Instrumente unternehmenspolitischer Steuerung: Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung [Reprint 2019 ed.] 9783110844658, 9783110084795

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Instrumente unternehmenspolitischer Steuerung: Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung [Reprint 2019 ed.]
 9783110844658, 9783110084795

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Gedankenflußplan
Einleitung: Problem und Methode
1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen
2. Die Unternehmung als Gegenstand politikwissenschaftlicher Analyse
3. Unternehmenspolitische Steuerung durch Unternehmensverfassung
4. Unternehmenspolitische Steuerung durch formale Organisation
5. Unternehmenspolitische Steuerung durch personale Gestaltung
Schluß: Ergebnisse und Folgerungen
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Darstellungen
Sachregister

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Remer • Instrumente unternehmenspolitischer Steuerung

Andreas Remer

Instrumente unternehmenspolitischer Steuerung Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York • 1982

Dr. rer. pol. Andreas Remer, Privatdozent im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Essen Mit 41 Abbildungen

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Remer, Andreas: Instrumente unternehmenspolitischer Steuerung: Unternehmensverfassung, formale Organisation u. personale Gestaltung / Andreas Remer. Berlin ; New York : de Gruyter, 1982. ISBN 3-11-008479-1

© Copyright 1982 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Tübner, Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Georg Wagner, Nördlingen. - Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin.

Vorwort

Die Lehre von der Unternehmensführung ist seit einiger Zeit sichtbar um ein systematisches und breites wissenschaftliches Fundament bemüht. Dieses kann, wie längst deutlich geworden ist, von einer identitätsbewußten Betriebswirtschaftslehre allein nicht bereit gestellt werden. Besonders, seitdem Unternehmungen zunehmend als soziale Systeme begriffen werden, ist die traditionelle betriebswirtschaftliche Sichtweite durch Begriffe, Theorien und letztlich wohl auch Normen aus verschiedenen Sozialwissenschaften ergänzt worden. In diesem Sinne will auch die vorliegende Arbeit nur als ein Teilschritt in Richtung auf ein umfassendes Verständnis von der Unternehmensführung als Steuerung sozialer Systeme verstanden sein. Zunächst geht es darum, das etwas zu mechanisch und geschlossen anmutende betriebswirtschaftliche Verständnis von Unternehmenspolitik zu erweitern durch ein problemsensibleres und offeneres Konzept. Hierzu soll Unternehmenspolitik insbesondere nicht statisch im Sinne vorgegebener oder faktischer Ziele des Unternehmensgeschehens begriffen werden, sondern als politischer sozialer Prozeß, an dem eine Vielzahl von Individuen mit den unterschiedlichsten Möglichkeiten und Absichten partizipiert. An die Stelle des Bildes von Unternehmensführung als einseitiger Durchsetzung bestimmter Zielvorstellungen rückt dann ein Konzept von unternehmenspolitischer Steuerung als problematischer Versuch, das Partizipationsgeschehen im Unternehmen planmäßig und gezielt zu beeinflussen. Deshalb werden Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung hier auch nicht als Instrumente »der Unternehmensführung«, sondern als Instrumente unternehmenspolitischer Steuerung bezeichnet, deren Bedeutung, Verfügbarkeit und Tauglichkeit für die Beteiligten und Betroffenen sehr unbestimmt ist. Die Funktionen und Folgen dieser Instrumente für den Partizipationsprozeß werden macht-, motivations- und entscheidungstheoretisch analysiert. Die Art der Problemsicht, ihre Behandlung und die Ergebnisse der Untersuchung mögen der Unternehmensführungslehre insofern dienlich sein, als sie den Leistungsbereich und die Leistungskraft der drei behandelten Steuerungsinstrumente in sehr grundsätzlicher und distanzierter Weise zu charakterisieren und abzustecken versuchen. Sie wollen ihre z. T. versteckte Brisanz und gleichzeitige funktionale Mangelhaftigkeit, ihre Bedingtheit und gegenseitige Verwiesenheit sowie die Grenzen und Gefahren ihrer allzu mechanischen und positivistischen Anwendung hervorheben. Dahinter steht

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auch die hier nicht ausdrücklich behandelte Frage, ob nicht überhaupt das Unternehmensgeschehen ganz anderen, fundamentaleren und stärkeren Kräften als denen der instrumentellen Steuerung unterliegt und sich somit die heutige Vorstellung von Untemehmensführung auf die Dauer als viel zu begrenzt und entwicklungshemmend erweisen könnte. Die Arbeit wurde wesentlich gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wofür ich mich an dieser Stelle sehr bedanken möchte. Ebenso gilt mein Dank Prof. Dr. Rolf Wunderer, der mich während der vergangenen Jahre ständig in mitfühlender Weise unterstützt hat. Auch bin ich allen Kollegen, die mir mit Anregungen und Kritik geholfen haben, und nicht zuletzt Fräulein Evi Stempfle für die Anfertigung der Darstellungen sowie Frau Margot Meutsch und Frau Wilma Schilm für ihren Einsatz bei den mühevollen Schreibarbeiten zu Dank verpflichtet. Essen, im September 1981

Andreas Remer

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Problem und Methode 1. Kapitel: Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.2.1 1.3.2.2 1.3.2.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.2.1 1.4.2.2 1.4.3 1.4.4 1.5

Soziale Systeme Politikbegriff Systempolitik Begriff der Systempolitik Systempolitik als Partizipationsprozeß Partizipation als Grundbegriff der Systempolitik Partizipation und Macht Partizipation und individuelle Orientierung Politische Differenzierung Differenzierung als politikwissenschaftlicher Begriff Politisches Handlungspotential Begriff und Kriterien des politischen Handlungspotentials . . Macht als Grundlage des politischen Handlungspotentials . . Politische Differenzierung als Zustand Politische Differenzierung als Prozeß Zusammenfassung des Analyserahmens

2. Kapitel: Die Unternehmung als Gegenstand politikwissenschaftlicher Analyse 2.1 2.2 2.3

Betriebswirtschaftlicher Begriff der Unternehmenspolitik . . Neuere Ansätze zur Theorie der Unternehmung Ansätze zu einer politikwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung 2.3.1 Unternehmenspolitik als Prozeß 2.3.2 Unternehmenspolitik als Handlungssystem 2.3.3 Unternehmenspolitik und Entscheidungsprozeß 2.4 Elemente und Bedingungen des unternehmenspolitischen Prozesses 2.4.1 Politische Differenzierung im Unternehmen 2.4.1.1 Machtmittel im Unternehmen 2.4.1.2 Zum Prozeß der Machtdifferenzierung im Unternehmen . . 2.4.2 Politische Motivation im Unternehmen

8

2.4.3 2.5

Inhaltsverzeichnis

Individuelle Orientierung im Unternehmen Zwecke und Mittel unternehmenspolitischer Steuerung

. . .

3. Kapitel: Unternehmenspolitische Steuerung durch Unternehmensverfassung 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.2.3 3.2.3.1 3.2.3.2 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5

Unternehmensverfassung Allgemeiner Verfassungsbegriff Objektbereich der Unternehmensverfassung Unternehmenspolitischer Zweckbezug der Unternehmens Verfassung Ordnungsvorstellungen und Ordnungselemente der Unternehmensverfassung Unternehmensverfassung und politisches Handlungspotential Zur Machtproblematik der Unternehmensverfassung Verteilung politischer Handlungspotentiale auf Organe des Unternehmens Verteilung konkreter politischer Handlungspotentiale auf Organe des Unternehmens Verteilung abstrakter politischer Handlungspotentiale auf Organe des Unternehmens Einflußrelationen der aktienrechtlichen Unternehmensorgane Verteilung politischer Handlungspotentiale auf Personen in Unternehmensorganen Zur Dynamik der Machtdifferenzierung in sozialen Gruppen Beispiele unkontrollierter Machtdifferenzierung im verfaßten Unternehmen Zwischenergebnis Unternehmensverfassung und politische Motivation Problemstellung Politischer Motivationsbezug der Unternehmensverfassung . Zur empirischen Evidenz des politischen Motivationsbezugs der Unternehmensverfassung Unternehmensverfassung und individuelle Orientierung . . . Problemstellung Orientierungsfunktionen und -grenzen der Unternehmensverfassung Orientierungsfolgen der Unternehmensverfassung Zusammenfassung

4. Kapitel: Unternehmenspolitische Steuerung durch formale Organisation

113 120

123 123 123 128 133 137 142 142 146 146 154 160 162 163 168 173 176 176 178 183 185 185 187 193 198

203

Inhaltsverzeichnis

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.2.1 4.4.2.2 4.4.2.3 4.4.2.4 4.4.3 4.4.3.1 4.4.3.2 4.4.4 4.5

Formale Organisation Begriff der formalen Organisation Objektbereich und Elemente formaler Organisation Unternehmenspolitischer Zweckbezug formaler Organisation Formale Organisation und politisches Handlungspotential . . Problemstellung Formale Organisation als Bedingung der Ressourcenverteilung Machtwirkungen der formalen Organisation Funktion und Macht Forschungsschwerpunkte und Forschungsergebnisse Formale Organisation und Zweckherrschaft Formale Organisation und politische Motivation Problemstellung Politischer Motivationsbezug der formalen Organisation . . Zur empirischen Evidenz des politischen Motivationsbezugs formaler Organisation Formale Organisation und individuelle Orientierung Problemstellung Formal-spezifische Rollenprogrammierung und individuelle Orientierung Orientierungsfunktionen und -grenzen geschlossener Rollenspezifikation Orientierungsfunktionen und -grenzen der Rollenformalisierung Orientierungsfolgen geschlossener Rollenspezifikation . . . . Orientierungsfolgen der Rollenformalisierung Exkurs: Organisationsbezogene Differenzierung und individuelle Orientierung Organisationsbezogene Differenzierung Orientierungsfunktionen und -folgen der organisationsbezogene Differenzierung Zwischenergebnis Zusammenfassung

5. Kapitel: Unternehmenspolitische Steuerung durch personale Gestaltung 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3

Personale Gestaltung Begriff der personalen Gestaltung Objektbereich und Elemente personaler Gestaltung Unternehmenspolitischer Zweckbezug der personalen Gestaltung

9

203 203 208 216 220 222 225 229 229 234 242 249 249 251 260 264 264 269 270 278 282 285 288 289 292 297 301 307 309 309 313 324

Inhaltsverzeichnis

10

5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.6

Personale Gestaltung und politisches Handlungspotential . . Problemstellung Personale Gestaltung als Ansatz zur Machtgestaltung . . . . Personale Machtgestaltung im Rahmen der Unternehmensverfassung Personale Machtgestaltung im Rahmen der formalen Organisation Personale Gestaltung und politische Motivation Problemstellung Personale Gestaltung als Ansatz zur politischen Motivationsgestaltung Personale Motivationsgestaltung im Rahmen von Unternehmensverfassung und formaler Organisation Zwischenergebnis Personale Gestaltung und individuelle Orientierung Problemstellung Personale Gestaltung als Ansatz zur Orientierungsgestaltung Personale Orientierungsgestaltung im Rahmen von Unternehmensverfassung und formaler Organisation Zusammenfassung

326 327 328 334 339 346 346 348 356 364 366 366 368 375 383

Schluß: Ergebnisse und Folgerungen

388

Literaturverzeichnis:

405

Verzeichnis der Darstellungen:

437

Gedankenflußplan Erster Teil

(Darstellung der Unternehmenspolitik als Prozeß) 1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen 2.

Die Unternehmung als Gegenstand politikwissenschaftlicher Analyse

2.4 Elemente und Bedingungen des unternehmenspolitischen Prozesses

2.4.1 Politische Differenzierung im Unternehmen

Machtressourcen und Machtmittel

2.4.2 Politische Motivation im Unternehmen

Erwartungen und Valenzen politischer Beteiligung

2.4.3 Individuelle Orientierung im Unternehmen

kognitive und normative Grundlagen der Individualentscheidung

3.2 Unternehmensverfassung und politische Handlungspotentiale

3.3 Untemehmensverfassung und politische Motivation

3.4 Untemehmensverfassung und individuelle Orientierung

4.2 Formale Organisation und politische Handlungspotentiale

4.3 Formale Organisation und politische Motivation

4.4 Formale Organisation und individuelle Orientierung

5.2 Personale Gestaltung und politische Handlungspotentiale

5.3 Personale Gestaltung und politische Motivation

5.4 Personale Gestaltung und individuelle Orientierung

Funktionen und Folgen für die politische Motivation

Funktionen und Folgen für die individuelle Orientierung

Funktionen und Folgen für die politische Differenzierung

Instrumentalitäts analyse (Wirkung auf Partizipationsstrukturen)

3.1 Unternehmensverfassung

5.1 Personale Gestaltung

Zweäer

Teil

(Darstellung der Instrumente)

Einleitung Problem und Methode In der Betriebswirtschaftslehre wurden unter „Unternehmenspolitik" lange Zeit fast ausschließlich vorab geplante, „gegebene" Bezugspunkte des Verhaltens im Unternehmen in Form von bestimmten Werten, Oberzwecken, Strategien etc. verstanden. Variablen wie Rechtsform, Betriebsverfassung, Organisation oder Personalwesen galten diesen Bezugspunkten gegenüber eher als nachgeordnet oder indifferent. Mit dem Vordringen der Auffassung vom Unternehmen als sozialem System jedoch mußte die Vorstellung von der Unternehmenspolitik als Datum des Unternehmensgeschehens aufgegeben werden. Die Theorie der Unternehmensführung beginnt neuerdings systematisch die Frage nach der „richtigen" oder „guten" Unternehmenspolitik zu ergänzen durch die Frage, wie überhaupt verbindliche Bezugspunkte des Verhaltens im Unternehmen zustande kommen, wovon es abhängt, in Richtung auf welche und wessen Bedürfnisse sich das Entscheidungsgeschehen bewegt, kurz: wie eine »Unternehmenspolitik« entsteht. Prominente Beispiele hierfür waren in der Vergangenheit etwa die Anreiz/BeitragsTheorie oder die Koalitionstheorie von Barnard bzw. Cyert und March. Bei der Herausbildung von generellen Richtungstendenzen im unternehmensbezogenen Entscheidungsgeschehen (Unternehmenspolitik) erweisen sich verschiedene, bisher als abhängig oder irrelevant betrachtete Variablen nun als (mehr oder weniger gut kontrollierbare) Einflußgrößen. Dieser Gedanke wird bereits seit einiger Zeit auf dem Gebiet der Organisationslehre verfolgt und ansatzweise auch auf relativ neuen Gebieten wie Unternehmensverfassung und Personalwesen. Worum es hier geht, ist die kritische Analyse des Potentials jener drei Gestaltungsbereiche als Ansatzpunkte einer gezielten Beeinflussung (Steuerung) der Unternehmenspolitik. Andere denkbare Steuerungsansätze wie z. B. Investitions- und Budgetkontrolle, Standortwahl, Gestaltung des Arbeitskampfrechts, kurzfristige Techniken der Menschenführung und technische Gestaltungsmaßnahmen, die zweifellos ebenfalls ins Thema fallen könnten, müssen dabei dem im Rahmen einer solchen Untersuchung stets vorhandenen Selektionszwang geopfert werden. Unter Gesichtspunkten wie vermutete Reichweite und Wirksamkeit, Unmittelbarkeit des unternehmenspolitischen Bezugs oder praktische Handhabbarkeit und Popularität erscheint es besonders lohnend, Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung als Objekte einer unternehmenspolitischen Instrumentalanalyse zu wählen. Diese Instrumente werden

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Einleitung: Problem und Methode

als „strukturell" deshalb bezeichnet, weil sie nicht - wie etwa die „unmittelbare Führung" - auf spezielle (manifeste) Einflußsituationen bezogen sind, sondern auf überdauernde Voraussetzungen zukünftigen (latenten) Verhaltens. Ihr Einsatz beruht auf der Annahme, daß die permanenten (mikropolitischen) Prozesse gegenseitiger sozialer Einflußnahme schon durch vorgelagerte (makropolitische) Maßnahmen der institutionellen und sozialen Strukturierung wesentlich determiniert sind (wie z. B. die Chancen und Verhaltensweisen „formeller und informeller Führer"). Voraussetzung für die Instrumentalanalyse ist zunächst die Darstellung von „Unternehmenspolitik" als Prozeß, aus der sich mögliche Anknüpfungspunkte für die Wirksamkeit und Vergleichbarkeit der drei Steuerungsinstrumente ergeben müßten. Dieser Aufgabe widmet sich der erste Teil der Arbeit (Kapitel 1 und 2, vgl. Gedankenflußplan). In ihm wird der Versuch unternommen, Unternehmenspolitik als Partizipationsgeschehen zu beschreiben, dessen Elemente und Merkmale auf der Ebene des Individuums prinzipiell beeinflußbar erscheinen. Unternehmenspolitik ist hier der Vorgang der Auseinandersetzung einer Mehrzahl von Individuen um spezifische (unternehmensbezogene) Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung (Werteverteilung, Sinnverwirklichung u. ä.), wobei es besonders um die gegenseitige Verbindllchmachung von entsprechenden Entscheidungen geht. Wessen Entscheidungen Verbindlichkeit erlangen, ist vor allem eine Frage der Machtverteilung (politische Differenzierung) und der Bereitschaft zum Machteinsatz (politische Motivation). Welche Entscheidungen im Einzelfall getroffen und realisiert werden, hängt demgegenüber von den normativen und kognitiven Entscheidungsgrundlagen (individuelle Orientierungen) der beteiligten Entscheidungssubjekte ab. Das analytische Grundgerüst dieses Ansatzes ist zwar keineswegs hinreichend für die Erklärung, Prognose und Gestaltung spezifischer unternehmenspolitischer Prozesse und Ergebnisse. Es liefert aber Grundlagen für eine Behandlung des Problems, wessen und welche Bedürfnisse, Ziele, Sinn- und Wertvorstellungen etc. im Entscheidungsgeschehen einer Unternehmung letztlich Berücksichtigung finden. Eine gezielte Beeinflussung der Unternehmenspolitik hätte danach bei obigen individuellen Partizipationsgrundlagen der Beteiligten bzw. Betroffenen und bei den Determinanten dieser Grundlagen anzusetzen. Hier kann es jedoch nicht unternommen werden, den gesamten Determinantenrahmen, die sonstigen denkbaren situativen Einflüsse und die innere Dynamik unternehmenspolitischer Prozesse umfassend und detailliert zu untersuchen. Statt dessen nimmt sich die Arbeit im zweiten Teil (Kapitel 3, 4 und 5) mit den drei genannten Einflußfaktoren einen relativ engen Ausschnitt aus den tatsächlichen Bedingungen vor und bleibt außerdem auf der Ebene des Individualverhaltens, also im Vorfeld des politischen Prozesses (vgl. Gedankenflußplan).

