiöse Instanz, bleibt im Stück trotz der expliziten Verweise auf Bibel- oder Korantexte, auffallend unkonkret und allgemein. Trotzdem zeigt sich das »Religiöse« hier schon als deutlicher Gegenpart zu den als fortschrittlich dargestellten (Natur-)wissenschaften. Die unscharfe Verwendung von Begriffen wie Gebet, Glaube, Gott zielen hier auf eine Art Universalreligion (Synkretismus) ab, bei der die einzelnen religiösen Traditionen nicht zu identifizieren sind. Der Großteil der Verweise findet sich in den Fußnoten und kann daher höchstens indirekt vom Publikum erkannt werden. Hinzu kommt, dass hier nicht nur auf die beiden Weltreligionen Islam und Christentum verwiesen wird, die religiösen Konnotationen reichen bewusst in vorchristliche und vorislamische Kontexte zurück. So ist nicht nur die Mehrheit der Bibelzitate aus dem Alten Testament entlehnt, sondern vielfach wird auch auf altorientale, wie mesopotamische oder ägyptische, Kontexte verwiesen. Es scheint als wolle man sich bewusst an den Ursprüngen des Religiösen abarbeiten und so einen gemeinsamen Kern freilegen. Es sind populäre Menschheitsmythen, wie Schöpfung, Hiob und Turmbau zu Babel, die hier (neu)bearbeitet werden. Aus religionsgeschichtlicher Perspektive wirken die neueren Entwicklungen, wie die Stiftung der Religionen durch Jesus Christus und Mohammed, eher zweitrangig. Trotzdem lässt sich beobachten, dass das Musiktheater hintergründig durch die Gestalt Jesus geprägt ist. Auch hier sind die Textverweise auf Worte, Leben und Wirken sowie Tod und Auferstehung Jesu maßgebend. Es erfolgt jedoch in Form des Vertreters Dr. Javos eine direkte kritische Auseinandersetzung mit diesen Inhalten.

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3.1.3 Aufführungsanalyse437 3.1.3.1 Situation der Aufführungen Wie bereits zu Beginn erläutert bildet das Musiktheater zusammen mit der Installation »Der alte Traum« das Endstück einer Festivalroute. Die beiden Projekte »Der alte Traum« und »Das Ebenbild« bilden dabei eine zusammengehörende Einheit. Dies wird auch durch die gleichen Bedingungen der Aufführung deutlich. Die Zuschauer verbleiben für beide Aufführungen auf ihren Plätzen, zwischen den Stücken gibt es keine Pause. Die Einheit wurde aufeinanderfolgend an drei Abenden (6.–8. 09. 2019) aufgeführt. Die Aufführungen fanden am ersten und zweiten Tag am späteren Abend (nach 21 Uhr) statt, am dritten Abend ca. 2 Stunden früher. Aufführungsort war jeweils die Halle 1 der Firma Duni (Atterstraße 72). Die Zuschauer wurden durch die Gänge des Gebäudes in eine große abgedunkelte Produktionshalle geleitet, auf dem Weg zum Zuschauerbereich wurde dabei bereits der Bühnenraum auf der rechten Seite passiert. Das Bühnenbild für der »Der alte Traum« war schon vor Aufführungsbeginn für alle sichtbar. Von den Plätzen aus konnten die Zuschauer geradeaus auf die Bühne schauen, die Musiker waren hinter einer Baumkrone, im hinteren Teil des Bühnenraumes zu erkennen. Zwischen der ersten Reihe der Bestuhlung und dem Bühnenraum waren etwa zwei Meter Distanz. Die Übertitel wurden auf einen Deckenbalken der Halle projiziert. Die Aufführung beider Komponenten dauerte insgesamt ca. 1,5 Stunden. Darüber hinaus wurde bei der Besetzung improvisiert: Ein Sänger war krankheitsbedingt als Schauspieler ausgefallen, sodass der Regisseur Haitham Tantawy kurzfristig diese Rolle übernommen hat, der Sänger übernahm aus dem Off die Singstimme. Aufgrund der Dichte und der Vielfältigkeit des Tagesprogramms (Aufführung im Theater am Domhof »Die Menschenfarbrik«, Tanztheater in der LiebfrauenKirche »Tabula Rasa«, Installation in der Duni Halle 2 »Wir lassen () vorbei«) hatte das Publikum nur wenig Gelegenheit sich auf die einzelnen Teilkomponenten der Route vorzubereiten. Es gibt keine inhaltliche Einführung. Es herrschte eine entspannte und gelöste Atmosphäre vor, wenngleich sich bei einigen bereits eine gewisse Ermüdung zeigte. Die Beobachtungen im unmittelbaren Nachgang der Inszenierungen von »Der alte Traum« und »Das Ebenbild« gaben Aufschluss darüber, dass durch die Aufführungen bei vielen Zuschaue-

437 Für das Stück »Das Ebenbild« liegt kein Aufzeichnungsmaterial vor, die Analyse basiert daher auf den jeweiligen Eindrücken und Beobachtungen zu den Aufführungen am 7. und 8. 9. 2019. Für die Aufführungsanalyse wurde mit Erinnerungsprotokollen gearbeitet, die während und nach der Aufführung erstellt wurden. Anhand dieser Protokolle wurden die Dominanten der Inszenierung erarbeitet.

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rinnen und Zuschauern insgesamt eher irritierende bis überraschte Reaktionen hervorgerufen wurden. 3.1.3.2 Interpretationsansatz und Ausgangshypothese Die Inszenierung greift die im Libretto aufgeführten Interpretationslinien auf, es kommt aber zu einer weiteren Reduzierung und Bündelung des inhaltlichen Bezugsfeldes. Die Themen werden stärker an die einzelnen Darsteller gekoppelt. Der Umgang mit Schicksalsschlägen wie Krankheit und Tod, sowie die Rolle eines universalen religiösen Bezugssystems wird hier umgesetzt. Aus theologischer Perspektive dominiert eine »unbestimmte göttliche Präsenz« als universalerethischer, aber reduzierter (im Sinne von vereinfachter oder verallgemeinerter) Bezugsrahmen des Menschen die Aufführung. Hier wird bereits der Mythos als die formgebende Struktur ersichtlich. Nicht das Göttliche als das ganz Andere, sondern eine Menschen gemachte Art der Religion, die sich von Sehnsüchten und Begierden speist, prägt das Stück. Hier wird eine Sehnsucht nach Unsterblichkeit aufgegriffen, die ihre Wurzeln in konkreten schriftlichen Überlieferungen hat.438 3.1.3.3 Einzelne Dominanten der Inszenierung a) Der Baum der Erkenntnis Bei »Der alte Traum« handelt es sich um eine Musikinstallation, die der Inszenierung von »Das Ebenbild« unmittelbar voraus geht. Beide Stücke werden direkt aufeinanderfolgend auf der gleichen Bühne gezeigt und wurden als thematische Einheit konzipiert. Die Installation ist geprägt von vier Choristen, die sich im Laufe der Inszenierung an einem in der Mitte des Bühnenraumes positionierten Baumstamm abarbeiten. Die zwei Sängerinnen und zwei Sänger repräsentieren hier menschliche Archetypen, die die Entwicklung der Menschheit durchlaufen. Die Gruppe bewegt sich im Verlauf des Stücks immer näher zu einem Zentrum, das durch eine beleuchtete Baumkrone repräsentiert ist. Das Bühnenbild besteht aus einem horizontal angeordneten Baum, dessen Stamm systematisch in einzelne Abschnitte geschnitten wurde. Das Orchester befindet sich unmittelbar 438 Die Presse reagierte im Zuge der Berichterstattung über die Spieltriebe 8 verschieden auf die Stücke »Der alte Traum« und das »Ebenbild«. Roland H. Dippel schreibt für die NMZ aus seiner musiktheoretischen Perspektive von einem »musikalischen Niemandsland« und will damit auf die fehlende Emotionalität hinweisen. Vgl. dazu Dippel, »Musikalisches Niemandsland« (NMZ). Diese Beobachtung stützt allerdings wiederum den subtilen Charakter des Stücks und die harmonisierende, reduktive Grundtendenz. Die NOZ vermisst darüber hinaus »die ordnende dramaturgische Hand«, spricht aber trotz dessen von »schönen Momenten« der Kammeroper, die allerdings vor allem der musikalischen Reduziertheit zu verdanken seien. Vgl. Adam et al. »Welche Route« (NOZ).

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hinter den Ästen der Baumkrone. Die Choristen arbeiten sich nach und nach an dem Stamm entlang, bis sie schließlich die Krone erreicht haben. Im Zuge dessen überqueren sie langsam die durch Seile abgetrennten Bereiche und lösen ihre Grenzen buchstäblich durch das zusammenrollen der Seile auf. Dann schleppen sie Stück für Stück die einzelnen Baumstümpfe an die Seiten des Bühnenraumes. Es scheint als überschreite der Mensch Schritt für Schritt seine Grenzen um technischen Fortschritt zu erreichen. Die Sänger tragen rätselhafte Zeichnungen im Gesicht, ähnlich wie Tätowierungen oder Kultzeichen etc. Auch die Baumstümpfe sind mit Symbolen des menschlichen Fortschritts gekennzeichnet: Feuer, Werkzeug etc. bis hin zum Binärcode. Das Stück endet schließlich damit, dass die Sängerinnen und Sänger vor dem Astwerk der Baumkrone verharren, nur noch die Äste trennen sie von den Musikern. Die Handlungen der Protagonisten wirken wie der Vollzug eines Rituals, die gesamte Installation wie ein mythologisches Narrativ. Das Baummotiv erinnert hier stark an die Schöpfungserzählung aus Gen 3. Auch hier wird eine Annäherung an einen Baum beschrieben, die letztlich dazu führt »so zu sein wie Gott«. Auch hier handelt es sich buchstäblich um einen »Baum der Erkenntnis«439. Dieser wird hier – anders als im Kontext des alttestamentlichen Berichts – den Menschen nicht grundsätzlich von einer göttlichen Macht vorenthalten. Auch handelt es sich nach Gen 2 um eine »Erkenntnis des Guten und Bösen« und nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse. In der Inszenierung steht es den Akteuren frei, sich dem Baum zu nähern und sich durch das Abtragen der Stümpfe »Erkenntnis« anzueignen. Je mehr Wissen die Akteure sich auf diese Weise zu eigen machen können, desto mehr schwindet der Baum dahin. Die fast vollständige De-Montage dieses Baumes kann einerseits als allgemeine Kritik am religiösen Bild, andererseits im Lichte des Routen-Titels »Gottes Konkurrenz« als Sinnbild menschlicher Selbstbestimmung verstanden werden. b) Aufführungsraum »Das Ebenbild« wird auf der gleichen Fläche gespielt wie kurz zuvor »Der alte Traum«. Teile des Bühnenbildes, wie die Baumstümpfe und die Paletten verbleiben im Bühnenraum, ebenso trägt der Chor in Bild drei dieselben Kostüme wie in »Der Alte Traum«. Hinzukommen weiße Stellwände, die teils als Abtrennung, teils als Projektionsflächen dienen. Diese formen einerseits die Räumlichkeiten der Wohnung von Ilyas und Amina, andererseits die Praxis von Dr. Javos. Die Einrichtung ist jeweils sehr sparsam und im Hinblick auf ihre symbolische Wirkung ausgewählt (Lampe, Schrank, Bett, Tisch und Stühle für die Wohnung; Tische mit Laborutensilien für die Praxis). Zwei der Hauptfiguren tragen auffällige Accessoires, die als typisch »ägyptisch« zu identifizieren sind, 439 Gen 2,9; Gen 3.

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etwa ein »Pharao-Kragen« an Ilyas Hemden, oder Schnitt und Gürtel von Aminas Kleid, sowie eine an Kleopatra erinnernde Frisur und Make-Up. Amina trägt als einzigen Schmuck einen großen Kreuz-Anhänger um den Hals. Ansonsten scheinen die Kostüme zeitlos zu sein, ebenso wie die Kleidung Dr. Javos’. Diese einfache Szenerie wird dann in jedem Bild durch eine zusätzliche Ausstattung, die buchstäblich durch den Chor in den Bühnenraum hineingetragen wird, ergänzt. So herrscht im ersten Bild eine düstere »Memento Mori- Stimmung« vor. Diese wird hauptsächlich durch das Schaufeln von Erde in den Bühnenraum erzeugt. Während Ilyas den unerträglichen Geruch der Krankheit beklagt, können auch die Zuschauer den Geruch der verteilten Erde unmittelbar wahrnehmen. Hinzu kommen Grablichter und Blumen, diese werden, ähnlich wie bei christlichen Bestattungen, auf die (Grab-)Erde geworfen. Der Chor trägt zudem schwarze Kutten, die hier an Talare oder Mönchskutten erinnern. Teilweise stehen die Choristen sich an den Seiten des Bühnenraumes gegenüber und rezitieren mit schwingenden Bewegungen des Oberkörpers aus »alten Büchern«. Es hat den Anschein einer liturgischen Zeremonie. Das erste Bild wirkt tatsächlich so, wie Amina es in der letzten Passage besingt, als wäre der Tod schon längst »unser Gast«440. Im zweiten Bild dominiert eine Aufbruchsstimmung: die Erde wird plakativ mit großen Industriebesen zur Seite gekehrt, Paletten werden mit kleineren Gabelstaplern bewegt. Das zweite Bild kontrastiert hier auch Tradition und Moderne, das Urtümliche, wie etwa die Kutten des Chores, weicht dem Fortschritt. Das Szenenbild ist geprägt durch moderne Laborausstattung und Projektionen auf den Leinwänden. Die Choristen werden zu Labortechnikern, ihre »heiligen Bücher« werden beiseitegelegt. Dabei ist das »Alte« durchgehend dunkel dargestellt, das »Neue« hingegen erscheint in hellen Farben. Nach und nach wird aus dem Tisch und den Paletten eine Art stufige Empore zusammengestellt, auf die Javos und Amina während ihres Gesprächs aufsteigen. Amina steigt schon im ersten Bild auf den Tisch als sie an die Möglichkeit denkt, Ilyas durch eigenes Handeln unsterblich werden lassen zu können. »Derselbe Gedanke kommt mir aber immer wieder. […] als ob er uns die Hand reichen möchte.«441 Auf diese Konstruktion steigen dann erst Javos, in dem Moment als Amina fragt, »Was treibt sie an?«442 und später auch Amina selbst. Javos steigt bis auf die höchste Stufe, den Küchentisch, dort singt er die längere Passage, der gesangliche Höhepunkt ist das Koranzitat: »Wer einen Menschen wiederbelebt

440 Libretto, Das Ebenbild, 7. 441 Ebd. 442 A. a. O., 9.

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hatte, war, als hätte er das ganze Volk wiederbelebt.«443 Amina bleibt auf der Stufe darunter erst liegen, dann dreht sie sich rückwärts auch auf den Tisch. Hinzu kommt das Hantieren mit Reagenzgläsern und Pipetten, der Chor zeigt sich hier, in weißen Kitteln, als Mitarbeiter-Team des Arztes. Anders als im Libretto vermerkt wird auch der Vorgang des Klonens explizit »gezeigt«. Es ist zu sehen, wie Amina die Haarsträhne abschneidet und Javos sie daraufhin weiterverwendet. Das letzte Bild wirkt sehr verdichtet: Der Chor steht nah am Bett des Ilyas und der Bereich ist mit den Stellwänden abgegrenzt. Amina sitzt im Vordergrund auf einem Stuhl und scheint isoliert. Im Hintergrund steht ein leerer Kinderwagen auf der höchsten Stufe der Empore. Erst, nachdem Ilyas wieder zu sich gekommen ist, wird die Abschirmung des Bettes aufgehoben. Während Javos bei Ilyas steht, bleibt Amina bis auf kurze Phasen am Bett ihres Mannes, isoliert im Vordergrund. c) Der Chor als Botschafter des Mythischen Wie sich bereits angedeutet hat, ist der Chor während der gesamten Inszenierung präsent und nimmt eine führende Rolle ein. Wie die im Libretto beschriebenen »mythischen Geiste« überdauern sie in ihren Rollen auch das Ende der Musikinstallation »Der alte Traum«. Der Chor fungiert ebenso als direktes Verbindungsglied zwischen den Inszenierungen »Der alte Traum« und »Das Ebenbild«. Sie wirken auf diese Weise losgelöst von Zeit und Raum. In Bild zwei nehmen sie scheinbar übergangsweise die Rollen der Laborassistenten ein und ermöglichen so den Klonprozess. Sie stellen sich damit temporär in den Dienst des Arztes Javos und ermöglichen so den Erfolg des medizinischen Vorhabens. Der Wechsel zwischen diesen Rollen und Funktionen verunsichert einerseits, weil sich die Choristen hier gegen das eigentliche Motiv der Warnung, aktiv in den Dienst der Sache stellen, betont aber andererseits auch die Flexibilität und Komplexität der »Geistwesen«. Das Mythische scheint durch sie hier auch in der Medizin durchaus seinen Platz zu haben, wenngleich Warnung und Zweifel im Stück noch überwiegen. Über die Choristinnen und Choristen, wie schon in der Librettoanalyse benannt, werden nahezu unablässig religiöse Verweise in das Stück eingebracht. Während der Chor im ersten und dritten Bild in koptischer Sprache singt, der Text ist daher nur in der Übersetzung in der Übertitelung erkennbar, wird in Bild zwei auf Deutsch gesungen. Das Koptische verdichtet somit den vor allem im ersten Bild wahrnehmbaren mythischen und geheimnisvollen Charakter. Im zweiten Bild singt der Chor hingegen auf Deutsch und macht damit den Bezug zum »Turmbau zu Babel« plakativ. Weiterhin agiert der Chor zwar eher im Hintergrund, baut aber dadurch buchstäblich einen Rahmen, in dem die Prota443 Libretto, Das Ebenbild, 10. Vgl. Sure 5.32.

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gonisten spielen und eingeordnet werden müssen. Der Chor bestimmt den Kontext des Stückes. Er prägt das Stück so ganz entschieden mit und gibt ihm überhaupt erst Richtung und Intention. Darüber hinaus kommt es in einigen Szenen zu einem direkten Eingreifen in den Inhalt. So bittet der Chor etwa im ersten Bild, als Reaktion auf die Fragen Ilyas »[…] Ist das wirklich das Ende, Amina? Was ist dies Leben doch, was sind wir, du und ich?«444 – »Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine Seele verliert, wäre dies das Leben der Eitelkeit. Wir bitten Sie, sich an uns zu erinnern!« Dieser Zusammenhang war im Libretto so nicht eindeutig, durch die Inszenierung ist der Bezug nun aber klar. Ein anderes Beispiel ist eine Szene im letzten Bild, in der der Chor Aminas Tat parallel mit einer Anspielung auf die Kreuzigung Jesu besingt. »Denn sie wissen nicht, was sie tun, […].«445 Der Chor hat im Stück eine vielfältige Rolle, er ist kommentierend und bedeutungsstiftend, aber auch – für die Zuschauer deutlich zu erkennen – für Umbauarbeiten des Bühnenbildes zuständig. d) Universaler und individueller Glaube Bereits mit dem Vorwort zum Libretto wird über die Übertitelung das Motiv des »Glaubens« ins Spiel gebracht. Dort ist jedoch zunächst nur von einem »alten ägyptischen Glauben« die Rede. Der Bezug zum Mumienkult und Seelenwanderung findet sich jedoch in der weiteren Inszenierung nicht mehr. Es werden in Folge hauptsächlich Anspielungen zum Christentum, insbesondere zum koptischen Christentum und Islam aufgebaut. Hier existieren sowohl eine allgemeine Dimension, repräsentiert durch den Chor, als auch eine individuelle Dimension, repräsentiert durch die Hauptfiguren Amina und Ilyas. Der Chor zeigt hier eine sehr stark vom Mythischen und Rituellen geprägte Form des Glaubens bzw. der Religiosität. Er scheint vielfach geheimnisvoll, gar okkult und ist in der Summe für das Publikum unverständlich. Die gesanglichen Verweise scheinen vielfach ungeordnet und willkürlich. Sie treten nur an einzelnen Stellen überhaupt so in Erscheinung, dass es wahrnehmbar wird. Trotz der direkten Botschaften bleiben sie stets im Hintergrund. Für sich betrachtet scheint hier ein Religionsverständnis durch, das zunächst von einer Universalreligion ausgeht und darüber hinaus die eigenen Auswirkungen auf die »Realität« als unbestimmt qualifiziert. Man könnte sagen, die Religion ist einerlei: sie hat einen gemeinsamen Kern und sie ist wenn, dann nur noch eine Folie, vor der man sein Leben lebt. Dieser Eindruck wird durch die Hauptpersonen jedoch überlagert. Alle drei Figuren stellen eine eigene Form der Auseinandersetzung mit dem Glauben dar. Ilyas ist stark an die alttestamentlichen Hiob-Figur angelehnt, vor allem seine 444 Libretto, Das Ebenbild, 6. 445 A. a. O., 15. Vgl. Lk 23, 34.

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Fragen nach dem Leiden im ersten Bild sind entsprechend der Erzählung formuliert446. Es verbirgt sich hier die in der christlichen Theologie mit Theodizee umschriebene Frage nach einem gerechten Gott angesichts des Leids in der Welt. Auch heute ist dies eine zentrale Anfrage an den christlichen Glauben, die sich in verschiedenen Ausprägungen immer wieder kristallisiert.447 Ilyas hadert angesichts seiner Krankheit mit seinem Glauben: »Man kann von Aberglauben sprechen, aber ein Glaube existiert nicht mehr in meiner Welt.«448 Ilyas scheint auch gegenüber seiner Frau resigniert zu haben: »Er wird nicht glauben, dass er dem Tod entkommen kann […]«. Ilyas scheint keine Rettung mehr zu erwarten, trotzdem scheint er weiterhin an einer religiösen Norm festzuhalten, wie in der weiteren Aussage deutlich wird: »[…] Sein Glaube wird verhindern, dass er daran glauben kann.«449 Es ist schließlich Dr. Javos, der diesen von Amina indirekt vorgebrachten Einwänden etwas entgegensetzt: eine rein naturwissenschaftliche Sicht auf die Dinge. Auf religiöse Zusammenhänge geht er nur zu Argumentationszwecken ein.450 Er ist lediglich an dem eigenen (wissenschaftlichen) Fortschritt und dem damit verbundenen Ruhm interessiert. Eine übergeordnete (religiöse) Instanz lässt er für sich nicht gelten. »Wer wollte über unsere Tat richten?«451 Diese Frage wird von Amina aufgebracht, nachdem ihr die Auswirkungen ihres Handels am Ende von Bild drei bewusst werden. Im ganzen Stück ist von ihrem Glauben an keiner Stelle die Rede, sie trägt allerdings eine Halskette mit Kreuzanhänger. Diese berührt sie eindrücklich, als sie in Bild zwei von Ilyas Glauben singt. Am Ende belastet sie allerdings die Frage, ob ihre Tat zu verurteilen ist. Dieser Wunsch nach Rechtfertigung muss nicht in erster Linie religiös motiviert sein. Es ist allerdings naheliegend, diesen Zusammenhang hier zuzulassen. Der Umgang mit der eigenen Schuld ist, ähnlich wie die Frage nach dem Leid, ein Moment, dass den individuellen Zugang zu einem Glauben infrage stellt. Des Weiteren scheint Amina auch von der Antwort Javos’ in diesem Punkt nicht befriedigt, sie scheint mit ihrer Schuld allein zurück zu bleiben. Die Protagonisten zeigen hier zeitgenössische Formen des Umgangs mit Religion auf. Dafür ist wie schon bei dem ersten Typus, den der Chor repräsentiert, zweitrangig, um welche Religion es sich handelt, es ist eine allgemeine Religiosität, die hier ins Bild gesetzt wird. Hinzu kommt aber andererseits, dass es sich hier um keine allumfassenden Strukturen und Systeme handelt, es scheint, als komme es nur 446 Vgl. Hiobverweise in Tabelle 1. 447 Vgl. dazu etwa das entsprechende Kapitel in Huber, Wolfgang: Glaubensfragen. Eine evangelische Orientierung. München 2017. 103–127. 448 Libretto, Das Ebenbild, 6. 449 A. a. O., 9. 450 Vgl. Rede in Bild 2. 451 Libretto, Das Ebenbild, 16.

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aufgrund der einzelnen Schicksale zu einer Auseinandersetzung. Der einzelne Lebenskontext entscheidet, ob der Glaube benötigt wird – und im Fall von Dr. Javos, allein die Argumente, die er in der Diskussion entkräften will. 3.1.3.4 Werkimmanente Darstellung der Religion(en) Im Hinblick auf eine Theorie des interreligiösen Dialogs vertritt das Musiktheater eine starke pluralistische Haltung. Es scheint darüber hinaus so, dass hier ein Bild gezeigt wird, in dem der Diskurs über religiöse Differenzen bereits weitgehend überwunden zu sein scheint. Die Auseinandersetzung zwischen den Religionen hat sich bereits bei den Figuren intrapersonell vollzogen. Sie stehen schlicht nicht mehr zur Debatte. »Das Ebenbild« zeigt Ansätze der Interreligiösen Theologie wie sie Schmidt-Leukel versteht. Es steht die Frage oder das Problem im Vordergrund, erst davon ausgehend wird nach den Antworten gesucht und diese aus verschiedenen religiösen Traditionen hergeleitet. »Wenn sie auf die zentralen Fragen des menschlichen Lebens reflektiert, dann wird die Theologie in Zukunft hierfür auch auf andere Religionen zurückgreifen. Sie wird die Antworten, die bisher innerhalb der eigenen Tradition gegeben wurden, in einem neuen vergleichenden Licht betrachten und auf diesem Wege weiterentwickeln.«452

Die Interreligiöse Theologie führt zu »positiven Nebeneffekten« und relativiert die Positionen des interreligiösen Pluralismus indem sie die Glaubwürdigkeit der einzelnen Traditionen erhöht und den Vorwurf des Relativismus entkräftet.453 Durch die Vernachlässigung der Differenzen kommt es zu einer stärkeren Fokussierung auf eine übergeordnete Transzendenz, die den Figuren des Musiktheaters Orientierung bieten soll. Es ist somit nicht mehr die einzelne Religion, zu der sich die Figuren positionieren müssen, sondern die letztgültige Wahrheit. Diese Wahrheit, die in der Gestalt des Mythos hier zutage tritt, wird von den Theaterschaffenden vornehmlich aus den Textgrundlagen des Alten Testaments (Schöpfung, Turmbau zu Babel, Hiob) und deren Rezeption in Christentum und Islam abgeleitet. Dabei wird der Versuch unternommen, auch archaischere Formen, wie das Gilgamesch-Epos oder die altägyptische Religion, miteinzubeziehen. Die Inszenierung stellt sich hier in eine Linie mit den traditionellen religionswissenschaftlichen Erklärungsmodellen.454 Die »neueren« Entwicklun-

452 Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 28. 453 Vgl. a. a. O., 32. 454 Vgl. dazu die Ausführungen von Meik Gerhards zur conditio humana. Vgl. Gerhards, Meik: Conditio humana. Studien zum Gilgameschepos und zu Texten der biblischen Urgeschichte am Beispiel von Gen 2–3 und 11, 1–9. Neukirchen-Vluyn 2013. Vgl. auch Müller, Hans-Peter: Mythos – Kerygma – Wahrheit. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament in seiner Umwelt und zur Biblischen Theologie. Berlin 1991.

»Das Ebenbild«

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gen innerhalb der Religionen werden hier scheinbar bewusst ausgeklammert. Dieses Vorgehen ermöglicht es die konfliktanfälligeren Themen wie die Christologie von vornherein zu umgehen. Auch im Kontext der traditionellen pluralistischen Religionstheologie haben diese Punkte immer wieder Kontroversen ausgelöst. Nur an einer Stelle, mittels des Verweises auf Sure 5,32, wird auf die direkte Beziehung von Christentum und Islam Bezug genommen. Stärker betont würde sich hier ein Ansatzpunkt finden, der auch im Kontext der Interreligiösen Theologie fruchtbar gemacht wird. Es wird hier die interne Fähigkeit der Religion angezeigt, sich mit religiöser Heterogenität auseinanderzusetzen. Damit ist sowohl eine Vielfalt innerhalb einer Religion gemeint als auch die Vielfalt in der die verschiedenen Religionen zueinanderstehen. Darüber hinaus steht diesem universellen Religionsverständnis der individuelle Zugang zur Religion entgegen. Die Protagonisten stehen als Individuen zwischen religiösen und gesellschaftlichen Herausforderungen und positionieren sich während des Stücks ganz eigenständig. Ihre persönliche Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit ihres Handelns und der Sehnsucht nach einer sinnstiftenden Bezugsgröße wird in unterschiedlichen Stadien und Ausprägungen deutlich. Zugleich zeigt sich in einer Metaperspektive für das Publikum die Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich religiöse Moral zum gesellschaftlichen Fortschritt verhält. Dabei werden unterschiedliche Deutungshorizonte aufgeführt. So ist das bewusste nicht-stellen der Theodizee-Frage auf den ersten Blick als ein Defizit von Religion zu beobachten. Weil das Stück aber deutlich werden lässt, dass das Ausklammern von Religionen bei der Bewältigung von Leiderfahrungen letztlich nicht weiterhilft, trägt es hintergründig aber zu einem produktiven Verständnis von Religion bei.

122

»Religiöse Differenzen« – Analysen

3.1.3.5 Zusammenfassung

Hiob

Theodizee Ebenbildlichkeit

Sehnsucht nach Unsterblichkeit

Turmbau zu Babel

„Das Ebenbild“ Altes Ägypten

Musikinstalla"on: „Der alte Traum“

Gegenwart Klonen

Abbildung 2: Vernetzte Motive im Musiktheater »Das Ebenbild«

Das Musiktheater »Das Ebenbild« zeigt sich als mythisch aufgeladenes Bild eines menschlichen Versuchs von Selbstbestimmung. Die Dualität von Mensch und Gott ist greifbar, auch wenn das Göttliche niemals expliziert wird. Die Protagonisten finden sich in einem durch die Kultur- und Religionsgeschichte gewachsenen Rahmen wieder, der sie unbewusst eingrenzt und prägt. Am Paradigma des Klonens wird sowohl die Sehnsucht nach selbstbestimmtem Handeln über diese biologischen Grenzen hinaus (Amina) als auch die Sehnsucht nach Ruhm und Überlegenheit über moralische Grenzen hinaus (Javos) konkretisiert. Dazu werden im Stück elementare kulturübergreifende Konzepte, wie die Frage nach Bedeutung der Seele und ihrer Unsterblichkeit sowie den anthropologischen Grundbedingungen, thematisiert. Ebenso stellt sich die Frage nach der Moral und der Umgang mit Schuld. Dies verdeutlichen die Verweise auf kultur- und religionsgeschichtliche Erzählungen von Schöpfung, Sündenfall, dem Turmbau und Hiob. Aus den Voraussetzungen der Gottebenbildlichkeit wird der Wunsch entwickelt, es Gott gleich zu tun, legitimiert durch den eigenverantwortlichen Versuch den Tod zu umgehen. Das Musiktheater versucht hier eine kausale theologische Struktur aufzuzeigen. Im Zuge dessen werden auch die unterschiedlichen Dimensionen des Religiösen deutlich. Die Figuren des Stücks bewegen sich zwischen einer allgemeinen und einer individuellen Dimension von

Stadtprojekt »Nathan«: »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück«

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Glauben. Damit kommen sie dem vom Regisseur angestrebten Anspruch auf Aktualisierung der Religion nach. Bei dem Umgang mit Leiderfahrungen überlässt das Stück die Figuren sich selbst, macht aber durch ihr Scheitern deutlich, dass sich gerade dort die Anfrage an eine übergeordnete Transzendenz als heilsam erweisen kann. Dass dies nicht nur aus der Perspektive einer Religion oder Weltanschauung geschieht, zeugt von einem pluralen Religions- und Kulturkonzept des Musiktheaters. Es kommt hier zu einer Versammlung heterogener ideengeschichtlicher Entwicklungen und motivgeschichtlicher Voraussetzungen. Hier bildet sich bereits werkimmanent ein Dialog weltanschaulicher und religiöser Elemente ab. Das »Religiöse« wirkt hierin wie eine homogene Einheit, es gibt wenig bis nichts Explizites, die Bibelstellen sind als Fußnoten im Libretto angegeben, werden im Stück aber nicht zusätzlich ausgewiesen. Verweise des Librettos offenbaren die inhaltliche Verwobenheit der Motive und zersetzen die zunächst eindeutig scheinenden Belegstellen, z. B. Sure 5, 32. Die Inszenierung weist das Stück noch stärker als das Libretto als eine übergeordnete mythische Erzählung aus, die interreligiöse Unterschiede überdeckt. »Das Ebenbild« suggeriert eine Art Universalreligion. Diese wird im Stück deutlich in Konkurrenz zur Wissenschaft stehend inszeniert. Das Aufeinandertreffen von Mythos und Naturwissenschaft scheint hier für die Verantwortlichen eine gesellschaftlich relevante Grundspannung auszumachen. In dieser Arbeitsweise lassen sich auch Merkmale des sog. Religiösen Pluralismus erkennen: Es wird dabei von einem mythologischen Kern ausgegangen, der allen Religionen gemeinsam ist, ohne dass dieser im Stück direkt präsentiert wird. Im Hinblick auf das Forschungsfeld des interreligiösen Dialogs wird an dieser Stelle angeknüpft. Für »Das Ebenbild« dominiert dabei die Darstellung der Religion(en) als übergeordneter Mythos, der sich vor allem über die Abgrenzung zum Bereich der modernen Wissenschaften legitimiert und definiert.

3.2

Stadtprojekt »Nathan«: »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück«

3.2.1 »Nathan der Weise« 3.2.1.1 Kontext: Das Stadtprojekt »Nathan« Mit dem in der Spielzeit 2016/2017 durchgeführten sog. Stadtprojekt »Nathan« versuchte das Theater Osnabrück Bühne, Stadt und Bürger miteinander ins Gespräch zu bringen. Bereits zuvor hatte es das Stadtprojekt »Remarque« (2015) gegeben. Die Eckpfeiler des »Nathan«-Projekts bildeten die Produktionen »Na-

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

than der Weise« als Schauspiel im Großen Haus zu sehen und das JugendclubProjekt »Urban-Prayers Osnabrück«, inszeniert an drei unterschiedlichen Orten – in einer Synagoge, Moschee und Kirche. Ebenfalls Teil des Programms waren Lesungen, Publikumsgespräche im Anschluss an die Aufführungen und eine Schreibwerkstatt für Jugendliche.455 Der Projektcharakter zeigt hier deutliche Ambitionen des Theaters in den Diskurs mit der (Stadt-)Öffentlichkeit zu treten. Die Inhalte wollen hier vor allem auch den bewussten Dialog zwischen den Religionen und konkret zwischen den Osnabrücker Religionsgemeinschaften fördern.456 Das Stück »Nathan der Weise« wurde am 28. Januar 2017 zum ersten Mal im Großen Haus gezeigt. Die Inszenierung übernahm dabei Dominique Schnizer, für die Dramaturgie verantwortlich war Jens Peters.457 Beteiligt war auch eine Projektgruppe mit 32 Personen, die gemäß ihrer Religionszugehörigkeit die Gruppen von Juden, Christen und Muslimen spielten. In der muslimischen Gruppe waren auch Geflüchtete.458 Mit der Inszenierung von »Nathan der Weise« bringt das Theater zunächst die Frage nach der wahren Religion und damit eine klassische exklusivistische Position in den Dialog der Religionen ein. Als Antwort darauf kann Lessings Utopie der Toleranz stehen, dessen Glaubwürdigkeit das Theater aber bewusst zur Debatte stellt. Für die folgenden Analysen wird der Schwerpunkt auf die Inszenierungen »Nathan der Weise« und das »Urban Prayers«-Projekt gelegt. Die Inszenierung des Theaters von »Nathan der Weise« wird im Folgenden diskutiert, es wird allerdings angesichts der Fülle an bereits bestehenden Arbeiten459 auf eine 455 Vgl.URL: https://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?stid=251&aui d=159226 (16. 11. 2018). 456 Die Chancen und Herausforderungen dieser Arbeitsweise des Theaters am Beispiel des Urban Prayers Projekt hatte auch Constanze Kronisch im Rahmen ihrer Bachelorarbeit (»Theater und Theaterpädagogik als Religionspädagogik?!«, 2017) untersucht. Sie war so freundlich mir Einsicht in die Arbeit zu gewähren. 457 Für das Bühnenbild und die Kostüme war Christin Treunert verantwortlich. Die Aufführung dauerte rund eine Stunde und 45 Min. Vgl. URL: https://www.theater-osnabrueck.de/spiel plan/spielplandetail.html?stid=165 (18. 11. 2018). 458 Vgl. Interview mit Jens Peters auf OS Radio, 24. 1. 2017. 459 Durch die breite Rezeption des Dramas u. a. als jahrzehntelange Schullektüre ergibt sich eine ganze Bandbreite an kommentierten Textausgaben, Interpretationen und Analysen des Textes. Vgl. dazu einige der aktuellsten Erscheinungen: Rinnert, Andrea: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise: Interpretation. Halbermoos 2018; Vollhardt, Friedrich: Gotthold Ephraim Lessing: Epoche und Werk. Göttingen 2018; Möbius, Thomas: Textanalyse und Interpretation zu Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise – ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. 6. Aufl. Hollfeld 2017; Sedding, Gerhard: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise: Interpretationshilfe für Oberstufe und Abitur. Stuttgart 2017; Bauschke, Cedric; Beyer, Karoline; Zaake, David: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Juchler, Ingo; Lechner-Amante, Alexandra (Hg.): Politische Bildung im Theater. Wiesbaden 2016; sowie Krause, Thorsten: Nathan der Weise: Reclam XL – Text und Kontext. 2. Aufl. Ditzingen 2015. Weiterhin ist bereits auch vielfach auf die Bedeutung der Ringparabel für

Stadtprojekt »Nathan«: »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück«

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Analyse des Theatertexts verzichtet. Eine theologische Auswertung des Stücks erfolgt aber unter 4.1.2. 3.2.1.2 Inszenierungsanalyse Die von Schnizer vorgenommene Aktualisierung des Stoffes, die Verlagerung der Handlung in ein Camp für Geflüchtete, scheint vom Publikum verstanden und auch gewürdigt worden zu sein.460 Peters versteht das Stück als »eine erstaunlich effektive Echokammer für ganz aktuelle Fragen und Probleme.«461 Die Verlegung in einen »modernen« Schmelztiegel der Religionen hat aber auch einen hoffnungslosen Aspekt. Ähnlich wie es aktuell kaum Lösungen für überfüllte Flüchtlingslager und die humanitären Missstände dort gibt, so liefert auch die Inszenierung letztlich nur einen »pessimistischen Ausblick«462. Am Ende bleiben die Konflikte und Auseinandersetzungen bestehen, Nathans Botschaft bleibt ungehört. Das Theater Osnabrück zeigt hier einen gescheiterten Dialog der Religionen, selbst klassische Antwortversuche bleiben erfolglos angesichts der (modernen) interreligiösen Herausforderungen. Jede Religion bleibt bei sich selbst, die Differenzen werden bewusst nicht aufgelöst.463

460

461 462 463

den interreligiösen Kontext eingegangen worden, vgl. dazu v. a. Tück, Jan-Heiner; Langthaler, Rudolf (Hg.): »Es strebe jeder von euch um die Wette«: Lessings Ringparabel – paradigma für die Verständigung der Religionen heute? Freiburg 2016; Auerhammer, Achim; Cantarutti, Giulia; Vollhardt, Friedrich (Hg.): Die drei Ringe: Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur. Online 2016, Kuschel, Karl-Josef: Im Ringen um den wahren Ring: Lessings »Nathan der Weise« – eine Herausforderung der Religionen. Überarb. Neuausg. Ostfildern 2011; sowie Küng, Hans; Kuschel, Karl-Josef; Riklin, Alois: Die Ringparabel und das Projekt Weltethos. 2. Aufl. Göttingen 2010. Vgl. Pressemeldungen: Lüddemann, Stefan: Theater Osnabrück: Nathan der WellblechHütte. Lessings Klassiker im Flüchtlingslager 28. 1. 2017. URL: https://www.noz.de/deutsch land-welt/kultur/artikel/839793/theater-osnabrueck-nathan-der-wellblech-huette-1; Reiber, Vanessa: Der Konflikt bleibt brüllend ungelöst. 17. 2. 2017. URL: https://taz.de/!53850 07/. Peters, Jens: Vernunft im Pulverfass. In: Theater Osnabrück (Hg.): Programmheft »Nathan der Weise«. Osnabrück 2017. 7–10. 7. Reiber, Der Konflikt bleibt, Artikel in der TAZ, 17. 2. 2017. Auch in der Spielzeit 2006/2007 hatte das Theater Nathan der Weise in den Spielplan aufgenommen. Die Inszenierung von Wolfram Apprich ist deutlich politischer geprägt. Im Programmheft finden sich Texte von Jan Phillip Reemtsma (»Nathan Schweigt«) und Dieter Hildebrand (»Der Nathan und die Deutschen«) sowie das Gedicht »Die Todesfuge« von Paul Celan. Das Stück scheint hier vor dem Hintergrund des Antisemitismus verstanden zu werden. Das Gedicht wird auch zu Beginn der Aufführung von einem Kind laut vorgelesen. Dabei ist die Bühne im Dunkeln, die Rezitation ist bewusst stockend und enthält typische Lesefehler. Der Lessingsche Text wird größtenteils übernommen, die einzelnen Auftritte werden teilweise durch Musik unterbrochen. Die Inszenierung wirkt nüchtern aber latent aggressiv, vor allem die religionskritischen Textpassagen werden lauter und gezielt im vorderen Bereich der Bühne gespielt. Das Bühnenbild kommt in dem gesamten Stück ohne

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

Das Bühnenbild übermittelt eine düstere und frostige Atmosphäre, es ist ein notdürftiges auf der Bühne errichtetes Lager, Plastikfolie und Wellbleche prägen das Bild. Die Behausungen sind in hellen Farben gehalten und dominieren den Hintergrund. Die Bauten sind symbolisch im Zeichen der Religionen ausgestattet, für jede Religion gibt es eine Hütte. Die Personen tragen größtenteils dunkle, winterliche Kleidung, lassen sich aber aufgrund ihres Äußeren nicht direkt einer Religion zuordnen. Sie unterscheiden sich nur durch Details, wie eine Kreuzkette oder Kippa. Vor allem die Frauen sind alle in lange, dunkle Gewänder gehüllt. Es herrscht von Beginn an eine gereizte Stimmung zwischen den Gruppen, auf einen muslimischen Gebetsruf wird ein »Halt die Fresse« erwidert. Bevor der erste Text gesprochen wird, überlässt die Inszenierung mehrere Minuten lang das Camp sich selbst. Die Zuschauenden scheinen hier einen möglichst authentischen Eindruck bekommen zu sollen. Dieser ist das ganze Stück über geprägt von Aggressivität und Chaos. Es wird sehr viel geschrien und Unterhaltungen arten in Streit aus, ständig kommt es zu körperlichen Übergriffen, es wird gestoßen und geschupst. Einen ersten Höhepunkt bietet das zeitgleich stattfindende Gebet der drei Gemeinschaften, alles passiert parallel und in einer unangenehmen Lautstärke. Der Zuschauer erlebt hier einen realen Gegenentwurf zu der klassischen Botschaft des Nathan. Dieser bringt in diesem Umfeld kontinuierlich seine Überzeugung von Toleranz vor. Er ist es, der vehement von »Menschen« spricht, anstatt ständig nur die Zugehörigkeit zu einer der religiösen Gruppen zu betonen. Die religiöse Identität wird explizit in den Ansprachen betont, es scheint leichter von »dem Juden«, und »der Christin« zu sprechen als das Gegenüber beim Namen zu nennen.464 Im ganzen Stück wird die Religionszugehörigkeit gegenüber dem Menschsein ausgespielt, beides scheint nicht kombinierbar zu sein.465 Exemplarisch ist hier ein Dialog zwischen Nathan und dem Tempelherrn: »NATHAN: […] Ich weiß wie gute Menschen denken TEMPELHERR: …aber wohl mit Unterschieden. NATHAN: Ja, Hautfarbe, Kleidung, Gestalt, mit diesen Unterschieden ist es nicht weit her.

Requisiten aus, erst in der Schlussszene wird eine zusätzliche Bühnenwand eingeschoben, vor der sich die Hauptfiguren statuengleich positionieren, um so schließlich zu verharren. 464 Vgl. hier etwa Lessing, Gotthold, Ephraim: Nathan der Weise. Ein Dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. Studienausgabe. Bremer, Kai; Hantzsche, Valerie (Hg.). Stuttgart 2013. A. a. O., S. 38, V. 776; S. 56, V. 1199; S. 79, V. 1732 etc. 465 Siehe hier bereits der 2. Auftritt im ersten Aufzug: Recha spricht vom Tempelherrn als ihrem Engel, Nathan beharrt darauf, dass es sich um einen Menschen handle. Siehe hier Lessing, Nathan, 1. Aufzug, 2. Auftritt.

Stadtprojekt »Nathan«: »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück«

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TEMPELHERR: Es mag wohl stimmen, aber welches Volk hat als erstes diese Unterschiede eingefordert, welches Volk nannte sich zuerst das auserwählte Volk? Nun, wenn ich dieses Volk nur zwar nicht hasste, aber es für seinen Stolz verachtete […] nur sein Gott sei der wahre Gott. NATHAN: Sie wissen nicht, wieviel näher sie mir jetzt sind, wir müssen Freunde sein. Verachten sie mein Volk so viel sie wollen, sie und ich, wir haben uns unser Volk nicht ausgesucht… was heißt denn unser Volk, sind Christen und Juden mehr Christen und Juden als Menschen? Wenn ich doch einen mehr in ihnen gefunden hätte, dem es genügt ein Mensch zu sein. TEMPELHERR: Das haben sie Nathan.«466

Die religiösen Unterschiede werden von Nathan als Behinderung des wahren Menschseins angesehen, diese sind es aber, die in der Inszenierung des Stück den Alltag der Protagonisten dominieren. Vorurteile und Grenzen in Bezug auf die Religion werden forciert, wobei sich die Personen ihrer Haltungen durchaus bewusst sind. So bemerkt Sittah über das verhaltene Urteil von Al Hafi über dessen eigentlichen Freund Nathan, er würde es für zu gefährlich halten ihn vor den muslimischen Herrschern zu loben.467 Neben der Religion behält die Osnabrücker Inszenierung auch die Familie als feste Bezugsgröße in Lessings Stück bei. Sie wird sowohl auf funktionaler als auch auf inhaltlicher Ebene als Parallele etabliert. Die religiösen Gruppen sind als Familien dargestellt, sie leben als Nachbarn in ihren jeweiligen Häusern, sehen sich ähnlich und arrangieren ihren jeweiligen Alltag. Die jeweiligen Konflikte um Geld (Saladin und Sittah), Macht (Christen) und Liebe (Recha und der Tempelherr) bestimmen nicht nur die familiären, sondern ebenso auch die religiösen Beziehungen. Sowohl die familiäre als auch die religiöse Identität wird durch die Gruppen bestimmt, das Individuum allein scheint weitaus »flexibler« denken und agieren zu können. So verwundert es nicht, dass ausschließlich am vorderen Rand der Bühne gespielt wird. Die Protagonisten treten somit einige Schritte aus ihren gefestigten Institutionen, ihrer Kulisse, heraus, sie scheinen nur so die Möglichkeit zu haben ihrem Gegenüber wirklich begegnen zu können. Nur hier und auf diese Weise scheinen Dialoge überhaupt möglich. Wenn sich die einzelnen Gruppen begegnen, endet jeder Austausch in lautem Gebrüll. In der Schlussszene der Inszenierung stehen die Protagonisten sich als Repräsentanten ihrer jeweiligen Gruppen im Halbkreis gegenüber. Nur so scheinen die Religionen überhaupt zusammenkommen zu können. Das Kernstück des Dramas, die Ringparabel, die Nathan auf die Frage Saladins – hier recht flapsig formuliert: »Welchen Glauben findest du am besten?« – erzählt, scheint recht unverändert übernommen zu sein. Die transformative 466 Vgl. Lessing, Nathan, V. 1273–1314. 467 Vgl. a. a. O., V. 1127–1135.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

Wirkung bleibt jedoch weitestgehend aus, auch Saladin und Nathan schreien sich am Ende wieder an. Vor allem Saladin reagiert auf die Aufforderung Nathans ein Urteil zu fällen, heftig. Er scheint sich hier unter Druck gesetzt zu fühlen und zeigt dies deutlich, da er Nathan am Hemdkragen packt und ihn zu sich heranzieht. Angespannt und latent aggressiv endet auch das gesamte Stück in Osnabrück. Nach Offenlegung der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Recha, dem Tempelherrn und den Geschwistern Saladin und Sittah und der zugrundeliegenden Blutsverwandtschaft, bricht ein tosendes Geschrei aus. Das Stück endet, indem sich alle Gruppen bedrohlich aufeinander zu bewegen. 3.2.1.3 Werkimmanente Darstellung der Religion(en) Die Inszenierung verknüpft hier die klassische Anfrage an das Zusammenleben der Religionen mit der Flüchtlingsproblematik. Das Bühnenbild wirkt sich dabei stark auf den Gesamteindruck aus.468 Schnizer scheint damit zwei Anforderungen einzulösen: Zum einen verlagert er den Klassiker in ein aktuelles Setting, das Bühnenbild erinnert an ein Lager für Geflüchtete, das so an vielen Orten etwa auf den griechischen Inseln oder in der Türkei zu finden ist. Dabei greift er das Thema auf, das seit 2015 die Gesellschaft in Deutschland stark beschäftigt hat. Zum anderen ordnet er die Frage nach der Toleranz der drei monotheistischen Religionen dadurch in einen Kontext ein, indem diese Frage tatsächlich auch relevant scheint. Während das Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen im normalen Alltag weitestgehend geregelt abläuft und sich Fragen des interreligiösen Dialogs oftmals nur in theologischen oder institutionellen Kontexten stellen, scheint das Umfeld eines Flüchtlingslagers durchaus mehr Konfliktpotenzial bereitzuhalten. Immer wieder gibt es Nachrichten, die von Problemen zwischen den unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften in solchen Kontexten berichteten469. Die Frage nach der Toleranz wird in diesem Umfeld als plausibel dargestellt, über die Inszenierung wird es legitim, (wieder neu) auf 468 Ebenso wird diese Zielsetzung auch im Programmheft zum Stück stark hervorgehoben, es ist dort u. a. ein umfangreicher Artikel zur ökonomischen Situation im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatari mit abgedruckt. Vgl. Gutschker, Thomas: Geschäfte hinter Mauern. Flüchtlingscamp in Jordanien. FAZ, 8. 12 2015. 469 Hier ist allerdings jeweils zu entscheiden, inwieweit es sich tatsächlich um Differenzen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen handelt oder ob andere Motive für die Konflikte auschlaggebend sind. Vor allem im Herbst 2015 wurden diese Fragen im Kontext von Flüchtlingsunterkünften in Deutschland diskutiert. Vgl. dazu etwa: URL: https:// www.deutschlandfunk.de/christliche-fluechtlinge-religioese-konflikte-mit-muslimen.886. de.html?dram:article_id=354443; URL: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/filead min/user_upload/Publikationen/POSITION/Position_5_Religionsbezogene_Gewalt_in_Fl uechtlingunterkuenften.pdf; URL: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-09/ fluechtlingskrise-religion-trennung-fluchtlingsunterkunft-debatte/komplettansicht?action =report&pid=5304404&page=3 (29. 07. 2020).

Stadtprojekt »Nathan«: »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück«

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Nathan zu hören. Die Ringparabel wird daher in nahezu unveränderter Form im Stück wiedergegeben. Sie ist damit eine extreme Reaktion auf die religiöse Heterogenität des Settings. Der klar pluralistische Standpunkt des Erzählers der Parabel erzeugt eine Utopie, die die Adressaten im Stück nur überfordern kann. Die Gegensätze scheinen zu groß und zu unüberschaubar für eine Annäherung. Was im Kleinen noch gelingen könnte, scheint für die Mehrheit unerreichbar. Das Ideal-Bild, welches der Dramentext hier von den Religionen zeigt, ist geprägt von den Idealen des Humanismus und der Aufklärung. Der »wahre Mensch« wird dem Religiösen gegenübergestellt, es sollte nicht den Ausschlag geben, ob man Jude oder Muslim ist, einzig Mensch zu sein, entscheidet über die moralischen Qualitäten. Gegen diese pluralistische Utopie470 stellt die Inszenierung bewusst differenzhermeneutische Tendenzen. Religiöse Unterschiede sind im Rahmen der Inszenierung »normal«, sie prägen den Alltag und die Identität der Gruppen, Saladin entgegnet Nathan nicht umsonst an prominenter Stelle »Spiel nicht mit mir, ich glaube, dass die Ringe sehr wohl zu unterscheiden sind, bis hin zu Kleidung und Gebräuchen.«471 Die Unterschiede der Religionen, sowohl intra- als auch interreligiös, werden auf die familiären Beziehungen übertragen und so in ein realistisches und somit auch in ein produktives Bild gerückt. Das was innerhalb einer Familie zu respektieren und tolerieren ist, sollte demnach auch in der großen Religionsfamilie gelingen können. Das dies nicht immer möglich ist, zeigt das Ende der Inszenierung. Es wird jedoch trotz des Scheiterns ein Ansatz vorgelegt, der anschlussfähig ist. Die Inszenierung eröffnet so – anders als der Dramentext – ein problemsensibles und damit realistisches Spektrum des interreligiösen Diskurses. 470 Man könnte angesichts einiger Passagen der Ringparabel (3. Auftritt, siebter Aufzug) vermuten, dass die Bedeutsamkeit der Religionen negiert wird, da man sich zugunsten eines tugendhaften Lebens auch mit der Möglichkeit der Unwahrheit der eigenen Religion arrangieren müsse. Vgl. Vollhardt, Friedrich: Die Ringparabel in G. E. Lessings Drama Nathan der Weise. Aktualität – Historizität – Kontiguität. In: Auerhammer, Achim; Cantarutti, Giulia; Vollhardt, Friedrich (Hg.): Die drei Ringe: Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur. Online 2016. 205–234. 216. In Bezug auf die Gleichwertigkeit bleibt die Parabel jedoch ihrem Anspruch verhaftet: »Die drei Religionen partizipieren an diesem gemeinsamen Ursprung, der zugleich ein moralisches Vermächtnis ist. Obwohl die positiven Religionen unecht und in ihren Lehrmeinungen falsch sein mögen, sind sie doch imstande, etwas für die Lebenspraxis ihrer jeweiligen Anhänger zu leisten.« A. a. O., 217. Und weiter schreibt Vollhardt: »Am Ende steht nicht die Botschaft von der Gleichgültigkeit gegenüber allen Religionen […], sondern die Aufforderung zu einem Wettbewerb, aus dem sich die Lösung der keineswegs verabschiedeten Wahrheitsfrage ergeben wird, nicht argumentativ, sondern ermahnend.« A. a. O., 218. Hier zeigt sich weiter, dass für Lessing die Veränderung der Praxis das eigentliche Ziel seiner Bemühung darstellte, das Tun des Richtigen. »Erst im Handeln bestätigt sich der Glaube an eine Offenbarung, ganz wie im dramatischen Spiel.« A. a. O., 227. 471 Vgl. dazu Lessing, Nathan, 88, 1970–1974.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

3.2.1.4 Zusammenfassung In der Argumentationslinie des »Nathan« ist eine deutliche Tendenz gegeben, die Religionen als einheitlichen Block anzusehen. Diese Homogenität bezieht sich nicht auf die einzelnen Glaubenserfahrungen, sondern auf die Gegenüberstellung von Religionen und Vernunft. Eine Differenzierung der Glaubensrichtungen und eine Sensibilisierung für die Vielfalt scheint zunächst für den Diskurs nicht relevant, ganz im Sinne der drei »gleichen Ringen«. In der Inszenierung des Theater Osnabrücks werden gegen diese gesellschaftliche Utopie der Ringparabel viel deutlicher differenzhermeneutische Tendenzen gesetzt. Die Inszenierung verlagert die Frage der Toleranz von einem gesellschaftlichen stärker in ein interreligiöses Bezugsfeld zurück. Dabei zeigt das gewählte Setting, dass es durchaus Kontexte gibt, in denen die Religionen nahezu alle Lebensbereiche der Menschen stark beeinflussen und die interreligiöse Verständigung so an Relevanz gewinnt. Dass die Frage nach der »besten Religion«, oder nach Lessing nach der »wahren Religion« am Ende offenbleibt und es zu keinem Wettstreit unter den Glaubenden kommt, ist aus gegenwärtiger religionstheologischer Sicht nicht verwunderlich. Das Denken in festen Schemata, wie dem System von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus, und die damit verbundene Wahrheitsfrage scheint kaum noch fruchtbar gemacht werden können.472 Vielmehr sind es Fragen nach Wertschätzung des religiös Anderen, dem Potenzial des gegenseitigen Kennenlernens und einem konkret gelingenden Leben, die entscheiden.

3.2.2 »Urban Prayers Osnabrück« 3.2.2.1 Kontext: Björn Bickers »Was glaubt ihr denn« Bei den »Urban Prayers Osnabrück« handelt es sich um drei unabhängige Aufführungen von drei verschiedenen (Jugend-)Theatergruppen des Theaters Osnabrück: »Urban Prayers – Alles, was wir glauben mussten« vom Jugendclub Mania; »Urban Prayers – Doorways« vom Studierendenclub des Theaters sowie »Urban Prayers – Nach Babel – und noch weiter« vom Jugendclub Amigos Bandidos. Hinzu kommt, dass die unterschiedlichen Aufführungen auch an religiösen Orten der Stadt gespielt wurden. »Urban Prayers I« in der Evangelischreformierten Jugendkirche, »Urban Prayers II« in der Yeni Camii Moschee und der St. Franziskus-Kirche und die dritte Aufführung in der Jüdischen Gemeinde. Die Vorstellungen waren sowohl einzeln, als auch im Rahmen zweier »Triple-

472 Vgl. Schmidt-Leukel, Zur Einteilung religionstheologischer Standpunkte, 283.

Stadtprojekt »Nathan«: »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück«

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Vorstellungen« direkt hintereinander zu sehen.473 Die einzelnen Teile beschäftigen sich mit religiöser Heterogenität im städtischen Umfeld und bewegen sich bewusst im Spannungsfeld zwischen Vorurteilen und Interesse dem anders Glaubenden gegenüber. Es geht dabei auch um gesellschaftspolitische Fragen des Zusammenlebens und die Auswirkungen des Glaubens auf das persönliche Umfeld. Auf der Rückseite des Programmhefts wird der Fokus der Stücke deutlich: »Es geht hier ganz sicher nicht um Theologie. Es geht um uns. Es geht um Moslems. Es geht um Christen. Es geht um Juden. Es geht um unser Leben. Es geht um euer Leben. Es geht um Osnabrück. […] Es geht darum, dass wir glauben. Es geht nicht darum, was wir glauben. Glaubt ihr, es gibt nichts zu glauben?«

Im ersten Teil »Alles was wir glauben mussten« müssen die Darsteller Antworten finden, wie ein Zusammenleben der drei Weltreligionen gelingen könnte.474 In der zweiten Inszenierung, »Doorways« werden die Figuren durch eine unerwartete Begegnung aus ihrem Alltag gerissen und müssen sich mit der Frage nach Erlösung auseinandersetzen.475 Das letzte Stück »Nach Babel – und noch weiter« beschäftigt sich mit Verständigungsstrategien über Religion(en) im städtischen Alltag. Ausgehend vom Mythos des Turmbaus zu Babel und der daraus resultierenden Verwirrung der Sprache, wird im Rahmen eines inszenierten Symposiums diskutiert, inwieweit religiöse Differenzen überwunden werden können.476 Alle drei Teile basieren auf dem Text des Regisseurs und Autors Björn Bicker »Was glaubt ihr denn. Urban Prayers.«477 Bicker erhielt für das Werk 2016 den Tukan Preis der Stadt München. Darüber hinaus wurde der Text vielfach innerhalb Deutschlands aufgeführt und als Hörspiel produziert.478 Bicker versteht seine Aufgabe in Bezug auf das Theater darin, die (religiöse) Lebenswirklichkeit der Menschen in seinen Stücken abzubilden. »Wie schafft man den Spagat zwischen einer überregional bedeutenden Schauspielbühne und dem Anspruch, Theater für eine konkrete Stadt und ihre leibhaftigen Einwohner zu machen?«479 Für ihn scheint das »Religiöse« dabei einen zentralen Stellenwert einzunehmen. Auf Grundlage seiner Beobachtungen in und um München, diversen Gesprächen mit Vertretern verschiedener religiöser Gruppen und Besichtigungen der Versammlungsorte macht Bicker die Frage nach dem Leben der Religiösen innerhalb 473 474 475 476 477

Vgl. Programmheft zu »Urban Prayers«. Vgl. Programmheft zu Urban Prayers, Osnabrück I: Alles, was wir glauben mussten. Vgl. Programmheft zu Urban Prayers, Osnabrück II: Doorways. Vgl. Programmheft zu Urban Prayers, Osnabrück III: Nach Babel – und noch weiter. Bicker, Björn: Was glaubt ihr denn. Urban Prayers. Bilder von Andrea Huber. München 2016. 478 Für aktuelle Informationen siehe URL: http://www.bjoernbicker.de/4-0-Aktuelles.html (3. 2. 2020). 479 Bicker, Was glaubt ihr denn, 237.

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der (säkularen) Gesellschaft zur zentralen Frage seines Projekts. Bei Bicker klingt durchaus auch immer eine politische Seite durch,480 zum einen geht es ihm um Anstöße in der Integrationsdebatte, zum anderen um den Diskurs zwischen religiösen und säkularen Menschen. »Denn es geht um das Aufeinandertreffen von säkularer und religiöser Lebensführung. Wechselseitig fühlen sich beide Seiten von der jeweils anderen Fraktion in Frage gestellt, wenigstens befragt.«481 Dabei nimmt Bicker das »Religiöse« zwar als heterogene Masse wahr, sieht sie aber dennoch als geschlossenes Gegenüber zum »säkularen« Teil der Gesellschaft. Für seine Texte wählt er daher den Chor, als theatrales Medium um diese Gruppe zu Wort kommen zu lassen. »Was ich unter dem Brennglas meiner vorsätzlich herbeigeführten Begegnungen erlebt habe: die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander, Übereinander und Durcheinander so vieler verschiedener religiöser Äußerungen und Praktiken in einer Stadt, diese Explosion von Pluralität, diese Stimmen, die sich widersprechen, die sich verstehen, die permanent zu hören sind, aber eben niemals gleichzeitig, obwohl sie in jeder Minute die Realität meiner Umgebung bestimmen. […] Der Chor der gläubigen Bürger sollte zu denen sprechen, die von sich sagen, dass sie nicht gläubig sind, […] die Nicht-Religiösen, die sich hinter keiner Religion versammeln können.«482

Der Chor als Ausdruck der Theatersprache verweist auf die stetige Spannung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft.483 Darüber hinaus repräsentiert sich der Chor als ein eigenständiger Mitspieler.484 Die Stimme, mit der er spricht ist eine, jedoch zusammengesetzt aus vielen. Damit versucht Bicker auch dies zur Sprache zu bringen, was in der Realität oft keine Möglichkeit zum Dialog findet. Er berichtet darüber hinaus auch von Dialogchancen über die reine Aufführung hinaus, so erfordert die Organisation der einzelnen Vorstellungen in den Räumlichkeiten der Gemeinden bereits ein hohes Maß an gegenseitiger Bereitschaft zur Kooperation.485

480 481 482 483

Vgl. Bicker, Was glaubt ihr denn, 255. A. a. O., 258. A. a. O., 259. Vgl. Haß, Ulrike: Art. Chor. In: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie. Heidelberg 2014. 50–53.51. 484 Vgl. ebd. Vgl. dazu v. a. Rösler, Wolfgang: Der Chor als Mitspieler. Beobachtungen zur Antigone. Antike und Abendland. Ht. 1, Bd. 29. Hamburg 1983. 107–124. 107–124. Klassischerweise wurde bis in das 20 Jahrhundert hinein angenommen, der Chor fungiere in erster Linie als »Sprachrohr des Dichters«.Vgl. Haß, Chor, 51. Rösler argumentiert am Beispiel der Antigone von Sophokles gegen diese These: »Autoritative Sinngebung, gar Bekenntnis des Dichters oder auch Ebene einer die dramatische Rolle des Chores transzendierenden Reflexion – all dies scheidet […] aus als inkompatibel mit jeder neuen Konzeption des Chorliedes.[…].« Rösler, Der Chor als Mitspieler, 124. 485 Vgl. Bicker, Was glaubt ihr denn, 261.

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3.2.2.2 Analyse des Theatertextes Alle sieben Teile des Textes sind gleich aufgebaut. Am Anfang spricht der sog. »Chor der gläubigen Bürger«, danach kommen in abwechselnder Reihenfolge ein Architekt, ein Sozialarbeiter, ein DHL-Bote, eine Journalistin und eine Lehrerin zu Wort. Die Passagen des Chors sind rund zwei- bis dreimal so lang wie der Teil in dem nur die einzelnen Personen sprechen. Der »Chor der gläubigen Bürger« ist zunächst nicht weiter definiert.486 Die sieben Abschnitte des Textes tragen Überschriften, es handelt sich dabei um eher praktische Tätigkeiten: Anfangen, Beten, Helfen, Bezahlen, Bauen, Heiraten und Wählen. Es werden hier bewusst religiös konnotierte (Beten und Heiraten) als auch areligiöse Handlungen (Anfangen, Bezahlen, Bauen, (Heiraten) und Wählen) beschrieben. Teil I: Anfangen487 In den ersten vier Zeilen werden im wahrsten Sinne des Wortes die Fronten geklärt, der Chor der Gläubigen spricht sein Gegenüber direkt an: »Was glaubt ihr denn. Wer wir sind.«488 Die »ihr-wir«-Zuschreibung zieht sich durch den gesamten Aufbau des Textes. Obwohl das Publikum hier in der persönlicheren »ihr«-Form angeredet wird, wird doch unmittelbar eine Distanz erzeugt. Diese wird durch die auf mögliche Vorurteile abzielende Formulierung »was glaubt ihr denn« noch verstärkt. Zu Beginn richten sich die Fragen auf bestimmte Orte religiösen Lebens in der Stadt: »Was glaub ihr denn, wo es einen besseren Platz geben könnte. […] Wo wir uns treffen sollten. Wo wir euch begegnen wollen.«489

Dann folgen Passagen in denen die Vielfalt der Religionen innerhalb der Stadt München deutlich wird (S. 7–8), sowie Fragen, die auf das Bedrohungspotenzial der Religionen (S. 9) abzielen. Weiterhin werden alltagsnahe Dialogszenen beschrieben, die sich auf dem Marienplatz oder im Krankenhaus ereignen könnten.490 Nach zwei Dritteln des Textes schwängt der Dialog um, es wird nun nicht mehr das »ihr« des Publikums, sondern die Chormitglieder angesprochen. »Was

486 Im Buch werden die einzelnen Teile oder Kapitel jeweils von mehreren Bildseiten getrennt. Die Aufnahmen zeigen Details innerhalb religiöser Versammlungsstätten oder Außenfassaden. 487 Vgl. Bicker, Was glaubt ihr denn, 7–27. 488 A. a. O., 7. 489 Ebd. 490 Vgl. a. a. O., 12f.

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sagen die anderen eigentlich dazu.«491 Es folgt ein interreligiöses Gespräch, das zuerst einmal die Heterogenität der Gruppe problematisiert: »Wir können gar nicht mit einer Stimme sprechen. Wir dürfen gar nicht mit einer Stimme sprechen. Wir wollen gar nicht mit einer Stimme sprechen. Wir sprechen aber. Mit einer Stimme. Aber es klappt nicht. Nie klappt es. Wir sind doch kein Chor. Wir sind doch keine Mannschaft.«492

Erst zum Schluss hin wird wieder das außenstehende »ihr« adressiert und in leicht abgewandelter Form nach den Orten religiösen Lebens gefragt. Die individuellen Sprecherrollen (Architekt, Sozialarbeiter, DHL-Bote, Journalistin und Lehrerin) thematisieren in ihren Statements ganz unterschiedliche Berührungspunkte mit Religion. Teilweise sprechen sie aus persönlicher Perspektive, etwa aus der Rolle des Bruders (Architekt), teilweise aus ihrer beruflichen Perspektive (Sozialarbeiter). Bei der Mehrheit der Aussagen mischen sich allerdings persönliche und berufliche Erfahrungen. So schließt etwa, der DHLBote aus seiner eigenen Erfahrung, dass Religion, bzw. das Besuchen des baptistischen Gottesdienstes zu anstrengend sei, dass auch die berufliche Zusammenarbeit mit einem möglichen Anhänger der Sikh-Religion anstrengend werden könnte. Die Journalistin und die Lehrerin werden durch die beruflich bedingte Begegnung mit einer Angehörigen einer Religion zur Auseinandersetzung mit eigenen Vorstellungen und Positionen gezwungen. So zeigt sich in der Erzählung der Journalistin etwa eine Unsicherheit im Umgang mit jüdischem Leben, ob dies durch biographische Erlebnisse oder durch die geschichtlich-politische Sonderstellung der Juden in Deutschland bedingt ist, bleibt zunächst offen.493 Die Lehrerin kommt in Verlegenheit, da sie im Gespräch mit einer jungen Muslima ihre eigene Glaubenshaltung erklären soll.494 Es werden in den kurzen Abschnitten sowohl direkte Begegnungen mit Religion beschrieben, etwa als zentraler Gesprächsinhalt, als auch Situationen in denen das Religiöse nur indirekt, als ein äußerliches Merkmal, z. B. als Turban, sichtbar wird. Bereits in diesem ersten Teil wird ein ganzes Panorama von religiösem Leben in Alltagssituationen und städtischem Leben aufgespannt, das vielerlei Anknüpfungspunkte liefert. Die Anfragen des Chores hallen auch nach der Lektüre im inneren Ohr nach. Auch wenn es sich syntaktisch um gar keine Fragen handelt, alle Sätze sind mit einem Punkt versehen und kaum durch Konjunktionen 491 492 493 494

Bicker, Was glaubt ihr denn, 15. Ebd. Vgl. a. a. O., 25f. Vgl. a. a. O., 26f.