Einleitung: Problem und Methode

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Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung nur insoweit als Instrumente unternehmenspolitischer Steuerung in Frage kommen, wie mit ihnen gezielt individuelle Partizipationsgrundlagen beeinflußt werden können. Freilich wird damit nur eine notwendige und keineswegs hinreichende Bedingung zur Steuerung der Unternehmenspolitik angesprochen. Die Arbeit versucht also nicht, Punkt-zu-Punkt-Verbindungen zwischen den spezifischen Instrumenten und bestimmten unternehmenspolitischen Prozessen oder Endresultaten herzustellen. Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung werden weitgehend analytisch-isolierend und abstrakt-verallgemeinernd danach untersucht, wie sie idealtypisch und ceteris paribus auf das Partizipationsverhalten, oder genauer: auf dessen individuellen Grundlagen im Unternehmen wirken. Positive Aussagen über ihre konkreten Auswirkungen auf die Unternehmenspolitik insgesamt können auf dieser Basis allerdings kaum erwartet werden, weil dies die Berücksichtigung einer zu großen Fülle von weiteren Bedingungen, Situationsvariablen und sozialen Zusammenhängen sowie die Heranziehung (bislang nur ansatzweise vorhandener) empirischer Informationen verlangen würde. So beschränkt sich die Arbeit auf eine Charakterisierung und kritische Analyse der prinzipiellen Funktionen und Folgen der drei Ansätze in bezug auf die Gestaltung individueller Partizipationsgrundlagen des unternehmenspolitischen Prozesses. Sie muß sich vielleicht den Vorwurf gefallen lassen, keine Antwort auf die zentrale Frage geben zu können, inwieweit die drei Instrumente jeweils zur gezielten Beeinflussung des unternehmenspolitischen Geschehens taugen. Denn die Einflüsse eines Instrumentes auf das (vereinzelte) Individuum werden ja u. U . im sozialen Prozeß bis zur Unkenntlichkeit und Unbedeutsamkeit entstellt. Dieser Einwand würde jedoch zugleich bedeuten, daß sich mithin die typischen unternehmenspolitischen Einflüsse der Instrumente auch nicht auf der sozialen Prozeßebene sondern nur auf der Individualebene sinnvoll analysieren und diskutieren lassen. Eine unmittelbare, nicht über den „Umweg" des individuellen Verhaltens laufende Beziehung zwischen einem Instrument und dem sozialen Prozeß ließe sich - wenn überhaupt noch - nur unter Verzicht auf das (aussichtslose) Verfahren der analytischen Prozeßerklärung (dann durch statistische Korrelation, „Verstehen" oder „Deutung") herstellen. Der obige Vorwurf richtet sich also letztlich gegen die analytische Erklärung und Prognose als Zugang zu komplexen sozialen Prozessen. Die in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik am sog. „Reduktionismus" in den Sozialwissenschaften (z. B. Braun, 1977; Spinner, 1973) erscheint hier aber kaum relevant, da der dem „methodologischen Individualismus" (Schanz, 1975; Opp 1970) nahestehende Ansatz keineswegs den Anspruch impliziert, soziale Prozesse als „Summe" induzierten Individualverhaltens zu erklären.

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Einleitung: Problem und Methode

Die kritische Instrumentenanalyse muß die Bedeutung des individuellen Verhaltens für das soziale Geschehen lediglich in der Weise voraussetzen, daß die planmäßige Beeinflussung des vereinzelten Verhaltens zwar nicht hinreichend aber doch notwendig ist, um noch von einer planmäßigen oder gezielten Beeinflussung des unternehmenspolitischen Geschehens mittels der behandelten Instrumente sprechen zu können. Mögliche Schwächen der Instrumente auf der individuellen Ebene werden zweifellos auf der sozialen Ebene (bei Interaktion und Kommunikation) „ausgenutzt". Solche, im Hinblick auf das soziale Geschehen relevanten Schwächen aufzuzeigen, ist ein Hauptanliegen der bei den individuellen Verhaltenswirkungen ansetzenden Untersuchung. Zunächst wird damit also vor allem auf die logische „Falsifikation" der den behandelten Instrumenten explizit oder implizit zugrundeliegenden Theorien (d. h. ihrer „Möglichkeiten") abgehoben. Sodann soll die Kritik aber nicht im destruktiven Sinne verstanden werden, sondern Anhaltspunkte für Verbesserungen und (gegenseitige) Ergänzungsnotwendigkeiten von Unternehmensverfassung, formaler Organisation und personaler Gestaltung liefern. Beim individuellen Partizipationsverhalten sollen der Machtgebrauch (Machtmittel und Motivation zum Machteinsatz) und die inhaltliche Entscheidungsorientierung (normativ und kognitiv) als kennzeichnende Verhaltenselemente vor allem aus zwei Gründen hervorgehoben werden. Zum einen gelingt es mittels dieser beiden Elementarbegriffe bzw. ihrer Merkmale relativ gut, ein abstraktes „unternehmenspolitisches Anforderungsprofil" für die Instrumente zu gewinnen, d. h. die vielfältigen und zunächst unvergleichbar erscheinenden Leistungen der drei Instrumente auf gleichnamige Nenner zu bringen und sie dadurch überhaupt erst kompakt vergleichbar zu machen. Zum anderen zeigt ein Blick in die neuere verhaltenswissenschaftliche Theorie der Gesellschaft wie auch der Unternehmung, daß dort „Macht" und „Entscheidung" in der Tat grundlegende Bedeutung als Erklärungsbegriffe bzw. Paradigmen im Zusammenhang mit der Erforschung politischen Geschehens besitzen. Wenn hier von Unternehmensverfassung, formaler Organisation und personaler Gestaltung als unternehmenspolitische Instrumente die Rede ist, so wird damit keineswegs verkannt, daß jedes dieser Instrumente in unzähligen Erscheinungsformen und konkreten Absichten Anwendung finden kann. Auch fällt es sicher nicht immer leicht, die Grenzen zwischen dem einen oder anderen Instrument (insbesondere Verfassung und Organisation) zu identifizieren und aufrecht zu erhalten. Spricht dies also zunächst gegen eine generalisierende Betrachtung der Instrumente, so läßt sich andererseits ins Feld führen, daß man es sprachgeschichtlich doch mit unterschiedlichen Begriffen zu tun hat und deshalb eine Rekonstruktion des jeweiligen, von zufälligen Erscheinungsformen und Absichten losgelösten, instrumentellen

Einleitung: Problem und Methode

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„Idealtypus" möglich sein muß. Abgesehen davon, daß ein Vergleich der drei Instrumente überhaupt nur sinnvoll erscheint, wenn man sie auf diese Weise auf den Begriff gebracht hat, liegt hier auch ein arbeitstechnischer Zwang vor, denn die Untersuchung kann einfach nicht allen Unterfällen und jeder spezifischen Ausprägung der drei Instrumente nachspüren. Deshalb werden sie unter Anwendung eines standardisierten Beschreibungsmusters auf besonders wichtige Unterscheidungskriterien komprimiert. Im einzelnen werden jeweils der Objektbereich und die Elemente sowie der mögliche unternehmenspolitische Zweckbezug der drei Instrumente herausgearbeitet. Dabei zeichnen sich bereits grobe Schwerpunkte und Einschränkungen ihrer Leistung ab. Sodann wird jeder Ansatz im einzelnen daraufhin geprüft, was er beabsichtigt (Funktionen) oder unbeabsichtigt (Folgen) zur Strukturierung von Macht, politischer Motivation und individueller Orientierung im sozialen System Unternehmung beiträgt. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt bei diesen Einzelbeurteilungen. Bei der abschließenden Würdigung sollen aber auch einige typische Unterschiede und Beziehungen zwischen den drei Ansätzen als unternehmenspolitische Steuerungsinstrumente skizziert werden, die ebenfalls von Bedeutung für die praktische Anwendung des dargestellten unternehmenspolitischen Instrumentariums und für dessen weitere Erforschung sind. Zum Schluß dieser Vorbemerkungen erscheint noch ein Wort zum Wertund Programmhintergrund der vorliegenden Untersuchung angebracht. Unzweifelhaft besitzt sie bereits in der Wahl ihres Problems eine Wertbasis (Albert 1972, S. 189). Schon die Auswahl der zu untersuchenden Instrumente und um so mehr natürlich das zugrunde liegende Bezugsproblem und die Art seiner Darstellung weisen auf ein persönliches Forschungsinteresse hin. Es soll hier die Frage der Gültigkeit des Bezugsproblems zwar nicht im einzelnen diskutiert, aber doch wenigstens in einigen Aspekten beleuchtet werden. Wenn man die These akzeptiert, daß gesellschaftliche Institutionen in ihrer jeweiligen manifesten „Politik" (wirksame Leitideen, Bewegungsrichtungen, Streben etc.) nicht „natürlich" vorausbestimmt sondern zumindest teilweise undeterminiert, geistesbestimmt (Scheler, 1947; Gehlen, 1961) und interessenkonstituiert (Willms, 1970) sind, so hat die Theorie der Unternehmung dem Praktiker auch Erklärungen für das Entstehen und den Wandel von Unternehmenspolitik anzubieten. Das würde sie z. B. von der praktischnormativen Betriebswirtschaftslehre unterscheiden. Wer als Praktiker (Eigentümer, Arbeitnehmer, Manager, Kunde, Staatsorgan etc.) gezielt Einfluß auf das tatsächliche Wirtschafts- und Unternehmensgeschehen zu nehmen trachtet, kommt an einer Beschäftigung mit dem Macht- und Entscheidungsverhalten bzw. dessen Einflüssen nicht vorbei. Dementsprechend ist das hier zugrunde liegende wissenschaftliche Interesse an jenen Verhaltenselementen

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Einleitung: Problem und Methode

praktisch begründbar. Es beruht auf der Uberzeugung, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Genese von „Unternehmenspolitik" dem Praktiker generell nützt, weil sie einige von der Betriebswirtschaftslehre noch zu wenig berücksichtigte Voraussetzungen der Unternehmensführung im sozialen Kontext erhellt. Eine weitere Frage wäre es, ob die Untersuchung ganz bestimmten gesellschaftlichen Interessen oder Gruppen dienen soll oder faktisch dient. Zunächst könnte man davon ausgehen, daß die Erläuterung unternehmenspolitischer Verhaltensgrundlagen jedem Interesse und jeder Gruppe dienlich sein kann. Es werden hier außerdem bewußt keine Empfehlungen für eine „richtige" oder „ideale" Unternehmenspolitik ausgesprochen. So gesehen wären die Aussagen zur Unternehmenspolitik werturteilsfrei. Sieht man die Ausführungen jedoch vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Situationen, so drängen sich u. U. andere Schlüsse auf. In einer bestimmten Gesellschaft sind die verschiedenen Mitglieder an der wissenschaftlichen Thematisierung spezieller Teilprobleme vielleicht ganz unterschiedlich interessiert, und es kann auch nicht behauptet werden, daß alle Gruppen bzw. Interessen aus den hier angestrebten Erkenntnissen den gleichen Nutzen ziehen. Dies hängt u. a. von den unterschiedlichen Aneignungs- und Verwendungschancen ab, die ihrerseits von zahllosen Faktoren beeinflußt sind. Versteht man aber die Untersuchung lediglich als notwendigen, wenn auch nicht hinreichenden Beitrag zur breiten unternehmenspolitischen Aufklärung, so ließe sich in ihr durchaus (aber nicht zwangsläufig) eine pluralistisch-demokratische Wertorientierung entdecken. Obiger Gedankengang wiederholt sich im Prinzip bei der Frage nach dem Wertbezug der Instrumentenanalyse. Einerseits bleibt hier bewußt unausgesprochen, an wessen und welchen Interessen, Zwecken, Bedürfnissen etc. sich Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung orientieren sollen. Andererseits ist klar, daß jedes der Instrumente heute mit bestimmten Absichten diskutiert wird und nicht jedem in gleicher Weise verfügbar ist, so daß der (wie auch immer gedachte) Nutzen der Instrumentenanalyse durch die tatsächlichen Gegebenheiten differenziert und relativiert wird. Die Charakterisierung und Würdigung der unternehmenspolitischen Instrumente beabsichtigt zwar nicht, einzelne Instrumente mit spezifischen Benutzern, Werten, Bedürfnissen, Zwecken etc. zu identifizieren, jedoch kann besonders durch die Wahl der Beispiele oftmals der Eindruck entstehen, daß jeweils aus dem Blickwinkel bestimmter Werte, Interessen und Gruppen diskutiert wird. Dies läßt sich im vorgegebenen Rahmen aus darstellungstechnischen sowie aus sprachgeschichtlichen und begriffslogischen Gründen wohl auch kaum verhindern. So kann nur versucht werden, implizite Werturteile zu vermeiden, indem exemplarische Aussagen zur Instrumentenwirkung (insbesondere zur Unternehmensverfassung) möglichst so angelegt

Einleitung: Problem und Methode

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werden, daß man sie als bloße Veranschaulichung eines für alle denkbaren Instrumentenanwender und Anwendungsabsichten geltenden generellen Prinzips erkennt. Soweit die kritische Instrumentenanalyse langfristige Chancen zu einer wirksameren unternehmenspolitischen Steuerung durch alle Beteiligten und Betroffenen bietet, könnte sie durchaus (aber eben nicht zwangsläufig) als Beitrag zur Demokratisierung und gleichzeitigen Leistungssteigerung von Unternehmungen verstanden werden.

1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen 1.1 Soziale Systeme In der modernen Betriebswirtschaftslehre wird seit längerem mit dem Begriff des sozialen Systems operiert. Die Funktion des Systembegriffs wurde ursprünglich darin gesehen, unvergleichbar erscheinende Gebilde („Systeme") vergleichbar zu machen mit dem Ziel, Erkenntnisse über bestimmte Systeme auf andere Systeme zu übertragen (Bertalanffy, 1949, S. 126; 1955, S. 2; 1969, S. 94; Beckett, 1971, S. 53). Ein Beispiel hierfür ist das Bemühen, gewisse Grundprobleme so unterschiedlicher Gebilde wie Organismen, Maschinen, Individuen, Unternehmen, Schulen oder Gesellschaften auf einheitliche (System-)Begriffe zu bringen, d. h. vergleichbar zu machen und somit einen Erkenntnistransfer zu ermöglichen. Politikwissenschaftliche Erkenntnisse beziehen sich i. d. R. auf Erfahrungsobjekte wie Staaten oder Gesellschaften; sie können von diesen nicht ohne weiteres losgelöst und auf andere Bereiche der Realität wie z. B. Unternehmungen übertragen werden. Wenn aber Begriffe verfügbar sind, mit denen die unterschiedlichen Erfahrungsobjekte der Politikwissenschaft und der Betriebswirtschaftslehre gleichermaßen erfaßt werden können, so ist eine wesentliche Voraussetzung zur politikwissenschaftlichen Betrachtung von Unternehmungen geschaffen. Zu diesem Zweck wird hier der Begriff des sozialen Systems eingeführt. 1 Seine Tauglichkeit für die Politikwissenschaft kann heute kaum noch in Abrede gestellt werden (Narr, 1972, S. 13 f., 97 ff.; Senghaas, 1968, S. 363; Luhmann, 1971b, S. 73; 1971a, S. 154 ff.; Dahl, 1970, 1 Dieser Begriff hat bereits einer Vielzahl von Autoren als Zugang zur politikwissenschaftlichen Analyse der Unternehmung gedient, vgl. insbesondere Kaufmann (1964), S. 5; Naschold (1971), S. 56 ff.; Dlugos (1974), S. 51; Grand (1970), S. 59; Senghaas (1968); andere Autoren haben in diesem Zusammenhang den Begriff der „Organisation" vorgezogen („die Unternehmung ist eine Organisation"), der zwar ebenfalls auf vielfältige reale Gebilde anwendbar ist, jedoch durch seine sprachliche Vorbelastetheit (Zweckbezug) eher von grundlegenden politischen Prozessen abzulenken scheint als auf sie hinzuführen; vgl. z. B. Simon (1957); Storing (1962), S. 99 f.; March/Simon (1967); häufig verbindet sich die Zugrundelegung des Organisationsbegriffs mit der Vorstellung eines bereits „organisierten" und vom übrigen Geschehen gewissermaßen abgetrennten politischen Systems (die Unternehmung „hat" ein politisches System), vgl. z. B. Easton (1965a und 1966); Dill (1965); Kirsch (1971, Bd. 3), S. 121 ff. Dies führt u. a. zur Überbetonung der Erhaltungsbedingungen eines politischen Systems, vgl. Narr (1972), S. 123, 126 ff.

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

S. 9 ff.). Es kommt hier vor allem darauf an, diesen Begriff so zu operationalisieren, daß er später auch für die Beschreibung der Unternehmung angemessen erscheint. Insbesondere muß gezeigt werden, daß die Unternehmung als soziales System auch i. S. der Politikwissenschaft betrachtet werden kann, d. h. ein politikwissenschaftlich relevantes Erfahrungsobjekt darstellt. In allgemeinster Weise kann ein System beschrieben werden als eine Menge von Elementen, zwischen denen spezifische Beziehungen bestehen. 2 Während bei ontologischer Betrachtung Systeme als Ganzheiten, bestehend aus Teilen, gesehen werden, findet sich in der modernen System/UmweltTheorie eine Auffassung von Systemen als Identitäten, die durch Sinnbildung konstituiert und von der Umwelt abgegrenzt werden (Luhmann, 1973, S. 55 ff., 171 ff.). Soziale Systeme haben danach als Elemente nicht Personen in ihrer Ganzheit (Luhmann, 1971a, S. 155), sondern bestehen aus sinnhaft aufeinander bezogenen Erlebnissen, Handlungen oder Handlungserwartungen (Rollen). 3 Sie werden hier deshalb als Handlungssysteme bezeichnet, was soviel bedeutet, daß die Beziehungen im sozialen System durch die Begriffe Interaktion und Handlungserwartung ausgelegt werden können (Parsons/ Shils, 1951, S. 55; Parsons, 1951, S. 3 f.). Personen mit ihren Bedürfnissen, Eigenschaften und Ansichten sind für das soziale System ein Teil der Umwelt. Deshalb können auch soziale Systeme ihre Identität bewahren, wenn die Handlungsträger wechseln. Umgekehrt kann sich aber ebenso eine Identitätsveränderung und somit ein neues soziales System ergeben, obwohl die Interaktionspartner dieselben geblieben sind (jedoch nicht der Sinnbezug ihrer Interaktionen). Von sozialen System sagt man, daß sie zweckgerichtet sind oder daß das Systemhandeln der Interaktionspartner auf irgendwelche „gemeinsamen" Zwecke und Probleme bezogen ist. Zweifellos kann man von einem sozialen System (als Identität) nur sprechen, solange den Interaktionen zumindest ein gemeinsamer Bezugspunkt zugrunde liegt. Jedoch darf diese Aussage nicht dahingehend mißverstanden werden, daß bestimmte gemeinsame Bezugspunkte dem Handeln gleichsam natürlich vorgegeben sind und es deshalb zwangsläufig zur Bildung ganz spezieller sozialer Systeme mit spezifischen („natürlichen") Zwecken kommen muß. 4 Soziale Systeme wie z. B. Gesellschaften „haben" keine Ziele, die den subjektiven Handlungsleitlinien von Individuen vergleichbar wären (Davis, 1959, S. 137 f.). Vielmehr sind es die Interaktionspartner, die ihr aufeinander bezogenes Handeln mit ZweckvorAllgemeine Systemdefinitionen finden sich z. B. bei Flechtner (1966), S. 353; Beer (1962), S. 24 f.; vgl. auch Beckett (1971), S. 31; Ackoff (1971), S. 662 ff. 3 Vgl. hierzu die Unterscheidung in konkrete und abstrakte Systeme bei Miller (1965), S. 206 ff. 4 Vgl. hierzu etwa die älteren Institutionstheorien, Spencer (1875), S. 59 ff.; Sumner (1907); Malinowski (1951), S. 147 ff.

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1.1 Soziale Systeme

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Stellungen versehen (Eisermann, 1958, S. 107 f.). Soziale Systeme sind nicht im teleologischen Sinne mit Zwecken versehen, sondern müssen laufend um „ihren" Zweckbezug besorgt sein. Besonders deutlich wird dies in der Auffassung, daß Zwecke die Funktion von Sinnvermittlung haben und einheitliches Handeln in Form sozialer Systeme (Luhmann, 1973, S. 166 ff.) oder Institutionen (Gehlen, 1961, S. 23) erst ermöglichen. Ein wichtiges Definitionsmerkmal sozialer Systeme ist es also, daß sie - im Gegensatz etwa zu biologischen Systemen und Apparaten - Spielraum bieten für Auseinandersetzungen um den Inhalt des gemeinsamen Handlungsbezugs. Damit steht die Identität sozialer Systeme grundsätzlich jederzeit zur Disposition. Für Personen, die in sozialen Systemen handeln, haben diese eine Bedeutung als Rahmenbedingung ihrer individuellen Bedürfnisbefriedigung. Sie werden evtl. daran interessiert sein, Auseinandersetzungen um den Sinn, oder konkreter: um die Zwecke und Strategien sozialer Systeme zu führen, mit dem Ziel, einen bestimmten Sinn für alle Interaktionen im sozialen System verbindlich (akzeptiert) zu machen. Dadurch erhalten soziale Systeme eine politische Dimension.5 Für diese Dimension hat sich in der Literatur der Begriff „politisches System" eingebürgert, worunter entweder ein bereits rollenmäßig ausdifferenziertes (formal organisiertes) Subsystem des sozialen Systems verstanden wird, an dem nicht mehr alle Interaktionspartner teilhaben müssen (z. B. Regierung) oder ein besonderer Handlungsaspekt, der alle Interaktionen mehr oder weniger begleitet und lediglich zu analytischen Zwecken vom allgemeinen sozialen Handeln unterschieden werden kann (Parsons, 1966, S. 71; Dahl, 1970, S. 9 ff.; Narr, 1972, S. 96 ff.; ferner Wiseman, 1966; Almond, 1956; Easton, 1953; Luhmann, 1971a, S. 154 ff.). In der Auseinandersetzung um generell verbindliche Zwecke und Strategien wird Handeln als Grundelement sozialer Systeme zu politischem Handeln. Die politische Interaktion ist dann gekennzeichnet durch das gegenseitige Streben, Entscheidungen über die sozialen Rahmenbedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung verbindlich zu machen (Buchanan, 1966, S. 27 ff.), d. h. möglichst Subjekt statt Objekt der politischen Planung (Luhmann, 1971b, S. 66 ff.; Keppler, 1975, S. 9 ff.; Scharpf, 1973, S. 167 ff.) zu sein. Als gemeinsamer Bezugspunkt des Verhaltens fungiert in Folge politischer Interaktion ein jeweils allgemein verbindlich geltender Satz von Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung. Interaktionspartner (Umwelt) sind bei diesem Prozeß nicht einfach Personen, sondern Personen als Träger von Interessen und Besitzer von politischen Handlungspotentialen. Für manche gilt Politik als entscheidende Dimension eines sozialen Systems, da durch sie die sozialen Bedingungen geschaffen, erhalten und verändert werden, vgl. z. B. Deutsch (1966), S. 153; Dahl (1970), S. 6. 5

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Beobachtbare soziale Systeme wie Gesellschaften, Verbände oder Familien zeigen stets nur einen für den Augenblick geltenden Zustand ihrer politischen Dimension. Dieser kann sich z. B. zu einem bestimmten Zeitpunkt darin ausdrücken, daß zwischen einem Teil der Interaktionspartner manifeste und zwischen anderen Partnern nur latente politische Beziehungen bestehen, daß die Interessen sich in einer bestimmten Weise gruppiert haben, die politischen Handlungspotentiale nach einem bestimmten Muster verteilt sind, daß ein bestimmter Satz von Entscheidungen verbindlich ist u. a. m. In sozialen Systemen müssen sich ex definitione diese politischen Zustände ändern können, d. h. es muß Politik überhaupt möglich sein. Eine andere Frage ist es, wovon der Verlauf und das Ergebnis der Politik im einzelnen abhängen. Die Determinanten einer Systempolitik sind i. d. R. auch schon Ergebnisse politischer Prozesse, was eine politische Kausalanalyse ungemein erschwert.

1.2 Politikbegriff Politikwissenschaftliche Theorie hat die Abklärung ihres Politikbegriffes zur Voraussetzung. „Aber so viele Theoriebegriffe es gibt, so zahlreich sind die Abgrenzungen dessen, was man unter dem ,Wesen' der Politik versteht, was als Spezifikum des Politikbegriffs gesehen wird" (Narr, 1972, S. 87). Es geht hier nicht darum, das Für und Wider der verschiedenen Politikbegriffe abzuwägen, um zu einem „wahren" Politikbegriff vorzustoßen und eine allgemeine Theorie der Politik zu formulieren. Vielmehr soll gerade die Vielschichtigkeit des Politikbegriffes verdeutlicht und in ihrer Anregungsfunktion für die politikwissenschaftliche Analyse der Unternehmung erhalten werden (Senghaas, 1968, S. 361). Einen starken Einfluß auf den Politikbegriff der Neuzeit hatten die politischen Ideen von Aristoteles. Für Aristoteles bedeutete Politik die Ergründung und Realisation des Wohles einer Gemeinschaft bzw. des guten Zusammenlebens in der „polis" (Rolfes, 1948; Ritter, 1961). Politisches Handeln beginnt nach dieser Vorstellung damit, daß man ein bestimmtes Interesse, d. h. Wert- und Zweckvorstellungen in bezug auf das menschliche Zusammenleben entwickelt.6 Dem politischen Subjekt erscheint somit die Planung und Gestaltung von Gemeinschaften als eine Aufgabe, die vor allem philosophische Reflexionen über Wesen und Sinn des Gemeinwesens und ' Vgl. hierzu die Kontroverse über Wertungen in der Politikwissenschaft, Weisser (1951); Albert (1960), S. 214.

1.2 Politikbegriff

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deren Umsetzung in konkrete Ordnungsvorstellungen bzw. Ordnungen beinhaltet. Diese ausgeprägte Normverbundenheit findet sich heute in vielen Interpretationen des Politischen (Gablentz, 1954; Bergstraesser, 1961, S. 17 ff.; Landshut, 1956; Hennis, 1959; Strauß 1956). In der sog. „Realistischen Schule" der Politik nimmt Politik mit der Aufstellung „richtungsweisende(r) Grundfragen über Wesen, Möglichkeiten und Grenzen des Menschen" ihren Anfang (Kindermann, 1966, S. 262). Sie ist als Gesellschafts- oder Innenpolitik eines Staates auf die philosophisch-anthropologisch fundierte Gestaltung der öffentlichen Ordnung bezogen (Hättich, 1966, S. 223 ff) und meint nicht bloß das politische Verhalten, sondern stets auch das normative Gestalten (Gablentz, 1954, S. 2 ff.). „Politisches Handeln bedarf immer gewisser Zielsetzungen und Perspektiven", durch die Politik als „Kunst" der Gestaltung oder Veränderung menschlichen Zusammenlebens überhaupt erst konstituiert wird (Stammer, 1965, S. 39 f.). Seit dem Spätmittelalter wurde die bis dahin überwiegende moralphilosophische Komponente des Politikbegriffs ergänzt um Aspekte der Auseinandersetzung, des Kampfes und der gegenseitigen Einflußnahme von Menschen. Impulse zu dieser Sichtweise entstammen u. a. den Lehren von Rousseau (1762) und Hobbes (1651), die den Wahrheitsanspruch irgendwelcher Vorstellungen vom „guten Zusammenleben" in Frage stellten und politische Ordnungen als das Resultat kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Menschen betrachteten. Für Hobbes bestand der Zweck planmäßig betriebener Politik daher auch nicht in der Verwirklichung einer nach moralischen oder ethischen Maßstäben „richtigen" Ordnung, sondern in einer das gegenseitige Vernichten bremsenden Ordnung schlechthin, die der Staat (Leviathan) zu gewährleisten hatte. In der Folge entledigte sich der Politikbegriff - sieht man einmal von der Norm der Staatserhaltung ab - weitgehend seines normativen Elementes. Statt dessen wird Politik begriffen als das „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt" (Weber, 1971, S. 506). Das Problem der Politik war es, Machtbeziehungen in eine stabile Staatsordnung zu bringen. Die Beschränkung des politischen Handelns auf den Staat und seine Organe, das politische Monopol des Staates also, bedeuteten Legitimation und Ordnung der Machtbeziehungen. Die dahinter stehende allgemeine Frage nach den Bedingungen und Prozessen der Erhaltung eines politischen Gemeinwesens („politisches System") war zentriert um soziales Handeln als Machthandeln (Burdeau, 1964, S. 79) und um ein abstraktes Freund-Feind-Verhältnis als das „eigentliche Politische" (Schmitt, 1963, S. 26 ff.). Während die Bindung des Politikbegriffes an Institutionen wie Staat und Regierung bei einigen neuzeitlichen Autoren noch gegeben ist (Almond/Powell, 1966; Mannheim, 1970, S. 88 f.), hat sich

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

heute das Schwergewicht der Interpretation von Politik auf den grundlegenden Prozeß der Auseinandersetzung um Macht und Einfluß in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens verlagert (Bentley, 1908; Truman, 1951; Lasswell/Kaplan, 1963). Der Politikbegriff setzt den Staat als zentrale politische Instanz nicht mehr definitiv voraus, sondern sieht Politik als interessegeleitetes Handeln einzelner Individuen oder Gruppen7 in bezug aufeinander und auf das politische Gemeinwesen. Politik meint jetzt weniger ein gesolltes als ein tatsächliches Verhalten von Mitgliedern des Gemeinwesens. Dadurch gewinnt - besonders im angloamerikanischen Raum - die empirische politische Soziologie, zunächst in Form der behavioristischen Forschung einen beherrschenden Einfluß. Die behavioristische Sichtweise von Politik als bloßes Einfluß- oder Machthandeln erweist sich aber bei näherer Hinsicht als unbefriedigend, denn der Machtbegriff vermag spezielle politische Ordnungen weder hinreichend zu erklären, noch zu begründen (Sontheimer, 1966, S. 202, 208 f.). Bereits der prozeßorientierte Politikansatz von Bentley machte deutlich, daß auch das individuelle Interesse, die normative Verhaltensorientierung ein konstitutives Element des Politikbegriffes ist (Hirsch-Weber, 1969, S. 50 ff.). Dadurch rücken die Bedürfnisse, Werte und Ziele des Individuums als Triebkräfte der „Machtpolitik" in den Vordergrund. Politik kann dann verstanden werden als Prozeß der Willensbildung in einem Gemeinwesen, bei dem insbesondere die Vorgänge der gegenseitigen Abstimmung zwischen pluralistischen Interessen auf der Grundlage gegebener Macht betrachtet werden (Lindblom, 1965). Für diese Sichtweise von Politik ließe sich die Bezeichnung „politics" verwenden (Dahl, 1970, S. 4 ff.; Elcock, 1976, S. 3 ff.). Durch die Bezugnahme auf (individuelle) Interessen8 im politischen Prozeß kehrt das normative Element gleichsam „durch die Hintertür" wieder zurück in den Politikbegriff. Zwar werden Normen und Werte vielfach lediglich als „Input" des politischen Prozesses gesehen, jedoch spielen sie - insbesondere in der Demokratietheorie (Stammer, 1965, S. 55; Narr/Naschold, 1971, S. 37 ff.) - auch eine Rolle bei der kritischen Beurteilung des politischen Prozesses und seines Ergebnisses. Von Politik, jetzt verstanden als Ergebnis und Umsetzung gesellschaftlicher Willensbildungsprozesse, wird nicht nur die Herstellung irgendeiner sondern einer befriedigenden, d. h. bestimmten Wertvorstellungen genügenden Ordnung erwartet.9 Vgl. hierzu die Untersuchungen zum faktischen Gruppenpluralismus und zu den sog. „pressure groups", übersichtlich bei McFarland (1969), S. 15 ff. 8 „Interessen" werden hier als situationsbezogene Aufmerksamkeiten gegenüber eigenen Bedürfnissen oder Wertvorstellungen gesehen, vgl. Sik (1972), S. 55 f., Habermas (1968a), S. 244 f. ' Vgl. auch die Konzeption einer „praktischen Politikwissenschaft" bei Oberndörfer (1966), S. 37 ff.; Naßmacher (1970), S. 4 f. 7