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verbunden. Es ist ebenso nicht ersichtlich, ob der Chor gemeinsam spricht, oder nur einzelne Choristen einen Part übernehmen. Teil II: Beten Die Struktur des ersten Teils wird hier beibehalten. Der Chor der gläubigen Bürger spricht hier jedoch wesentlich fokussierter zum vorgegebenen Themengebiet: Gebet. Dabei werden immer wieder auch Passagen eingebaut, die die Vielfalt der Betenden (»Bei uns beten Kroaten, Südafrikaner, Bolivianer, Azteken, Römer, Griechen, Russen, Zaren, […]«495) sowie die Vielfalt an Orten (»Wir treffen uns in der Landwehrstraße. In Schwabing. In Laim. In Bogenhausen. In Lehel. Im Olympiastadion. Kleine Halle. Große Halle. Zeltdach.«496) und an Ausführungsformen (»Ich schweige. Ich bete stumm. Ich bete laut. Ich bete allein. Wir beten zu zweit.«497) aufzählen. Dabei wird bewusst auch die Perspektive der »Ungläubigen« eingenommen und mögliche Ressentiments gegenüber den Gläubigen benannt und selbstbewusst zurückgewiesen. »Ihr sagt zu uns: Ihr seid alt. Ihr seid von gestern. Ihr seid schwach. Wir sagen: Begrabt eure Vernunft. Lasst eure Vernunft auferstehen. Bedenkt eure Vernunft.«498

Mit dem klassischen Gegensatzpaar von Glaube und Vernunft wird hier zunächst buchstäblich an die Debatte der Aufklärung angeknüpft. Der Nachsatz »Was glaubt ihr wer der Mensch ist« führt diese jedoch noch weiter in grundsätzliche anthropologische Fragestellungen: so folgt im Text darauf auch die Frage nach einem angemessenen Umgang mit dem wissenschaftlichen Fortschritt. »Ist der Fortschritt eine Frage der Vernunft. Ist der Fortschritt eine Frage der Unvernunft. Ist der Fortschritt eine Frage des Vertrauens. Wer schreitet voran. Wer ist der Vater des Fortschritts. Ist der Fortschritt böse.«499

Eine Antwort darauf bietet der Text nicht, es folgt jedoch eine abschließend wirkende Aussage, »Können wir uns darauf einigen, dass der Mensch kein Ding ist.« Wer dieses ausspricht ist unklar, es folgt darauf eine Anmerkung, die fast schon einem neutralen Erzähler zuzuordnen ist: »Und dann war Stille. Als er diesen Satz gesagt hatte, war Stille.«500 An dieser Stelle ist der Punkt erreicht, an 495 496 497 498 499 500

Bicker, Was glaubt ihr denn, 49. A. a. O., 40. A. a. O., 42. A. a. O., 43. A. a. O., 50f. Vgl. a. a. O., 51.

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dem der Text die Adressaten wechselt. Wie schon in Teil I scheint sich der Text im Folgenden an die einzelnen Mitglieder des Chores untereinander zu richten. Es wirkt fast so, als habe sich tatsächlich eine übergeordnete Instanz eingeschaltet und den Dialog gewendet. Untereinander geht es nun um Missstände in den verschiedenen Herkunftsländern und den Umgang mit dem wirtschaftlichen Ungleichgewicht. Darüber hinaus wird auch die Frage diskutiert, ob es sich bei dem Gespräch um Theologie handle: »Ich weiß auch nicht. Was wir sind. Wir reden nicht über Theologie. Wir reden hier nicht über Theologie. Das sollen die Gelehrten tun. Wir leben.«501

Das Thema Gebet spielt in den Sprechtexten der Individuen nur eine untergeordnete Rolle. Lediglich im Part des Architekten kommt es zur Sprache, allerdings auch nur indirekt, da es die Mutter des Sprechers ist, die über Gebetspraxis reflektiert502. Die anderen führen ihre Erzählungen weiter aus: so erhält die Journalistin Einblicke in die besondere Situation jüdischer Gläubiger die sich stets ihres »Erbes« bewusst zu sein scheinen und doch den Wunsch haben jegliche Täter-Opfer Zuschreibungen endgültig aufzulösen. Der DHL-Bote äußert im Gespräch mit dem neuen Mitarbeiter typische Vorurteile (»Ich hatte keine Ahnung, ob Lothar mich überhaupt versteht. Was ist das für ein Ding da auf deinem Kopf, […]. Du bist hoffentlich kein Taliban, habe ich gesagt. Der Bart sieht schwer verdächtig aus.«503) Im zweiten Teil wird deutlich, dass die fünf individuellen Sprecher als Repräsentanten für die Gruppe der »Ungläubigen« auftreten. Sie stehen somit dem Chor der gläubigen Bürger gegenüber, der ja bisher als Kollektiv aufgetreten ist. Die einzelnen Sprecher bieten jedoch, über ihre persönlichen Erfahrungsberichte gerade auch für das Publikum ein großes Identifikationspotenzial. Die Rollen scheinen so verteilt, dass sich sowohl Männer als auch Frauen, sowohl Akademiker als auch Nicht-Akademiker, Singles als auch Familien abgebildet finden. Die Erlebnisse und Erfahrungen sind solche, die theoretisch jeder in seinem Umfeld gemacht haben oder machen könnte. Die Schwelle, in die Auseinandersetzung einzutreten, wird somit enorm erleichtert. Wenn der Chor der gläubigen Bürger auch sehr stimmgewaltig und oft chaotisch und bewusst vielstimmig daherkommt, so bieten die individuellen Rollen feste Orientierungspunkte. Vor allem auch für Personen, die selbst keinen Bezug zu einer Religion für sich sehen. Die einzelnen Charaktere stehen einer 501 Bicker, Was glaubt ihr denn, 53. 502 Vgl. a. a. O., 56. 503 A. a. O., 59.

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eigenen Religiosität teils näher, der DHL-Bote und die (Religions-) Lehrerin, teils ferner, wie die Journalistin oder der Architekt. Teil III: Helfen Wie schon in Teil I und II wird die Grundstruktur des Textes beibehalten. Vieles wird nur knapp angerissen, es wirkt als würde alles »nur nebenbei« besprochen. Oftmals folgt schematisch eine Gegenrede (»Das könnt ihr doch nicht sagen.« »Doch. Das können wir.«504; »Mit eurem Gesetz nicht vereinbar. Mit eurem Gesetz vereinbar«, »Also wir machen das nicht«, »Wir auch nicht«, »Wir schon.«505) Themen flackern nur kurz auf, man hat den Eindruck, dass kein Gedanke wirklich zu Ende gedacht wird. Der Beginn wirkt so, als finde das Gespräch zunächst nur innerhalb des Chores statt. Es geht dort um die Sorge für Bedürftige: »Zu uns kommen die Beladenen. Die Verbrecher. Die Trinker.«506 Als ausführlicheres Beispiel wird die Haltung zu einem Arbeiterwohnheim für bulgarische Männer besprochen, die dort in scheinbar prekären Verhältnissen leben. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang, inwieweit jeder einzelne eine Verantwortung besitzt und inwieweit die Zugehörigkeit zu einer Religion die eigene Bereitschaft zu helfen beeinflusst. »Woran glauben die Bulgaren. Sollen wir sie mal fragen. […] Das ist deren eigene Schuld. Das ist nicht unserer Aufgabe. An was glauben die denn. Ach so. Dann sind wir nicht zuständig. Wer ist denn dann zuständig. Könnt ihr in die Köpfe, Herzen der Männer schauen. Sollen wir uns darum auch noch kümmern.«507

In solchen Passagen erinnert der Text an einen »Stream of Consciousness«, der Assoziationen und Anfragen eines heterogenen Kollektivs bündelt. Zudem werden wie »nebenbei« komplexe theologische Fragen aufgeworfen, wie die Frage nach Körper und Seele oder Sünde.508 Nach ca. zwei Dritteln richtet sich der Text an die Ungläubigen. Es werden Fragen gestellt, die die Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben ausweiten und auch auf die Gruppe der »NichtReligiösen« übertragen: »Was glaubt ihr, was wir denken, wie wir das schaffen können. Was glaubt ihr, wie wir das Verbrechen bekämpfen würden. Was glaubt ihr, welches Recht wir bevorzugen würden. Was glaubt ihr, wo ihr lebt.«509

504 505 506 507 508 509

Bicker, Was glaubt ihr denn, 72. A. a. O., 78. A. a. O., 71. A. a. O., 74. Vgl. A. a. O., 71f. A. a. O., 81.

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Hinzu kommt auch, dass sich im Text des Chores Verweise auf die individuellen Sprecherrollen finden lassen und somit beide Bereiche verbunden sind.510 Auch die individuellen Rollen weisen Verzahnungen auf, so wird etwa deutlich, dass die jüdische Gesprächspartnerin der Journalistin mit dem Architekten und seiner Schwester bekannt ist, welche wiederum als Gesprächspartnerin für eine Religionsstunde der Lehrerin angefragt worden war.511 Teil IV: Bezahlen Zunächst geht es um das klassische Bezahlen mit Geld, um das Spenden und finanzielle Mittel allgemein.512 Kurz darauf wird der Begriff jedoch ausgeweitet. »Wir denken über das Wort Schuld nach. Über das Wort Schulden. Hat Schuld etwas mit bezahlen zu tun. Hat bezahlen etwas mit Gefühlen zu tun. Hat bezahlen etwas mit Vernunft zu tun. Hat bezahlen etwas mit Bauen zu tun.«513

Im Folgenden wird der Umgang mit den Verbrechen der Nationalsozialisten thematisiert, dazu werden im Text vielfach kleine und größere Anspielungen untergebracht. »Als wir damals in der Zeitung gelesen haben, dass die Fußballnationalmannschaft Auschwitz besucht, da haben wir gefragt: Wer kommt mit. […] Ihr wisst nicht, dass viele von uns in den Lagern ermordet worden sind. Ihr wisst auch nicht, wie viel Juden in eurer Stadt leben. […] Ihr liebt uns nicht. Ihr habt unsere Vorfahren umgebracht. Wir sind trotzdem da. […] Warum muss man in diesem Land die Leute erst umbringen, um sie ehren zu können. Hat das was mit Religion zu tun.«514

Es handelt sich hier um deutliche Anschuldigungen. Die Adressaten scheinen, anders, als bisher zu beobachten war, nicht per se die Nicht-Glaubenden zu sein, sondern alle Deutschen, unabhängig von ihrer Religion. »Wir haben keine gemeinsame Vergangenheit, aber eine gemeinsame Verantwortung«515. »Ihr liebt uns nicht. Ihr habt unsere Vorfahren umgebracht.

510 511 512 513 514 515

Bicker, Was glaubt ihr denn, 84f. Vgl. a. a. O., 86. Vgl. a. a. O., 105f. A. a. O., 107. A. a. O., 107–109. A. a. O., 109.

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Wir sind trotzdem da. Und jetzt steht ihr hier neben uns und ruft: Wir glauben. Wir glauben an den einen Gott. Wir haben eine christlich-jüdische Tradition. Wir sind das Abendland. Wir sind nicht das Abendland.«516

Vor allem die Wortwahl der vorletzten beiden Sätze lässt hier jedoch auch an die Parolen der »Pegida517«-Bewegung denken, die sich oftmals auf ein christlichjüdisches Erbe berufen und sich für eine Verteidigung des sog. »Abendlandes« einsetzen. Weiterhin entsteht der Eindruck, als handle es sich nunmehr um einen Dialog zwischen Deutschen mit Migrationshintergrund und solchen ohne. »Ihr sagt immer noch: Unsere Väter, unsere Mütter. Die waren auch Opfer. Ihr sagt immer noch: Wer den ersten Stein wirft. Ihr sagt immer noch: Es waren nicht alle. Ihr sagt immer noch: Das waren unsere Großeltern. Das waren unsere Eltern. Das waren wir nicht. Du meinst das Kolonialismus-Ding. Du meinst das Nazi-Ding. Das hört nie auf. […] Wir fragen siebenmal nach der Schuld. Und ihr antwortet achtmal. Ihr habt das letzte Wort.«518

Darüber hinaus wird diese teils direkte, teils indirekte Thematisierung des Holocausts immer wieder durch finanzielle Anfragen unterbrochen. Es geht darum, wer den Moscheeneubau bezahlt, wer Schwimmbäder finanziert oder wie mit Schuldnern umgegangen wird. Im Vergleich zu den vorhergehenden Teilen wirkt dieses Kapitel inhaltlich stärker positioniert und drastischer in der Sprache. Eine Wiederholung der Erzählung der jungen jüdischen Frau, mit der die Journalistin im zweiten Teil spricht, wird in den Text des Chores mit aufgenommen und schafft eine weitere Überleitung zu den individuellen Sprecherrollen.519 Auch dort werden im Beitrag des Sozialarbeiters die Kolonialvergangenheit der Europäer sowie im Beitrag der Journalistin der Umgang mit jüdischem Leben in Deutschland aufgegriffen. Weiterhin fällt auf, dass die Erzählungen mehr und

516 Bicker, Was glaubt ihr denn, 108. 517 Pegida steht hier für »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«. Die Bewegung ist islamfeindlich. Vgl. URL: https://www.sueddeutsche.de/thema/Pegida (02. 06. 2020). 518 Bicker, Was glaubt ihr denn, 115. 519 Vgl. a. a. O., 117.

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mehr miteinander vernetzt werden und die Erlebnisse und Erfahrungen sich chronologisch überlagern. Teil V: Bauen Der fünfte Teil wird von der Frage geprägt, welchen Platz die Religionen in der Öffentlichkeit einnehmen und an welchen Orten sie sich präsentieren können. Eingeleitet wird der Abschnitt mit dem Beispiel des umstrittenen Kölner Moscheebaus.520 Die Situation in München wird diesbezüglich anders wahrgenommen: »Wir sind aber nicht in Köln. Wir sind in München. Und jetzt Schluss.«521

Hierbei prallen die Fronten von Religiösen und Nicht-Religiösen wieder starr aufeinander, ein Entgegenkommen wird oft nur vordergründig postuliert, letztendlich werden Vorurteile nicht abgebaut und Baugenehmigungen möglichst weit außerhalb der Zentren erteilt.522 Das Bemühen von Zusammengehörigkeit und Integration wirkt so realitätsfern: »Und dann schreit einer ganz laut: Jetzt unterscheidet doch nicht unentwegt zwischen euch und uns. Zwischen uns und euch. Wir sind eine Stadt. Wir sind eine Stimme. Wir sitzen in einem Boot. Wir sind ein Volk. Und dann ist Stille. Und alle sehen sich ratlos an. Und einer fängt an zu klatschen. Und keiner stimmt ein.«523

Problematisiert wird im weiteren Verlauf auch das Zusammenleben der Religionen miteinander. Als Beispiel benennt Bicker hier das Gebäude in der Münchner Machtlfingerstraße, indem nach eigenen Angaben rund acht verschiedene Religionen Räume angemietet haben.524 »Wir sind jetzt in der Machtlfingerstraße. Wir auch. Wir auch. Wir begegnen uns im Treppenhaus. Wir sind barfuß. Wir nicht. Viel zu kalt. […] Wir dürfen nicht rauchen. Wir rauchen. Es zieht nach oben. Der Rauch zieht nach oben in unseren Tempel. Das ist eine Katastrophe. Es ist wirklich so, dass wir nicht mit Rauch, Tabak, Alkohol in Berührung kommen dürfen. […] Wir schmieren Zeug in die Fugen. 520 Gemeint ist hier vermutlich der Bau der 2018 eingeweihten DITIB-Zentralmoschee in KölnEhrenfeld. 521 Bicker, Was glaubt ihr denn, 135. 522 Vgl. a. a. O., 137; 138. 523 A. a. O., 137. 524 A. a. O., 247.

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Wir kaufen kiloweise Silikon. Alles stinkt jetzt nach Silikon. Aber immer noch besser als Zigarettenqualm. Wir sagen, dass es uns stört. Ihr versteht es nicht.«525

Im Folgenden wird diskutiert, inwieweit die Gesellschaft verantwortlich gemacht werden kann, für solche Konflikte und welche Rechte eigentlich mit dem Recht auf Religionsfreiheit einhergehen. Der Text stößt hier eine allgemeine Debatte an, die sich aber oftmals an Fragen der Versammlungsmöglichkeiten der Religionsgemeinschaften kristallisiert. Es wird die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung ein angemessener Versammlungsort nicht nur für die Gottesdienste und Zeremonien der einzelnen Gruppen hat, sondern was er auch zur Akzeptanz und Repräsentanz innerhalb der Stadtgesellschaft beiträgt. Direkte Antworten bleiben, wie schon zuvor, aus. Der Text des Chores endet allerdings mit dem Statement einer jungen Frau, die sich aufgrund der abgeschiedenen Lage der Moschee in der Winterzeit nicht in der Lage sieht, die Moschee aufzusuchen. Den deutlichsten Bezug zur Thematik stellt die Lehrerin in ihrem Bericht her, die selbst ganz überrascht von den Aussagen der beiden in den Unterricht eingeladenen Muslime ist, die die Klasse direkt mit Vorurteilen konfrontieren: »Sehen so Terroristen aus? […] Vor der Moschee stehen immer zwei Autos und beobachten uns, haben sie gesagt. Polizei. Und auf Arbeit: Wenn wir denen erzählen, dass wir Moslems sind, dann sagen alle immer zuerst: Hoffentlich nicht IS.«526

Im Statement des DHL-Boten wird darüber hinaus die kritische Haltung einiger Migranten gegenüber dem deutschen Staat und der Gesellschaftsform offenkundig. Er berichtet von dem Gespräch mit dem neuen Mitarbeiter, der aus Indien geflüchtet war: »Aber jetzt bist du hier, habe ich gesagt. Hier bist du sicher. Demokratie, habe ich gesagt. Da hat er gelacht, als hätte ich gesagt, meine Oma arbeitet im Puff.«527 Beides scheint hier ineinander zu spielen, der Umgang mit Ressentiments und die Art und Weise wie sich Religion(en) in der Öffentlichkeit darstellen und welche Rolle sie im Erscheinungsbild der Stadt einnehmen. Sei es durch den Bau eines Gottes- oder Gebetshauses oder durch das Tragen eines Kopftuches, wie es in der Erzählung des Architekten der Fall ist.528 Teil VI: Heiraten Im Folgenden geht es nur zum Teil um die tatsächliche Eheschließung und die dazugehörenden Zeremonien in den jeweiligen Religionsgemeinschaften, auch wenn die Unterschiede und Vorurteile durchaus klar zur Sprache gebracht 525 526 527 528

Bicker, Was glaubt ihr denn, 143. A. a. O., 151. A. a. O., 150. Vgl. a. a. O., 108.

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werden.529 Es werden darüber hinaus auch das Eheleben und die Erziehung von Kindern thematisiert, an denen sich oftmals die eigentlichen Fragen der Religionsausübung spiegeln. »Ich hatte schon Freunde. […] Die hatten gar keinen Gott. Oder einen anderen. Und immer gab es Probleme. […] Allein schon sonntags. Aufstehen oder nicht aufstehen. Dahin gehen oder nicht dahin gehen. Alkohol. Zigaretten. Steuern. Beten. In der Bibel lesen. Die Feiertage kennen. Im Koran lesen. […] Wer das nicht kennt. Wer das nicht zu schätzen weiß. Die Kinder. Was sollen wir den Kindern sagen, wenn sie in die Schule gehen. […] Was sollen wir den Kindern sagen, wo sie beten sollen. […] Jeden Tag diese Grundsatzdiskussionen. Andere führen Krieg deswegen. Das brauche ich nicht. Nicht zu Hause. Mein Gott ist mein Gott. Dann doch lieber einer mit derselben Religion.«530

Von dem familiären Zusammenleben wird im Text mehr auch das Leben innerhalb der Gemeinden und die gesamte Gesellschaft in den Blick genommen. Es geht also um allgemeine Fragen des Zusammenlebens, sowohl in familiären, gemeindlichen und gesellschaftlichen Kontexten. Immer spielt der Umgang mit (religiösen) Differenzen und ein möglicher Umgang mit ihnen die zentrale Rolle. Vor allem scheint der Fokus mehr und mehr auf die Schwierigkeiten bei der Kommunikation untereinander sowie auf Fragen des Selbstverständnisses und der Identität des Chores der gläubigen Bürger gelegt zu werden. So heißt es etwa: »Es geht darum, dass wir glauben. Es geht nicht darum, was wir glauben.[…] Dass wir glauben, dass es etwas zu glauben gibt. Darin müssten wir uns doch einig sein.«531

Dabei ist über längere Abschnitte, z. B. bei der Frage des Alkoholgenusses nicht klar, ob es sich etwa um einen Dialog zwischen Christen und Muslimen oder zwischen Muslimen und Nicht-Gläubigen handelt.532 Auch hier werden Kommunikationsprobleme deutlich: »Ihr fragt viel zu viel. Ihr fragt die falschen Sachen. Ihr fragt ja gar nicht. Ihr wisst ja schon alles. Ihr fragt jedes Jahr die gleichen Sachen.«533

Hier wird fehlende Ernsthaftigkeit und eine unüberlegte Verwendung von hohlen Phrasen kritisiert. Beides ist für einen echten Dialog äußerst schädlich. Es scheint in manchen Passagen dieses Teils, aber auch in der grundlegenden 529 530 531 532 533

Vgl. Bicker, Was glaubt ihr denn, 167ff. A. a. O., 173f. A. a. O., 161f. Vgl. a. a. O., 162. A. a. O., 163.

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Struktur des Textes, gar so, als sei vor lauter Fragen kein Raum für die Antworten534. Als mögliche Folge kommt der Text im weiteren Verlauf auf das Stichwort der »Parallelgesellschaften« zu sprechen.535 In den individuellen Statements am Ende dieses vorletzten Teils wird immer klarer, dass die einzelnen Sprecher miteinander verbunden sind. So ist es die Journalistin, die die jüdische Freundin des Architekten interviewt. Auch der Sozialarbeiter ist mit dem Architekten befreundet. Die Lehrerin ist mit der Mutter des Architekten bekannt und der DHL-Bote war gemeinsam mit seinem neuen Mitarbeiter bei der Journalistin zuhause. Teil VII: Wählen Im letzten Abschnitt wird das Verhältnis von Politik und Religion thematisiert. Dabei spielen unterschiedliche Haltungen bspw. in den Herkunftsländern und in Deutschland eine Rolle536, sowie eine ungleiche Behandlung seitens der staatlichen Behörden.537 »Und ihr fragt ihn Sachen, die ihr euch selbst nicht fragt: Wenn Ihr Sohn schwul wäre. Wenn Ihr Sohn Alkohol trinken würde. Wenn Ihre Tochter. Wenn Ihre Frau. […] Und der Imam sagt jedes Mal die Wahrheit und ihr kriegt ganz rote Ohren und ihr versteht nicht, dass ihr ihn gerade verliert. Dass ihr den Imam als Freund verliert.«538 Und weiter heißt es: »Was glaubt ihr eigentlich, warum ihr euch schützen müsst. Warum ihr eure Verfassung schützen müsst. Mit so blöden Fragen. Mit Spitzeln. Mit Durchsuchungen. Warum glaubt ihr uns nicht. Was findet ihr gefährlich. Was findet ihr nicht gefährlich. Warum redet ihr nicht mit uns. Mit uns reden sie. Ihr seid ja auch das Abendland. Wir nicht.«539

Dieses grundlegende Misstrauen wird hier sowohl als Grenze zu den staatlichen Kräften als auch z. T. als Trennung zwischen den einzelnen religiösen Gruppen, etwa zwischen Christen und Muslimen, verstanden. Dieses Messen mit zweierlei Maß von Seiten des Staats, das hier kritisiert wird, wird so auch gegenüber 534 535 536 537 538 539

Vgl. Bicker, Was glaubt ihr denn, 162f. Das erste Mal wird der Begriff auf S. 174 verwendet. Vgl. a. a. O., 174f. Vgl. a. a. O., 199. Vgl. a. a. O., 202. A. a. O., 200. A. a. O., 205f.

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anderen religiösen Gruppen eingeklagt. Diese forderten oft »Frieden, Wohlstand, Ordnung, Sicherheit«540, jedoch nur für die eigene Gruppe und auf Kosten der anderen: »Scheiß Demokratie. Scheiß Opposition. Scheiß Hin und Her. Wir sind hier in Deutschland. Wir sind hier im christlich-jüdischen Abendland. Und nicht in. Und nicht in. Ich will hier keine Minarette sehen. Ich will hier keine Kopftücher sehen. Wir müssen alle retten. Wir müssen alle retten, die auf dem falschen Weg sind.«541

Die Konflikte, dies wird in diesem abschließenden Teil deutlich, liegen sowohl im inter-religiösen Bereich, als auch im religiös-säkularen Bereich. Zweimal wird der anfängliche Text aus dem ersten Teil wiederholt. Die Grundfragen bleiben die gleichen: »Was glaubt ihr denn, wer ihr seid. Was glaubt ihr denn, wer wir sind.«542 In den individuellen Sprechertexten werden dann ganz unterschiedliche Reaktionen auf die Fragen deutlich. Das Spektrum beginnt bei festen religiösen Überzeugungen (»Wir brauchen ein Ziel für unser Leben. Und mein Ziel ist es, das hat Leila gesagt ganz ruhig gesagt, mein Ziel ist es, Gottes Anweisungen zu befolgen.«543) über die Rolle der Religion als Identifikationsgrund (»Ich kann das nicht trennen. Meine Religion und mich selbst. Das ist nichts, was ich mir aussuche. Das bin ich.«544 »Dagegen kannst du nichts machen. Das ist wie eine Haut.«545) und ungläubiges Staunen (»Gottes Welt, hat er gesagt, Gottes Welt ist mir ein Rätsel. Ein absolutes Rätsel. Mir auch.«546). Auch Abgrenzung wird hier formuliert: »Aber diese Religionen stiften nur Streit. Sonst gar nichts.«547 Die Geschichten die hinter diesen Aussagen stehen, konnte der Leser über die einzelnen Teile des Textes größtenteils nachvollziehen, sodass die einzelnen Aussagen nicht für sich stehen, sondern per se über ihren Kontext wirken. Zunächst der Kontext der eigenen (biographischen) Erzählungen und zum anderen auch vor dem Hintergrund des Chores, der über seine sprachliche Wirkung und seine inhaltliche Bandbreite einen noch weiteren Rahmen aufspannt. So kommt, im Gegensatz zum Aufbau der anderen Teile, der Chor der gläubigen Bürger zum Schluss noch einmal zu Wort. In diesem Abschnitt ist von einem Traum die Rede, der vieles beinhaltet, aber vor allem von dem Motiv der Hoffnung getragen wird. Die Wortwahl erinnert hier stark an die berühmte Rede von Martin Luther King vom 28. 8. 1963, in der er seine »Vision einer neuen 540 Bicker, Was glaubt ihr denn, 201. 541 Ebd. Auch hier zeigt sich eine deutliche programmatische Nähe zu »Pegida« und auch der Partei »Alternative für Deutschland« (Afd). 542 A. a. O., 207; 219. 543 A. a. O., 213. 544 A. a. O., 209. 545 A. a. O., 211. 546 A. a. O., 209. 547 A. a. O., 212.

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Gesellschaft« beschreibt.548 »Der berühmt gewordene zweite Teil der Rede trug stärker die Züge einer eschatologischen Predigt. Zuerst bediente King sich des Leitmotivs ›Traum‹, um Inhalte zu entwickeln. Dann leitete er zur Verkündigung seiner Vision über.«549 »Ich träume von einer anderen Welt. Ich nicht. Ich auch nicht, Wir sind nicht naiv. Wir sind politisch. Wir nicht. Wir träumen. Und wir reden über unsere Träume. […] Ein schwebendes Haus der Träume. Ein unzerstörbares, schwebendes Haus der Träume.550 Das würden wir besuchen und wir würden die Träume nicht beschriften. Wir würden sie benetzen mit Hoffnung.«551

Der Rahmen wird so noch einmal, nämlich über die Realität hinaus, ausgeweitet. Hierbei werden auch negative Aussagen nicht aufgelöst, Gegenrede folgt auf Rede und auch diese Optionen werden stehen gelassen. »Es gibt immer einen, der nicht träumen kann.«552 Zusammenfassung Der Text stellt den Chor der gläubigen Bürger in den Dialog. Zum einen in einen internen Dialog, die vielen Vertreter der unterschiedlichen Glaubensrichtungen klären immer wieder ihre Standpunkte und fallen sich ins Wort. Zum anderen steht aber vor allem der Dialog noch »außen« im Zentrum von Bickers Text. Dieser richtet sich an die »Nicht-Glaubenden« oder die »Ungläubigen« ebenso wie an die Leserin oder den Leser. Es werden so zwei Konfliktfelder deutlich, die sich auch in der Themenwahl der Überschriften widerspiegeln. Vielfach geht es dabei aber auch um politische Problemfelder (Bauen, Wählen) und selbst bei den privateren Schwerpunkten schwingt eine starke gesellschaftliche Komponente 548 Vgl. Dietrich, Tobias: Martin Luther King. Paderborn 2008. 60. 549 A. a. O., 66. 550 Hier gibt es eine inhaltliche Nähe zur biblischen Vorstellung von der Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen. Vgl. Joh 14, 2f: » In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.« Auch die Aussagen »Dieses Haus hat so viele sonnige Zimmer. Es stehen tatsächlich so viele Zimmer zur Verfügung. Wir träumen vom endlosen Frieden.« (Bicker, Was glaubt ihr denn, 218.) würden diese eschatologische Deutung zulassen. 551 A. a. O., 216. 552 Bicker, Was glaubt ihr denn, 219.

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mit. Der Text ist durchgängig geprägt von Verweisen auf die aktuelle politische Situation in Deutschland, der Moscheebau in Köln, die Pegida-Bewegung und die Partei »Alternative für Deutschland« sind hier die prägnantesten. Die Themen werden allerdings nur »stichwortartig« benannt, es kommt zu keiner ausführlicheren inhaltlichen Auseinandersetzung. Ebenso soll eine bewusste Abgrenzung zur theologischen Debatte und zur Theologie im Allgemeinen erreicht werden. Gründe dafür werden nicht direkt benannt, es scheint aber, als sei dies eine bewusste Strategie. Nur so scheint der Text im Fluss bleiben zu können und seine Dynamik zu entfalten. Diese Dynamik kommt auch durch die spezielle sprachliche Gestaltung zustande. Die Sprache wirkt authentisch, oftmals werden auch derbe Begriffe oder flapsige Formulierungen genutzt, die Syntax ist stark reduziert. Der Stil des »Stream of Conciousness« und die oft seitenlangen Reihungen erzeugen diese Dynamik. Man hat tatsächlich den Eindruck, als redeten viele durcheinander. Der immer gleiche Aufbau der Sätze lässt viel Spielraum für die eigene Interpretation der Aussagen. So bleibt etwa für die Lesenden offen, wer was spricht. Man ist genötigt selbst zu entscheiden, ob es der gleiche Sprecher wie in der vorherigen Aussage ist oder ob sich eine neue Sprecherin einschaltet. Der Leser oder die Leserin selbst entscheiden damit über die Struktur und Wendung des Textes. Die individuellen Sprecherrollen stellen ein Gegengewicht zum Chor dar. Mit ihnen kann sich der Leser oder die Leserin identifizieren. Sie sind weiterhin ein Bindeglied zwischen individuellen und konkreten Begegnungen und Erfahrungen des Alltags und der komplexen und heterogenen Problemlage, die in ihrer Diffusität durch den Chor verkörpert wird. Zentral für Bickers Text ist, dass die Vielstimmigkeit bis zum Schluss erhalten bleibt und auch für den utopischen Blick in die Zukunft nicht aufgelöst wird. Es werden keine Versuche unternommen Spannungen aufzulösen oder Fragen hinreichend zu beantworten. Der Dialog bricht dennoch nicht ab, er scheint vielmehr dadurch stetig neu belebt zu werden. 3.2.2.3 Inszenierungsanalysen Für die Osnabrücker Aufführungen wurde das Material von Björn Bicker genutzt, aber frei interpretiert. Eine weitere Besonderheit stellt die Umsetzungen des Textes durch drei verschiedene Theatergruppen dar. Jede Gruppe inszeniert den Text so in einem neuen thematischen wie bühnenbildlichen Kontext.

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3.2.2.3.1 Urban Prayers Osnabrück I Ausgangshypothese Die verschiedenen Inszenierungen der »Urban Prayers« zeigen eine Auseinandersetzung und ein Ringen um ein gelingenderes Miteinander. Dieses Bemühen wird dabei als Teil von religiösem Leben inszeniert. Die Religionen weisen darin Züge auf, die den Figuren helfen über ihre Lebenswirklichkeit hinaus ihre Sehnsüchte und Erwartungen zu entfalten. Die Inszenierung des Jugendclubs Mania553 thematisiert das scheinbar problematische Verhältnis der Religionen zueinander, lenkt den Blick aber kontinuierlich auch auf die Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum. Neben der Klärung der Frage nach gesellschaftlichem Frieden wird zusammen mit den Zuschauern ausgelotet was »Alle zusammen« für eine (interreligiöse) Bedeutung hat. Beobachtungen zu den einzelnen Dominanten der Inszenierung a) Handlung und Struktur der Inszenierung Insgesamt zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler sind auf der Bühne zu sehen. Dabei handelt es sich um elf Teilnehmende eines Experiments und ihre Gastgeberin. Hinzu kommt die Sprecherrolle, die die Texte aus dem Off spricht. Einerseits treten die elf Teilnehmenden als Kollektiv auf, sie wurden alle für diese Aufgabe ausgewählt und sind als Gruppe verantwortlich. Die genauen Umstände bleiben unklar, im Laufe des Stücks wird erwähnt, dass alle eine Tätowierung besitzen, die sie als Gruppe definieren soll. Die Leiterin des Experiments bleibt außen vor, sie überbringt die Arbeitsaufträge und beaufsichtigt den Prozess. Andererseits steht jeder für sich und verkörpert eine individuelle Haltung zur Gruppe, zur Religion und zu der Frage nach dem friedlichen Zusammenleben der Religionen (»Welchen Weg müssen die Religionen einschlagen, um endlich friedlich miteinander zu existieren?«). Die Handlung spielt sich auf drei Ebenen ab: Zum einen gibt es eine Beziehung zwischen Zuschauenden und den Schauspielenden. Es werden direkte Fragen formuliert, die sich nicht nur an die Gegenüber auf der Bühne, sondern auch immer direkt an die Zuschauer richten. Dies kommt vor allem durch den unmittelbaren Stil des Textes, aber auch durch Mimik und Gestik der Akteure zustande. Hierbei kommen hauptsächlich Versatzstücke aus der Textgrundlage Bickers zum Einsatz.

553 Erarbeitet wurde diese Inszenierung vom Jugendclub Mania. Inszenierung und Konzept stammen von Simon Niemann.

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Auf einer zweiten Ebene wird die Handlung des Stücks erzählt: Elf junge Menschen sind ausgewählt worden, im Zuge eines Experiments die Frage nach Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens der drei monotheistischen Religionen zu liefern. Sie bilden eine Zweckgemeinschaft und werden dabei immer wieder von der Leiterin des Experiments kontrolliert. Am Ende ist keine Lösung erkennbar, die Situation hat jedoch dazu geführt, dass die Gruppe in Streitigkeiten verfällt und am Ende ein einzelner Teilnehmer isoliert wird. Er hatte zuvor dafür plädiert, kein gemeinsames Ergebnis zu präsentieren. Er wird daraufhin von der Gruppe aus dem Quader gestoßen und regelrecht von einem »Chor gegen den Widerständigen« niedergebrüllt. In der Abschlussszene wird der Quader von seinem ursprünglichen Ort entfernt und über dem am Boden liegenden gestülpt. Auf der Außenwand ist die Aufschrift zu erkennen: »Alle zusammen.« Ob dies als Schuldeingeständnis oder als Bestätigung des Gemeinschaftsgefühls zu werten ist, lässt das Stück offen. Auf einer dritten Ebene werden immer wieder von außen die Fragen nach Glaube und Religion eingespielt, diese führen die Beteiligten zu der eigentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Weiterhin offenbaren sich Einzelne, buchstäblich im Schutze der Dunkelheit, um Aussagen über ihr eigenes »Glaubensleben« zu machen und sich in kleineren Gruppen zu verständigen. Darüber hinaus üben Einzelne immer wieder Handlungen oder Rituale aus, wie das Händewaschen, Ausziehen der Schuhe oder Gebetshaltungen. Dies führt auch dazu, dass sich die Gruppe im Laufe der Zeit in Untergruppen aufspaltet: Es gibt jeweils drei die sich den Aussagen »Gott ist ersetzbar«, »Es gibt keinen Gott« und »Jeder hat seinen eigenen Gott« zuordnen. Der Struktur des Stücks scheinen hier unterschiedliche Definitionen von Gemeinschaft zugrunde zu liegen: Zum einen ist die Gemeinschaft die Gesamtheit aller Anwesenden, der Schauspieler und der Zuschauer, alle sind gleichermaßen angesprochen und betroffen (Ebene 1). Zum anderen stellen lediglich diejenigen die Gemeinschaft dar, die für die Gruppe der Probanden auserwählt worden sind (Ebene 2). Auch hier lässt sich noch weiter differenzieren, es wird nicht nur sichtbar gemacht, wer an einen Gott glaubt, sondern auch die Option des Unglaubens wird weiter ausgeflaggt (Ebene 3). Die Inszenierung wirft immer wieder Fragen nach der Bestimmung von Gemeinschaft auf. Was ist das Ziel, Homogenität oder Heterogenität der Meinungen, Freiheit oder eine stabile Ordnung? Diese gesellschaftlichen Fragen werden im Kontext des Stücks mit den Fragen nach Religion verbunden, die Ursprungsfrage nach dem friedlichen Zusammenleben der Religionen dient gleichsam als Vehikel um auch diese Fragen zu thematisieren. Die Gastgeberin des Experiments wirkt hier wie ein Bindeglied zwischen der Stimme aus dem Off und den Teilnehmern, ihre exponierte Stellung zwischen Empore und Bühne sowie auf der Kanzel lassen sie hier als Mittlerfigur

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oder Botengestalt erscheinen. Sie ist es auch, über die die einzelnen Gruppen miteinander verbunden werden, indem sie sowohl mit dem Publikum direkt als auch immanent mit den anderen Figuren kommuniziert. Der Bezug zum Titel »Alles was wir glauben mussten« bleibt weitgehend unklar. Er deutet hier auf die Fremdbestimmtheit durch eine Autorität hin. Ob damit die Abhängigkeit als Teilnehmer des Experiments gemeint ist oder die generelle Beeinflussung durch gesellschaftliche Konventionen oder religiöse Traditionen wird nicht ersichtlich. b) Bühnenbild Die Aufführung fand im Kircheninnenraum der Evangelisch-reformierten Jugendkirche (Klöntrupstraße 6) statt. Gespielt wurde hauptsächlich auf dem Holzboden vor der Kanzel. Die Decke ist abgehängt worden. Auf einem zweistufigen Podest unterhalb der Kanzel steht mittig ein Quader, der mit durchscheinender weißer Folie bespannt ist. In ihm sammeln sich während der Aufführung immer wieder die Darstellenden, gegen Ende dient er auch als Mitteilungsfläche, indem Fotos oder Beschriftungen auf der Bespannung hinzugefügt werden. Für was die Box hier steht ist schwer zu beschreiben, denkbar wäre die Funktion eines gemeinsamen Ursprungsortes, aus dem jeder kommt und in den jeder am Ende des Tages auch zurückkehren kann. Eine gemeinsame Basis auf die man zurückkommen kann, im übertragenden Sinne ließen sich auch hier Anspielungen auf der gesellschaftlichen Ebene finden, in dieser Hinsicht könnte der Quader etwa das Grundgesetz oder der dt. Staat sein. Dem Quader steht mit dem Holzaufbau der Kanzel eine nach oben spitz zulaufende Dreiecksfigur entgegen. Beide Formen unterscheiden sich deutlich, besitzen aber mit dem Boden der Empore die gleiche Grundlinie. Mittig an der Decke ist ein Kronleuchter aufgehängt. Dieser wirkt tatsächlich wie eine »Krone« auf der oberen Spitze des Dreiecks. Weiterhin wird auch die Empore miteinbezogen, sie dient der »Gastgeberin« des Experiments als Aufenthaltsort. Von dort steigt sie zu Beginn hinunter, um dann auf die Kanzel zu steigen und die Rahmenbedingungen des »Experiments« zu verkünden. Ort und Duktus ihres Auftretens erinnert hier an eine Predigt. Links vorne im Bühnenraum steht eine Blechwanne auf einem kleinen Podest, die Wanne ist mit Wasser und einigen Äpfeln gefüllt. Diese werden im ersten Drittel des Stücks von den Figuren herausgenommen und gegessen. Die Bühne wird abwechselnd in taghelles und dunkelblaues Licht getaucht. Im Tageslicht werden die Szenen gezeigt, die unmittelbar mit der Aufgabenstellung des Experiments im Zusammenhang stehen, bei Dunkelheit kommen immer wieder einzelne aus dem Quader und berichten von persönlichen Erfahrungen und Ansichten, dabei wird häufig auch auf den Text von Bicker zurückgegriffen. (»Ich kenne keinen Zweifel. Ich lache freundlich, wenn ich gefragt werde«; »Wir

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singen, wir singen laut jeden Tag«; »Wir sind das Abendland«; »Wir nicht.«) Der Chor-Charakter, der bei Bicker so stark ist, wird hier nur an vereinzelten Stellen deutlich, dann wenn die einzelnen Figuren durcheinanderreden. Die Zusammengehörigkeit der Figuren ergibt sich lediglich durch das Setting, es gibt keine übergreifenden äußerlich sichtbaren Merkmale554. Die Teilnehmenden tragen im Grunde Alltagskleidung und sind mit keinen religiösen Symbolen ausgestattet. Einige Figuren fallen durch besonders auffällige Kostüme auf: eine junge Frau mit roter Hose, ein junger Mann mit einem auffällig langen schwarzen Mantel, eine Frau im Hosenanzug und eine Frau, ebenfalls im schwarzen Anzug und orangefarbenen High-Heels, die aber als Gastgeberin des Experiments ohnehin eine Sonderrolle einnimmt. c) Textauswahl Die Inszenierung greift auf unterschiedliche Texte zurück. Zum einen findet Björn Bickers Text Verwendung. Am Anfang, zwischendurch und am Ende der Aufführung wird jeweils der erste Abschnitt des ersten Teils vom Sprecher vorgelesen. »Was glaub ihr denn. Was glaubt ihr denn. Wer wir sind. Was wir glauben. Was glaubt ihr denn. Wer wir sind. Wo wir wohnen. Wo wir arbeiten. Wo wir beten. Wo wir uns zeigen Wo wir uns verstecken. Was glaubt ihr denn, wo es einen besseren Platz geben könnte. Was glaubt ihr denn, wo wir nicht stören. Wo wir stören. Wo wir uns treffen sollten. Wo wir euch begegnen könnten. Wo wir euch begegnen wollen. Wo wir euch nicht begegnen wollen. Was glaubt ihr denn, wer ihr seid. Was glaubt ihr denn, wer wir sind.«555

554 Die Tätowierung wird nur erwähnt, sie ist nicht sichtbar für das Publikum. 555 Bicker, Was glaubt ihr denn, 7. Wenn der Aufführungstext der Vorlage von Bicker entspricht, so wird im Folgenden auf Bicker verwiesen, wenn der Text keiner Vorlage entspricht, so wird bei allen »Urban Prayers«-Analysen lediglich auf die Aufführung verwiesen, da keine schriftliche Textausgabe vorliegt.

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Hinzu kommen Abschnitte aus anderen Teilen des Textes, in der Hauptsache stammen die Texte aus »Anfangen I«, »Beten II« und aus »Wählen VII«. Es sind für die Inszenierung jeweils einzelne Passagen aus den Teilen ausgewählt worden.556 Gegen Ende des Stücks wird die prägnante Stelle aus dem siebten Teil über das Träumen gesprochen.557 Des Weiteren werden von der Gastgeberin wichtige Stellen aus den heiligen Schriften des Judentums, Christentums und des Islams rezitiert. Es werden dort folgende Stellen verlesen: »Ich bin dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.« (nach Ex 20,2–3)558 »Manchmal ist der böse Trieb wie ein Vorübergehender, dann wie ein Gast und zuletzt wie ein Hausherr.« Babylonischer Talmud, Sukka 52 »Dies ist eine Gemeinde der Vergangenheit. Ihr wird zuteil, was sie sich erworben hat und euch wird zuteil, was ihr euch erworben habt. Und ihr werdet nicht für das verantwortlich sein, was jene getan haben.« Sure 2, 134 »Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.« (nach Koh 3,1)

Die Zitate setzen hier unterschiedliche Schwerpunkte. Das erste Bibelzitat greift als erstes559 der zehn Gebote, eine grundsätzliche monotheistische Position560 auf. Auf dieser basiert die Problemkonstellation des Inszenierungszusammenhangs. Der zweite Bibeltext relativiert die Entwicklungen des Stücks, da die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt nicht von menschlicher Ebene beantwortet werden kann. Diese Reflexion über die Zeit kann sowohl zu einer positiven Einschätzung im Sinne von Ermutigung oder Entlastung der eigenen Verantwortung, aber auch zu einer negativen Einstellung im Sinne von Resignation führen.561 Beide biblischen Textverweise stammen hier aus dem Alten Testament. Es wird also eine gemeinsame Basis der drei monotheistischen Religionen aufrechterhalten. Es scheint als würden neutestamentliche oder gar christologische Bezüge im ge556 Siehe dazu etwa die Seiten: Bicker, Was glaubt ihr denn, 6f; 8; 11; 45; 47; 215f. 557 A. a. O., 216. 558 Es handelt sich bei der Formulierung der Inszenierung um eine Zusammenfassung der Verse Ex 20,2–3. Vgl. dazu Ex 20, 2–3: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« 559 In der christlichen Tradition wird dieses Gebot (Ex 20,3: »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben«) als das erste des Dekalogs aufgefasst, während es in der jüdischen Tradition bereits als zweites verstanden wird. Ex 20,3 wird als eigenständiges Gebot gezählt. Vgl. Dohmen, Christoph: Exodus 19–44. HThK AT. Freiburg 2004. 105. 560 Es zeigt sich streng genommen in dem Gebot ein Entwicklungsschritt zum endgültigen Monotheismus Israels, die Formulierung spricht nach Dohmen noch in einen Zustand der Monolatrie hinein. Vgl. a. a. O., 105. 561 Vgl. Birnbaum, Elisabeth; Schwienhorst-Schönberger, Ludger: Das Buch Kohelet. Neuer Stuttgarter Kommentar Altes Testament. Stuttgart 2012. 97.

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samten Stück vermieden. Die beiden mittleren Texte aus Talmud und Koran verdeutlichen hier ein Sündenbewusstsein, während der Talmudtext noch vor der Verfehlung warnt, bringt der Koran die Eigenverantwortlichkeit des Menschen ins Spiel. Die Passage bezieht sich hier auf den Übergang zwischen den vorhergehenden Religionen Abrahams, Judentum und Christentum, und der »neuen« Religion des Islams. Alle müssen sich unabhängig voneinander vor dem Endgericht für ihre Taten verantworten.562 Die Szene der »Sündenbekenntnisse« zu Beginn des Stücks bereitet diese Auseinandersetzung vor. Sie stellt hier eine gesonderte Situation dar, da sie zwar nicht aus dem Bicker Text stammt, aber im Stil dieses Textes gehalten ist und am deutlichsten in der gesamten Aufführung dem Chor-Charakter entspricht. Es heißt dort zunächst von der Leiterin: »Nur mit einem freien Geist und einem reinen Gewissen könne sie sich dieser Aufgabe stellen. Und nun, hören sie gut zu und bekennen sie«563. Bei dem Verweis auf das Gewissen zeigt die Leiterin bewusst auf die Wanne mit den Äpfeln. Darauf folgt erneut der Abschnitt »Was glaubt ihr denn« und dann beginnen die Teilnehmer nach und nach mit ihren Beichten. »Ich denke mehr an mich als an andere.« »Ich war mal Drogen abhängig.« »Ich habe mal einen Regenwurm gegessen.« […] »Ich glaube nicht an den einen Gott« »Ich setze meine Prioritäten falsch.« »Ich auch.« […] »Ich hab als Kind Spielzeug geklaut, weil mein Vater es mir nicht kaufen wollte.« »Ich hab mal was aus dem Kiosk geklaut.«564

Alle Statements beginnen mit »Ich«. Nur ein Teilnehmer entzieht sich diesem »Ritual«. Auf Nachfrage erwidert er: »Ich finde dieses Konzept von Sünde und Schuld und sich davon freizusprechen überhaupt nicht zeitgemäß. Das macht uns Menschen so schuldig und abhängig und misstrauisch und überhaupt, das ist alles voll christlich.«565 Dass hier bewusst mit dem Symbol des Sündenfalls ge562 Vgl. Schmitz, Bertram: Der Koran: Sure 2 »Die Kuh«. Ein religionshistorischer Kommentar. Stuttgart 2009. 191. 563 Aufführungstext. 564 Aufführungstext. 565 Aufführungstext.

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spielt wird, ist offensichtlich. Das Essen der verbotenen Frucht führt nach Gen 3 u. a. dazu, zu wissen »was gut und böse ist«566. Erst durch den Biss in den Apfel kommt also das Gewissen zum Einsatz und die Teilnehmer können der Aufforderung »zu bekennen« nachkommen. Diese Szene lässt sich auch mit der Schlussszene verbinden, die Aufschrift, die am Ende auf der Folie des Quaders zu lesen ist, (»Alle zusammen«) kann hier wiederum als Schuldbekenntnis verstanden werden. Darüber hinaus gibt es auch eigene Texte, die sich hauptsächlich auf das Setting des Stücks und die direkte Kommunikation der einzelnen Teilnehmenden beziehen. Damit verbinden sich oft kontroverse Diskussionen. Nicht selten kommt es zu Handgreiflichkeiten und tumultartigen Szenen. Teilweise werden darin aber auch komplexe Argumentationen verarbeitet, z. B. zum Thema Schöpfung: »Entweder hat Gott die Welt geschaffen oder er hat sie nicht geschaffen. Wenn Gott die Welt nicht geschaffen hat, hat die Welt ihren Ursprung in sich […]. Wenn Gott die Welt geschaffen hat, dann ist sie entweder ewig wie Gott oder sie hat einen Anfang. Wenn sie einen Anfang hat, dann bedeutet das, dass Gott sie zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen hat. Das heißt, er muss einmal tätig geworden sein, also muss er nachdem er eine Ewigkeit lang geruht hat, eine Veränderung durchgemacht haben. Aber dieses ganze Prinzip der Veränderung, also der Zeit spricht gegen das Wesen Gottes. Er kann die Welt nicht geschaffen haben. Es gibt keinen Gott, verstehst du?« »Schön und gut, aber was ist wenn die Schöpfung ewig ist?« »Dann…« »Dann ist die Schöpfung keine Schöpfung mehr, dann ist Gott in allem, in dir, in dir und in mir. Ihr müsst mir schon darin zustimmen, dass es nicht gerade majestätisch wäre, wenn Gott in jedem von uns Zahnschmerzen hätte oder die Grippe bekäme…« »Aber es muss doch einen Grund für alles geben…« »Das bestreitet auch keiner, aber wer sagt denn, dass dieser Grund Gott, also das Vollkommene ist. Hältst du diese Welt für vollkommen?«567 […]

3.2.2.3.2 Urban Prayers Osnabrück II Ausgangshypothese Im Stück »Doorways« vom Studierendenclub des Theaters Osnabrück werden individuelle Träume und Sehnsüchte im Kontext eines diffusen Wartezustands inszeniert. Der Traum und die Tür werden darin zu Metaphern für die Über566 Gen 3,5. 567 Aufführungstext.

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windung eines zermürbenden Alltags. Inwieweit die Religion hier aber einen Ausweg aus den individuellen Verstrickungen bereithält lässt die Inszenierung bewusst offen. Beobachtungen zu den einzelnen Dominanten der Inszenierung a) Handlung und Struktur der Inszenierung Die Inszenierung des Studierendenclubs zeigt eine Gruppe von Wartenden, die sich, während sie neben einer geschlossenen Tür sitzen, mit Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Glauben auseinandersetzt. Zu dieser Gruppe tritt im Laufe der Handlung ein Fremder hinzu. Der Dialog der Figuren wird immer wieder durch verschiedene Impulse unterbrochen. Am auffälligsten passiert dies durch einen lauten Signalton, der die Darsteller dazu veranlasst, ihren Sitzbereich auf der Bühne zu verlassen und sich in den vorderen Teil der Bühne zu begeben. Der Signalton ertönt insgesamt sechs Mal und führt dazu, dass die Darsteller geschlossen von links nach rechts schreiten oder sich in zwei Gruppen gegenüberstellen. Insgesamt drei Mal wird die Sprechzeit durch das Einspielen des Songs »Perfect Day« unterbrochen, dabei sitzen die Darstellenden ruhig und lethargisch auf oder neben den Stühlen auf der Bühne. Das Stück ist in zwei Teile, sowie in eine Anfangs- und Schlussszene gegliedert. Der Anfang und der Schluss bilden einen Rahmen, es wird dort auf die sog. Türhüterlegende568 von Franz Kafka Bezug genommen. Im ersten Teil des Stücks melden sich alle »Wartenden« einzeln zu ihrer Situation innerhalb des Raumes zu Wort. Dies geschieht auf ganz unterschiedlichen inhaltlichen Ebenen, meist aber als Monolog im Stil eines Stream of Conciousness. Grundsätzlich sind die Statements aber durch Angst, Unsicherheit und negative Haltungen gezeichnet. Am Ende kommt der Fremde zu Wort mit einem Text aus dem siebten Teil von »Was glaubt ihr denn«569 Daraufhin ertönt erneut das Lied »Perfect Day« und das Licht geht für eine kurze Weile aus. In der folgenden zweiten Hälfte des Stücks kommen alle Darsteller nun in gleicher Reihenfolge wieder zu Wort. Diesmal scheinen sie ihre Positionen allerdings verändert zu haben, auch die Texte zwischen den Wartenden und dem Fremden 568 Die korrekte Bezeichnung des Textes ist in der Literaturwissenschaft strittig, teilweise ist von Parabel oder Gleichnis die Rede. Kafka selbst bezeichnet den Text als Legende. Vgl. Voigts, Manfred: Von Türhütern und von Männern vom Lande. Traditionen und Quellen zu Kafkas »Vor dem Gesetz«. In: Voigts, Manfred (Hg.): Franz Kafka »Vor dem Gesetz«. Aufsätze und Materialien. Würzburg 1994. 105–122. 105. Sowie Binder, Hartmut: »Vor dem Gesetz«. Einführung in Kafkas Welt. Stuttgart/ Weimar 1993. 10; 36f. 569 Bicker, Was glaubt ihr denn, 215. »Ich sitze hier am Hauptbahnhof und spüre durch…drei Röcke, zwei Leggings und vier Unterhosen hindurch, dass die Kälte erbarmungslos ist. Auch bei euch.«

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werden zwischenzeitlich getauscht. Trotzdem wird weiterhin viel durcheinander und gegeneinander geredet. Vieles bleibt offen oder unkommentiert. Am Ende hat die Gruppe die Möglichkeit, die Tür zu durchschreiten, wagt es aber nicht. Wie schon in der Inszenierung zu »Alles was wir glauben mussten« unterscheiden sich die einzelnen Charaktere nur durch ihr Äußeres, es gibt keine Namen, Funktionen oder Beziehungskonstellationen mithilfe derer die einzelnen Personen zu identifizieren wären. Jeder bleibt im Grunde anonym und einer von vielen. Nur der Fremde ist durch seine Rolle von der Gruppe getrennt. In der Inszenierung wird das Thema des Glaubens mit dem Thema des Zusammenlebens und einer funktionierenden Gesellschaft verknüpft. Der Zustand, indem sich die Wartenden wiederfinden, scheint als belastend empfunden zu werden, Veränderung scheint aber durchaus möglich. Die Wartenden scheinen über das Bild der Tür und der Option des Traums, immer wieder selbst Distanz zu ihrer Realität gewinnen zu wollen. Was sich genau hinter der Tür verbirgt bleibt ebenso offen, ob es sich, wie im Prolog angedeutet um den Eingang in das Gesetz handelt, ist nicht klar. Als sich dann tatsächlich die Möglichkeit ergibt, Veränderung zu schaffen, bleibt diese ungenutzt. Es kommt zu keinem Austritt durch die geöffnete Tür und viele Fragen werden am Ende nicht beantwortet. Der Titel »Doorways«570 bleibt also eine bloße Option einer Richtung, die aber nicht eingeschlagen wird. b) Bühnenbild Das Bühnenbild ist recht schlicht gehalten und an die räumlichen Gegebenheiten des Aufführungsortes, in diesem Fall der Yeni Camii Moschee, angepasst. Gespielt wird auf einer kleinen Bühne, die über zwei Stufen von rechts zu betreten ist. Auf der Bühne befinden sich elf Stühle. Rechts neben der Bühne befindet sich eine weiße Tür. Der Hintergrund der Bühne ist ebenfalls weiß, während die übrigen Wände des Aufenthaltsraumes in hellblau gestrichen sind. Die Wartenden bewegen sich im Laufe des Stücks auf und vor der Bühne. Zu Beginn und am Ende des Stücks sind die Stühle im Rechteck angeordnet, wobei die dem Publikum zugewandte Seite freibleibt. Die Anordnung erinnert stark an einen Warteraum am Bahnhof oder Flughafen oder an ein Wartezimmer beim Arzt. Eine große Uhr an der linken Seite verstärkt diesen Eindruck. Die Stühle werden im weiteren Verlauf umgestellt und nicht mehr nur als Sitzgelegenheiten genutzt. Teilweise verbarrikadieren sich die Wartenden hinter ihnen oder steigen auf sie hinauf. Einzelne nehmen den Stuhl mit in den Bereich vor der Bühne. Der Türhüter verbringt den Großteil des Stücks vor der weißen Tür, er ist der einzige ohne Stuhl, er sitzt auf dem Boden. Jedes Mal, wenn der Signalton ertönt, 570 Der Begriff Doorway (engl. Eingang, Türöffnung) wird hier für den Titel eicht umgewandelt in Doorways.

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verlassen die Wartenden die Bühne und stellen sich entweder gegenüber oder auf einer Seite vor der Bühne auf. Dann schreiten sie im Gleichschritt von Seite zu Seite oder treten als Chor auf indem sie gemeinsam einen Text sprechen. Auf der Bühne wird hingegen jedes mehrstimmige Sprechen zur Kakophonie. c) Textauswahl Das Stück beginnt und endet mit Auszügen aus der Legende »Vor dem Gesetz« von Franz Kafka. Der Text wird jeweils in einer verkürzten und leicht abgeänderten Form vorgetragen571. Es handelt sich dabei um einen Text, der Teil des Kapitels »Der Dom« in Franz Kafkas Roman »Der Process« (1925) ist. Die Handlung wird dort von einem »Gefängniskaplan« erzählt.572 »Vor dem Gesetz steht ein Türhüter Und dann kommt ein Mann vom Lande… Der Mann bittet Einlass in das Gesetz… Der Türhüter sieht grausig aus, mit einem langen Bart und einer spitzen Nase Und antwortet jetzt nicht So wartet der Mann vom Lande Jahrelang Ewigkeiten Er sitzt auf einem Schemel neben der Tür und wartet Und mit der Zeit lassen alle seine Sinne nach Und er versucht den Türhüter zu bestechen Aber der Türhüter lässt sich nicht bestechen Und der Mann wird schon ganz verrückt Wird alt Altersschwach, und hat nur noch eine zittrige Stimme, mit der er fragt, mit der er diese letzte Frage stellt: Warum kommt in dieser ganzen Zeit niemand anderes und möchte Einlass?«573

Kafkas Erzählung bietet einen weiten Interpretationsrahmen, auch der Versuch einer theologischen Deutung bietet sich hier an.574 Manfred Voigt bringt die Figur

571 In der ersten Version wird der Eindruck erweckt, als entstünde die Parabel spontan in der Gruppe, der Text endet etwas anders: »aber habt ihr euch nicht mal gefragt, warum da gar kein anderer vorbeikommt? .warum denn jetzt? Der Türhüter muss ja eine Antwort darauf haben…wie wäre es, wenn er sagt, die Tür sei nur für ihn bestimmt…ja, das ist gut, mhm… ich gehe jetzt und schließe…« 572 Vgl. Engel, Manfred: Franz Kafka, Der Process. In: Kindlers Literatur Lexikon Online: www.kll-online.de (20. 04. 20). Ebenso ist der Text in »Ein Landarzt« unter dem Titel »Vor dem Gesetz« 1920 veröffentlicht worden. Vgl. Kafka, Franz: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. München/ Leipzig 2020. 49–56. 573 Vgl. Aufführungstext. 574 Binder, »Vor dem Gesetz«, 3. Einen motivgeschichlichen Überblick zu den verwendeten Topoi bietet Voigts in von Türhütern. 105–122.

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des Türhüters im Text mit den Wächtern des alttestamentlichen Paradieses zusammen.575 Dazu verweist er auf die Äußerung Kafkas selbst: »Für den Sündenfall gab es drei Strafmöglichkeiten: die mildeste war die tatsächliche, die Austreibung aus dem Paradies, die zweite: Zerstörung des Paradieses und die dritte – und dies wäre die schrecklichste Strafe gewesen – : Absperrung des ewigen Lebens und unveränderte Belassung alles anderen.«576

Voigts deutet die Legende als eine nicht einlösbare »Forderung nach Läuterung«577. Erlösung scheint somit im Verständnis des Textes nicht möglich. »Gerade weil der Läuterung heute keine Realität mehr entspricht, sind wir ganz auf das Gesetz zurückgeworfen, ein Gesetz das – unausdenkbar – ohne die Möglichkeit der Läuterung gedacht werden müßte.«578 Die Verknüpfung religiöser Sehnsucht nach ewigem Leben und einer Hoffnung auf das Paradies in Bezug auf die Legende scheint im Hinblick auf die Gesamtkonzeption der Inszenierung durchaus legitim. Auch wenn den einzelnen Elementen der Erzählung hier nicht interpretatorisch nachgegangen werden kann, so zeigt sich im Allgemeinen doch der Eindruck enttäuschter Hoffnungen. In Kafkas Text wird das Zurückgeworfen-Sein des Menschen in einem drastischen Motiv aufgezeigt und im Verlauf des Stücks immer wieder mit Bildern der Hoffnung kontrastiert. Im Hauptteil des Stücks wird auf konkrete Passagen aus Bickers Text »Was glaubt ihr denn« zurückgegriffen. Dies betrifft Passagen aus dem Anfangstext579 (»Was glaubt ihr denn, wer wir sind, was wir glauben. […] was glaubt ihr denn, wo es einen besseren Platz geben könnte,«) und vor allem aus dem Schlussabschnitt des siebten Teils in dem es inhaltlich um das Träumen geht »Wo steht ihr? Ähhhh Wer seid ihr? Wir träumen von Krieg Wir träumen von Krieg der Frieden bringt Wir träumen von Frieden Wir träumen von Frieden der keinen Krieg bringt Wir träumen doch nur Ich träume doch nur…«580 […] 575 Gen 3, 24. »Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.« Vgl. a. a. O., 109. 576 Kafka, Franz: Gesammelte Werke. Bd. 6. Brod, Max (Hg.): Taschenbuchausgabe in sieben Bänden. Frankfurt a. Main 1976. 77. 577 Voigts, Von Türhütern, 120. 578 A. a. O., 120. 579 Bicker, Was glaubt ihr denn, 7. 580 A. a. O., 217f.

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»Wir träumen doch nur, das ist unser Traum… und ihr sagt, träumt weiter«581

sowie eine Passage, die der Fremde spricht: »Ich sitze hier am Hauptbahnhof und spüre durch drei Röcke, zwei Leggings und vier Unterhosen hindurch, dass die Kälte erbarmungslos ist. Auch bei euch.«582 Die einzelnen Passagen sind in die Inszenierung versatzstückartig eingebunden. Das Motiv des Traums zieht sich auch durch nahezu alle Aussagen der Wartenden: »Ich träum von einer anderen Welt, einer besseren Welt… mit anderen Menschen, ohne Angst… aber es geht dich nichts an…mich geht auch nicht an, was ihr träumt, was ihr glaubt…wer bist du?…glaubt doch, was ihr wollt…« »[…] und mit geschlossenen Augen kann ich träumen, ich kann davon träumen, was mich hinter der Tür erwarten würde, vor der Realität fliehen, vor diesem Raum fliehen und mich in andere Welten träumen, in Welten hinter der Tür…mit geschlossenen Augen geht das…« »[…] denn schließlich sind Menschen gemacht um andere Menschen zu kontrollieren…in meinen Träumen habe ich die totale Gewalt über sie und kann sie hart bestrafen…«583

In den Traum werden sowohl positive als auch negative Optionen hineingelegt, in beiden Fällen dient er einer Veränderung und der Erfüllung innerster Wünsche. Hinzu kommt das Symbol der Tür, das zum einen bereits am Anfang durch die Erzählung vom Türhüter ins Spiel gebracht wird, aber ebenso auch in den einzelnen Statements immer wieder benannt wird. Sie dient sowohl als Schutz vor dem was hinter der Tür vermutet584 wird oder als Verbindung zu einer besseren Welt585. Die Textauswahl und das Traum-Motiv begünstigen hier einen utopischen Charakter der Inszenierung, der aber immer wieder mit dystopischen Elementen, wie der Türhüterlegende, gebrochen wird. Diese grundsätzliche Ambivalenz wird auch durch die direkten und indirekten Verweise auf Songtexte deutlich. Drei Mal wird das Lied »Perfect day« von Lou Reed eingespielt, es heißt dort u. a.: Oh, it’s such a perfect day I’m glad I spent it with you Oh, such a perfect day 581 582 583 584

Bicker, Was glaubt ihr denn, 218. A. a. O., 215. Vgl. Aufführungstext. »[…] die Tür schützt mich…ich habe Angst, draußen gibt es nur Kängurus…die Kängurus werden mich fangen und in ihre Beutel stopfen…die Tür muss zu bleiben, hier ist alles gut […]« 585 »[…]…. Ich muss hinter die Tür…die Tür ist alles, ich muss einfach nur durch und dann ist alles gut, ich muss dahinter […]«

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You just keep me hanging on You just keep me hanging on586

Darüber hinaus wird in den Statements zweimal der Ausdruck »Hurra, diese Welt geht unter« genannt. Hier wird auf einen Songtext von K.I.Z. verwiesen. Hinzu kommt eine Szene in der Mitte des Stücks, in der die Akteure im Regen zu Frank Sinatra’s »You’ll never walk alone« tanzen. Die Situation erinnert an ein Happening. Das Lied hat hier ermutigende Funktion und leitet so die zweite Hälfte des Stücks ein, in der die Figuren hoffnungsvoller und aktiver agieren. In den einzelnen Statements kommt es zu Aufforderungen, Veränderungen einzuleiten oder es zu wagen, durch die Tür zu gehen. Im letzten Drittel kommt es zu einem Rollentausch, der Fremde spricht den Text, den zuvor die Gruppe gesprochen hat, die Gruppe übernimmt den Part des Fremden: »DER FREMDE: Wir träumen davon, konkret zu werden…wir würden uns freuen, wenn wir einen neuen Staat errichten können…den Staat der Liebe….den Staat der reinen Seelen […] Ohne Moslems, ohne Christen, ohne Juden, ohne Sikhs und ohne Bahai…ohne diese ganzen Ungläubigen, ohne die, die an nichts glauben, ohne die, die nicht mal an sich selbst glauben…aber dann bleibt ja niemand mehr übrig…ist euch das schon mal aufgefallen…. ALLE: Ich sitze am Hauptbahnhof auf dem kalten Steinboden und spüre durch drei Röcke, zwei Leggings und vier Unterhosen, dass die Kälte erbarmungslos ist, auch hier bei euch… DER FREMDE: Wir träumen doch nur, das ist unser Traum und ihr sagt, träumt weiter. ALLE: Während ihr träumt, räumen wir auf. Träumt nur weiter…«587

Die ursprünglichen Positionen und Haltungen werden hier infrage gestellt und ad absurdum geführt, dass der Text des Fremden weiterhin im Plural formuliert ist verstärkt die Irritation. Die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft wird durch die Rolle des Fremden als weitere Anfrage in das Stück aufgenommen. Während der Fremde bis zum Ende des ersten Teils unbeachtet vor der geschlossenen Tür sitzt, wird er in der zweiten Hälfte zwischenzeitlich zum Teil der Gruppe. Die Beweggründe bleiben im Stück unklar, ebenso die Frage, ob der Fremde in einer Beziehung zu dem in der Einleitung erwähnten Türhüter steht. Ebenso wie Traum und Tür ziehen sich immer wieder Anspielungen auf den religiösen Glauben durch das Stück. Dabei ist stets allgemein von Gott oder Glauben die Rede. Dabei ist die Haltung »Menschen glauben an das, was sie sich 586 Songtext von Perfect Day (Trainspotting) © Sony/ATV Music Publishing LLC, BMG Rights Management. 587 Aufführungstext.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

wünschen« vorherrschend. In den einzelnen Passagen der Figuren wird dieser Satz insgesamt fünfmal wiederholt. Im zweiten Teil der Inszenierung scheint eine positivere Haltung gegenüber dem Glauben zu dominieren. »[…] Menschen glauben an das, was sie wünschen…daran glauben zu können, sich sehen zu können, sich einigen zu können, mit den anderen…mit der anderen Seite der Tür und mit der Tür dahinter…und mit den anderen durch die Tür zu schreiten…ganz ehrlich, es passen nicht alle durch alle Türen[…]« »[…] zu glauben ist schwer, nicht zu glauben ist unmöglich…die Menschen glauben fest an das, was sie sich wünschen […]« »Gott würfelt nicht, es hat alles irgendeinen Sinn, doch bleibt er mir meist verborgen… manchmal ist mir das egal…doch jetzt zum Beispiel ist es mir nicht egal…warum bin ich hier…«588

An vielen Stellen werden über das allgemeine »glauben« direkte religionsbezogene Begriffe oder Phrasen geäußert. »Gewölbe die Wasser zu trennen, Lichter, den Tag und die Nacht zu trennen.«589 »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst […]«590 »Gib mir den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und gebe mir die Gelassenheit Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.«591

An einer Stelle wird Bezug auf verschiedene heilige Schriften in ihrer Funktion als Gesetzgeber genommen: »[…] Koran, Bibel, Bund, Gesetz, Straßenverkehrsordnung, Telefonvertrag, Ehevertrag […] Regeln gebrochen…nach festen Regeln gelebt, aber am Ende nach ganz anderen Regeln bewertet […].«592

Während diese Formulierungen eher neutral verwendet werden, gibt es auch negative Äußerungen. Vor allem ein monotheistisches Gottesbild und der Nutzen der Religion für eine funktionierende Gemeinschaft wird in den Aussagen mehrfach hinterfragt: »[…], ich gehöre hier nicht her, das ist ein Fehler, dass ich hier bin…die sind nicht wie ich, die denken nicht wie ich…die glauben nicht wie ich, ich brauche Menschen, die an das gleiche glauben wie ich […]« »Nein, wir werden immer zuerst an uns selbst denken…und uns niemals eingestehen, dass unser Gott vielleicht doch nicht der richtige ist…Gibt es überhaupt den einen

588 589 590 591 592

Aufführungstext. Vgl. Gen 1,7. Vgl. Mk 12,29–31. Aufführungstext. Aufführungstext.