1.3 Systempolitik

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In diesem Sinn spricht man auch von „policy" als verbindliche Zielsetzung und Planung für ein politisches Gemeinwesen.10 Politik kann also nicht nur von den im politischen Prozeß zur Anwendung kommenden Mitteln (Macht) her definiert werden, sondern meint zugleich auch das Ergebnis des politischen Prozesses, das sich in verbindlichen Zielen und Plänen für ein soziales System ausdrückt.11 Sieht man Politik in dieser Weise als Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, dann erhebt sich die Frage, wie der politische Prozeß gestaltet sein muß, damit sein Ergebnis (z. B. spezifische verbindliche Ziele und Pläne) einen ganz bestimmten Inhalt annimmt. Die Ansatzpunkte und Modelle zur Gestaltung des politischen Prozesses sind zahlreich. Drei solcher Ansatzpunkte - Verfassung, formale Organisation und personale Gestaltung - werden in dieser Arbeit diskutiert. Dabei wird unter Politik ein Prozeß der interessegeleiteten Auseinandersetzung zwischen Menschen gesehen, dessen wichtigstes Medium die Macht ist und dessen Ergebnis in verbindlichen Entscheidungen (Plänen, Strategien) zur Gestaltung der Bedingungen und Prozesse sozialer Werteverteilung (Bedürfnisbefriedigung etc.) besteht}1 Die Frage lautet dann, ob und in welcher Weise der politische Prozeß und sein Ergebnis mittels der oben erwähnten Gestaltungsmaßnahmen gezielt beeinflußt werden können. Bevor diese Frage speziell auf die „Unternehmenspolitik" bezogen wird, bedarf es der Entwicklung eines abstrakten politischen Erklärungsrahmens, der eine politikwissenschaftliche Analyse des Unternehmensgeschehens erlaubt.

1.3 Systempolitik 1.3.1 Begriff der Systempolitik Politik als sozialer Prozeß kann definitionsgemäß nur im Zusammenhang mit sozialen Systemen begriffen und untersucht werden. Deshalb erscheint die Bezeichnung „Systempolitik" auf den ersten Blick als überflüssig. Eine spezielle Bedeutung des Systembezuges von Politik zeigt sich erst, wenn man Politik nicht nur von ihrem zentralen Medium (Macht) sondern auch von ihren Zielen (Gestaltung) her versteht. Politik hat danach eine Macht- und 10 Zur Unterscheidung von politics, policy making und policy vgl. Lindblom (1968), S. 1 ff.; Scharpf (1973a), S. 167. 11 Zur Notwendigkeit, Politik durch Mittel und Zweck zu definieren, vgl. Freund (1964), S. 356 f.; Burdeau (1964). 12 Vgl. hierzu die Politikbegriffe bei Easton (1965a), S. 49 f.; Luhmann (1971b), S. 66; Lehmbruch (1970), S. 17.

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

eine Gestaltungsdimension, die miteinander in Verbindung stehen.13 Die hier schon mehrfach angesprochene Machtdimension meint die Auseinandersetzung um Macht und deren Gebrauch zur Verbindlichmachung (prinzipiell beliebiger) Entscheidungen. Systempolitik in diesem Sinne meint Prozesse politischer Differenzierung und gegenseitiger Machtausübung in sozialen Systemen, deren Ergebnis in einer bestimmten Struktur politischer Handlungspotentiale bzw. in mehr oder weniger großer Entscheidungsverbindlichkeit besteht.14 In der Gestaltungsdimension ist demgegenüber die zielbezogene Planung und Herstellung von Bedingungen und Prozessen gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung, Sinnvermittlung oder Werteverteilung der Politik als Problem oder Aufgabe vorangestellt. Es geht dabei um das leitende Interesse an der Politik und ihren inhaltlichen Ergebnissen. Nicht die Verbindlichkeit von Entscheidungen, sondern ihr Gehalt und ihre Folgen für den einzelnen und das soziale System stehen dann im Mittelpunkt. In der Machtdimension interessiert das soziale System mit seinen strukturellen, ökonomischen, kulturellen u. a. Gegebenheiten vornehmlich als Bedingungsrahmen für den Aufbau, Gebrauch und Zerfall von Handlungspotentialen. In der Gestaltungsdimension wird das soziale System nicht als Ausgangsbedingung sondern als Bezugspunkt des politischen Geschehens betrachtet; hier fundiert nicht das soziale System die Politik, sondern umgekehrt, die Politik die Gestaltung des sozialen Systems. Dieser (System-)Gestaltungsbezug von Politik soll i. d. R. durch die Bezeichnung „Systempolitik" (auf das System bezogene Politik) zum Ausdruck gebracht werden. Es kann unter Systempolitik hiernach sowohl ein politischer Prozeß der sozialen Implementierung von Zielen als auch dessen Ergebnis verstanden werden. Als Ergebnis oder „Output" eines politischen Prozesses meint Systempolitik Pläne und Programme für die Gestaltung der Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung in sozialen Systemen. Sofern dieser Output durch Macht hinreichend abgesichert ist, hat er die Form verbindlicher Entscheidungen oder Entscheidungsprämissen, die als relativ grobe und langfristige Vorgaben („input") für den Bereich der untergeordneten Sachentscheidungen (die man im Gegensatz zu politischen auch als Verwaltungsentscheidungen bezeichnen kann) dienen (Luhmann, 1971b, S. 75 f.). Vereinfacht ausgedrückt meint Systempolitik dann letztlich generelle Ziele oder Zielsysteme für ein soziales System. Man muß in diesem Zusammenhang deutlich herausstellen, daß Systempolitik nicht irgendwelche Individualziele oder unverbindliche „offizielle Informationen" über Ent13 So läßt sich auch tendenziell unterscheiden zwischen einer stärkeren Betonung des Entscheidungsprozesses oder aber der Entscheidungsinhalte als Gegenstände der Politik. Vgl. Schick (1969), S. 138. 14 Damit ist vor allem jene Leistung von Politik angesprochen, die „die Möglichkeit kollektiven Handelns bei nicht vorauszusetzendem Konsens" betrifft, Scharpf (1973), S. 167.

1.3 Systempolitik

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Scheidungen meint, deren Befolgung praktisch noch völlig unbestimmt ist (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 122, 139), wie dies etwa bei Statuten oder Satzungen der Fall sein kann.15 Andererseits soll Systempolitik (als Ergebnis) aber auch nicht i. S. von bestimmten Endzuständen verstanden werden, auf die ein soziales System tatsächlich hinsteuert. Vielmehr ist Systempolitik ein (offizieller oder inoffizieller) Maßstab, an dem die Aktivitäten im sozialen System gemessen werden und hinter dem die Möglichkeit steht, abweichenden Willen oder auch unbewußt abweichende Verhaltensorientierungen wieder „auf die Linie" zu bringen. Systempolitik umschließt nicht das tatsächliche Verhalten16, und es muß sich in ihr weder ein „gemeinsamer Wille", noch ein Zusammenfließen (Amalgamation) aller Wünsche ausdrücken. Der Frage, wie die Systempolitik auf das Verhalten (z. B. Rollenverhalten) im System oder des Systems insgesamt wirkt, wird hier nicht nachgegangen (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 152 ff. insbes. S. 157-159). Insofern bewegt sich die Untersuchung im Vorfeld des Themas „Systemsteuerung" und kann bestimmte Probleme der Steuerungstheorie (z. B. Kybernetik, administrative Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse) nur am Rande behandeln (Naschold, 1969). Im Brennpunkt des Interesses steht im folgenden vielmehr die Genese der Systempolitik als allgemein gültige, verbindliche Norm oder Verhaltenserwartung im sozialen System. Die Vorstellung von Systempolitik als einem bestimmten Endergebnis politischer Prozesse hat allerdings nur analytischen Wert. Man gewinnt damit einen einigermaßen faßbaren Bezugspunkt für die hier zu untersuchenden Einflüsse von Unternehmensverfassung, formaler Organisation und personaler Gestaltung auf „die Systempolitik". In Wirklichkeit aber läßt sich ein solches „Endergebnis" in Form von gesamtverbindlichen Entscheidungen wenn überhaupt - nur als zeitlicher Ausschnitt oder als Zwischenergebnis eines ständig sich erneuernden Prozesses interessegeleiteter Auseinandersetzungen konstatieren. Wie problematisch die Feststellung von systempolitischen Ergebnissen ist, zeigt sich z. B. bei der Unterscheidung zwischen offiziellen „Zielen der Organisation" und inoffiziellen „Zielen für die Organisation". Erstere werden oftmals als Ergebnis systempolitischer ProVgl. hierzu die Definition von Organisationszielen bei Mayntz (1963), S. 58. Dies wird insbesondere in der Rollentheorie deutlich. Das rollenkonforme Verhalten eines Individuums ist danach nicht allein eine Frage der Verbindlichmachung von Entscheidungen, denn es hängt nicht nur von den gegebenen Machtbeziehungen ab, sondern auch davon, ob das Individuum in der Lage ist, einmal akzeptierte Entscheidungsprämissen jederzeit und in jeder Situation in ein entsprechend rationales Rollenverhalten zu transformieren. Dabei treten gewisse Probleme der Wahrnehmung, der Interpretation und des Lernens von Rollen sowie der Widersprüchlichkeit bzw. Interdependenz von Zielen und Rollenerwartungen und der Fähigkeit zur Rollenausführung auf, die mit dem Machtkonzept kaum erfaßt werden können, ohne den Machtbegriff zu überdehnen. Vgl. hierzu March/Simon (1967), S. 52 ff!; Katz/Kahn (1966), S. 175 ff.; Hackman (1970), S. 213; Simon (1964), S. 14 ff.; Klein (1968), S. 9 ff. 15 16

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

zesse ausgegeben, obwohl sich die tatsächlichen Machtverhältnisse und individuellen Anforderungen (Ziele „für die Organisation") im politischen Prozeß bereits grundlegend geändert haben oder überhaupt niemals durch die offiziellen „Ziele der Organisation" repräsentiert wurden.17 Es erscheint daher zweckmäßig, keinen statischen, sondern einen dynamischen Begriff von Systempolitik bei der weiteren Untersuchung zugrunde zu legen. In der dynamischen Betrachtungsweise rückt die Vorstellung von Systempolitik als realem Prozeß in den Vordergrund. „Systempolitik" bezeichnet danach den laufenden Vorgang des Entstehens, Vergehens und Neuentstehens verbindlicher Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung in sozialen Systemen.18 Bei diesem Vorgang geht es für die beteiligten Individuen oder Gruppen darum, ihre eigenen Normen und Vorstellungen bezüglich des Geschehens im sozialen System füreinander verbindlich zu machen. Das Problem, welche Entscheidungen dabei Verbindlichkeit erlangen, ist aber nicht nur eine Frage des voraussichtlichen Machtgebrauchs. Systempolitik umfaßt im Gegensatz zur reinen (Macht-)Politik 19 vor allem auch die von Individuen und Gruppen zugrunde gelegten Entscheidungsinhalte (Ziele, Pläne, Strategien, Programme etc.), für die sie ihre Macht einsetzen. Diese Bezugspunkte des Machtgebrauchs stellen zusammen mit dem Machtgebrauch die wichtigsten Elemente des systempolitischen Prozesses dar. Eine zuverlässige Prognose des Prozeßverlaufs oder gar seiner zeitweiligen Zwischenergebnisse ist allerdings schwierig, weil die Elemente der Systempolitik gegenseitige Interdependenzen aufweisen, eine Vielzahl intervenierender Variablen (z. B. Technologie, funktionale Differenzierung) wirksam sind und Machtgebrauch oder individuelle Normen und Vorstellungen sich im Verlaufe des aufeinander bezogenen politischen Handelns (z. B. durch Sozialisation) verändern können. 17 Vgl. Kirsch (1971, Bd. 3), S. 129 ff., 154 ff.; allerdings können die offiziell veröffentlichten „Ziele der Organisation" die Individualziele der Beteiligten beeinflussen, S. 133 f., 158. 18 Demgegenüber findet die Bezeichnung „Systempolitik" in der Literatur zumeist nicht für reale konflikthafte Prozesse Anwendung, sondern wird eher als Rationalität bewirkende Planung des Systemgeschehens und seiner Beziehungen verstanden, vgl. z. B. Schick (1969), S. 138, 142 ff.; von Eynern (1972), S. 233 ff. Besonders deutlich wird dies in der These der Erhöhung politischer Planungskapazität durch „Systempolitik" als program-planning budgeting-system (PPBS), vgl. Narr/Naschold (1971), S. 127 ff. Die Auslegung von „Systempolitik" durch den Begriff des Planes scheint so lange angebracht, wie es um das Problem der Gestaltung „richtigen" (rationalen, demokratischen etc.) Systemverhaltens geht, vgl. z. B. Naschold (1973), S. 59 ff. Wenn aber Systempolitik, wie hier, als eine Kategorie zur Beschreibung und Erklärung des tatsächlichen, auf das soziale System bezogenen politischen Verhaltens verwendet wird, muß sich das Fundierungsverhältnis von Plan und Systempolitik umkehren: Politische Planung (oder „Analyse", vgl. Schick, 1973, S. 147) wird ihrerseits zum „Instrument" oder zur „Waffe" im politischen Prozeß (Lindblom, 1968, S. 30).

" Vgl. hierzu auch die Unterscheidung zwischen „politics" und „policy" bei Scharpf (1973a), S. 167.

1.3 Systempolitik

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Und noch weitere Schwierigkeiten stellen sich einer Prognose der Systempolitik entgegen. Es war zuvor davon die Rede, daß die Macht- und die Gestaltungsdimension der Systempolitik miteinander in Verbindung stehen. Dies kann sich zum einen darin äußern, daß Macht als Grundlage der Gestaltung des Systemgeschehens dient (Gestaltungsmacht). Zum anderen können aber die politische (Macht-)Differenzierung bzw. deren Bedingungen und Grundlagen ihrerseits Gegenstand und Folge der Systempolitik sein (Machtgestaltung). Darüber hinaus führen die Veröffentlichung und Diskussion verbindlicher Entscheidungen sowie die sich daran anschließenden Programme und Aktionen auf der administrativen und operativen Ebene auch zu einer Veränderung von Normen und Vorstellungen bzw. deren diversen Einflußgrößen (z. B. kulturelle Entwicklung). Aus diesen zweiseitigen Beziehungen zwischen dem systempolitischen Prozeß und seinen Grundlagen ergibt sich mithin ein komplizierter, in seinen Folgen nur schwer vorhersehbarer Kreislauf. Wegen obiger Schwierigkeiten kann die weitere Untersuchung nicht zum Ziel haben, jene Bedingungen anzugeben, unter denen ganz bestimmte systempolitische Prozesse und Ergebnisse zu erwarten sind. Dies ist in der Politikwissenschaft ein bislang nicht gelöstes Problem. Auch geht es hier nicht darum, Systempolitik nach bestimmten Kriterien (z. B. demokratisch, rational) zu bewerten. Vielmehr ist danach gefragt, inwieweit die Systempolitik als Prozeß überhaupt durch eine partielle Gestaltung ihres Bedingungsrahmens (speziell: Unternehmensverfassung, formale Organisation, personale Gestaltung) beeinflußt und von welchen unplanmäßigen Einflüssen die jeweilige Gestaltungsmaßnahme durchkreuzt werden kann. Die gezielte Beeinflussung des systempolitischen Prozesses vollzieht sich notwendig über die Beeinflussung der politischen Partizipationskomponenten. Unter „Partizipationskomponenten" werden dabei bestimmte Grundlagen individueller oder gruppenweiser politischer Beteiligung (Partizipation) verstanden. Sofern diese Grundlagen durch eine bestimmte Gestaltung des Bedingungsrahmens beeinflußt werden, ist anzunehmen, daß auch der systempolitische Prozeß auf entsprechende Maßnahmen reagiert. Die Untersuchung muß sich aus den oben dargelegten Gründen (vgl. S. 15 f.) auf die prinzipielle Wirksamkeit von Unternehmensverfassung, formaler Organisation und personaler Gestaltung hinsichtlich der individuellen Grundlagen politischer Partizipation konzentrieren. Die Konsequenzen für den Prozeß der Partizipation selbst lassen sich dabei nur exemplarisch andeuten. In Darst. (1) werden die bisherigen Überlegungen zum Begriff der Systempolitik nochmals vereinfacht zusammengefaßt. Es bedarf nun einer näheren Erläuterung des Verständnisses von Systempolitik als Partizipation sowie der wichtigsten Partizipationskomponenten.

1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

32

Systemexterne Bedingungen und intervenierende Variable

Grundlagen der individuellen politischen Partizipation (potentieller y Machtgebrauch I - ^ und individuelle Orientierungen im Wert- und Kausalkontext)

Systempolitik (Policy) als (momentanes) Ergebnis Permanenter sozialer Prozeß der Implementierung (Ausarbeitung und Verbindlichmachung) systembezogener Entscheidungen über Ziele, Strategien, Programme etc.

Verbindliche Entscheidungen für das System Veröffentlichung und Vorgabe für administrative und operative Aktivitäten

_J Darst. 1 : Ein Erklärungsansatz der Systempolitik

1.3.2 Systempolitik als Partizipationsprozeß Systempolitik wird, obigen Betrachtungen entsprechend, fortan als ein Prozeß aufeinander bezogener politischer Partizipationen in einem sozialen System begriffen, in dessen Verlauf verbindliche Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung entstehen.20 Dieser dynamische Aspekt von Systempolitik kommt besonders deutlich auch in der amerikanischen Umschreibung des „policy-making process" zum Ausdruck: „We are going to look at policy making as an extremely complex analytical and political process to which there is no beginning or end, and the boundaries of which are most uncertain. Somehow a complex set of forces that we call ,policy making', all taken together, produces effects called ,policies'." (Lindblom, 1968, S. 4, 44) „The dynamism of the policy process can be seen in sharp relief through an analysis of the various roles of participants." (Lyden/Shipman/Kroll, 1969, S. 61)

1.3.2.1 Partizipation als Grundbegriff der Systempolitik Hier interessiert die systempolitische Effizienz bestimmter RahmenbedinZur engen Verwandtschaft zwischen den Begriffen Politik und Partizipation vgl. Parry (1972), S. 4 ff.; Radtke (1976), S. 16.

20

1.3 Systempolitik

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gungen (z. B. Verfassung) nicht auf der Ebene der letztendlich verbindlichen Entscheidungen sondern in erster Linie auf der Ebene der individuellen Partizipation (Bauer, 1968, S. 23 f.). Deshalb ist die Analyse des verwendeten Partizipationsbegriffes von besonderer Bedeutung für die Gewinnung von Bezugspunkten der weiteren Untersuchung. Im folgenden sollen in groben Umrissen die Komponenten (Grundlagen) der individuellen Partizipation (und indirekt somit der Systempolitik) als solche Bezugspunkte herausgearbeitet werden. „Partizipation" wird allgemein als „Beteiligung", „Mitbestimmung" oder „Teilnahme" beim politischen Prozeß begriffen (Parry, 1972, S. 5; Radtke, 1976, S. 16). Unterschiede im Partizipationsverständnis ergeben sich vornehmlich aus den jeweils mit politischer Beteiligung assoziierten Standards (Werte, Anspruchsniveaus etc.) Die in der klassischen Tradition wurzelnde Demokratietheorie etwa verbindet mit Partizipation Werte wie Befreiung des Menschen, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung des Individuums oder Selbständigkeit und Mündigkeit als Mitglied eines sozialen Systems (Habermas, 1969, S. 15 f., S. 50; Narr/Naschold, 1971, S. 28 ff.). Bei diesem idealdemokratischen Wertbezug von Partizipation kann sich politische Beteiligung nicht in der Einhaltung von formaldemokratischen Spielregeln oder in der passiven Teilhabe an öffentlichen Leistungen und Informationsprozessen erschöpfen (Habermas, 1969, S. 32; Narr/Naschold, 1971, S. 159), sondern meint faktisch gleichberechtigte aktive Beteiligung an der Gestaltung des sozialen Systems (Künzli, 1974, S. 42). Ein demokratischer Idealbegriff von Partizipation ist erst denkbar ab einem bestimmten Niveau der politischen Beteiligung, nämlich dann, wenn alle nicht nur die gleichen Chancen zur Beteiligung haben, sondern auch annähernd gleich intensiv am politischen Prozeß teilhaben. Diesem Begriff von Partizipation kann die Auffassung gegenübergestellt werden, Partizipation sei jede Form und jedes Ausmaß der Beteiligung (involvement, participation) am politischen Geschehen und könne deshalb auch unterhalb der Schwelle des demokratischen Idealbegriffs von politischer Beteiligung angesiedelt sein. Danach gibt es also u. U. eine ungleich verteilte Partizipation im sozialen System, bei der die verschiedenen Teilnehmer ungleiche und ungleichgewichtige politische Rollen spielen (Lindblom, 1965, S. 21 ff.; Dahl, 1970, S. 85 ff.; Lindblom, 1968, S. 44). Hierbei wird Partizipation nicht von einer bestimmten Wertvorstellung oder politischen Norm ausgehend definiert, sondern als jede Art mehr oder weniger wirksamer Aktivität im politischen Prozeß. Demokratie wäre in dieser Sichtweise nur ein Spezialfall der Ausprägung individueller Partizipationen im System. Im folgenden soll nicht vom demokratietheoretischen Partizipationsbegriff ausgegangen werden (Parry, 1972, S. 3 ff., S. 15). Partizipation ist hier vielmehr jede gezielte Teilnahme am sozialen Entscheidungsgeschehen. Die

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Explikation von Partizipation muß sowohl die Stärke als auch die Zielgerichtetheit der sozialen Entscheidungsbeziehungen aller in Frage kommenden Teilnehmer enthalten. Diesen beiden Aspekten wird in der Literatur auf vielfältige Weise Ausdruck verliehen. Es werden zum einen die Gerichtetheit (Interessen, Werte, Einstellungen, Uberzeugungen, Sachorientierungen) und zum anderen die Wirksamkeit (Möglichkeiten der gegenseitigen Beeinflussung, Machtpotentiale, Beteiligungsformen) der Partizipation als Dimensionen der politischen Beteiligung und Determinanten der Systempolitik hervorgehoben (Lindblom, 1965, S. 10; 1968, S. 43 ff.; Riesmann, 1950, S. 505 ff.; Rush/Althoff, 1972, S. 74, 75 ff.; Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 121). Diese beiden Dimensionen können als „Machtpotential" und „individuelle Orientierung" bezeichnet werden, wobei die individuelle Orientierung sowohl den Kausal- als auch den Wertkontext betrifft. Partizipation äußert sich dann als Einsatz von Machtpotentialen, sowie als kognitive (z. B. Beurteilung von Sachverhalten) und als normative (z. B. Interessen) Orientierung bei der Implementierung einer bestimmten „Policy". 21 Durch die jeweilige Ausprägung und Verteilung dieser Partizipationskomponenten ist der politische Prozeß eines sozialen Systems im wesentlichen gekennzeichnet und die Systempolitik relativ dauerhaft fundiert. 1.3.2.2 Partizipation und Macht Die meisten politikwissenschaftlichen Untersuchungen beschäftigen sich mit der Macht- oder Einflußdimension der Partizipation.22 Typische Fragestellungen wären in diesem Zusammenhang: (1) Welche Typen und Formen politischer Partizipation existieren? (2) Welches Ausmaß hat die politische Partizipation? (3) Wer partizipiert? (4) Warum partizipiert man? (Rush/ Althoff, 1972, S. 75 ff.). Bei der Untersuchung des Einflusses von Verfassung, formaler Organisation und personaler Gestaltung auf die Partizipation interessiert vor allem, welche Formen der Partizipation sie den Betroffenen im allgemeinen bieten, wie wirksam diese Formen in der Systempolitik sind und wovon die Verfügbarkeit und der Gebrauch dieser Partizipationsformen generell abhängen. Typische Formen der Partizipation auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zeigt Darst. (2). In der Literatur werden zahlreiche ähnliche oder weitere PartizipationsforEine ähnliche Einteilung wird erwähnt bei Scharpf (1973a), S. 168 (Einflußchancen, Wirklichkeitsvorstellungen, Interessen); vgl. auch die Komponenten „Macht" und „Wille" bei Deutsch (1969), S. 328 f. 22 Es bestehen daher deutliche Parallelen zwischen Macht- und Partizipationsanalysen, vgl. z. B. Dahl (1970), S. 34, 77 ff., 84 ff.; Parry (1972), S. 5. 21

35

1.3 Systempolitik

(Rush/Althoff)

(Milbrath)

Innehaben eines Amtes in Politik oder Verwaltung

Innehaben eines öffentlichen oder Parteiamtes

Streben nach einem Amt in Politik oder Verwaltung

Teilnahme an Ausschüssen sowie aktive Parteiarbeit

Aktive Mitgliedschaft in einer politischen Organisation

Organisation politischer Kampagnen Teilnahme an politischen Versammlungen

Passive Mitgliedschaft in einer politischen Organisation

Finanzielle Unterstützung der Politik

Aktive Mitgliedschaft in einer quasi-politischen Organisation

Verbreitung der eigenen Wählermeinung

Passive Mitgliedschaft in einer quasi-politischen Organisation

Kontakte mit Politikern

Wahlbeteiligung

Beteiligung an öffentlichen Versammlungen, Demonstrationen etc. Beteiligung an informellen politischen Diskussionen Allgemeines Interesse an Politik Wahlbeteiligung Darst. 2 : Hierarchien politischer Partizipation

men erwähnt, wobei hauptsächlich die Häufigkeit ihres Gebrauchs innerhalb einer Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe im Brennpunkt des Interesses steht (Almond/Verba, 1965; Rokkan/Campbell, 1967, S. 254 ff.; Ellwein, 1973; Radtke, 1976, S. 16 ff.). Die einzelnen Beteiligungsweisen sind z. T. unmittelbar abhängig von der speziellen Verfassung und politischen Organisation eines sozialen Systems und insofern für eine verallgemeinernde Betrachtung möglicher Partizipationsformen ungeeignet. Immerhin zeigen sie, daß Einfluß in der Systempolitik sich auf ganz verschiedenen Bahnen bewegen kann, die keineswegs immer offizieller oder amtlicher Art sein müssen. Vergröbernd lassen sich zwei Grundformen politischer Partizipation unterscheiden: Zum einen partizipiert an der Systempolitik, wer selbst Entscheidungen über Ziele, Strategien, Programme etc. verbindlich macht, sei es als Inhaber eines politischen Amtes, als aktives Mitglied einer politischen Organisation oder in einer anderen der zahlreichen Unterformen (ikonkrete politische Partizipation). Zum anderen kann man aber an der Systempolitik auch in der Weise partizipieren, daß man das Verbindlichkeitspotential (Macht) anderer gestaltet, ohne selbst Sachentscheidungen verbindlich zu machen. Hierzu gehören z. B. die Partizipationsformen der Wahl

36

1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

oder der finanziellen und informationellen Unterstützung von „Politikern", Parteien oder Gruppierungen (abstrakte politische Partizipation). Diese Formen der Partizipation können ferner dadurch gekennzeichnet werden, daß man zwischen Mitgliedern und Teilnehmern im politischen Prozeß unterscheidet. „Teilnehmer sind alle Elemente innerhalb und außerhalb der Organisation, die Forderungen stellen bzw. manipulierend auf die Mitglieder des Systems einwirken. Mitglieder sind alle jene, die im Transformationsprozeß des politischen Systems eine formale Rolle ausfüllen und eine bewußte Teilnahmeentscheidung hierzu treffen" (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 123). Auch im Begriff des „politischen Systems" finden sich obige Grundformen der Partizipation wieder (Röhrich, 1975; Narr, 1972, S. 96 ff.). Ursprünglich wurde das politische System einer Gesellschaft abstrakt als Dimension des sozialen Systems gedacht, deren Grundeinheit (Element) jegliches politische Handeln darstellt (Parsons, 1963, S. 232 ff.). Bei der analytischen systemtheoretischen Betrachtung des politischen Geschehens werden jedoch gewöhnlich Grenzen gezogen zwischen der „eigentlichen" politischen Sphäre (Verbindlichmachung von Sachentscheidungen) und der politischen Umwelt in Form von Unterstützungen (z. B. Geld, Wahlen) und Forderungen (Easton, 1965a, S. 47 ff., 112 ff.). Der dabei entstehende Eindruck, daß die beiden Formen der Partizipation am politischen Prozeß Unterstützung/Forderungen von „außen", Transformation von Forderungen in verbindliche Entscheidungen im „Innern" - von unterschiedlichem Gewicht sind, ist allerdings in dieser Absolutheit irreführend. Die Wirksamkeit von Partizipation „außerhalb" des politischen Systems (z. B. als Wähler) ist zwar äußerst unbestimmt (Lindblom, 1968, S. 45 ff.), kann aber auf die Dauer gleichwohl von erheblicher Bedeutung für das politische System bzw. für die Systempolitik sein. Umgekehrt garantiert ein politisches Amt noch nicht unbedingt einen starken Einfluß im politischen Geschehen (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 123). Deshalb erscheint eine Trennung zwischen politischem und sozialem System wenig sinnvoll, wenn damit auf die Wirksamkeit alternativer Partizipationsformen angespielt wird (Scharpf, 1973, S. 171 f.). Die in einem sozialen System dargebotenen Formen der Partizipation und deren Verteilung sagen allein noch wenig aus über die tatsächlichen Beteiligungsverhältnisse im systempolitischen Prozeß. Entscheidender ist, auf welchen Grundlagen die individuellen Möglichkeiten der Aneignung bzw. Nutzung bestimmter dargebotener Partizipationsformen beruhen (Verfügbarkeit über die Formen) und wovon die tatsächliche Aneignung und Nutzung der Möglichkeiten abhängen (Gebrauch der Formen) (Waterkamp, 1974, S. 247 f.). Ein Beispiel mag dies veranschaulichen: In modernen sozialen Systemen steht einer großen Anzahl von Individuen eine relativ geringe Anzahl politischer Ämter gegenüber. Die Frage ist dann, wodurch ein Individuum in die Lage versetzt wird, ein politisches Amt zu erreichen

1.3 Systempolitik

37

bzw. auszufüllen und was es dazu veranlaßt, ein solches Amt überhaupt anzustreben. Die individuelle Verfügbarkeit über knappe Partizipationsmöglichkeiten ist letztlich abhängig von schon vorhandenen Machtmitteln. Nur ein Individuum mit entsprechenden Machtmitteln ist in der Lage, die formalen Partizipationsmöglichkeiten (z. B. als Wähler, Amtsinhaber oder Funktionsträger) zu ergreifen, auszufüllen und evt. sogar zu verändern oder zu umgehen. Wenn also nach der systempolitischen Effizienz von Unternehmensverfassung, formaler Organisation und personaler Gestaltung gefragt wird, so muß in erster Linie untersucht werden, was diese für die tatsächlichen und nicht nur formalen politischen Partizipationspotentiale bewirken können bzw. was sie offen lassen. Neben der machtbedingten Verfügbarkeit über Partizipationsformen sind die motivationalen Gründe ihres Gebrauchs entscheidend für die politische Beteiligung. Das Vorhandensein von Partizipationsmacht ist zwar eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für die tatsächliche Partizipation eines Individuums. Die Frage wäre, was jemanden dazu bewegt bzw. davon abhält, seine potentielle Macht auch einzusetzen (Cartwright, 1965, S. 7 ff.). Hierfür kommen z. T. sicherlich die gleichen Gründe in Betracht, wie für die Ressourcenverwendung eines Individuums (vgl. Darst. (4). Dahl nennt einige Partizipationsgründe, die teils auf individuelle, teils auf situationale Faktoren zurückführbar sind: (1) Die Einschätzung der Valenz möglicher Partizipationsfolgen; (2) Die Einschätzung der Wichtigkeit alternativer systempolitischer Ergebnisse; (3) Die Einschätzung der Wirksamkeitswahrscheinlichkeit von Partizipation; (4) Die Einschätzung der Nachteile, die Nicht-Partizipation nach sich zieht; (5) Die politischen Kenntnisse und Fertigkeiten bzw. der Glaube an diese; (6) Die situationalen Partizipationswiderstände23. Am häufigstens ist das Problem des Gebrauchs von Partizipationsmöglichkeiten im Zusammenhang mit der Partizipationsform „Wahlen" untersucht worden (Wernicke, 1976, S. 26 ff.). Die Gründe für Wahlbeteiligung gelten aber (bedingt) auch für den Gebrauch anderer Formen der Partizipation. Unter anderem werden folgende gesamtgesellschaftliche Partizipationstriebkräfte genannt: Lebensstandard, Leistungskraft der Massenmedien, Häufigkeit des Wohnsitzwechsels, Urbanisierung, Agrarstruktur, Bildungsniveau oder Pro-Kopf-Einkommen (Deutsch, 1961, S. 494 f.; Lerner, 1958). " Dahl (1970), S. 85; vgl. hierzu auch Rosenberg (1954), S. 34 ff. sowie die sog. „ErwartungsValenz-Theorie" der Motivation bei Vroom (1964) und Campbell et al. (1970), S. 347.