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richtigen? Natürlich nicht, aber statt das einzugestehen kloppen wir uns lieber die Köpfe ein…und warum? Weil wir Macht ausüben wollen…Wer glaubt ein Christ zu sein, nur weil er die Kirche besucht, irrt sich…ihr habt kein Auto, nur weil ihr in die Garage geht….das will natürlich niemand zugeben…Geld zur Konfirmation einzukassieren und dann der Kirche den Rücken zuzukehren…am liebsten würde ich der ganzen Welt den Rücken zukehren und mich auf eine einsame Insel zurückziehen…ohne mein Hab und Gut und ohne eine Religion und ohne diese ganzen Menschen…dann muss ich nicht mehr an diese falsche Welt hinter der Tür denken […]« »Es ist scheißegal woran man glaubt, ob es Glaube, Liebe, Hoffnung ist…was auch immer, jeder glaubt an irgendwas…[…]«593

Der Rahmen der Inszenierung ist zunächst durch die »Türhüter«-Parabel gesteckt. Verschiedene Elemente werden aber im Verlauf des Stücks indirekt vertieft. In der Inszenierung verbinden sich der Zustand des Wartens sowie individuelle Erwartungen und Fragen nach Gerechtigkeit und nach dem Sinn des Wartens. Auch eschatologische Momente schwingen dabei mit, häufig wird das »Paradies« erwähnt. Auch die Metapher der »Tür« oder »Türhüter« und das »Gesetz« können in einem christlichen Kontext verstanden werden.594 3.2.2.3.3 Urban Prayers Osnabrück III Ausgangshypothese Die Amigos Bandidos lassen in ihrer Interpretation des »Urban Prayers« Themas tatsächlich den Chor der Gläubigen sprechen. Es geht in dem fortlaufenden Dialog konkret um ein toleranteres Zusammenleben in der Stadt Osnabrück. Der interreligiöse Diskurs auf der Bühne wird so zum Vorbild für den gesellschaftlichen Austausch zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen. Beobachtungen zu den einzelnen Dominanten der Inszenierung a) Handlung und Struktur der Inszenierung Der Jugendclub Amigos Bandidos inszeniert unter dem Titel »Nach Babel – und noch weiter« einen informellen Kongress in Osnabrück, zu dem Vertreter der drei großen Weltreligionen zusammenkommen. Im Programmheft heißt es »Eine Gruppe von jungen gläubigen Menschen initiiert ein regionales Symposium, um der Frage nach Vereinbarkeit und Ausschließlichkeit der unter593 Aufführungstext. 594 Vgl. Gott als (Tür)hüter Israels Ps121,4: 127,1. Vgl. dazu Grimm, Werner: Art. Torhüter, Türhüter. In: Calwer Bibellexikon. Bd. 2. Betz, Otto; Ego, Beate, Grimm, Werner. 2. verb. Aufl. Stuttgart 2006. 13–66. 1366. Jesus als die Tür: Joh 10,9; Paradies als Umschreibung für das Leben nach dem Tod siehe Offb 2,7; 2Ko 12,2–4; Lk 23,43. Vgl dazu Schmitt, Art. Paradies. 1007.

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schiedlichen Glaubensrichtungen in der Stadt nachzugehen.«595 In dem Stück stehen sich drei Gruppen gegenüber, vier Muslime (erkennbar durch eine gelbe Kostümierung), vier Juden (erkennbar durch eine grüne Kostümierung) und fünf Christen (erkennbar durch eine rote Kostümierung). Eine vierzehnte Person ist nicht farbig gekleidet596, sie scheint eine neutrale Haltung zu verkörpern, repräsentiert aber zeitweise auch eine synkretistische Weltanschauung und ergreift immer wieder Partei für religiöse Minderheiten in Deutschland, z. B. Buddhisten. Der Titel »Nach Babel – und noch weiter« soll nach eigenen Angaben vor dem Hintergrund der Erzählung vom Turmbau zu Babel597, die Verständigung der unterschiedlichen Religionen aktualisieren.598 Das gegenseitige Verstehen ist hier von der rein sprachlichen Ebene zu lösen und auf gegenseitige Akzeptanz und Kooperation zu übertragen. Die Vertreter der Glaubensgemeinschaften beschäftigen sich im Verlauf des Stücks mit fünf »Tagesordnungspunkten« (»Glaube«, »Chor der Gläubigen«, »Beten«, »Bauen«, »Heiraten«599) diese werden in der Regel von einem Teilnehmer laut angekündigt und im Anschluss anhand von unterschiedlichen Statements aus der Gruppe diskutiert. Es kommt dabei zu Einschüben oder Zwischenszenen, die sich durch eine weitere Inszenierungsebene von der Inszenierung absetzen und die thematische Auseinandersetzung noch einmal verdichten. So werden z. B. eine »TV-Sendung« oder Szenen wie »die Frau vom Amt« nachgespielt. Einen größeren Einschub stellt die szenische Aufbereitung der Zerstörung der Osnabrücker Synagoge 1938 im Zuge des Tagesordnungspunktes »Bauen« dar. Die einzelnen Teilnehmer des Kongresses treten grundsätzlich als Kollektiv auf, entweder in ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft oder als Gruppe, als Chor der Gläubigen und stehen so im Diskurs mit der eher neutralen Teilnehmerin. Es kommt im Verlauf des Stücks aber auch zu Annäherungen zwischen den Gruppierungen, diese werden durch den Tausch von farblich markierten Kleidungsstücken deutlich gemacht. Das Stück endet mit der Frage nach der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, dazu rücken zunächst zwei männliche Teilnehmer ins Zentrum der Aufmerksamkeit, kurz darauf steht nur noch ein Teilnehmer allein in der Mitte. Er beendet die Auseinandersetzung zwischen den Gläubigen mit einem Zitat aus dem Text von Bicker: »Wenn er die 595 Theater Osnabrück, Programmheft »Urban Prayers: Nach Babel – und noch weiter«, Osnabrück 2017. 596 Sie trägt ein weißes oder schwarzes Kleid. 597 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Turmbau-Motiv im Kapitel 3.1. 598 Vgl. Theater Osnabrück, Programmheft »Urban Prayers: Nach Babel – und noch weiter«, Osnabrück 2017. 599 Diese Tagesordnungspunkte entsprechen den Abschnitten I, II, V und VI der Textvorlage. Ein abschließender Tagesordnungspunkt wird zwar eingeleitet, aber nicht benannt. Dort wird der Text über das Träumen aus Teil VII wiedergegeben. Vgl. Bicker, Was glaubt ihr denn, 215–219.

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Vielfalt nicht gewollt hätte, hätte er sie nicht geschaffen.«600 Daraufhin wird auf den letzten Tagesordnungspunkt verwiesen, dieser wird jedoch nicht direkt benannt, es geht dort um den Traum von einer besseren Gemeinschaft. Die Inszenierung endet mit der Frage: »Was glaubt ihr denn?« Auch in dieser Umsetzung des »Urban Prayers«-Thema geht es um das Zusammenleben der einzelnen Gläubigen und ihr Verhältnis zur Gesellschaft. Ähnlich wie schon in der Umsetzung von Mania wird hier der regionale Bezug zur Stadt Osnabrück dezidiert benannt. Vor allem unter dem Stichwort »Bauen« werden direkte Bezüge zur Situation in Osnabrück hergestellt. Insgesamt vermittelt die Inszenierung zwar ein kontroverses, aber auch ein hoffnungsvolles Bild des Zusammenlebens der Religionen: Diskussionen werden lautstark ausgetragen und aus jeder Perspektive gibt es Anlass sich in eine bessere Welt zu träumen, trotzdem scheint es dem Chor der Gläubigen zu gelingen, sich als Gemeinschaft zu verstehen. b) Bühnenbild Das Bühnenbild ist geprägt von den Farben Gelb, Grün und Rot. Die Aktuere zeigen so ihre Zugehörigkeit zu ihrer religiösen Gruppe. Muslimische Vertreter tragen Gelb, jüdische Grün und christliche Rot. Ob die Farben rein zufällig zugeteilt wurden oder ein Zusammenhang mit der jeweiligen Religion besteht, kann nicht geklärt werden. Die Farbe ist das gemeinsame äußere Merkmal der Gruppe, jeder Akteur für sich trägt ein individuell zusammengestelltes Outfit und kann sich so zumindest teilweise von allen anderen unterscheiden. Es gibt bis auf die Kippa der männlichen Darsteller keine religiösen Symbole. Das Tragen der Kippa hängt mit dem Aufführungsort zusammen, das Stück wurde in der Synagoge in der Barlage 41–43 gezeigt. Über der Bühnenfläche hängen zwei große Leuchter, das Stück wird bis auf eine Ausnahme vor einer Bühne gespielt. Zwischendurch wird auch der Zuschauerraum genutzt, so steigen z. B. Darstellerinnen auf Stühle um laute Ansagen zu machen oder Zuschauer werden direkt von den Darstellern angesprochen. Als wichtige Abgrenzungen und Werkzeuge der Raumgestaltung dienen drei große Kleiderstangen, die auf Rollen durch den Raum gefahren werden können. Es gibt jeweils eine Kleiderstange für jede Gruppe, die mit verschiedenen Kleidungsstücken in den jeweiligen Farben bestückt ist. Die Kleidung wird so zum dominierenden Element der Inszenierung. Sie ist gleichsam Symbol für Zusammengehörigkeit und Unterscheidung. Die Gruppe wird durch das gemeinsame Farbthema verbunden, die einzelnen Gruppen untereinander nur durch die Farben getrennt. Die Kleidung ist in der Regel das Medium mit dem man am unmittelbarsten mit seiner Umwelt kommuniziert. Ebenso zeugt sie von Ambivalenz: als kreativer Ausdruck der eigenen 600 Bicker, Was glaubt ihr denn, 180.

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Persönlichkeit und als Uniform, die alle gleich macht. Dieser zweite Aspekt wird vor allem in der Szene deutlich, in dem die Verfolgung der Juden und die Zerstörung der Synagoge gezeigt wird. Dort ziehen nach und nach alle Akteure schwarze lange Wollmäntel über, die keine Farben mehr zu erkennen geben. Die Inszenierung spielt mit diesen ambivalenten Eigenschaften und lässt die Akteure kontinuierlich einzelne Kleidungsstücke – auch und vor allem gruppenübergreifend – miteinander tauschen. In der Schlussszene werden die einzelnen Kleidungsstücke zu einem Haufen aufgetürmt. In der Mitte steht ein Vertreter des Judentums der zuvor eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingehen wollte. Während er von seinen Träumen spricht, fangen die anderen Gläubigen an, die Kleider von ihren Kleiderstangen zu nehmen und in die Mitte zu werfen. Diese Geste kann sowohl als Unterstützung als auch als Ablehnung verstanden werden. Es kommt so allerdings dazu, dass die trennenden Kleiderstangen aufgelöst werden und die Kleidungsstücke aller Religionen und Farben durchmischt werden. Es scheint als machten sich alle den Traum des Einzelnen zu eigen. Auch das Abschlussstatement deutet auf eine eher positive Rezeption hin, die Frage »Was glaubt ihr denn?« überlässt es jedoch jedem Zuschauenden selbst eine Antwort zu geben. c) Textauswahl Anders als die beiden vorherigen Umsetzungen bleibt die Inszenierung der Amigos Bandidos inhaltlich sehr nah an der Vorlage von Bicker. Es werden dazu drei der sieben Teile als »Tagesordnungspunkte« übernommen und jeweils mit den dafür zentralen Textabschnitten umgesetzt. Dabei bleibt der Chor-Charakter des Textes grundsätzlich erhalten. Teilweise werden die einzelnen Sequenzen gemeinsam, teilweise von Einzelnen der Gruppe abwechselnd vorgetragen. Es entsteht in jedem Fall ein Dialog, der dicht an dem jeweils aufgerufenen Thema bleibt, auch wenn ganz unterschiedliche Sichtweisen geäußert werden. »Wir sagen, ein Mann kann doch keinen Mann heiraten Wir sagen, warum denn nicht Wir sagen, eine Frau kann doch keine Frau heiraten Wir sagen, weil sie keine Kinder zeugen können Wir sagen, was haben denn die Kinder mit dem heiraten zu tun Wir sagen, es geht um die Familie Wir sagen, da geht es um alles Wir sagen, wenn wir keine Kinder mehr zeugen, dann sterben wir aus Wir sagen, wir sterben niemals aus, sie haben versucht uns umzubringen, unsere Großeltern, sie haben es nicht geschafft

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Wir sagen, aber Wir sagen, aber […]«601

Dabei treten sich die einzelnen Akteure als konkrete Anhänger ihrer Religion gegenüber. Es werden spezifische Meinungen, Haltungen und Gesten in der Inszenierung vorgestellt, etwa wie der Gestus des Priesters bei einer christlichen (katholischen) Trauung. In diesen szenischen Darstellungen werden die Rollen religionsübergreifend übernommen, d. h. eine grün gekleidete Person nimmt die Rolle des Priesters ein. Auf diese Weise treten die Unterschiede zwischen den drei Gruppen immer weiter in den Hintergrund. So geht die Inszenierung über die Vorlage hinaus: es spricht kein allgemeiner Chor der Gläubigen vor, sondern es spricht ein Chor der Monotheisten. Die drei großen in Deutschland vertretenen monotheistischen Religionen Islam, Christentum und Judentum werden als Gruppe den Andersgläubigen und den Nichtgläubigen gegenübergestellt. »Was glaubt ihr denn… Ihr glaubt an einen Gott Ja Ihr habt Gebete Ja Ihr seid abrahamitische Religionen Ja Ihr möchtet erlöst werden Ja Ihr verfolgtNein Doch Ihr wurdet und ihr werdet verfolgt Ja Ihr kennt Adam und Eva Ja Ihr habt für eure Religion gekämpft Ja Ihr habt einen allwissenden Gott Ja Ihr habt einen Körper und eine Seele Ja Ihr habt Propheten Ja Ihr glaubt an Heilige Bücher Ja Ihr sprecht euren Gott als Herrn an 601 Vgl. Aufführungstext.

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Ja Ihr glaubt nicht an Reinkarnation Nein Ihr seid Weltreligionen Ja Und zwar haben wir was gemeinsam, ein gemeinsames Buch: KoBiTo, Koran, Bibel, Tora.«602

Hier zeigt sich ein Selbstbewusstsein, das den Chor der Gläubigen die ganze Inszenierung über prägt. Diese selbstbewusste Haltung wird allerdings gemeinsam mit dem Eindruck, die Religionen seien ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft, immer wieder infrage gestellt. Es wird ein Spannungsfeld zwischen den Gläubigen und den Anderen aufgebaut. So zeigen sich die Gläubigen in einem Moment selbstsicher, im nächsten drängen sie darauf sich zu verstecken. Einerseits scheinen sie dazuzugehören, andererseits werden sie marginalisiert oder in ihren Ängsten von der Gesellschaft und den Behörden ignoriert. »Die Frau vom Amt« wird hier als personifizierte Bürokratie vorgestellt. »FRAU VOM AMT: Was ist mit dem Feuerschutz, was ist mit der Abwasserregelung… und was ist mit den Parkplätzen, jedes Gebäude das zur öffentlichen Nutzung freigegeben ist benötigt eine Mindestanzahl an Parkplätzen Fangt ihr schon wieder an mit euren Parkplätzen Nein sagt ihr, es geht nicht um Parkplätze, es geht um eure Sicherheit und die Sicherheit eurer Kinder, und um die Anwohner, um die Ängste der Anwohner…und was ist mit unseren Ängsten? Was ist mit der Angst, dass wir die nächsten sind…plötzlich geht es um unsere Sicherheit. Was ist, wenn da einer reinfährt und ne Bombe im Kofferraum hat, wer garantiert dann für eure Sicherheit? Dann würden wir sagen, die Bomben habt ihr doch uns in die Schuhe geschoben…Für Bomben sind wir doch normalerweise zuständig… FRAU VOM AMT: Das sagt ihr doch immer, aber es gibt Verordnungen, Erlässe, Beschlüsse, Gesetze, Anordnungen, es gibt Regeln, ich mach nur meine Arbeit.«603

Oftmals werden Passagen mit einem dezidiert regionalen Bezug aufgenommen, wie etwa der Teil in dem es um den Bau der Synagoge in der Barlage oder den Bau einer Moschee geht.

602 Vgl. Aufführungstext. 603 Vgl. Aufführungstext.

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»1967: Grundsteinlegung, genau hier, an diesem Ort, dieser Straße, am 1.6 1967 ist die Einweihung Wir haben gesagt, wir bauen dieses Haus dort, wo die Arbeit ist« […] »Können wir das Thema »Bauen« jetzt bitte schließen […] Wir können aber noch weitermachen, schließlich haben wir hier in Osnabrück keine richtige Moschee, ich meine kein wirklich imposantes Gebäude, wie der Dom.«604

Das Stück endet mit der bereits zitierten Traumsequenz und zeigt so eine wietere Facette des Spannungsfeldes Religion und Gesellschaft auf: Der Traum ist hier, wie auch in den anderen Inszenierungen der Urban Prayers das Vehikel der Realität etwas entgegenzusetzen. Im Traum zeigt sich das Potenzial der Religionen zur Weiterentwicklung und zur Optimierung des Zusammenlebens. »Und wenn ich einen Traum hab und einen Traum erzählen will, einen echten, einen Traum, den ich noch niemandem erzählt hab, den ich nicht aussprechen kann, unser ganzes Leben ist ein Traum, jeder Tag ist ein Traum, vllt. ein schlechter Traum, aber wir träumen und wir reden über unsere Träume, wenn wir unsere Träume aussprechen:«605

Hierin wird deutlich, dass damit keine rein utopische Vorstellung einhergeht, vielmehr schwingt die Option zu scheitern hier mit. Es scheint vielmehr die Hoffnung zu sein, die die Gläubigen hier zum Träumen bringt. Wer glaubt kann auch träumen. Die Frage an das Publikum »Was glaubt ihr denn?« ist somit nicht nur eine Aufforderung über die eigene Haltung zur Religion nachzudenken, sondern ebenso sich für ein gelungeneres Miteinander einzusetzen. 3.2.2.4 Werkimmanente Darstellung der Religion(en) Das Feld der Religion wird in den Inszenierungen der drei Osnabrücker Jugendclubs aus der Perspektive des gesellschaftlichen Lebens erschlossen. Die Frage nach dem Zusammenleben von Gläubigen und Nicht-Gläubigen wird dabei über die Frage nach dem interreligiösen Frieden gestellt. Gesellschaft ist hier nicht in einzeln ausgeprägten Sektoren wie Wissenschaft oder Kultur verstanden, sondern als konkretes Zusammenleben in der Stadt. Dem gegenübergestellt wird ein Verständnis von Religion, das ebenfalls dem Alltäglichen entnommen ist. Religion wird in solchen Kontexten sichtbar: an Kleidung, Bauwerken und Hochzeitsritualen. Hier wird sehr deutlich an die Textvorlage von Bicker angeknüpft, wenngleich der utopische Appell, der bei Bicker nur am Ende 604 Vgl. Aufführungstext. 605 Vgl. Aufführungstext.

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deutlich wird606, noch stärker herausgestellt wird. Welche Schwerpunkte jede einzelne Inszenierung vor diesem Hintergrund setzt und mit welchen Bildern die Beziehung zwischen Gesellschaft und Religion inszeniert wird, wird im Folgenden noch einmal zusammengefasst. Teil I: »Alles was wir glauben mussten« Bis auf einzelne Ausnahmen, wie das Essen der Äpfel, die Rezitation der heiligen Schriften oder einzelne Handlungen, z. B. Gebetsrituale, weist das erste Stück der »Urban Prayers«-Reihe wenig direkte religiöse Symbolik auf. Sowohl die übergeordnete Fragestellung als auch das Bühnenbild bilden jedoch einen deutlichen religiösen Rahmen. So werden die Bedingungen und das Ziel der Inszenierung festgeschrieben und die Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten regelrecht »erzwungen«. Dies geschieht stets in Verantwortung der Gruppe und vor dem Kontext ihrer gesellschaftlichen Bezogenheiten. Die Zusammensetzung der Gruppe scheint zunächst homogen, erst im Verlauf des Stückes kommen die unterschiedlichen Standpunkte zur und über die Religion(en) zum Vorschein. Diese werden zum Großteil über die Sprache sichtbar gemacht. Es finden sich keine äußerlichen Merkmale oder Verhaltensauffälligkeiten, die hier eine Zuordnung ermöglichen würden, die Einteilung erfolgt somit nicht über das Verhalten im öffentlichen Raum, sondern nur über die verbalen Äußerungen. In der Mitte des Stücks wird eine Einteilung der Gruppe vorgenommen, diese wird zusätzlich über die Anordnung von Fotos an der Außenwand des Quaders fixiert. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Differenzierung nach bestimmten weltanschaulichen Haltungen, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionen wird hier nicht dargestellt. Durch die übergeordneten Fragen nach dem Frieden zwischen den Religionen stuft die Inszenierung zunächst die religiöse Vielfalt als problematisch ein. Es wird, auch mithilfe von Verweisen auf verschiedene Konflikte, vorausgesetzt, dass es Schwierigkeiten gibt, wenn Angehörige verschiedener Religionen zusammenleben. An der inhaltlichen Lösung dieser Problematik scheitern die Teilnehmenden des Experiments. Es kommt hier lediglich zu einer Verfestigung der eigenen Positionen, das Festhalten an der eigenen Haltung allein und die Einstellung, man könne es dabei belassen, führen zu nichts. Das Problem bleibt somit bestehen, die fehlende Lösung fordert darüber hinaus ein »Opfer«. Ob sich aus diesem Schlusspunkt eher ein Appell an »Alle zusammen« zu einem besseren Handeln oder Resignation durch ein Schuldeingeständnis ergibt, müssen letztlich die Zuschauer 606 Vgl. dazu etwa die Gegenüberstellung von den Konflikten zwischen Gesellschaft und Religionsvertretern mit dem »Traum«-Motiv und den Anspielungen der »I have a dream«-Rede von Martin Luther King im Abschnitt VI »Wählen«. Vgl. Bicker, Was glaubt ihr denn?, 199– 219.

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entscheiden. Der Abschnitt über den Traum scheint hier eine Möglichkeit aufzuzeigen, die zwar noch nicht real ist, aber zumindest eine positive Zukunftsperspektive eröffnet. Die Inszenierung zeigt an einigen Punkten deutliche Kritik an dem Umgang der Gesellschaft mit religiöser Heterogenität. So scheint das Thema der religiösen Vielfalt von vornherein problematisch und als besonders konfliktanfällig bewertet zu werden. Vielfach spiegeln sich hier Vorurteile, falsche Annahmen oder fehlende Informationen. So wird den unwissenden Teilnehmern im Stück sowohl das Mitwirken als auch die Aufgabe von außen vorgegeben. Hinzu kommt, dass die Beschäftigung mit der Fragestellung »von oben herab«, im wahrsten Sinne des Wortes von der Kanzel, beaufsichtigt wird. Es kommt so zu einem mehr oder weniger impulshaften Austausch der Positionen. Die teils sehr emotionale Auseinandersetzung führt letztlich nur zu einer weiteren Aufspaltung in immer kleinere Gruppen. Im Unterschied zu der Vorlage von Bicker, gibt es in der Inszenierung keinen Chor der Gläubigen, diejenigen, die sich als Glaubende begreifen agieren nicht gemeinsam. Ein gemeinsam gesprochener Text kommt lediglich am Ende des Stücks vor, wenn die Gruppe sich gegen den »Widerständigen« zusammenschließt. Bickers »Chor der Gläubigen« hat sich in der Mania-Inszenierung auf einen »Chor gegen den Widerständigen« reduziert. Teil II: »Doorways« Religion scheint in der Inszenierung »Doorways« eine Nebenrolle zu spielen, sie wird an keiner Stelle explizit zum Thema gemacht, die Auseinandersetzung der einzelnen Charaktere damit erfolgt eher »nebenbei«. Trotzdem ist das Stück durch Begriffe und Motive geprägt, die zunächst allgemein Verwendung finden, gleichsam aber zentrale Bestandteile der monotheistischen Religionen sind. Es geht immer wieder um »Gesetz«, »Glaube« und die Vorstellung von einem besseren Leben oder einer besseren Welt, dem Paradies. Diese Motive sind für die einzelnen Sprecher jeweils sehr präsent, auch wenn jeder und jede individuelle Schwerpunkte zeigt und teils widersprüchliche oder ambivalente Haltungen einnimmt. Die Annahme »Menschen glauben an das, was sie sich wünschen« signalisiert ein Religionsverständnis, dass den Glauben zur Projektionsfläche menschlicher Bedürfnisse reduziert. Auch die Verbindung der beiden Begriffe »träumen« und »glauben« vermittelt den Eindruck, als wäre beides Mittel die Wirklichkeit zu relativieren. Eindrücklich ist zu sehen, dass sich bei einigen gerade das Verhältnis zum »Glauben« durch die Begegnung mit dem »Fremden« verändert. So heißt es zuvor bei der jungen Frau im bunten Shirt:

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»…Glaube ist nichts…es ist scheißegal woran du glaubst…Hurra, diese Welt geht jetzt unter…das Paradies, die Hoffnung, Gänseblümchen, Quitscheentchen, ein Lächeln…. Ich muss hinter die Tür…[…]«607

Später dann aber: »gib mir den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und gebe mir die Gelassenheit Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann […] und die Weisheit, das eine von dem anderen zu unterscheiden608…aus diesen Trümmern das Paradies, die Hoffnung, Gänseblümchen, Quitscheentchen, ein erster Sonnenstrahl, ein Lächeln….die Tür schützt mich…«609

Religion scheint für die Figuren ein selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft zu sein, teilweise problematisch, aber auch durchaus nützlich. Religiöse Haltungen gehen ebenso wie politische oder andere weltanschauliche Haltungen in die grundsätzliche Pluralität der Gesellschaft über. Der übergeordnete Kafkatext bringt einen zeitlosen, archaischen Überbau in diesen Kontext ein. Das verstörende Ende der Legende zeigt das Risiko enttäuschter Erwartungen und rückt religiös konnotierte Topoi wie »Gesetz« und »Paradies« in ein ambivalentes Verhältnis. Der Text scheint auf den ersten Blick nicht in das Setting zu passen, wirkt deplaziert und fremd, erst am Ende wird offenbar, dass gerade diese Fremdheit dem Stück die erforderliche Struktur gibt. Die Frage nach dem »Gesetz«, sei es eine religiöse oder individuelle Moralvorstellung, wirft die Charaktere auf die zentralen anthropologischen Erfahrungen zurück. Am Ende steht ein Aufruf zur individuellen Auseinandersetzung mit Erwartungen und Möglichkeiten im Rahmen der Sinnsuche oder Identitätsfindung. Die Religion bleibt dabei in der Inszenierung keinesfalls außen vor, sie stellt nicht weniger und nicht mehr als ein Angebot dar. Die letzte Sprecherin der Gruppe fast dies beispielhaft zusammen: »Gott würfelt nicht, es hat alles irgendeinen Sinn, doch bleibt er mir meist verborgen… manchmal ist mir das egal…doch jetzt zum Beispiel ist es mir nicht egal…warum bin ich hier? […]«610

Anders als bei Bicker spricht auch in der Inszenierung »Doorways« kein Chor der Gläubigen. Die Zugehörigkeit zu religiösen Gruppen wird nicht thematisiert. Für die Inszenierung wurden vielmehr die Elemente aufgegriffen, die sich mit den individuellen Erfahrungen der einzelnen Sprecherrollen verknüpfen. 607 Aufführungstext. 608 Hier findet sich z. T. der als »Gelassenheitsgebet« bekanntgewordene Text des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr. Teile des Textes gehen auch auf noch ältere Fragmente zurück. Vgl. dazu Luibl, Hans Jürgen: Das Gelassenheitsgebet. Anmerkungen zu einer Legende. In: Evangelische Theologie, 54,6. 519–535. 522f. 609 Vgl. Aufführungstext. 610 Vgl. Aufführungstext.

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Teil III: »Nach Babel – und noch weiter« Die Inszenierung »Nach Babel – und noch weiter« zeigt eine Gesellschaft, in der Religion im Plural besteht. Die Religionen sind im Vergleich zu den anderen beiden Inszenierungen sehr präsent, vor allem die Farbgebung wirkt hier plakativ. Konkret geht es um Religionen in ihrer gesellschaftlichen Ausprägung und in ihrer Relevanz für die soziale Gemeinschaft. Es geht um Religion in der Gestalt von Weltreligionen. Dabei bemüht sich die Darstellung um ein Gleichgewicht. Alle Religionen haben ungefähr gleichviele Mitglieder ( jeweils Vier repräsentieren das Judentum und den Islam, Fünf das Christentum, das hier aber konfessionsübergreifend gezeigt wird) und Sprechanteile. Gemeinsamkeiten und Trennendes werden gleichermaßen herausgestellt. Das Gemeinsame tritt vor allem in Abgrenzung zum säkularen Teil der Gesellschaft heraus. Trennendes zwischen den einzelnen Glaubensgemeinschaften wird entweder akzeptiert oder einzelne Gläubige partizipieren im Verlauf der Inszenierung an der Andersartigkeit des Gegenübers, was durch den Tausch von farbigen Kleidungsstücken deutlich wird. Zudem kommt ein ungehemmter Umgang mit negativen Zuschreibungen gegenüber den Gläubigen. Manches, was gesellschaftlich als politisch inkorrekt gilt, wird im Gespräch der Gläubigen offen thematisiert, wie das Gebet in der Synagoge für einen Cheeseburger oder der Vorwurf den Messias gekreuzigt zu haben. »Ich bete für Gemeinschaft Für Freiheit, für Gerechtigkeit, für Gleichheit, Familie, Kinderrechte… Für ein kühles Pils und einen richtig saftigen Cheeseburger… Das hast du jetzt nicht ernsthaft gesagt, oder?« […] »Wir sind übrigens eine friedliche Religion Und wir haben unseren Messias übrigens nicht gekillt Wir haben noch nie jemanden gekreuzigt Eigentlich ist unsere Religion auch friedliebend.«611

Trotz aller Auseinandersetzung steht am Ende die Hoffnung auf ein friedlicheres Zusammenleben der Menschen aller Weltanschauungen als gemeinsamer »Traum« der Religionen. Diese Utopie wird der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation gegenübergestellt. Damit dies nicht eine abstrakte Wunschvorstellung bleibt, stellt die Inszenierung die Aufforderung in einen konkreten regionalen Kontext, es geht um die Stadt, in der Darstellende und Publikum leben.

611 Vgl. Aufführungstext.

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3.2.2.5 Zusammenfassung Alle drei Inszenierungen der Jugendclubs setzen sich mit dem Verhältnis von Religionen und Gesellschaft auseinander. Dabei werden unterschiedliche Aspekte und Stufen der Beziehung beider Konzepte dargestellt. Allen Umsetzungen des Textes von Björn Bicker ist gemeinsam, dass stets die Frage nach einer besseren Welt, nach einem besseren Miteinander – sowohl interreligiös als auch zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen gestellt wird. Die einzelnen Stücke geben darauf unterschiedliche Antworten. Das Stück »Alles was wir glauben mussten« nimmt eine kritische Perspektive auf die Gemeinschaft ein, die einzelnen Akteure agieren und sprechen vereinzelt, es gibt keinen »Chor der Gläubigen«. Schon die Grundfrage der Inszenierung »Welchen Weg müssen die Religionen einschlagen, um endlich friedlich miteinander zu existieren?« setzt einen Blick von außerhalb und eine Problematisierung des interreligiösen Miteinanders voraus. Eine bessere Welt scheint am Schluss des Stücks nicht möglich. Das zweite Stück, »Doorways« verlegt die Sehnsucht nach einer besseren Welt weitestgehend in die Fantasie. Der Option, zu träumen, die im ersten Stück lediglich am Ende kurz aufscheint, ist in »Doorways« durchgehend präsent. Die Figuren befinden sich dort in einer Erwartungshaltung, Religion ist dabei für die Gruppe eine Nebensache, für die Einzelnen scheint sie aber von großer Bedeutung, der Glaube wird zur Projektionsfläche für die eigenen Wünsche. Die Verbindung von träumen und glauben vermittelt Hoffnung, eine bessere Welt scheint erreichbar, auch wenn am Ende niemand im Stück diesen Schritt geht. Das dritte Stück zeigt hier ein deutlich positiveres und produktiveres Bild der Religion in der Gesellschaft. Hier tritt dem Publikum tatsächlich ein »Chor der Gläubigen« entgegen. Die monotheistischen Religionen sind hier bereits ein akzeptierter Teil der Gesellschaft, obwohl Konflikte und gegenseitiges Unverständnis bestehen bleiben. Ihrer Lebenswelt, im Stück ganz konkret die Stadt Osnabrück, begegnen auch sie mit einem ganz konkreten Traum. In diesem Fall ist der Traum ihre gemeinsame Hoffnung auf ein friedlicheres Zusammenleben innerhalb der Stadt. Religiöser Glaube scheint zumindest bei der Frage nach einer besseren Welt für die Osnabrücker Theatergruppen eine wichtige Rolle einzunehmen, ob sie auch bei der Gestaltung hilfreich ist, lassen die Inszenierungen offen.

3.3

»San Paolo«

Das Musiktheater »San Paolo« (2018) basiert auf dem gleichnamigen Filmprojekt des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini. Dieser hatte bereits seit 1963 begonnen an dem Stück zu arbeiten, 1966 lieferte er dann den ersten Entwurf zu

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einem Drehbuch.612 Das Theater greift durch die Inszenierung des Stoffes die Idee Pasolinis auf und stellt sich so bewusst in eine Linie mit ihm und seinem Œuvre. Um nachvollziehen zu können, was das Theater Osnabrück dazu veranlasst hat, sich diesem ungewöhnlichen Stoff zu widmen und einen eigenen »Paolo« zu erschaffen, soll zunächst ein näherer Blick auf Pasolinis Paolo geworfen werden. Im Zuge dessen werden sowohl das Filmprojekt als auch der Drehbuchentwurf Pasolinis als Vorlage für die Inszenierung vorgestellt. Darauf aufbauend folgt die Analyse des Librettos als Theatertext und die Analyse der Inszenierung durch das Theater Osnabrück. Dabei tritt das Musiktheater vor allem dadurch hervor, dass es religiöse Differenzen im Umfeld gesellschaftlicher Kontexte in den Blick nimmt. Abschließend erfolgt ein zusammenfassender Überblick über die werkimmanente Darstellung der Religion, der das Stück als Quelle einer stetigen Irritation religiöser Vorstellungen erkennbar werden lässt.

3.3.1 Kontext des Musiktheaters 3.3.1.1 Ein Filmprojekt von Pier Paolo Pasolini Pasolinis Filmprojekt ist im Hinblick auf die filmische Rezeption des Paulus Stoffes herausragend. Sein Entwurf ist einzigartig darin, das Leben und Wirken des Paulus darzustellen. Vor allem im Vergleich zu anderen biblischen Protagonisten, z. B. Mose613, bietet die filmische Auseinandersetzung mit Paulus ein dürftiges Bild. Die als potentielle »Paulus-Filme« infrage kommenden Produktionen des 20. Jahrhunderts lassen sich an einer Hand abzählen.614 Für den deutschsprachigen Raum ist das Ergebnis noch schmaler615. Eine popular-kulturelle Paulus-Rezeption ist demnach nur sehr begrenzt zu erkennen. Es dominiert erwartungsgemäß eine theologische Debatte die Auseinandersetzung mit Paulus. Luca di Blasi beobachtet zudem, dass es gerade ab der zweiten Hälfte des 612 Vgl. Zwick, Reinhold; Reichardt, Dagmar (Hg.): Pasolini, Pier Paolo: Der heilige Paulus. Marburg 2007. 160. Zwick bietet in seiner Ausgabe »Der heilige Paulus« neben einer deutschen Übersetzung des Drehbuchfragments auch eine eigene Einführung zu Werk und Autor. Die übersetzten Originaltexte Pasolinis werden im Folgenden mit »Pasolini nach Zwick, Der heilige Paulus« gekennzeichnet. 613 Allein in den letzten 30 Jahren lassen sich hier zahlreiche Filme nennen: z. B. »Die Bibel – Moses« (1995), »Der Prinz von Ägypten« (1998), »Die Zehn Gebote« (2007), »Der Moses Code« (2009), »Exodus: Götter und Könige« (2014). 614 Zwick nennt hier folgende: »San Paolo«, italienische Produktion (1909); »St. Paul and the Centurion«, französische Produktion (1911) und »La chemien de Damas«, französische Produktion (1952). Sowie jeweils einzelne Szenen in den Filmen »Quo vadis« (1951) und »Die letzte Versuchung Christi« (1988). Vgl. Zwick, Der heilige Paulus, 158f. 615 Eine Schnittstelle stellt hier das 2007 von Zwick und Reichardt veröffentlichte Werk dar, indem die erste deutsche Übersetzung des Drehbuchentwurfs zu Pasolini vorgelegt wird.

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20. Jahrhunderts immer wieder auch allgemeines intellektuelles Interesse an der Figur des Paulus gegeben habe, z. B. von Alain Badiou oder Giorgio Agamben.616 Es sind hier hauptsächlich philosophische Perspektiven auf Paulus, die sich wie etwa bei Badiou mit den strukturellen Grundlagen paulinischer Denkart befassen.617 Pasolinis Interesse an Paulus war jedoch von viel elementarer Natur. Ihn schien weniger der philosophische Diskurs, sondern vielmehr eine irrationale interpersonale Verbundenheit zu motivieren618. Natürlich kommt auch er zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Leben und den Lehren des Paulus, ausschlaggebend schien aber die zutiefst empfundene Nähe zu dem Apostel. Diese besondere Art der Interaktion bündelt Pasolini in seinem Projekt »San Paolo«. In den Vorbemerkungen zu seinem Drehbuchentwurf verweist Pasolini auf die drei Stützpfeiler seines Film-Projektes. Es gehe ihm zuerst um die Unmittelbarkeit der Konfrontation mit der Figur des Paulus. Pasolini greift hierzu auf den biblischen Text zurück, legt Paulus die eigenen Worte in den Mund.619 Diese Vorgehensweise bleibt allerdings auf die Figur des Paulus beschränkt. Äußerungen und Fragen, die andere Figuren an Paulus richten, sind stets aus der Perspektive der Gegenwart formuliert.620 Es ergibt sich hier ein dialogisches Gefälle, das Pasolini bewusst als poetisches Mittel konstruiert. Für ihn ist es das Gefälle von »Aktualität und Heiligkeit«, das er so gegenüberzu616 Vgl. Di Blasi, Luca: One Devided by Another: Split and Conversion in Pasolini’s San Paolo. 189–208. In: Di Blasi, Luca; Gragnolati, Manuele; Holzhey, Christoph F. E. (Hg.). The Scandal of Self-Contradiction: Pasolini’s Multistable Subjectivities, Traditions, Geographies. Wien 2012. 189–208. 189. Vgl. dazu etwa: Badiou, Alain: Saint Paul. La fondation de l’universalisme. Paris 1997. Von Agamben siehe Agamben. Giorgio: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt am Main 2006 (ital. Originalausgabe 2000) sowie Paulusbezüge in zahlreichen anderen Werken. Einen ausführlichen Überblick bietet Strecker, Christian: Schwellendenken. Zur liminalen Philosophie und Pauluslektüre Giorgio Agambens. In: Strecker, Christian; Valentin, Joachim (Hg.): Paulus unter den Philosophen. Stuttgart 2013. 205–278. 617 Vgl. Heit, Alexander: Unendliche Unendlichkeit als Prinzip allen Seins. Alain Badious Paulusinterpretation vor dem Hintergrund seiner Ontologie und Ethik. In: Strecker, Christian; Valentin, Joachim (Hg.), Paulus unter den Philosophen. Stuttgart 2013. 178–198. 197f. »Paulus selbst sei allerdings in mehrfacher Hinsicht Begründer der universalen und unendlichen Vielfalt: Er denkt sie theoretisch, ereignet sich das Prinzip existenziell an, sodass es seinen Lebensgang bestimmt, und er trägt es durch sein Wirken in die Kultur ein.« A. a. O., 198. 618 Pasolini und der biblische Paulus wirkten zudem »geistesverwandt«. Der Pasolini Biograph Enzo Siciliano gibt darüber hinaus an, die Schriften und Artikel Pasolinis aus den 1970er Jahren mit den Paulusbriefen vergleichen zu wollen. Vgl. Pasolini nach Zwick, Der heilige Paulus, 168. 619 Vgl. a. a. O., 16. Die Herausstellung des biblischen Wortes trägt hier fast schon reformatorische Züge. Das selbstständige Lesen des Bibeltextes und der unmittelbare Zugang zum Wort Gottes gelten als Grundlage eines mündigen Christseins. 620 Vgl. a. a. O., 18.

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stellen versucht. Paradoxerweise sieht er gerade das Aktuelle in der Gefahr ins Mystische und Abstrakte zu verlaufen, während das Heilige dazu neige immer konkreter zu werden.621 Di Blasi spricht davon, dass Pasolini bewusst beides verbindet um den Eindruck ins Radikale zu steigern und zu irritieren.622 Die Aktualisierung des biblischen Stoffes ist die zentrale Idee des Films. »Warum sollte ich seine (Paulus’) irdische Lebensgeschichte in die heutige Zeit versetzen wollen?«, fragt Pasolini die Leser seiner Vorbemerkungen und antwortet zugleich: »Ganz einfach: um meinem Eindruck und meiner Überzeugung von ihrer Aktualität auf die direkteste und eindringlichste Weise cineastisch Ausdruck zu verleihen.«623 Pasolini selbst ist zutiefst davon überzeugt, dass das Leben und Schicksal des Paulus auch gegenwärtig relevant sei. Unsere Gesellschaft sei es schließlich, die er »beweint und liebt, die er bedroht und der er verzeiht, die er angreift und zugleich zärtlich umarmt.«624 Die Paulus-Figur bot ihm die Möglichkeit, auch selbst Stellung zu den religiösen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen seiner Zeit zu beziehen und sich daran abzuarbeiten625. Er baute hierzu mit Analogien und Transpositionen neue Kontexte in denen sich der antike Paulus bewegt. Ein Instrument ist die geographische und zeitliche Verlegung der Handlungsorte: so wird das antike Rom zu New York und Jerusalem zu Paris. Paulus reist anstelle des Mittelmeeres über den Atlantik.626 Die jeweiligen Orte wurden entsprechend ihrer Bedeutung für Kultur, Politik und Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts transpositioniert.627 Pasolini überträgt auch die religiösen Konformismen der Juden und Heiden in die Gegenwart. Parallelen zur antiken Gesellschaft sieht er in der gegenwärtigen Angepasstheit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber den religiösen Konventionen. Eine weitere Säule ist der Vollständigkeitsanspruch, den Pasolini verfolgt. Die Gesamtheit der paulinischen Biographie und Botschaft soll nach Möglichkeit abgebildet werden.628 Die Auswahl der Szenen erfolgte laut eigener Aussage mithilfe von Fachleuten.629 Schwerpunkte bilden auf den ersten Blick die zentralen biographischen Ereignisse des Paulus: seine Bekehrung, seine Berufung

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Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 18. Vgl. Di Blasi, One Diveded by Another, 191. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 16. Ebd. Vgl. a. a. O., 164. Vgl. a. a. O., 17. Vgl. a. a. O., 165. Zwick stellt im Anhang seiner Ausgabe des »Heiligen Paulus« eine detaillierte Übersicht über die verlegten Spielorte zur Verfügung. Vgl. a. a. O., 186f. 628 Vgl. a. a. O., 16. 629 Vgl. a. a. O., 18. Inwieweit Pasolini wirklich Theologen herangezogen hat, ist nicht zu belegen und scheint aufgrund seines angespannten Verhältnisses zur Institution Kirche fraglich.

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zur Predigttätigkeit und sein Tod.630 Das Drehbuch sei aber keine Paulus-Biographie im klassischen, historischen Sinne.631 Die Ereignisse der Apostelgeschichte nutzte Pasolini dabei als Rahmen für die inhaltlichen Botschaften des Paulus. Um sein Projekt umzusetzen, wandte sich Pasolini an die katholische Produktionsgesellschaft »Sampaolo Film«, erhielt jedoch eine Absage.632 In den darauffolgenden Jahren, bis 1974, überarbeitete Pasolini den Stoff mehrmals, immer in der Hoffnung, das Projekt doch noch realisieren zu können.633 Dazu kam es jedoch nicht. Lediglich das Drehbuch wurde 1977, nach Pasolinis Tod, veröffentlicht.634 Bereits 1964 hatte Pasolini schon einen anderen religiösen Stoff auf die Leinwand gebracht: das Matthäusevangelium. Laut Zwick stellt dies das »tiefste und künstlerisch reichste Zeugnis von Pasolinis lebenslanger Auseinandersetzung mit dem Christentum«635 dar. Ebenfalls in der Mitte der 1960er Jahre erarbeitete Pasolini sein sog. »mythisches Quartett« (die Filmprojekte »Edipo Re«, »Teorema«, »Porcile« und »Medea« ), in dem sich vor allem in den Werken »Teorema« und »Porcile« deutliche Paulus Anleihen finden lassen.636 Pasolini bearbeitete in seinen multiplen künstlerischen Werken Fragestellungen nach der Geschichte von Religionen, der Würde des Menschen sowie Passion und Tod.637 Dabei zeigt er immer wieder auch Gegensätze auf, die sich bewusst nicht auflösen lassen.638 Durch die Auseinandersetzungen mit diesen, teils biblischen, Motiven und die Leidenschaft für religiöse Figuren wie Paulus gelang es ihm, seinem Publikum auch die sinnstiftende Qualität dieser Narrative neu aufzu-

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Vgl. dazu v. a. Apg 9; 16–28. Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 164. Vgl. a. a. O., 161. Vgl. a. a. O., 162. Vgl. a. a. O., 7f. A. a. O., 160. Vgl. a. a. O., 161. Zwick sieht etwa in dem Film »Porcile« die paulinische Gnadentheorie verdeutlicht. Zwick schreibt: »Das Paulus-Projekt liefert gleichsam die Theorie zu einer Praxis der Gnade, die dann Porcile narrativ expliziert.« Zwick, Reinhold: Passion und Transformation: biblische Resonanzen in Pier Paolo Pasolinis mythischem Quartett. Marburg 2014, 254. Ebenso spiele der in Gal 5,1 formulierte Freiheitsgedanke eine Rolle. Zusätzlich gebe es Parallelen in der in beiden Filmen Kontinuität des NS sowie bei den Spielorten. Auch in »Teorema« arbeitete Pasolini eine Paulus-Szene ein. Dort wird Paulus in der Wüste wandernd parallel zum Volk Israel gezeigt. Das auch in »Porcile« verwendete Wüstenmotiv nimmt hier eine herausragende Rolle ein. Es repräsentiert zum einen den Ort für Theophanie schlechthin, zum anderen steht es für die innere Leere und Abgeschiedenheit des modernen Menschen. Vgl. a. a. O., 244–254. 637 Vgl. a. a. O., 257. 638 Vgl. Di Blasi et al., Introduction, The Scandal of Self-Contradiction, 9. Hier wird auch der Begriff der ›multistability‹ gebraucht, der laut di Blasi zentral für das Œuvre Pasolinis’ ist. Vgl. ebd.

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zeigen.639 Damit zeigt sich exemplarisch eine Tendenz, die für das gesamte sog. Autorenkino640 der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu konstatieren ist. Insbesondere im franz. und ital. Kino wurde auf religiöse Symbolsysteme rekurriert. Franziska Andraschick spricht im Anschluss an Böhm von spezifischen »Sakralisierungsstrategien«641. Bestandteil dieser Strategien sei eine »spannungsvolle Simultanität«, die sich durch die Existenz religiöser Motive in realitätsnahen Filmen ergebe.642 Vor allem bei Pasolini, aber auch bei anderen komme es zu einer »Heiligung des Profanen und der Profanation des Heiligen«.643 Bei Pasolini habe diese Polarität auch mit der Verwirklichung einer Utopie zu tun, das bürgerliche System mit seinen konformierenden und zentralisierenden Tendenzen zu überwinden.644 Pasolinis zahlreichen politischen und gesellschaftskritischen Texten sei vor allem auch eine Warnung vor dem Verfall von Kultur und dem Verlust von Traditionen zu entnehmen.645 Als Gegenbewegung 639 Vgl. Zwick, Passion und Transformation, 10. Diese »intellektuelle-künstlerische Beschäftigung« mit Religion und die persönliche Spiritualität Pasolinis blieb laut Zwick jahrzehntelang unbeachtet in Forschung und Rezeption. Vgl. a. a. O., 13. 640 Pasolini verfolgte ganz bewusst das Konzept eines Autorenkinos. Für ihn war damit eine ganzheitliche Kontrolle gegeben, die den Film zu seinem ganz subjektiven Ausdruck werden ließ. Vgl. Schweitzer, Pasolini, 71. 641 Vgl. Andraschick, Franziska: La nostalgia del sacro: Die Poetik von Pier Paolo Pasolini im Spannungsfeld von Heiligem und Profanem. Frankfurt am Main 2017. 11. Der Begriff wurde erstmals von Nadine Christina Böhm in ihrem Werk »Sakrales Sehen. Strategien der Sakralisierung im Kino der Jahrtausendwende«, Bielefeld 2009, erläutert. Andraschick beschreibt das Zurückgreifen auf diese Strategien als zentrales Element der Ästhetik Pasolinis: »Es ist hierin gleichsam der Impetus beschrieben, aus dem sich eine Ästhetik fortentwickelt, die Erfahrungen und Strategien aus verschiedenen Referenzsystemen übernimmt, um sich auf die Suche nach neuen Darstellungsmodi zu machen und um eine alternative Form zu veranschaulichen.« A. a. O., 56. Für Pasolini bedeuten diese neuen Ausdrucksformen dann das jeweilige Extreme, das außerhalb der Norm liegende. Vgl. ebd. 642 Vgl. a. a. O., 13. 643 Ebd. In der Vielzahl seiner Werke war Pasolini bestrebt das sog. Profane zu transzendieren. Bei der Verfilmung des Matthäusevangeliums jedoch kehrt er sein Verfahren um. Das »Heilige«, das durch den biblischen Stoff praktisch schon vorhanden ist, soll nun in menschliche Kontexte, in die Realität übertragen werden. Vgl. a. a. O., 182. Tendenzen dieser Beobachtung lassen sich auch beim Paulus-Stoff nachweisen, wobei es sich hier eher um eine Verflechtung beider Perspektiven handelt: Der heilige »Nimbus« des Paulus wird als profanes Machtstreben entlarvt, der revolutionäre Eifer als ursprüngliches Instrument zur Transzendenz des Menschen herausgestellt. Schon im Titel wird angedeutet, dass es sich bei Paulus um einen Heiligen handelt. Dieses Attribut wird durch die Auseinandersetzung des Films infrage gestellt. 644 Vgl. a. a. O., 15. Die stattfindende Homogenisierung bezog Pasolini größtenteils auf die gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung Italiens, aber auch auf die italienische Sprache. Vgl. a. a. O., 50ff. Ebenso richtete sich die Kritik Pasolinis gegen die Kirche. Er bemängelte den fehlenden Widerstand gegen die oben genannten Tendenzen und das Ausbleiben reformatorischer Bestrebungen. Vgl. a. a. O., 59f. 645 Vgl. a. a. O., 25. »Sie beschreiben einen verheerenden kulturellen Verfall, den Verlust von Traditionen, von Diversitäten und sozialer Zusammengehörigkeit. Moderne wird neben der

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versuchte er in seinen künstlerischen Werken immer wieder das »Andere«, das »Diverse« und »Heterogene« sowie das »Ursprüngliche« zu etablieren.646 Andraschick schließt sich hier der Bewertung Bernhard Groß’ an und beschreibt die besondere Ästhetik Pasolinis als eine »Ästhetik, die auf Heterogenität fußt«647. Das Heterogene ist dabei bei Pasolini als Gegenpart zu der von ihm wahrgenommenen und stark kritisierten soziokulturellen Homogenisierungstendenzen seiner Zeit, im Zuge derer es auch zu einer kulturellen Einschränkung kommt. Das Ursprüngliche stellt für ihn den vorherigen Idealzustand dar. Pasolini gelangt mit seiner (Bild)-Sprache dadurch immer wieder ins Extreme. Laut Helga Finter648 ist dies das Mittel für Pasolini auch in den Raum des »Heiligen« vorzustoßen.649 Dass seine Figuren teils heilige Züge tragen, teils selbst als Heilige auftreten, mache erst möglich, dass diese überhaupt das Publikum ansprächen. »[D]ie Transformation zur mythisch überhöhten Figur«650 ist daher für Pasolini das Instrument der Kommunikation mit den Zuschauenden. Otto Schweitzer wertet das Mythische als Realitätsbezug Pasolinis: »Das eigentlich Mythische an diesen mythologischen Filmen der späten sechziger Jahre ist, daß Pasolini sie keineswegs als bebilderte Vergangenheit, sondern als Gegenwart begreift, als blutige Kämpfe, in denen unser heutiges Schicksal besiegelt wurde: die Gegenwart gründet darin.«651

Das vorliegende Material, der posthum veröffentlichte Entwurf zum Drehbuch, original in italienischer, später dann in übersetzter Form, trägt grundlegend fragmentarische Züge. Oftmals sind die Beschreibungen vage und bieten einigen Interpretationsspielraum. Vieles scheint Pasolini auch bewusst offen zu lassen, wie etwa die genauen Drehorte oder situative Kontexte.652 Teilweise gibt es ganze

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genannten Entfremdung zum Inbegriff der ›Totalität des Kapitals‹, welches nach Pasolini soziale Strukturen dem Tauschwert der Ware unterordnet und eine ideelle wie gesellschaftliche Homogenisierung bedeutet.« Ebd. Insbesondere sei hier auf die 1975 erschienene Aufsatzsammlung »Scritti corsari« verwiesen. Vgl. Andraschick, Die Poetik, 17. A. a. O., 16. Vgl. auch Groß, Bernhard: Pier Paolo Pasolini. Figuration des Sprechens. Berlin 2008. Finter, Helga: »San Pier Paolo oder ›Alles ist Paradies in der Hölle‹ (Sade). Über Pier Paolo Pasolini«. In: Heinrichs, Hans-Jürgen (Hrsg.): Der Körper und seine Sprachen. Frankfurt am Main 1989. 61–91. Hier: S. 73. Zitiert nach Andraschick, Die Poetik, 62. Pasolini prägt darüber hinaus den Begriff der »technischen Sakralität«. Schweitzer, Otto: Pasolini. Hamburg 1986. 72. Er verweist dazu auf den Begriff der Religiosität. Diese definiert Pasolini als spezifische Art und Weise »auf die Welt zu sehen«. Die technischen Mittel der Kameraführung bietet ihm die Möglichkeit – beispielsweise auch als ungläubige Person, wie er später zum Matthäusevangelium ausführt- durch die Kamera die Perspektive eines Gläubigen einzunehmen. Vgl. ebd. Andraschick, Die Poetik, 62. Schweitzer, Pasolini, 105. Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 25; 27 etc.

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Abschnitte, in denen Szenen sequenzartig aufeinanderfolgen, in denen keine Dialoge auftreten. Generell scheint der Umgang mit dem gesprochenen Wort auffällig rar.653 Ebenso scheint die Vertonung hinter den Bildern zurückzubleiben, so plant Pasolini erstmalig für die Szene 17 eine musikalische Untermalung.654 Es handelt sich dabei um ein sog. Revolutionslied. Als Kontrast dazu kommt in den Szenen 45 und 68 dann sog. sakrale Musik zum Einsatz.655 Insgesamt schlägt Pasolini nur an vier Stellen überhaupt vor, die Szenen musikalisch zu begleiten. Dies erstaunt zunächst, da sich Pasolini schon in den 1940er Jahren intensiv mit Musiktheorie auseinandergesetzt hatte. Er war der Auffassung, dass sich Musik »aus sich selbst« begründen müsse und keine direkte Verknüpfung zu anderen (Film-)Elementen erforderlich sei.656 Hinzu kommt, dass Pasolini immer wieder auch sog. »interne Überblendungen« (ital. dissolvenza) nutzt. Mit welcher Aufnahmetechnik er dies umsetzen wollte, ist nicht bekannt. Es sollte wohl der übergeordneten Information der Zuschauenden dienen, etwa bei Zeitsprüngen oder kurzen Denkpausen.657 Hinzu kommt eine interne Rahmenhandlung, die sich auf einer Metaebene abspielt. Darin wird Lukas als der Verfasser der Apostelgeschichte gezeigt, der das Leben des Paulus für die Nachwelt dokumentiert. Er wird hier in Gesellschaft mehrerer Teufelwesen präsentiert, mit denen er gemeinsame Sache zu machen scheint.658 Lukas selbst kommt, vom Teufel besessen, aber auch in der eigentlichen Handlung vor und begegnet Paulus selbst.659 Auch die Interviewsequenzen in Szene 82 und zwischen Szene 93 und 94 bringen einen perspektivischen Bruch, der eine externe-reflexive Sicht auf die Geschichte des Paulus ermöglicht.660 3.3.1.2 Pier Paolo Pasolini Anfang der 1960er Jahre begann Pasolini an eigenen Filmen zu arbeiten. Es war für ihn ein notwendiger nächster Schritt, nach seiner Tätigkeit als Poet und Schriftsteller, der Realität näher zu kommen und eine neue Perspektive auf die 653 Dies fällt vor allem am Anfang auf, dort folgen drei Szenen ohne Text aufeinander. Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 25ff. 654 Vgl. a. a. O., 39. 655 A. a. O., 71, 109. 656 Vgl. Andraschick, Die Poetik, 91f. Direktes Zitat: 92. Basierend auf dem Musikverständnis der Romantiker solle Musik das »Unsagbare« zum Ausdruck bringen. (Vgl. a. a. O., 92.) Im Film habe Musik den Auftrag, die gezeigten Bilder mit einem Mehrwert zu versehen, die Szenen bewusst aufzubrechen und dadurch eine neue Ästhetik zu formieren. (Vgl. a. a. O., 94.) 657 Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 28. 658 Vgl. a. a. O., 136. 659 Vgl. a. a. O., 61. 660 Vgl. a. a. O., 140.

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Wirklichkeit einzunehmen.661 Das Leben und die Botschaft des Apostels hatte Pasolini662 lebenslang beschäftigt. Daria Maraini, eine Weggefährtin, sieht das Werk geradezu als Schlüssel zu Pasolinis Persönlichkeit. Es sei ihm vor allem bei »San Paolo« immer um ein Spiel gegangen, um das Spiel, »das alle Menschen umtreibt: das Spiel des Lebens und das Spiel einer Beziehung mit einem mysteriösen und fernen Gott«.663 Zwick gibt in seinem Nachwort an, dass Pasolini selbst zutiefst spirituell war664. Er und der biblische Paulus wirkten zudem »geistesverwandt«.665 Der Pasolini Biograph Enzo Siciliano gibt darüber hinaus an, die Schriften und Artikel Pasolinis aus den 1970er Jahren mit den Paulusbriefen vergleichen zu wollen.666 Dies ist vor allen Dingen erstaunlich, da Pasolini selbst zwar von der christlichen Botschaft überzeugt war, der Institution der katholischen Kirche aber sehr kritisch gegenüberstand. Was Pasolini wollte, war in der Tat bewusst »anzuecken« und zu provozieren, so Gian-Maria Annovi. Als »countercultural figure«667 und »living protest«668 die Gesellschaft herausfordern und – ganz im Sinne von Röm 9, 33 – zum Stein des Anstoßes werden. Pasolini selbst verstand sich als Künstler, der stets selbst Bestandteil seiner eigenen Inszenierungen ist. Pasolini stellte regelrecht eine Einheit von Kunst und Leben dar.669 Dies stellt Gian-Maria Annovi vor allem für Pasolinis Verständnis von Theater heraus: »He is the external creator but also a character in the text, engaged in a direct dialogue with the audience.«670 Kommunikation mit den Zuschauenden ist für Pasolini eines der zentralen Elemente seiner Kunst. Die 661 Vgl. Schweitzer, Pasolini, 66. 662 Pasolini wurde am 5. März 1922 in Bologna als erstes Kind von Carlo Alberto, Berufssoldat und Susanna Colussi, Lehrerin, geboren. Pasolini verbringt seine Kindheit größtenteils in dem Ort Casarsa, in der Region Friaul. Zum Studium geht er zurück nach Bologna, dort arbeitet er später auch an seiner Promotion. Zunächst fertigt er eine Arbeit zur Kunstgeschichte an, diese geht jedoch verloren, sodass er später zu dem Dichter Pascoli schreibt. In den darauffolgenden zehn Jahren macht Pasolini immer wieder Station in Casarsa. Er lebt dort seine Leidenschaft für Kultur und Sprache des Friaul aus, schreibt Gedichte und arbeitet mit seiner Mutter an einer Privatschule. Nach dem Krieg wird Pasolini Mitglied in der kommunistischen Partei. Aufgrund seiner öffentlich gewordenen Homosexualität ist Pasolini 1950 gezwungen nach Rom zu ziehen. Dort engagiert er sich mehr und mehr gesellschaftspolitisch, schreibt zusätzlich zu seinen Gedichten auch Prosa: Essays, Romane und Artikel. Ab dem Jahr 1961 arbeitet Pasolini als Regisseur und Autor. In den Jahren 1961– 1975 entstehen unter Pasolinis Leitung 25 Filme. Als Drehbuch-Mitarbeiter hatte er zusätzlich seit 1954 an 17 Filmen mitgewirkt. Für die Eckdaten siehe: A. a. O., 143ff. (Zeittafel); 150f. 663 Aussage von Daria Maraini in: Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 10. 664 Vgl. a. a. O., 163. 665 Vgl. a. a. O., 168. 666 Vgl. ebd. 667 Annovi, Gian-Maria: Pier Paolo Pasolini. Performing Authorship. New York 2017. 9. 668 A. a. O., 11. 669 Vgl. Schweitzer, Pasolini, 18. 670 Annovi, Performing Authorship, 14.

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Rolle des Zuschauers sieht er ebenso wie seine eigene als aktiv an, der Zuschauende wird regelrecht zum »co-author«.671 Der Rezipient ist aufgefordert sich ebenfalls selbst in dem Stück oder Film wiederzufinden.672 Pasolini kommt im November des Jahres 1975 unter ungeklärten Umständen gewaltsam zu Tode.673 Er selbst hat den Tod nie ausgeblendet, im Gegenteil, schon zu Lebzeiten als Bestandteil seines Lebens und auch seiner Kunst angenommen. »Until I am dead, no one can ever be guaranteed to truly know me […] It is absolutely necessary to die, for as long as we are alive, we lack meaning and the language of our life […] is untranslatable, […]«674. Immer wieder taucht auch die Theorie auf, Pasolini habe daher seinen eigenen Tod inszeniert: »er starb unter Umständen und in einer Szenerie, wie er sie oft in seinen Werken dargestellt hatte; […] und er starb auch so, wie er sich seinen eigenen Tod immer wieder vorgestellt, vorphantasiert hatte.«675 Nicht nur die Umstände seines Todes werfen hier ein dramatisches Licht auf das Leben und Wirken Pasolinis, das vor allem von einer stetigen Suche nach religiöser Identität und dem ästhetischen Ausdruck dieser Ambivalenz geprägt war. 3.3.1.3 Der heilige Paulus – ein Drehbuchentwurf Konfrontation und Aktualisierung Pasolinis Konzept lebt von der Konfrontation der Zuschauer mit möglichst unmittelbaren und authentischen Materialien. Um etwa die einzelnen Schauplätze filmisch einzuführen plante Pasolini mit originalen Dokumentaraufnahmen zu arbeiten. Teilweise wollte er diese mit im Stil der Dokumentation nachgedrehten Szenen »verfälschen«, in denen dann etwa die Figur des Paulus zu

671 Vgl. Rumble, Patrick; Testa, Bart (Hg.): Pier Paolo Pasolini. Contemporary Perspectives. Toronto 2016, 9. »[…] the desired effect of Pasolini’s work is a challenging of the spectator, called upon to react and contribute as a ›co-author‹ of the work-in-progress.« Ebd., 9. Pasolini greift hier bereits auf Strukturen des postdramatischen Theaters zurück, wo der Dialog zwischen Schauspieler und Zuschauer zentraler als der Dialog zwischen den Schauspielern selbst wird. Auch dort wird der Zuschauer zum »Mitakteur«. Vgl. Engelhardt, Das Theater, 71. 672 Vgl. Annovi, Performing Authorship, 8. 673 Vgl. Schweitzer, Pasolini, 145. Die Leiche wird bei Ostia auf einem Feld gefunden. Es wird später ein 17-jähriger Jugendlicher für den Mord verantwortlich gemacht. Die genauen Todesumstände könne jedoch bis heute nicht geklärt werden. Vgl. ebd. 674 Annovi, Performing Authorship, 4. Giuseppe Zagaini, ein Freund Pasolinis, geht hier noch weiter und interpretiert explizit die Christusbezogenheit Pasolinis in der Weise, dass dieser seinen eigenen Tod als »Opfer« inszeniert habe, um seinem Leben und Werk einen sinnstiftenden Rahmen zu geben. Vgl. Zigaina, Giuseppe: Pasolini und der Tod, München/ Zürich, 1989. Zitiert nach Zwick, Passion und Transformation, 17. 675 Schweitzer, Pasolini, 136.