38

1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Man muß davon ausgehen, daß der Gebrauch einer Partizipationsmöglichkeit von vielfältigen und interdependenten politisch-institutionellen, sozioökonomischen und individualpsychologischen Faktoren abhängt.24 Für die weitere Untersuchung ergibt sich daraus das Problem, daß der Einfluß von Verfassung, formaler Organisation und personaler Gestaltung auf den Gebrauch oder Nichtgebrauch vorhandener Partizipationsmöglichkeiten nur partiell und tendenziell angegeben werden kann. 1.3.2.3 Partizipation und individuelle Orientierung Außer dem Machtpotential hat auch die individuelle Orientierung bei der Partizipation einen entscheidenden Einfluß auf den systempolitischen Prozeß und seine Resultate. Mit „individueller Orientierung" sind hier nicht die Beweggründe für oder gegen eigene Partizipation gemeint, sondern die inhaltlichen Orientierungsweisen und Entscheidungsmuster eines Individuums bei der Partizipation, d. h. als Beteiligter oder Betroffener im systempolitischen Prozeß.25 Der Prozeß der Systempolitik bzw. dessen zeitweiligen Ergebnisse sind das Produkt vielfältiger aufeinandertreffender und mit unterschiedlichem Machtgebrauch ausgestatteter individueller Orientierungen. Damit stellt sich die Frage, wovon es abhängt, welche „kognitiven" und „normativen" Orientierungen26 dem Machtgebrauch zugrunde gelegt werden. Die Frage der individuellen Orientierung bei der Partizipation kann mit gewissen Einschränkungen entscheidungstheoretisch gedeutet werden. Als normative Grundlagen der Individualentscheidung sollen hier z. B. Bedürfnisse, Einstellungen, Werthaltungen oder tiefeingeschliffene Anspruchsniveaus gelten. Kognitive Grundlagen wären demgegenüber z. B. die aktuellen Wahrnehmungen und Erwartungen, der generelle Informations- und Bewußtseinsstand oder spezielle Kausalvorstellungen.27 Betrachtet man den Vgl. den Uberblick der Partizipationsdeterminanten bei Rush/Althoff (1972), S. 89 ff.; vgl. auch Nie/Powell/Prewitt (1969), S. 372 ff.; 808 ff., die als zentrale soziale Verbindungsgrößen zwischen ökonomischer Entwicklung und politischer Partizipation die Veränderung von Ressourcen, Einstellungen und Bedürfnissen der Individuen (S. 362) empirisch untersuchen. 25 Dieses Problem ist in der Politikwissenschaft insbesondere im Zusammenhang mit dem Verhalten als Wähler (Bestimmungsgründe der Wahlentscheidung) untersucht worden, vgl. ausführlich z. B. Sears (1969), S. 315 ff.; dem hier verfolgten Konzept ähnlicher ist der Uberblick bei Schoettle (1968), S. 152 ff. (insbes. die Hinweise auf Almond/Verba, 1965). 26 Vgl. die Elemente des „mentalen Systems" (Standards u. Kognitionen) bei Münch (1972), S. 43 sowie die Unterteilung der „politischen Orientierung" (kognitiv, affektiv, evaluativ) bei Schoettle (1968), S. 152. 27 Zur Theorie der Individualentscheidung vgl. z. B. Simon (1957a, b; 1960); March/Simon (1967); Braybrooke/Lindblom (1963); Kirsch (1971, Bd. 1). Statt normativer und kognitiver 24

1.3 Systempolitik

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systempolitischen Prozeß oder den „Zielbildungsprozeß" in einem sozialen System als kollektiven Entscheidungsprozeß (Cyert/March, 1963; Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 52 ff., 119 ff.), der sich „aus einer Vielzahl individueller Entscheidungsprozesse zusammen(setzt)" (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 54), so besteht ein Hauptproblem bei der Erklärung systempolitischer Prozesse in der Erforschung der individuellen normativen und kognitiven Entscheidungsgrundlagen. Diese regulieren (unter dem Einfluß bestimmter Situationsbedingungen) im wesentlichen die Zielformulierungen, die Alternativen- und Konsequenzensicht (Entscheidungsprämissen) sowie schließlich die Bewertung und Wahl von Strategien, Programmen etc. eines Individuums im systempolitischen Prozeß. Die normativen und kognitiven Entscheidungsgrundlagen eines Individuums unterliegen vielfältigen Veränderungseinflüssen, die dem kollektiven Entscheidungsprozeß vorgelagert sind bzw. ihn äußerlich begleiten (exogene Einflüsse) oder die teilweise in den aufeinander bezogenen Individualentscheidungen und politischen Verhaltensweisen selbst zu suchen sind (endogene Einflüsse). 28 Verfassung, formale Organisation und personale Gestaltung sind den exogenen Prozeßeinflüssen zuzurechnen. Ihre systempolitische Effizienz ist davon abhängig, ob und wie dominant sie (über Prozesse der Wahrnehmung, Erwartungsbildung, Informationsgewinnung und Kausalorientierung oder der Bedürfnisbildung, Einstellungsprägung und Anspruchsniveauregulierung) die Prämissen der Individualentscheidung zu beeinflussen vermögen. Da hier die systempolitische Effizienz der genannten exogenen Einflußfaktoren nicht auf die Ebene der sozialen Entscheidungsprozesse selbst, sondern nur auf der Ebene deren individueller Grundlagen untersucht werden soll, konzentriert sich die Betrachtung auf die Bedeutung dieser Einflußfaktoren für die Grundlagen der Individualentscheidung. Dabei wird die entscheidungstheoretische Betrachtung auf bestimmte, dem Entscheidungsverhalten vorgelagerte Prozesse verlegt.29 Für solche Prozesse findet in der politischen Soziolologie und in der Organisationstheorie häufig der Sozialisationsbegriff Anwendung (Hyman, 1959; Greenstein, 1968; Le Vine, 1963; Rush/Althoff, 1972, S. 16 ff.; Simon, 1957a, S. 102 f.; Katz/Kahn, 1966, S. 336 ff.; Grundlagen der Individualentscheidung stehen heute oftmals die darauf aufbauenden Entscheidungsprämissen (als Ziele, Alternativensicht, Konsequenzenwahrnehmung o. ä.) im Brennpunkt. Untersucht werden die Einflüsse des sozialen Kontextes auf die Entscheidungsprämissen der Individuen und somit auf den kollektiven Entscheidungsprozeß und die Systempolitik; vgl. Luhmann (1971b), S. 199; Kirsch (1970, Bd. 1), S. 25 f. und (1971, Bd. 3), S. 94 ff. M Vgl. z. B. die endogenen Kontingenzbeziehungen bei Jones/Gerard (1967), S. 505 ff. 29 In der organisationswissenschaftlichen Entscheidungstheorie werden dementsprechend Entscheidungsprozesse im Rahmen eines umfassenden informations- bzw. kommunikationstheoretischen Ansatzes untersucht, vgl. Kirsch (1971, Bd. 2), S. 23 ff., 97 ff., 103 ff.; (1971, Bd. 3), S. 49 ff.; 161 ff.

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Jones/Gerard, 1967, S. 76 ff.; Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 174 ff.). Unter Sozialisation wird u. a. die Adaption und Internalisation von Werten, Anschauungen und Wahrnehmungsweisen der Welt durch Interaktions- und Kommunikationsprozesse in sozialen Gruppen verstanden (Jones/Gerard, 1967, S. 76; Greenstein, 1968, S. 551). Auf eine genaue Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie Internalisation oder Identifikation muß in diesem Rahmen verzichtet werden (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 175 ff.). Politische Sozialisation sei hier definiert als „jene Entwicklungsprozesse, durch die Personen politische Orientierungen und Verhaltensmuster erwerben." (Easton/Dennis, 1969, S. 7) Politische Sozialisation kann allgemein als Bedingung oder intervenierende Variable des Machtgebrauchs interpretiert werden. An dieser Stelle geht es jedoch nicht um ihre Bedeutung für die Art und das Ausmaß des Machtgebrauchs30 sondern für die individuelle Orientierung beim Machtgebrauch. Es ist dann zu fragen, welchen Einfluß die Erfahrung eines Individuums in seiner sozialen Umwelt im weitesten Sinne (Personen, Institutionen, Informationen etc.) auf seine Werte und Wirklichkeitsvorstellungen haben31 und welche Rolle dabei speziell die Faktoren Verfassung, formale Organisation und personale Gestaltung spielen können. Konkret wäre es z. B. denkbar, daß man durch Vorgabe einer bestimmten Verfassung und Organisation oder durch gewisse Bildungsmaßnahmen die Zielsetzungen, Strategien, Programme etc. beeinflussen kann, die ein Individuum im politischen Prozeß verfolgt. Entsprechenden nomologischen Aussagen stellen sich allerdings erhebliche Schwierigkeiten entgegen, weil die politische Sozialisation von unzähligen weiteren Komponenten getragen wird, die z. T. schon in der frühen Kindheit ansetzen, und weil sich normative und kognitive Orientierungen gegenseitig beeinflussen (Rush/Althoff, 1972, S. 23, 30 ff.).

1.4 Politische Differenzierung 1.4.1 Differenzierung als politikwissenschaftlicher Begriff Der Differenzierungsbegriff findet in den verschiedensten Wissenschaften wie z. B. Mathematik, Physik, Psychologie, Soziologie oder Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften Anwendung. Er hat dort - zumindest auf den Zur Bedeutung der Sozialisation für die Partizipationsbereitschaft vgl. u. a. Radtke (1976), S. 48 ff. 31 Vgl. Rush/Althoff (1972), S. 22 ff.; Werte und Wirklichkeitsvorstellungen werden dort weiter aufgeschlüsselt, was hier aus Vereinfachungsgründen nicht nachvollzogen werden kann.

30

1.4 Politische Differenzierung

41

ersten Blick - recht unterschiedliche Bedeutungen angenommen. Bei dem Versuch, typische Merkmale dieses Begriffs zu identifizieren, stößt man vor allem auf die Komponenten „Unterschied" und „Struktur". Allgemein bezeichnet Differenzierung den Tatbestand des Unterscheidens bzw. des Unterschiedes innerhalb und zwischen logischen oder realen Strukturen (Luhmann, 1973, S. 185 ff.). Differenzierung kann sowohl ein kognitiver Prozeß sein (das Feststellen von Unterschieden), als auch ein empirischer Prozeß der Entwicklung von Unterschieden. Im letzteren Sinne wird der Differenzierungsbegriff zumeist in den Sozialwissenschaften verwendet. Die Soziologie kennt beispielsweise den Begriff der „sozialen Differenzierung" (North, 1926), worunter die im Zeitablauf sich entwickelnde Unterscheidung von einzelnen Rollen, Funktionen oder Rängen in einer sozialen Struktur verstanden wird. Durch Differenzierung erhalten nicht nur die Mitglieder einer Gesellschaft oder eines sozialen Systems einen höheren Grad an Bestimmtheit (Unterscheidbarkeit), sondern auch die Ausgrenzung und Identifikation eines sozialen Systems selbst und seiner Subsysteme können als Differenzierungsvorgänge begriffen werden. In der soziologischen Systemtheorie wird Differenzierung auf das Problem des Systemüberlebens bezogen. Es wird dann nicht gefragt, was Differenzierung ist und wie sie entsteht, sondern welche strukturellen und funktionalen Differenzierungsleistungen erbracht werden müssen, damit der Bestand eines Systems gesichert wird (Parsons, 1966, S. 9; Luhmann, 1971a, S. 123 f.). Die funktionale Sichtweise des Differenzierungsproblems findet sich in vielfach abgewandelter Form auch in den Organisationstheorien soziologischer und verwaltungswissenschaftlicher Prägung. Differenzierung wird dabei nicht einfach als reale Erscheinung im sozialen Leben betrachtet, deren Ursachen und Wirkungen es zu untersuchen gilt, sondern als Gestaltungsproblem sozialer Systeme im Hinblick auf planmäßige Systemleistungen wie z. B. Effektivität, Output oder Uberleben. So wird z. B. von der Organisationstheorie die These vertreten, daß „Organisationen" (Systeme) auf die zunehmende Komplexität ihrer Umwelt und deren Teilsysteme mit einem bestimmten Grad an Innendifferenzierung (z. B. Abteilungsbildung) reagieren müssen (Lawrence/Lorsch, 1967, S. 47), oder daß ein notwendiger Zusammenhang zwischen Organisationsgröße und Organisationsdifferenzierung besteht; dabei wird als Differenzierungsdimension jedes Kriterium angesehen, nach welchem Organisationsmitglieder formal nach Position, Rang oder Zugehörigkeit zu Subsystemen unterschieden werden. 32 Vgl. Blau (1970), S. 203 f.; hier ist zunächst nur die qualitative Dimension von Differenzierung angesprochen; weitere Dimensionen ließen sich unter quantitativen, zeitlichen und räumlichen Gesichtspunkten bilden. Zu den „Dimensionen" der Organisationsdifferenzierung vgl. auch Hoffmann (1976), S. 255 ff., 275 ff. 32

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Der politische Aspekt bei der Differenzierung sozialer Systeme rückt in den Vordergrund, wenn man die strukturelle Absicherung des gemeinsamen Zielbezuges einer Vielzahl von Einzelhandlungen problematisiert (Parsons, 1966, S. 72 ff., 92 f.). Dieser gemeinsame Zielbezug des Handelns i. S. v. Konsens oder Identifikation mit bzw. Motivation unmittelbar durch den Systemzweck ist insbesondere in modernen Großsystemen keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig werden durch starke funktionale Differenzierung, Professionalisierung oder autonome Verfügung über Mittel zur Zielerreichung die einzelnen Einheiten eines sozialen Systems immer schwerer kontrollierbar. (Altmann/Bechtle, 1971, S. 42 ff.; Hondrich, 1973, S. 190 ff.; Blau/Heydebrand/Stauffer, 1971, S. 102 ff.). Soweit man nicht davon ausgehen kann, daß sich alle individuellen Entscheidungen von allein einem vorgestellten Endziel unterordnen, wird man bestrebt sein, entsprechend die Möglichkeiten zur Verbindlichmachung von Entscheidungen hierarchisch zu differenzieren (Parsons, 1966, S. 76 f; Hickson, 1966; Frese, 1970, S. 11). Die Gestaltung solchermaßen differenzierter Handlungsmöglichkeiten bezieht sich auf die Machtverteilung. In diesem Sinne zumeist findet der Begriff „politische Differenzierung" Anwendung in der Politikwissenschaft. Politische Differenzierung wird hier also als Machtdifferenzierung und als wesentliche Determinante der Rangordnung in sozialen Systemen betrachtet (Burdeau, 1964, S. 83 f., 231 ff., 244). Durch politische Differenzierung werden unterschiedliche politische Handlungspotentiale für einzelne Individuen in sozialen Systemen geschaffen. Von diesem Begriff der politischen Differenzierung könnte ein anderer unterschieden werden, der nicht unmittelbar das Interaktionsgefüge sondern die Unterschiede der individuellen Orientierungen beim politischen Handeln betrifft. Solche Unterschiede bilden den ständigen Hintergrund jeglichen politischen Handelns und sind somit gleichermaßen für das Entstehen von politischen Handlungspotentialen wie für deren Nutzung in Form einer bestimmten Politik (policy) relevant. Politische Differenzierung beträfe in dieser Sichtweise das Ausmaß und die Intensität von Meinungsunterschieden, Divergenzen und Zwiespältigkeiten in einem sozialen System (political divisions) (Eckstein, 1966, S. 33 ff.). Im folgenden wird unter politischer Differenzierung jedoch lediglich der Aspekt der Verteilung politischer Handlungspotentiale, d. h. letztlich die Machtdifferenzierung und nicht die inhaltliche Differenzierung oder anderes33 behandelt (Burdeau, 1964, S. 234 ff.). Festgehalten werden muß aber bereits an dieser Stelle, daß ein bestimmter Zustand der MachtdifferenzieEin anderer Begriff politischer Differenzierung könnte z. B. den Aspekt der regionalen oder der institutionellen Zergliederung eines politischen Gemeinwesens im Auge haben, vgl. z. B. Johnston (1976), S. V ff. 33

1.4 Politische Differenzierung

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rung, gleichgültig welche konkrete Struktur der Handlungspotentiale man gerade vorfindet, noch relativ wenig aussagt über die inhaltliche Tendenz der Politik in einem sozialen System, insbesondere was die weitreichenden Entscheidungen über Prozesse der Bedürfnisbefriedigung (policy) anbetrifft. Hierfür erweist sich u. a. auch die normative Differenzierung in Form individuell unterschiedlicher wertmäßiger Orientierungen der Machtträger als maßgeblich.34 Bevor dem hier gestellten Thema gemäß die Möglichkeit einer gezielten Gestaltung politischer Handlungspotentiale im Unternehmen durch Verfassung, Organisation und personale Gestaltung erörtert wird, muß politische Differenzierung als Einrichtung politischer Handlungspotentiale, d. h. als Machtdifferenzierung in sozialen Systemen eingehender erläutert werden.

1.4.2 Politisches Handlungspotential 1.4.2.1 Begriff und Kriterien des politischen Handlungspotentials Politik wurde oben allgemein als Prozeß der Verbindlichmachung von Entscheidungen charakterisiert. Dementsprechend kennzeichnet das politische Handlungspotential eines Individuums oder einer Gruppe deren Möglichkeit, die eigenen Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung (Strategien, Ziele, Werteverteilung, Sinnbezug etc.) in einem sozialen System verbindlich zu machen. Hier müssen analytisch zwei Dimensionen eines individuellen Handlungspotentials unterschieden werden, die zum einen das politische und zum anderen das ausführende Handeln betreffen. Die politische Dimension eines Handlungspotentials, um die es hier allein geht, gewinnt ihre Eigenart dadurch, daß hinter den Entscheidungen Interessen (vgl. S. 26, Anm. 8) stehen, die den sozialen Kontext der Bedürfnisbefriedigung betreffen und daß sich die Entscheidungsfolgen nicht immer mit den Interessen anderer Individuen decken. Deshalb kann nicht ohne weiteres damit gerechnet werden, daß die Entscheidungen verbindlich, d. h. von anderen Individuen hingenommen oder gar aktiv unterstützt werden. Die Herstellung von Verbindlichkeit erfordert also den Einsatz besonderer (politischer) Mittel oder Aktivitäten und wird so zum charakteristischen Bezugsproblem des politischen Handlungspotentials (Parsons, 1966, 34

In diesem Sinne kann der Begriff „politische Differenzierung" auch auf die Systempolitik im engeren Sinne (policy) Anwendung finden und meint dann die Abgrenzung bzw. Unterscheidung der Werte und Ziele (z. B. Einkommen vs. Vollbeschäftigung) bzw. der Interessen, vgl. Remer (1978), S. 36 ff.

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

S. 74). Die politische Komponente eines individuellen Handlungspotentials zieht ihre Existenz daraus, daß ein Individuum bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse, Verwirklichung seiner Ideen etc. auf das Handeln anderer Individuen angewiesen ist. Dies ist mit zunehmender Vergesellschaftung und funktionaler Differenzierung sozialer Systeme immer stärker der Fall. Politisch betrachtet, erscheint das Handeln anderer lediglich insoweit von Belang, als es Folgen für die eigenen Bestrebungen (die nicht unbedingt egoistischer Natur sein müssen) haben kann. 35 Die Möglichkeit, Entscheidungen verbindlich zu machen, das individuelle politische Handlungspotential also, bezieht sich deshalb nur auf jenes mit entsprechenden Folgen befrachtete Handeln. Nun könnte man feststellen, daß in einem sozialen System auf die Dauer und zumindest indirekt jedes Fremdhandeln die eigenen Bestrebungen irgendwie berühren kann, wodurch letztlich alle Handlungsträger in bezug auf alle Handlungsgegenstände politisch miteinander verknüpft wären. Auf diese Weise würden z. B. das Gartenhobby des Bürgermeisters in seinen völlig unbestimmten Folgen für die lokale Finanzverwaltung oder die Reisewünsche eines Sohnes im Hinblick auf die Urlaubspläne der Eltern zu einer Angelegenheit politischer Handlungspotentiale. Um aber den Begriff der Politik und damit die Politikwissenschaft nicht übermäßig zu strapazieren, soll hier nur dann von „politischen" Handlungspotentialen die Rede sein, wenn es um die Verbindlichmachung von Entscheidungen in organisierten Gemeinschaften geht (Burdeau, 1964, S. 79), das politische Handlungspotential mit einer „auf die Gemeinschaft bezogen e ^ ) Funktion" verbunden ist (Dlugos, 1974, S. 57) und die fraglichen Handlungsfolgen in einem konkreten und bewußt gemachten Zusammenhang mit den Bestrebungen des jeweiligen Trägers des politischen Handlungspotentials stehen. Politische Handlungspotentiale können demnach nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sondern auch in gesellschaftlichen Teilbereichen wie Universitäten, Unternehmungen oder Verbänden betrachtet werden. In diesem Zusammenhang erscheint es auch nicht zweckmäßig, „politische" und „parapolitische" Systeme nach der „Breite ihrer Probleme und Verantwortlichkeiten" voneinander zu unterscheiden. 36 Es

Aus der Perspektive einer „praktischen", d. h. normativ fundierten Politikwissenschaft muß das politische Handeln allerdings auch unter dem Gesichtspunkt seines moralischen Wertes für die Gesamtheit eines sozialen Systems betrachtet werden, und zwar nicht nur das fremde Handeln, sondern auch die eigenen Bestrebungen und die daraus resultierenden politischen Handlungsweisen. Dies setzt freilich die Existenz entsprechender Wertvorstellungen wie z. B. Freiheit oder Gleichheit voraus. 35

36 So z. B. Easton (1965a), S. 51 f.; dies entspräche im übrigen der früh-liberalistischen Auffassung von der eingeschränkten politischen Verantwortlichkeit „parapolitischer" Systeme gegenüber der Gesamtgesellschaft.

1.4 Politische Differenzierung

45

kommt politikwissenschaftlich-abstrakt betrachtet primär nicht auf den Bereich der Entscheidungen an, sondern auf die Möglichkeit und den Vorgang ihrer Verbindlichmachung. Verbindlich gemacht werden können Entscheidungen in sozialen Systemen letztlich nur über die Gestaltung des politischen Handlungspotentials anderer Individuen. Die Verbindlichkeit einer Entscheidung ist solange nicht gesichert, wie von anderer Seite die Möglichkeit besteht, „Gegenentscheidungen" verbindlich zu machen. Deshalb beziehen sich Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung in sozialen Systemen zumindest soweit die politischen Beziehungen nicht institutionalisiert (z. B. verfaßt) sind - bereits auf die Gestaltung des politischen Handlungspotentials anderer Individuen. Das politische Handlungspotential eines Individuums ist mithin zunächst dadurch gekennzeichnet, welche Möglichkeiten bestehen, Entscheidungen über das Verbindlichkeitspotential fremder Individuen durchzusetzen. Politisches Handeln erscheint dann ursprünglich als Auseinandersetzung um politisches Handlungspotential, mit dem Ziel, Entscheidungen über individuelle Verbindlichkeitspotentiale bindend zu machen. Politische Differenzierung als Differenzierung politischer Handlungspotentiale meint dann abstrakt betrachtet den Aufbau37 und die Absicherung38 politischer Handlungspotentiale für noch unbestimmte Entscheidungen. Diesem abstrakten („rein" politischen) Begriff des politischen Handlungspotentials muß aber ein konkreter Begriff an die Seite gestellt werden, nach welchem ein politisches Handlungspotential enger definiert ist durch die Möglichkeiten eines Individuums, Entscheidungen über konkrete Ziele, Strategien, Programme etc. verbindlich zu machen. Bevor später der Frage nachgegangen wird, woraus sich die abstrakten und konkreten politischen Möglichkeiten eines Individuums ableiten, müssen der Begriff und die Kriterien der Entscheidungsverbindlichkeit noch genauer bestimmt werden. Die Auffassung, politisches Handeln sei das gegenseitige Entscheidungsverhalten von Individuen (Buchanan, 1966, S. 26 f.), läßt sich dahingehend auslegen, daß es dabei stets um den Versuch geht, andere zur Annahme von interessegeleiteten Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse kollektiver Bedürfnisbefriedigung zu bewegen. Die Verbindlichkeit solcher Entscheidungen drückt sich darin aus, mit welcher Nachhaltigkeit sie Eingang in das zukünftige Entscheidungsverhalten (Auswahlverhalten, Simon, 1957c;

Vgl. den „im engeren Sinne politischen Bereich" bei Luhmann (1971), S. 46 f., 51, 75. Politisches Handeln wird daher auch als „sekundäres" Handeln und als „Absicherungshandeln" begriffen, Dlugos (1974), S. 56, vgl. hierzu auch die Definition der „Macht-Rolle" bei Ciaessens (1974), S. 146. 37 38

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Dill, 1962, S. 32 ff.) der anvisierten Individuen finden. Häufig wird dieser Sachverhalt damit umschrieben, daß eine Entscheidung Verbindlichkeit erlangt, wenn sie als Entscheidungsprämisse von anderen Individuen akzeptiert oder angenommen wird (Simon, 1957, a, S. X X X f.; Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 197 ff.; Luhmann, 1971, S. 66). Entscheidungsprämissen werden allgemein als Informationen bezeichnet, die das Entscheidungsverhalten eines Individuums beeinflussen. Dabei kann es sich z. B. um Informationen über eigene und fremde Ziele oder Werte, Kausalzusammenhänge, Wahrscheinlichkeiten, Handlungsalternativen und -konsequenzen oder vielfältige sonstige Gegebenheiten drehen (Kirsch, 1971, Bd. 2, S. 97 ff.; Kirsch, 1971, Bd. 1, S. 25 f.). Demnach ist die gegenseitige Möglichkeit, Entscheidungen verbindlich zu machen, dadurch bestimmt, ob und wie bestimmte Informationen gezielt als Prämissen einander „eingepflanzt" werden können. Damit erhebt sich die Frage, was ein Individuum dazu veranlaßt, bestimmte Informationen als Prämissen seines Entscheidungsverhaltens zu übernehmen. An dieser Stelle offenbart sich die begrenzte Reichweite des entscheidungstheoretischen Ansatzes bei der Erklärung politischer Prozesse. Die Frage, welche Informationen als Entscheidungsprämissen übernommen werden, läßt sich nämlich selbst nur sehr begrenzt als Entscheidungsfall i. e. S. auffassen. Seit einiger Zeit verfolgt man deshalb das Entstehen von Entscheidungsverbindlichkeit, d. h. die Übernahme von Informationen als Entscheidungsprämissen, auf der höheren und weiterreichenden Ebene allgemeiner Prozesse der Informationsverarbeitung (Sozialisation, Wahrnehmung, Lernen u. ä.) (Kirsch, 1971, Bd. 2, S. 97 ff.; 1971, Bd. 3, S. 161 ff.). Dann wird der „Prozeß der Annahme von Entscheidungsprämissen als eine Folge von Tests, denen die Informationen genügen müssen, um als Entscheidungsprämissen akzeptiert zu werden" (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 200 f.) interpretiert. Fraglich erscheint dabei allerdings, ob das Verbindlichwerden von Entscheidungen mit dem Begriff des „Informationstests" und somit auf kognitiver Ebene angemessen beschrieben und erklärt werden kann. Diese Auffassung impliziert noch allzu sehr die Vorstellung, daß ein Individuum (begrenzt) rational darüber entscheidet (testet), ob und wie es sich an fremden Entscheidungen orientiert. Die prinzipielle Irrationalität möglicher Verbindlichkeitsdeterminanten wie z. B. Glaube, Hoffnung oder Emotion läßt es aber eher ratsam erscheinen, die Genese von Entscheidungsprämissen auch „unterhalb" der kognitiven Ebene, im Unterbewußtsein oder im „endothymen Grund" der Persönlichkeit (Lersch, 1970, S. 498 ff.) zu suchen. Das prämissengesteuerte Entscheidungsverhalten wurzelt zumindest teilweise im Unbewußten (Hedinger, 1971, S. 120), und der Entscheidungsbegriff als Erklärungsinstrument würde wohl überdehnt, wenn man ihn auch auf Vorgänge im Unterbewußtsein anwendet (Dill, 1962, S. 32). Die Akzeptierung von Entscheidungsprämissen steht dem betreffenden

1.4 Politische Differenzierung

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Individuum also nur teilweise zur kognitiven Disposition.39 Deshalb könnte das Verbindlichmachen von Entscheidungen und somit auch die Differenzierung politischer Handlungspotentiale praktisch schon bei der Kontrolle von „Vorentscheidungen" oder Prädispositionen eines Individuums beginnen, was sich heute z. B. in den modernen Formen totalitärer Erziehung bestätigt. Erscheinungen wie „politische Erziehung", „Gehirnwäsche", planmäßige Sozialisation und politisches „Marketing" können als Hinweise darauf gedeutet werden, wie sehr man dem Verbindlichkeitspotential einfacher Instrumente wie Verfassung und Organisation mißtraut, und daß totale (oder totalitäre) Politik zunehmend bei der tiefergehenden Persönlichkeitsgestaltung ansetzt.40 Die Zurückführung von Entscheidungsverbindlichkeit auf die Kontrolle individueller Prädispositionen wirft aber gravierende Probleme auf für den Versuch, politische Handlungspotentiale durch Verteilung entsprechender Kontrollmöglichkeiten des Entscheidungsverhaltens gezielt zu differenzieren. Darüber hinaus ist nicht nur das Entscheidungsverhalten selbst ein Ergebnis hochkomplexer Prozesse, sondern es ist seinerseits nur eine unter mehreren Determinanten der sich anschließenden Aktivitäten. So ist etwa mit der Kontrolle des Entscheidungsverhaltens eines Individuums noch keineswegs festgelegt, in welcher Weise es (z. B. aufgrund seiner intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten) seine Entscheidungen in die Tat umzusetzen in der Lage ist. Eine andere Frage als die nach der Herstellung von Entscheidungsverbindlichkeit ist die nach den Verbindlichkeitskriterien. Woran kann man die Verbindlichkeit von Entscheidungen messen und welchen Maßstab soll man dabei zugrunde legen? Als Kriterium für die Verbindlichkeit kommt vor allem dreierlei in Frage: Der Informationsgehalt, die soziale Reichweite und die Wirksamkeit einer Entscheidung. Der Informationsgehalt ist um so größer, je mehr Verhaltensvarianz eine Entscheidung logisch ausschließt bzw. je genauer und enger ihr Anweisungscharakter ist. So weist beispielsweise eine Entscheidung geringere Verbindlichkeit auf, wenn sie nur grobe Verhaltensziele beinhaltet anstatt Detailziele und ganz bestimmte Mittel zu nennen. Die soziale Reichweite ist insofern ein Verbindlichkeitskriterium, als es in sozialen Systemen darauf ankommen kann, mit der betreffenden Entscheidung das Verhalten möglichst vieler (oder maßgeblicher) Individuen Nicht zuletzt leben politische Handlungspotentiale grade von diesem „Dämmerzustand" anderer Individuen, der nicht einmal mehr mit Begriffen wie „Routineentscheidung" oder „programmierte Entscheidungen" erfaßt werden kann, weil die kognitiven Prozesse (Bewußtsein) ein Minimum erreicht haben. 40 Der Rückbezug auf die notwendigen Persönlichkeitsvoraussetzungen und ihre Gestaltung findet sich verständlicherweise auch und gerade dort, wo ein normativer (im Gegensatz zum positivistisch-liberalistischen) Demokratiebegriff zugrunde gelegt wird, vgl. z. B. Künzli (1974), S. 41 ff.; Flechtheim (1974), S. 25. 39