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sehen sein soll.676»Echte Plätze« sind Pasolini wichtig.677 Er spielte dabei bewusst mit dem Ausdruck »dokumentarisch«, indem er die Aufnahmen nach ihrer jeweiligen Wirkung selektiert. So wollte er etwa bewusst in Szene 1 solche Aufnahmen von Paris einsetzen, die »nicht allzu dramatisch«678 seien. In Szene 8 hingegen sollte »schrecklichstes« Material genutzt werden, »das anzuschauen fast unerträglich ist«679. Der kontinuierliche Einsatz biblischer Zitate als alleinige Ausdrucksform der biblischen Hauptfiguren680 (Stephanus, Paulus, Petrus, Timotheus, etc.), irritiert durchgehend. Bemerkenswert ist dabei Pasolinis Umgang mit dem paulinischen Corpus. Er folgt mit der systematischen Bündelung und Anordnung des Bibeltextes seiner eigenen Dramaturgie. Zwick weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Pasolini durchaus zwischen den »echten« und den deutero- bzw. tritopaulinischen Texten unterschieden habe. So sei es auffällig, dass Pasolini an den Stellen, an denen Paulus in einem guten Licht erscheine, auf die »echten« paulinischen Zitate zurückgreife, an Passagen an denen er besonders kritisch auftritt, nutze er eher die deutero- und tritopaulinischen Quellen.681 Dieses Vorgehen sei aber weniger mit einer außerordentlichen Bibelkenntnis Pasolinis zu erklären, sondern seiner »künstlerischen Sensibilität und kritischen Kompetenz geschuldet«682. In Szene 17 etwa ist es Pasolini wichtig zu betonen, dass die Fragen, die die Versammelten an Paulus richten, »einen modernen, zeitgenössischen Ton anschlagen«683. Diese Fragen sind also bewusst nicht im Bibeltext vorformuliert. Den einzelnen Abschnitten vorgeschaltet sind Jahreszahlen, die in sog. extradiegetischen Szenen erscheinen sollten, jedoch nicht mit den dargestellten zeitlichen Kontexten übereinstimmen. Die Jahreszahlen bewegen sich an den Lebensdaten des Paulus, also zwischen 36 n. Chr. bis 67 n. Chr. Eng an die Unmittelbarkeit des filmischen Erlebens ist die Verlegung der Ereignisse in die Gegenwart684 gekoppelt. Beides fördert und bedingt sich ge-

676 Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 31f. 677 A. a. O., 31. Aus den Regieanweisungen zum gesamten Film geht hervor, dass Pasolini stets sehr bemüht ist, die Szenen nicht im Studio, sondern, sofern möglich, an Originalplätzen zu drehen. Vgl. dazu a. a. O., 118; 126 etc. 678 A. a. O., 24. 679 A. a. O., 30. 680 An wenigen Stellen werden die biblischen Zitate dann auch durch Pasolini ergänzt oder erweitert. Vgl. a. a. O., 37. 681 Vgl. a. a. O., 169. 682 Ebd. 683 A. a. O., 39; 125 etc. 684 Der Begriff Gegenwart ist hier nur unter Vorbehalt zu gebrauchen. Pasolini verfasst das Drehbuch Ende der 1960er Jahre, lässt die Handlung aber schon in den Jahren während und nach dem zweiten Weltkrieg spielen. Es liegen also rund zwei Jahrzehnte dazwischen. Die Kontextualisierung der Geschichte des Paulus in die Zeit des zweiten Weltkriegs muss also

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genseitig. Pasolini plante durchaus gewagte Substituierungen. So setzte er die römische Besatzung mit der deutschen Besatzung Frankreichs während des 2. Weltkriegs gleich. Auf den ersten Blick eine ungleiche Übertragung, die wie eine Dramatisierung der Umstände wirkt. Weiterhin kommt es zu einer Politisierung der religiösen Gruppen. Die Christen werden zu Partisanen685, die Juden zu Kollaborateuren der NS-Besatzung686. Es kommt dabei zu radikalen Umformungen, die zu bewussten Perspektivwechseln führen: So scheint es paradox, wenn Paulus als jüdischer Verfolger der christlichen Gemeinde von Pasolini als leidenschaftlicher Verfolger der Juden vorgestellt wird.687 Auf diese Art und Weise rückt Pasolini die interreligiösen Konstellationen und Konflikte, vor allem seitens der Institutionen, einerseits auf eine politische Ebene. Andererseits spricht er der Religion an sich, zumindest in der leidenschaftlichen Form, in der Paulus und seine Anhänger sie ausleben, durchaus gesellschaftliche Relevanz zu.688 Sie wird so zum gesellschaftlichen Skandal689 und öffentlichen Ärgernis in einem weitgehend säkularen Umfeld, das für diese Art der Religiosität kein Verständnis hat.690

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bewusst von Pasolini gewählt worden sein. Zwick geht davon aus, dass es sich dabei um eine direkte zeitliche Verschiebung von 1900 Jahren handele. Vgl. Zwick, Der heilige Paulus, 165. Vgl. a. a. O., 25. »Die zwölf Apostel haben sich hier (wie zu einem geheimen Treffen von Widerstandskämpfern) versammelt. Sie sind wie beliebige intellektuelle Kleinbürger gekleidet, andere Anwesende wirken wie Arbeiter, tragen Anzüge von damals. Außer den zwölf Aposteln, in deren Augen sich das sie verzehrende Licht überwundener Angst, notwendiger Vorsicht, des Schmerzes und der Kampfeslust schimmert, befinden sich eng an sie gedrängt viele weitere Männer und Frauen: Es handelt sich kurz gesagt um eine Versammlung von Partisanen.« Ebd. Vgl. a. a. O., 31. »Abtransporte von Juden ins KZ; Güterwagen beladen mit Leichen. Aufnahmen, die im Stil des Archivmaterials hergestellt sind, zeigen Szenen, in denen Paulus in oben beschriebene Aktionen eingreift: Er wird in diesen Aufnahmen nur gestreift, tritt wie zufällig in Erscheinung (als sei er eine anonyme, ins »Archivmaterial« verwobene Figur). Er streift durch die Stadt – zwischen Verhaftungen, Aufhängungen, Schießereien usw. – vorbei an kollaborierenden französischen Soldaten und SS-Abteilungen – und benutzt dabei die gleichen Autos und Jeeps wie in den Dokumentaraufnahmen. Kurz: ›Paulus aber verbreitete Angst und Schrecken und machte Jagd auf die Getreuen: Er durchsuchte Häuser, brach in Synagogen ein, schaffte Männer und Frauen fort und überlieferte sie ins Gefängnis…‹ (Apg 6, 1–8,3).« Ebd. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 71. Vgl. a. a. O., 56. Hier ist es der ehemalige Gefährte Markus, der zu dem Schluss kommt. Vgl. a. a. O., 77f. Es wird deutlich, dass Pasolini hier vor allem auf die revolutionären und sozialkritischen Züge der Evangelien und der biblischen Überlieferung im Allgemeinen anspielt. Vgl. Andraschick, Die Poetik, 61. »Nur mithilfe einer allumfassenden Reform folglich und der selbstgewählten Loslösung aller Vorzüge und Privilegien wäre eine Rückkehr zum ursprünglichen Gehalt der Religion nach Pasolini möglich. Und nur die Befreiung von jeglichen institutionellen und ideologischen Strukturen könnte eine Rückkehr zur reinen Botschaft der Nächstenliebe bedeuten.« A. a. O., 62.

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Kritik an der Kirche Im Drehbuchentwurf folgen eine Reihe von direkt formulierten Kritiken an der von Paulus gegründeten Gemeinschaft, die Pasolini auf die Kirche im Allgemeinen überträgt: Eine Einschätzung der Institution Kirche legt Pasolini dem Teufel in der Figur des Lukas in den Mund. Die Kirche wird von ihm im Drehbuchentwurf als Farce, als Zerrbild ihrer Selbst beschrieben, das das eigene Gewissen auf den Plan rufen müsse und Angst und Misstrauen unter den einzelnen Beteiligten hervorrufe, jedoch trotzdem eine Notwendigkeit darstelle.691 Weitere Kritik wird in einer anderen Szene den Intellektuellen von Genua in den Mund gelegt: Das ganze Unterfangen sei von Gesetzlichkeit und Moralismus geprägt und zu sehr mit den eigenen internen Belangen beschäftigt.692 Es entbehre einer soliden Basis und sei gegründet auf »einem legalistischen, manisch konformistischen Geist, den ihm die schmutzigen Tiefen seines Unbewussten wie ein Miasma einhauchen.«693 Die Kritik an der Kirche knüpft immer stärker auch an die Person des Paolo selbst an. So wird ihm etwa in New York verstärkt Machtgier, Gesetzlichkeit und fehlende Bescheidenheit vorgeworfen. »Macht bedeutet ihm alles«, »Er institutionalisiert wie besessen«.694 Auch interne Kritik wird gegen Ende des Drehbuchs laut: so äußert sich der Apostel Jakobus kritisch zu den Institutionalisierungsprozessen der entstehenden Glaubensgemeinschaft: »Es haben sich auch unter uns, die wir gegen die Institutionen gekämpft haben und kämpfen, Institutionen durchgesetzt.«695 Die zukünftigen Aufgaben einer solchen Kirche sieht er im »Versprechen von Erlösung«, nicht in der Erlösung selbst.696 Am Ende des Drehbuchs wird schließlich eine Karikatur der Kirche gezeichnet. Pasolini stellt die in diesem Kontext den nüchtern klingenden Worten des Paolo Bilder verstörender Kirchenszenen gegenüber, die die Prunksucht der Bischöfe und folkloristisch-liturgische Auswüchse darstellen. So wirkt das Läuten der Glocken nur noch »stürmisch, ohrenbetäubend – der ganze Himmel ist von dem schrecklichen Lärm erfüllt – ; es klingt zugleich freudig und verrückt, verzweifelt und ganz alltäglich.«697 Die kirchenkritischen Passagen nehmen zu, je stärker Pasolini das Drehbuch in den Folgejahren überarbeitet. Er selbst resümiert 1974: »Jetzt ist der Sinn des Films etwas sehr Heftiges, wie es noch nie gemacht worden ist, gegen die Kirche und den Vatikan […]«698. 691 Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 61. 692 Vgl. a. a. O., 95; 97. Immer wieder sind hier die Konflikte zwischen Judenchristen und Heidenchristen Thema. Vgl. dazu auch a. a. O., 112. 693 A. a. O., 95. 694 A. a. O., 135. 695 A. a. O., 113. 696 Vgl. ebd. 697 A. a. O., 149. 698 Naldini, Nico: Pier Paolo Pasolini: eine Biographie. Übers. v. Maja Pflug. Berlin 1991. 321.

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Es ist darüber hinaus typisch, dass Pasolini in seinen Werken selbst auftritt oder sich im buchstäblichen Sinne zu Wort meldet. Subjektivität ist bei Pasolini nicht indirekt, sie wird bewusst inszeniert, »authorial subjectivity does not disapear; on the contrary, it is an integral part of what Pasolini wants to communicate through creation.«699 Auch hierin zeigt sich ein gewisser Anspruch auf Authentizität, auf Unmittelbarkeit, der für Pasolini sowohl für sein Filmprojekt als auch in Bezug auf seine Person maßgeblich scheint. Auch Schweitzer schreibt, vor allem das Drehbuch zu San Paolo zeichne sich durch »eine extreme Identifikation [Pasolinis] mit den Figuren, durch einen aufschlußreichen Autobiographismus aus.«700 Der Heilige Zentraler Zugang zum Innenleben des Paulus ist sein Gesicht.701 Mittels geplanter langer Nahaufnahmen, will er den Zuschauenden subtile Einblicke ermöglichen. Immer wieder thematisiert Pasolini die Verzweiflung, mit der Paulus durchgehend zu kämpfen hat und ihn von Beginn an als ambivalente Figur erscheinen lässt.702 Durch die Nahaufnahme wird die Figur aus ihrem Kontext gelöst und der Fokus ganz auf die Mimik und die Physiognomie gelenkt.703 Nach Pasolini haben solche Aufnahmen letztlich das Ziel das »Unmittelbare« aufzuzeigen und auf diese Weise zu transzendieren. Diese Technik werde »zum Erkenntnismedium und zur Plattform, auf der sich die Transzendenz der Figur vollziehen kann.«704 Das Einfache und Alltägliche wird in dieser neuen Perspektive zum Erhöhten. Die Einstellungen zeigen hier wie ein Mensch in seinem jeweiligen Ausdruck für kurze Zeit verharrt und verleihen so dem Körperlichen eine ganz neue Relevanz.705 Andraschick beurteilt diesen Mehrwert folgendermaßen: »Indem die Einstellungen in ihrer markanten Ausführung die Gesichtszüge, einzelne mimische Facetten oder strukturelle Besonderheiten aufspüren, scheinen sie mit-

699 Annovi, Performing Authorship, 6. 700 Schweitzer, Pasolini, 131. 701 Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 39, 43, 48, 59, 64 etc. Pasolini greift vor allem in den Filmen der 1960er Jahre auf dieses Mittel zurück, es zeigt sich hierin u. a. sein anthropologisches Weltbild. Es kommt in den Sequenzen gleichsam zu Berührungen des Gesichts mit der Kamera. Vgl. Andraschick, Die Poetik, 143f. Pasolini greift mit dieser Technik auf die Ästhetik der italienischen Renaissance-Malerei zurück, insbesondere auf die Werke Caravaggios. Vgl. a. a. O., 142. Andraschick weist darüber hinaus im gesamten Œuvre Pasolinis sog. piktorale Referenzen nach, eine Bildsprache, die auf die Bildende Kunst v. a. des 15. und 16. Jh. zurückgreift. Vgl. a. a. O., v. a. Kap. IV. 702 Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 30, 34. 703 Vgl. Andraschick, Die Poetik, 144. 704 A. a. O., 146. 705 Vgl. a. a. O., 144.

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tels technischer Dimensionen den ›Anderen‹ in seiner Diversität erfassen zu wollen.«706 Diese Diversität wird bei Paolo nur allzu deutlich, er scheint grundlegend gefangen zwischen mystischer Kontemplation und organisatorischem Aktionismus.707 Diese Ambivalenz wird im Laufe des Films und vor allem auch nach dem Berufungserlebnis immer deutlicher zum Ausdruck gebracht. So erscheint Paolo nach dem Bekehrungserlebnis passiv und unglücklich, von übernatürlichen Ereignissen heimgesucht und göttlichen Anweisungen getrieben.708 Die Ambivalenz der Figur ist omnipräsent. Die Spannung von Aktualität und Heiligkeit, die Pasolini mit dem Drehbuchentwurf erzeugt, spiegelt sich laut di Blasi in der Figur des Paolo selbst wider. Gerade diese Eigenschaft sei es gar, die ihn aus der Sicht Pasolinis zum Heiligen mache.709 Im Verlauf des Drehbuchs wird jedoch deutlich, dass Paolo seiner Rolle als »Heiliger« nicht gewachsen zu sein scheint.710 Dass Pasolini das Bild des Paulus trotz aller berechtigter und überzeugter Kritik an der Kirche so stehen lässt, zeigt einerseits die Faszination, die von der Figur des Paulus ausgeht. Andererseits vermutet etwa Zwick auch, dass das hohe Identifikationspotenzial des Paulus für Pasolinis eigenes Leben hier zum Tragen kommt.711 Die Zweideutigkeit des Paulus zu seinem Schicksal lässt sich somit auch auf das Verhältnis Pasolinis zum eigenen Filmprojekt übertragen. Das Heilige versteht Pasolini, wie schon in der Einleitung beschrieben, als Ausdruck größtmöglicher Extreme, das ganz andere, das ganz Ir-reale. Das Heilige steht im Kontrast zur Wirklichkeit, die Welt erscheint als »entheiligter« Ort712 und trotzdem ist das Heilige dieser »desakralisierten Welt« immanent.713 Jedoch könne »Mythisches und Heiliges […] zur Wiederentdeckung gelangen, ist 706 Andraschick, Die Poetik, 145. 707 Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 173. Pasolini selbst beschäftigte sich dem Mystizismus und den Zusammenhängen von »Mystik und Politik« u. a. unter Rückgriff auf Johann Baptist Metz und Dorothee Sölle. Vgl. a. a. O., 172. 708 Vgl. a. a. O., 35, 47 etc. 709 Vgl. Di Blasi, One Diveded by Another. 191f. Di Blasi geht bei seiner Ausdeutung des Drehbuchentwurfs geradezu exegetisch vor. Er untersucht vor allem das von Pasolini in Szene 11 geschilderte Bekehrungserlebnis. Dies liegt zum einen Nahe, da es das zentrale Ereignis in der paulinischen Biographie darstellt, zum anderen überrascht es, da die Szene im Drehbuchentwurf kaum hervorgehoben wird. Es kommt ebenfalls nicht zu der so oft genannten Veränderung vom »Saulus zum Paulus«. Bei Pasolini ist Paulus von vorn herein Paulus. 710 Er ist zahlreichen Bedrohungen von innen und außen ausgesetzt: sein körperliches Leiden, der innere Kampf mit Gott, externe Versuchungen durch den in Lukas verkörperten Satan, der innergemeinschaftlichen Kritik sowie der Kritik seines gesellschaftlichen Umfelds. 711 Vgl. Pasolini nach Zwick (Hg.), Der heilige Paulus, 176. 712 Vgl. Andraschick, Die Poetik, 68. 713 A. a. O., 89.

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die Sicht auf das Reale entsprechend gelenkt.«714 Bei Pasolini ist das Verständnis von Heiligem an das Verständnis von Wirklichkeit geknüpft. Es sei bezeichnend für die Wirklichkeit, dass das Heilige mehr und mehr verloren gehe.715 Angetrieben durch den Verlust des Heiligen in der Realität, strebt Pasolini mit seinem Drehbuchentwurf eine Remythisierung an.716 3.3.1.4 Zusammenfassung In der Darstellung des Paulus zeigt sich die Faszination Pasolinis für die Spannungen dieser Figur. Es ist das Ambivalente, das oft so paradox Anmutende und das Konflikthafte des biblischen Paulus, das er in seinem Drehbuchentwurf zu würdigen versucht. Es ist die persönliche Zerrissenheit des Paulus, die Polarität zwischen dem persönlichen Glauben und der Stellung innerhalb der Institution, die diesen nach außen hin immer wieder zum Anstoß werden lässt. Vor allem diese Konfliktsituationen sind es, die Pasolini durch die Transpositionen verdeutlichen und aktualisieren möchte. Die Beziehung zwischen dem Religiösen oder wie Pasolini es benennt, dem Heiligen, und der Gesellschaft sind für Pasolini der Hintergrund, vor dem er seinen Paolo darstellen will. Dabei zielt er scheinbar auf schonungslose Konfrontation durch authentische Bilder und Texte sowie auf radikale Kritik bestehender Strukturen ab. Pasolini bietet mit seinem Drehbuchentwurf eine herausragende Vorlage für die kritische Auseinandersetzung mit einer religiösen Vorzeigegestalt. Seine Reflexionen sind nicht theologischer Natur, sondern spiegeln einen intuitiven, künstlerischen Zugang zu religiösen Motiven wider. Sie ermöglichen so eine andere Perspektive auf (christl.) Wahrheiten und leiten durch ihre Ästhetik Transformationsprozesse ein. Der Drehbuchentwurf zu San Paolo bringt dies noch einmal in ganz spezifischer Weise zum Ausdruck. Pasolini macht dort die universale Sehnsucht nach dem Heiligen erfahrbar. Diese lässt sich jedoch aus seiner Perspektive nur bedingt innerhalb religiöser Vorstellungen erfüllen, nämlich lediglich dann, wenn die Religion zu ihrem leidenschaftlichen-ursprünglichen Kern findet. Die durch Paulus initiierte fortschreitende Institutionalisierung sieht Pasolini dabei als genauso gefährlich oder gesellschaftsabträglich an, wie den anfänglichen Fanatismus. Das Verhältnis des Religiösen zur säkularen Gesellschaft ist das zentrale Thema des Drehbuchs und die Gestaltung 714 Andraschick, Die Poetik, 69. 715 Vgl. a. a. O., 72. 716 Vgl. a. a. O., 86. Umgesetzt wird dies über Pasolinis Verständnis von Ästhetik. »Wird dem Kino ein solches Potenzial zugesprochen, die Möglichkeit, dass im spezifischen Blick auf die Wirklichkeit diese, aber zugleich auch die Präsenz eines ›Anderen‹, Verborgenen, Heiligen hervorgerufen werden kann, so gestaltet Pasolini die Kenntlichmachung dieses Potenzials über das Ästhetische.« A. a. O., 85.

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dessen die Lebensaufgabe des Protagonisten. Paulus repräsentiert die Krise des Heiligen in persona und auch Pasolini selbst scheint hier verkörpert. Die persönliche, spirituelle Affizierung des Autors mit dem Stoff ist omnipräsent.

3.3.2 Analyse des Theatertextes717 Das Libretto718 zu »San Paolo« wurde von Ralf Waldschmidt eingerichtet und orientiert sich stark an der Drehbuchvorlage Pasolinis. Insgesamt ist der Text aber erheblich gekürzt worden. Pasolinis insgesamt 111 Szenen wurden in sieben große Szenenblöcke aufgeteilt. Vielfach wurden Szenen des Drehbuchs ausgelassen, teilweise gekürzt oder thematisch komprimiert. Dies betrifft vielfach die langen Predigten und Reisepassagen. Das Libretto setzt bei Szene sechs des Drehbuchs ein, dem Text sind dort allerdings sowohl ein Prolog als auch ein Bibelvers vorgeschaltet. Auffallend ist, dass das Libretto durch insgesamt neun »Nero« Einschübe unterbrochen wird. Es wird dabei zwischen »Nero«, »Nero del deserto«, »Nero Orchesterzwischenspiel« und »Nero desolato (oscurità del mare)« unterschieden. Meistens erfolgt der Einschub nach einer intensiven seelischen Erfahrung des Paolo. Oftmals aber auch bei Einsamkeit oder nach eindrücklichen Erlebnissen, wie am Anfang, nach dem Tod des Stefano oder nach einer intensiven Auseinandersetzung, etwa mit Giovanni detto Marco. Auch im Libretto wird weitestgehend der biblische Text für den Gesang des Paolo genutzt, teilweise aber in etwas modernisierter Sprache. Eine Rolle, ein älterer Mann, ist bewusst als Sprechrolle eingerichtet. An drei Stellen wird der Gesang durch seinen Auftritt unterbrochen: im Prolog, in Szene II, während des Wüstenaufenthalts des Paolo, am Ende der Szene VI, am Ende der Predigt im Haus des Jason. Paolo selbst redet ebenfalls im Prolog und in der Szene im Haus des Jason (Libretto, Szene VI). Da die Anweisungen in Klammern gesetzt sind, ist davon auszugehen, dass die stimmliche Umsetzung variabel ist. Ein Auftritt des Chors wurde jeweils für die zweite, die vierte, die sechste und die siebte Szene eingerichtet. Zweimal kommt der Kinderchor zum Einsatz, einmal singt er den Namen des Paolo am Ende der Szene II nach dem Aufenthalt in der Wüste, ein zweites Mal innerhalb der Vision des Mazedoniers am Ende der Szene IV. Dort wird der Text »Komm nach Mazedonien und hilf uns« gesungen. Der Opernchor repräsentiert die Mehrstimmigkeit verschiedener Personen717 An dieser Stelle soll nur auf das Libretto näher eingegangen werden. Die Partitur liegt nicht vor, eine detaillierte musiktheoretische Analyse würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. 718 Die Angaben in diesem Kapitel beziehen sich auf das unveröffentlichte Manuskript des Librettos. Das Manuskript wurde der Verfasserin freundlicherweise zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. Eine Weiterverwendung ist nicht gestattet.

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gruppen, die Apostel (Szene IV), die Intellektuellen (Szene VI) und die Abgesandten der jüdischen Gemeinde in New York (Szene VII). Auffallend ist, dass der Chor hauptsächlich negative bzw. skeptische Reaktionen zum Ausdruck bringt, so heißt es etwa zu Beginn »Skandal« und »Paolo fanatico«. In Szene sechs, im Haus des Jason, singt der Chor hauptsächlich Anfragen an Paolo. Zuletzt wird der Chor am Ende der Szene VII eingesetzt, dort singt er »im Off« zur Messe des Timoteo. Darauf folgt dann noch eine Erwiderung des Paolo, bevor es in der Regieanweisung heißt: »Hier reißen Chor und Orchester ab…«. Im Libretto werden die wichtigsten Stationen aus dem Leben des Paulus präsentiert. Die einzelnen Begebenheiten sind, wie bereits zuvor bei Pasolini, der Apostelgeschichte entnommen. Eine Übersicht ist der nachgedruckten Tabelle zu entnehmen. Tabelle 2: Szeneneinteilung und biblischer Paulus Szeneneinteilung Ereignisse aus dem »San Paolo« Leben des Paulus Vorbemerkungen

Prolog Szene I

Szene II Szene III

Bibelstellen der Rahmenhandlung

Gal 2,16 »Kein Mensch wird durch Werke des Gesetzes gerecht, sondern einzig durch die Kraft des Glaubens an Jesus Christus« Phil 3,5

Steinigung des Stephanus

Apg 7,54f.

Die Bekehrung des Paulus

Apg 9

Treffen von HanaApg 9,10f. nias und Paulus und Heilung der Blindheit Wüstenaufenthalt – (ggf. Bezug zu Gal 1,18) Paulus in Jerusalem

Predigtinhalte719



Gal 5,1a: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit.«

– 1. Kor 9,16

719 Die angezeigten Bibelstellen sind teils der Übersicht von Zwick übernommen, teils selbst zugeordnet. Vgl. Pasolini, Der heilige Paulus, nach Zwick (Hg.), 186.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

(Fortsetzung) Szeneneinteilung »San Paolo« Szene IV

Szene V

Ereignisse aus dem Leben des Paulus Paulus kehrt nach Tarsus zurück

Bibelstellen der Rahmenhandlung 2 Kor 12,2

Apostelkonzil

Apg 15

Predigt in Lystra, Paulus trifft Timotheus

1–2 Thessalonicherbrief

Paulus in Troas; Krankheit, Vision des Mazedoniers Gefängnisaufenthalt in Philippi

Apg 16,9

Traum/Bewusstlosigkeit des Paulus Szene VI

Apg 16,23

Predigtinhalte Phil 3,5

1. Thess 4,2ff; 2. Thess 2,7–8

Ps 1,1–2



Predigt im Haus des Apg 17 Jason Paulus in Athen

Apg 17,16f.

Predigt auf dem Aeropag

Apg 17, 22f

Paulus bei Aquila und Priscilla

Apg 18

Paulus in Jerusalem; Apg 21 Versammlung der Ältesten

Phil 1, 21;25f; Phil 2,12–18; Phil 3, 17– 19; Phil 4, 4a 1. Kor 15, 35–44; 53– 57 Apg 17,23–25

1. Kor 3, 16–19a; 6, 9b–10; 11,3; 14,33b– 35, 2. Kor 12,10b

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(Fortsetzung) Szeneneinteilung »San Paolo« Szene VII

Ereignisse aus dem Bibelstellen der RahLeben des Paulus menhandlung Paulus im Gefängnis Apg 21,27f.

Predigtinhalte Ps 1,1

Paulus’ Rom Reise

Apg 27 Paulus bei den Juden in Rom Apg 28,17

Apg 28,17–20; 25–28

Paulus’ Aufenthalt in Rom Apg 28,30

Röm 9, 25–27; Röm 14,7–10; Röm 13,1–2; 12

Paulus verfasst Brief an Timotheus 2. Timotheusbrief

1. Tim 1,1; 3,14f.; 2. Tim 3, 1–5a; Gal 2,19– 20 (»Ich bin mit Christus gekreuzigt worden, nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.«); 2. Tim 4,7

Besonderes Augenmerk wird durch Länge und Stimmintensivität auf das Apostelkonzil (Szene IV), die Predigt im Haus des Jason sowie die Predigt bei Aquila und Priscilla gelegt (Szene VI). Vor allem die Auseinandersetzungen im Rahmen von Apostel- oder Predigtversammlungen sind durch den mitbeteiligten Chor stark in Szene gesetzt. Es wird das Verhältnis des Paulus zu den verschiedenen religiösen Gruppen deutlich, Paulus und die Christen, Paulus und die Heiden, Paulus und die Juden. Alle drei Gemeinschaften werden durch den Chor repräsentiert, dieser nimmt in den einzelnen Szenen aber unterschiedliche Rollen ein. Hier zeichnen sich bereits die zentralen sozialen Beziehungsgeflechte der Apostelgeschichte und des frühen Christentums ab. Wobei der Fokus auf das Gegenüber von Paulus und den jeweiligen Gemeinschaften gelegt wird. Dass der Chor wechselnd diese unterschiedlichen Personengruppen darstellt, zeigt, dass die eigentlichen Unterschiede nicht zwischen den Gruppen, sondern zwischen dem Individuum, Paolo, und den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, Heiden, Juden, Christen liegt. Die besondere Reisebereitschaft im Zuge der missionarischen Produktivität wird, ähnlich wie schon bei Pasolini, nicht direkt fokussiert. Es werden lediglich indirekt durch die zitierten Verse aus den Sendschreiben Bezüge zu dem weitverzweigten Gemeindenetzwerk geliefert. Die Beziehung zu den von Paulus ge-

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gründeten Gemeinden wird allerdings komplett ausgespart.720 Der textliche Schwerpunkt liegt aber auf den theologischen Inhalten. Hier dominieren Auszüge aus den klassischen paulinischen Lehrtexten, wie etwa zur Rolle der Frau in der Gemeinde, zur Haltung zur Obrigkeit etc. Auch hier werden vermehrt Inhalte angeboten, die auf gesellschaftlich relevante und soziale Beziehungen reagieren. Eine Übersicht über die zitierte Briefliteratur findet sich ebenfalls in der vorangegangenen Tabelle. Die Szenen ohne Chor ermöglichen die stärkere Aufmerksamkeit auf den Protagonisten und seine persönliche Glaubens- und Leidensgeschichte. Szene I zeigt das einschneidende Bekehrungserlebnis, Szene II den Rückzug in die Einsamkeit der Wüste. Diese Begebenheit ist biblisch nicht belegbar und von Pasolini im Zuge seiner Wüstenmotivik bewusst eingebaut und von Waldschmidt übernommen worden. Ebenso scheint Paolo in den Momenten von Gefahr (Szene III) sowie Gefangenschaft und Krankheit (Szene V), zu Beginn teilweise noch von einem Begleiter unterstützt, auf sich selbst gestellt.

3.3.3 Inszenierungsanalyse Am 28. April 2018 kam es im Theater am Domhof zur Uraufführung des Musiktheaters »San Paolo«. Das Musiktheater wurde von Alexander May nach der Partitur von Sidney Corbett721 und dem Libretto von Ralf Waldschmidt inszeniert. Die Aufführung dauerte ca. 90 Minuten, eine Pause war nicht vorgesehen. Die Inszenierung besteht aus sieben einzelnen Szenen, die durch insgesamt sechs Orchesterzwischenspiele unterbrochen werden. Neben dem Opernchor und dem Kinderchor des Theaters sind 12 Sängerinnen und Sänger beteiligt. Die musikalische Umsetzung übernahm das Osnabrücker Sinfonieorchester. Eine deut720 Dies verwundert sehr, da die Briefe jeweils in die die spezifischen Gemeindekontexte hineinsprechen. Das Ausklammern dieser spezifischen Perspektive führt dazu, dass Paulus hier weniger als Missionar wahrgenommen wird. Sowohl die Entstehung innerkirchlicher Strukturen der frühen Kirche als auch die innertheologischen Konflikte der ersten Gemeinden werden hier ausgeblendet. 721 Dr. Sidney Corbett ist ein international erfolgreicher Komponist und Musiker. Er wurde 1960 in Chicago geboren, studierte Musik und Philosophie an der University of California, in San Diego, der Yale University und der Hamburger Musikhochschule. 1989 verlagerte er seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt nach Deutschland. An der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Mannheim ist er seit 2006 Professor für Komposition. Neben insg. fünf Opern komponierte Corbett auch zahlreiche Werke in den Bereichen Orchester, Chor/ Gesang und Kammermusik. Häufig weisen seine Werke thematische Bezüge zur jüdischen und christlichen Tradition auf. Vgl. www.sidneycorbett.com. Als Beispiele sind hier etwa die Oper »Noach« (1999/2001) oder die Kompositionen im Bereich Chor, »Canticum David« (2015), »Unsér Súnde«(2007), das Oratorium »Maria Magdalena« (2005–2007) zu nennen. Vgl. www.sydneycorbett.com.

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sche Übersetzung der italienischen Texte722 wurde den Zuschauern in Übertiteln angeboten. 3.3.3.1 Interpretationsansatz und Ausgangshypothese Aus der Analyse des Librettos lässt sich als Ausgangshypothese konstatieren, dass das Musiktheater »San Paolo« nicht nur die »sperrige« Geschichte eines religiösen Anführers auf subtile Weise aktualisiert, sondern auch die damit einhergehenden Konfliktbereiche und Grenzgänge.723 Paolo erscheint darin als ein an sich selbst leidender und an seiner Bestimmung verzweifelnder Mann, der am Ende der Inszenierung weder ein Heiliger noch ein Held zu sein scheint, sondern isoliert und allein. Er pendelt in der Inszenierung nicht nur zwischen den Religionen, sondern ebenso auch zwischen seinem eigenen religiösen Selbstverständnis. Die große Figur des Apostel Paulus wird auf der Bühne zum düsteren Prediger des Alltags, der zwar an die Grenzen der gesellschaftlichen Toleranz und der eigenen Kirche kommt, letztlich aber an sich selbst und den eigenen Prinzipien zerbricht. Der Konflikt liegt sowohl zwischen Paolo und seinem sozialen Umfeld als auch intrapersonell. Durch die offensive Darstellung dieser Konflikte irritiert das Theater bewusst bestehende Annahmen beim Publikum.

722 Da das Musiktheater in italienischer Sprache aufgeführt wurde, wird anders als bei den vorangehenden Analysen auf direkte Zitate des Aufführungstextes verzichtet. 723 Deutlicher noch lesen sich die Besprechungen und Kritiken anlässlich der Uraufführung. Es heißt dort etwa, der hochkomplexe, »sperrige Stoff« werde dem Publikum nicht ausreichend vermittelt (taz: Schönherr, Paolo ist nervös). Die Inszenierung wirke zum Teil verstörend und sei nur mit entsprechendem Kontextwissen zu verstehen (NDR: Blömer, »Musiktheater nach Pier Paolo Pasolini«; deutschlandfunk.de: Richter, »Musiktheater über den Apostel Paulus und Pier Paolo Pasolini«). Jedoch sei die Erarbeitung des Stoffes in jedem Falle ein mutiges Unterfangen des Theaters und obwohl eine wirkliche Religionskritik nicht erkennbar sei (NOZ: Döring, »Osnabrücker Publikum feiert Uraufführung von ›San Paolo‹«), würden doch zentrale gesellschaftliche Themen, wie Religion und Gesellschaft, zur Debatte gestellt (Online Musik Magazin: Decker-Bönninger: »Stachel im Fleisch«). Vor allem die Ambivalenz und die »Obsession« des Paolo, seine Leidenschaft aber auch die einhergehende Qual würde in der Inszenierung zum Ausdruck gebracht (taz; Deutschlandfunk.de), auch die Aktualisierung des Stoffes und die Verlegung der Handlung in das 20. Jahrhundert gelinge. Weiterhin sei die Parallelität zwischen Pasolini und Paolo deutlich erkennbar (NDR, NOZ).

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3.3.3.2 Einzelne Dominanten der Inszenierung 3.3.3.2.1 Bühnenraum und Bühnenbild a) Die Drehbühne Der Bühnenraum ist grundlegend durch eine mittig platzierte Drehbühne strukturiert. Der Aufbau ist ganz in Weiß und Metall gehalten und erinnert in seiner Schlichtheit an den Rohbau eines Wohnhauses724. Es sind einzelne Räume auf zwei Ebenen angedeutet, die durch Trennwände voneinander abgeschirmt oder durch Treppen verbunden werden. Der Wechsel der einzelnen Figuren zwischen oben und unten, sowie außerhalb und innerhalb der Drehbühne wird in der Aufführung vielfach explizit in Szene gesetzt. Es gibt eine Haupttreppe, mittig im Haus angesetzt, mit Geländer und eine kleine Leiter auf der Rückseite des Aufbaus. Beide Treppen werden benutzt: die Haupttreppe zu verschiedenen Zeitpunkten der Inszenierung, von Paolo allein oder in Begleitung von Anania (Szene 1) oder Timoteo (Szene 4). Wenn die Drehbühne mit der Haupttreppenseite zum Publikum gerichtet ist, wirkt die Treppe in Konstellation mit den Umrissen der oberen Etage wie ein großes Kreuz. Die obere Etage wird in der ersten Szene ausschließlich von Una Voce und dem dazugehörigen Kinderchor genutzt sowie von Paolo, der unmittelbar nach der Ansprache durch die Stimme selbst die Treppe beschreitet und sich somit auf die obere Ebene begibt. Im Verlauf der Inszenierung wechselt das Personal auf der oberen Ebene, so kommen etwa Anania oder Timoteo in den Phasen von Paolos Krankheit hinzu um ihn zu pflegen. Am Ende, in Szene VII, steht kurzzeitig Timoteo allein dort oben, während Paolo und auch Una Voce sich unten befinden. Am Ende ist es jedoch wieder Paolo, der allein die Haupttreppe beschreitet und auf der oberen Ebene kniet. Paolo scheint immer dann den Weg nach oben zu besteigen, wenn es ihm körperlich oder seelisch schlecht geht. Dies ist dann jeweils auch der Ort, wo er die Stimme Christi empfängt oder seinen Visionen nachhängt. Die Bühne ist überdies in ständiger Bewegung, an den meisten Stellen ist es Paolo, der außerhalb des Aufbaus auf der Bühne steht und alles an sich vorüberziehen lässt. Er scheint vielfach »außen vor« zu sein. Dies wird in den Szenen besonders deutlich, wenn der Chor im Inneren der Drehbühne platziert ist und Paolo, teils allein, teils mit wichtigen anderen Solisten, wie etwa Pietro oder Marco, davorsteht (Szene III).

724 Erste Assoziationen lassen hier an die noch im Aufbau befindliche Institution der Kirche denken. Das Gerüst ist gelegt, der Grundstein, nämlich Christus, gesetzt. Die eigentliche Einrichtung fehlt jedoch noch, das Personal wechselt. Der Bau wirkt zunächst noch einsam, verlassen und steril.

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Während des Apostelkonzils und beim Zusammentreffen im Haus des Jason wird Paolo geradezu von den Insassen ganz körperlich hinausgedrängt. Erst in der letzten Szene verkehren sich die Strukturen etwas, hier ist es Paolo, der aus der Mitte der Bühne erst zu den jüdischen Abgesandten und später zu dem Hippievolk tritt, das vor ihm auf der Bühne verteilt ist725. Zum Schluss der Inszenierung sieht man sogar die göttliche Stimme auf der unteren Ebene der Bühne in der Dunkelheit verschwinden, nun ist Paolo wirklich allein. Es entsteht der Eindruck, es handle sich bei dem Aufbau der Drehbühne um einen gesellschaftlichen Raum, indem sich jeder stets selbst positioniert bzw. positioniert wird. Gott hat darin seinen Platz genauso wie die Vertreter der Religion, Politik oder Gesellschaft. Dass Paolo ständig zwischen den Bereichen wechselt und die meiste Zeit daran leidet, zeigt die verborgene Komplexität dieses »Gesellschaftsgebäudes« auf. b) Videoinstallationen Ein zweites zentrales Element im Bühnenbild sind die aufwendigen Videoinstallationen, die meist auf den kompletten Aufbau der Drehbühne projiziert werden. Teilweise wiederholen sich die Motive, wie etwa die vielen unterschiedlichen Augen, die im Zusammenhang mit dem Auftritt der Stimme Christi auftreten oder die Großaufnahmen des Gesichts des Paolo in verschieden Lebensaltern, die im Verlauf der Aufführung immer wieder eingeblendet werden. Zusätzlich kommt es auch zu Kollagen, die etwa Familienszenen des Paolo, Ausschnitte eines Konzentrationslagers oder Ausschnitte des zweiten Vatikanischen Konzils726 zeigen. An anderen Stellen werden auch Originalaufnahmen von Pasolini eingesetzt, die über die Einblendungen des Paolo gelegt werden. Diese Überblendungen sind jeweils sehr großformatig und dominieren die jeweiligen Szenen. An einer Stelle wird auch eine Animation der Drehbühne selbst auf die Drehbühne projiziert. Interessanterweise dreht sich die Bühne in diesem Moment selbst nicht, die Bewegung wird durch die Videoanimation bewirkt. Es scheint, als zeigen die Animationen die verborgenen Träume und Visionen des Paulus, teilweise werden aber auch bewusste Impulse an die Zuschauer vermittelt, die Bezüge anbieten und teilweise schon bewusste Deutungen vorwegnehmen, wie zum Beispiel die KZ Einspielungen.

725 Hier wäre die Deutung möglich, dass es sich bei diesen Gruppen per se um gesellschaftliche Randgruppen handelt, die sich entweder selbst ausgrenzen oder ausgegrenzt werden. 726 Zu sehen ist hier Papst Johannes XXIII. auf einem Stuhl sitzend beim zweiten Vatikanischen Konzil.

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3.3.3.2.2 Figuren a) Paolo Das gesamte Bühnenbild wird von einem durchgängigen Schwarz-Weiß- bzw. später von einem Hell-Dunkel-Kontrast geprägt. Auch Paolo selbst trägt einen schwarzen Anzug mit einem schwarzen Hemd und schwarzen Schuhen. Er wirkt seriös und geradezu unspektakulär, obwohl er fast ununterbrochen auf der Bühne ist, steht er kaum im Mittelpunkt. Paulus wirkt überraschend unbeteiligt an seiner eigenen Geschichte. Er tritt nicht durch große Taten in Erscheinung, sondern eher durch die großen Worte, die er unablässig predigt. Dominierendes Merkmal bei Paolo ist seine Brille, in Anlehnung an Pasolini selbst, nimmt Paolo sie ständig ab und setzt sie wieder auf. Das stetige Wechseln wirkt unsicher und nimmt gegen Ende des Musiktheaters zu. Diese Entwicklung lässt sich auch an der ganzen Figur des Paolo erkennen. Während er in der ersten Szene noch starr und unberührt den Tod des Stefano über sich ergehen lässt, kommt es gegen Ende zu regelrechten Gefühlsausbrüchen, Paolo wirkt einerseits aufbrausend und unkontrolliert, andererseits aufgrund seines Leidens schmerzerfüllt und labil. Das körperliche Leiden des Paulus, das in nahezu allen Szenen angedeutet wird, nimmt einen verhältnismäßig großen Teil der Aufführungszeit ein. Ebenfalls einen großen Anteil haben Szenen, in denen Paolo allein niederlegt und seinen Visionen nachhängt. Diese Szenen sind nicht durch biblische Sprache untermalt727, was damit zusammenhängen könnte, dass auch im paulinischen Korpus verhältnismäßig wenige Passagen explizit auf das körperliche Leiden des Paulus eingehen. Gleichsam verwundert dies aber auch, da das seelische Leiden, für das es durchaus biblische Belegstellen gibt, hier nicht verbalisiert wird.728 Das 727 Z. B. in Szene IV; Szene VI, nach dem Aufenthalt im Haus des Jason. 728 Auch Eugen Biser hat in seiner Monographie »Paulus: Zeugnis, Begegnung, Wirkung« Paulus als Leidensgestalt dargestellt. Das Hauptleiden bestehe für Paulus vor allem in dem Mit-Leiden mit anderen. Vgl. Biser, Eugen: Paulus: Zeugnis, Begegnung, Wirkung. 2. Aufl. Darmstadt 2003. 151. Dieses Mitleiden ist nicht auf ein Gegenüber beschränkt, sondern wirkt sich plural aus. Paulus leidet mit denen, denen gegenüber er sich nicht klar genug ausdrücken kann, mit Israel, das nicht glaube, genauso aber mit Christus selbst. Auch an seiner eigenen Persönlichkeit leide Paulus, so Biser, etwa an seiner mangelnden Sprachfähigkeit. Diese wirke sich sogar diachron aus. »Es handelt sich um das Leiden an dem seinem Mitteilungswillen gezogenen Grenzen, die es mit sich bringen, dass seine durch die Verschriftung reduzierte Sprachkraft nicht ausreicht, um mögliche Missdeutungen abzuwehren und sein Evangelium als das der Freiheit, Hoffnung und Liebe zur Geltung zu bringen.« A. a. O., 155. Jürgen Becker versteht das Leiden des Paulus als notwendiges Kriterium für das Apostel-Dasein. Die zur Schau gestellte Schwachheit des Paulus kontrastiert so die göttliche Kraft, die Bereitschaft zum Leiden verbindet den Apostel erst mit Christus. Vgl. Becker, Jürgen: Paulus. Der Apostel der Völker. 3. Aufl. Tübingen 2009. 187ff. Die Szene im Haus von Aquila und Priscilla endet damit, dass Paulus sich selbst als Narren bezeichnet. Hier wird bewusst eine Metapher zugunsten der Zuschauer benutzt. Wie schon bei Pasolini in dieser Szene beschrieben, reagieren die Zuschauer hier mit Wohlwollen auf die Worte des Paulus.

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Leiden des Paolo wird lediglich durch Gestik und Mimik des Darstellers sowie die Interaktion mit den Spielpartnern dargestellt. Oftmals ist Paolo aber auf sich allein gestellt, diese Szenen stehen in klarem Kontrast zu den dynamischen Szenen mit Chor und Solisten. Aber selbst in diesen Gruppenszenen fällt auf, u. a. in Szene IV, bei dem Treffen mit den Jüngern, dass Paolo nicht zu der Gruppe predigt, er ist von dem Bühnengeschehen abgewandt und predigt dem Publikum zu. b) Die Anderen Paolo trifft in der Inszenierung auf verschiedene Gegenüber. Dabei ist zwischen einzelnen Figuren und Kollektiven zu differenzieren. Die erste Hälfte der Inszenierung legt den Fokus auf die Beziehung zwischen Paolo und die einzelnen Vertreter der Christen, in der zweiten Hälfte steht die Begegnung von Paolo und den verschiedenen anderen Gemeinschaften im Vordergrund. Auffällig ist, dass die Vertreter der Christen mit einzelnen Rollen als Individuen herausgestellt werden. In Reihenfolge des Auftritts: Stefano, Ananias, Barnaba, Pietro, Giovanni detto Marco und Timoteo. Stefano, Pietro und Giovanni detto Marco markieren hier eine unmittelbar konfrontative Beziehung zu Paolo, bei Stefano handelt es sich um die Begegnung von Opfer und Täter (Stefano als Christ und Paolo als dessen Verfolger), bei Pietro und Giovanni detto Marco stehen die inhaltlichen Kontroversen um theologische Fragen im Vordergrund. Anania, Barnaba und Timoteo verkörpern verschiedene Stufen der Annäherung und fungieren als Bindeglieder zwischen den Christen und Paolo. Auch hier kommt es aber letztlich zu keinem versöhnenden Ergebnis, vor allem die Beziehung zu Timoteo wird am Ende enttäuscht. Darüber hinaus zeigt die Inszenierung Paolo im Kontext von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen. Vor allem die Szenen VI und VII lassen diese auftreten. In Szene VI tritt Paolo vor Gemeinschaften auf, die im Libretto und im Programmheft als die »Reichen« (Gesellschaft im Haus des reichen Jason in Bonn), die »Armen« (Menschen am Bonner Stadtrand), die »Intellektuellen« (Kunden einer Buchhandlung in Rom) und vor »Freunden« (die Gäste im Haus von Aquila und Priscilla, ebenfalls in Rom) beschrieben werden.729 In der Inszenierung verschmelzen diese verschiedenen Gruppen, repräsentiert durch den Biser schreibt, das Narrentum diene den Zuhörern als Bild, um die Symbiose (des Paulus) mit Christus aufzuzeigen. Vgl. Biser, Paulus 153. Inwieweit das im Theaterstück wirklich gelingt, ist nicht leicht abzuschätzen. Auch der »Stachel im Fleisch«, das körperliche Leiden des Paulus, ist hierin eingeschlossen. Vgl. a. a. O., 151–155. 729 Bei den »Reichen« ist die Botschaft des Paolo zu radikal, die »Armen« scheint er gar nicht erreichen zu können, sie entgegen ihm mit Gewalt, die »Intellektuellen« machen sich über Paolo lustig und in der vertrauten Umgebung wird Paolo letztlich nur geduldet, weil er sich selbst ins Lächerliche zieht.

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Chor, zu einer Szenerie. Die Kostüme der Choristen stehen mit den Farben Weiß, Beige und Gelbgold sowie in edlen und schimmernden Stoffen in einem starken Kontrast zu dem Schwarz-Grau des Anzugs von Paolo. In Szene VII wendet sich Paolo dann noch den »Juden« ( jüdische Gemeinde in New York) und den »Alternativen« (Künstlerviertel Greenwich Village) zu, gegenüber der jüdischen Gemeinde ist Paolos Rechtfertigung unglaubwürdig, bei der Gemeinschaft der Alternativen wird er aufgrund seiner Loyalität zum Staat abgelehnt. Die Adressatenschaft des Paolo wird hier sehr divers dargestellt und doch ist ihnen die ablehnende Haltung gegenüber der Botschaft des Paolo gemeinsam. Dass die Begründungen jeweils variieren zeigt auf, dass es letztlich keine objektiven Kriterien sind, die als Kritik gegenüber Paolo vorgebracht werden. Es scheint vielmehr ein übergeordnetes Muster zu sein, das sowohl die Botschaft als auch Paolo als dem Botschafter von seinen Zuhörern distanziert. c) Una Voce – die Stimme Christi Die Stimme Christi trägt Paolo auf, die Botschaft zu verbreiten und übernimmt zwischen den einzelnen Auftritten eine tröstende Funktion. Die Stimme trägt einen schwarzen Anzug, mit weißer Bluse, dazu einen plakativen Dornenkranz, der die Stimme hier als Stimme des gekreuzigten Christus identifiziert. Das strahlende Licht, mit dem die Stimme Christi in der Apostelgeschichte verbunden ist, fehlt hier ganz730. Dafür wird die Konsequenz des Lichtes, nämlich die temporäre Blendung des Paulus, thematisiert. Die Stimme tritt jedes Mal in Kombination mit verschieden großen Augen auf, die auf die Bühne projiziert werden und die Lider auf und zu bewegen. Dies erstaunt, da es gerade nicht um ein Sehen des Herrn, sondern um ein Hören seiner Stimme – wie die Bezeichnung Rolle als Una Voce bereits verdeutlicht – geht. Nur die Begleiter sahen laut Apostelgeschichte das Licht, hörten aber nichts.731 Die Augen könnten einerseits als klassisches Symbol der göttlichen Trinität gedacht sein732, andererseits aber auch eine zusätzliche Betrachterperspektive darstellen, die hier eine Zeugenfunktion einnimmt. Die Unfassbarkeit und Einmaligkeit des Ereignisses kann

730 Vgl. Apg. 9,3: 22,6; 26,13. 731 Jean Marcel Vincent erläutert, dass im alttestamentlichen Kontext die Begegnung mit Gott sich stets über das Sehen und das Hören vollzog. Der Ausdruck »Gott schauen« könne als Beschreibung der Begegnung zwischen Mensch und Gott verstanden werden (vgl. Vincent, Jean Marcel: Das Auge hört. Die Erfahrbarkeit Gottes im Alten Testament. NeukirchenVluyn 1998.12ff). Grundsätzlich seien beide Sinneseindrücke als gleichwertig zu verstehen, wobei die Wahrnehmung des Göttlichen sich aber in den meisten Fällen in Teilaspekten ereigne (vgl. a. a. O., 31f.). 732 Vgl. Geissmar, Christoph: Das Auge Gottes – Bilder zu Jakob Böhme. Wiesbaden 1993. 59. Das Auge ist seit dem Mittelalter Element der christlichen Ikonographie. Zur Entstehung des Motivs und Verbreitung durch den Mystiker Jakob Böhme.

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auf diese Weise gleich mehrfach legitimiert werden.733. Die Rolle ist mit einer Sopranstimme besetzt, wirkt aber davon abgesehen eher geschlechtslos. Ihr Auftreten ist geradezu statisch, Roboter ähnlich. Zu Beginn steht sie inmitten eines Kinderchors, die Kinder sitzen oder knien auf der oberen Plattform, sie ragt stehend daraus empor. Die Kinder sind ebenfalls in Schwarz und Weiß gekleidet, sie tragen ebenfalls Dornenkronen und haben im Gegensatz zu Una Voce blutverschmierte Gesichter. Die damit angedeutete Gewalt bildet einen eindrucksvollen Kontrast zu der kindlichen Unschuld. 3.3.3.2.3 Szenenauswahl im Kontext des biblischen Paulusbildes Für die Inszenierung wurde die Szenenauswahl, die Waldschmidt bereits für das Libretto vorgenommen hatte, weitestgehend übernommen. Es zeigen sich jedoch im Einzelnen Abweichungen zwischen Theater- und Inszenierungstext. Während im Libretto die jeweiligen Spielorte gut gekennzeichnet sind, vermischen sich jedoch die einzelnen Standorte auf der Drehbühne und es ist nicht mehr ersichtlich, wo die jeweilige Handlung spielt. Einziger Anhaltspunkt ist die jeweilige Kostümierung des Chors, die das gesellschaftliche Milieu anzeigt, z. B. die »Hippiegemeinschaft« in Szene VII. Es kommt so zu einer zeitlichen und örtlichen Verdichtung der Handlung. Vor allem die Predigtpassagen werden stark komprimiert. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen, wie schon bei Pasolini, auf den zentralen biographischen Stationen des Paulus und auf Auszügen aus den theologisch bekannteren Predigtpassagen. So sind die wesentlichen Textbausteine aus dem Römer-, Philipper-, Galater- sowie den beiden Thessalonicher-, Timotheus- und Korintherbriefen entnommen.734 Es fällt auf, dass hier hauptsächlich auf als »echt« geltende Briefe zurückgegriffen wird. Aus dem deuteropaulinischen 2. Thessalonicherbrief findet sich nur ein einzelnes Zitat, ebenso jeweils eines aus den tritopaulinischen Timotheusbrief. Zu Beginn der Inszenierung kommt es zu einer starken Selbstbestätigung des Paolo. »Ich bin ein jüdischer Mann, aus Tarsus. Beschnitten am achten Tage…aus dem Geschlecht Israel… vom Stamm Benjamin…«735 Dass dies gleich doppelt 733 Vincent formuliert in der Zusammenfassung seiner Untersuchungen treffend: »Deswegen gehört in der Begegnung zum Hören das Sehen und Gesehen werden.« (Vincent, Das Auge hört, 31) In dem Moment der Theophanie wird somit aller Augen Aufmerksamkeit gebündelt und die göttliche Erscheinung visuell zu fokussieren versucht. Denkbar wäre hier auch, dass die eingeblendeten Augen, die Blindheit des Paolo kompensieren sollen. 734 Als authentische Paulusbriefe werden der 1. Thessalonicherbrief, Galaterbrief, 1. und 2. Korintherbrief, Römerbrief, Philipperbrief und Philemonbrief bewertet. Vgl. Hübner, Hans: Paulus I. In: Theologische Realenenzyklopädie Online. Berlin/ New York 2010. 134. 735 San Paolo, Libretto, 3. Es handelt sich hier um eine Vermischung der Selbstaussagen aus Phil 3,6; Apg 22,3 und 23,6. Bei den zitierten Stellen aus der Apg spricht Paulus aus einer Verteidigungshaltung heraus. Das dritte Kapitel des Philipperbriefs beschäftigt sich mit dem Rückfall in die Gesetzlichkeit.

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proklamiert wird, sowohl von Paolo als auch von dem Alten (ein älterer Paolo), verstärkt die Aussage noch. Auch am Anfang von Szene IV wird dieser Text als eine Art Selbstvergewisserung noch einmal wiederholt. Dies erstaunt, da hier dezidiert Paulus jüdische Identität betont wird.736 Inwieweit diese Aussage in einem Gegensatz zu Paulus’ christlichem Selbstverständnis steht ist fraglich, zumindest die zweite Wiederholung scheint aus einer inneren Konfliktsituation gesprochen: Paolo ist in sein Elternhaus zurückgekehrt und von körperlichen und inneren Kämpfen geschwächt. Diese unterschwellige Spannung737 steht in einem klaren Gegensatz zu der starken Identifikation mit Christus, die Paolo in seinem ersten öffentlichen Statement »Zur Freiheit hat uns Christus befreit!«738 auf den Punkt bringt. Die große Predigtsequenz bei der Bonner Gesellschaft wird mit den Worten »Denn Christus ist mein Leben und Sterben mein Gewinn«739 eingeleitet. Ebenso auch der Schlusssatz des Paolo: »Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir«740. Doch allein der Verweis auf Christus genügt als theologische Basis auch Paolo nicht: in diversen Predigtsequenzen kommen seine theologischen Überzeugungen zum Ausdruck. In Szene IV warnt er vor Unzucht und Unreinheit, im Haus von Aquila und Priscilla predigt er über den Heiligen Geist und die Rolle von Mann und Frau in der Gemeinde. Im Haus des Jason ermutigt er am Glauben und am damit verbundenen Heil festzuhalten. Vor der Gruppe in Greenwich Village redet er von der Obrigkeit als göttliche Ordnung und wird daraufhin – aus nachvollziehbaren Gründen – als »Fanatiker« beschimpft. Da wo Paolo den Heiden gegenübertritt hat er nur wenig Erfolg. Lediglich die Gesellschaft bei Aquila und Priscilla zeigt sich am Ende wirklich angetan von Paolos’ Worten – zumindest auf einer intellektuell interessierten Ebene. Den Juden, seinen ehemaligen Glaubensgenossen, tritt er ebenfalls predigend gegenüber und versucht sie mit Texten aus Apg 28 zu überzeugen, bleibt aber auch dort erfolglos. Bereits in Szene IV deutet sich ein weiterer Konflikt an: Paolo hatte dort kurz vor dem Zusammentreffen mit Timoteo vor der Gefahr der falschen Lehre gewarnt. Timoteo ist zunächst einer der wichtigsten Unterstützer, am Ende hat aber auch er sich, wie Pietro und die anderen, von Paolo abgewandt. In Szene VII singt 736 Vgl. dazu auch das Kapitel »Das Judentum des Paulus« von Jörg Frey in Paulus: LebenUmwelt-Werke-Briefe, hrsg. von Oda Wischmeyer, Tübingen 2012. 25–64. Frey diskutiert darin auch die sog. »New Perspectives« der Paulusforschung, in denen v. a. das Heilsverständnis und die Rolle des Judentums kritisiert wird. A. a. O., 56. 737 Dies wird auch in dem vorangestellten Zitat von Gal 2,16 (»Kein Mensch wird durch die Werke des Gesetzes gerecht, sondern einzig durch die Kraft des Glaubens an Jesus Christus.«) deutlich, der freiheitliche Kontext rahmt so das gesamte Libretto. In der Inszenierung kommt dieses Zitat jedoch nicht zum Einsatz. 738 Gal 5,1a. 739 Phil 1,21. 740 Wortlaut ist dem Libretto entnommen. Vgl. aber Gal 2,19f.

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Paolo seine in den Briefen niedergeschriebenen Warnungen vor den negativen Entwicklungen der letzten Zeit und beklagt die Scheinheiligkeit »…lästerlich, undankbar, gottlos, ohne Liebe, verleumderisch, erbarmungslos, verräterisch, anmaßend, verblendet vom Stolz sein, nie, nie, nie das Gute lieben: ein Volk, das sich den Anschein von Religion gibt, doch das die Wahrheit verleugnet.«741 3.3.3.2.4 Konfliktkonstellationen Die Szenenauswahl sowie die ganze Einrichtung der Inszenierung legt unterschiedlich gelagerte Differenzerfahrungen und Konfliktkonstellationen offen, die auch in theologischer Hinsicht signifikant sind. Dies ist bereits in der Konzeption von Paolo und den »Anderen« erkennbar geworden. Dabei sind drei Ebenen auszumachen. Die ersten beiden Ebenen spiegeln das Verhalten zwischen Paolo und unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen wider: Es geht dabei unter 1) um Paolo im Kontext seiner eigenen Gemeinschaft, bei 2) im Kontext fremder, religiös und kulturell diverser Gruppen (»feine Gesellschaft« in Bonn und Rom, die Juden, die Alternativen des Greenwich Village). Die dritte Konfliktebene spielt sich intrapersonell ab (3). 1) Konflikt zwischen Paolo und den Christen: Hier zeigt sich ein Konflikt um innerkonfessionelle Spannungen und die Auseinandersetzung, wie Gemeinden aussehen und welche Voraussetzungen ihre Mitglieder erfüllen müssen. Diese Konflikte werden hauptsächlich in direkten Begegnungen zwischen Paulus und den christlichen Figuren ausgetragen und bekommen so im Gegensatz zu den Konfrontationen mit den gesellschaftlichen Gruppen mehr Gewicht. Mit Schnelle ist in Bezug auf die Judenchristen und die Heidenchristen von »partikularen Identitätskonzepten«742 zu sprechen, mit denen Paulus in Konflikt gerät. Diese werden vornehmlich in den Szenen I, das Treffen der Jünger nach der Bekehrung des Paulus und in Szene III auf dem Apostelkonzil verarbeitet. Indirekt spielt auch der Konflikt mit Timoteo in diesen Bereich mithinein. Die durchgehende Spannung von Ablehnung und Annäherung an die eigene Gemeinschaft durchdringt die gesamte Inszenierung. Am Ende wird auch dieser Konflikt nicht abgebaut. Die inhaltlichen Differenzen bleiben bestehen, Paolo beteiligt sich nicht am Aufbau weiterer Machtstrukturen der christlichen Kirche. Auch die letzte gezeigte Szene macht dies deutlich, Paolo ist von den anderen Aposteln und der christlichen Gemeinschaft um Petrus getrennt und bleibt bei der fortschreitenden Institutionalisierung der Kirche außen vor. 2) Konflikt zwischen Paolo und den Anhängern anderer Religionsgemeinschaften: Es geht hier zum einen um die sog. Heiden. Diese sind in ihrer Mehrzahl Anhänger hellenistischer Religionsvorstellungen, hauptsächlich des hellenisti741 Wortlaut ist dem Libretto entnommen. Vgl. 2. Tim 3,1–5a. 742 Schnelle, Paulus, 17.

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schen Polytheismus, aber auch zahlreicher abgewandelter religiöser Sekten und Mysterienkulte.743 Darüber hinaus gibt es auch Anhänger philosophischer Strömungen, vor allem Epikureer und Stoiker. In dem Musiktheater wird diese Adressatengruppe durch die Zuhörerschaft der Bonner Gesellschaft repräsentiert. Die zeitweilige Zustimmung der Zuhörenden lässt sich hier mit dem tatsächlich nachweisbaren Austausch mit diesen Strömungen innerhalb der paulinischen Theologie in Zusammenhang bringen.744 Ebenso programmatisch ist auch die vorletzte Situation in Szene VII. Dort spricht Paolo u. a. zu den »Hippies«, einer politisch sehr liberalen und unabhängigen Gemeinschaft, letztlich erfährt er aber auch hier eine Ablehnung, da die Zuhörenden sich nur zum Teil mit der paulinischen Botschaft identifizieren können. Paolo ist ihnen in der Hinsicht nicht radikal genug, da er weiter an einem Gehorsam gegenüber der staatlichen Gewalt festhält. Ebenso werden Paolo und die Juden thematisiert, diese Konfrontation ereignet sich klammerartig zu Beginn und gegen Ende des Musiktheaters in Szene I und VII. Während sich Paolo zu Beginn noch mit den Juden identifiziert und als Teil ihrer Gemeinschaft anerkannt ist, bekommt er später nur Ablehnung zu spüren. Grundsätzlich prägt das Spannungsfeld zwischen Paolo und den Juden sein ganzes Wirken.745 Die Polarität dieser Prägung wird in den beiden genannten Szenen gut deutlich gemacht. Es wird hier jeweils eine interreligiöse Begegnung in Szene gesetzt, allerdings mit einer stark missionarischen Intention seitens Paolo, die hier ggf. für die erfahrene Ablehnung verantwortlich gemacht werden kann. 3) Intrapersonaler Konflikt des Paolo: Während in der Drehbuchvorlage der Konflikt zwischen Gesetzes-Prediger und Christus-Mystiker der grundlegende ist, zeigt das Musiktheater ein anderes Bild: Dort steht das Verhältnis des Paolo zu seiner Umwelt und das Ringen um Authentizität im Vordergrund. Nach dem Verlust seiner Bezugspersonen bleibt Paolo allein zurück. Auch in der Szenerie in Bonn und Rom muss er sich selbst ein Stück weit verleugnen, um nicht vollständig seine Glaubwürdigkeit in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu verlieren. Er bewegt sich im Bühnengebäude hin und her, steigt auf und nieder. Wirkt rastlos und von Schmerzen geschwächt. Die Ambivalenz zwischen seiner körperlichen Schwäche und seiner vehementen Predigt spiegelt sich in dem Ringen um Identität. Das Innen und Außen, das Wollen und das Können werden hier gegeneinander aufgerieben. Paolo warnt bis zum Schluss vor Scheinheilig743 Vgl. Heininger, Bernhard: Die religiöse Umwelt des Paulus. In: Wischmeyer, Oda (Hg.), Paulus: Leben-Umwelt-Werte-Briefe. 2. überarb. und erw. Aufl. Tübingen 2012. 66–103. 66. 744 Vgl. a. a. O., 91. 745 Vgl. dazu ausführlich Frey, Das Judentum des Paulus, 25–64. Die jüdische Identität des Paulus hat prägende Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche seines religiösen Lebens: Frömmigkeit, Missionsstrategie, Argumentation, Theologie etc. Vgl. a. a. O., 45.

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keit und falscher Lehre, aber ob er selbst an die Wirkmächtigkeit seiner Worte glaubt, bleibt in der Inszenierung zweifelhaft. 3.3.3.2.5 Musik und Sprachen Die musikalische Bearbeitung des Stoffes lässt von Beginn an erahnen, dass es sich um keine glorreiche Heldengeschichte handelt.746 Durch das gesamte Stück zieht sich eine subtile Unruhe, die den Zuschauer nichts Gutes vermuten lässt. Man empfindet so eine durchgehende getriebene Anspannung, die mehr und mehr zur Bedrohung wird. Eine gewisse Unbehaglichkeit macht sich breit und lässt einen innerlich unruhig werden. Unterbrochen wird dieses beengende Gefühl durch einige Höhepunkte des Chors und laute eindringliche Passagen des Orchesters. Musikdramaturgisch werden so die entscheidenden Szenen hervorgehoben und als solche herausgestellt. Die Stimme Christi fällt aus diesem eher irritierenden musikalischen Konzept heraus: Sie singt klar und eindringlich, sie wird begleitet von den hohen Stimmen des Kinderchors und geradezu zarten Melodien des Orchesters. Bei Paolo hat man teilweise auch den Eindruck als gehe sein Gesang durch die Musik unter, als wollte das musikalische Umfeld ihn übertönen. Das Ende ist musikalisch geradezu unspektakulär: Paolos Stimme läuft aus und das Musiktheater geht leise und unauffällig zu Ende. Eng an die musikalische Wirkung ist die Sprache gekoppelt. Im Musiktheater ist diese Sprache des Paulus omnipräsent, über sie und mit ihr erfolgt die Kommunikation, auch auf die Gefahr hin, dass sie nicht immer verstanden wird. Hinzu kommt, dass das Libretto – bis auf wenige Ausnahmen – auf Italienisch abgefasst ist. Die Sprache der Oper ist gleichsam weder Sprache des Paulus noch die Sprache der Zuhörenden. Italienisch ist die Sprache Pasolinis. Dies kann hier als weiteres Indiz gelten, dass man es bei »San Paolo« auch immer ganz bewusst mit Pier Paolo Pasolini zu tun hat747. Der Sprechtext des älteren Mannes ist jedoch im Gegensatz zum Gesang in Deutsch verfasst. Die kurzen Abschnitte kontrastieren mit dem italienischen Gesang, dies wird am Anfang besonders deutlich. Dort beginnt der ältere Mann seinen Text und nach wenigen Sekunden setzt Paolo dann auf Italienisch in den gleichen Wortlaut ein (»Ich bin ein jüdischer Mann aus Tarsus. Beschnitten am achten Tage…aus dem Geschlecht Israel…vom Stamm Benjamin […]«748). Ebenfalls auffällig ist auch die Textpassage über die Wüste in Szene II. Hier wird das Alltagsleben als eine solche Wüste beschrieben. Man könnte annehmen, dass auch hier bewusst ein Kontrast erzeugt werden soll, 746 An dieser Stelle sei vorangestellt, dass es sich hier um eine knappe Sammlung von Eindrücken handelt und keine musiktheoretische Reflexion. 747 Das Drehbuchfragment ist in italienischer Sprache abgefasst. 748 Libretto zu »San Paolo«, 3.

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etwa zwischen den religiösen Reden des Paulus und dem eigentlichen Leben der Menschen. Der Kontrast zwischen Alltag und Heiligkeit, wie schon zuvor beschrieben, wird hier ein weiteres Mal wahrnehmbar. Das Wüstenmotiv taucht bei Pasolini häufig auf und eröffnet einen besonderen Ort der Gotteserfahrung.749 Die Kombination mit dem »Alltäglichen« fügt sich ebenso in Pasolinis Leitgedanken »Heiligung des Profanen und der Profanation des Heiligen«750 ein. Neben Deutsch und Italienisch werden zwei weitere Sprachen verwendet, zum einen wird der zweimal zitierte Psalm 1 auf Hebräisch wiedergegeben, zum anderen singt der Chor in der letzten Szene eine lateinische Phrase. Der Verweis auf die Bedeutung der (Original-)Sprachen sowohl für das Judentum als auch für den Katholizismus werden jeweils an den zentralen Verwendungszusammenhängen (die hebräische Tora im Judentum, das Latein im kirchlichen Kontext des Katholizismus) deutlich gemacht. Dass Paulus beiden Sprachen mächtig ist und sie bedacht einsetzt, zeigt wie sehr er in beiden religiösen Zusammenhängen verhaftet ist. Er tritt als Medium auf, das sich problemlos zwischen den (religiösen) Sprachkontexten bewegt. Er wird hier aber nicht zum Übersetzer. Diese Funktion bleibt aus, sie könnte höchstens am Beginn, durch die doppelte Ansprache des alten und jungen Paolo, zum Tragen kommen. Paolo bleibt in seiner Verständlichkeit auf den Bühnenraum beschränkt. Für das Publikum bleibt Paolo somit weitestgehend unverständlich. Es kommt zu keiner Transferleistung, zu keiner wirklichen sprachlichen Vermittlung über die Sänger und Sängerinnen. 3.3.3.3 Werkimmanente Darstellung der Religion Religion ist in der Inszenierung zunächst als die christliche Religion dargestellt, wenngleich auch andere religiöse Gruppen auftreten. Paulus als Apostel, bedeutender Missionar und Kirchengründer, steht geradezu sinnbildlich für das frühe Christentum und verkörpert in seiner überlieferten Biografie eine beispielhafte »grenzüberschreitende«751 christliche Identität. Dabei könnte die Bekehrung und Konversion durchaus drastische Rückschlüsse auf das Verhältnis zu anderen Religionen vermuten lassen, etwa, dass die gewaltsame Verfolgung Andersgläubiger keine Option ist. Die Inszenierung weitet diese Sichtweise jedoch nicht aus, stattdessen werden interreligiöse Differenzen der christlichen Akteure und deren gesellschaftliche Kompatibilität hervorgehoben. Dieser strenge religiöse Fokus ergibt sich daher hauptsächlich aus der Perspektive des Protagonisten und hat keine wertende Funktion bezüglich interreligiöser Ver-

749 Vgl. Zwick, Passion und Transformation, 244–254. 750 Andraschick, Die Poetik, 13. 751 Schnelle, Udo: Paulus: Leben und Denken. 2. überarb. und erw. Aufl. Berlin 2014. 1.

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hältnisbestimmungen. Trotzdem lassen sich wichtige übergeordnete Aspekte zur Darstellung des Religiösen in der Inszenierung erkennen. Bereits mit Blick auf den von Pasolini vorbereiteten Stoff zeigt sich die grundlegende Ambivalenz von Heiligkeit und Alltäglichkeit, die auch den Drehbuchentwurf zu »San Paolo« durchdringt. Pasolini unternimmt darin den Versuch beide Bereiche, das Heilige und das Alltägliche, in einen neuen Dialog zu bringen. Dabei soll das Heilige durch Konkretion zu neuer Relevanz und Aktualität gelangen. In der Inszenierung wird dieses Unterfangen ebenfalls angegangen, das Ergebnis bleibt jedoch unbefriedigend, da das Heilige in Form des Religiösen weiter außen vor bleibt. Der Dialog wird eröffnet, jedoch aber nicht weitergeführt. In der Inszenierung des Theaters wird das Religiöse in Person des Paolo zum Ausdruck gebracht, wobei zunächst zwischen dem religiösen Individuum als solchem und der religiösen Botschaft unterschieden werden kann. Wie bereits deutlich gemacht werden konnte, bleibt einerseits die religiöse Botschaft des Paolo bis zum Schluss unverstanden und wirkungslos. Der Auftrag der Verkündigung des Evangeliums, der klassischen Predigt im protestantischen Christentum, scheitert hier. Damit werden indirekt auch die biblische Überlieferung und die historischen Anfänge des Christentums, die vor allem durch die missionarischen Aktivitäten des Apostels geprägt waren, verwässert. Darüber hinaus tritt mit der Fokussierung auf Paolo die Bedeutung des homo religiosus in den Blick. Hierin wird – anders etwa als bei der Inszenierung des Musiktheaters »Das Ebenbild«, wo ein funktionales Religionsverständnis zugrunde liegt – ein substantielles Religionsverständnis deutlich, das sich aus der Innensicht des Gläubigen ergibt und stark an den Religionsbegriffen von Gustav Mensching und Rudolf Otto orientiert ist. Die Religion wird in ihren Ambivalenzen dargestellt, die sie zwischen Normativität und Schwärmerei pendeln lassen.752 Dabei ist die individuelle Orientierung des Einzelnen am Heiligen bzw. Transzendenten zentral. Das Heilige kann dabei auch als religionsübergreifendes Phänomen losgelöst von konfessionellen Institutionen vorgestellt werden.753 Bereits bei Pasolini sollten die Transzendenzerfahrungen des Einzelnen in Person des Paolo sichtbar und nachvollziehbar werden. Dies kann jedoch immer nur partikular gelingen. So wird Paolo stets als Heiliger benannt, ohne sich objektiv so zu erkennen zu geben. Liegt das Interesse Pasolinis als Schlüssel zu einer Aktualisierung des Religiösen noch vor allem auf dem Mystiker, dem Heiligen, so ist in der Inszenierung eine gleichmäßigere Verteilung von Person und Botschaft 752 Vgl. Kunstmann, Joachim: Religionspädagogik: eine Einführung. 2. überarb. Aufl. Tübingen/ Basel 2010. 310. 753 Vgl. Pollack, Detlef: Religion. In: Joas, Hans; Mau, Steffen (Hg.): Lehrbuch der Soziologie. 4. vollst. überarb.u. erw. Aufl. Frankfurt a.M. 2020. 505–547. 510.

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»Religiöse Differenzen« – Analysen

zu erkennen. Beides wird erst im Kontext des sozialen Umfeldes sichtbar. Der Inszenierungszusammenhang legt hier aber nahe, dass das Religiöse durchaus seinen Platz innerhalb der Gesellschaft hat. Die Ablehnung trifft Paolo übergreifend aus allen gesellschaftlichen und religiösen Gruppierungen. Die Ablehnung per se stellt so kein beziehungsstörendes Element dar, sondern definiert gerade die Beziehung zum Anderen erst. Die Religion ist demnach in der Inszenierung etwas bleibend Fremdes. Ihre Botschaften können nicht vollständig verstanden werden und bleiben irritierend, weil der religiöse Mensch selbst in sich irritiert ist. Die religiösen Gruppen der Juden und Heiden scheinen in sich ebenfalls fragil. Die Gemeinschaft ist brüchig und steht in der Gefahr auseinander zu fallen. Die Inszenierung hebt dies mit einzelnen Charakteren wie Pietro oder Timoteo und ihren Verstrickungen in Konflikte hervor. Diese Differenzen zeigen sich u. a. auch an deutlicher Kritik religiöser Institutionen. Die Inszenierung geht hier nicht so harsch vor wie der Drehbuchentwurf. Bei Pasolini ist die spätere Version des Drehbuchs sehr stark von seiner persönlichen Kritik an der Kirche durchdrungen und wird insbesondere auch sprachlich verarbeitet. Auch die Figur des Paolo wird als Begründer der Institutionalisierung z. T. negativ besetzt. Die Inszenierung des Theaters Osnabrück stellt Paolo mehr als Kritiker heraus, der selbst unter der Institutionalisierung leidet und isoliert wird. Paolo scheint somit selbst als Leidtragender dieser Entwicklung und wird so zur Identifikationsfigur für einen Glaubenden außerhalb der kirchlichen Institutionen. Es kommt somit in der Inszenierung zu vielfältigen Differenzerfahrungen sowohl intrareligiös, interreligiös als auch zwischen dem religiösen Individuum und dem gesellschaftlichen Umfeld. Nach Udo Schnelle sind es solche Differenzerfahrungen im Kontext des Paulus die es ermöglichen die religiöse Identität erst auszubauen.754 »Die Unterschiedenheit zur Umwelt, die Erfahrungen an eigene und fremdgesetzte Grenzen zu stoßen, sowie die positive Selbstwahrnehmung bestimmen gleichermaßen die Identitätsbildungsprozesse. Auch kollektive Identitäten bilden sich aus der Bearbeitung von Differenzerfahrungen und Gemeinsamkeitsgefühl.«755

Und weiter: »Die von Paulus entworfene neue Identität besaß offenbar für Juden wie für Menschen aus der griechisch-römischen Tradition eine große Attraktivität, was ihre einzigartige Erfolgsgeschichte dokumentiert. Zugleich waren Konflikte unausweichlich, denn das paulinische Identitätskonzept konkurriert mit vielen anderen innerhalb der Gesamtgesellschaft und des frühen Christentums.«756

754 Vgl. Schnelle, Paulus, 13. 755 Ebd. 756 A. a. O., 17.

»San Paolo«

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Im Musiktheater dominieren diese Konflikte, es kommt jedoch zu einer Aktualisierung religiöser Erfahrung bzw. religiösen Lebens, indem zunächst eine Irritation des Bestehenden erfolgt. Auch das Bekehrungserlebnis des Paolo selbst stellt eine Irritation des bestehenden religiösen Identitätskonzepts dar und bereitet die Grundlage für eine Neuorientierung. 3.3.3.4 Zusammenfassung Bereits Pier Paolo Pasolini zeigt in seinem Œuvre exemplarisch auf, wie sich religiöse Narrative in die künstlerischen Ausdrucksformen eines säkularen Systems transformieren lassen. Die Adaption des Theaters baut hierauf auf, erweitert den Stoff aber um zusätzliche Perspektiven: Die Religion als solche wird als Erfahrung von vielfältigen Konfliktsituationen dargestellt. In der Inszenierung des Osnabrücker Theaters kommt es zu einer Verdichtung des Handlungsgeschehens. Paolo wird zum klaren Protagonisten, es geht um ihn und die Botschaft, die er an seine Umwelt richtet. Er lebt in Differenzerfahrungen unterschiedlichster Art: Er muss sich zu der eigenen religiösen Gemeinschaft, Anhängern anderer Religionen und nicht zuletzt und vor allem zu sich selbst verhalten. Das alles vor der Folie der gesellschaftlichen Akzeptanz, sowohl werkimmanent als auch über die Bühne hinaus im Dialog mit dem Publikum. Dabei wird die von Pasolini geforderte Unmittelbarkeit im Musiktheater zu einer buchstäblichen Unverständlichkeit. Das Publikum erlebt eine Figur, die als Stellvertreter für eine ganze Religion fungiert, mit ihrem Handeln aber immer wieder auch irritiert. Die Fokussierung auf die Figur des Paolo bietet ein unmittelbares Gegenüber für die eigene Auseinandersetzung, das eigene Paulusbild wird qua persona auf der Bühne infrage gestellt. Dies lässt die Inszenierung aber nur zu einem gewissen Grad zu, die sprachliche Barriere hat hier eine abschirmende Funktion. Die Distanz ermöglicht dem Zuschauer eine Objektivität, die die interpersonale Subjektivität zwischen Figur und Zuschauer relativiert. Der im Drehbuchentwurf intendierte Kontrast zwischen Heiligkeit und Alltäglichkeit wird in der Inszenierung auf subtile Art und Weise verwischt. Das Musiktheater konfrontiert das Publikum mit einem in seiner Ambivalenz und Diffusität schwer zu greifenden Paulus, der zu wenig ein Heiliger und zu viel ein leidender Apostel zu sein scheint. Die Religion wird somit in erster Linie für Paulus, aber auch für alle Beteiligten, zu einer »komplizierten Angelegenheit«, bei der der eigene Standpunkt stets fragwürdig bleibt und es unweigerlich zur Irritation kommt.

4.

Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

»Es geht darum, dass wir glauben, es geht nicht darum, was wir glauben.«757 Diese Perspektive war bereits zu Beginn dieser Arbeit maßgebend und kann auch für die weiterführende Auswertung der Analyseergebnisse beibehalten werden. In den untersuchten Projekten des Theaters Osnabrück dominiert eine Sicht auf die Religionen im Plural. Dabei wird nicht eine einzelne religiöse Tradition in den Blick genommen, sondern die Religionen als Kollektiv betrachtet –vor allem im Gegenüber zum Anderen und zur Gesellschaft. Im folgenden Schlusskapitel sollen zunächst die Beobachtungen zur Darstellung von Religion in den analysierten Theaterprojekten zusammengefasst werden (4.1.1). Die Inszenierungen des Theaters Osnabrück zeigen, dass auch jenseits der etablierten Ansätze Voraussetzungen für und Perspektiven auf einen gelingenden Dialog geschaffen werden können. Dies bedeutet auch, dass klassische Ansätze und Theorien des interreligiösen Dialogs offen kritisiert werden (4.1.2). Als entscheidende Beobachtung kann aufgezeigt werden, dass das Theater als »dritte Instanz« im Dialog die Rolle eines zusätzlichen, säkularen Gesprächspartners einnimmt (4.1.3). Aus dieser autonomen Position heraus können und müssen die Impulse auch theologisch ernstgenommen werden, die die Inszenierungen zur Sprache bringen. Es sind drei Aspekte der Inszenierungen, die sich als besonders produktiv für den interreligiösen Diskurs herausgestellt haben: Mythos, Utopie und Irritation. Diese Topoi weisen auch aus theologischer Perspektive eine hohe Anschlussfähigkeit auf. Sie werden als »andere Themen« des interreligiösen Dialogs vorgestellt und hinsichtlich ihrer religionsübergreifenden Funktionalität untersucht (4.2). Die Inszenierung »Das Ebenbild« legt in ihrer Gesamtkonzeption den Blick auf den Mythos als religionsverbindende Basis frei (4.2.1). Die Utopie zeigt sich konkret im Traum von einer toleranteren Gesellschaft in den Projekten der 757 Text auf der Rückseite des Veranstaltungsflyers zu »Urban Prayers Osnabrück« Triple Vorstellung. Text orientiert an Bicker, Was glaubt ihr denn, 21;53. Hervorhebungen im Zitat sind durch die Verfasserin vorgenommen worden.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

»Urban Prayers«-Reihe und zeigt damit das Potenzial der religiösen Hoffnung auf (4.2.2). Das Musiktheater »San Paolo« macht schließlich deutlich, dass Religion innerhalb von Gesellschaft auch immer mit Irritation und Spannungen einhergeht (4.2.3). Das Theater gestaltet als säkulare Institution den Dialog zwischen Religionen und Zivilgesellschaft und baut gleichsam eine Brücke zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen. Das Theater wird so zum Übersetzer, durch den religiöse Stoffe säkularisiert werden. Diese Vermittlungstätigkeit lässt sich wiederum auf interreligiöse Verständigungsprozesse zurückspiegeln (4.2.4). Die Arbeit wird daher in einem letzten Kapitel mit einem Ausblick auf das Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog abgeschlossen (4.3).

4.1

Andere Perspektiven auf den Dialog

4.1.1 Religionen auf der Bühne – eine Zusammenfassung Die Analysen zu den Theaterprojekten »Das Ebenbild«, »Urban Prayers« und »Nathan der Weise« haben gezeigt, dass Religion nicht nur in der Gestalt einer einzigen Religion gezeigt wird. Damit spiegelt das Theater eine gesellschaftliche Realität, die so seit Jahrzehnten weltweit greifbar ist und sich auch in Deutschland in Pluralisierungs- und Integrationsdebatten sozialwissenschaftlich und theologisch niederschlägt.758 Dazu Christoph Schwöbel: »Als religiös-weltanschaulichen Pluralismus kann die Situation einer Gesellschaft bezeichnet werden, in der sich unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Basisorientierungen in Koexistenz und auch in Konkurrenz befinden. Der Pluralismus der Religionen und Weltanschauungen ist in vielen Ländern der Erde am Beginn des 21. Jh. eine alltägliche Erfahrung.«759

Und weiter: »Kulturelle, weltanschauliche und religiöse Vielfalt begegnet nicht mehr vorrangig außerhalb der Grenzen der Gesellschaft, sondern innerhalb ihrer 758 Vgl. dazu aus sozialwissenschaftlicher Perspektive u. a.: Reuter, Astrid; Gerster, David; Willems, Ulrich (Hg.): Ordnungen religiöser Pluralität: Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung. Frankfurt/ New York 2017; Berger, Peter L.: Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften. Frankfurt/ New York 2015. Sowie aus theologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive u. a. Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus; Großhans, Hans-Peter; Krüger, Malte Dominik (Hg.): Integration religiöser Pluralität. Philosophische und theologische Beiträge zu einem Religionsverständnis in der Moderne. Leipzig 2010; Weyel, Birgit; Gräb, Wilhelm (Hg.): Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven. Göttingen 2006. 759 Schwöbel, Christoph: Toleranz aus Glauben. Identität und Toleranz im Horizont religiöser Wahrheitsgewißheiten. In: Schwöbel, Christoph: Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Religion der Kultur. Tübingen 2003. 217–244. 217.

Andere Perspektiven auf den Dialog

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Grenzen in den konkreten Situationen des Zusammenlebens.«760 Wenn das Theater also Religion in der Vielfalt ihrer Ausdrucksformen zeigt, so ist dies per se nichts Innovatives und kann mit dem Auftrag des Theaters als kulturelle Institution legitimiert werden761. Die Beobachtungen in Osnabrück zeigen jedoch, dass die vorgestellten Inszenierungen durchaus einen Schritt weiter gehen, indem sie die religiöse Pluralität nicht nur von vornherein als gesamtgesellschaftliches Phänomen einstufen, sondern die einzelnen Ausprägungen unter einem allgemeinen Religionsbegriff verstehen. Für das Theater existiert die Religion nur in ihrer Vielfalt, man kann daher ausgehend von den untersuchten Projekten von Religion nur im Plural sprechen. »Das Ebenbild« Im Musiktheater »Das Ebenbild« (3.1), das im Rahmen des »Spieltriebe«-Festivals (2019) unter der Regie von Haitham A. Tantawy uraufgeführt wurde, geht es um eine versatzstückartig präsentierte Einheitsreligion, die teils synkretistische Tendenzen aufweist. Es kommt dort sowohl zu einer Synthese von mythologischen Narrativen als auch von unterschiedlichen religiösen Motiven. Dabei wird bewusst auf Traditionen zurückgegriffen, die religionsübergreifende Bedeutung haben, wie Hiob oder der Turmbau zu Babel, ebenso auf anthropologische Konstanten, wie die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Das Musiktheater kann daher, wie in Kapitel 3.2.3.3 gezeigt wurde, auch als Paradigma eines religionstheologischen Pluralismus bestimmt werden. Es wird dort eine synkretistische Religion gezeigt, in der interreligiöse Differenzen bereits aufgelöst sind und der eigentliche Konflikt zwischen den Religionen keine Rolle mehr spielt. Mit Schmidt-Leukel konnte somit formuliert werden: »Wenn sie auf die zentralen Fragen des menschlichen Lebens reflektiert, dann wird die Theologie in Zukunft hierfür auch auf andere Religionen zurückgreifen. Sie wird die Antworten, die bisher innerhalb der eigenen Tradition gegeben wurden, in einem neuen vergleichenden Licht betrachten und auf diesem Wege weiterentwickeln.«762 Dies geht auch mit der Verschiebung der Perspektive einher, da weniger auf spezifische religiöse Themen, wie etwa die Christologie geschaut wird. Es kommt vielmehr zu einer kollektiven Orientierung an einer übergeordneten Transzendenz, die sich in einem gemeinsamen Mythos zusammenfassen lässt. Zusammengehalten wird dieser diffuse Bereich des Religiösen durch die konkrete Abgrenzung zum Gebiet der Naturwissenschaft. Die drei Hauptfiguren des 760 Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus, 218. 761 Wobei hier auf die in Kap 2.1.1.1 beschriebene Diskussion zum (Selbst-)verständnis des Theaters verwiesen werden muss. Für eine gesellschaftliche Verantwortung des Theaters plädieren u. a. Baecker, Das Theater als Trope; Brauneck, Die Deutschen und ihr Theater sowie Bicker, In Zukunft für das Theater schreiben. 762 Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt, 28.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

Stücks versuchen sich jeweils in individuellen Suchbewegungen zwischen diesen Polen zu verorten und spiegeln damit auch die individuelle religiöse Entwicklung und Orientierung in Bezug auf moderne weltanschauliche Haltungen wider. Im Stück zeigt sich so ein Religionsverständnis, bei dem das Individuum selbst entscheidet, wie es sich zur Religion verhält. Stadtprojekt »Nathan«: »Urban Prayers« und »Nathan der Weise« Im Rahmen des Stadtprojekts »Nathan« (Spielzeit 2016/17) entstanden sowohl die Inszenierung zum Klassikerstoff »Nathan der Weise« als auch die Inszenierungen der drei Jugendclubs zu »Urban Prayers« (vgl. 3.2). In den verschiedenen Inszenierungen der »Urban Prayers« ist der Befund einer religiösen Homogenisierung nicht so eindeutig (vgl. 3.3.2.4). Dort tritt der sog. »Chor der Gläubigen« auf. Dabei geht es jedoch nicht um die Darstellung einer Universalreligion, sondern um die Gemeinschaft der Gläubigen in einem säkularen Umfeld. Auch hier wird Homogenität durch Abgrenzung erzeugt. Dabei wird der Religionsbegriff so geweitet, dass auch diffuse und teils indirekte oder implizite religiöse Überzeugungen vorgestellt werden. Die drei Inszenierungen thematisieren dabei unterschiedliche Standpunkte im Diskurs zwischen Gesellschaft und Religionen. Dabei reicht das Spektrum von einer allgemein pessimistischen Perspektive auf soziale Gemeinschaften und einer daraus resultierenden Problematisierung von Religion (»Alles was wir glauben mussten«) über einen utopischen Blick auf die Zukunft der von je eigenen Ängsten aber auch von Sehnsüchten und Vorstellungen geprägt ist (»Doorways«) hin zu einem produktiven Diskurs von Religion und Gesellschaft, in dem Fragen und Differenzen offen zur Sprache gebracht und zu einer kollektiven Hoffnung umgesetzt werden (»Nach Babel und noch weiter«). Alle Inszenierungen wurden von den Jugendclubs des Theaters erarbeitet, was den Impuls zur Gestaltung und Gesellschaftskritik noch stärker machte. Die Religion bleibt in allen Inszenierungen nicht mehr und nicht weniger als eine Option – sie kann aber in den aufgezeigten Kontexten hilfreich sein. So liegen »träumen« und »glauben« in den drei »Urban Prayers«- Projekten nah beieinander. Das Gemeinsame der Religionen liegt demnach in ihrer zukunftsgestalterischen Kraft, die sich auch gesellschafts- und sozialkritisch niederschlägt. Bei der Inszenierung »Nathan der Weise« geht es vordergründig um das Gegeneinander der Religionen und die Herausforderung, trotz der Konkurrenzsituation, zu einem gemeinsamen (Religions-)Frieden zu gelangen. Somit wird auch hier über die Erwartungshaltung homogenisiert. Dem klassischen Verständnis nach sind die Ringe in der Parabel gleich (»der rechte Ring war nicht Erweislich«763) und müssen ihren Wert gegenüber dem säkularen Umfeld erst beweisen. Dass die Inszenierung dieses Modell kritisch infrage stellt, zeugt von 763 Lessing, Nathan, 3. Aufzug, 7. Auftritt, 1962.

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der Notwendigkeit, auch diese interreligiöse Verhältnisbestimmung neu zu verhandeln. Im nachfolgenden Kapitel 4.1.2 werden die Auswirkungen der Inszenierung mit klassischen religionstheologischen Modellen diskutiert. »San Paolo« Das vierte Beispiel – das 2018 uraufgeführte Musiktheater »San Paolo« – fällt zunächst aus dem Schema, da hier vorrangig intrareligiöse Verhältnisbestimmungen inszeniert werden. Das Musiktheater zeigt jedoch die Auseinandersetzungen und Prozesse innerhalb einer Religionsgemeinschaft und zeichnet damit ein ambivalentes Bild von Religion, das den Einzelnen, im Stück Paolo, kontinuierlich vor die Herausforderung stellt sich als Glaubender in seiner Umwelt zu positionieren. Die Gefahren, die hier zum Ausdruck gebracht werden, führen in eine Problematik, die sich an der Schnittstelle von religiösen und gesellschaftlichen Handlungsoptionen kristallisiert und die Zuschauenden zunächst irritiert. Der heilige Paulus wird als Prototyp eines Glaubenden vorgestellt, der stetig zwischen seiner Rolle als »Heiliger« und seinem Dasein als Mensch aufgerieben wird. Die Verpflichtung, die der Protagonist dabei gegenüber Gott und gegenüber seinen Mitmenschen empfindet, eröffnet hier einen Diskurs, der nicht nur die christliche Religion prägt, sondern sich auch in anderen Religionen niederschlägt und die Frage nach einem grundsätzlichen Irritationspotenzial der Religionen stellt. Die homogenisierende Haltung des Theaters Osnabrück steht damit einerseits im Einklang mit pluralistischen Positionen innerhalb der Theologie der Religionen (Kapitel 2.1.1). Auch wenn das Theater diese Anleihen nicht explizit macht, so können religionspluralistische Tendenzen, wie in den einzelnen Analysen gezeigt764, deutlich nachgewiesen werden. Es wird in den Inszenierungen kaum Wert auf die Darstellung religiöser Heterogenität gelegt. Dies zeigt z. B. anschaulich auch das Kostümbild der Inszenierungen des »Stadtprojekts Nathan«. Die einzelnen Religionsvertreter in »Nathan der Weise« unterscheiden sich in ihren schwarzen und grauen Gewändern nur ganz geringfügig voneinander, Sittah sieht aus wie Recha, die beiden weiblichen Rollen unterscheiden sich nur durch das muslimische Kopftuch. Zwar sind im Bühnenbild auch religiöse Symbole zu erkennen, diese fallen aber nicht weiter auf. Nur eine der drei »Urban Prayers« Inszenierungen rückt explizit religiöse Gruppen ins Bild: In »Nach Babel – und noch weiter« sind Juden, Muslime und Christen zunächst deutlich durch farbige Kleidung unterschieden – aber genau diese äußeren Merkmale werden im Laufe des Stücks sukzessive abgebaut. Die weiteren Inszenierungen »Doorways« und »Alles was wir glauben mussten« verzichten von 764 Siehe dazu die Analysekapitel zu »Das Ebenbild« (3.1), Stadtprojekt »Nathan«: »Nathan der Weise« und »Urban Prayers Osnabrück« (3.2) und »San Paolo« (3.3).

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

vornherein auf die kollektive Zuteilung in religiöse Gruppen. Hier sind es jeweils einzelne, die ihre religiösen Haltungen erkennen lassen. Andererseits kommt es in keinem der Theaterinszenierungen zu einer Wertung oder einem Vergleich der gezeigten Religionen im Sinne einer Klassifizierung. Es konnte beobachtet werden, dass das Theater die Gleichwertigkeit zwar indirekt voraussetzt, sie aber nicht selbst als normatives Kriterium in den einzelnen Projekten thematisiert. Eine solche Gleichwertigkeit kann als zentrales Kriterium des klassischen religionstheologischen Pluralismus nach Hick verstanden werden. Diese baut, wie in Kapitel 2.1.1 gezeigt, auf der Haltung auf, dass das Verhältnis der Religionen normativ bestimmt und hierarchisiert werden kann. Für das Theater ist ein anderer Zugang festzuhalten: Die Gleichwertigkeit der Religionen ist darin eine von außen zugesprochene Eigenschaft, die nicht aus einem Vergleich der Religionen entspringt, sondern vielmehr von einer säkularen Haltung zeugt. Die Gleichwertigkeit wird vorausgesetzt und nicht im Sinne eines religionstheologischen Pluralismus für einen Dialog der Religionen funktionalisiert. Das beinhaltet auch, dass diese Voraussetzung bei drei der vier untersuchten Theaterinszenierungen nicht auf ihr Potenzial für eine Verständigung der Religionen hin hinterfragt werden. Nur die Inszenierung von »Nathan der Weise« positioniert sich hier eindrücklich – sie stellt das pluralistische Grundprinzip infrage und grenzt sich dazu komplementär von der lessingschen Vorlage ab. Hier zeichnet sich bereits deutlich ab, dass das Theater kein primäres Interesse an der Überprüfung religionstheologischer Theorien hat, auch wenn sich indirekt in den einzelnen Stücken religionstheologische Überzeugungen wiederfinden lassen. Die Inszenierungen zeugen vielmehr von eigenen Beobachtungen und Einschätzungen zur Verortung der Religion(en) in der Gesellschaft, die ihrerseits von den Theologien rezipiert und diskutiert werden können.

4.1.2 Warum Nathan in Osnabrück scheitert – Kritik am Ideal der Vernunft und am religionstheologischen Pluralismus Man kann einen Dialog zwischen den Religionen heute nicht allein unter Rückgriff auf die Vernunft herbeiführen – das hat die Inszenierung von »Nathan der Weise« am Theater Osnabrück deutlich aufgezeigt. Die argumentative Trennung von Glaube und Vernunft, von wahrem Menschsein und der Existenz als Glaubende geht am Ende nicht auf. Die religiösen Differenzen bleiben bestehen und werden nach allen Bemühungen am Ende nur noch lauter vorgebracht. Auch ein kollektives und auf Traditionen beruhendes Selbstverständnis und ein Agieren in Gruppen führen zu nichts. Vor allem das Bühnenbild macht deutlich, dass echter Dialog dann möglich wird, wenn sich die Gesprächspartner

Andere Perspektiven auf den Dialog

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als Individuen begegnen und im vorderen Teil der Bühne – gleichsam außerhalb ihrer festgelegten Kulissen – spielen. Es rückt damit eine deutlich differenzsensible Haltung in den Fokus. Die Inszenierung widerspricht damit nicht nur einer klassischen pluralistischen Position im Gefüge der Theorie des interreligiösen Dialogs, sondern erteilt auch dem klassisch-aufklärerischen Dualismus von Glaube und Vernunft eine Absage. Im Drama »Nathan der Weise« spiegelt sich Lessings Rolle als »Repräsentant der religiösen Aufklärung«765 und seine jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit der Theologie seiner Zeit wider.766 Vor allem die Debatte mit dem lutherischen Pfarrer und Theologen Johann Melchior Goeze hat dieses Streben geprägt.767 Das »dramatische Gedicht« »Nathan der Weise« schien Lessing sowohl die angemessene Reaktion auf den Diskurs mit Goeze als auch das geeignete Medium seiner (theologischen) Überzeugungen zu sein. Anders als etwa KarlJosef Kuschel, der in Lessings Arbeit ein deutliches Anliegen im Sinne einer Theologie der Religionen erkennt,768 will Lessing keinen direkten Beitrag zu Fragen des interreligiösen Dialogs leisten.769 In erster Linie ging es ihm um die 765 Ter-Nedden, Lessings dramatisierte Religionsphilosophie, 283. 766 Vgl. Vollhardt, Ringparabel, 223. Es kann an dieser Stelle kein umfassendes Bild über Lessings religionsphilosophisches Werk vorgestellt werden, es sollen daher nur einige Aspekte beschrieben werden, die aus Sicht der Verfasserin unmittelbar mit den Fragen des interreligiösen Diskurses verbunden sind. Eine ausführliche Zusammenstellung bietet der Tagungsband: Bultmann, Christoph; Vollhardt, Friedrich (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin/New York 2011. Zur Relevanz des Islams in Lessings Werk siehe Horsch, Silvia: Rationalität und Toleranz. Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam. Würzburg 2004. 767 Nachdem Lessing per Erlass des Herzogs Carl von Braunschweig verboten wurde sich weiter öffentlich in theologischen Angelegenheiten zu äußern, begann für ihn die Arbeit an »Nathan«. Vgl. Schilson, Religion und Theater bei G.E. Lessing, 410. Auch wenn Lessing sich nicht als Theologe versteht, so ist es doch sein Anliegen eine Meinung zu vertreten. Dies geschehe »(n)icht in philosophischer Argumentation oder in strikt theologischem Beweisgang, nicht in dogmatischer Wahrheitsbehauptung und aus Gewißheit eines unverbrüchlichen Glaubens heraus […]«, sondern »(a)ufklärend und geradezu offenbarend«. A. a. O., 414. 768 »Vielleicht hat ja Lessing – bei aller historischen Begrenztheit seines Modells – eine Theologie des Neben – und Miteinanders der Religionen vorausentworfen, unter deren Niveau noch allzu viele im Raum von Theologie und Gesellschaft leben.« Kuschel, Karl-Josef: Vom Streit zum Wettstreit der Religionen: Lessing und die Herausforderung des Islam. Düsseldorf 1998. 20. Und weiter schreibt Kuschel über Lessing: »Der ›Andere‹ ist ihm keine störende Beunruhigung, sondern eine Infragestellung des Vertrauten, ein heilsamer Wechsel der Perspektiven, eine Bereicherung angesichts eigener Verengungen.« Ebd. 769 Vgl. Vollhardt, Ringparabel, 209. Vor allem in seinen späteren Schriften thematisiert Lessing auch die Grenzen der Erkenntnis insbesondere – wie Strohschneider-Kohrs hervorhebt – bei intra-oder auch interreligiösen Fragen. Vgl. Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Zur Logik der Erziehungsschrift. Widerspruch oder Kohärenz? In: Bultmann, Christoph; Vollhardt, Friedrich (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin/New York 2011. 155–178. 178. So formu-

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intrareligiöse Frage nach der Wahrheit in der (christlichen) Religion. »Die Arbeit am Lehrgedicht beginnt also situationsabhängig, sie dient einem aktuellen apologetischen Interesse, […]«770. 4.1.2.1 Die Ringparabel als Beispiel pluralistischer Religionstheologie Mit der Kritik der Inszenierung am Klassikertext verbindet sich die Kritik an der Idee, dass eine pluralistische Haltung automatisch zu einem Religionsfrieden führe. Die Ringparabel, die das argumentative Herzstück des lessingschen Dramas ausmacht, bringt ein pluralistisches Ideal mit sich. Auch wenn am Ende der Osnabrücker Inszenierung dieses Ideal verfehlt und kein Religionsfriede erreicht wird, so wird doch der Versuch aufgezeigt diesen Zustand zu überwinden. Kern der Hoffnung auf einen interreligiösen Frieden ist auch in der Inszenierung des Theaters Osnabrück das Instrument der Ringparabel. Inwieweit dieses Narrativ, so wie Lessing es verwendet, überhaupt geeignet ist, um interreligiöse Differenzen zu verhandeln, wird nachfolgend diskutiert. Über die Ringparabel werden religionstheologische Aussagen in gebündelter Form in das Stück eingebracht. Man könnte angesichts einiger Passagen der Ringparabel771 vermuten, dass die Bedeutsamkeit der Religionen negiert wird, da man sich zugunsten eines tugendhaften Lebens auch mit der Möglichkeit der Unwahrheit der eigenen Religion arrangieren müsse.772 In Bezug auf die Gleichwertigkeit bleibt die Parabel jedoch ihrem Anspruch verhaftet: liert er etwa im Vorwort der Schrift zur »Erziehung des Menschengeschlechts« und nimmt darin eine deutlich zurückhaltende und relativierende Position ein: »Ich habe die erste Hälfte dieses Aufsatzes in meinen Beyträgen bekannt gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen. Der Verfasser hat sich darinn auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt. Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, das die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse. Und so, dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt! Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen! Ich meyne diesen. – Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unseren Hohn, diesen unseren Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts; und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bey allem im Spiele; nur bey unsern Irrthümern nicht?« Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Vorbericht. Siehe dazu: Lachmann, Karl; Muncker, Franz (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Werke. 23 Bd. Stuttgart 1886–1924. Zitiert nach Strohschneider-Kohrs, Zur Logik der Erziehungsschrift, 175. 770 Vgl. Vollhardt, Ringparabel, 209. 771 3. Auftritt, siebter Aufzug. Lessing, Nathan. 772 Vgl. Vollhardt, Ringparabel, 216.

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»Die drei Religionen partizipieren an diesem gemeinsamen Ursprung, der zugleich ein moralisches Vermächtnis ist. Obwohl die positiven Religionen unecht und in ihren Lehrmeinungen falsch sein mögen, sind sie doch imstande, etwas für die Lebenspraxis ihrer jeweiligen Anhänger zu leisten.«773

Auch Jan Assmann betont die »performative« Wirkung in Bezug auf die Ringparabel, es gehe in diesem Sinne um eine noch »herzustellende Wirklichkeit«774, die erst durch die Tat selbst entstehen könne. »Auf die Ringparabel angewandt, kann man sagen, dass sie die Wahrheit der Religionen der Ordnung des Gegebenen entzieht und in die Ordnung der herzustellenden Wirklichkeit verweist.«775 Es müsste hier der Aspekt der Außen-Wirkung und der praktische Einsatz für Toleranz, die sog. ethische Toleranz776, und Akzeptanz als Kriterien für die Wertung von Religionen ergänzt werden.777 Vollhardt schreibt dazu: »Am Ende steht nicht die Botschaft von der Gleichgültigkeit gegenüber allen Religionen […], sondern die Aufforderung zu einem Wettbewerb, aus dem sich die Lösung der keineswegs verabschiedeten Wahrheitsfrage ergeben wird, nicht argumentativ, sondern ermahnend.«778. Es zeigt sich weiter, dass auch für Lessing die Veränderung der Praxis das eigentliche Ziel seiner Bemühung darstellte, das Tun des Richtigen.779 »Erst im Handeln bestätigt sich der Glaube an eine Offenbarung, ganz wie im dramatischen Spiel.«780 Es kommt hier zu einer Verknüpfung von 773 Vgl. Vollhardt, Ringparabel, 217. 774 Assmann, Jan: Lessings Ringparabel – die performative Wendung der Wahrheitsfrage. In: Tück, Jan-Heiner; Langthaler, Rudolf (Hg.): »Es strebe von euch jeder um die Wette«. Lessings Ringparabel – ein Paradigma für die Verständigung der Religionen heute? Freiburg i. Br. 2016. Eine gekürzte Form ist im Programmheft »Nathan der Weise« abgedruckt, für das Zitat siehe hier S. 15. 775 Ebd. 776 Vgl. Gerlitz, Peter. Art. Toleranz III. Religionsgeschichtlich. In: TRE Bd. 33. 2002. 668–676. 673. 777 Ter-Nedden erkennt in der Wahrheitsfrage auch das Durchklingen der Theodizee: »Das ist die biblische Vorlage für Lessings antitragische Theodizee, und auch hier, […] stellt sich für den Dramatiker die Aufgabe, das mythische Geschehen in ein zwischenmenschliches Geschehen zu verwandeln […] und das sich gleichwohl als Antwort auf die Frage nach dem Heilsversprechen der Religion(en) angesichts des faktischen Leids und Unheil verstehen lässt.« Ter-Nedden, Lessings dramatisierte Religionsphilosophie, 330. Die Verarbeitung des Hiob-Motivs geht hier gleichsam mit einer Aktualisierung des Stoffs als auch mit einer Entmythifizierung einher. »Das Elend des biblischen Hiobs ist das allgemeine der menschlichen Hinfälligkeit; das Elend des modernen Hiob entspringt der Religion und ist das Böse, das die Menschen einander unter Berufung auf ihre Götter zufügen.« A. a. O., 331. Dabei wird erstaunlicherweise die Religion nicht mehr als Adressat, sondern als Auslöser verstanden. Nathan ist derjenige, der angesichts des ihm durch die religiösen Auseinandersetzungen zugefügten Leids, die Kraft aufbringt, selbst Gutes zu tun und sich durch die Adoption Rechas eine neue Familie aufzubauen. 778 Vollhardt, Ringparabel, 218. 779 Vgl. dazu auch Ter-Nedden, Lessings dramatisierte Religionsphilosophie, 292. 780 Vollhardt, Ringparabel, 227.

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religiöser Wahrheit und dem jeweiligen Engagement einer Religion, das sich nach Vollhardt u. a. in der Toleranzbereitschaft zeigt. Auch außerhalb von Lessings religionstheologischen Überlegungen lässt sich hieran anknüpfen: Eine nach Außen gerichtete Handlungsbereitschaft sieht auch Hans-Peter Großhans als Merkmal für das Verständnis von Toleranz einer Religionsgemeinschaft an. Demnach gibt die Bereitschaft zum öffentlichen Diskurs Aufschluss über das eigene Toleranzverständnis.781 Großhans geht für ein christliches Verständnis von Toleranz aber noch darüber hinaus. Es müsse demzufolge v. a. in interreligiösen Fragen anstelle von Toleranz um Anerkennung und Respekt gehen, so ist »damit sogleich die Voraussetzung für eine diskursive Auseinandersetzung in Fragen der Religion – interreligiös und interkonfessionell – gegeben.«782 Problematisch wird es, wenn die Toleranzfähigkeit oder andere Tugenden zum Maßstab erhoben und einzelne Religionen ausschließlich nach ihrem moralischen Potenzial beurteilt werden sollen. Die Kriterien dafür sind in der Regel nicht objektiv und führen wiederum zu Herabsetzungen. 4.1.2.2 Kritik an religionsübergreifenden Wertmaßstäben Die Tendenz zur Klassifizierung religiöser Phänomene wurde bereits im Zuge der Theologie der Religionen diskutiert.783 John Hick versuchte in seiner pluralistischen Religionstheologie Kriterien für die Einstufung religiöser Erfahrungen zu formulieren. Er fokussierte sich dafür auf das Transformationspotenzial der verschiedenen religiösen Traditionen. »Although the various concepts of salvation differ as much as (and in correspondence with) the different concepts of the Divine, they nevertheless – according to Hick – display a common structure that he describes as ›the transformation from self-centredness to Reality-centredness‹, whereby ›Reality‹ signifies transcendent reality: the Real. The central criterion is therefore: ›Religous traditions and their various components […] have greater or less value according as they promote or hinder the salvific transformation.‹«784

Für Hick zählte dabei die Richtung der Orientierung »from self-centredness to Reality-centredness«785. Dass es sich dabei um ein für die meisten Religionen ähnliches Verhalten handle, leitet Hick aus dem universalen Konzept von Nächstenliebe ab.786 Eine praktische Sichtbarkeit der Religionen scheint also 781 782 783 784

Vgl. Großhans, Toleranz, 28. A. a. O., 29. Vgl. Kap. 2.2.2.1. Hick, An Interpretation of Religion, 300. Zitiert nach Schmidt-Leukel, Pluralist Theologies, 65. 785 Ebd. 786 Vgl. ebd.

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auch für Hick hier einen zentralen Stellenwert zu besitzen, die Motivation Gutes zu tun ist allerdings allein aus der Bezogenheit auf den (gemeinsamen) transzendentalen Seinsgrund abgeleitet. Nicht zuerst die Tat wird in dieser Argumentation legitimiert, sondern die Quelle. Darüber hinaus äußert sich auch Lessing in seiner religionsphilosophischen Schrift, dem »Vierten Gegensatz«, zu einem religionsübergreifenden Konzept, das er als das »Seligmachende« umschreibt: »Ich will es als (sic!) den Gottesgelehrten gern zugeben, daß aber doch das Seligmachende in den verschiedenen Religionen immer das Nehmliche müsse gewesen seyn: wenn sie mir nur hinwiederum zugeben, daß darum nicht immer die Menschen den nehmlichen Begriff damit müssen verbunden haben. Gott könnte ja wol in allen Religionen die guten Menschen in der nehmlichen Betrachtung, aus den nehmlichen Gründen selig machen wollen: ohne darum allen Menschen von dieser Betrachtung, von diesen Gründen die nehmliche Offenbarung ertheilt zu haben.«787 Das »Seligmachende« bei Lessing weist deutliche Parallelen zum Hickschen Konzept von »the Real« auf. Nach Bernhardt steht Lessing hier die Vorstellung einer »natürlichen Vernunft- und Humanitätsreligion« vor Augen. Die Menschheit könne sich demnach in einer endgültigen Vernunftreligion verwirklichen, die gegenwärtige Heterogenität der Religionen spiegle die unterschiedlichen Stufen dieser wider.788 Es handle sich demnach, wie im Beispiel der Ringparabel, um einen tatsächlichen Wettlauf um das Erreichen des Zielzustandes. »Alle Religionen sind auf dem (gleichen) Weg. Erst wenn das statische Moment der Wertbemessung hinzutritt, läßt sich differenzieren: Die Religionen sind unterschiedlich weit gekommen auf ihrem Weg. Erst die wertende Graduation ist es also, die den Entwicklungsgedanken zur Absolutheitsbegründung befähigt, indem sie ihn als Bestimmung einer Höher-Entwicklung, eines teleologisch-axiologischen Fortschritts faßt.«789

Es sind also Überschneidungen zwischen dem Tun des Richtigen, so wie es Lessing im Nathan einfordert und als seligmachenden Faktor allen Religionen zugesteht, und dem Tun des Richtigen, als Indiz für einen universellen Bezugspunkt der Religionen, zu erkennen, auch wenn die Argumentationen ganz unterschiedliche Voraussetzungen erfordern. Während John Hick im Tun des Richtigen das Potenzial sieht, sich mehr und mehr auf das Transzendente auszurichten, versteht Lessing das Üben von Toleranz und das Tun des Richtigen als Besinnung auf Menschlichkeit und v. a. auf die Leitung der Vernunft. Toleranz ist 787 Lessing, Gesammelte Schriften, LM 12, 446. Zitiert nach Strohschneider-Kohrs, Zur Logik der Erziehungsschrift, 161. 788 Vgl. Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums, 78. 789 A. a. O., 79.

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also bei Lessing vielmehr das Resultat der Vernunft als einer religiösen Haltung. Hick schaut auf das Gemeinsame innerhalb der Religion, während Lessing auch immer auf das Gemeinsame als Konsequenz außerhalb der Religion schaut. Einerseits verkörpert er mit einem solchen Standpunkt das Ideal einer religionswissenschaftlichen Perspektive790, andererseits stellt auch die Vernunft nur einen weiteren – zwar nicht religiösen, aber ebenso wenig neutralen – Standpunkt dar791. In den zuvor beschriebenen Zusammenhängen treten die beiden Kritikpunkte der Inszenierung an Lessings Drama noch einmal deutlich hervor. Zum einen wird die Haltung infrage gestellt, dass auch religiöse Existenz von der Vernunft aus bewertet werden müsse. Allein die objektive Vernunft und die daraus resultierenden Einsichten, wie hier z. B. die Toleranz, stellt demnach kein Kriterium einer wahren Religion dar. Der Dualismus vom vernünftigen und vom gläubigen Menschen kann nicht aufrechterhalten werden. Zum anderen zeigt die Inszenierung, dass eine pluralistische Position bei der die Gleichwertigkeit schnell zu Beliebigkeit und zu Relativismus führt – unabhängig von dem jeweiligen angenommenen Konsens (sei es die Vernunft oder eine übergeordnete Transzendenz z. B. »the Real«) – nicht wirksam ist. 4.1.2.3 Eine Absage an klassische religionstheologische Schemata? a) »Tripartite scheme« Ausgangspunkt jeder religionstheologischen Verhältnisbestimmung ist die Frage nach der Wahrheit der Religionen. Am deutlichsten kristallisiert sich die Problemantik mit Blick auf den Absolutheitsanspruch der monotheistischen Religionen, wie in »Nathan der Weise« dramatisch umgesetzt. Dass das Drama diese Frage so konkret bearbeitet, hat einerseits zu dessen Popularität, andererseits auch zu dessen breiter Rezeption in Theologie und Religionswissenschaften beigetragen. Um sich der Wahrheitsfrage in den Religionen systematisch zu nähern, wurde 1983 von Alan Race und John Hick ein Modell entwickelt. Dieses »tripartite scheme«792 setzt voraus, dass die Frage, ob Religionen überhaupt Trägerinnen einer Wahrheit sein können, grundsätzlich bejaht wird. Wenn dies 790 Ter-Nedden schreibt zur Haltung Lessings: »Lessing ist kein bekennender Christ, sondern von Anfang an stolz darauf, die Frage nach der Wahrheit der Religion(en) (als Kollektivsingular) ohne alle dogmatischen Bindungen in völliger Freiheit zu bedenken – als ›Liebhaber der Theologie‹, der ›auf kein gewisses System geschworen hat‹.« Ter-Nedden, Lessings dramatisierte Religionsphilosophie, 287. Hier mit Verweis auf FA 9, S. 57 (Axiomata). 791 Vgl. hier auch Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums, 79. Bernhardt kritisiert hier das »Konstrukt einer allgemeinen Vernunftreligion und die damit verbundene Unterordnung der positiven Religionen unter eine lebensferne Abstraktion.« 792 Schmidt-Leukel, Pluralist Theology, 56.

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nicht der Fall sei, so handele es sich um eine naturalistische bzw. eine atheistische Position. Von dieser Perspektive ist es dem Schema entsprechend grundsätzlich nicht möglich, eine weitere Einteilung zu unternehmen. Auf der letzten Stufe findet sich die Haltung des sog. Pluralismus, der von einer Gleichwertigkeit mehrerer Religionen ausgeht (vgl. 2.1.1.). Laut Schmidt-Leukel ergibt sich der Pluralismus erst aus der Abgrenzung von den beiden anderen Konzepten Exklusivismus und Inklusivismus.793 Die Gleichwertigkeit, die dem Pluralismus zugrunde liegt, ist jedoch nicht per se auf alle Religionen zu übertragen. »Note that in this definition pluralism does not say that the soteriological claims of all religions are equally true and valid. Some of these could indeed be deficient or even entirely wrong. But what it says is that at least some religions, despite their differences, can be understood as being indeed on the same level of truly and efficiently mediating a saving relation.«794

Is there truth in various religions?

Yes In only one religion or more?

Yes, in only one

= exclusivism

No

= naturalism

No, in more than one

One religion is superior = inclusivism

There is no single superiority = pluralism

Abbildung 3: »The Tripartite Scheme«

Das Dreierschema ist bis heute präsent und wird für die Einordnung religionstheologischer Standpunkte genutzt.795 Das Schema ist insofern angemessen, da die Frage nach der Wahrheit der eigenen und der fremden Religion und eventuelle Antworten für Gläubige existenzielle Auswirkungen auf ihr Glaubensver793 Vgl. Schmidt-Leukel, Pluralist Theology, 56f. 794 A. a. O., 58. 795 Siehe dazu etwa die Bezeichnungen »non-reductive religious pluralism« (M. Legenhausen), »Offener Exklusivismus« (K. Barth); »Mutualer Inklusivismus« (R. Bernhardt). Übersicht über verschieden Spielarten liefert u. a. Klaus von Stosch in Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser.

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ständnis haben. Somit ist die Wahrheitsfrage aus intrareligiöser Sicht uneingeschränkt berechtigt. Das kann allerdings nicht bedeuten, dass dieser Ansatz auch im interreligiösen Diskurs zielführend ist. Neben der Frage, inwieweit eine wertschätzende Haltung anderen Religionen aus der Position der eigenen Superiorität heraus möglich ist (Exklusivismus und Inklusivismus), kann vor allem die Rolle einer naturalistischen Position als problematisch eingestuft werden. Der naturalistische Standpunkt wird als unzulässig angesehen, sich zu der Wahrheitsfrage zu verhalten. Auf diese Weise wird eine konfessionell-unabhängige Position von vornherein aus dem Dialoggeschehen ausgeschlossen und der Dialog zu einer internen Auseinandersetzung unter Gläubigen. b) Die Kritik der Inszenierung Dass der Dialog allein ins Aufgabenfeld der Gläubigen fällt, ist auch in der Inszenierung von »Nathan der Weise« zu beobachten. Es sind die Religionsgemeinschaften, die sich untereinander um ein friedliches Zusammenleben bemühen. Eine säkulare oder naturalistische Position ist im Drama nicht direkt vorgesehen. Die Figur Nathan kann allerdings als hybrider Charakter angesehen werden, der aus der religiösen ( jüdischen) Identität heraus eine aufklärerische Haltung vertritt. Über die Parabel wird versucht eine rationale Lösung des Konflikts anzubieten. Die Inszenierung lehnt die Wirkung der Ringparabel jedoch ab, wie zuvor bereits gezeigt. Der Versuch, über das religionstheologische Lehrstück zu einer vernunftkompatiblen Lösung der Religionskonflikte zu gelangen, scheitert in der Inszenierung. Ebenso scheint auch die Darstellung der Religionsgemeinschaften in festen familiären Gefügen, die sich zwar nicht durch Äußerlichkeiten, aber durch die strikte räumliche Trennung auf der Bühne voneinander abgrenzen, hier kontraproduktiv. Wie bereits beobachtet wurde, gelingt Kommunikation nur dann, wenn die einzelnen Sprecher aus ihren Kulissen heraustreten und sich im »neutralen« vorderen Bühnenbereich als Individuen begegnen. Die Inszenierung zeigt hier zum einen auf, dass feste, theoretische Schemata es nicht mehr vermögen der Realität gerecht zu werden. Zum anderen wird deutlich, dass auch der Versuch einer hybriden Argumentation, nämlich gleichzeitig aus einer rationalen und einer konfessionellen Überzeugung heraus zu argumentieren, hier nicht gelingt. Es kann und soll an dieser Stelle keine pauschale Beurteilung über die Zusammenhänge von Vernunft und Glauben oder von der Voraussetzung einer religiösen Überzeugung in Dialogkontexten vorgenommen werden, jedoch muss zwischen religiösen und säkularen Argumentationslinien differenziert werden. Dass in der Inszenierung der Versuch, aus religiösen Positionen heraus eine vernunftgemäße Einigung zu erzielen, scheitert, machen zwei Aspekte deutlich. Zum einen sollte es auch aus einer rein säkularen Perspektive (unabhängig von der Wahrheitsfrage) möglich sein, sich zu religiösen

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Fragen zu positionieren. Zum anderen sollte aus religionsinterner Sicht weniger der Konsens als Ziel einer interreligiösen Begegnung verfolgt werden. Der Blick sollte stattdessen eher auf die Unterschiede und Differenzen gelegt werden. c) Die Inszenierung als Angebot einer differenzhermeneutischen Perspektive Die Inszenierung übt Kritik an schematischen Kategorien und einem übergeordneten und überkonfessionellen Vernunftanspruch. Neben dem Scheitern zeigt das Stück aber indirekt auch Lösungen auf: individuelles Bemühen wird stark gemacht und es kommt durch die Ablehnung eines verallgemeinerten Relativismus zu einer Anerkennung von Vielfalt und Dissens. Zwar werden diese nur über die Negation eingespielt und nicht über eine positive Darstellung verstärkt, dies mindert die Wirkung aber keinesfalls. Es ist vielmehr die Schlussszene, die mit ihrem lauten Tumult prägend ist. In der Inszenierung werden somit Impulse gesetzt, die eine differenzhermeneutische Sichtweise auf den Dialog der Religionen unterstützen. Dabei wird grundsätzlich, wie in 2.2 ausführlich beschrieben, eine produktive Sichtweise auf religiöse Heterogenität vorausgesetzt und Differenzen als Ausgangslage für einen Dialog anerkannt. Es geht dabei nie um einen inhaltlichen Konsens, sondern um die (Weiter-)Entwicklung der eigenen religiösen Identität. Das Erkennen im Anderen ist damit Voraussetzung für die Begegnung. Auch hier ist eine Verortung in einer religiösen Tradition notwendig, um überhaupt diese Abgrenzungsprozesse nachvollziehen zu können.796 Eine »neutrale« Außenperspektive kann auch hier in der Regel nur schwer eingenommen werden und widerspricht den Zielvorstellungen des differenzhermeneutischen Ansatzes. Wenn sowohl der religionstheologische als auch der differenzhermeneutische Zugang aber keine Möglichkeit bieten, sich unabhängig von einem eigenen religiösen Standpunkt zum religiösen Dialog zu verhalten, muss hier gefragt werden, mit welcher Legitimation das Theater überhaupt etwas zum interreligiösen Dialog beitragen kann.

4.1.3 Das Theater als »Instanz des Dritten« 4.1.3.1 Die »Instanz des Dritten« Wie bereits unter 2.3 vorgestellt ist die sog. Komparative Theologie eine unter mehreren Strömungen im Bereich der Religionstheologie. Als eines von insgesamt sechs Kriterien für die Praxis dieser Religionsvergleiche führt von Stosch die

796 Vgl. Danz, Theologie der Religionen als Differenzhermeneutik, 102.

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sog. »Instanz des Dritten« ein.797 Die Ausführungen von Stoschs rekurrieren dabei auch auf die von Emmanuel Levinas vorgestellte Figur des »Dritten«798. Diese ist wiederum Teil einer Bewegung innerhalb der neueren Kulturwissenschaft, die sich dem sog. »Dritten« als Konzept und Figur in ganz vielfältigen Kontexten widmet. Es soll daher zunächst ein knapper Überblick auf die Figur des »Dritten« sowie zu den Ausführungen Levinas’ gegeben werden, bevor die »Instanz des Dritten« innerhalb der Komparativen Theologie vorgestellt wird. Ob das Theater vor diesem Hintergrund die Funktion des »Dritten« einnehmen kann, wird im abschließenden Unterkapitel diskutiert. a) Die Figur des »Dritten«799 Laut Albrecht Koschorke stellt das sog. »Dritte« ab dem 20. Jh. eine Schlüsselfigur der Epistemologie dar. »Die klassische abendländische Episteme war binär organisiert und dachte das Dritte regulär nur in der Form des Übergangs oder der Verbindung zu höherer Einheit – und nicht als Größe, die neben den beiden Termen dualistischer Semantiken vom Typ wahr/ falsch, Geist/Materie, Gott/Welt, gut/böse, Kultur/Natur, innen/außen, eigen/fremd bestehen bleibt. Demgegenüber räumen alle neueren Theorien, die sich mit Fragen der kulturellen Semiosis befassen, der Instanz des Dritten eine entscheidende Rolle ein.«800

Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive kann daher auf eine ganze Bandbreite von Entwürfen zur Figur des Dritten geschaut werden. Sowohl sozialwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Modelle, wie etwa das »Third space« Theorem von Homi Bhabha801 als auch wissenschaftstheoretische802 oder sprachund literaturanalytische Verfahren803 weisen jeweils die Position des »Dritten« aus. Dabei kann »das Dritte« in den meisten Fällen als etwas indirektes, polyvalentes und polyglosses beschrieben werden. »Es kennzeichnet solche Strukturen, dass sie nicht allein in sich unruhig sind, sondern auf Seiten des Beob-

797 Vgl. dazu von Stosch, Komparative Theologie als Hauptaufgabe, 20–28. Sowie von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser, 193–215. 798 Von Stosch macht den Bezug zu Levinas nur an einer Stelle deutlich. Vgl. Stosch, Klaus von: Die Methodik Komparativer Theologie als Chance für den muslimisch-christlichen Dialog. In: CIBEDO -Beiträge. 02/ 2013. 72–81. 78. 799 Für einen interdisziplinären Überblick siehe: Eßlinger, Eva (Hg.) et al.: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin 2010. 800 Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Eßlinger, Eva et al. (Hg.): Die Figur des Dritten: Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt a.M. 2010. 9–31. 9. 801 Vgl. dazu Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London 2007; Bhabha, Homi K.: Über kulturelle Hybridität: Tradition und Übersetzung. Aus dem Engl. v. Kathrina Menke. Hg. u. eingeleit. v. Anna Babka. Wien/Berlin 2012. 61–88. 802 Vgl. Koschorke, Ein neues Paradima der Kulturwissenschaft, 20. 803 Vgl. a. a. O., 28.

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achters wandernde Blickpunkte erzwingen und insofern auf unumgängliche Weise mehrdeutig bleiben.«804 Das »Dritte« wird dabei oft als eine Art Korrektiv betrachtet, das vor Spaltung oder Aggression zweier Akteure schützt und sich somit harmonisierend als sog. »bystander«805, der in »Täter-Opfer-Konstellationen die Gewaltanwendung entweder befördern oder begünstigen kann« und sich damit eher verstärkend auswirkt. b) »Der Dritte« bei Emmanuel Levinas Emmanuel Levinas bringt in seinen Ausführungen zur Subjektkonstitution neben dem Subjekt und dem Anderen den sog. »Dritten« als methodische Figur ins Spiel. Diese Figur sei notwendig, um die alteritätsästhetische Entwicklung des Subjekts voranzutreiben und den Individualisierungsprozess zu begünstigen. Levinas definiert den Entwicklungsprozess eines Subjekts über die Wechselbeziehung zwischen dem Subjekt und dem Anderen.806 »Die Verantwortung für den Anderen ist eine Unmittelbarkeit […]. Sie wird gestört und sie wird zum Problem mit dem Eintritt des Dritten. Der Dritte ist anders als der Nächste, aber auch ein anderer Nächster und doch auch ein Nächster des Anderen und nicht bloß ihm ähnlich.«807

Die Verwendung des sog. »Dritten« revidiere diesen Zusammenhang zugunsten einer erweiterten Alteritätserfahrung.808 Dies geschehe indem zunächst ein Außenstehender, ein Dritter, zu dem bis dahin gedachten »Duo« hinzugefügt werde und so den bisherigen Dialog aufbricht. Die bisher wahrgenommene Andersheit des Anderen wird auf diese Weise ergänzt, in dem die Andersheit des Dritten integriert wird.809 Es kommt nach Matthias Flatscher an dieser Stelle zu einer Störung:810 »Die Figur des Dritten stört jede Exklusivität der Relation zum Anderen auf so nachhaltige Weise, dass ein wie auch immer geartetes dyadisches

804 Koschorke, Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaft, 18. 805 Vgl. a. a. O., 24ff. 806 Vgl. Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg 1992. 342ff. 807 Ebd. 808 Vgl. Flatscher, Matthias: Was heißt Verantwortung? Zum alteritätsethischen Ansatz von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Bd. 3 Heft 1, 2016. 125–164. 125; 145–151. Bedorf hält Levinas Ausführungen an dieser Stelle für »unzureichend«, da er den Vergleich zwischen dem Ich und dem Anderen per se als nicht angemessen einschätzt. Vgl. Bedorf, Thomas, Der Dritte als Scharnier zwischen Ethischem und Politischem. In: Eßlinger, Eva; Schlechtriemen, Tobias; Schweitzer, Doris, Zons, Alexander (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin 2010. 125–136. 2. 809 Vgl. Levinas, Jenseits des Sein, 343. 810 Vgl. hier auch Habbel, Torsten: Der Dritte stört. Emmanuel Levinas- Herausforderung für Politische Theologie und Befreiungstheologie. Mainz 1994.

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oder exklusives Verständnis von Andersheit grundsätzlich unterwandert wird.«811 Damit gelangt das Subjekt, nach Levinas, überhaupt erst in eine Position der Unabhängigkeit und sei so in der Lage eigene Urteile zu fällen und insbesondere Verantwortung zu übernehmen.812 Die Hinzunahme eines »Dritten« stellt sich so als notwendiger Schritt der Subjektbildung dar. Flatscher fasst die Bedeutung des »Dritten« vor diesem Hintergrund folgendermaßen zusammen: »Erst mit dem Dritten wird das Subjekt genötigt, sich die Frage nach dem Wie des Antwortens zu stellen und ein (Ge-)Wissen auszubilden und sich somit als Bewusstsein respektive Selbstbewusstsein zu verstehen, kurz: sich als Subjekt im responsiv-responsablen Sinne zu bewähren und damit gleichermaßen Verantwortung für den Anderen zu tragen und Gerechtigkeit für andere Andere ins Werk zu setzen.«813

Aus dieser Verantwortung folgt die Notwendigkeit einer Entscheidung, die nicht nur vor dem Anderen, sondern auch vor den anderen Anderen begründet werden müsse. Flatscher spricht hier von einem »pluralen Anspruchsfeld«, dem das Subjekt gerecht werden müsse.814 »Die Verantwortung des Subjekts erfährt somit nicht in der Antwort auf den Anspruch des Anderen seine Bestimmung, sondern hat gleichermaßen die damit implizierten Antworten auf andere Andere mit zu verantworten.«815 Antworten, die auf diese Weise gegeben werden können, blieben jedoch immer nur bruchstückhaft.816 »Der Dritte führt einen Widerspruch in das Sagen ein, dessen Bedeutung angesichts des Anderen bis dahin nur in eine Richtung ging.«817 c)

Die »Instanz des Dritten« und die »Wolke der Zeugen« in der Komparativen Theologie Bei der sog. »Instanz des Dritten« handelt es sich um einen Akteur innerhalb einer Komparativen Vergleichssituation, der sich aufgrund seiner Überzeugung deutlich von den anderen Parteien des Vergleichs unterscheidet und eine Art »Kontrollinstanz« darstellt. Diese Kontrolle kann von ganz unterschiedlichen weltanschaulichen Haltungen oder Institutionen ausgehen. Die Instanz kann sowohl von einer atheistischen oder agnostischen, aber auch von einer philosophischen oder »nur« konfessionell verschiedenen Position besetzt werden.818 Neben einem 811 Flatscher, Was heißt Verantwortung? 147. 812 Vgl. Levinas, Jenseits des Seins, 348f. 813 Flatscher, Was heißt Verantwortung? 149. Die Hervorhebungen des Autors wurden im Zitat nicht übernommen. 814 Vgl. a. a. O., 150. 815 Ebd. 816 Vgl. a. a. O., 148. 817 Levinas, Jenseits des Seins, 343. 818 Vgl. von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser, 209.

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christlichen und einem hinduistischen Gesprächspartner wäre daher ein atheistischer Vertreter denkbar, neben einer muslimischen und einer christlichen Position könnte die dritte Haltung von einem Juden ausgefüllt werden.819 Von Stosch fasst das Ziel dieser Instanz folgendermaßen zusammen: »Nur bei einer entsprechenden Sensibilität für die Außenansichten auf das im dialogischen Prozess Erreichte kann sichergestellt werden, dass nicht neue blinde Flecken der über Religionsgrenzen hinweg geteilten Grammatik erkenntnisleitend werden.[…] Dieser dritte Vergleichspunkt und die Instanz des Dritten meint also keinen privilegierten Standpunkt eines Aufsehers für die Prozesse Komparativer Theologie, der beispielsweise durch einen besonders religionskritischen Philosophen eingenommen wird, auch wenn solche Philosophen in dieser Instanz wichtig sein können. Vielmehr geht es um die Rückbindung der Komparativen Theologie an dialogexterne wissenschaftliche Prozesse, die das jeweils Erreichte je neu kritisch auf die Probe stellen.«820

Aufgabe der »Instanz des Dritten« ist es, laut von Stosch, einen Konsens zwischen zwei Parteien zu vermeiden, bei dem das Resultat nicht mehr kritisch hinterfragt werde.821 Von Stosch nennt hier das eindrückliche Beispiel der Ablehnung von Homosexualität, auf die sich sowohl konservative katholische und islamische Theologen verständigen könnten.822 Was genau mit einer »kritischen« Position gemeint ist, wird kaum weiter beschrieben. Es scheint von Stosch aber vor allem darauf anzukommen, dass »noch einmal aus einer Außensicht die Ergebnisse des dialogischen Verständigungsprozesses in Frage«823 gestellt werden. Auch Kriterien auf Grundlage einer »autonomen philosophischen Vernunft« könnten unter gewissen Umständen hier hilfreich sein. Von Stosch sieht die Gefahren eines solchen Maßstabs allerdings in einer entweder zu »pluralitätsfreundlichen« oder »pluralitätsfeindlichen« Haltung.824 Zentral erscheint vor diesem Hintergrund zunächst die Heterogenität des sog. Dritten, sowohl in Bezug auf die zwei zu vergleichenden Akteure als auch in Bezug auf die formale Besetzung der Instanz. Denkbar wäre ggf. auch ein wechselnder »Dritter« in einem Komparativen Vergleichsprozess zweier Partner. Als Ziel kann und darf dabei keinesfalls eine gemeinsame Position aller Beteiligten angestrebt werden. So wie von Stosch zu erkennen gibt, geht es um einen strukturellen Dissens, um ein »bleibendes Moment der Kritik«.825

819 Von Stosch schlägt auch die Möglichkeit einer religionsinternen Kontrolle von Angehörigen verschiedener etw. evangelischer Bekenntnisse vor. Vgl. dazu von Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser, 211. 820 A. a. O., 210. 821 Vgl. a. a. O., 208. 822 Vgl. a. a. O., 208f. 823 A. a. O., 209. 824 Vgl. ebd. 825 Ebd.

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Von Stosch knüpft hier an die von R.C. Neville eingebrachte »Wolke der Zeugen« an. Neville spielt damit auf das Wissenschaftsnetz an, innerhalb dessen die Komparative Theologie betrieben wird. Für ihn ergibt sich daraus die Bereitschaft, den eigenen Standpunkt ständig zu prüfen und gegebenenfalls zu revidieren.826 Dies überträgt er auch auf die Auswahl geeigneter sog. »komparativer Kategorien«.827 Neville schlägt dazu wissenschaftliche Kooperationen, etwa von Theologen, Religionswissenschaftlern und Philosophen vor, um von vornherein eine Heterogenität sicherzustellen. Der Anspruch der Komparativen Theologie ist es nach Neville, trotz aller konfessionellen Subjektivität auch objektiv zu arbeiten. »Der Wunsch nach Objektivität steht dem Bedürfnis gegenüber, normativ entscheiden zu wollen, welche der theologischen Konzepte eleganter, präziser, wichtiger, interessanter und wahrer sind.«828 Dazu bringt Neville den Terminus der »Relevanz« ins Spiel. »Die Darstellung der sich verändernden Definitionen komparativer Kategorien beschreibt genau diesen Vorgang: die Suche nach dem für einen Vergleich Bedeutsamen. ›Relevanz‹ oder ›Wichtigkeit‹ ist an sich jedoch ein komplexer Begriff, der hier nicht analysiert werden kann. Er schließt mindestens die folgenden phänomenologisch zu unterscheidenden Dimensionen ein: die intrinsische Relevanz, die extrinsische Relevanz in Bezug darauf, wie sich eine Position in der Welt lokalisiert, die praktische Relevanz im Blick auf ihre Konsequenzen, die theoretische Relevanz im Blick darauf, wie sie sich in einen Theorierahmen einordnet und die singuläre Relevanz, die das Moment des Unvergleichbaren betont. Nur die Berücksichtigung dieser Dimensionen von Relevanz kann sicherstellen, dass mit der komparativen Kategorie ein bedeutsamer Gesichtspunkt der zu vergleichenden Traditionen gefunden ist.«829

Relevanz hänge dabei auch mit theologischer Wahrheit zusammen.830 Diese Wahrheitssuche könne des Weiteren auch auf außertheologische, etwa auf kulturelle Bereiche ausgedehnt werden.831 4.1.3.2 Das Theater als »Instanz des Dritten« im interreligiösen Dialog? Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass sich das Theater grundsätzlich als sog. »Dritte Instanz« im interreligiösen Dialog eignet. Die Notwendigkeit eines »Dritten« für die Identitätsbildung und Ausbildung einer Urteils-

826 Vgl. Neville, Robert Cummings: Philosophische Grundlagen und Methoden der Komparativen Theologie. In: Bernhardt, Reinhold; von Stosch, Klaus (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie. Zürich 2009. 35–54. 42. 827 Vgl. a. a. O., 37ff. 828 A. a. O., 48. 829 Neville, Philosophische Grundlagen, 51f. 830 Vgl. a. a. O., 45. 831 Vgl. a. a. O., 53.

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fähigkeit konnte unter Rückgriff auf Levinas deutlich gemacht werden. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht kann die Bedeutung dieser zusätzlichen Instanz nur bekräftigt werden, auch wenn sich die jeweiligen Erwartungen an das »Korrektiv« unterscheiden.832 Die Komparative Theologie knüpft daran an, wenn sie in ihrer Methodik die sog. »Instanz des Dritten« einführt. Das Theater als kulturelle Institution erfüllt dabei die hinreichenden Kriterien, um diese Funktion zu übernehmen. Das Theater wird als säkulare kulturelle Institution dem Anspruch einer grundlegenden Andersheit gerecht, da es als nicht-religiöse Institution grundsätzlich losgelöst von jeder religiösen oder konfessionellen Bindung ist. Als kultureller Akteur liegt auch die Aufrechterhaltung eines »bleibenden Moments der Kritik« im Selbstverständnis des Theaters zugrunde. Ebenso wie im Bereich der Interkulturalität oder des Politischen stellt demnach auch das Religiöse ein Bezugsfeld für theatrales Engagement dar. Auf dieses Potenzial wird gegenwärtig u. a. von Ulrich Khuon oder Wolfram Weisse hingewiesen.833 Darüber hinaus ermöglicht das Theater, wie bereits unter 2.1.2 beschrieben, Erfahrungsräume von Alterität und Performativität. Gerade die Differenzen können dabei ein Raum für Transformationen werden. Über die Performativität des Theaters wird der Andere nicht nur wahrnehmbar, sondern erlebbar. Die Begegnungen zwischen den Akteuren vollziehen sich dabei wie in den Dialogformaten der Komparativen Theologie intersubjektiv. Das Theater ist damit also ein bereits etablierter und erfahrener Akteur im Dialoggeschehen. Eine Schwierigkeit könnte dabei die Heterogenität des Theaters darstellen. Selbst auf den deutschsprachigen Raum begrenzt, kann nicht von »dem einen« Theater die Rede sein. Es kommt jedoch, wie auch in den Ausführungen von von Stosch und Neville sichtbar wird, weniger darauf an, dass »der Dritte« eine homogene Einheit repräsentiert. Es ist vielmehr die Perspektive entscheidend, aus der eine kritische Haltung vorgebracht wird. So ist etwa denkbar, dass bereits einzelne Theaterprojekte und Inszenierungen eine solche Perspektive repräsentieren.

832 Im kulturwissenschaftlichen Verständnis wurde von Koschorke eher die harmoniesierenden Tendenzen betont, während die »Instanz des Dritten« nach von Stosch gerade einen vorschnellen Konsens verhindern soll. 833 Vgl. Khuon, Theater als Forum, 10ff; Weiße, Interreligiosität im öffentlichen und akademischen Diskurs, 44. »Im Bereich der Wissenschaft wird der Bereich der Ästhetik oft vernachlässigt, der gleichermaßen für die Konstruktion und die Veränderung von individuellem und gesellschaftlichem Bewusstsein bedeutsam ist. […] Derartige szenische Verarbeitungen bieten unvermutete, ungewöhnliche, die eigene Erfahrung aufnehmende und über diese hinausgehenden Ansätze, die für das Verstehen sowohl der Hemmblöcke als auch der Möglichkeiten von interreligiösem Dialog eine kaum zu überschätzende Bedeutung besitzen.«

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Wie dies theoretisch umzusetzen ist, hat der Ansatz dieser Arbeit aufgezeigt, indem jeweils die Perspektive einer Inszenierung auf religiöse Heterogenität herausgestellt und mit religionstheologischen Ansätzen ins Gespräch gebracht wurde. Ein praktischer Vollzug einer komparativen Dialogsituation mit dem Theater als »Instanz des Dritten« wäre dann möglich, wenn das Theater nicht (nur) von einem einzelnen Theaterschaffenden, z. B. einem Schauspieler oder einer Regisseurin repräsentiert wird, der über seine Erfahrungen mit einer konkreten Rolle oder Inszenierung berichtet, sondern wenn die beiden primären Dialogpartner gemeinsam eine Aufführung besuchten und im Anschluss die Inszenierung diskutierten. Um das Theater dabei auch in der Funktion einer Kontrollinstanz zu besetzen, wären vor allem solche Modelle fruchtbar, in denen ein im Vorfeld ausgesuchter Text oder ein festgelegtes Thema zunächst von den beiden primären Akteuren diskutiert wird, bevor sie die Perspektive des Theaters als »Korrektiv« auf sich wirken lassen. Darüber hinaus könnte die kritische »Instanz des Dritten« auch in die Verantwortung des Publikums gelegt werden. Denkbar wäre hier, dass auf der Bühne bereits konfligierende religiöse Parteien dargestellt und ihre Standpunkte gegenübergestellt werden. Das Publikum, im Verständnis des performative turn ebenso aktiver Akteur der Aufführung, wäre dadurch herausgefordert sich zu dem Dargestellten zu verhalten und entsprechend der eigenen Urteilsnormen zu reagieren.834 »Die Arbeit mit dem Begriff des Performativen verlagert damit unsere Aufmerksamkeit und Tätigkeit gleichsam in die Welt, auf das Erlebnis eines Geschehens, das nicht einfach gegeben ist, sich nicht durch bloße Fakten oder Zahlen erschließen lässt, sondern in einem dynamischen Prozess in Raum und Zeit erfahren wird, in Dimensionen, die sich mit Aktivität, Machen und Herstellen beschreiben lassen: Wir reden nicht nur über die Welt, sondern tun, indem wir sprechen, etwas innerhalb der Welt. Wir sind nicht einfach auf der Welt, jeder allein für sich, als autonomes Subjekt, sondern existieren zusammen mit Anderen, mit anderen Menschen. Wir agieren und reagieren mit unserer Sprache, unserer Stimme, unserem Gesicht, unserem Körper, unseren Gesten.«835

Der Vorteil läge in diesem Fall auch darin, dass auf diese Weise zeitgleich ganz individuelle Reaktionen erfolgen, die wiederum in ihrer Heterogenität eine vielfältige und damit starke »dritte« Meinung repräsentieren. In der Darstellung des »Anderen« könne das Theater auf sein mimetisches Potenzial zurückgreifen, das eine intensivierte Wahrnehmung über den »dritten Sinn« ermögliche.836 Zu der reinen Wahrnehmung kommt das intersubjektive Erlebnis.837 Dies wäre ein 834 Vgl. Kap. 2.3.4. 835 Sternagel, Mersch, Kraft der Alterität, Einleitung, 12f. (Die Hervorhebungen der Autoren wurden in diesem Zitat nicht übernommen.) 836 Vgl. Kap 2.3.1 ausführlich dazu Englhart, Das Theater des Anderen, 77. 837 Vgl. Sternagel, Mersch: Kraft der Alterität, Einleitung 12.

Andere Themen des Dialogs

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Mehrwert, der so bisher in dem Konzept von von Stosch zur praktischen Ausübung der Komparativen Theologie nicht berücksichtigt wird. In dem genannten Beispiel käme es daher zusätzlich zu der kollektiven »Instanz des Dritten« auch noch zu einer Erweiterung des Rezeptionsmodus. Über die reine Diskussion auf sprachlicher Ebene hinausgehend, werden im Zuge des Theatererlebnisses alle Sinne angesprochen und führen damit auch zu einer leiblichen Auseinandersetzung. An dieser Stelle sei noch einmal Fischer-Lichte zitiert: »Die Zuschauer erscheinen nicht länger als distanzierte oder einfühlsame Beobachter von Handlungen, welche die Schauspieler auf der Bühne vollziehen und denen sie – die Zuschauer – auf der Grundlage ihrer Beobachtungen und ihrer Kenntnis des Stücks bestimmte Bedeutungen beilegen. Sie werden auch nicht als intellektuelle Entzifferer von Botschaften begriffen, die mit bzw. von den Handlungen und Reden der Schauspieler formuliert werden. Die kreative Beteiligung der Zuschauer bleibt dabei keineswegs auf ihre Einbildungskraft beschränkt. Vielmehr handelt es sich um körperliche Prozesse, die sich zwischen Darstellern und Zuschauern vollziehen.«838

4.2

Andere Themen des Dialogs

Wenn man das Theater als Impulsgeber für den interreligiösen Dialog und als »dritte Instanz« begreift, so legitimiert man auch, dass das Theater als gänzlich säkulare Institution in den Dialog der Religionen eingreifen kann. Wenn man den Impuls des Theaters ernstnehmen will, so muss man feststellen, dass die eigentlichen Herausforderungen im Kontext des interreligiösen Dialogs andere sind, als von den Theologien bisher bearbeitet wurden. Die Inszenierungen deuten darauf hin, dass die Problemfelder und Spannungen nicht zwischen den Religionen selbst, sondern im Gegenüber von Gesellschaft und Religion(en) liegen. In den Analysen haben sich drei Beispiele gezeigt, wie Religion sich im Gegenüber zur Gesellschaft positionieren kann. Die drei Ressourcen die überkonfessionell und überreligiös eingebracht werden sind die Funktionsweisen des Mythos, der Utopie und der Irritation. Mit dem Mythos wird ein gemeinsamer Kern der Religionen angesprochen, der sich sowohl als vermittelnde Ressource gegenüber einer Konkurrenz von Religion(en) und Wissenschaft als auch als gemeinsame Basis im interreligiösen Dialog etabliert. Die Utopie vermag in dieser Hinsicht ebenfalls neue Perspektiven auf die Verständigungsprozesse der Religionen eröffnen. Als Vorstellung einer toleranteren Gesellschaft und als Hoffnung auf ein besseres Leben werden konkrete Ausprägungen religiöser Utopien vorgestellt, von denen auch die Gesellschaft profitieren kann. Mit der Irritation wird der Blick auf die unver838 Fischer-Lichte, Performativität, 20.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

ständlichen und herausfordernden Aspekte von Religion(en) gelegt. Die Kritik, die bereits in Mythos und Utopie indirekt mitschwingt, wird im Irritationspotenzial der Religionen gebündelt. Abschließend wird unter Rückgriff auf Habermas diskutiert, welche Rolle solche religiös besetzten Phänomene für die Übersetzungsprozesse zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen spielen.

4.2.1 Mythos »Statt Wahrheit bietet der Mythos Komplexitätsreduktion und Weltorientierung, statt Wahrheit gibt es: Sinn.«839

Mit dieser Aussage bringt der Philosoph und Literaturwissenschaftler Christoph Jamme zugleich den Kontext ein, in dem sich der Mythosbegriff seit der Aufklärung beweisen muss. Der philosophische Diskurs war lange Zeit von einem Dualismus von Mythos und Wissenschaft geprägt.840 In der Frage nach der Wahrheit des Mythos spiegeln sich nicht nur philosophische, sondern ebenso auch theologische, religionswissenschaftliche und religionssoziologische Ansprüche in Bezug auf die Mythosdeutung wider. Das Musiktheater »Das Ebenbild« des Theaters Osnabrück präsentiert sich vor dieser Kulisse als künstlerische Vermittlungsinstanz dieses Konflikts. Eingebettet in das Beziehungsgefüge von Mythos, Religion und Wissenschaft zeigt es die Wirksamkeit des Mythischen als Gegenwert zu einer von wissenschaftlichem Fortschritt dominierten Gesellschaft mit einem rationalen Weltbild. Es soll nun zunächst ein Einblick in die religionswissenschaftliche und philosophische Auseinandersetzung mit dem Mythosbegriff gegeben werden, wobei der Fokus bewusst auf das Beziehungsgefüge von Mythos und Vernunft gelegt wird.841 In Folge wird das Musiktheater »Das Ebenbild« in seinem mythischen 839 Jamme, Christoph: Mythos und Wahrheit. In: Danz, Christian; Schüßler, Werner (Hg.): Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext. Berlin/ München/ Boston 2015. 9–26. 26. 840 Vgl. dazu Horstmann, Axel: Faszination und Herausforderung. »Mythos« als Schlüsselthema der Moderne. In: Zgoll, Annette; Kratz, Reinhard G. (Hg.): Arbeit am Mythos. Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart. Tübingen 2013. 13–33. 13f. 841 Eine solche Auswahl ist von Natur aus selektiv, sodass hier nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhebt werden soll. So werden etwa die literaturwissenschaftliche, geschichtswissenschaftliche und politische Mythosrezeption hier von vornherein ausgeklammert, ebenso kann selbst im Zuge der Fokussierung auf religionswissenschaftliche und -philosophische Aspekte hier nur ein Ausschnitt gezeigt werden. Für einen umfangreichen historischen Überblick siehe etwa Brison, Luc: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 1: Antike, Mittelalter und Renaissance. Darmstadt 2005; sowie Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 2005. Einen prägnanten Überblick über die Geschichte der Mythosrezeption bietet Horstmann, Faszination und Herausforderung, 13–33 sowie aus philosophischer Perspektive der Beitrag Ernst

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Gesamtkonzept dargestellt. Wissenschaft und Religion können darin als konkurrierende Deutungsangebote interpretiert werden, die mithilfe des Mythos ausgeglichen werden können. Anschließend wird aufgezeigt, wie der Mythos nicht nur als Ressource gesellschaftlicher Sinnstiftung verstanden werden kann, sondern ebenso auch sein Potenzial im Hinblick auf den interreligiösen Dialog entfaltet. 4.2.1.1 Zwischen Sinn und Wahrheit – eine religionswissenschaftliche und kulturphilosophische Orientierung Eine Definition des Mythos kann aufgrund der langen Historie und der breiten interdisziplinären Diskussion immer nur partiell erfolgen842. Zu einer ähnlichen Einschätzung des Forschungsfeldes kommen zum Beispiel die Beteiligten der Arbeitsgruppe »Die Wiederkehr des Verdrängten: Antike, Mythos, Religion«, wenn sie schreiben: »Die lexikalische Einheit Mythos kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die moderne Mythostheorie einer sachlichen, disziplinären und theoriegeschichtlichen Vielfalt ihrer Gegenstände gegenübersieht, die auf keinen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen ist. Weder durch Rekurs auf Überlieferungstraditionen mythischer Stoffe noch über eine Entfaltung von Motiven wie Ursprünglichkeit oder Sinnstiftung lässt sich ›der Mythos‹ einfach in den Griff bekommen.«843

Diese Perspektive auf den Mythos ist stark von der »Arbeit am Mythos« des Philosophen Hans Blumenberg geprägt, der auch im Hinblick auf die weitere Analyse des Mythosbegriffs in »Das Ebenbild« wichtige Grundlagen liefert. Die folgenden Ausführungen legen daher den Schwerpunkt auf die religionswissenschaftliche und kulturphilosophische Diskussion, um einige zentrale Orientierungspunkte für die weiterführende Reflexion festzuhalten. Die Religionswissenschaft fokussiert ausgehend vom altorientalischen und antiken Textmaterial traditionell einen etymologischen Zugang, der die Funktion des Mythos als Erzählung umschreibt844. Darauf aufbauend bietet sich für die weiterführende kulturphilosophische Betrachtung des Mythos vor allem der Entwurf Jammes Müllers in Ästhetische Grundbegriffe, Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4. Barck, Karlheinz et al. (Hg.), Stuttgart 2001. 309–346. 842 Vgl. Müller, Mythos, 311.; dazu auch Stolz, Fritz: Einführung. In: Assmann, Jan; Burkert, Walter; Stolz, Fritz (Hg.): Funktionen und Leistungen des Mythos. Drei altorientalische Beispiele. Freiburg in der Schweiz 1982. 7. 843 Gebert, Bent et al.: Einführung: zur Heuristik der mythologischen Differenz. In: Matuschek, Stefan; Jamme, Christoph (Hg.): Die mythologische Differenz. Heidelberg 2009. 9–20. 9. 844 Vgl. Rüpke, Jörg: Leistung und Grenze von Mythen aus religionswissenschaftlicher Perspektive. In: Zgoll, Annette; Kratz, Reinhard G. (Hg.): Arbeit am Mythos. Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart. Tübingen 2013. 35–58. 35.

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an, auf den im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird. Dabei zeichnen sich vor allem die Konfliktfelder Religion und Mythos sowie das Ringen um Wahrheit in den Diskursen ab. 4.2.1.1.1 Zum Mythosbegriff Für Rüpke, Mitwirkender der oben genannten Arbeitsgruppe zum Mythos, dient jeder Versuch der Beschreibung des Begriffs mehr »der Perspektive des Vergleichs« als der Definition.845 Er hält zunächst fest: »Ein Mythos ist eine Geschichte, eine Erzählung, eigentlich bloß eine ›Äußerung‹.« Weiter schreibt er: »Mythen sind traditionelle Erzählungen. Immer wieder erzählt wurden sie, weil sie für Erzähler wie Zuhörer Bedeutung besaßen. Die Merkmale ›bedeutungsvoll‹ und ›Erzählen‹ erlauben, Erzählungen in vielen Kulturen – gerade auch in Kulturen, die das Wort ›Mythos‹ nicht kennen – als ›Mythen‹ zu verstehen und so miteinander vergleichbar zu machen.«846

Ergänzen lässt sich diese Definition mit einer Erklärung Jammes. Er formuliert inhaltlich breiter: »Der Mythos hat eine narrative Struktur; erzählt werden bestimmte wiederholbare Ereignisse, die außerhalb von Raum und Zeit liegen und ansetzen an bestimmten Knotenpunkten der menschlichen Existenz. In einem weiteren Sinne ist der Mythos eine erzählte Geschichte (von Göttern und Halbgöttern), mittels derer ein von Generation zu Generation wachsendes Wissen weitergereicht worden ist.«847 Verbunden ist das Ringen um Definitionen auch mit dem Versuch der Systematisierung. Ob es sich bei einer Erzählung überhaupt um einen Mythos handelt, kann etwa nach Pierre Swiggers an insg. fünf Kriterien festgemacht werden: Erstens die literarische Ausformung des Textes, zweitens die Beschreibung einer transzendenten Erfahrung, drittens wird das Geschehen als außerhalb der Zeit liegend (in einer Art Ur-Zeit oder Vor-Zeit) verstanden, viertens als Eigentum einer Gemeinschaft mit, fünftens, einem Beispielcharakter.848 In Bezug auf religiöse Offenbarungsschriften hält Westermann fest, dass das oben beschriebene formal auf die biblische Urgeschichte von Gen 1–11 zutrifft. Des Weiteren fänden sich auch in anderen alttestamentlichen Passagen mythi-

845 Vgl. Rüpke, Leistung und Grenzen von Mythen, 35. 846 A. a. O., 38f. 847 Jamme, Christoph: Mythos – Kulturphilosophische Zugänge. In: Krüger, Brigitte; Stillmark, Hans-Christian (Hg.): Mythos und Kulturtransfer: Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien. Bielefeld 2013. 19–28. 19. 848 Vgl. Swiggers, Pierre: Babel and the Confusion of Tongues. In: Lange, Armin; Lichtenberger Hermann; Römheld, Diethard (Hg.): Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt. Festschrift für Hans-Peter Müller zum 65. Geburtstag. Berlin / New York 1999. 182–195. 188– 189.

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sche Elemente wieder, etwa im Hiobbuch und in den Psalmen.849 Ähnlich argumentiert etwa Swiggers, der den Mythos konkret am Beispiel von Gen 11,1–9 erläutert.850 Die Erzählung vom Turmbau zu Babel, die als Motiv programmatisch in »Das Ebenbild« verarbeitet ist, sei als mythischer Text zu verstehen, da er erstens zeitlich nicht zu bestimmen sei, zweitens ein allgemeines Phänomen der Menschheit beschreibe und drittens ohne eindeutige literarische Vorlagen, etwa aus mesopotamischer Provenienz, auskomme.851 Die Erzählung erfülle überdies eine allgemeine anthropologische Funktion und beschreibe die sprachliche Diversität als gottgewollte Grundlage der menschlichen Existenz. »Finally, the story is about JHWH, his relationship to humankind, and his plans with his creatures: the confusion of tongues is not the work of man but it is the result of JHWH’s intervention in the world. As a myth, the story of the tower of Babel offers a foundational account of a mystery which transcends the capacities of man.«852

4.2.1.1.2 Mythosbegriff und Religionen Im Laufe des 20. Jhs. hat die christliche Theologie weitestgehend zu einem entspannten Verhältnis zum Mythos gefunden. Hermann Spiekermann erkennt bereits in der ersten Hälfte des 20. Jhs. innerhalb der (evangelischen) Theologie die Tendenz zu einer positiven Mythosrezeption. »Der Mythos ist, sei es in gebrochener Form, sei es lediglich im mythischen Motiv, unverzichtbare Sprachund Denkgestalt der Religion. Sie [die Religion] vermag ihre Botschaft […] nur unter Gebrauch mythischen Denkens zu vermitteln.«853 Spiekermann spricht daher mit Blick auf die gegenwärtige alttestamentliche Exegese von einer »Untauglichkeit der Unterscheidung von Mythos und Geschichte«854. 849 Vgl. Westermann, Claus: Die Gliederung der Mythen. Lange, Armin; Lichtenberger, Hermann; Römheld, Diethard (Hg.) Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt: Festschrift für Hans-Peter Müller zum 65. Geburtstag. Berlin 1999. 212–232. 216. Problematisch gestaltet sich jedoch aus christlicher Sicht die Frage, ob konkret auch andere biblische Erzählungen dem Mythos zugeordnet werden können. Stolz etwa führt aus, das vielfach das »Natürliche-Unveränderliche« als mythisch angesehen würde, das Biblische sich aber gerade durch das »Einmalige« und »Unverwechselbare« auszeichne. Hinzu komme die monotheistische Prägung biblischer Narration, die per se dem polytheistischen Charakter des Mythos widerspreche. Vgl. Stolz, Funktionen und Leistungen des Mythos, 10. 850 Für die einzelnen Kriterien, die er hinzuzieht, siehe Swiggers, Babel and the Confusion of Tongues, 188–189. 851 Vgl. a. a. O., 186. 852 Swiggers, Babel and the Confusion of Tongues, 189f. 853 Spiekermann, Hermann: Der Mythos Heilsgeschichte. Veränderte Perspektiven in der alttestamentlichen Theologie. In: In: Zgoll, Annette; Kratz, Reinhard G. (Hg.): Arbeit am Mythos. Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart. Tübingen 2013. 145– 165. 150. Spiekermann bezieht sich an dieser Stelle auf den Mythos-Artikel der RGG2 von Rudolf Bultmann und Paul Tillich, dem Spiekermann eine »herausgehobene Bedeutung« im Kontext der Mythosforschung beimisst. Vgl. dazu a. a. O., 147. 854 A. a. O., 161.

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»Die alttestamentliche Wissenschaft ist reif für eine unverkrampfte Erforschung des Zusammenspiels von Mythos und Geschichte im Allgemeinen und von Mythos und Heilsgeschichte im Besonderen. Das Alte Testament kann, unter der Frage nach seinem mythischen Gehalt betrachtet, nur gewinnen.«855

Gemeinhardt konstatiert unter Rückgriff auf den Neutestamentler Gerd Theißen, man könne trotz aller Abgrenzungen der frühen Christen zum paganen Mythenverständnis, in funktionaler Hinsicht auch von einem »Christus-Mythos« sprechen856. Dieser Mythos ermögliche es, langfristig auch eine »eschatologische Perspektive« zu verfolgen. »So ist der Mythos nicht nur ein Modus der Erinnerung, sondern auch ein Modus der Deutung der Gegenwart im Licht der Zukunft. Und dies bedingt den spezifischen Gegenwartsbezug des christlichen Glaubens: […].«857 Für diese Entwicklungen war es zunächst entscheidend, zwischen Mythos und Orthodoxie zu differenzieren. Hans Blumenberg stellt für den Mythos eine »Distanz, […] zu jeder Art von Strenge – sei es der Furcht oder des Glaubens, der Exaktheit oder der Systematik, der Texttreue oder der bloßen Ausschließung von Satire und Parodie«858 fest. Demnach sei es falsch, überhaupt eine »Konkurrenz« zwischen Theologie und Mythologie anzunehmen. Man müsse ebenso von einer direkten Vergleichbarkeit Abstand nehmen, was nach Blumenberg auch für das Verhältnis der Religionen untereinander gilt.859 »Uns ist dies verdeckt geblieben [die Abwesenheit von Strenge im Mythos] durch die von den frühen christlichen Autoren angenommene Konkurrenz, die ihr Angebot der neuen Lehre weithin zum Zitat der philosophischen Kritik am Polytheismus werden ließ, so daß der Anschein entstand, als rivalisierten hier ›Theologien‹ miteinander. Aus diesem Kategoriennetz muß die Mythologie samt ihrer Rezeptionsgeschichte herausgewunden werden – nicht weil sie andere Götter, nicht einmal weil sie mehr Götter darbietet, als die dogmatische Ausschließlichkeit einer Theologie zulassen könnte, sondern weil Mythologie zu Theologie überhaupt kein Verhältnis der ›Gleichzeitigkeit‹ hat. Das, was Lessing die fromme Raserei, Den bessern Gott zu haben genannt hat, ist ein dem Mythos fremdes Phänomen, dessen Bedingtheiten er entweder schon hinter sich gelassen hat oder immanent bestreitet.«860

855 Spiekermann, Der Mythos Heilsgeschichte, 164. 856 Gemeinhardt, Peter: »Nicht Mutige, sondern Flüchtlinge bedürfen des Mythos«. Distanzierungen und Annäherungen an den Mythos im spätantiken Christentum. In: Zgoll, Annette; Kratz, Reinhard G. (Hg.): Arbeit am Mythos. Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart. Tübingen 2013. 249–272. 265. 857 A. a. O., 266. 858 Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotenzial des Mythos. In: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971. 11–66. 42. 859 Vgl. a. a. O., 42. 860 Ebd. Die Hervorhebungen wurden aus der Vorlage übernommen.

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Es geht demnach laut Blumenberg beim Mythos weder um ein Konkurrenzverhältnis der Religionen noch um rationale Kriterien ihrer Hierarchisierung. Anders als in der christlich-theologischen Mythosrezeption, die über das Verständnis ihrer biblischen Offenbarung als Erzählung hier eine Brücke zur Mythosrezeption bauen kann, zeigt die islamische Koranexegese kaum Interesse am Mythos. Der Fokus auf den Koran als Botschaft und nicht als Erzählung steht in deutlicher Distanz zum Mythosbegriff.861 Im Islam ist die Mythosrezeption auch daher problematisch, da sich, wie Sebastian Günther schreibt, »koranische Offenbarung« und Mythos ausschließen.862 Wie in Sure 25,5 deutlich werde, grenze sich das koranische Offenbarungsverständnis von jeglicher vor-koranischer oder mythischer Einflussnahme ab.863 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Leigh N. B. Chipman, der mythisches Potenzial in der koranischen Schöpfungserzählung864 untersucht: »Striving to achieve a pure and perfect monotheism, the guardians of the sˇarı¯a regarded myth as a remnant of the pagan past, and storytellers (quassa¯s) who expanded and passed on old tales were often ˙˙ regarded with suspicion.«865 Dies gelte jedoch nicht für biblische Narrative, die sich im Koran wiederfinden lassen.866 »Diese biblischen Erzählungen im Koran spielen aufgrund der darin zum Ausdruck kommenden grundsätzlichen Anerkennung der früheren Offenbarungen und Propheten durch den Islam einerseits und wegen des hohen Lehr- und Vorbildcharakters der dargestellten Geschehnisse andererseits eine zentrale Rolle in der muslimischen Gedankenwelt.«867 Weiterhin müsse nach Chipman auch zwischen einem theologischen und einem ästhetisch-poetischen Zugriff auf mythische Stoffe unterschieden werden. »However, the commentators on the Qur’an and Hadit (traditions attributes to the Prophet Muhammad) were unable to refrain from expanding the mythic elements contained in revelation, while poets and mystics eagerly leapt in their own ways.«868

Die Vorbehalte der islamischen Theologie in Bezug auf die Verwendung des Mythosbegriffs sind hier durchaus nachvollziehbar. Der Koran hat als direktes »Wort Gottes« eine zentrale offenbarungstheologische Bedeutung. Die Verbal861 Vgl. Stolz, Art. Mythos II, Theologische Realenenzyklopädie Online. Berlin/ New York 2010. 623. 862 Vgl. Günther, Sebastian: Kain und Abel, »die Feindlichen Brüder«. Archetyp und literarisches Motiv in der arabisch-islamischen Kultur. In: Zgoll, Annette; Kratz, Reinhard G. (Hg.): Arbeit am Mythos. Leistung und Grenze des Mythos in Antike und Gegenwart. Tübingen 2013. 273–295. 276. Vgl. dazu Sure 25,5. 863 Vgl. Günther, Kain und Abel, »die Feindlichen Brüder«, 277. 864 Ausführlich dazu Chipman, Leigh N.B.: Adam and the Angels: an Examination of Mythic Elements in Islamic Sources. Arabica, Fasc. 4 (Oct.,2002), pp. 429–455. 865 Chipman, Adam and the Angels, 430. 866 Vgl. Günther, Kain und Abel, »die Feindlichen Brüder«, 277. 867 Ebd. 868 Chipman, Adam and the Angels, 430.

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inspiration des Textes ist damit nur schwer mit mythologischen Bezügen in Beziehung zu setzen.869 Dies scheint daher ein Punkt zu sein, an dem Differenzen nur schwer aufgehoben werden können, gerade weil die Vorbehalte der islamischen Theologie gegenüber dem Mythos einer dogmatischen Grundüberzeugung der Religion entsprechen. 4.2.1.1.3 Sinn und Wahrheit Wie im einleitenden Zitat bereits erkennbar ist, liegt die zentrale Funktion des Mythos in der Bereitstellung von »Sinn« und Orientierung. Inwieweit sich diese Funktion mit der Forderung nach Wahrheit verbinden lässt, führte bereits seit der Antike in eine grundlegende Diskussion. Dabei wurde in Folge antiker Diskussionen etwa bei Platon zwischen Mythos und Logos870 und später, wie aufgezeigt im Falle der Religionen, zwischen Offenbarung und dem oft negativ, im Sinne von unwahr, verstandenen Mythos differenziert. Somit ist aus religionsphilosophischer Sicht eine deutliche Infragestellung des Mythischen durch ein seit der Aufklärung zunehmendes hegemoniales Verständnis der Vernunft zu beobachten. Als Folge werden Mythen zum Gegenstand vielfältiger wissenschaftlicher Kritik. Axel Horstmann sieht darin jedoch den Startschuss für einen Perspektivwechsel gegeben. Erst ein solcher Zugriff ermögliche eine Akzeptanz des Mythischen als »attraktiver Gegenspieler wissenschaftlicher Vernunft«.871 Jamme betont im Kontext der Mythosrezeption hingegen die Dynamik der Wirklichkeitsdeutung. Jeder Mythos spiegle ein individuelles Wirklichkeitsverständnis, es unterscheide sich daher was im Kontext jedes Mythos als »wirklich« zu bewerten ist.872 Jamme verweist hier auf das von Blumenberg erarbeitete Verständnis von Wirklichkeit.873 Somit liefere der Mythos kein starres Abbild, sondern führe vielmehr durch seine Leerstellen in ein Reflexionsverhältnis zwischen dem »ich und der Wirklichkeit« ein.874 Nach Blumenberg sind es die Fragen, die an den Mythos gestellt werden, die zur Verortung beitragen: »Für das Wirkungspotenzial des Mythos ist diese Einsicht wesentlich: Nicht die Überzeugungskraft alter Antworten auf vergeblich zeitlose Menschheitsrätsel begründet die

869 Vgl. Berger, Islamische Theologie, 202. 870 Vgl. dazu Rüpke, Leistung und Grenzen von Mythen, 39f sowie Müller, Mythos, 311. Müller schreibt hier: »Mythos und Logos sind für Platon koexistierende Diskurse, wobei der Mythos dadurch ausgezeichnet ist, daß er das Wissen über die fernere, in der Gemeinschaft lebende Vergangenheit von einer Generation zur anderen auf dem Weg der Mimesis tradiert, während der logos für argumentativ überprüfbares Wissen steht.« 871 Horstmann, Faszination und Herausforderung, 26. 872 Vgl. Jamme, Mythos und Wahrheit, 22. 873 Vgl. dazu Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff. 874 Vgl. Jamme, Mythos und Wahrheit, 23.

Andere Themen des Dialogs

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Andringlichkeit mythologischer Konfigurationen, sondern die Implizität der Fragen, die in der Rezeption und ihrer Arbeit an ihnen entdeckt, ausgelöst, artikuliert werden.«875

Diese Flexibilität wird auch in der Einschätzung Dietrich Korschs deutlich, der im Mythos gleichsam eine »Aufforderung zur Rezeption« bzw. stärker formuliert, eine »Rezeptionsnötigung« erkennt.876 Dieses Merkmal des Mythos hat für ihn stets auch etwas mit einer »bleibenden Irritation« zu tun.877 Es scheint dabei irrelevant, wie der Mythos sich zur Wahrheit verhält. Nach Jamme liegt es in der Definition des Mythos begründet, dass er sich jeglicher Einteilung in wahr oder falsch entziehe. »Der Mythos ist also jenseits von Wahrheit und Falschheit zu situieren […].«878 Jamme will damit von einer »Beschreibung des Mythos […] zu einer neuen Bestimmung von Rationalität resp. einer Unterscheidung verschiedener Rationalitäten«879 gelangen und geht dabei von einer »Möglichkeit eines erweiterten Erklärungsmotivs des Wesens von Rationalität«880 aus. Zgoll weist ebenso deutlich auf die grundlegende Unvergleichbarkeit von Wahrheit und Mythos hin und fasst treffend zusammen: »Die rationalistische oder religiöse Kritik des Mythos geht an der Sache vorbei und zeugt von einem falschen Mythos- und einem falschen Wahrheitsverständnis. Die Frage nach der ›Wahrheit‹ eines Mythos ist ähnlich fruchtlos wie die Frage nach der Wahrheit einer Metapher. Wie eine Metapher, so ist ein Mythos nicht wahr oder falsch, sondern eher (die Wirklichkeit) treffend bzw. geglückt oder unzutreffend bzw. nicht geglückt, je nachdem, ob es ihm gelingt, Erfahrungen, Handlungen, Überlegungen, Ängste und Hoffnungen, Werte und Zielvorstellungen von Menschen so darzustellen, dass sich

875 Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff, 34. 876 Vgl. Korsch, Dietrich: Notwendigkeit als Weg zur Freiheit. Einige Bemerkungen zur Konzeption des Mythologie bei Schelling. In: Danz, Christian; Schüßler, Werner (Hg.): Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext. Berlin/ München/ Boston. 2015. 27–48. 28. 877 Vgl. a. a. O., 29. 878 Jamme, Mythos und Wahrheit, 24. 879 Jamme, Christoph: »Gott hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt am Main 1999. 19. 880 Jamme, Christoph: Mythostheorien. In: Jamme, Christoph; Matuschek, Stefan (Hg.): Handbuch der Mythologie. 2. unveränd. Aufl. Darmstadt 2017. 15–19. 18. Jamme greift hier erneut auf die Sicht H. Blumbergs zurück: »Der Mythos ermögliche eine zum Ästhetischen tendierende Entmachtung archaischer Ängste. Indem der Mythos bestimmte Lebenssituationen und Ängste bewältigt, gewinnt er seine erste Distanz und ist anfängliche Rationalität.« Jamme, Christoph: Mythos und Philosophie. In: Jamme, Christoph; Matuschek, Stefan (Hg.): Handbuch der Mythologie. 2. Unveränd. Aufl. Darmstadt 2017.20–24. 21. Blumberg wendete sich mit seinem Werk »Arbeit am Mythos« etwa auch gegen T.W. Adorno und M. Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« (1947).

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Menschen davon kognitiv und affektiv ansprechen lassen und ihre Wertvorstellungen wie ihr Handeln davon beeinflussen lassen.«881

Es kann also keine grundsätzliche Wertung von Mythos und Vernunft oder Rationalität vorgenommen werden, vielmehr ist zu bestätigen, dass beide Erkenntnisbereiche – auch wenn sie unterschiedlichen Modalitäten unterliegen – als gleichwertig zu betrachten sind. 4.2.1.2 Das Musiktheater »Das Ebenbild« als Mythos Das Musiktheater »Das Ebenbild« zeigt in seiner Konzeption eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Mythosbegriff. Diese findet in einer zweifachen Art und Weise statt: zunächst durch die Rezeption mythologischer Texte und Motive. Darüber hinaus zeigt das Stück selbst mythische Strukturen. Damit erfüllt es nicht nur typische Funktionen des Mythos, sondern ermöglicht auch eine künstlerisch-ästhetische Aktualisierung des Religiösen. Wie sich in der Analyse gezeigt hat, gibt es eine diffuse Aufnahme mythischer Texte und mythisch-religiöser Motive, die vor allem durch die Gestalt und das Auftreten der vier Choristen präsentiert werden. Dabei kommt es z. B. häufig zu Paraphrasen biblischer Texte. Die Sängerinnen und Sänger des Chors sind bereits als Akteure aus der unmittelbar zuvor inszenierten Musikinstallation »Der alte Traum«882 für das Publikum bekannt und verbleiben auch für das Stück »Das Ebenbild« in ihren Rollen. Sie repräsentieren somit einen bleibenden Zugang zu einer übergeordneten Erzählung und schaffen eine inhaltliche Verbindung beider Stücke. Wobei der Unterbrechungsmoment hier stark mitschwingt: Der Chor scheint angesichts der gegenwärtigen Konfliktsituation stets übergeordnete Deutungsangebote einzubringen. Westermann gibt an, dass die frühen Formen mythischer Erzählungen ihren Sitz im Leben innerhalb der Familie hatten, dies spiegle sich auch in Inhalt und Struktur des Mythos wider.883 In diesen sind etwa die Götter in Familienkonstellationen vorgestellt, aus denen sich dann typische Konflikte entwickelten. Ebenso nähmen Frauen verhältnismäßig oft bedeutende Rollen ein.884 Diese Faktoren zeigen sich ebenfalls in der Personenkonstellation des Musiktheaters: Der Konflikt entlädt sich zwischen Mann und Frau, wobei die Frau den deutlich

881 Zgoll; Kratz, Zu Blumbergs »Arbeit am Mythos«,11. Die Klammern und Anführungszeichen wurden aus der Quelle übernommen. 882 Die Musikinstallation »Der alte Traum« wurde unmittelbar vor dem Musiktheater »Das Ebenbild« aufgeführt. Die beiden Stücke bilden eine thematische und bühnenbildnerische Einheit. (Kap. 3.1.3.3). 883 Vgl. Westermann, Gliederung der Mythen, 213. 884 Vgl. ebd.

Andere Themen des Dialogs

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aktiveren Part übernimmt. Der Mann bleibt passiv und ergibt sich seinem Schicksal. »AMINA: Ilyas! Wohin gehst du? ILYAS: Ich halte diesen Geruch nicht mehr aus. Mein Zimmer ist erfüllt davon! Meine Glieder brennen wie Feuer und mein Augenlicht verschwindet. Die Krankheit wuchert unaufhörlich in mir. Der Geruch, Amina, scheint mir wie aus dem Grabe! AMINA: Aber du darfst nicht hinausgehen. ILYAS: Was soll mir noch passieren? Werde ich draußen einen Tag früher sterben als hier drin? Zumindest nicht von diesem Geruch meines zerfallenen Körpers. CHOR: Dein Leben ist ein Wunder, und dein Kämpfen ist großartig; Deine Herrlichkeit war hoch, inmitten der Asketen. AMINA (fürsorglich): Wo möchtest du denn hingehen, Ilyas? Lässt du mich hier alleine zurück? Können wir nicht mehr an das Gute glauben. Du glaubtest immer doch an das Gute. ILYAS (unterbricht sie): Man kann von Aberglauben sprechen, aber ein Glaube existiert nicht mehr in meiner Welt. Nur der an das finstere Schicksal, das über mein Unglück bestimmt. Weißt du, Amina, was mich quält? AMINA: Sag es mir, Ilyas! ILYAS: Es ist alles dahin: Unsere Pläne, unsere Herzenswünsche. Alles scheint mir jetzt, als ob es ein Kriegsdienst wäre. Als wäre ich ein Tagelöhner, der sein ganzes Leben auf Lohn gewartet hat. Doch am Ende kommt nichts. […] CHOR: Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine Seele verliert, wäre dies das Leben der Eitelkeit. Wir bitten Sie, sich an uns zu erinnern!«885

Diese inhaltlichen Momente des Mythischen im Musiktheater wirken sich auch auf die Struktur der Handlung aus. Der Chor etwa verbindet nicht nur beide Stücke miteinander, sondern zieht ebenso eine chronologische Entwicklungslinie von einer unbestimmten archaischen Vorwelt bis in die Zukunft.886 Krüger und Stillmark betonen die transferierende Kraft des »Mythischen«. Diese vermag »[a]uf Grund ihrer ambivalenten ›semiotischen Mobilität‹, als Narrative und bildhafte Zeichen einen nicht existierenden Referenten zu vergegenwärtigen und so ›aufgespal-

885 Libretto »Das Ebenbild«, 5f. 886 Hier deutet sich die Kontroverse um die Abgrenzung zwischen Mythos und Geschichte an, zu der das Stück wenn, nur einen indirekten Beitrag leistet. Im Stück hat der Mythos bis in die Gegenwart bestand, er überdauert die Zeiten und Kulturen und will Einfluss auf die Protagonisten nehmen. Inwieweit diese sich auf diese Traditionslinien einlassen, variiert. Die Mythen werden somit nicht als geschichtlich in dem Sinne dargestellt, dass sie ihre Relevanz und Aktualität einbüßten, obgleich eine Einbettung in ihre jeweiligen kulturellen Kontexte durchaus erfolgen müsse. Vgl. dazu Jamme, Mythos und Wahrheit, 16–21.

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ten‹ zu sein zwischen dem Paradoxon eines imaginären Vergangenen und ihrer Inszenierung […].«887

Dieser Versuch wird im »Ebenbild« unternommen. Der Mythos wird genutzt, um eine Brücke zwischen Vergangenem und der Gegenwart bzw. zwischen dem Ausdruck einer menschlichen Ur-Erfahrung und ihrer Bedeutung für das Leben im Hier und Jetzt aufzubauen. Jamme stellt des Weiteren fünf Grundfunktionen des Mythischen vor, von denen sich vor allem die erste und die fünfte im Musiktheater zeigen. Im »Alten Traum« sowie in dem »Ebenbild« wird zunächst der Mythos in seiner ästhetischen Funktion (5) eingebracht und über die Inszenierung vermittelt. Es folgt, vor allem im zweiten und dritten Bild eindeutig, eine, von Jamme als »(1) kultisch-religiös« bezeichnete, Komponente, die sowohl »heilige Wahrheiten« aufscheinen als auch über »Schuld oder Unschuld« entscheiden lässt.888 Ebenso können im Mythos menschliche Grundprobleme wie Liebe oder Tod verarbeitet werden.889 Müller sieht im Mythos eine Funktion, die Gemeinschaft ermöglicht. »Seine gemeinschaftsstiftende Kraft bewährt der Mythos nicht nur dadurch, daß er einer Mehrzahl von Individuen an einer gemeinsamen Kultur bzw. Ritus teilzunehmen gestattet; vielmehr vergegenwärtigt er bereits als Erzählung bzw. erzählter Inhalt ein primum actum, in dem Gemeinschaft ihren Existenzgrund findet und den wirksam zu erhalten sie Institutionen schafft, welche nicht grundsätzlich und ausschließlich kultisch-ritueller Natur sind.«890

Hier spielt die zunächst orale Tradition des Mythos eine wichtige Rolle, die Zuhörerschaft ist zugleich auch die Gemeinschaft, die sich über den Mythos definiert. Durch die Abgrenzung zum wissenschaftlichen Weltbild, werden die mythischen Motive des Musiktheaters umso stärker wahrnehmbar. »Das Ebenbild« 887 Krüger, Brigitte; Stillmark, Hans-Christian (Hg.): Mythos und Kulturtransfer: Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien. Bielefeld 2013. 9–16. 9. 888 Jamme, Mythos – Kulturphilosophische Zugänge, 20. Als weitere Funktionen nennt Jamme : »(2) historisch-sozial erzählt er die Geschichte einer Institution, einen Ritus oder einer gesellschaftlichen Entwicklung; (3) politisch sind Mythen der Ausdruck eines primären kollektiven Narzissmus und dienen der Selbstdarstellung einer Gesellschaft. Hinzu kommen (4) die lehrhafte Funktion (exemplum) wie (5) die ästhetische.« 889 Vgl. a. a. O., 27. 890 Weiter schreibt Müller: »Der Ritusbezug als Strukturmoment des Mythischen ist m. E. oft zu eng begriffen und überbetont worden. Die Bündelung mythischer Einzelmotive zur größeren, potenziell mythologischen Erzählung, vor allem aber deren literarische Bearbeitung setzt zumeist voraus, daß sich das Mystische aus einem Ritusbezug zu lösen beginnt. Vom Ritus zu lösen, ohne zugleich religiös bedeutungslos zu werden, kann sich das Mythische aber nur darum, weil es von vornherein mehr als die ätiologische Begleitmusik religiöser Praxis bzw. das ideologische Pendant der Sitte war; […]« Müller, Mythos – Kerygma – Wahrheit, 7f. (Hervorhebungen innerhalb des Zitats wurden nicht übernommen).

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Andere Themen des Dialogs

…als Mythos

Mythos in… -

Konzep"on des Chors als „mythische Geister“

-

Unabhängig von der Wahrheitsfrage

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literarische Anleihen (Babel, Schöpfung, Hiob, Gilgamesch, Metamorphosen)

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Universeller Geltungsanspruch

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Transfer zwischen Vergangenheit und Gegenwart

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Struktur des Musiktheaters: Familienkonstella"on, Konflikte um Liebe und Tod

„Das Ebenbild“

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Ausdruck anthropologischer Grunderfahrungen

-

Bereitstellung eines gesellscha!lichen Defini!onsangebots

-

Antonym zur Naturwissenschaft

Abbildung 4: »Das Ebenbild« als Mythos

kombiniert diese mythischen Elemente aber auch mit religions-ethischen Problemkonstellationen, die sich sonst klassischerweise in den Theologien niederschlagen, behandelt diese aber religionsübergreifend. Es sind die großen anthropologischen Fragen, die im Musiktheater aufgerollt und vor einem immer wieder »verstellten« religionshistorischen Hintergrund diskutiert werden. Es sind die individuellen Anfragen, die der oder die Einzelne an die Religion stellt und in eine Auseinandersetzung treten lassen. Diese Anfragen ergeben sich aus den je eigenen Lebenskrisen, die sich im Stück am Beispiel von Krankheit und Tod zeigen. Die Zuständigkeit für die Bearbeitung dieser Lebenskrisen, der Umgang mit Leid, der Wunsch nach ewiger Liebe und Gemeinschaft sowie einem ewigen Leben, wird – wenn auch nicht unangefochten – dem Zuständigkeitsbereich der (mythischen) Religion zugesprochen. Im Kontext der Oper muss sich diese, wie oben bereits deutlich wurde, gegen eine von Menschen ermöglichte Lösung durchsetzen. Trotz aller Positionierung stellt das Musiktheater bereits die Weichen für eine Annäherung im Konflikt zwischen religiösen und menschengemachten Deutungsangeboten. Wie die Analyse aber gezeigt hat, kommt es vor allem im zweiten Bild auch zu Überschneidungen der beiden Bereiche, da die Choristen ihre archaischen Kostüme ablegen und sich in weiße Laborkittel kleiden. Eine Kooperation zwischen mythischen und wissenschaftlichen Ressourcen scheint dadurch

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

möglich. Noch deutlicher macht auch die Inszenierung »Der Alte Traum« diese Ambivalenz: Dort sind es die »mythischen Geiste«, die sich Schritt für Schritt neue Fähigkeiten – in der Inszenierung symbolisch durch Holzscheite dargestellt – zu eigen machen. Hier wird deutlich, dass aufgrund der unklaren Verhältnisbestimmung beider Bereiche eine klare Trennung nicht vollzogen werden kann. Die Inszenierung legt hier bewusst einen Ausweg aus der Konkurrenzsituation an. 4.2.1.3 Mythos als Ressource – zwischen Wissenschaft und Religion Das Theater greift mit dem Musiktheater indirekt auch in eine komplexe Debatte um das Gefüge von Wissenschaft und Theologie bzw. Religion und Gesellschaft ein.891 Die Analyseaspekte zu »Das Ebenbild« lassen sich vielfach auch auf Beobachtungen Peter Harrisons zum Umgang von Wissenschaft und Religion übertragen. Gemeint sind damit vor allem der in der Struktur des Musiktheaters angelegte Konflikt zwischen Mythos und Wissenschaft sowie zwischen religiösen und menschengemachten Deutungsangeboten, wie sie im Stück in der Gegenüberstellung von »Ebenbild« und Klon deutlich werden. Hinzu kommt die religionspluralistische Haltung, in der die Religionen als Einheitsreligion vorgestellt werden. Nach Harrison892 sind solche Mechanismen durchaus problematisch. Erstens befördert der Dualismus, in den die einzelnen Größen verortet werden, destruktive Tendenzen. Dies gilt zum einen für die Beziehung der Religionen zu den Naturwissenschaften selbst, zum anderen betrifft dies auch die Beziehung der Religionen untereinander. Harrison verknüpft diese beiden Bereiche eng in seiner Argumentation und sieht grundlegende Parallelen zwischen dem gesellschaftlichen Verhältnis der Religionen und dem Verhältnis der Religion zur Wissenschaft. Es »[…] sollte klar sein, dass Diskussionen über die Relation von Wissenschaft und Religion nicht unabhängig von der Thematik des religiösen Pluralismus diskutiert werden können.«893 Die Art und Weise, wie sich etwa das Christentum gegenüber den Wissenschaften verhalte, indem es sich beispielsweise als rational und der Aufklärung verpflichtet präsentiere, führe zu einer indirekten Abwertung anderer Religionen und somit auch zu einem indirekten

891 Für einen einleitenden Überblick zu den vielfältigen Konstellationen in der Debatte siehe auch: Barbour, Ian: Naturwissenschaft trifft Religion. Gegner, Fremde, Partner? Göttingen 2010. 892 Harrison äußert in diesem Zusammenhang auch eine starke Kritik am Begriff der »Religion« als solche. Er führe zu einer grundsätzlichen Einschränkung und Reduzierung religiöser Traditionen. Darüber hinaus sei er maßgeblich auch für das Problemfeld des religiösen Pluralismus verantwortlich. Vgl. Harrison, »Wissenschaft« und »Religion«, 54ff. 893 A. a. O., 66.

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Exklusivismus894. Die Frage nach der Vereinbarkeit mit naturwissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen werde somit zum Parameter für den Glaubwürdigkeits- und Wahrheitsgrad einer Religion gemacht.895 Die Art und Weise, wie sich »die Religion« in »Das Ebenbild« darstellt, wäre aus Harrisons Sicht als unangemessen zu beurteilen: »Die gängige Annahme des 19. Jahrhunderts, dass alle ›Religionen‹ irgendein gemeinsames Wesen teilen oder verschiedene Manifestationen einiger zentraler Wahrheiten darstellen, ist in unserer heutigen Zeit zunehmend schwerer beizubehalten.«896 Und weiter schreibt Harrison, »[d]er Dialog zwischen Wissenschaft und Religion kann nicht auf Basis der Annahme geführt werden, dass der religiöse Pol der Diskussion eine Art von allgemeiner natürlicher Religion ist, die im Hinblick auf den spezifischen Gehalt verschiedener Glaubensrichtungen im Wesentlichen neutral ist.897«

Zweitens sei der Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie auch immer ein Macht-Diskurs.898 Harrison vermutet, dass mit der Nähe zu den Naturwissenschaften, und dies betrifft für ihn v. a. die christlichen Theologien, letztlich ein Anteil an deren gesellschaftlicher Relevanz899 erkauft werden solle. Er schreibt: »In diesem Licht betrachtet, könnten einige gut gemeinte Versuche, den Dialog zwischen Wissenschaft und Religion zu fördern, die kulturelle Autorität der Wissenschaften stillschweigend bekräftigen, christliche und andere Glaubenstraditionen verzerren und die problematischen Aspekte der Kategorie ›Religion‹ fortführen.«900 In diesem schwierigen Gefüge kann über den Mythos eine andere Perspektive eingebracht werden. Wie bereits in den vorangehenden Kapiteln aufgezeigt wurde, stellt der Mythos an dieser Stelle eine vermittelnde Instanz dar, da er sich per se jeder wissenschaftlich-rationalen Deutung entzieht. Die Ressource des Mythos ist in dieser Hinsicht in erster Linie seine Distanz sowohl zur Religion als auch zur Wissenschaft. Aus dieser Distanz heraus kann er einerseits das teils 894 895 896 897 898 899 900

Vgl. Harrison, »Wissenschaft« und »Religion«, 62. Vgl. a. a. O., 66. Ebd. Ebd. Vgl. a. a. O., 65. Harisson benutzt an dieser Stelle den Begriff »kulturelle Autorität«, vgl. ebd. Ebd. Stattdessen schlägt Harrison mehr »Distanz« und »Unabhängigkeit« zwischen beiden Disziplinen vor. Vgl. ebd. Darüber hinaus solle es weniger um Sachfragen gehen, sondern mehr um die »persönlichen Dimensionen«, in denen sich naturwissenschaftliche mit religiösen Überzeugungen vereinbaren ließen. Vgl. a. a. O., 67. »Theoretische Zugänge zu Wissenschaft und Theologie werden vielleicht am besten verstanden als autobiographische Aussagen darüber, wie Individuen, die religiösen Glauben ernst nehmen, zu einem persönlichen Umgang mit der mächtigen und dominierenden Ansicht der natürlichen Welt gefunden haben, von der sie bemerkt haben, dass sie sie nicht ignorieren können.« Harrison, »Wissenschaft« und »Religion«, 67.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

destruktive Konkurrenzbewusstsein zwischen Religion und Wissenschaft, aber auch zwischen den Religionsgemeinschaften abfedern. Andererseits werden die Religionen durch das Ausklammern der Wahrheitsfrage im Mythos vor Versuchen der rein rationalen Legitimation angesichts der Wissenschaft bewahrt. 4.2.1.4 Mythos und interreligiöser Dialog a) Mythos als Brücke Die Inszenierung des Musiktheaters »Das Ebenbild« zeigt in seiner Konzeption als Mythos einen deutlichen Gegensatz von Religion und wissenschaftlichem Fortschritt auf. Das durch den Titel der Route vorgegebene Leitthema »Konkurrenz« ergibt sich zunächst aus dem Spannungsverhältnis zwischen den menschlichen Möglichkeiten, einen ebenbildlichen Klon zu erschaffen und der (religiös bestimmten) Moral, sich diesem Vorhaben zu widersetzen. Im Verlauf des Stücks kommt es, wie in den vorhergehenden Ausführungen deutlich geworden ist, jedoch zu einer Verquickung der Bereiche Mythos, Religion und Wissenschaft. Der Mythos fungiert dabei als Brücke, da über ihn zum einen die inhaltliche Verbindung zum Religiösen und zum anderen die strukturelle Verbindung zur Wissenschaft als die andere Seite der »Rationalitäts-Medaille« geleistet werden kann. Der Mythos wehrt überdies auch die Tendenz ab, Wissenschaft und Religion gegeneinander auszuspielen, indem er die Frage nach Wahrheit von vornherein ausklammert. Zusätzlich zu der Religion und Wissenschaft überbrückenden Funktion wird eine zweite Verbindung ermöglicht. Unter dem gemeinsamen »Schild« des Mythos wird nicht mehr zwangsläufig zwischen den einzelnen christlichen oder islamischen Elementen differenziert. Dem naturwissenschaftlichen Fortschritt wird somit eine »Einheitsreligion« entgegengestellt901. Dieses Bild der Religion kann sowohl negativ als auch positiv gedeutet werden: Die konkrete religiöse Identität geht im Sammelbecken der Inszenierung größtenteils verloren, dafür werden die Gemeinsamkeiten zugunsten eines starken moralischen Standpunktes unverhältnismäßig hervorgehoben. Auf diese Weise werden auch die interreligiösen Differenzen angesichts des gemeinsamen mythischen Gehalts ausgeblendet.

901 Solche religiösen Synthesen sind aus religionstheologischer Sicht durchaus kritisch zu betrachten. »Es wird nicht allzu viel danach gefragt, wie gut – oder ob überhaupt – die Versatzstücke aus unterschiedlichen Religionen zusammenpassen oder was im Endeffekt das Ergebnis solch ›kreativer‹ Mischungen ist.« Bernhardt, Reinhold; Stosch, Klaus von: Einleitung In: Bernhardt, Reinhold; Stosch, Klaus von (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie. 2009 Zürich. 7–12. 7.

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Die Erträge dieser Auseinandersetzung zwischen Mythos, Wissenschaft und Religion können von der Theaterbühne auch auf allgemeinere gesellschaftliche Debatten übertragen werden. Es geht hier nicht um ein allgemeines Gegeneinander von Religion und Wissenschaft oder grundlegende Fragen ihrer Beziehung, es wird vielmehr die Bedeutung ausgelotet, die die Religion für die Gesellschaft spielt, wenn es darum geht, sich zum wissenschaftlichen Fortschritt zu positionieren. Auf diese Weise werden auch die interreligiösen Differenzen angesichts des Mythischen verwischt. Der Mythos rekurriert, wie gezeigt wurde, immer auch auf transzendente und damit religionsübergreifende Erfahrungen. Der Titel »Das Ebenbild« enthält hier die religiöse Konnotation, dass der Mensch eben nicht ausschließlich auf sich selbst bezogen, sondern in einem Beziehungsverhältnis zu einer übergeordneten Transzendenz geschaffen wurde.902 Der Bezug auf religiöse Werte ist im Stück der alleinige Anknüpfungspunkt für die moralische Orientierung. Andere Normen werden nicht mit einbezogen. Das, was einen solchen »religiösen Flickenteppich« dennoch zusammenhält, scheint aus der Perspektive der Theaterschaffenden ein gemeinsamer mythologischer Kern der Religionen zu sein. Die Gemeinsamkeit der Religionen zeigt sich darin, ein Deutungspotenzial bereit zu halten, das auch über das Rationale hinaus tragfähig ist. Als Beispiel kann hier noch einmal die Bewältigung von Leiderfahrung genannt werden. Nachdem die wissenschaftliche Option auf die Erzeugung eines menschlichen Klons die klassische Theodizee-Frage vorerst überflüssig scheinen ließ, bringt das Ende des Stücks durch das Scheitern des Vorhabens genau jene wieder ins Spiel zurück. Die religionsübergreifende Rückbesinnung auf die Kraft einer anderen Weltdeutung scheint hier das entscheidende Lehrstück zu sein. Dabei kommt dem Mythos größere Bedeutung zu als den konkreten religiösen Ausprägungen des Christentums oder des Islams. Die Inszenierung macht dabei keine konkreten religiösen Angebote, etwa für den Umgang mit Schuld. Sie bringt stattdessen eine allgemeine religiöse Perspektive ein, die vor allem aus ihrer Abgrenzung zu anderen Deutungsangeboten ihre Attraktivität gewinnt. Der Mythos stellt dazu einen geeigneten Rahmen zur Verfügung. Das Theater scheint hier eine Sichtweise widerzuspiegeln, die der Religion zumindest in ihrer speziellen mythischen Ausprägung eine große gesellschaftliche Relevanz beimisst. Die Religion wird dann für gesellschaftliche Diskurse interessant, wenn sie sich sowohl auf ihre verbindenden als auch auf ihre sinn-

902 Religionswissenschaftlich lässt sich nach John Hick hier die Entwicklung von einer »Egocentredness« zu »Reality-centredness« sprechen. Vgl. Bernhardt, Inter-Religio, 355. Die Auseinandersetzung im Stück ist nicht chronologisch, wie bei Hick, sondern horizontal dargestellt. Die Protagonisten befinden sich im Widerstreit beider Pole.

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stiftenden Ressourcen konzentriert. Das Theater hat mit der Wahl des Mythos dieses Potenzial sichtbar werden lassen. b) Mythos als Ressource im interreligiösen Dialog In »Das Ebenbild« wird ein Bild von Religion entworfen, in der diese nicht nur als »Einheitsreligion« verstanden wird, sondern vor allem auch auf ihre archaischen und mythischen Ursprünge zurückgeführt wird. Diese Motive werden in der Musikinstallation »Der alte Traum« dezidiert aufgegriffen und als gemeinsame religionsgeschichtliche Basis installiert. In »Das Ebenbild« geht es um den Mythos als »Ausdruck einer überempirischen Bedeutsamkeit«, wie Bernhardt ihn im Zusammenhang des religionstheologischen Pluralismus versteht.903 Die Fokussierung auf einen mythologischen Kern der Religionen in der Inszenierung »Das Ebenbild« entspricht dabei durchaus einem Anliegen der pluralistischen Religionstheologie.904 So versucht John Hick etwa den Mythos im Rahmen seiner Theorie einzubetten. Der Mythos stellt für die Theologie der Religionen in erster Linie eine Möglichkeit der Anschlussfähigkeit dar. »Hier schien ihm [Hick] einer der zentralen Schlüssel zur Überwindung exklusivistischer Haltungen gegenüber anderen religiösen Traditionen zu liegen.«905 Hick versteht den Mythos in diesem Kontext als »eine Geschichte, die erzählt wird, aber nicht buchstäblich wahr ist, oder eine Idee oder ein Bild, die oder das auf eine Person oder Sache angewandt wird, aber nicht buchstäblich zutrifft, sondern beim Hören eine bestimmte Haltung oder Einstellung herbeiführt. Die Wahrheit eines Mythos ist also eine Art praktische Wahrheit, die in der angemessenen Einstellung ihrem Objekt gegenübersteht.«906 Nach Maurice Wiles ist der Mythos dann relevant, wenn es um die Struktur und Systematik einer Religion geht. Für das Christentum seien solche strukturellen Elemente etwa die Schöpfung oder die Inkarnation.907

903 Bernhardt, Ende des Dialogs?, 185. 904 Es muss hier jedoch zwischen dem Mythos als religionsübergreifendem Phänomen und der Relativierung zur Legitimation einer Gleichwertigkeit zwischen allen Religionen unterschieden werden, wie sie in der Inszenierung »Nathan der Weise« kritisiert wurde. 905 Bernhardt, Ende des Dialogs?, 185. 906 Hick, Jesus und die Weltreligionen, 188. 907 Vgl. Wiles, Maurice: Der Mythos in der Theologie. In: Hick, John (Hg.): Wurde Gott Mensch? Der Mythos vom fleischgewordenen Gott. Aus dem Engl. übersetzt v. Ulrich Hühne. Gütersloh 1979. 156–174. 159. Wiles geht sogar soweit, sich festzulegen: »In diesem weiteren Sinne kann man von vier grundlegenden christlichen Mythen oder von einem Mythos mit vier Hauptmerkmalen sprechen: Schöpfung, Fall, Inkarnation und Versöhnungswerk Christi, Auferstehung der Toten und Jüngstes Gericht.« (Wiles, Der Mythos in der Theologie, 162.) Ebenso macht er aber deutlich, dass es durchaus Abstufungen gibt, so hält er die mythologischen Aspekte in der biblischen Schöpfungserzählung für weitaus signifikanter als für das Konzept von der Auferstehung. (Vgl. a. a. O., 168.)

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Hier kann auch die Definition Jammes von dem Mythos als einer Erzählung, die sich um die »Knotenpunkte menschlicher Existenz«908 lagert, angeschlossen werden. Durch die Funktion des Chores, die literarischen Anspielungen und die Struktur des Musiktheaters wird das Mythische unmittelbar auf die Bühne gebracht909. So inszeniert entfaltet der Mythos seine Funktionalität. »Es ist zu beobachten, dass Mythen in der gesellschaftlichen Kommunikation nicht selten die Funktion von ›Kollektivsymbolen‹ einnehmen, um hochkomplexe gesellschaftliche, historische, soziale wie wissenschaftliche Zusammenhänge durch inhaltliche Reduktion und narrative bzw. figurative Vermittlungsformen auf überschaubare, multifunktionale Argumentationsmuster zu bringen.«910 Die Ausrichtung auf die Sinnstiftung hält den Mythos auch für ein universalistisches Verständnis der Religionen offen911. Der Mythos ließe sich von daher ganz im Sinne eines religiösen Pluralismus und Universalismus verstehen, da die Frage nach Wahrheit und die damit verbundenen Absolutheitsansprüche der Religionen keine Rolle spielen. Problematisch kann der universalistische Ansatz jedoch in dem Sinne werden, dass der Mythos als religionsübergreifendes Phänomen angesehen wird, etwa wenn im weiterführenden Sinne des Pluralismus über den Mythos eine Gleichwertigkeit der Religionen bestimmt und legitimiert wird. Dies betrifft vor allem die Beobachtung, dass die Mythosrezeption in den Religionen unterschiedlich ausgeprägt ist und etwa in der islamischen Theologie große Vorbehalte gegenüber dem Mythos vorherrschen. Es ist also bereits auf der terminologischen Ebene keineswegs von einem Konsens auszugehen. Die inhaltliche Abgrenzung 908 Jamme, Mythos – Kulturphilosophische Zugänge, 19. 909 Dass darin Potenzial steckt sieht auch der Physiker Josef Honerkamp. Er bringt den Mythos in das Gefüge von Wissenschaft und Religion ein: »Praktisch behandeln sie [die katholische Kirche] die Glaubensinhalte wie einen Mythos, ein klares Bekenntnis dazu scheuen sie aber. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis empfinden viele als intellektuell unredlich. Dabei haben diese Mythen, als sie noch das ganze Leben der Menschen durchdrangen und als wirkliche Geschehnisse angesehen wurden, wie andere Mythen auch zu größten kulturellen Leistungen inspiriert, und sie können noch heute durch ihre tiefgründigen Darstellungen von Lebenssituationen und durch ihre Poesie viele Menschen erbauen.« Honerkamp, Josef: Wissenschaft und Weltbilder. Wie Wissenschaft unser Leben prägt und wir uns letzten Fragen nähern. Berlin/ Heidelberg 2015. 289. 910 Krüger, Stillmark, Mythos und Kulturtransfer, 11. 911 Günther versucht ähnliches am Beispiel des Mythos von den streitenden Brüdern aufzuzeigen, der angefangen bei dem koranischen Zeugnis innerhalb der arabischen Literatur eine große Rezeption erfahren habe. »Auf diese Weise rufen die arabischen Autoren Vitalität und Vielfalt des kulturellen und religiösen Erbes der Welt nicht nur in das Bewusstsein ihrer arabischen Leserschaft bzw. der gesellschaftlichen Öffentlichkeit islamisch geprägter Länder, sondern helfen dabei, die alten Mythen im kollektiven Gedächtnis der Menschheit wach und ihre Weisheit präsent zu halten. Damit leisten sie einen essentiellen Beitrag zu einem besseren Verständnis zwischen den Kulturen und Religionen […].« Günther, Kain und Abel, »die Feindlichen Brüder«, 294f.

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zum Mythischen scheint innerhalb der islamischen Theologie sehr stark, sodass fraglich ist, inwieweit der Mythos als Paradigma des interreligiösen Pluralismus überhaupt akzeptiert werden kann. Um das Potenzial des Mythos für den interreligiösen Dialog auszuloten, muss daher noch einen Schritt zurückgegangen werden und der Fokus mehr auf die inhaltlichen und motivlichen Parallelen gelegt werden. Ein Problem scheint vor allem mit der z. T. negativen Konnotation des Begriffs Mythos in der islamischen Theologie zusammenzuhängen, sodass eine Konzentration auf den inhaltlichen Kernbereich dessen, was der Mythos vor allem in seiner Abgrenzung zum Rationalen leistet, hier angemessen erscheint.912 Aus dieser Perspektive betrachtet wird der Mythos zum Schild universaler Symbole und überempirischer Wahrheit, die sich in den jeweiligen Religionen als attraktives Deutungsangebot niederschlägt. Dies scheint im Übrigen auch der Kern dessen zu sein, was dem Theater als reizvoll und produktiv erscheint und als Aufforderung an die Religionen innerhalb der Gesellschaft ergeht. Wenn sich die Religionen, in diesem Fall Christentum und Islam, darauf konzentrieren und ihren je eigenen irrationalen Beitrag gemeinsam reflektieren und verständlich machen, so ist eine gute Grundlage auch für die Verständigung mit und innerhalb einer säkularen Gesellschaft gelegt. Dabei kann es nicht darum gehen, Konflikte aufzulösen oder zu harmonisieren. Der Mythos lebt vom Diskurs, genauso wie der Dialog. Bereits Müller stellt grundlegend fest: Der Mythos gewinnt »aus Polarität zwischen Vernunft und Rationalität Kontur«.913 So, wie der Mythos gegebenenfalls die Gesprächspartner einer interreligiösen Begegnung herausfordert, ist auch die (säkulare) Gesellschaft durch das Auftauchen des Mythos herausgefordert.

4.2.2 Utopie Die verschiedenen Inszenierungen des Stadtprojekts »Nathan« spielen mit den vielfältigen Beziehungsformen von (religiösem) Individuum und dessen Gesellschaft. Es geht dabei stets um Veränderung und Gestaltung eines besseren Miteinanders. Der Utopiegedanke findet dabei Ausdruck in dem Wunsch nach einem toleranteren Umgang miteinander und wird als gemeinsamer Traum in den Theaterprojekten zur Sprache gebracht. Die Religionen werden dabei als Motor dieser Träume und Sehnsüchte inszeniert. Religion wird in den einzelnen Inszenierungen in einem weiten Spektrum vorgestellt: So sind in der Inszenie912 Trotz der Problematisierung des Mythosbegriffs, soll an dem Begriff für die weitere Bearbeitung festgehalten werden. 913 Müller, Mythos, 309.

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rung »Nach Babel – und noch weiter« Judentum, Christentum und Islam durch eine klare Farbgebung der Kostüme voneinander getrennt. In den anderen beiden Inszenierungen der »Urban Prayers«-Reihe sind religiöse Unterschiede im Bühnenbild nicht sichtbar gemacht und auch inhaltlich kaum zum Ausdruck gebracht. Die Diskussionen bewegen sich zwischen konkreten interreligiösen Streitpunkten (z. B. zum Thema Heirat) und Diskursen (z. B. Schöpfung der Welt). So werden ganz unterschiedliche Standpunkte zwischen den Polen von Religiosität und Säkularität vor- und so dem Theaterpublikum ein Abbild der Gesellschaft gegenübergestellt. Der Chor der Gläubigen, den Bicker in seiner Textvorlage so stark auftreten lässt, ist in der Osnabrücker Inszenierung verblasst. Trotzdem geht die Religion in den Inszenierungen nicht unter, sie erzeugt im Gegenteil erst ein realistisches Spannungsfeld. Die Religionen stehen somit in einem produktiven Kontrast zur Lebenswirklichkeit – dieses Verhältnis zeichnet auch Utopien aus. In den einzelnen Stücken der »Urban Prayers« wird immer wieder das Wechselspiel zwischen Alltagswirklichkeit und Traum aufgerufen. In der Inszenierung von »Nathan der Weise« wird die Möglichkeit auf Veränderung der Gesellschaft werkimmanent kritisch hinterfragt, die Frage nach der Wirksamkeit von Utopien bleibt bewusst unbeantwortet. Im nachfolgenden Kapitel soll daher zunächst die Utopie in ihrer Eigenschaft als politisch-soziale Gegenwelt skizziert werden. Auch dies geschieht – ähnlich wie beim Mythosbegriff – nur in Auszügen. Anschließend werden ausgewählte Elemente in den Theaterprojekten des Stadtprojekts »Nathan« vorgestellt und auf den Utopiegedanken hin interpretiert. Der Wunsch nach einer toleranteren Gesellschaft tritt dabei als eine Ausprägung der Utopie hervor. Dabei zeigt sich die religiöse Hoffnung als Ressource des utopischen Denkens. Abschließend wird – ebenso wie bereits für den Mythos gezeigt – die Bedeutung der Utopie für den Dialog zwischen den Religionen diskutiert. 4.2.2.1 Utopie als Gegenwelt – eine kulturwissenschaftliche Orientierung »Wir träumen davon […]«914

Der Begriff der »Utopia« geht zunächst auf das Werk von Thomas Morus »De optima statu rei publicae deque nova insula Utopia« von 1516 zurück915, der darin 914 Bicker, Was glaubt ihr denn, 216. 915 Zur Begriffsgeschichte siehe Schölderle, Thomas: Geschichte der Utopie. Wien/ Köln/ Weimar 2012. 11–18. Schölderle geht hier auch auf den Wortursprung ein und bemerkt, dass die Deutung von Utopie (griech. ou=nicht und tópos=Ort) als Nicht-Ort keineswegs sicher ist. Die Zusammensetzung des Substantivs sei »falsch gebildet, weil im Griechischen die Negation ›ou‹ stets zur Satzverneinung dient, während für die Negation eines Adjektivs oder Substantivs das sogenannte ›Alpha privativum‹ verwendet wird, […]. Gleichwohl darf unterstellt werden, dass Morus’ fehlerhafte Wortschöpfung kein Versehen war. Die beiden

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einen idealen Staat vorstellt. Aus der griechischen Antike sind aber vor allem durch Platon (Atlantis) und Hesiodod (Aurea Aetas) bereits utopische Motive überliefert, die die patristische und neuzeitliche Rezeption stark geprägt haben.916 Augustinus lieferte im Gegensatz zu den politischen Utopien mit der Civitas Dei die erste christliche Utopie, in der »präsentische und eschatologische« Utopievorstellungen verknüpft werden.917 Eine islamische Utopie legt der arabische Philosoph Al-Fa¯ra¯bi mit Maba¯di’ a¯ra¯’ ahl-madı¯na al fa¯dila918 vor. In Folge der Aufklärung löst sich das Utopieverständnis mehr und mehr von seiner literarischen Gestalt. Im Zuge dessen wird die utopische Kritik der vorhandenen Umstände (auch als Raumutopie bezeichnet) zunehmend von der Idee einer kontinuierlichen Verbesserung der Umstände (Zeitutopie) überlagert.919 Ab dem 20. Jh. dominiert ein philosophisch-politischer Zugriff auf den Begriff, der das Utopische einerseits als anthropologische Konstante und andererseits als Überbegriff einer allgemeinen Gesellschaftskritik diskutiert.920 Ernst Bloch hat hierzu Entscheidendes921 beigetragen: Die Utopie kann demnach als Grundlage menschlichen Veränderungs- und Gestaltungspotenzials angesehen werden. »Die Utopie wird so zu einer optimistischen von Hoffnung geleiteten Denkweise, die Zukunft zu gestalten.«922 Darüber hinaus können Utopien nach Bloch jeweils nur in konkreten Ausprägungen existieren, d. h. sie sind an bestimmte Wirklichkeiten gebunden und haben das Potenzial verwirklicht zu werden. »Sie [die Utopie] kann sich im ganz Kleinen, als Möglichkeitsform, die als das ›partiell Bedingte‹ weder ausgeschlossen noch bereits umgesetzt ist, im Alltag formieren und entfalten, trägt aber trotzdem immer einen eschatologischen Kern in sich, die Hoffnung auf das Gute.«923

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griechischen Präfixe ›ou‹ und ›eu‹ haben im Englischen einen homophonen Klang. Daher kann der Begriff auch als ›Eutopia‹ gelesen werden, womit ›guter‹ Ort gemeint wäre.« A. a. O., 10f. Vgl. Vidovic, Franjo: Von der Insel der Seligen in den Gottesstaat. In: Larcher, Gerhard; Woschnitz, Karl M. (Hg.): Religion – Utopie – Kunst. Die Stadt als Fokus. Wien 2005. 20–35. 20ff. A. a. O., 33. In deutscher Übersetzung siehe Al-Fa¯ra¯bi: Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt. Stuttgart 2009. Weiterführende Erläuterungen siehe in 4.2.2.3.2. Vgl. Kuster, Friederike: Art. Utopie I. Philosophisch. In: TRE Bd. 34. 2002. 464–473. 470f. Vgl. a. a. O., 464f. Vgl. dazu Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M.2013; sowie Bloch, Ernst: Der Geist der Utopie. Frankfurt a. M 2000. Maahs, Ina-Maria: Utopie und Politik. Potenziale kreativer Politikgestaltung. Bielefeld 2019. 24. Ebd.

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Aktuelle Definitionsversuche schließen grundlegend an Bloch an. Gerhard Larcher fasst etwa so zusammen: Als Utopie lässt sich ganz grundsätzlich eine »Denk- und Lebensform mit visionären Zielvorstellungen«924 verstehen. Utopien hängen immer mit der Frage nach dem guten Leben zusammen925 und »sind so gesehen, Herausforderung des Denkens und Provokation der Gegenwart«.926 Ina-Maria Maahs betont in ihrer Arbeit das kreative Potenzial von Utopien in gesellschaftlichen Kontexten und stellt so eine anschlussfähige Grundlage für die weiteren Überlegungen zur Utopie und ihrer Darstellung im Rahmen der untersuchten Theaterprojekte dar. Auch Maahs stellt zunächst die gegenwärtige Heterogenität des Utopiebegriffs fest.927 Für die konkrete Beschreibung von Veränderung in Bezug auf gesellschaftliche Gegebenheiten kann zunächst auf ein sozialwissenschaftliches Utopieverständnis zurückgegriffen werden. Nach Maahs lässt sich dieses in drei Ausprägungen wahrnehmen: als intentionales, totalitäres und klassisches Utopieverständnis.928 Der intentionalen Utopie liegt dabei die Auffassung zugrunde, dass es sich bei dem Wunsch nach Veränderung der Umstände um eine anthropologische Konstante handle und jeder Mensch ein »utopisches Bewusstsein« besitze.929 Der Traum als Sinnbild für den Wunsch nach Veränderung ist ebenso als Grundvoraussetzung menschlichen Daseins zu verstehen. Dass diese Metapher in den Stücken der »Urban Prayers«-Reihe so prominent heraustritt, bestätigt hier die intentionale Funktion der Utopie. Das totalitäre Utopieverständnis meint eine von der Obrigkeit durchgesetzte vollständige gesellschaftliche Umwandlung bei der die individuellen Freiheitsrechte missachtet werden und zeige so eine negative Seite der politischen Utopie.930

924 Larcher, Gerhard: Religion – Utopie – Kunst. In: Larcher, Gerhard; Woschnitz, Karl M. (Hg.): Religion – Utopie – Kunst. Die Stadt als Fokus. Wien 2005. 6–9. 7. 925 A. a. O., 7. 926 Schölderle, Geschichte der Utopie, 159. 927 Vgl. Maahs, Utopie und Politik, 20f. 49. Eine umfangreiche Übersicht zum Utopieverständnis und zu aktuellen Forschungsansätzen findet sich ebenfalls bei Maahs sowie bei Saage, Richard: Utopieforschung Bd. 1: An den Bruchstellen der Eposchenwende von 1989. 2. erw. Aufl. Berlin 2008. Einen philosophischen Überblick bietet Neusüss, Arnhelm (Hg.): Utopie: Begriff und Phänomen des Utopischen. 2. Aufl. Neuwied 1972. 928 Vgl. Maahs, Utopie und Politik, 21f. Eine andere Einteilung bietet Thomas Schölderle. Danach lassen sich ebenfalls drei Utopiebegriffe festhalten: das klassische, das sozialpsychologischen und das totalitarismustheorethische Verständnis. Das klassische Verständnis geht dabei auf die literarischen Werke der Antike und des Mittelalters zurück, das sozialpsychologische Verständnis zielt auf eine allgemeine Bewusstseinsform ab und das totalitarismustheoretische Verständnis sieht die Utopie als Vorschau auf totalitäre Systeme. Vgl. Schölderle, Geschichte der Utopie, 12f. 929 Maahs, Utopie und Politik, 21. Vgl. dazu auch Kubon- Gilke, Gisela; Maier-Rigaud, Remi: Utopien und Sozialpolitik. Über die Orientierungsfunktion von Gesellschaftsmodellen. Marburg 2020. 37. 930 Vgl. a. a. O., 21.

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Diese Ausprägung ist den Inszenierungen jedoch fremd.931 Das klassische Verständnis baue auf dem intentionalen Verständnis auf, setze diese individuellen Motivationen aber in einen »kollektiven Wunsch« um, der dann eine tatsächliche Gegenwelt beschreibe.932 Der kollektive Aspekt wird vor allem in den Inszenierungen von »Nathan der Weise« und »Alles was wir glauben mussten« offenbar, da dort jeweils eine gemeinschaftliche Lösung des Konflikts angestrebt wird. Klassischerweise beschreibt die Utopie einen Zustand, einen Ort, der »(noch) nicht oder nicht mehr« existent ist.933 Um eine solche Vorstellung überhaupt zu entwickeln, müsse zunächst die Einsicht erfolgen, dass der Ist-Zustand einen Mangel aufweist.934 Der Utopie ist damit ein grundsätzlicher Wille zur Veränderung und eine (un-)gestillte Sehnsucht nach dem, was noch nicht ist, inhärent. Ob mit der angestrebten Umformung eine Veränderung einer gesamten Gesellschaft oder nur eine partielle Revolution angestrebt wird, sei dabei zweitrangig.935 So konstatieren Kubon-Gilke und Maier-Rigaud gegenwärtig eine Tendenz zur Realutopie, die »Orte« würden erreichbarer, die Settings realistischer.936 Essenziell sei jedoch die Tatsache, dass eine Utopie immer in einem gesellschaftlich-sozialen Setting gedacht werden muss, d. h. innerhalb sog. »intentionaler Gemeinschaften«. Sargent nutzt dafür auch den treffenden Begriff des »social dreaming«.937 Hier deutet sich bereits eine ambivalente Beziehung zwischen der Utopie als Ort und Nicht-Ort an, als möglicher Zustand der Welt und als ewige Gegenwelt. Ebenso wie die Frage nach der Lokalisation der Utopie wirft auch die Frage nach der Beteiligung des Menschen an der Realisierung der Utopie ein Spannungsverhältnis auf. Liegt es im Verantwortungsbereich des Menschen, die Hoffnung auf Besserung selbst zu verwirklichen oder muss diese Hoffnung gar ausgelagert werden? Wie bereits unter Rückgriff auf Bloch benannt, wird die Fähigkeit zum utopischen Denken z. T. als eine anthropologische Konstante verstanden, mit der dann auch die Fähigkeit einherginge, Utopien nicht nur

931 Der Titel der ersten »Urban Prayers«- Inszenierung »Alles was wir glauben mussten, lässt auf den ersten Blick ein totalitäres Utopieverständnis vermuten. Tatsächlich zeigt die Inszenierung diese Komponente nicht im Hinblick auf ein Utopieverständnis. Er deutet hier auf die Fremdbestimmtheit durch eine Autorität hin. Ob damit die Abhängigkeit als Teilnehmer des Experiments gemeint ist oder die generelle Beeinflussung durch gesellschaftliche Konventionen oder religiöse Traditionen wird nicht ersichtlich.« (Kap. 3.2.2.3.1) 932 Vgl. Maahs, Utopie und Politik, 22. 933 Kubon-Gilke; Maier-Rigaud, Utopien und Sozialpolitik, 13. 934 Ebd. 935 Ebd. 936 Vgl. ebd. 937 Vgl. dazu die Ausführungen von Sargent, L.T.: Three Faces of Utopianism Revisited. In: Utopian Studies 5 (1), 1–37. 1994. 15.

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theoretisch, sondern auch praktisch umzusetzen.938 Maahs bringt darüber hinaus auch die Kreativität als Voraussetzung für die Utopie ins Spiel, mit der im Sinne des Wortursprungs die Utopie zu einer tatsächlichen Schöpfung wird.939 Deutlich wird dies in der Definition, die Maahs anbietet. Sie beschreibt Utopien als »Produkte menschlicher Kreativität mit der Intention, durch die eigene Vorstellungskraft den Weg zu einem besseren Leben für alle innerhalb einer bestimmten Sozietät zu suchen. Bei diesen künstlichen Werken handelt es sich um (noch) nicht verwirklichte Möglichkeiten, die bewusst von Menschen entworfen wurden und ausgerichtet sind auf ein Kollektiv. Sie präsentieren eine Alternative zum Bestehenden, wodurch sie gleichsam Zeitkritik üben und den Status quo verunsichern. Somit skizzieren sie einen (noch) ›Nicht-Ort‹, der eine ›Ab-Sicht‹ von der Wirklichkeit ermöglicht.«940

Hier wird auch die Funktion des Kunstwerks miteinbezogen. Auch die Theaterproduktionen sind in diesem Sinne als Kunstwerke zu verstehen und vermitteln, wie bereits in den Analysen gezeigt, ihre eigene Perspektive auf die Utopie. 4.2.2.2 Utopie im Stadtprojekt Nathan a) Toleranz, Traum und Utopie Sowohl die Inszenierung »Nathan der Weise« als auch die Inszenierungen der Reihe »Urban Prayers-Osnabrück« werben zunächst für Toleranz als konkreten Ausdruck der Utopie. Es geht um Toleranz in ihrer erweiterten Bedeutung, als das produktive Aushalten von Spannungen zwischen dem Selbst und dem Anderen.941 Während dies im Hinblick auf »Nathan der Weise« am Ende erfolglos bleibt, wird in der »Urban Prayers«-Reihe die Hoffnung darauf beibehalten. Beide Projekte schließen sowohl einen toleranten Umgang der einzelnen Religionen untereinander, aber auch zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen ein942. Nach Jürgen Habermas lässt sich das Toleranzverständnis innerhalb einer pluralen Gesellschaft auch auf das Ertragen sämtlicher »kognitiver Dissonanzen«, also Wahrnehmungen, Gedanken, Einstellungen, Absichten etc. des Anderen ausweiten943. Vor allem der Blick auf die »Urban -Prayers«-Reihe macht deutlich, dass die Forderungen nach mehr Toleranz grundsätzlich in einem konkret definierten gesellschaftlichen Rahmen vorgebracht werden: der Stadt938 Utopien existieren bei Bloch in jeweils konkreten Ausprägungen und haben grundsätzlich das Potenzial verwirklicht zu werden. Die »Urban-Prayers«-Reihe macht mit der impliziten Forderung nach Toleranz eine Konkretion der Utopie deutlich. 939 Vgl. Maahs, Utopie und Politik, 51. 940 A. a. O., 49f. 941 Vgl. Rosenau, Art. Toleranz II. Ethisch. 665. 942 Vgl. Habermas, Wann müssen wir tolerant sein?, 169. 943 Vgl. a. a. O., 178.

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gesellschaft. Aber auch die »Nathan«-Inszenierung bettet den Theatertext in einen expliziten gesellschaftlichen Kontext ein, dort ist es die soziale Struktur eines Lagers für Geflüchtete. Es handelt sich dabei ebenso wie bei der Stadt um Kristallisationspunkte des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Für das Projekt »Urban Prayers« ist der Kontext »Stadt« in der Textvorlage bereits angelegt, die Inszenierungen greifen dies auf und benennen konkret die Stadt Osnabrück als Bezugsrahmen. Dabei geht die Forderung nach Toleranz jedoch nicht weit genug. Der Traum als Ausdruck einer realitätsfernen Sehnsucht wird hier zur Metapher für einen weitreichenderen Wunsch nach gesellschaftlichen Veränderungen. Für die drei »Urban Prayers«-Inszenierungen wird dieser Traum stets als Resultat einer religiösen Überzeugung verstanden. Die »Nathan«- Inszenierung verlegt die Frage des gesellschaftlichen Friedens von vornherein in den Verantwortungsbereich der Religionen. Es kommt hier zu einer Verknüpfung von sozialethischen Forderungen und Religion(en). Beide Theaterprojekte deuten auf utopische Transformationen der in den Stücken gezeigten Lebenswelten hin.944 Obwohl die Utopie als weitgehend von Religion unabhängig verstanden wird,945 zeigen sich in beiden Theaterprojekten religiöse Muster, die mit dem Utopie-Gedanken verbunden werden können. Ebenso muss darauf hingewiesen werden, dass auch der Wert der Toleranz seinen Ursprung in religiösen Kontexten hat.946 Es kommt so zu einer Verflechtung von Religion und Gesellschaft sowie von Toleranz und Utopie. Exkurs: Heterotopie Im Programmheft zur Inszenierung von »Nathan der Weise« wird der Begriff der »Heterotopie« zur Beschreibung des Stücks herangezogen. Es heißt dort: »Und so sind Lessings Jerusalem und die Ereignisse darin vielleicht nicht unbedingt die Utopie, als die sie so häufig gelesen werden, sondern vielmehr eine Heterotopie im Sinne Michel Foucaults, also übersetzt ein ›anderer Ort‹, in dem ›die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind‹ (Die Heterotopien/ Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge).«947

Heterotopie kann als literarischer »Ausdruck von Andersheit« zu einer »weiteren Ausdifferenzierung der Gattungsbezeichnung ›Utopie‹ herangezogen werden«948 und so eine postmoderne bzw. postmodernistische »Spielart der Utopie« dar944 945 946 947 948

Dies geschieht bei der Urban Prayers Reihe indirekt, bei Nathan direkter. Siehe dazu auch Abschnitt 4.2.2.2.1. Vgl. Habermas, Wann müssen wir tolerant sein?, 168. Programmheft zu »Nathan der Weise«, 10. Vgl. Leiß, Judith: Inszenierungen des Widerstreits. Die Heterotopie als postmodernistisches Subgenre der Utopie. Bielefeld 2010. 21.

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stellen.949 Der Begriff »Heterotopie« wird von Judith Leiß ebenso wie der Terminus »Widerstreit« als eine »Struktur bezeichnet, die durch das Konflikthafte, Verunsicherung stiftende Aufeinandertreffen des Inkommensurablen gekennzeichnet ist, insofern also eine Strukturhomologie zwischen beiden Konzepten besteht, […].«950 Dies könne sich sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der strukturellen Ebene im Hinblick auf literarische Texte feststellen lassen.951 Inwieweit dies auch für die Aufführungstexte im Sinne der Inszenierung von Dramentexten gilt, bleibt hier offen. Es kann jedoch festgehalten werden, dass es bei Heterotopien umfassend um Darstellungen des »Widerstreits« geht, wie der Titel von Leiß’ Veröffentlichung (»Inszenierungen des Widerstreits«) deutlich macht. Bei der konkreten Inszenierung von »Nathan der Weise« durch das Theater Osnabrück zeigt sich der »Widerstreit« oder die »Heterotopie« in der inhaltlichen Bearbeitung der Lessing’schen Vorlage. Für die Heterotopie, wie sie sich verstanden wissen will, ist hingegen kennzeichnend, dass sie mittels der Kontrastierung zweier sozio-politischer Ordnungen zu einer Bewertung der kontrastierten Welten einlädt, durch die gezielte Verweigerung eines für beide Welten gültigen Maßstabes jedoch ein abschließendes Urteil verhindert.952 Die kontrastierten Welten sind in der Inszenierung das Flüchtlingslager und die in der Ringparabel erzählte Wirklichkeit. Auch wenn der Maßstab für eine andere Welt, ein gleichwertiges Zusammenleben der Religionen, klar benannt wird, kann er am Ende des Stückes nicht auf die Wirklichkeit des Lagers bezogen werden. Im Hinblick auf eine klare Positionierung bleibt die Inszenierung, anders als der Dramentext, offen. Leiß formuliert weiter: »Ich gehe davon aus, dass die (explizite oder implizite) inhaltliche Bestimmung eines Ideals dadurch so konsequent verweigert werden kann, dass sich heterotopische Texte als Appell für einen lediglich formal bestimmbaren, radikalen Pluralismus verstehen lassen.«953

Es kann daher im Hinblick auf die Osnabrücker Inszenierung durchaus von heterotopischen Tendenzen gesprochen werden. Auch Stefan Tetzlaff erkennt mit Verweis auf Foucault »den anderen Ort« der Heterotopie als »Reflexionsraum« innerhalb eines Systems an, warnt aber angesichts der steigenden Rezeption auch vor zu großer Beliebigkeit im Umgang mit dem Terminus.954

949 950 951 952 953 954

Leiß, Inszenierungen des Widerstreits, 20. A. a. O., 127f. Vgl. a. a. O., 128. A. a. O., 130. Ebd. Vgl. Tetzlaff, Stefan: Heterotopie als Textverfahren: erzählter Raum in Romantik und Realismus. Berlin/ Boston 2016. 9f.

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Sinnvoller erscheint es daher den Begriff der »kritischen Utopie« hier ins Spiel zu bringen.955 »Hinsichtlich der Gegenüberstellung zweier gesellschaftlicher Systeme W1 (W1 meint hier die wirkliche Welt, W2 die utopische Gegenwelt.)956 und W2 zeichnet sich diese vor allem durch die kritische und differenzierte Darstellung von W2 aus und kann als Versuch gesehen werden, sich durch Offenheit im Umgang mit dem Für und Wider eines gesellschaftlichen Entwurfs dem Ideal der Neutralität und Vollständigkeit der Darstellung möglichst weit anzunähern.«957

Der Terminus ist näher am Begriff der Utopie angesiedelt, stellt diesen aber durch den verarbeiteten Inhalt zugleich infrage. Es wird somit eine Ambivalenz aufgezeigt, deren Beurteilung den Rezipienten obliegt, durch den (Theater-)Text selbst wird keine Wertung forciert. b) Religion und Toleranz – »Nathan der Weise« Mit Blick auf das Drama »Nathan der Weise« kann man zwei verschiedene Kontexte in Bezug auf Toleranz ausmachen. Zum einen zeigt das Stück selbst einen interreligiösen Kontext auf, ein Beziehungsgeflecht der einzelnen Vertreter von Judentum, Islam und Christentum, die mittels der Ringparabel für Toleranz sensibilisiert und zur Toleranz aufgefordert werden. Dies gilt auch für das Publikum, auf das der erzieherische Anspruch des Stücks ausgerichtet ist. Das Verständnis von Toleranz scheint werkimmanent auf den ersten Blick nicht über die klassische Bedeutung von Toleranz als Duldung der jeweils anderen Religion hinauszugehen. Es herrscht größtenteils ein dialogisches und rationales Toleranzverständnis vor. Es geht dabei also um einen im Gespräch ausgetragenen und rational begründeten Versuch zwei Positionen zusammenzubringen.958 Die Ringparabel zeigt ein Bild von einem friedlichen Miteinander der Religionen, deren Selbstzweck die Koexistenz ist. Ein Verständnis von Toleranz im Sinne einer produktiven Intersubjektivität, in der die gegenseitige Selbsterkenntnis im jeweils anderen ermöglicht wird, scheint hier nur indirekt vorausgesetzt zu werden.959 Die Osnabrücker Inszenierung lässt jedoch eine stärkere Fokussierung auf interreligiöse Differenzen zu. Zum anderen liegt dem Stoff wie in Kapitel 4.1.2 gezeigt werden konnte, eine Auseinandersetzung zum Verhältnis von Glauben und Vernunft zugrunde. Die Forderung nach Toleranz spielt sich dabei nur vordergründig zwischen den einzelnen Religionen ab. Hintergründig steht bei Lessing die Frage nach dem 955 956 957 958 959

Vgl. Leiß, Inszenierungen des Widerstreits, 129. Vgl. a. a. O., 128. A. a. O., 129. Vgl. Gerlitz, Art. Toleranz III. Religionswissenschaftlich, 669f. Vgl. Rosenau, Art. Toleranz II. Ethisch, 664ff.

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Verhältnis zwischen Glauben (Offenbarung) und Vernunft im Zentrum960. So geht es ihm etwa, wie er in der Schrift über »Die Erziehung des Menschengeschlechts« deutlich macht, um das allgemeine Verhältnis von Glauben und Vernunft in den Religionen.961 Dabei hat die Vernunft zunächst im Verhältnis zum Glauben – oder wie Lessing hier schreibt zur Offenbarung – eine herausragende Stellung: »Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.«962 Es scheint hier, als würde die Qualität der religiösen Offenbarung eingeschränkt. Strohschneider-Kohrs betont des Weiteren aber deutlich, dass es sich dabei um keine hierarchische Struktur handele, sondern Lessing vielmehr von einer wechselseitigen Bestimmtheit beider Konzepte ausgehe.963 »Das war der erste wechselseitige Dienst, den beyde einander leisteten; und dem Urheber beyder ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig unanständig, daß ohne ihm eines von beyden überflüssig seyn würde.«964 Strohschneider-Kohrs führt zu dieser Passage aus: »Die hier genannten Begriffe ›wechselseitiger Dienst‹ und ›gegenseitiger Einfluß‹ lassen die Vorstellung einer intern sich vollziehenden Zuordnung entstehen, in der beide, Vernunft und Offenbarung, notwendig aufeinander angewiesen, gleichsam in actu miteinander wirksam werden. Und zwar in einer Weise der Zuordnung, in der beide als konstitutive Elemente von gleichem Anteil und Wirkungsgrad zu denken sind – ohne daß ihre Differenz aufgehoben, geschmälert oder negiert wäre.«965

Dadurch entstehe zweifelsohne auch ein Spannungsverhältnis mit »bleibender und signifikanter Differenz«966 zwischen Vernunft und Glauben. Vor diesem Dualismus scheint die Forderung der Toleranz als gesellschaftliche und interreligiöse Herausforderung auf. Die Wahrheit ist dafür in Lessings Argumentation das entscheidende Kriterium. Hier zeigt sich ein konstantes Spannungsverhältnis, das sich einerseits nur schwerlich auflösen lässt, ande-

960 Vgl. Strohschneider-Kohrs, Zur Logik der Erziehungsschrift, 155; 158. 961 Vgl. ebd. 962 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 4. Siehe dazu: Lachmann; Muncker Lessing: Sämtliche Werke. Zitiert nach Strohschneider-Kohrs, Zur Logik der Erziehungsschrift, 162. 963 Vgl. a. a. O., 165. Strohschneider-Kohrs argumentiert hier bewusst gegen die Einschätzungen von Monika Fick u. a. die ein gegensätzliches Verhältnis von Vernunft und Glaube bei Lessing vertreten. Vgl. a. a. O., 168 FN 48. 964 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 37. Siehe dazu: Lachmann; Muncker Lessing: Sämtliche Werke. Zitiert nach Strohschneider-Kohrs, Zur Logik der Erziehungsschrift, 165. 965 Ebd. 966 A. a. O., 173.

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rerseits aber auch erneut die Eckpfeiler Religion und Gesellschaft markiert, zwischen denen alle Fragen des interreligiösen Dialogs zu verorten sind. c) Der Traum von einer besseren Gesellschaft Die Analyse hat deutlich gezeigt, dass in allen Inszenierungen des Stadtprojekts »Nathan« nicht die Schaffung einer gänzlich neuen Gesellschaftsform oder eines neuen Gemeinwesens in Form einer neuen Welt angestrebt wird, im Sinne einer Civitas Dei oder einer nova insula Utopia. In der Inszenierung von »Nathan« steht die Toleranz als (utopische) Tugend im Wettstreit der Religionen das »Menschengeschlecht« zum Besseren »zu erziehen.« In »Urban-Prayers« sind es vielmehr einzelne utopische Aspekte, die für Veränderungen und eine Verbesserung im Rahmen der Stadtgesellschaft werben und als träumerische Sehnsucht zum Ausdruck gebracht werden. Dabei spielt der religiöse Zusammenhang – genauso wie theologische Fragen967 – vordergründig keine entscheidende Rolle, es geht vielmehr um konkrete Fragen des gesellschaftlichen Lebens. Die Frage nach einer amtlichen Baugenehmigung für das Gotteshaus steht dabei genauso zur Debatte wie das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften innerhalb der Schule. Die Forderungen nach Veränderung sind ebenso situations- und kontextabhängig wie das Verständnis von Toleranz.968 In allen »Urban Prayers«-Inszenierungen wird der Traum als Brücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit als Metapher eingebracht. Im Schlussteil der »Nach Babel – und noch weiter« Inszenierung heißt es: »Und wenn ich einen Traum hab und einen Traum erzählen will, einen echten, einen Traum, den ich noch niemandem erzählt hab, den ich nicht aussprechen kann, unser ganzes Leben ist ein Traum, jeder Tag ist ein Traum, vielleicht ein schlechter Traum, aber wir träumen und wir reden über unsere Träume, wenn wir unsere Träume aussprechen: [Dunkelheit] Wir träumen davon, konkret zu werden, mit dem Lieben, mit dem Teilen, mit dem Helfen, Beten Das ist unser Traum: Teilen, grenzenloses Teilen Wir träumen vom Krieg, der den Frieden bringt Wir träumen vom Frieden, der keinen neuen Krieg bringt Wir träumen davon, endlich sagen zu dürfen, Gott ist eine Frau Wir träumen davon, endlich erlöst zu werden Wir träumen davon, dass jeder Mensch sein Gesetz kennt Wir träumen davon, unsere Kinder auf eine gute Schule schicken zu können Wir träumen von einer Aufenthaltserlaubnis

967 »Es geht hier ganz sicher nicht um Theologie. Es geht um uns. Es geht um Moslems. Es geht um Christen. Es geht um Juden.« Programmheft zu »Urban Prayers Osnabrück«. 968 Vgl. Rosenau, Art. Toleranz II. Ethisch. 665.

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Wir träumen von Familiennachzug Wir träumen von Erlösung Wir träumen vom Leben im Haus der Träume, dieses Haus hat so viele sonnige Zimmer, es stehen tatsächlich so viele Zimmer zur Verfügung, Wir träumen davon, dass uns niemand mehr fragt, wo kommst du her. Wir träumen doch nur, das ist unser Traum, dieses Haus zu beziehen.«969

Die (persönliche) Religiosität fungiert dabei als positive Verstärkung dieses individuellen und kollektiven Träumens. Die aus dem jeweiligen Glauben resultierende Hoffnung wird dabei an vielen Stellen der Inszenierung deutlich. Der religiöse Glaube wird somit direkt mit dem Wunsch nach Verbesserung der Lebensverhältnisse verknüpft, dabei geht es stets um die Gemeinschaft, nie um die Einzelne oder den Einzelnen. Die Religionen werden unter dem Aspekt ihres gesellschaftlichen Nutzens und ihrer Utopie-Fähigkeit verstanden, die Gesellschaft wird im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten des interreligiösen Miteinanders hinterfragt. Dabei werden kontinuierlich Glaubende und NichtGlaubende, Darsteller und Publikum gegenübergestellt. Alle Stücke weisen ein hohes Maß an Dialogizität auf, es werden Fragen formuliert, die den eigenen Standpunkt selbstbewusst behaupten und Antworten einfordern (»Was glaubt ihr denn«). Dieses wechselseitige Verhältnis stellt grundlegende Maßstäbe für die Beziehungen auf und fordert auch das individuelle Toleranzverständnis heraus. Dabei werden sowohl individuelle als auch soziale und politische Spannungen zwischen Religion und Gesellschaft erzeugt. 4.2.2.3 Utopie und religiöse Hoffnung »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.«970

Dieser Vers aus dem Neuen Testament suggeriert auf den ersten Blick einen klaren Fokus auf die Ewigkeit. Das Interesse scheint nicht den aktuellen Zuständen zu gelten, im Blick auf diese könnte man hier sogar Gleichgültigkeit und Passivität vermuten. Auf den zweiten Blick versteht sich der Vers im Kontext des Hebräerbriefes als Aufforderung zur Treue im Glauben und zur Diakonie. Es geht tatsächlich um das Tun und nicht um das Unterlassen. Dies verdeutlicht auch Jürgen Moltmann, wenn er schreibt: »Diese Hoffnung macht die christliche Gemeinde zu einer beständigen Unruhe in menschlichen Gesellschaften, die sich zur ›bleibenden Stadt‹ stabilisieren wollen.«971 Und auch die islamischen Entwürfe stellen das Tun in den Fokus des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. 969 Text der Aufführung ist angelehnt an Bicker, Was glaubt ihr denn, 217f. 970 Heb 13,14. 971 Moltmann, Jürgen: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung uns zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie. Sonderausgabe. Gütersloh 2016. 17.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

Mit der Abgrenzung von eschatologischer Hoffnung und irdischem Engagement werden zentrale theologische Fragen angerissen: Es geht um nicht weniger als das Verhältnis von Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, um die Gewichtung von Glauben und Handeln und das religiöse Selbstverständnis, das sich letztlich im Alltag jedes einzelnen widerspiegelt. Bei all diesen Verhältnisbestimmungen steht die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen die eigenen Lebensumstände aktiv mit zu gestalten, im Hintergrund. Inwieweit sich die religiöse Hoffnung zwischen eschatologischen und utopischen Vorstellungen bewegt, soll im Folgenden skizziert werden, wobei zunächst zwischen den Begriffen Utopie und Eschatologie differenziert werden muss. Anschließend werden mit Jürgen Moltmanns »Theologie der Hoffnung« und Paul Tillichs »Geist der Utopie« zwei christlich-theologische und mit dem Blick auf islamisch-philosophische Utopien eine islamische Orientierungsmöglichkeit vorgestellt, die mit den Aspekten der Inszenierungen ins Gespräch gebracht werden können. 4.2.2.3.1 Eschatologie und Utopie in Christentum und Islam Beide Religionen bringen per se durch ihre eschatologischen Vorstellungen utopisches Potenzial ein: Zunächst über Beschreibungen der zukünftigen Welt in Form von konkreten Bildern und Vorstellungen. Darüber hinaus wirkt sich die Erwartung dieses jenseitigen Lebens auch auf das diesseitige Leben, auf Lebensund Hoffnungspraxis der Gläubigen aus. Auch wenn im Folgenden durchaus zwischen Eschatologie und Utopie unterschieden werden muss, so zeigt sich etwa in der christlichen Botschaft vom Reich Gottes die Spannung zwischen einem jetzt und einem noch nicht, von einem Ort und einem nicht Ort. Es handelt sich bei der eschatologischen Hoffnung sowohl des Islams als auch des Christentums um einen Zustand, der nicht in der irdischen Welt zur Vollendung kommen kann. Es wird entweder von einer »neuen« Erde unter einem neuen Himmel972 oder wie in der islamischen Theologie einer himmlischen Lokalisierung im Sinne eines oder mehrerer Paradiesorte973 ausgegangen. Die Eschatologie im eigentlichen Wortsinn beschreibt im Hinblick auf die monotheistischen Religionen primär die Ereignisse des Weltendes, wobei damit die Erlösung der Gläubigen und ihr Übergang in eine Ewigkeit verbunden ist.974 972 Vgl. Offb 21. 973 Vgl. Sure 4,57. Vgl. dazu Berger, Islamische Theologie, 185. Der Koran gibt sieben verschieden Stufen des Paradieses an. 974 Vgl. dazu a. a. O., 183. Nach Donner, Fred M.: A Typology of Eschatological Concepts. In: Günther, Sebastian; Lawson, Todd (Hg.): Roads to Paradise: Eschatology and Concepts of the Hereafter in Islam. Leiden/Boston 2016. 757–772. 757; bezieht sich der Begriff auf die Geschehnisse nach dem Tod. Bei Donner findet sich ebenso eine ausführliche Typologie zu den verschiedenen Ausformungen des Eschatologieverständnisses. Vgl. a. a. O., 759ff.

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Inwieweit die Eschatologie sich dabei auf die Gestaltung des Diesseits auswirkt ist umstritten. Im muslimischen Verständnis spielt die Vorbereitung auf das Weltende und das damit einhergehende Gericht eine große Rolle975, und betrifft damit auch die jeweilige Lebensführung. Die Erwartung der jenseitigen Ereignisse wird aufgrund des Selbstverständnisses des Korans als wahrhaftiges Wort Gottes nicht infrage gestellt. Durch einen rechtschaffenden Lebensstil jedoch kann aktiv auf diese Perspektive hingearbeitet werden. Die Gewichtung von Diesseits und Jenseits hängt von dem jeweiligen islamischen Verständnis ab, nach einer konservativen Interpretation etwa ist das Jenseits bedeutsamer, nach modernistischer Auffassung kommt dem Diesseits eine größere Wirksamkeit zu. Beide Bereiche überschneiden sich jedoch in den Vorstellungen von einer besseren Welt im Sinne einer Verbesserung von individuellen und kollektiven Lebensumständen. Die eschatologische Bildsprache ist dabei auch eng an bereits vorhandene Vorstellungen geknüpft. So gibt es eine auffällige Rezeption biblischer Metaphorik für utopische Beschreibungen, z. B. der Paradies-Garten.976 Diesseits und Jenseits fallen auch bei der neutestamentlichen Rede vom Reich Gottes zusammen. »Die Reich Gottes Botschaft Jesu nimmt nicht nur die apokalyptische Vision einer Transzendenz der Zukunft, sondern auch die mosaische Theologie einer Transzendenz der Vergangenheit und die weisheitliche Einsicht in die Transzendenz der Gegenwart auf.«977 Hier kommt es nicht nur zu einer zeitlichen Angleichung, sondern auch zu einer Verknüpfung von Alt- und Neutestamentlichen Vorstellungskomplexen. Die Überschneidungen zwischen Diesseits und Jenseits sind dabei an das Erscheinen Jesu gebunden,978 das Reich ist bereits mit Jesu Wirken angebrochen.979 Indem Jesus z. B. seine Jünger erwählt, können auch sie Anteil an der Gestaltung des Reichs Gottes haben.980 Auch die Gemeinde ist aufgerufen in diesem Selbstverständnis zu handeln.981 Harald Meindl weitet das Utopische auf die Religion im Allgemeinen aus: »Religion bringt, wie die Utopie das Andere der Realität ins gesellschaftliche Spiel, Religion und Utopie brechen die Hypnotisierung der normativen Kraft des Faktischen

975 Vgl. Sure 82,1–5 sowie Berger, Islamische Theologie, 183. 976 Vgl. Antes, Peter: Jenseitsvorstellungen im Islam. In: Breitsameter, Christof (Hg.): Hoffnung auf Vollendung. Christliche Eschatologie im Kontext der Weltreligionen. 155–164. 156–160. 977 Söding, Thomas: Dein Reich komme (Mt 6,9 par Lk 11,2): Die Naherwartung Jesu. In: Breitsameter, Christof (Hg.): Hoffnung auf Vollendung. Christliche Eschatologie im Kontext der Weltreligionen. 35–65. 50. 978 Vgl. a. a. O., 51. 979 Vgl. Huber, Glaubensfragen. 272. 980 Vgl. Joh 15,16. 981 Z. B. dazu Eph 1,4ff.

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auf und stiften zum Querdenken und -handeln an. Religion mit ihrem prophetischen Impuls steht gegen gesellschaftliche Routine […].«982

Auch Larcher sieht ein deutliches utopisches Potenzial in der (christlichen) Religion und plädiert dafür, dies vor allem im gesellschaftlichen Kontext sichtbarer werden zu lassen. »Indem wir davon ausgehen, daß das moderne utopische Potenzial weithin aus einem Dekonstruierungsprozeß jüdisch-christlicher Überlieferung (mit seinen Schlüsselmetaphern vom ›Reich Gottes‹, von Heilsgeschichte, vom ›Himmlischen Jerusalem‹) sowie einer Rückprojektion humanistischer und aufklärerischer Ideale in die griechische und römische Antike erwächst, sehen wir einen Zusammenhang zwischen der Utopieflaute der Gegenwart und dem Schicksal der Religion in der realisierten Moderne bzw. der Gedächtnislosigkeit der Weltzivilisation. Religion scheint einerseits säkularistisch beerbt bzw. ästhetisch ersetzt und andererseits fundamentalistisch vereinnahmt zu werden; beides wirkt lähmend bzw. gefährlich für die Entfaltung visionärer Ideen in Gesellschaft, Kultur und Politik. Wie kann da Religion als Kultfaktor, gefiltert durch die kritische Rationalität, offen für Pluralismus und Dialog, wieder impulsgebend werden, ohne Fundamentalismen neuer politischer Religiosität zu verfallen.«983

Larcher greift hier einen Ansatz der Utopiedebatte auf. Er spricht dabei an, dass die Utopie von den Religionen an säkulare Deutungskompetenzen vererbt wurde. Dies meint die Besetzung religiöser Strukturen von Hoffnung auf Erlösung durch die areligiösen oder säkularen Ausdrucksformen der Utopie. Die Tatsache, dass es sowohl religiöse als auch säkularistisch erklärbares utopisches Verhalten zu beobachten gibt, sollte jedoch kein Anlass sein, das Eine gegen das Andere auszuspielen. Des Weiteren kann man auch gegenwärtig noch Modelle religiöser Utopien wahrnehmen. Ives Bizeul merkt hier kritisch an, es gehe im Engagement der Religionen oftmals mehr um das »Heil des Einzelnen« als um das Gemeinwohl.984 Hier wird vor allem auf die eschatologische Ausrichtung auf das Leben nach dem Tod des einzelnen Gläubigen sowie eine missionarische Perspektive verwiesen. An dieser Stelle ist jedoch einzuwenden, dass sowohl im Islam als auch im Christentum das Heil auch immer in sozialen Gefügen und gesellschaftlichen Konstrukten gedacht ist.985 Dies schlägt sich in eschatologischen Vorstellungen aber auch im z. B.

982 Meindl, Harald: Utopie und Glauben: Bausteine. In: Larcher, Gerhard; Woschnitz, Karl M. (Hg.): Religion – Utopie – Kunst. Die Stadt als Fokus. Wien 2005. 166–195. 191. 983 Larcher, Religion – Utopie – Kunst. 7. 984 Vgl. Bizeul, Yves: Glaube und Politik. Wiesbaden 2009. 48. 985 So werden im Neuen Testament für das Reich Gottes etwa Bilder wie Tischgemeinschaft (Mt 22,1–22) oder konkreter »Jerusalem« als perfekte Stadtgemeinschaft, in der Gott über sein Volk herrscht (Offb 21,1–4) genutzt. Auch der Koran beschreibt das zukünftige Leben als gemeinschaftliches Leben (Sure 4,57), jedoch ohne unmittelbare Gemeinschaft mit Gott (Sure 6, 103). Vgl. dazu Antes, Jenseitsvorstellungen im Islam, 161.

Andere Themen des Dialogs

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caritativen Handeln im Diesseits nieder. Trotzdem kann sich, wie im weiteren Verlauf noch beschrieben wird, (religiöses) Engagement auch in nicht-religiösen Ergebnissen zeigen, so dass sich die Utopie nach außen hin als säkular erweist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch Sache der Religionen sein kann, die gegenwärtigen Lebensbedingungen der Menschen verbessern zu wollen. 4.2.2.3.2 Hoffnung und Gesellschaft bei Jürgen Moltmann In seinem 1964 veröffentlichten Werk »Theologie der Hoffnung« verknüpft Jürgen Moltmann die Bereiche von christlicher Eschatologie und religiöser Hoffnung. Beides gehört für ihn in dem Sinne zusammen, als dass Hoffnung, als Ausdruck der Eschatologie in der Gegenwart, den Kern der christlichen Botschaft beschreibt.986 »Das Christentum ist ganz und gar und nicht nur im Anhang Eschatologie, ist Hoffnung, Aussicht und Ausrichtung nach vorne, darum auch Aufbruch und Wandlung der Gegenwart.«987 Dabei müsse sich die eschatologische Hoffnung auch im christlich motivierten Handeln ganz praktisch innerhalb der Gesellschaft widerspiegeln. »Solange die Hoffnung nicht das Denken und Handeln von Menschen umgestaltend ergreift, bleibt sie auf dem Kopf stehen und unwirksam. Darum muß die christliche Eschatologie den Versuch machen, Hoffnung ins weltliche Denken und Denken in die Hoffnung des Glaubens zu bringen.«988

Hier wird eine Wechselwirkung zwischen religiösen und säkularen Bereichen der Gesellschaft angedeutet. Man kann Moltmann hier so verstehen, dass sowohl der Glaube in der Lage ist auch in säkulare Ideen belebend hineinzuwirken als auch selbst säkulare Impulse mit zu berücksichtigen. Das Christsein müsse aus diesem Grund in das gesellschaftliche Leben integriert sein, das betrifft sowohl das persönliche »leibliche Leben«, gemeint ist die individuelle konkrete Lebenssituation mit ihren spezifischen zwischenleiblichen Begegnungen im Alltag, als auch das »institutionelle« Leben. »Sie [die christliche Hoffnung] wird darum die modernen Institutionen aus ihren ihnen immanenten Stabilisierungstendenzen herauszuführen trachten, sie verunsichern, sie vergeschichtlichen und zu jener Elastizität öffnen, die der Offenheit auf jene Zukunft entspricht, die sie sich erhofft. Im praktischen Widerstand und in schöpferischer Neugestaltung stellt die christliche Hoffnung das Bestehende in Frage und dient so dem Kommenden. Sie überholt das Vorfindliche in Richtung auf das erwartete Neue und sucht nach Gelegenheiten, der verheißenen Zukunft in der Geschichte immer besser zu entsprechen.«989

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Vgl. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 12f. A. a. O., 12. A. a. O., 28. Vgl. auch a. a. O., 17. A. a. O., 305.

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Es wird die Wechselseitigkeit sichtbar, in der sich die christliche Hoffnung zeigt, sie wird zugleich zukünftig als auch gegenwärtig wirksam. Bei aller Reziprozität stellt Moltmann aber auch deutlich die Unterschiedlichkeit beider Wirkungsbereiche heraus. So geht die christliche Hoffnung über alles Immanente hinaus, sie stellt ein »novum ultimum« dar, das einen »auch den Tod umfassenden Zukunftshorizont« eröffnet.990 Eine reine Beschränkung auf das Irdische könne einer christlich motivierten Hoffnung daher nicht genügen.991 Die Utopie, wenn sie aus der christlichen Hoffnung gespeist wird, muss immer zukunftsorientiert sein. »Die christliche Hoffnung kann sich gegen solche Richtungsstöße in der Menschheitsgeschichte nicht auf das Vergangene und Gegebene versteifen und sich der Utopie des status quo verbünden. Sie ist vielmehr selber aufgerufen und ermächtigt zur schöpferischen Veränderung der Wirklichkeit, denn sie hat Hoffnung für die ganze Wirklichkeit.«992

In dieser Aussage wird deutlich, dass die Utopie bei Moltmann eng an irdische Umstände gekoppelt ist, während die christliche Hoffnung weit über alles Irdische hinausweist. Obwohl beide Termini auf das jeweils Un-Sichtbare und das Noch-nicht-Existierende hinweisen, behält Moltmann diese semantische Unterscheidung kontinuierlich bei.993 Es scheint jedoch, dass die Ablehnung des Begriffs »Utopie« hauptsächlich durch die Abgrenzung zum »Fantastischen« oder »Unrealistischen« motiviert ist.994 Moltmann schreibt zur verändernden Kraft der Hoffnung: »Der Glaube überschreitet diese Realitäten nicht ins Himmlische oder Utopische, er träumt sich nicht in eine andere Wirklichkeit.«995 Wenn es um das gesellschaftsverändernde Potenzial der Hoffnung geht, so scheinen Hoffnung und Utopie doch zumindest zwei Parallelen aufzuweisen. Zum einen muss sich auch die christliche Hoffnung stets im Alltäglichen und in konkreten Situationen beweisen, also gegenwärtig wirksam werden. Eine reine Vertröstung auf das Leben nach dem Tod kann demnach keine Perspektive sein, ebenso wie die Flucht in Tagträume, wie sie etwa in der Inszenierung »Doorways« prägnant umgesetzt wird. Auch dort gelingt es den Protagonisten nicht, aus der bloßen Traumvorstellung heraus aktiv zu werden und die eigenen Grenzen zu überschreiten.

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Moltmann, Theologie der Hoffnung, 28. Vgl. a. a. O., 29. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 13. Vgl. auch Röm 8, 24. Dort wird die Qualität des christlichen Hoffnungsverständnisses treffend beschrieben. 994 Vgl. dazu auch die Ausführungen am Beginn des Kapitels zur Etymologie des Utopiebegriffs. 995 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 15.

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Es muss zweitens also aus der Hoffnung auch konkretes Handeln erwachsen. Hoffnungsvoller christlicher Glaube kann daher »nichts mit Weltflucht, Resignation oder Ausflucht zu tun haben.«996 4.2.2.3.3 Der »Geist der Utopie« bei Paul Tillich Aus der Ambivalenz zwischen Aktionismus und eschatologischer Erwartung ergibt sich auch das Utopie-Verständnis Paul Tillichs. Utopie ist bei Tillich in einer Art »Mittelstellung« zwischen Transzendenz und Wirklichkeit verortet. Es geht ihm dabei weder um konkrete Veränderung der Wirklichkeit (Utopismus997, das Handeln auf einer horizontalen Linie) noch um Eschatologie (Transzendentalismus998, das Handeln auf einer vertikalen Linie). Tillich geht es um den »Geist der Utopie«.999 »Der Geist der Utopie wurzelt in der vertikalen Linie und erscheint auf der horizontalen Linie als Erwartung und Wagnis.«1000 Dieser Geist ist bei Tillich eng mit der Vorstellung des Reichs Gottes verknüpft. »Die Idee des Reiches steht direkt oder indirekt hinter allen Formen des Utopismus sowie des Geistes der Utopie in der westlichen Welt, des säkularen wie des religiösen. Denn diese Idee hat zwei Dimensionen, eine innergeschichtliche und eine übergeschichtliche. Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, und seine Nähe schafft jedes echte Kairosbewußtsein. Aber das Reich Gottes liegt auch immer jenseits der Geschichte als die ewige Erfüllung alles dessen, was in der Geschichte unerfüllt bleibt. Aus dieser Doppelheit der Dimensionen in der Reich-Gottes-Idee folgt das Ja und Nein in allen Urteilen über künftige Geschichte. Aus dieser Zweiheit folgt auch der Konflikt zwischen Utopismus und Geist der Utopie. Utopismus entsteht notwendigerweise, wenn die übergeschichtliche Dimension des Reiches Gottes von der innergeschichtlichen verschlungen wird. Der entgegengesetzte Irrtum ist die völlige Beseitigung der innergeschichtlichen Dimension, wie sie zum Beispiel in gewissen Formen der griechischorthodoxen Religion und des klassischen Luthertums vorliegt. Der Geist der Utopie dagegen, der prophetische Geist, ist auf beide Dimensionen gerichtet. […] Und es gibt innergeschichtliche Erfüllung, es gibt Manifestationen des Reiches Gottes in den zweideutigen Gestalten der historischen Existenz. Das gilt von aller menschlichen Ge996 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 16. 997 Mit Utopismus beschreibt Tillich die »Verwirklichung von Utopien in der Geschichte«, Tillich lehnt diesen Zustand ab, da er stets zu Enttäuschungen führe. Vgl. Ernst, Hans, Utopie und Wirklichkeit mit Blick auf den Utopiebegriff bei Paul Tillich. Würzburg 1982. 75. 998 Transzendentalismus meint nach Tillich die Beschränkung von Utopien allein auf den Bereich der Transzendenz. Auch diesen Zustand lehnt Tillich ab, da er zu Passivität führen könne. Vgl. Ernst, Utopie und Wirklichkeit, 75. 999 Der Ausdruck ist bei Tillich dem Werk Ernst Blochs entnommen, wird von ihm aber anders gebraucht.Vgl. ebd. 1000 Tillich, Paul: Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Gesammelte Werke Bd.VI. Kairos und Utopie. Hrsg. v. Renate Albrecht. 1. Aufl. Stuttgart 1963. 154.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

schichte, das liegt allen Religionen zugrunde, sofern sie Antworten auf die geoffenbarte Manifestation Gottes sind; […]«1001

Aus diesen Manifestationen des Reichs Gottes und dem ihnen zugrunde liegenden »Geist der Utopie« erwächst laut Tillich »geschichtsveränderndes Handeln«.1002 Dieses Prinzip sei von Grund auf im Menschen angelegt1003 und stelle gleichsam das Ziel jedes Menschen dar.1004 »Und die andere Wahrheit stand fest für uns, daß eine Religion, deren Utopie ausschließlich transzendent ist, nicht ein Ausdruck des neuen Seins sein kann, von dem die christliche Botschaft das Zeugnis ist.«1005 Es geht nach Tillich um eine Verschränkung beider Bereiche, der vertikalen (transzendenten) Ordnung und der horizontalen (weltlichen) Ordnung. »Die vertikale Ordnung nimmt teil an der horizontalen Ordnung: in dem, was in der Geschichte geschieht, verwirklicht sich das Reich Gottes. Es verwirklicht sich und wird zugleich bekämpft, unterdrückt, ausgestoßen. Es ist das kämpfende Reich Gottes in der Geschichte, das nicht enttäuschen kann, weil es an keinem Ort der Geschichte ein utopisches Stehen verheißt, das aber immer wieder in neuen Verwirklichungen da ist und der Wahrheit der Utopie immer recht gibt. Diese gegenseitige Teilnahme ist die Lösung des Problems der Utopie.«1006

Der »Geist der Utopie«, den Tillich beschreibt, ist in den Stücken präsent, der Traum von Veränderung erfährt keine transzendente Überhöhung im Sinne einer spezifischen eschatologischen Ausformung. Auch hier nimmt der Traum eine entscheidende Funktion ein. Der Traum bewegt sich dabei stets im Spannungsfeld zwischen Alltagswirklichkeit und Transzendenz und wird dort sichtbar, wo es zum Dialog kommt und die Utopie zur Sprache gebracht wird. Nach Tillich zeigt sich Utopie stets (auch) in Sprache: »Der Mensch hat die Möglichkeit, sich in ›Sprache‹ von der ›Fesselung an die konkrete Situation zu lösen‹ und im Denken und Vorstellen ›Welten‹ oder ›soziale Gebilde‹ zu schöpfen, die niemals in einer materiell gedachten Wirklichkeit antreffbar sein werden oder angetroffen werden müssen und in ihrer Eigenart als sprachlich (und in Vorstellung), als ›Utopie‹ verstanden werden.«1007

1001 Tillich, Kairos und Utopie, 155. 1002 Vgl. Ernst, Utopie und Wirklichkeit, 76. 1003 Vgl. Tillich, Paul: Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker. In: Paul Tillich. Main Works/ Hauptwerke. Hrsg. v. Carl Heinz Ratschow. Berlin/ New York 1998. 531–582. 158. 1004 Vgl. Ernst, Utopie und Wirklichkeit, 75. 1005 Tillich, Paul: Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker, 207. 1006 A. a. O., 209. 1007 Ernst, Utopie und Wirklichkeit, 19f.

Andere Themen des Dialogs

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4.2.2.3.4 Utopien in der arabisch-islamischen Philosophie »Religion […] ist im Islam Brauch, Wahrheit, richtiges Verhalten. Im weitesten Sinne stellt sich die Einheit des Glaubens (ı¯ma¯n), der Unterwürfigkeit gegenüber Gott (isla¯m) und der Tugend (ihsa¯n) dar, und dies bedeutet ›Wohltätigkeit‹ im vollen Wortsinn: alles gut, gewissenhaft und ›unter den Blicken Gottes‹ tun.«1008

Die Gestaltung von Gemeinschaften und die Visionen von einem besseren Leben innerhalb der Gesellschaft sind immer auch Gegenstand arabisch-islamischer Philosophie gewesen. Bereits mit dem Werk von al-Fa¯ra¯bi (870–950) »Maba¯di’ a¯ra¯’ ahl-madı¯na al fa¯dila«1009 liegt eine frühe islamische Utopie vor. Vor allem die Kapitel 15–17 beschäftigen sich mit den Modalitäten der dort vorgestellten »vortrefflichen Stadt«. Al-Fa¯ra¯bi legt den Fokus in seinen Aufführungen vor allem auf eine vernunftgemäße und gerechte Herrschaft, die den Bewohnern und der Gemeinschaft als solche ein Leben in »Glückseligkeit« ermöglichten.1010 Mohamed Turki ordnet al-Fa¯ra¯bis Werk folgendermaßen ein: »Mit diesem Konzept leistet al-Fa¯ra¯bi eine Synthese von Aristotelismus und Neuplatonismus, und passt sie an die Bedürfnisse der islamischen Tradition an. Damit verbindet er die griechische Erkenntnis mit den Prinzipien der islamischen Gemeinde und setzt auf die normative Kraft des menschlichen Handelns, […].«1011

Auf den Entwurf von al-Fa¯ra¯bi folgt ca. 3 Jh. später das eher weniger beachtete Konzept von Nası¯r ad-Dı¯n Tu¯sı¯ (1201–1274)1012. Tu¯sı¯ baut zum Teil auf al-Fa¯ra¯bi auf, lässt sich aber stärker im Kontext des Sufismus verorten und setzt vor allem auf die Liebe als übergeordnete Tugend. »Das bedeutet, dass die Liebe die Basis für das Zusammenleben der Menschen darstellt, ohne die es keine Möglichkeit für eine Erfüllung der Gerechtigkeit, aber auch der eigenen Glückseligkeit gibt. Jede einzelne Person gelangt zur Vollendung ihrer selbst nur in dem Maße, wie sie zur Verwirklichung der Glückseligkeit anderer beiträgt.«1013

1008 Triki, Fathi: Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie und des Zusammenlebens. Weilerswist 2011. 12. Die Klammern und Hervorhebungen wurden vom Autor übernommen. 1009 In deutscher Übersetzung siehe Al-Fa¯ra¯bi: Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt. 1010 Vgl. Turki, Mohamed: Konflikttransformation und Frieden aus der Sicht arabisch-islamischer Philosophie. In: Bernhardt, Reinhold; Schmid, Hansjörg (Hg.): Konflikttransformation als Weg zum Frieden. Christliche und islamische Perspektiven. Zürich 2020. 139– 158. 145f. 1011 A. a. O., 147. 1012 Das Werk liegt bisher nur in englischer Übersetzung vor: Nası¯r ad-Dı¯n Tu¯sı¯: The Nasirean Ethics. London 1964. 1013 Turki, Konflikttransformation, 149.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

Die zu Beginn zitierte Aussage stammt von dem zeitgenössischen tunesischen Denker Fathi Triki. In seinem 2011 erschienenen Werk »Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens«1014 versucht auch er die Anerkennung des Anderen und das Zusammenleben in pluralistischen Gemeinschaften zu durchdringen.1015 Triki setzt dabei auf demokratische Verständigungsprozesse und das aktive Einbringen in politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge. »Um den Teufelskreis aus Gewalt, in dem wir zur Zeit leben, auf internationaler und nationaler Ebene durchbrechen zu können, bedarf es der Entwicklung eines demokratischen Zusammenlebens: hierunter verstehe ich eine aktive Demokratie, die in das tägliche politische Handeln […] die Gesamtheit der Grundrechte einschreibt und das politische Handeln auf moralische Prinzipien gründet, die von allen akzeptiert werden.«1016

Er verweist darin auch auf die islamische Verpflichtung, sich für das »Gute« zu engagieren.1017 Diese verschiedenen Konzepte machen zum einen über den islamischen Glauben legitimierte moralische Grundlagen wie Gerechtigkeit, Liebe und Wohltätigkeit stark. Durch die Einbettung in die sog. »intentionale Gemeinschaft« der Musliminnen und Muslime wird dies noch einmal besonders deutlich. Zum anderen findet sich in den genannten Beispielen auch die Verknüpfung zwischen glauben und handeln. Diese Verbindung beider Bereiche wird auch in koranischer Betrachtung immer wieder stark gemacht. »Jede, die glauben und Gutes tun, ihnen wird er ihren Lohn in vollem Maß geben und von seiner Gnade noch mehr erweisen.«1018 Bülent Ucar macht dies in der Auslegung dieses Verses noch einmal deutlich: »Die innere Überzeugung eines Muslims wird getragen von der Hoffnung aufs ewige Leben. Gleichzeitig wird die eigene Existenz, als Verpflichtung gesehen, das Gerechte und Gute in die Tat umzusetzen und darüber Zeugnis abzulegen.« Während es in christlicher Tradition übergeordnete Konstrukte wie Hoffnung und »Geist der Utopie« sein können, die die Gläubigen ermutigen sich innerhalb ihrer eigenen Lebensumstände für ein besseres Leben zu engagieren, so sind die Vorstellungen der arabisch-islamischen Philosophie stärker an konkrete gesellschaftliche Rahmenstrukturen geknüpft. Ganz ähnlich, wie in den Inszenierungen der »Urban Prayers«-Reihe steht das Zusammenleben 1014 Triki, Fathi: Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie und des Zusammenlebens. Weilerswist 2011. 1015 Vgl. Turki, Konflikttransformation, 155. 1016 Triki, Philosophie des Zusammenlebens, 117. 1017 Ebd. 1018 Sure 4,173. Vgl. Sure 5,5.Vgl. dazu Auch Ucar, Glaube allein reicht nicht aus. URL: https:// www.deutschlandfunk.de/sure-4-vers-173-glaube-allein-reicht-nicht-aus.2395.de.html?dr am:article_id=372794 (26. 05. 2021).

Andere Themen des Dialogs

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in der Stadt (al-Fa¯ra¯bi) oder dem Staat (Triki) hier im Vordergrund. Dem Verständnis der Utopie als »Nicht-Ort« werden hier ganz konkrete Orte und Kontexte entgegengestellt. 4.2.2.4 Utopie als gesellschaftliche Ressource »Religion als ein entscheidendes Element der interkulturellen Kommunikation heute« und »Religion als Ressource des Utopiegedankens«. So benennt Gerhard Larcher das Potenzial, das sich aus den Schnittstellen von Religion, Utopie und Kunst ergibt.1019 Die religiöse Utopie kann dabei vor allem solche Impulse in das gesellschaftliche Leben einbringen, die kritisch die bestehenden Verhältnisse infrage stellen. Die Kritik kann dabei – wie in der Gestalt des Traums – einer sensiblen Ermahnung gleichkommen oder deutlich direkter, indem das Gegenüber – wie etwa noch zu zeigen ist im Musiktheater »San Paolo« – zunächst irritiert wird. Auch in den Projekten und Inszenierungen des Stadtprojekts »Nathan« wird ein Bild von Religion gezeichnet, das eindeutige Impulse für das gesellschaftliche Zusammenleben in der Stadt sendet. Es geht dabei vor allem um eine Haltung der Offenheit und Dialogbereitschaft der Religionen, ein ernsthaftes und selbstbewusstes Gesprächsangebot, das sich gleichermaßen an Anders-Gläubige und Nicht-Gläubige richtet. Als Grundlage für den Dialog wird dabei die gesellschaftliche Situation herangezogen und auf ihre Möglichkeiten in Bezug auf Toleranz im Sinne von Anerkennung und Wertschätzung hinterfragt. Hier zeigt sich dann vor allem in den »Urban Prayers«-Inszenierungen ein tiefliegender Wunsch nach einem ehrlichen, wechselseitigen Austausch (»Was glaubt ihr denn«) und nach Veränderung (»Wir träumen davon, konkret zu werden, mit dem Lieben, mit dem Teilen, mit dem Helfen, Beten«). Der »Geist der Utopie« dominiert in den Inszenierungen nicht als fromme Idee oder Vertröstung auf ein »Leben nach dem Tod«, er wird vielmehr sehr vorsichtig und unaufdringlich vermittelt und bietet so vielfältige Anschlussmöglichkeiten. Die Hoffnung auf Veränderung schwingt dabei eher als diffuse Größe mit, wenngleich sie in manchen Andeutungen überraschend konkret ausgesprochen wird. Im Modus des Traums scheint es zu gelingen, diese fragile Spannung zwischen Hier und Dort, zwischen jetzt und noch nicht, zwischen konkreter Vorstellung und bloßer Ahnung zu bewältigen. Es entsteht auf diese Weise ein Zustand der unbestimmten Produktivität, der viel Raum für Kreativität lässt. Diese Produktivität wird auch dadurch begünstigt, dass Religion hier ebenso wie bei der Inszenierung »Das Ebenbild« selbstverständlich in Form mehrerer Religionen gezeigt wird. Dabei wird nicht nur, wie bei »Das Ebenbild«, von einer gemeinsamen Basis 1019 Larcher, Religion – Utopie – Kunst. 6.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

im Sinne des Mythos ausgegangen, sondern auch die Heterogenität der einzelnen Gemeinschaften immer wieder thematisiert und problematisiert, was jedoch nicht dazu führt, den gemeinsamen Traum aufzugeben. »Kultur und Kunst, jenseits postmoderner, pluraler Beliebigkeit, müssten hilfreich für ein permanentes Entfachen des Feuers in der Asche der Tradition einer Stadt sein; und sie hätten solche Leitimpulse umso überzeugender zusammen mit dem kritischen Hoffnungsstachel der Religion einzubringen – notwendig zum Ertragen der Ausständigkeit der Erfüllung.«1020

Auch wenn, wie oben benannt, die Verwirklichung einer solchen Utopie noch aussteht, so ist es doch so, dass bereits durch die Kooperation von Theater und Religion ein Mehrwert erzeugt wird. Im konkreten Fall des »Stadtprojekts Nathan« bietet das Theater den Religionen eine Bühne und integriert so deren Anliegen in einen gesellschaftlich-kulturellen Kontext. Die Inhalte werden so von ihrem religiösen Setting in einen säkularen Kontext transportiert. Die Frage »Was glaubt ihr denn?« wird weitergeleitet an das Theaterpublikum und zusätzlich gebündelt: Sie richtet sich so nicht mehr an die Gesellschaft im Allgemeinen, sondern in der performativen Begegnung an die einzelne Zuschauerin und den einzelnen Zuschauer. Ebenso wird bei der Inszenierung von »Nathan der Weise« bewusst die Utopie und damit die Gestaltung interreligiösen Friedens nicht nur infrage gestellt, sondern deutlich kritisiert. Das Theater führt so in einen religiösen Diskurs zwischen Gesellschaft und Religionsgemeinschaften ein, ohne selbst Gesprächspartner zu sein. Das Theater kann sich wie schon als Instanz des Dritten im interreligiösen Dialog auf eine konfessionell und politisch unabhängige Position zurückziehen. Stärker noch als in der Rolle des Dritten, mit der man durchaus auch aktiv am Dialog teilnehmen kann, nimmt das Theater im Dialog von Religion(en) und Gesellschaft eine autonome Rolle ein, da es aufgrund seiner künstlerischen Freiheit weder der einer Religion noch der Gesellschaft verpflichtet ist. 4.2.2.5 Utopie und interreligiöser Dialog a) Hoffnung als interreligiöses Prinzip Wie sich herausgestellt hat, erkennt das Theater im religiösen Glauben und in der religiösen Hoffnung utopisches Potenzial. Die Hoffnung wird dabei als religionenübergreifendes Phänomen zunächst als unabhängig von einzelnen Glaubenstraditionen wahrgenommen. Die Hoffnung als (inter-)religiöses Phänomen ist jedoch klar von dem von Ernst Bloch vertretenen »Prinzip Hoffnung« abzugrenzen, der die Hoffnung als 1020 Larcher, Religion- Utopie- Kunst, 9.

Andere Themen des Dialogs

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eine Art »Meta-Religion« versteht. So widerspricht etwa Moltmann Bloch entschieden, wenn er seine Ausführungen zur Theologie der Hoffnung mit dem Prinzip der Hoffnung Blochs vergleicht: »Es ist der ›Gott der Hoffnung‹ (Röm. 15,6), nicht aber der ›Gott Hoffnung‹, ›Deus spes‹, wie Bloch sagt. Dieser Gott der Hoffnung, auf dessen Verheißung und Treue die Hoffnung setzt, der aber nicht die Hoffnung selber ist, ist dem hoffenden, zukunftswilligen Menschen um eine Ewigkeit voraus; nämlich um genau die Ewigkeit seines eigenen Todes und des Gerichtes, in dem nichts bleiben kann, was ist.«1021 So kann die Hoffnung zwar als eine gemeinsame Konstante verschiedener Religionen sichtbar werden, diese aber nicht ersetzen. So muss, auch wenn die Hoffnung wie die Utopiefähigkeit als verbindendes Element verstanden werden kann, doch jede Hoffnung aus der jeweiligen Glaubenstradition heraus legitimiert und kommuniziert werden. Ein solcher »Geist der Utopie« müsste dann für Islam, Christentum und jede andere Religion individuell entwickelt und definiert werden. Die jeweiligen Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits eschatologischer Erwartungen müssten neu ausgelotet und religionsintern verhandelt werden. »Wir träumen davon konkret zu werden«– dieser Traum wird auch in den »Urban Prayers« nicht mehr aus einer eschatologischen Bildwelt gespeist. Diese scheint überwunden, in der Tat könnte man hier von einer Säkularisierung1022 sprechen, allerdings in dem Sinne, dass die Resultate sich nicht in primären religiösen Praktiken zeigen. Die Veränderungen auf die die einzelnen Akteure abzielen, ist nicht die Schaffung einer religiösen Idylle, eines Gottesstaates oder einer von der Gesellschaft separierten Gemeinschaft der Frommen. Die Ziele, die sich in den Stücken des Stadtprojekts »Nathan« zeigen, sind allgemeiner Natur. Es geht um Frieden, um individuelle Zufriedenheit und um Anerkennung und Wertschätzung des Anderen – ganz ähnlich wie in den Utopien der arabisch-islamischen Philosophen. Dies sind alles Tugenden, die als gesellschaftlicher Konsens verstanden werden und im eigentlichen Sinne keine religiöse Intention benötigen. Die Mittel, um dies zu erreichen, sind ebenso säkular, es geht über gegenseitigen Austausch, Kennenlernen und Respekt, das sich einlassen auf den Anderen, seine Meinung sagen und Konflikte aushalten. Das Konkrete umsetzen, heißt darüber hinaus auch, sich in seinem persönlichen Umfeld zu engagieren. Dabei kann gewiss nicht die Umwälzung einer ganzen politischen Ordnung angestrebt werden. »Konkret werden« kann dann auch heißen, sich selbst über seine eigentlichen »Träume« klar zu werden oder sich für den Bau eines neuen Gotteshauses einzusetzen, unabhängig davon, ob man Teil der religiösen Gemeinde ist oder nicht. Ganz konkret bedeutet dies: ein Leben zu führen, das Hoffnung ausstrahlt, für einen selbst und für den oder die Andere(n). Die Frage nach dem Ort tritt damit in den Hintergrund, es zeigt sich hier stattdessen ein Gefühl, das sowohl anthropologisch-universell als auch losgelöst von

1021 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 321. 1022 Siehe erneut den hauptsächlich von Gerhard Friedrich oder Philipp Stoellgers vertretenen Ansatz, die Utopie sei im weitesten Sinne eine säkularisierte Eschatologie. Vgl. dazu Maahs, Utopie und Politik, 64f.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

materiellen Kontexten gedacht werden kann. Darüber hinaus scheint hier ebenso eine Unerreichbarkeit mitzuschwingen, da ›das Gute‹ nie vollständig getan oder umgesetzt werden kann.

Trotz aller Heterogenität in der Ausgestaltung religiöser Hoffnung gelingt es aber, sich über einen gemeinsamen Veränderungswillen zu verständigen und dem säkularen Umfeld mit der genuinen Ressource Hoffnung entgegen zu treten. Die »Urban Prayers«-Reihe zeigt das Potenzial eines solchen Chors der Gläubigen: Ihm gelingt es in den Inszenierungen mit einer Stimme zu sprechen, die gleichsam die einzelnen Stimmen nicht übertönt. Dies stellt die Basis für ein gemeinsames gesellschaftliches Engagement dar. Als dritte Instanz gelingt es dem Theater so, in Gestalt der Utopie eigene Akzente und Themenstellungen sowohl in gesellschaftliche als auch in interreligiöse Aushandlungsprozesse einzubringen. Was dies insbesondere für die interreligiöse Verständigung bedeutet, wird nachfolgend skizziert. b) Utopie als Ressource für den interreligiösen Dialog Die Analyse der Theaterprojekte des Stadtprojekts »Nathan« und die bisherigen Ausführungen zum Utopiebegriff haben deutlich gemacht, dass der Fokus auf Utopie auch im Hinblick auf die Verständigungsprozesse innerhalb des interreligiösen Dialogs Vorteile hat. Zusammenfassend lassen sich dabei wechselseitige Ressourcen für die Beziehung von Utopie und interreligiösem Dialog festhalten. So müssen ganz grundlegend von vornherein Kompromisse eingegangen werden, wenn es zur Verständigung über das Utopiepotenzial der beteiligten Religionsgemeinschaften kommt. Die Verständigung über unterschiedliche inhaltliche Ausformungen stellt dabei nur die Basis für das weitere Vorgehen dar. Letztlich müssen die Resultate ihre »Alltagstauglichkeit« unter Beweis stellen. Die Kritik der Nathan-Inszenierung hat dabei deutlich gemacht, dass eine Verständigung von oben, über das was vernunftgemäß umzusetzen sei, im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen nicht gelingen kann. Ein totalitäres Utopieverständnis ist keine Option für religiöses Engagement. Vielmehr müssen bereits die Dialogprozesse über gemeinsame Hoffnungen und Zielvorstellungen demokratisch geprägt sein. Darüber hinaus erfordert jede Utopie auch konkrete Umsetzungen, wenn sie gegenwärtig relevant sein möchte. Der klassische »Nicht-Ort« ist politisch und gesellschaftlich kaum mehr eine Option. Auch wenn die Quellen religiöser Hoffnung stets transzendent bleiben und bleiben müssen, um als Motor zu funktionieren– so muss die konkrete Umsetzung die Unerreichbarkeit solcher eschatologischer Orte aber zumindest innerhalb der Gesellschaft aufzeigen und kommunizieren. Anders bleibt jedes Handeln wirkungs- und hoffnungslos. Die

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Andere Themen des Dialogs

Utopie lebt von ihren Spannungen, sei es zwischen Wunsch und Wirklichkeit oder von Traum und Engagement. Diese Spannungen gilt es nicht nur für das Verhältnis zum jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld, sondern bereits auch für die interreligiöse Begegnung fruchtbar zu machen. Die Diskussion, was getan werden muss, was umgesetzt werden soll, findet vorgelagert schon Eingang in den interreligiösen Dialog und muss sich hier bereits an seiner Alltagstauglichkeit messen lassen.

UTOPIE

Hoffnung

Krea"vität

Spannungen aushalten

gesellscha!liche Kommunika"on

Eschatologische Bildsprache „Geist der Utopie“

Konkrete Umsetzung im Diesseits

Interreligiöser Dialog

Abbildung 5: Interreligiöser Dialog und Utopie in Beziehung

Nicht zuletzt sei in umgekehrter Richtung aus der Position des interreligiösen Dialogs auch auf das experimentelle Potenzial der Utopie verwiesen. Wie Maahs in ihren Ausführungen aufgezeigt hat, lebt die Utopie auch von Flexibilität und Kreativität. Es kommt letztlich darauf an, aus den menschlichen Sehnsüchten und Hoffnungen etwas Neues entstehen zu lassen. Die monotheistischen Religionen, die über eine gemeinsame Schöpfungstradition verfügen, sind somit geradezu prädestiniert ihre Umwelt schöpferisch zu gestalten und Neues ins (gesellschaftliche) Leben zu bringen. Gerade die Verwiesenheit der monotheistischen Religionen auf ein jenseitiges Leben kann hier zunächst im Hinblick auf die interreligiöse Verständigung als gemeinsame Konstante stark gemacht werden und bspw. über eine eschatologische Bildsprache auch in der Gesellschaft vermittelt werden. Der »Geist der Utopie« kann auch über diesseitige Möglich-

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

keiten hinaus wirksam sein. Des Weiteren entlastet das Vertrauen auf den einen Gott auch, das Heil in der eigenen Bemühung zu suchen. Der Glaube, dass letztlich Gott alle Dinge lenkt, kann hier im positiven Sinne auch entlasten. Die Utopie bleibt somit kein Ausdruck des menschlichen Unvermögens, sondern motiviert zu hoffnungsvollem Engagement.

4.2.3 Irritation Die vorangehenden Betrachtungen haben den Mythos und die Utopie als fruchtbare Themen sowohl für den gesellschaftlichen Diskurs als auch für den Dialog innerhalb der Religionsgemeinschaften offengelegt. Diese Beschreibungen lenken den Blick zunächst von der Gegenwart weg, in Richtung Vergangenheit (Mythos) und Zukunft (Utopie). Die religionsverbindenden Zielvorstellungen helfen hier aber bereits gemeinsame Positionen auszuloten und sich gegenüber der säkularen Gesellschaft zu positionieren. Das Musiktheater »San Paolo« fördert noch eine dritte Komponente zu Tage: die Irritation. Die Frage nach der Leistungskraft der Religionen bringt auch die Diskussion mit sich, wie fremd oder verunsichernd die Religion sich zur Gesellschaft verhalten darf, um verstanden und wirksam zu werden. Der Rekurs auf die religionswissenschaftlichen Vorstellungskomplexe von Mythos und Utopie ist in den Inszenierungen durchaus gewagt und in seiner Außenwirkung herausfordernd. Die Erfahrung von Irritation scheint hier bereits inhärent zu sein. 4.2.3.1 Der Reiz der Verunsicherung Der deutsche Begriff »Irritation« tritt – zurückreichend auf lat. irritare (reizen, antreiben, bewegen; erregen, hervorrufen, verursachen1023) – in zwei Bedeutungsspektren auf, zum einen als Verwirrung und Verunsicherung eines Zustands, zum anderen als Erregung oder Reizung.1024 Damit liegt dem Begriff sowohl eine aktive als auch eine passive Dimension zugrunde: das aktive Reizen bestehender Vorstellungen führt dabei zu einem passiven Zustand, der das Bestehende unverständlich macht oder Sicherheiten infrage stellt. Eine positive und aktive Auswirkung kann Irritation dann hervorbringen, wenn der Zustand der kritischen Anfrage überwunden und in Veränderung transformiert wird. So geht die Irritation oft auch mit einer Krisenerfahrung einher, die wiederum Voraus-

1023 Die Begriffsspanne geht auch über »zum Zorn reizen, erzürnen, aufbringen«. Vgl. Pons. Wörterbuch. Latein-Deutsch. 3. neu bearb. Aufl. Stuttgart 2003. Eintrag »irritare«. 1024 Vgl. Duden Online Wörterbuch, Eintrag Irritation. URL: www.duden.de.

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setzung von (Selbst-)Bildung sein kann.1025 »Krise bezeichnet demnach auch die Situation eines krisenhaften Geschehens, wohingegen der Begriff der Irritation das fokussiert, was das Subjekt angesichts der Krisensituation empfindet.«1026 Die Irritation beschreibt also keinen Zustand per se, sondern eine subjektive Erfahrung innerhalb einer Situation.1027 Auch die untersuchte Inszenierung des Musiktheaters »San Paolo« ruft solche Erfahrungen hervor. Die Analyse gibt hier Aufschluss, wie bestimmte religiöse Botschaften, in diesem Fall konkret die des Apostel Paulus, heute rezipiert werden. Die Inszenierung zeigt Paulus als Paolo, der als ambivalente Gestalt zwischen radikalem Prediger und fragilem Leidenden schwankt. Es ist dabei fraglich, wie weit Paolo gehen kann und wann ihm seine Religiosität zum Verhängnis wird, weil er die Zuhörenden nicht mehr erreicht oder nur noch irritiert. Diese Unsicherheiten lassen sich auf das Theaterpublikum übertragen. Wann werden Erwartungen und bestehende Vorstellungen überreizt, wann ist die Irritation so groß, dass die Botschaft unverstanden bleibt? Es scheint auch hier eine Gratwanderung zwischen produktiver Irritation und der Gefahr einer vollständigen Ablehnung zu sein. Im Folgenden soll daher der Blick auf die Paulusdarstellung zwischen Reflexion und Irritation im Musiktheater »San Paolo« gelegt werden. Darauf aufbauend wird die Leistungskraft der Irritation als Ressource im Kontext von Theater, Religionen und Gesellschaft hinterfragt. Abschließend wird unter Rückgriff auf Jürgen Habermas erläutert, inwieweit solche religiösen Irritationen ein produktiver Beitrag für die Wechselbeziehung von Religion und Gesellschaft sein können. 4.2.3.2 Zwischen Reflexion und Irritation – »San Paolo« »dem Zuschauer explizit und ohne ihn zum Nachdenken zu zwingen mitzuteilen, dass der heilige Paulus hier, heute, unter uns ist (…).«1028

Das vorangestellte Zitat beschreibt nicht nur den Anspruch des italienischen Regisseurs und Schriftstellers Pier Paolo Pasolini, sondern auch die Herausforderung der sich das Theater Osnabrück im Sommer 2018 gestellt hat: Den heiligen Paulus so auf die Bühne zu bringen, dass er begreifbar und erlebbar wird. Wie ambivalent diese Begegnung empfunden werden kann, hat bereits die Analyse der Inszenierung deutlich gemacht. Grundsätzlich werden Irritations-

1025 Vgl. Bähr, Ingrid et al.: Irritation im Fachunterricht. Didaktische Wendungen der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. In: Bähr, Ingrid et al. (Hg.): Irritation als Chance. Wiesbaden 2019. 3–39. 3. 1026 A. a. O., 5. 1027 Vgl. a. a. O., 6. 1028 Pasolini, zitiert in: Zwick, Der heilige Paulus, 16.

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prozesse in theatertheoretischen Kontexten deutlich positiver gewertet als in anderen Bereichen. Das Theater tritt ja gerade als ein Ort der »produktiven Empörung«1029, wie Björn Bicker angibt, oder nach Englhart als Medium der »verstörenden Präsenz des Anderen«1030 hervor. Die Irritation stellt somit eine der selbstverständlichen Erfahrungen im Theater dar. Irritation lässt sich dabei als »das unvorhergesehene In-Bewegung-Geraten von Welt- und Selbstverhältnissen«1031 verstehen. Gerade diese Zerlegung des Stoffes bewirkt nach Hiß die Ausbildung eines eigenen »Simulacrums« bei den Zuschauenden, wie zu Beginn der Arbeit beschrieben wurde.1032 Worin die Irritation oder das »in-BewegungGeraten« der eigenen Vorstellungen besteht, kann an zwei Aspekten des Musiktheaters deutlich gemacht werden. Zunächst ist ein werkimmanentes Spiel mit Irritation festzustellen. Die Figur des Paolo selbst ist von einer tiefgreifenden Ambivalenz geprägt, durch die sein Selbstverständnis kontinuierlich irritiert wird. Paolo selbst scheint zwischen seiner Rolle als Prediger, dem Auftrag, den er von der Stimme Christi erhalten hat, und seinem inneren Leiden, das sich diffus als körperliche Schmerzen zeigt, zerrissen. Hierin scheint auch die von Pasolini etablierte Diskrepanz vom Heiligen und Alltäglichen durch. Die innere Zerrissenheit des Paolo überträgt sich in der Inszenierung auch auf seine Gegenüber. Die verschiedenen Zuhörergruppen vor denen Paolo predigt, sind ebenfalls durch seine Predigten verstört und vermögen es nicht diese produktiv auf sich wirken zu lassen. Sowohl Paolo als auch die anderen verbleiben in ihren eigenen Welten und lassen einen Dialog nicht zu. Die werkimmanente Irritation zeigt sich hier größtenteils als aktives Ausreizen der unterschiedlichen Positionen. Es kommt zur direkten Konfrontation, die die Inszenierung in verschiedenen Szenen, etwa durch die explizite Darstellung von Gewalt (Darstellung einer Erschießung, Prügel etc.), deutlich macht. Diese aggressive Grundstimmung wird auch und vor allem durch die musikalische Struktur greifbar. Darüber hinaus wirkt sich die durch diese Inszenierung ausgelöste Irritation auch auf das Theaterpublikum selbst aus. Dabei kommt es zur Verunsicherung von etablierten Vorstellungen und Annahmen über die christliche Gestalt des Paulus und den eigenen Blick auf Religion. Vordergründig tritt dabei eine Irritation des individuellen Paulusbildes auf. Vor allem denjenigen Zuschauenden 1029 Bicker, In Zukunft für das Theater schreiben, 64. 1030 Englhart, Das Theater des Anderen, 30. 1031 Pfeiffer, Malte: Zuwenden und Vermeiden. Irritation in kollektiven Theaterprozessen. In: Bähr, Ingrid et al. (Hg.): Irritation als Chance. Wiesbaden 2019. 323–346. 323. Darin zeigten sich die für das Theater grundlegenden Funktionen, die »ästhetische Qualität«, die »karthagische Wirkung« und die »transformatorische Kraft«. Vgl. Pfeiffer, Zuwenden und Vermeiden, 324. 1032 Vgl. Hiß, Der theatralische Blick, 13f. Sowie Kap. 2.1.3.2.

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wird viel zugemutet, die die Inszenierung mit einem eigenen religiösen Vorverständnis erleben. Gerade bei ihnen könnten Differenzen zwischen dem Vorverständnis und dem Bild der Inszenierung entstehen. Es kommt somit zu einem Rezeptionsprozess, der über das gewöhnliche Maß einer performativen Begegnung hinausgeht. Die Darstellung dieses »anderen« Paulus führt zu »Wahrnehmungen, die von persönlichem Interesse sind; […]. Die Psychologie spricht hier von Anmutungen, welche mit der kognitiven Verarbeitung konvergieren, […].«1033 Diese Anmutung oder kognitive Ergriffenheit führt im Beispiel des Musiktheaters zur Irritation. Die Inszenierung wirkt sich wie ein Katalysator aus und verursacht eine identitätsbildende Auseinandersetzung mit dem Gezeigten. Es geht nicht mehr nur um das reziproke Verhältnis der eigenen Vorstellung und dem auf der Bühne Gezeigten, sondern gleichermaßen auch um das religiöse Vorverständnis, das eigene Simulacrum des Paulus, das durch die Inszenierung möglicherweise gefährdet ist. Die Ambivalenz einer solchen Darstellung kann dann entweder zu einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit dem Gezeigten oder auch zu Überforderung führen.1034 An dieser Stelle können hintergründig auch individuelle theologische Grundfragen betroffen sein, die sowohl in konfessionellem als auch in einem allgemein religiösen Sinne verunsichern. Demnach zeigt die Inszenierung nicht das Bild einer »bequemen« oder »harmonischen«, sondern einer per se durch Differenzen und Konflikte geprägten Religion. Wie bereits im differenzhermeneutischen Ansatz zu interkulturellen und interreligiösen Begegnungen deutlich wurde, werden Ambivalenzen als einer Religion zugehörig verstanden. Die Auseinandersetzung mit ihnen ermöglicht den unterschiedlichen Gesprächspartnern auch das eigene Selbstverständnis zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Die Konfrontation kann dabei bisweilen auch eine Herausforderung sein. Sundermeier beschreibt dies unter Rückgriff auf Levinas sehr treffend mit den Begriffen Heimsuchung, Infragestellung und Störung: »Der andere bietet mir zwar Existenzrecht, aber er sucht mich auch heim, er stellt mich in Frage. Das Antlitz des anderen tritt uns nah, es tritt uns zu nah. In dieser Nähe und Plötzlichkeit, in der es mir begegnet, ist es für mich eine Störung (Levinas, 1983, 242 A.)1035, der ich nicht ausweichen kann. Mein Gehäuse bleibt nicht mehr intakt, nicht mehr so, wie es zuvor war. Ich muß der Störung standhalten und Antwort geben.«1036

Diese Erfahrungen lassen sich auch mit dem Begriff der Irritation zusammenfassen, indem, wie bereits gezeigt, auch das aktive Moment der Veränderung 1033 1034 1035 1036

Englhart, Das Theater des Anderen, 76. Vgl. a. a. O., 24. Die Angabe wurde von Sundermeier als Teil des Zitats übernommen. Sundermeier, Erwägungen zu einer Hermeneutik, 27 sowie Levinas, Die Spur des Anderen, 242.

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mitschwingt. Wenn man die Aussage Sundermeiers auf das Musiktheater überträgt, so ist es Paolo, der den Zuschauenden »nah« kommt, sogar »zu nah« kommt. Wie im einleitenden Zitat deutlich wird, vermögen aber gerade solche Erfahrungen die explizite Begegnung mit dem Protagonisten. 4.2.3.3 Irritation als Ressource der Religion Sowohl das Theater per se als auch die im Musiktheater »San Paolo« dargestellte Religion treten als exemplarische Quelle der Irritation hervor. Die Funktionsweise des Theaters in der Darstellung des Anderen wurde bereits unter 2.2 ausführlich beschrieben. Im Folgenden soll daher das »irritierende« Potenzial der christlichen und islamischen Religion vorgestellt werden. Dazu wird der Blick mit der Theologin Dorothee Sölle und dem Theologen Jürgen Moltmann auf solche theologischen Impulse geworfen, die die christliche Kirche nicht nur intern herausgefordert und angeregt, sondern auch die Frage nach einer politischen und gesellschaftlichen Sichtbarkeit der Religion neu beantwortet haben. Darüber hinaus wird mit dem Blick auf das Leben des Propheten Mohammed auch das Irritationspotenzial der islamischen Religion beleuchtet. 4.2.3.3.1 »Radikaler und frömmer werden« Im Zuge der Diskussion um Irritation und Kirche, Religion und Gesellschaft soll zunächst exemplarisch auf das Wirken der deutschen evangelischen Theologin Dorothee Sölle verwiesen werden.1037 Sölle vereint in ihrem theologischen Denken, ihrem sozialen Engagement und in ihrer Biografie vieles, was sowohl innerhalb der christlichen Kirchen als auch gesellschaftlich als Provokation gewertet wurde.1038 So wird Sölle durchaus als ambivalente Persönlichkeit wahrgenommen. »Sie habe sich erlaubt, die jeweils andere zu sein – den Frommen die Politische, den Politischen die Fromme, den Bischöfen die Kirchenzerstörerin und den Entkirchlichten die Kirchenliebende.«1039 Die Rezeption der letzten Jahrzehnte würdigt ihre Leistungen allerdings sehr positiv, wenngleich der Faktor der Provokation stets mitschwingt.1040 So wertet der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Manfred Kock, die Provokationen Sölles, die sich für viele etwa 1037 Mit dem Zitat der Überschrift beschreibt Ludwig das Anliegen Sölles im Titel seines Artikels. Vgl. Ludwig, Ralph: »Wir müssen radikaler und frömmer werden«. Ein Hörbild zu Dorothee Sölle. In: Gutmann, Hans-Martin; Höner, Alexander; Luthe, Swantje (Hg.): Poesie, Prophetie, Power. Dorothee Sölle – die bleibende Provokation. Berlin 2013. 16–50. 1038 Sölle gerät durch ihr Engagement in der Friedensbewegung der 1980er Jahre durchaus in Konflikte mit dem Gesetz. Vgl. Ludwig, Ein Hörbild zu Dorothee Sölle, 43. 1039 A. a. O., 20. 1040 Vgl. etwa der Band: Poesie, Prophetie, Power: Dorothee Sölle – die bleibende Provokation. Gutmann, Hans-Martin; Höner, Alexander; Luthe, Swantje (Hg.). Berlin 2013.

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an den von Sölle organisierten sog. Politischen Nachtgebeten1041 oder ihrem »Credo« konkretisierten, als Herausforderungen an die Kirche. »›Es ist nicht vollbracht‹1042. Dieser provozierende Satz stand am Anfang beispielhaft für das, was Dorothee Sölle zugemutet hat, nämlich Vertrautes und Richtiges zu verfremden und uns dadurch aus dem Bett der Bequemlichkeit zu wecken. Inzwischen ist dieser Satz für viele längst keine Provokation mehr, eher ein Entschluss zur Nachfolge.«1043

Für Sölle war der christliche Glaube nicht ohne politisches Handeln zu denken. »Jeder ernsthafte theologische Satz hat eine politische, auf die Gestaltung der Welt bezogene Spitze.«1044 Sölles Engagement erzeugte viel Kritik von den katholischen und vor allem auch evangelischen Kirchenleitungen.1045 So äußerte sich der damalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Joachim Beckmann, folgendermaßen: »[…] Wenn Frau Sölle in ihren Büchern als ein einzelner ihre Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck bringt, dann kann man das in der theologischen Diskussion erörtern und mit ihr darüber sprechen. Aber wenn sie den Anspruch erhebt, dies1046 in einem Gottesdienst der evangelischen Kirche zu sprechen, muss ich Widerspruch anmelden, weil dadurch die Menschen, die das hören, verwirrt werden.«1047

Sölle stößt damit eine Debatte darum an, wo der Glaube seinen Platz innerhalb der Gesellschaft hat, ob er als reine Privatsache zu verstehen oder durch aktives, auch politisches Handeln, nach außen hin erkennbar sein sollte.

1041 Das sog. »Politische Nachtgebet« war ursprünglich von einem ökumenischen Arbeitskreis für den Essener Katholikentag 1968 vorbereitet worden, aufgrund verschiedener Wiederstände fand die Veranstaltung dann regelmäßig in der evangelischen Antoniterkirche in Köln statt. Vgl. Kock, Manfred: »Es ist nicht vollbracht.« Dorothee Sölle – die bleibende Provokation. In: Gutmann, Hans-Martin; Höner, Alexander; Luthe, Swantje (Hg.): Poesie, Prophetie, Power. Dorothee Sölle – die bleibende Provokation. Berlin 2013. 51–74. 59. 1042 Diese Formulierung war Teil des Politischen Nachgebets vom 3./4. März 1970. Damit ist gemeint, dass das Sterben Jesu kein abgeschlossener Prozess sei (Vgl. Kock, »Es ist nicht vollbracht«, 68.) und Gott auf die Mithilfe der Menschen angewiesen sein, »seine Sache auszurichten«. (A. a. O., 69). 1043 A. a. O., 74. 1044 Sölle, Dorothee: Gott denken. Stuttgart 2009. 18. 1045 Vgl. Kock, »Es ist nicht vollbracht«, 58. 1046 Hier wird auf folgende Aussage in Sölles »Credo« Bezug genommen: »Ich glaube an Jesus Christus, der aufsteht in unser Leben, daß wir frei werden von Vorurteilen und Anmaßungen, von Angst und Hass und seine Revolution weitertreiben, auf sein Reich hin.« Sölle, Dorothee: Ich will nicht auf tausend Messern gehen. Gedichte. 2. Aufl. München 1987. 23f. 1047 Beckmann; Joachim: Widersteht den Anfängen, nachher ist’s zu spät. Gespräch. EvKOMM. Evangelische Kommentare Monatsschrift zum Zeitgeschehen in Kirche und Gesellschaft. 1/ 1969. 29–32.31.

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4.2.3.3.2 Leiden an der Wirklichkeit Auch das religiöse Potenzial der Hoffnung, das bereits bei den Überlegungen zur Utopie zur Sprache kam, speist sich letztlich aus dem Konflikt des Gläubigen mit der Lebenswirklichkeit. Auch der theologische Vorstoß, den Jürgen Moltmann mit der »Theologie der Hoffnung« wagt, wurde zu seiner Zeit als sehr progressiv wahrgenommen. So schrieb etwa der Spiegel: »Moltmann propagiert darin ein umstürzlerisches, gesellschaftsänderndes – wie er sagt: ursprüngliches – Christentum und offeriert damit Christen und Kirchen eine Theologie, die zu aktiven, ja aggressiven Auseinandersetzungen mit der politischen Umwelt ermächtigt und anfeuert.«1048

Moltmann schreibt in seinem Werk »Theologie der Hoffnung«: »Wer auf Christus hofft, kann sich nicht mehr abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, sondern beginnt an ihr zu leiden, ihr zu widersprechen. Frieden mit Gott bedeutet Unfrieden mit der Welt, der Stachel der verheißenen Zukunft wühlt unerbittlich im Fleisch jeder unerfüllten Gegenwart.«1049

Es ist das Leiden an der Wirklichkeit, das auch Paolo im Musiktheater umtreibt. Gerade an ihm scheint offenkundig zu werden, was es bedeutet, Frieden mit Gott und Unfrieden mit der Welt zu haben. Paolo hält diese Spannung bis zuletzt durch, auch wenn er selbst an der Zerrissenheit stark leidet. »Darum wird […] die Hoffnung, die der Glaube an Gottes Verheißung öffnet, zum Querulanten im Denken, zur Treibkraft, zur Unruhe und zur Qual des Denkens werden.«1050 Die Inszenierung überträgt diesen »Unfrieden«, von dem Moltmann spricht, letztlich nicht nur auf die gesellschaftliche Akzeptanz, sondern auch auf das Verhältnis zur eigenen Kirche. Es wird in der Inszenierung also nicht nur das Bild einer schwierigen, sondern einer geradezu quälenden Religion vorgestellt. Es scheint ein solcher Habitus zu sein, in dem Religion seitens des Theaters wahrgenommen wird. Pasolini verlegte die Handlung seines Filmprojekts in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, er versuchte damit den Stoff zu seinen Lebzeiten zu aktualisieren, Paulus in sein »Hier und Jetzt« zu holen und ihn dadurch zu seinem Zeitgenossen zu machen. Die Inszenierung des Theaters hat diese Transposition bewusst übernommen, es ist auch hier der gesellschaftliche Kontext, vor allem der 50er und 60er Jahre, in dem sich Paolo bewähren muss. Auch wenn dies in politischer und – wie mit Sölle und Moltmann deutlich wurde – auch in theologischer Hinsicht eine Zeit des grundsätzlichen Auf- und Umbruchs war, so scheinen die dort verhandelten Fragen für das Theater weiterhin aktuell zu sein. 1048 »Kinder des Protestes«, Spiegel, Nr. 4/1968. 94–96. 1049 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 17. 1050 A. a. O., 28.

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4.2.3.3.3 »Stell dich auf und warne!« Auch mit Blick auf das Leben des Propheten Mohammed lassen sich bereits deutliche Tendenzen der Unangepasstheit und der Störung bestehender gesellschaftlicher Strukturen erkennen.1051 Letztere wirken sich unmittelbar in Reaktion auf die ersten Offenbarungen des Korans in Mekka aus, die Kritik an Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit1052 übten. Diese Eigenschaften bezogen die Zuhörer in Mekka offenbar auf sich und reagierten mit Ablehnung. Die mahnenden Worte zielten dabei vermutlich vor allem auf die gesellschaftlichen und sozialen Strukturen der Gemeinschaft ab: »Die Kluft zwischen den Reichsten und den Ärmsten wurde aber immer größer. Hand in Hand mit diesen wirtschaftlichen Veränderungen gingen ein Zusammenbruch der sozialen Solidarität und eine Zunahme des Individualismus.«1053 Und weiter: »Im Gegensatz zum Glauben der Nomaden ist der Koran davon überzeugt, daß das Leben der Menschen durch ein allmächtiges Wesen bestimmt wird, das sich um das Wohlergehen der Menschen sorgt, und nicht durch einen blind ablaufenden, willkürlichen Prozeß. Er widerspricht den Kaufleuten, indem er behauptet, ihre Macht sei der höchsten Macht Gottes untergeordnet.«1054

Generell scheint der Umgang mit Vermögen und eine gerechtere Gesellschaft eine entscheidende Rolle für das gesellschaftliche Umfeld Mohammeds gespielt zu haben. Letztlich bleibt diese Kritik jedoch bei Vielen ungehört. Sein Verkündigungssauftrag ist dabei von Beginn an als Warnung bzw. Mahnung definiert und so als aktiver »Einspruch« in die etablierten Strukturen zu verstehen. »Stell dich auf und warne! – Mahne nun, solange die Mahnung nützt« (Sure 74,2; 87,9). Auch die religiöse Botschaft wird kritisch infrage gestellt. Gerade was die Verehrung zusätzlicher anderer Gottheiten betraf, wurden seitens der mekkanischen Bevölkerung Versuche unternommen den Monotheismus zu umgehen indem sie Kompromisse vorschlugen. Mohammed blieb aber auch dort standhaft

1051 Das in der Überschrift genannte Zitat stammt aus Sure 74,2. 1052 Sure 96,6f. 1053 Watt, William Montgomery: Der Islam. I Mohammed und die Frühzeit – Islamisches Recht – Religiöses Leben. Stuttgart 1980.69. Die These Watts, dass die sozialen Gefüge in der mekkanischen Gesellschaft zu einer Verbreitung des Islams beigetragen hätten, indem die islamische Botschaft zu einer Verbesserung dieser sozialen Missstände beigetragen habe, ist mittlerweile nicht mehr haltbar. Vgl. Berger, Lutz: Die Entstehung des Islams. Die ersten 100 Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen. München 2016. 107. Es scheint hier vielmehr so zu sein, dass Mohammed mit seiner Botschaft den Finger in die Wunde der Mekkaner legt und das Unrecht erst ins Bewusstsein ruft. 1054 Watt, Der Islam, 71. Vgl. Sure 104,1–4 »Wehe jedem Stichler und Nörgler, der Reichtümer zusammenbringt und sie wiederholt zählt! Er glaubt sein Gut mache ihn unsterblich. Nein! Er wird bestimmt in die Zermalmende (Hölle) geworfen.«

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und konnte den monotheistischen Anspruch mittels der Offenbarung verteidigen.1055 Nach Marilyn R. Weidmann und Robert Baum lässt sich Mohammeds Auftreten folgendermaßen zusammenfassen: »[…] Muhammad appear[s], rather, to have generated and intensified stress before trying to reduce it.«1056 Mohammeds Agieren scheint hier zunächst prototypisch für eine Prophetengestalt. Weidmann und Baum weisen aber zu Recht darauf hin, dass es auch für solche Persönlichkeiten hier um eine Gratwanderung geht. »They had to be different enough to provoke opposition or to provide a clear alternative to the status quo, but they could not be so different as to be ignored.«1057 Die erfahrene Irritation angesichts einer Krisensituation kann auch hier nur in eine positive Transformation führen, wenn sie zumindest für einen Teil der Rezipienten einen Anknüpfungspunkt darstellt. Wenn dieser, etwa aufgrund einer zu großen Fremdheitserfahrung nicht gegeben ist, bleibt auch die Irritation letztlich ohne Konsequenzen. Interessant ist an dieser Stelle auch die Beobachtung zu Selbstverständnis und Auftreten Mohammeds, das scheinbar – ganz ähnlich wie Paolo in der Inszenierung des Musiktheaters – durchaus ambivalent war. »The self presentation […] did not stress the heroic; in fact it seems to have stressed the ordinary, to be self-effacing in the way many such figures images are within their own lifetimes.«1058 Weiterhin musste sich Mohammed vor allem in der Anfangszeit vielfach gegen den Vorwurf der Unglaubwürdigkeit verteidigen. »Der Vorwurf Mohammed sei ein Zauberer, dessen Worte den Menschen die Vernunft raubten, oder ein von einem Dämonen Besessener, taucht in den Suren der mittleren mekkanischen Periode mehrfach auf (Sure 15,6; Sure 26,27; Sure 54,9), und er wird, wie gerade deutlich wurde, von Mohammed in die ältere Geschichte zurückgespiegelt. Was er erlebt, haben, so meint er, auch die vor ihm von Allah Berufenen erdulden müssen. Mit ihnen weiß er sich jetzt auf einer Stufe; seine Erfahrungen müssen auch die ihrigen gewesen sein.«1059

Die Erfahrung, nicht verstanden zu werden oder nicht ernst genommen zu werden, scheint hier auch religionenübergreifend beobachtet werden zu können. Die Reaktion auf das vorgestellte Paulusbild sowie der Umgang der Religions-

1055 »Sprich: O ihr Ungläubigen, ich diene nicht dem, dem ihr dienet, und ihr seid nicht Diener dessen, dem ich diene. Und dich bin nicht Diener dessen, dem ihr dientet, und ihr seid nicht Diener dessen, dem ich diene. Euch euer Glaube und mir mein Glaube.« Sure 109,1–6. Vgl. Watt, Der Islam, 81–92. 1056 Weidmann, Marilyn R.; Baum, Robert M.: Innovation as renovation. The prophet as an agent of change. In: M.A. Williams et al. (Hg.): Innovations in religiuos traditions. Essays in the interpretation of religious change. Berlin /New York 1992. 241–284. 274. 1057 A. a. O., 273. 1058 Weidmann; Baum, Innovation as renovation, 273. 1059 Nagel, Tilman: Mohammed. Leben und Legende. München 2008. 136.

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gemeinschaften mit Irritation und Provokation bleibt damit auch heute eine Herausforderung. 4.2.3.4 Impulse für den interreligiösen Dialog a) Differenzen gestalten Wie bereits mehrfach benannt, bieten die Akzeptanz von und der produktive Umgang mit Differenzen ein hohes Potenzial für den interreligiösen Diskurs. Dabei sind zum einem der wertschätzende Umgang mit dem Anderen und die positive Besetzung von Begriffen wie Konflikt, Differenz und Störung zentral. Erst wenn solche Erfahrungen, wie die Irritation des Musiktheaters, als Chance begriffen werden, kann sich Bereitschaft zur Veränderung zeigen. Zum anderen liegt diesem Zugang die Annahme zugrunde, dass solche Erfahrungen geradezu nötig sind, um auch die eigene (religiöse) Identität zu reflektieren und zu aktualisieren. Auch die Beschäftigung mit Paulus und den Konfliktfeldern, in die er verstrickt ist, kann hier zu einer Reflexion beitragen. Dabei spielt dann weniger eine Rolle, um welche Art religiöser Auseinandersetzungen es sich handelt, sondern viel mehr die Haltung mit der man solchen Konflikten gegenübertritt. »Es mag auch heute Situationen geben, in denen das Evangelium des Paulus in dem Sinne als ›Tacheles‹ zu proklamieren ist, in dem er es stets in Konflikten zur Geltung gebracht hat. Jenseits solcher Situationen wird man aufgrund der genannten Merkmale zwar nicht allein auf Takt, geschweige denn auf Taktik setzen, wohl aber auf den Versuch eines wechselseitigen Hörens und Verstehens. Es dürfen sich so am ehesten auf beiden Seiten die beiden Phänomene einstellen, die aus einer Neugestaltung interreligiöser Beziehungen nicht wegzudenken sind: ein Schuss heilsamer Relativierung der eigenen Absolutismen und die Begründung eines krisenfesten Vertrauens, […]«1060

Eine solche Erfahrung kann dann sowohl interreligiös als auch intrareligiös zu neuen Freiräumen führen. b) Heterogene Heiligkeit Neben dem Potenzial, das die differenzhermeneutische Perspektive für den interreligiösen Dialog bietet, kann auch die Konzentration auf das Verbindende fruchtbar für die interreligiösen Beziehungen sein. Das Heilige, wie es in der Vorlage Pasolinis hervorgehoben wird – und wie es unter Rückgriff auf Rudolf Otto1061 verstanden werden kann – schafft Verständnis für eine Religiosität au1060 Von der Osten-Sacken, Peter: Das Verhalten des Apostels Paulus in Konflikten. In: Von der Osten-Sacken, Peter: Der Gott der Hoffnung. Gesammelte Aufsätze zur Theologie des Paulus. Leipzig 2014. 206–216. 215. 1061 Verweis auf Ottos Hauptwerk. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau 1917.

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ßerhalb einer bestimmten Religion. Hans Joas attestiert Otto den Versuch die Heiligkeit unabhängiger werden zu lassen.1062 »Das ›Heilige‹ wird so aus den institutionellen und doktrinären Einfassungen gelöst, die der Begriff ›Religion‹ suggeriert.«1063 Eine solche Sichtweise hat dann auch weitreichende Konsequenzen für die religiösen Institutionen. Die Kritik an der Kirche ist nicht nur Bestandteil der Inszenierung, sondern auch ein wichtiger Aspekt der theologischen Debatte um das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Auch Fritz Reinhold Huth hebt die Unabhängigkeit von Heiligkeit hervor: Das Heilige löse eine große Faszination aus, »da es immer wieder den Weg zu neuen Gestaltungen frei macht. Es steht für die vom Bewusstsein und seinen Gestaltungen nicht zu kontrollierende Freiheit der Existenz jenseits aller menschlichen Kontrollmöglichkeiten. Hier zeigt sich die Nähe zu den Aussagen der pluralistischen Theologie der Religionen, dass Gott nicht festgelegt werden kann, dass er das ›unaussprechliche Geheimnis‹ bleibt.«1064

Wie sich bereits bei den Phänomenen wie Mythos und Utopie gezeigt hat, hat auch das Heilige einen religionsübergreifenden Charakter. Schmidt-Leukel betont aber auch die Heterogenität von Heiligkeit. So sei »gerade in der Pluralität der Widerspiegelungen des Heiligen selbst eine zentrale, kulturübergreifende Gemeinsamkeit zu erblicken.«1065 Diese Gemeinsamkeit sieht Schmidt-Leukel, wie bereits unter Kapitel 2.1 beschrieben, in der Struktur von Fraktalen. Gerade in der Betonung der Verschiedenheit zeige sich demnach die Ähnlichkeit religiöser Strukturen, sodass sich »die Religionen einander trotz aller Verschiedenheit gerade in ihrer inneren Vielgestaltigkeit gleichen […].«1066 Dass das Heilige dabei auch innerhalb der Religionen als unverstanden oder »unaussprechlich« gilt, unterstützt dabei den Charakter des Außerordentlichen.1067 Das Heilige ist dabei ähnlich schwer zu fassen wie das Mythische, es kommt jedoch noch die Schwierigkeit der Kommunikation hinzu. Vor allem die 1062 Vgl. Joas, Hans: Säkulare Heiligkeit. In: Lauster, Jörg et al. (Hg.): Rudolf Otto. Theologie – Religionstheologie – Religionsgeschichte. Berlin/ Boston 2014. 64. 1063 Ebd. Er stellt heraus, dass dies eine nicht-apologetische Reaktion auf Religionskritik sei. »Die Wende zur ›Erfahrung‹ erlaubt es nun, gegen Apologetik und Reduktionismus einen Phänomenbereich zu bestimmen, über den Aussagen möglich sind, die eine gewisse Unabhängigkeit von religiösen oder antireligiösen Großdeutungen haben.« A. a. O., 65. 1064 Huth, Fritz Reinhold: Pluralistische Theologie der Religionen und das Heilige. In: Schreijäck, Tomas; Serikoc, Vladislav (Hg.): Das Heilige interkulturell. Perspektiven in religionswissenschaftlichen, theologischen und philosophischen Kontexten. Ostfildern 2017. 39–49. 39. 1065 Schmidt-Leukel, Perry: Überlegungen zu einer fraktalen Interpretation religiöser Vielfalt. In: Schreijäck, Tomas; Serikoc, Vladislav (Hg.): Das Heilige interkulturell. Perspektiven in religionswissenschaftlichen, theologischen und philosophischen Kontexten. Ostfildern 2017. 151–166. 151. 1066 A. a. O., 162. 1067 Vgl. Huth, Pluralistische Theologie, 39.

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Verständigung zwischen religiösen und säkularen Gesprächspartnern wird dadurch stark beeinträchtigt. Das Heilige in der Gesellschaft erfahrbar oder verstehbar zu machen ist daher eine Aufgabe, die auch im Musiktheater nur bedingt erfüllt wird. Die beständige Irritation kann Rezeptionsprozesse per se anstoßen, das Ergebnis ist dabei aber stets offen. Trotzdem bleibt auch vor diesem Hintergrund die Frage nach der Leistungskraft der Religionen innerhalb der Gesellschaft virulent. Wie kann Religiöses, sei es in Form des Mythos oder der Utopie, gesellschaftliche Prozesse produktiver irritieren? Unter Rückgriff auf Jürgen Habermas lassen sich über die Funktionsweisen von Irritation, Integration und dem Bewusstsein für Differenzen wichtige Orientierungslinien ziehen, in die auch die Darstellung religiöser Heterogenität durch das Theater eingeordnet werden kann.

4.2.4 Kooperative Übersetzungsprozesse zwischen säkularer Gesellschaft und den Religionen a) Irritation Die Konfrontation mit der säkularen Gesellschaft sieht Jürgen Habermas als Aufgabe des Religiösen in der Gesellschaft an. Dabei kann es auch zu Irritationen und Unverständnis kommen. Habermas bewertet die Sichtweise der säkularen Gesellschaft auf die Religionen dabei jedoch als undurchsichtig. Es scheint, als setze Habermas ein natürliches Unverständnis seitens der Gesellschaft für das Religiöse voraus, das dann durch aktives Bemühen, durch Transformationsprozesse, zugänglich gemacht werden müsse.1068 »Der Glaube behält für das Wissen etwas Opakes, das weder verleugnet noch bloß hingenommen werden darf.«1069 Weiterhin bedürfe die säkulare Vernunft aber gerade der religiösen Sprache und Motive. »[…] [I]m Lichte derselben spröden Vernunftmoral begreift man, warum der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen – vom Reich Gottes auf Erden – als kollektiv verbindliche Ideale entgleiten müssen. Gleichwohl verfehlt die praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewußtsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewußtsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.«1070

1068 Vgl. Viertbauer, Klaus: Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft. In: Viertbauer, Klaus; Gruber, Franz (Hg.): Habermas und die Religion. Darmstadt 2017. 11–28. 27. 1069 Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, 29. 1070 A. a. O., 30f.

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Habermas scheint hier im Religiösen gleichsam ein Potenzial zu sehen, das zum einen verbindet und zum kollektiven Handeln ermutigt, zum anderen aber gleichermaßen auch wachrüttelt und irritiert. Auch hier kann einer Institution wie dem Theater eine wichtige Rolle zu kommen. Als unabhängige »dritte Instanz« vermag das Theater gerade das Opake, das für Außenstehende Undurchsichtige, aufzuzeigen und damit das Irritationspotenzial der Religion(en) herauszustellen. Religiöser Glaube, mit allen Undurchsichtigkeiten oder Irritationen, und die säkulare Gesellschaft sind demnach in einem reziproken Verhältnis aufeinander angewiesen. b) Integration Die oben genannte Forderung nach Transformationsprozessen geht aus der Annahme hervor, dass die Religion(en) etwas in den Diskurs einbringen, das der Gesellschaft zugutekommt.1071 Am Beispiel des Musiktheaters »Das Ebenbild« konnte bereits auf die ethische Funktion der Religion im Bereich der Gentechnik verwiesen werden. »Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes1072 drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann.«1073 Habermas nutzt hier den Begriff der Intuition und verweist damit auch auf die Unabhängigkeit der Motivation von rein rationaler Argumentation. »Kulturelle und gesellschaftliche Säkularisierung brauche einen »doppelten Lernprozess«, der sowohl aufklärerische als auch religiöse Positionen berücksichtige.«1074 »Im Hinblick auf postsäkulare Gesellschaften stellt sich schließlich die Frage, welche kognitiven Einstellungen und normativen Erwartungen der liberale Staat gläubigen und ungläubigen Bürgern im Umgang miteinander zumuten muss.«1075

1071 »Im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysichen Denkens, dem sich jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, sind in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wachgehalten worden. Deshalb kann im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann – ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge.« Habermas, Vorpolitische Grundlagen, 4. 1072 Hier wird selbstverständlich nicht auf das Musiktheater Bezug genommen, Habermas spricht hier symbolisch über die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. 1073 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen, 15. 1074 Vgl. Habermas, Vorpolitische Grundlagen, 2. 1075 Ebd.

Andere Themen des Dialogs

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Dabei stellten sowohl Verständigungsprozesse zwischen diesen beiden Gruppen als auch die beidseitige Bereitschaft voneinander lernen zu wollen eine Herausforderung für das gesellschaftliche Miteinander dar.1076 Sichtbar wird diese Herausforderung in den Theaterprojekten der »Urban Prayers«-Reihe. Der Chor der Gläubigen tritt als religionsübergreifendes Kollektiv auf und adressiert in erster Linie die säkulare Gesellschaft. »Die liberale Politik darf den fortwährenden Streit über das säkulare Selbstverständnis der Gesellschaft nicht externalisieren, also in die Köpfe von Gläubigen abschieben. Der demokratisch aufgeklärte Commonsense ist kein Singular, sondern beschreibt die mentale Verfasstheit einer vielstimmigen Öffentlichkeit.«1077

Gerade für gläubige Bürger seien solche Dialogprozesse nach Habermas aber eine Chance: »Diese normative Erwartung, mit der der liberale Staat die religiösen Gemeinschaften konfrontiert, trifft sich mit deren eigenen Interessen insofern, als sich diesen damit die Möglichkeit eröffnet, über die politische Öffentlichkeit einen eigenen Einfluss auf die Gesellschaft im Ganzen auszuüben.«1078

In den Inszenierungen der »Urban Prayers« zeigt sich etwa dieser Einfluss in einer religiös motivierten Sehnsucht nach einer besseren Welt. Auch Habermas ruft hier nicht nur zu einem religiös motivierten Handeln auf, sondern fordert auch Unterstützung seitens derjenigen, die nicht selbst einer Religionsgemeinschaft angehören. Er erwartet, »dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen.«1079 Wenn man dies weiterdenkt, so erscheint nicht nur die Religion in ihrem ethischen Anspruch als geradezu notwendig für eine funktionierende moderne Gesellschaft, sondern auch die Übersetzung religiöser Bilder durch säkulare Akteure. Dass das Theater diese Rolle einnehmen kann, konnte in den vorhergehenden Analysen und Betrachtungen gezeigt werden. Der Regisseur des Musiktheaters »Das Ebenbild«, Haitham Assem Tantawy, spricht in diesem Kontext ganz ähnlich davon, religiöse Stoffe zu »säkularisieren« und meint damit religiöse Positionen aktiv in einen Dialog mit anderen weltanschaulichen Überzeugungen zu bringen.1080

1076 1077 1078 1079

Vgl. Habermas, Vorpolitische Grundlagen, 4. Habermas, Glauben und Wissen, 13. Habermas, Vorpolitische Grundlagen, 4. Ebd. Als Beispiel für eine solche gelungene Übersetzung führt Habermas etwa die Übertragung der Gottesebenbildlichkeit auf die Menschenwürde an. Vgl. ebd. 1080 Die Antworten ergaben sich aus einem persönlichen Gespräch der Verfasserin mit Herrn Tantawy am Rande der Proben zu »Das Ebenbild« (Osnabrück, 2. September 2019).

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c) Differenzbewusstsein Darüber hinaus muss mit Thomas M. Schmidt im Blick behalten werden, dass es trotz allem in säkularen Gesellschaften eine Schieflage zwischen religiösen und säkular-liberalen Überzeugungen gibt, da die säkulare Vernunft den Standard normativer Diskurse definiere.1081 »Religiöse Überzeugungen können daher nur dann öffentlich legitime Argumente darstellen, wenn für sie adäquate säkulare Gründe angegeben werden können. […] Nach dieser Einschätzung müssen religiöse Personen gleich mehr ihrer identitätsstiftenden Grundüberzeugungen einklammern, als solche mit säkular-liberalen Vorurteilen, wenn sie sich an politischen Diskursen als gleichberechtigte Partner beteiligen wollen.«1082

Schmidt spricht weiter von einem »Zwang zur Schizophrenie«, dem gläubige Bürger unterliegen. Kooperative Übersetzungsprozesse zwischen säkularen und gläubigen Parteien können auch hier ausgleichend wirken – zumindest dann, wenn der Religion formal ein funktionaler »gattungsethischer Rahmen« zugestanden wird.1083 Somit ergibt sich eine neugewonnene Sichtweise auf die Religion: »Ihre Aufgabe ist nicht mehr – nicht mehr vorrangig – die Bereitstellung semantischer Ressourcen, sondern die Erzeugung einer bestimmten Haltung, die universale Solidarität und Achtung erst möglich macht.«1084 Schmidt weist an dieser Stelle zu recht darauf hin, dass auch der interreligiöse Dialog im Übrigen der Macht der säkularen Vernunft unterliegt. Nicht nur zwischen religiösen und nicht-religiösen Gesprächspartnern seien kooperative Übersetzungsprozesse erforderlich, auch zwischen religionsverschiedenen Partnern werde eine vernunftgemäße Argumentation erwartet.1085 Umgekehrt kann aber auch ein gelingender Dialog auf die gesellschaftlichen Verständigungsprozesse einwirken. Wenn die Religionen untereinander sprachfähig werden, können auch Nicht-Religiöse angesprochen und mit einbezogen werden. Gerade religiöse Gesprächspartner könnten aber durch solche heterogenen Übersetzungsprozesse besonders profitieren. »Diese Übersetzungsleistung ist für den religiösen Menschen mit einigen kognitiven Herausforderungen verbunden. Religiöse Menschen müssen sich reflektiert zu fremden Religionen und Weltanschauungen, zum Eigensinn säkularen Wissens und zur Wissenschaft und zum Vorrang säkularer Gründe, in der politischen Arena verhalten können. Daher bestehen die ›kognitiven‹ Voraussetzungen für eine moderne Religion darin, den Glauben zu konkurrierenden Heilslehren selbstreflexiv in ein Verhältnis zu setzen, das Verhältnis von dogmatischen Glaubensinhalten und säkularem Weltwissen 1081 1082 1083 1084 1085

Vgl. Schmidt, Reflexive Säkularisierung, 119. A. a. O., 117. Vgl. a. a. O., 119. Ebd. Vgl. a. a. O., 118.

Andere Themen des Dialogs

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widerspruchsfrei zu bestimmen und das Vernunftrecht und die universalistische Moral in den Kontext religiöser Lehren zu integrieren.«1086

Für Schmidt bedeutet darüber hinaus religiöses Bewusstsein Differenzbewusstsein.1087 Er schlägt in seinem gleichnamigen Aufsatz drei Stufen der reflexiven Säkularisierung vor, neben der »Neutralisierung des öffentlichen Raums« und der »kooperativen Übersetzung« zeige die dritte Stufe die Religion als Bewusstsein der Differenz. »Im Kontext dieser dritten Stufe der reflexiven Säkularisierung besteht die Aufgabe der Religion nicht in der semantischen Unterfütterung normativer Prinzipien, die ohne eine solche Unterfütterung angeblich ›haltlos‹ würden, sondern gerade in der radikalen Entleerung und Entkernung moderner Vernunftbegriffe, die ihre Legitimität vollständig aus sich heraus gewinnen.«1088

Was die Religion in diesem Fall in die Gesellschaft einbringt, scheint zunächst das Nicht-Wissen und Nicht-Festlegen zu sein. Schmidt geht an dieser Stelle über die Vorstellungen Habermas’ hinaus und sieht die Religion vor allem im Dienst der Differenz.1089 »An Gott glauben heißt gerade nicht, auf verbindliche Weise gesagt zu bekommen, was der Mensch von Natur aus ist, sondern sich zu erinnern, dass wir das wahre Wesen des Menschen nicht erkennen können und genau deshalb unbedingt zu achten haben. Die Funktion der Religion besteht also nicht in einer ethischen Einbettung autonomer Moral […], sondern in der Schärfung und Bearbeitung der Differenz zwischen autonomer säkularer Gesellschaft und Vernunft.«1090

Die Konzentration auf die Religion(en) als Trägerinnen von besonderem Differenzbewusstsein kann vor allem in säkularen Kontexten eine neue Perspektive auf Religionen eröffnen. Wenn bisher von Säkularität oder säkular die Rede war, so muss auch hier die Perspektivität berücksichtigt werden, aus der der Begriff gewählt wird. Auch wenn in christlich-theologischen Kontexten in der Regel Konsens über die Verwendung herrscht, so ist islamisch-theologisch eine heterogene Ausgangslage

1086 Schmidt, Thomas M.: Das Heilige als Grund der Moral. Durkheims Konzept des Sakralen und die postsäkulare Religionstheorie von Jürgen Habermas. In: Schreijäck, Tomas; Serikoc, Vladislav (Hg.): Das Heilige interkulturell. Perspektiven in religionswissenschaftlichen, theologischen und philosophischen Kontexten. Ostfildern 2017.177–128. 121. Hervorhebungen des Originaltexts wurden nicht übernommen. 1087 Vgl. Schmidt, Reflexive Säkularisierung, 122. 1088 A. a. O., 121. 1089 Schmidt führt hier weiter aus, »gerade (und nur) als gesteigertes Bewusstsein der Differenz erfüllt die Religion eine integrative Funktion.« A. a. O., 125. 1090 Ebd.

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zu beachten.1091 So herrscht einerseits aufgrund unterschiedlicher Wahrnehmungen der geschichtlichen und geopolitischen Entwicklungen und andererseits aufgrund differenter innerislamischer Strömungen Uneinheitlichkeit im Säkularitätsverständnis vor. So würden Teile der islamischen Gemeinschaft »Säkularität immer noch als eine antireligiöse Ersatzreligion« betrachten, theologisch gebe es jedoch keine Legitimierung zu so einer Haltung. Säkularität stelle vielmehr eine »Chance« dar, »um im Dialog mit anderen religiösen Weltanschauungen zu bleiben, sich selbst zu entfalten und am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren.«1092 Sejdini weist gerade im Kontext von Gesellschaft und Religionen auf eine wichtige Diskursverschiebung beim Aspekt der Säkularität hin. »Auch wenn Christen und Muslime vor ähnlichen Herausforderungen stehen, so ist der Diskursrahmen dennoch unterschiedlich. Geht es auf einer Ebene eher um die Rededefinition der Beziehung zwischen Religiösem und Säkularem angesichts des postsäkularen Kontextes, bewegen sich die Diskussionen bezüglich des Islam generell rund um die Kompatibilität des Islam mit der Säkularität.«1093

Dieser Deutungshintergrund sollte daher bei der Verwendung des Begriffs »säkular« in interreligiösen Kontexten berücksichtigt werden.

4.3

Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog

Zunächst muss ins Bild gerückt werden, dass die vorangehenden Analysen und Beobachtungen nur Momentaufnahmen sind und daher nur einen kleinen regional und temporär begrenzten Ausschnitt liefern. Beobachtungen wie sie hier am Theater Osnabrück gemacht wurden, stellen mit Blick auf die deutschsprachige Theaterlandschaft keine Seltenheit dar. Es lassen sich an vielen anderen Stadt- und Landestheatern ähnliche Tendenzen beobachten. Osnabrück stellt insofern eine Besonderheit dar, als dass sich das dortige Theater bewusst und intensiv mit der Thematik von Religionen und Gesellschaft beschäftigt. Das Feld wurde unter der Intendanz von Ralf Waldschmidt von Anfang an bearbeitet und zieht sich als roter Faden bis zum Ende seiner Intendanz in der Spielzeit 20/21. Die ausgewählten Stücke stehen daher auch repräsentativ für andere Projekte, die aufgrund des Rahmens dieser Arbeit nicht untersucht werden konnten.1094

1091 Vgl. Sejdini, Zekirija: Säkular und religiös – Herausforderungen für die islamische Theologie. In: Ströbele et al. (Hg.): Säkular und religiös. Herausforderungen für islamische und christliche Theologie. Regensburg 2020. 90–98. 91. 1092 A. a. O., 96. 1093 Ebd. 1094 Vgl. Auflistung unter Kapitel 1.2.

Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog

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Die Analyse der exemplarischen Theaterprojekte des Theaters Osnabrück zwischen den Jahren 2016 und 2019 hat deutlich gemacht, dass sich das Theater mit seiner Inszenierung von Religion und Religionen an einer weitgefassten Debatte von Religion, Gesellschaft und interreligiösem Dialog beteiligt. Als säkulares Medium der Gesellschaft fungiert das Theater zum einen als eigenständige Kulturinstitution, zum anderen zeigen die Projekte auch ein deutliches Interesse, sich auch in die Vermittlungsprozesse von Religionen und Gesellschaft einzubringen. Die unterschiedlichen Inszenierungen zeigen dabei eine vielfältige Auseinandersetzung mit religiösen Motiven (z. B. Schöpfung, eine bessere Welt, Heiligkeit) und theologischen Fragestellungen (z. B. Menschenbild, Toleranz, Umgang mit Differenzen). Es gelingt dem Theater diese Stoffe so zu verdichten, dass mit Mythos, Utopie und Irritation neue Perspektiven auf das Religiöse offengelegt werden. Das Theater zeigt sich dabei als differenz-sensibles Medium. Die Darstellung der Religion erfolgt stets im Plural. Die einzelnen Inszenierungen selbst leben von Differenzerfahrungen, Spannungen und Ambivalenzen. In »Das Ebenbild« wird der Dualismus von Glauben und Vernunft, von Mythos und Religion entfaltet, das »Urban Prayers«-Projekt erzählt von der produktiven Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit und in »San Paolo« wird mit Paulus die Zerrissenheit eines religiösen Menschen zwischen Anpassung und Widerstand gezeigt. Die thematische Konzeption der Theaterprojekte bietet eine hermeneutische Grundlage für Fragestellungen im Bereich des interreligiösen Dialogs. Das selbst formulierte Anliegen des Osnabrücker Theaters sowie diese inhaltliche Anschlussfähigkeit machen es möglich, das Theater als dritte Instanz auch in religiösen Dialogkonstellationen einzubinden. Die Theorie der Komparativen Theologie stellt dazu, wie gezeigt wurde, das formale Gerüst bereit. Es scheint daher legitim, das Theater in den interreligiösen Dialog miteinzubeziehen.

4.3.1 Beobachtungen Gleichsam stellt das Theater durch die Darstellungen von Religion eine Herausforderung für den interreligiösen Diskurs dar. Das Theater inszeniert religiöse Differenzen mehrdimensional, sowohl interreligiös und intrareligiös als auch zwischen den Religionen und säkularer Gesellschaft. Dabei sind drei Beobachtungen in den einzelnen Analysen zentral geworden: 1) Das Theater unterscheidet in Darstellung und Inszenierung nicht zwischen den Religionen und unterschiedlichen religiösen Traditionen. Die Religionen werden nicht als verschiedene partikulare Gruppen, sondern als die Religiösen wahrgenommen. Mit dieser wichtigen Verschiebung verbindet sich zum einen die Betonung des Kollektivs und zum anderen die Wahrnehmung des

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

Religiösen in einer direkten subjektiven Gestalt, die als Ansprechpartner oder Ansprechpartnerin fungiert. Dies wird bei dem Stück »Nach Babel und noch weiter« durch die Inszenierung als kollektiver Chor der Gläubigen eindrücklich gezeigt. Es wird darin eine veränderte Perspektive auf die Religionen bereitgestellt, die klassischerweise der Struktur einer interreligiösen Auseinandersetzung widerspricht. In den Inszenierungen des Theaters sind es nicht die verschiedenen Religionen, die sich gegenüberstehen, sondern die Religiösen und die Nicht-Religiösen. Es sind die Religionen, die auf der Bühne einem nicht-religiösen Publikum und als Kollektiv einer säkularen Gesellschaft gegenübergestellt werden. 2) Das Theater adressiert durch seine gezielte Bearbeitung Erwartungen an die Religionen. Aus seiner strukturellen Neutralität heraus präsentiert das Theater Themen, die aus seiner Sicht für das Zusammenspiel von Religion und Gesellschaft relevant sind und von religiöser Seite bearbeitet werden sollten. Diese Themen sind mit der Frage nach einer überempirischen Wahrheit im Mythos, einem verändernden Geist der Utopie und der heilsamen Irritation per se so formuliert, dass sie aus Sicht des Theaters nur religionsübergreifend angegangen werden können und sollen. Religiöse Unterschiede, die sich bei der jeweiligen Auseinandersetzung ergeben, sind dabei nicht nur von vornherein mit eingerechnet und in den unterschiedlichen Inszenierungen bereits sichtbar gemacht, sondern stellen gerade den Motor für Kreativität und Produktivität dar. Es wird hier deutlich, dass es nicht allein Sache der Theologie sein darf, festzulegen, welche Fragen und Themen es wert sind im interreligiösen Gespräch diskutiert zu werden. Viele Themen lassen sich etwa nicht in der Abgrenzung zwischen den einzelnen Religionen behandeln, sondern bedürfen einem geöffneten Diskurs, in den auch säkulare Gesprächspartner miteinbezogen werden. Das stellt nicht nur eine Bereicherung für den interreligiösen Dialog dar, sondern erfüllt die Funktion einer dritten Instanz. 3) Das Theater nimmt durch diese eigenständigen Impulse selbst die Rolle eines kooperativen Übersetzers zwischen Gesellschaft und Religion im Sinne Habermas’ ein und legitimiert so zunächst grundsätzlich den Nutzen der Religionen für gesellschaftliche Dialog- und Demokratieprozesse. Gerade die Übersetzungsleistung wird anhand der Inszenierungen eindrucksvoll veranschaulicht. Die religiösen Differenzen, wie sie die unterschiedlichen Theaterprojekte thematisieren, werden durch das Theater als unabhängiger Akteur zunächst erkennbar gemacht und als Diskursangebot zur Verfügung gestellt. Die Arbeit des Theaters stellt damit einen wichtigen Zwischenschritt dar, im Zuge dessen die religiösen Inhalte neutralisiert und so auch für säkulare Rezipienten als Teil eines künstlerischen Produkts zugänglich gemacht werden. In dieser Rolle gelingt es dem Theater durch die autonome und

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Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog

künstlerische Auseinandersetzung eigenständige Impulse zu setzen und diese Inhalte mittels der performativen Erfahrung intensiv und anschaulich zu vermitteln. Gerade die Auseinandersetzung mit religiösen Differenzen scheint hier vielversprechend, da diese sowohl als Bestandteil der Religionen das Differenzbewusstsein fördern als auch differenzhermeneutische Perspektiven auf den Dialog stark machen. Die Betrachtung der Theaterprojekte hat einen Kreislauf erkennbar werden lassen, bei dem sowohl die säkulare Gesellschaft mit ihren kulturellen Institutionen, wie dem Theater, als auch die Religionsgemeinschaften profitieren und sich gegenseitig motivieren.

Religionen fördern Differenzbewusstsein

Differenzhermeneu!sche Perspek"ve auf den Dialog

Theater inszeniert religiöse Differenzen

Abbildung 6: Produktivität der Differenzen

So sind es die Religionen, die in der Gesellschaft ein Bewusstsein für Differenzen einbringen. Das Theater als säkulares und differenzsensibles Medium greift dieses Potenzial auf und trägt dazu bei, religiöse Stoffe säkular zu besetzen, indem es in den Inszenierungen gerade die Differenzerfahrungen vermittelt. Der interreligiöse Dialog wiederum kann durch diese differenzhermeneutische Perspektive des Theaters inspiriert und vorangebracht werden. Die positiven Erfahrungen, die im interreligiösen Diskurs entstehen, wirken sich dann schließlich auch auf den gesellschaftlichen Dialog aus.

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Das Theater als Herausforderung – Theologische Auswertung

4.3.2 Herausforderungen Durch diese Arbeiten des Theaters werden die klassischen Strukturen interreligiöser Dialogtheorien und auch die Theologien selbst zu einem Perspektivwechsel herausgefordert. Zunächst zeigt das Theater beispielhaft seine Kompetenz bei der Darstellung des Anderen und im Management von Differenzerfahrungen, von denen auch die Theorie des interreligiösen Dialogs profitieren kann. Vor allem die Performativität der theatralen Erlebnissituation kann einen neuen Fokus auf die Dialogsituation als zwischenmenschliche Erfahrung setzen. Eine formale Diskussion über die Bedeutung von Intersubjektivität und der leiblichen Begegnung erscheint auch für die Theorie des interreligiösen Dialogs lohnenswert. Die Analysen haben nicht nur gezeigt, dass konstruktive Impulse von außen ernst genommen werden können, sondern dass die Religionen selbst ernst genommen werden, indem ihnen eine gemeinsame Verantwortung angetragen wird. Es wird erwartet, dass sie trotz und aufgrund ihrer Unterschiede und Differenzen gesellschaftliches Zusammenleben gestalten. Sie müssten, so lässt sich zwischen den Zeilen der Inszenierungen lesen, ihre Anstrengungen weniger auf interne Differenzbewältigung verwenden, sondern vielmehr auf gesellschaftliches Engagement. Die Religionsgemeinschaften könnten sich so solidarisieren. Eine interne Solidarität zwischen den Gläubigen könnte dann auch auf die Beziehung zur Gesellschaft abfärben. Mit der Fremdheit zwischen den Dialogpartnern geht selbstverständlich auch Irritation einher, hier ist die Gefahr dann besonders groß, von vornherein als Gesprächspartner disqualifiziert zu werden. Auch hierin steckt aber ein Potenzial: Die Fremdheit zwischen den Religionen kann in der interreligiösen Begegnung als Lernfeld für die eigene Rolle in Bezug auf die Gesellschaft verstanden werden. Wer durch den Anders-Gläubigen bereits herausgefordert wird, kann diese Erfahrungen auch im Kontext der eigenen Lebenswelt, in der er oder sie als fremd von der Gesellschaft wahrgenommen wird, einbringen. Dies hat für die Zukunft eine Verschiebung der »Baustellen« zur Folge, wenn es um das Verhältnis der Religionen geht. Aus der gesellschaftlichen Perspektive ist die Wahrnehmung der Religion im Plural längst alltäglich geworden. Um darauf zu reagieren, müssten sich die Religionsgemeinschaften auf diese andere, diese säkulare Perspektive, einlassen. Sie müssten bereit sein, sich nicht mehr nur unter ihresgleichen zu verantworten, sondern auch gegenüber säkularen Ansprüchen. Dies kann dann auch bedeuten, den Dialog bewusst für Gesprächspartner aus kulturellen und städtischen Bereichen zu öffnen. So, wie es für viele Theologinnen und Theologen z. B. im Bereich der Komparativen Theologie selbstverständlich ist, sich in mehr als einer religiösen Tradition zu beheimaten, so muss es ebenso selbstverständlich sein, dass Mitglieder religiöser

Theater als Herausforderung für den interreligiösen Dialog

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Gemeinden auch in ihrer jeweiligen Gesellschaft beheimatet sind. Damit geht einher, dass Isolation keine und Integration die einzige Option für das gemeinsame gesellschaftliche Leben darstellt. Nur so können die Religionen überhaupt im Dialog mit der Gesellschaft Gesprächspartner bleiben. Zusätzlich zu einer Öffnung des Dialogs für nicht-religiöse Gesprächspartner müssen auch neue und andere Themen aufgegriffen werden. So kann eine Öffnung hin zu anderen Themen auch den interreligiösen Austausch neu befruchten. Um sich auf andere Themen einzulassen und sich die angetragenen Aufgaben zu eigen zu machen, müsste darüber hinaus ein interner Reflexionsprozess angestoßen werden. Die Antworten auf Fragen, wie nach dem mythologischen Kern der Religionen, einer religiösen Hoffnung, und dem Potenzial einer produktiven Irritation, können letztlich nur religionsintern, aus der jeweiligen Glaubenstradition heraus gefunden werden. Diese Prozesse zu initiieren und im Hinblick auf die gestellten Anforderungen hin zu konzentrieren, wird zukünftig eine wichtige Aufgabe für die Religionsgemeinschaften darstellen. Vielleicht liegt die eigentliche Herausforderung für den interreligiösen Dialog gerade in dem Vertrauensvorschuss, den das Theater den Religionsgemeinschaften entgegenbringt: Es ist nun an den Gläubigen ihre Stimme zu erheben, die Bühne dafür scheint bereit.

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Internetquellen

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Süddeutsche.de – Themenseite Pegida. URL: https://www.sueddeutsche.de/thema/Pegida (2. 06. 2020). Sydney Corbett. URL: https://www.sidneycorbett.com/de/biography/ (16. 11. 2018). TAZ – Reiber, Vanessa: Der Konflikt bleibt brüllend ungelöst. Veröffentlicht am 17. 2. 2017. URL: https://taz.de/!5385007/ (9. 11. 2018). – Schönherr, Harff-Peter: Paolo ist nervös. Veröffentlicht am 2. 5. 2018. URL: http://www. taz.de/!5499503/ (19. 11. 2018). Theater Osnabrück – Spielriebe 8: Route Rot. URL: https://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spieltriebe -8/route-rot.html (27. 09. 2019). – Die Menschenfabrik. URL: https://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandet ail.html?stid=703 (27. 08. 2019). – Ralf Waldschmidt. URL: https://www.theater-osnabrueck.de/ensemble/theaterleitung -und-mitarbeiter/theaterleitung/ralf-waldschmidt.html (16. 11. 2018). – Nathan der Weise. URL: https://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail. html?stid=165. (16. 11. 2018). – Auftaktveranstaltung Stadtprojekt Nathan. URL: https://www.theater-osnabrueck.de /spielplan/spielplandetail.html?stid=251&auid=159226 (16. 11. 2018). ZEIT.de – Schwarze, Till: Die Phantomdebatte. Veröffentlicht am 29. 9. 2015. URL: https://www.zei t.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-09/fluechtlingskrise-religion-trennung-fluchtling sunterkunft-debatte/komplettansicht?action=report&pid=5304404&page=3 (29. 07. 2020).

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6:

Rezeptionsstrategien des Anderen im Theater Vernetzte Motive im Musiktheater »Das Ebenbild« »The Tripartite Scheme« »Das Ebenbild« als Mythos Interreligiöser Dialog und Utopie in Beziehung Produktivität der Differenzen

48 122 221 243 275 295

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Übersicht über direkte Textverweise in dem Musiktheater »Das Ebenbild« Tabelle 2: Szeneneinteilung und biblischer Paulus

107f. 189ff.