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

zu erreichen. Mit zunehmender funktionaler Differenzierung wird dies immer schwieriger und zugleich „notwendiger". Das Kriterium der Wirksamkeit hat zwei Dimensionen. Zum einen ist darunter die motivationale Verbindlichkeit (psychische Intensität bzw. Verhaltenswirksamkeit) einer Entscheidung zu verstehen, zum anderen die zeitliche Verbindlichkeit (Nachhaltigkeit, Fristigkeit, Dauerhaftigkeit) einer Entscheidung als Verhaltensdeterminante für andere Individuen. Die soziale Reichweite und die Wirksamkeit als Kriterien der Entscheidungsverbindlichkeit finden in den meisten Analysen politischen Handelns Verwendung. Dahl und Harsanyi sprechen im Zusammenhang mit der sozialen Reichweite von „domain" („what other actors does he influence?") (Dahl, 1970, S. 18) bzw. „extension" (personelle Ausdehnung) (Harsanyi, 1965, S. 191); bei Luhmann wird dies als soziale Generalisierung des Einflusses („Führung") bezeichnet (Luhmann, 1972, S. 124). Die Wirksamkeit wird gekennzeichnet durch verschiedene Begriffe der Erfolgswahrscheinlichkeit, Intensität und Zwangsläufigkeit (Dahl, 1970, S. 18; Harsanyi, 1965, S. 191) oder als zeitliche Generalisierung der Annahmemotivation einer Entscheidung (Luhmann, 1972, S. 124). Ein konkretes politisches Handlungspotential ist aber nicht nur durch die Entscheidungsverbindlichkeit und deren Kriterien charakterisiert, sondern zumindest noch durch ein weiteres Hauptkriterium: den konkreten Entscheidungsgegenstand oder -bereich (scope), auf den sich die Verbindlichkeit bezieht (Dahl, Harsanyi). Das politische Handlungspotential wächst mit der Zahl und Art der Entscheidungsgegenstände, auf die sich die Verbindlichkeit bezieht. Die Ausdehnung der Verbindlichkeit auf beliebige Entscheidungsgegenstände kann auch als sachliche Generalisierung von Einfluß bezeichnet werden (Luhmann). Nach diesen Überlegungen ist also ein politisches Handlungspotential um so größer, je mehr und wichtigere Entscheidungen in einem sozialen System verbindlich gemacht werden können, wobei die Verbindlichkeit mit der sozialen Reichweite, dem Informationsgehalt und der Wirksamkeit der jeweiligen Entscheidung wächst. Ob ein Individuum ein großes politisches Handlungspotential hat oder nicht, ist eine Frage seiner politischen Mittel, die ihm zur Verbindlichmachung von Entscheidungen zur Verfügung stehen. Von grundlegender Bedeutung sind dabei jene Ausgangsmittel, die es einem Individuum ermöglichen, Entscheidungen über die Verteilung politischer Mittel verbindlich zu machen. Politische Differenzierung in sozialen Systemen bedeutet daher primär die Differenzierung von Mitteln, mit denen zunächst Entscheidungen über politische Handlungspotentiale verbindlich gemacht werden können. Davon hängt in der Folge die Möglichkeit ab, die Entscheidungsverbindlichkeit auch auf andere (Sach-) Entscheidungsebenen auszudehnen. Um später untersuchen zu können, welchen Einfluß Unter-

1.4 Politische Differenzierung

49

nehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung auf die politische Differenzierung haben, bedarf es mithin einer Operationalisierung des primären Bezugspunktes „politische Mittel". 1.4.2.2 Macht als Grundlage des politischen Handlungspotentials Im folgenden geht es darum, einige Voraussetzungen zu erläutern, unter denen ein Individuum Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung in sozialen Systemen gezielt verbindlich machen kann. In bezug auf das einzelne Individuum werden solche Voraussetzungen in der Politikwissenschaft zumeist mit den Begriffen Einfluß oder Macht gekennzeichnet. Während hier Macht- und Einflußmittel nur als Grundlagen zur Herstellung von Verbindlichkeit betrachtet werden, ersetzen sie in anderen Konzeptionen praktisch den Begriff des politischen Handlungspotentials überhaupt.41 Macht und Einfluß werden in der politikwissenschaftlichen Diskussion unterschiedlich gegeneinander und gegenüber ähnlichen Begriffen wie Autorität, Zwang, Kontrolle, Führung oder Manipulation abgegrenzt (Lasswell/ Kaplan, 1963; Cartwright, 1959; Dahl, 1957, 1968; March, 1966; Bachrach/ Baratz, 1962; Banfield, 1961; Harsanyi, 1965; McFarland, 1969; Kirsch, 1971; Luhmann, 1969a, 1975; Bell/Edwards/Wagner, 1969). Bei Weber bedeutete Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." (Weber, 1964, S. 38). Der Begriff „Widerstreben" impliziert u.a., daß Macht die Verfügung über Sanktionen voraussetzt, deren Quellen allerdings vielfältig sein können. Eine moderne, auf das Problem der funktional-differenzierten gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung oder Werteverteilung zugeschnittene Fassung des Weberschen Machtbegriffs gibt Hondrich: „Macht ist die Chance einer Einheit in einem sozialen System, bei der Bestimmung von Bedürfnissen (Leistungszielen) und der Produktion und Verteilung von Mitteln der Befriedigung (Leistungsmitteln), die eigenen Interessen (Bedürfnisse) auch gegen die Interessen anderer Einheiten durchzusetzen, gleichgültig worauf die Chance beruht." (Hondrich, 1973, S. 36, 62 ff.). Konstitutive Elemente des Machtbegriffes wären demnach die Existenz einer sozialen Beziehung, eines Interessenkonfliktes und die Möglichkeit, Sanktionen einzusetzen. Die Auslegung von Macht durch die Sanktionsmög41

Vgl. z. B. Dahl (1970), S. 18; ein deutlicher Hinweis auf die Notwendigkeit, deskriptive Elemente (z. B. Entscheidungsgegenstand, Verbindlichkeit) und explanative Elemente (z. B. politische Mittel) bei der Analyse politischer Handlungsspielräume zu trennen, findet sich bei Kirsch (1971, Bd. 3), S. 187 f.

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

lichkeit findet sich in sehr vielen Definitionen. Zumeist handelt es sich dabei u m negative Sanktionen 4 2 : Macht ist die „ D r o h u n g v o n Sanktionen . . . das Einwirken auf die Politik (policies) anderer mit H i l f e (tatsächlicher oder angedrohter) schwerwiegender Verluste f ü r den Fall der N i c h t a n p a s s u n g ihrer Politik an bestimmte Intentionen." (Lasswell/Kaplan, 1950, S. 75 f.). D e r Sanktionsbegriff muß nicht unbedingt an den Staatsbegriff u n d an das Vorhandensein von institutionalisiertem Recht oder gar einer überlagernden Rechtsidee (Burdeau, 1964, S. 209) gebunden sein und es erscheint überhaupt fraglich, ob Macht umfassend durch den Sanktionsbegriff beschrieben werden kann. „ M a c h t ist überall gegenwärtig, w o und wann immer auf das Individuum sozialer D r u c k ausgeübt wird, u m erwünschtes Verhalten herbeizuführen. D i e Mittel, diesem D r u c k gegenüber G e h o r s a m zu erreichen, sind zwar wichtig, jedoch von nur sekundärer B e d e u t u n g . " (Mannheim, 1970, S. 42). „Sozialer D r u c k " und „ G e h o r s a m " lassen sich vielfältig interpretieren. E s können darunter sowohl dinglich/physische als auch kognitive und affektive Einflußbeziehungen subsumiert werden (Kirsch 1971, B d . 3, S. 186; Mannheim, 1970, S. 45 f.). Mithin ließe sich der Machtbegriff durch den allgemeineren Begriff des Einflusses auslegen (Albert, 1955, S. 74), wobei Macht noch nicht der Einfluß selbst, sondern nur die Möglichkeit (Potential) dazu bezeichnet: „ W e n n O die Fähigkeit besitzt, P zu beeinflussen, so sagen wir, daß O über P Macht h a t . " (Cartwright, 1965, S. 4). D i e Definition von Macht mittels des Einflußbegriffs ist allerdings nicht unproblematisch. Einigen A u t o r e n erscheint eine definitive T r e n n u n g beider Begriffe zwar nur als zweitrangiges Problem (Dahl, 1970, S. 14 ff.), andere hingegen halten eine scharfe A b g r e n z u n g für unerläßlich. In den meisten Fällen wird Macht als ein besonderer T y p von Einfluß aufgefaßt oder es wird ein Unterschied zwischen Macht und Einfluß etwa darin gesehen, daß im ersten Fall Sanktionsprozesse, im zweiten dagegen U b e r z e u g u n g s p r o z e s s e (persuasion, to convince) stattfinden (Parsons, 1966, S. 79, 89 f.). Letzterer Begriffsbestimmung von Einfluß sind allerdings nur wenige A u t o r e n gefolgt. Geteilt wird jedoch vielfach die A u f f a s s u n g , daß Einfluß im G e g e n s a t z zu Macht nicht an Sanktionsmöglichkeiten gebunden und insofern weiter gefaßt ist (Bachrach/Baratz, 1963; Easton, 1953; L a s s w e l l / K a p l a n , 1950, S. 74 ff.). I m folgenden wird von Macht statt von Einfluß die R e d e sein, jedoch unter A b s e h u n g v o n der engen Bindung an das Sanktionsprinzip. Dabei kann teilweise d e m Vorschlag von M c F a r l a n d zur Unterscheidung v o n Einfluß und Macht gefolgt werden. D i e s e Unterscheidung geht v o m übergeordneten Begriff der sozialen Verursachungsbeziehung aus (social causation) (McFar42 Im äußersten Fall wird Macht sogar nur durch negative Sanktionen definiert, vgl. Holm (1969), S. 278.

1.4 Politische Differenzierung

51

land, 1969, S. 3 ff.). Danach ist Macht i. S. v. Einfluß eine spezielle Kausalbeziehung im gegenseitigen Verhalten (i. w. S.) zweier oder mehr Menschen43, die sich von Einfluß als allgemeinem Fall sozialer Kausalbeziehungen dadurch unterscheidet, daß es sich dabei um widerstandsbezogenen, beabsichtigten (intended) Einfluß handelt (McFarland, 1969, S. 6 f., 13; Easton, 1953; Irle, 1971, S. 13 f.). Eine spezielle Art von Machtgebrauch wäre dann der Gebrauch von Sanktionsmitteln (coercive power). Macht tritt aber auch in Erscheinung, wenn Widerstände nicht mittels Sanktionen überwunden werden, sondern wenn es sich z. B. darum handelt, ein bestimmtes Verhalten zu „suggerieren": „C's behavior exercises suggestive power over R's behavior if and only if C's behavior causes changes in R's behavior that C intends and that R himself then wishes." (McFarland, 1969, S. 14). Es werden hier also nicht alle Arten sozialer Verursachungsbeziehungen als Machtbeziehungen bezeichnet44. Unbestritten bleibt damit aber, daß so gut wie alle sozialen Einflüsse (z. B. durch Persönlichkeit und Situation) zum Gegenstand von Machtstreben werden können, sofern man die Möglichkeit sieht, mit ihrer Hilfe Entscheidungen verbindlich(er) zu machen. Macht wird hier andererseits nicht eng an die materielle Sanktionsmöglichkeit gebunden, sondern kann auch den Einsatz kognitiver oder affektiver Mittel meinen. Beim „Macht-Haben" kann man unterscheiden zwischen Macht als Potential (potential influence, Machtaufbau) und Macht als (beabsichtigtem) tatsächlichem Einfluß (manifest influence).45 Der Besitz von Macht als Potential ist nur als Relation zwischen zwei oder mehr Individuen, im Zeitablauf und unter sich wandelnden Bedingungen zu verstehen. Macht existiert nur zwischen Individuen, ist auf deren Vorhandensein angewiesen und stellt keine fest umrissene zeitkonstante Größe „im luftleeren Raum" dar. Deshalb „besitzt" ein Individuum auch stets nur relative und bedingte Macht, die sich mit den Umständen sofort ändert (Easton, 1953; Bachrach/ Baratz, 1963). Diese Umstände, die zur Modifizierung der Macht führen, sind gekennzeichnet durch die Verhaltensmöglichkeiten und -einflüsse aller beteiligten Individuen. Die Verhaltensmöglichkeiten eines Individuums in einer Machtbeziehung werden bestimmt von seiner Persönlichkeit (Ziele, Vgl. Simon (1957b), S. 5; zur Problematik der Auslegung von Macht als Kausalbeziehung vgl. auch Luhmann (1969a), S. 150 ff. 44 Vgl. auch Freund (1964), S. 359; andere soziale Ursachen wären etwa Liebe und Glaube, vgl. Loewenstein (1969), S. 3. 4 5 Vgl. z. B. Dahl (1970), S. 28 ff.; Luhmann (1971b), S. 75 (in bezug auf das „politische System"). In diesem Sinne wird Macht als „potential influence", d. h. im Gegensatz zu „influence" von den Ursachen statt von den Wirkungen her definiert. Allerdings werden dabei häufig die „Machtursachen" (Basen) wiederum in Form von Beziehungen dargestellt und die diesen Beziehungen zugrunde liegenden (Macht-)Potentiale in ungeklärter Weise vorausgesetzt; vgl. z. B. French/Raven (1959) („relationship between O und P " als „source of power"); S. 153; Collins/Raven (1969), S. 160 ff. 43

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Wahrnehmungen, Motivationen, Fähigkeiten, Erfahrungen, Erwartungen etc.) (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 185) und von seiner äußern Situation (fremde Erwartungen, Zugang zu Ressourcen, Verhaltensalternativen, Wirtschaftssystem, Bildungswesen, Familienverhältnisse, Wohnung, soziales Milieu, Gesetze etc.).46 In der Literatur finden sich typische Beispiele für die Bedingtheit und Variabilität eines Machtpotentials. So wird bei Lewin die Macht des b über a definiert „als der Quotient aus maximaler Kraft (force), die b auf a ausüben kann und maximalem Widerstand, den a anbieten kann" (Lewin, 1951, S. 336), oder Macht wird in Abhängigkeit von den Motiven des Machtunterworfenen gesehen (Cartwrith/Zander, 1968, S. 224 ff.). Die Grundannahmen des sog. „force conditioning"-Modells beziehen sich auf Macht als Gegenstand von Wahrnehmung und Lernen: „(1) Menschen haben Macht, weil man glaubt, daß sie Macht haben. (2) Man glaubt, daß Menschen Macht haben, weil man beobachtet hat, daß sie Macht haben." (March, 1966, S. 61). Danach käme es nicht allein auf das objektive Vorhandensein von Machtpotential an, sondern auch darauf, ob und wie man die Macht eines Individuums wahrnimmt (Dahl, 1970, S. 30 f.). Aber nicht nur das Machtpotential sondern auch seine Verwendung (Machtausübung) ist bedingt und hängt u. a. davon ab, wie geschickt ein Individuum seine Ressourcen nutzen kann, ob und wie sehr es zum Einsatz seiner Ressourcen motiviert ist und welche Erwartungen es bezüglich seiner Machtausübung bei anderen Individuen voraussetzt (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 188 ff.). Des weiteren kann, wie im „force depletion"-Modell angenommen (March, 1966, S. 63 ff.), durch Machtausübung das Machtpotential eines Individuums sich im Zeitablauf abnutzen, was von ganz verschiedenen Umständen abhängt. Schließlich können die äußeren Bedingungen den Einsatz von Machtpotential auch deshalb in Frage stellen, weil er Opportunitätskosten verursacht, d. h. Ressourcen (z. B. Zeit), die für die Machtausübung verwendet werden, gehen einem anderen Wert (z. B. Allgemeinbildung, Hobby) verloren (Dahl, 1970, S. 18 f.; Harsanyi, 1965, S. 193). Bei einer sehr weiten Auslegung des Machtbegriffs könnte man jeglichen beabsichtigten Einfluß auf die obigen Bedingtheiten der Macht (Persönlichkeit, Situation) auch langfristig noch als Machtausübung und jede Möglichkeit dazu als Machtpotential bezeichnen. Dies erscheint allerdings aus forschungspragmatischen Überlegungen nicht besonders sinnvoll, weil dann Macht ad infinitum durch Macht erklärt würde und schließlich die bereits getroffene Abgrenzung zu allgemeinen sozialen Kausalbeziehungen fallen gelassen werden müßte. Das Machtkonzept scheint sich demgegenüber Entscheidungstheoretisch interpretiert ist damit das „Entscheidungsfeld" des jeweiligen Individuums angesprochen, vgl. Pohmer/Schweitzer (1974), S. 81.

46

1.4 Politische Differenzierung

53

besser für die Erklärung relativ kurzfristiger und keinesfalls für alle politischen Prozesse zu eignen.47 Vereinfacht können die bisherigen Überlegungen zu einem kurzen Resümee zusammengezogen werden: Politik als Prozeß meint die interessegeleitete Auseinandersetzung um Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung (Werteverteilung etc.) in sozialen Systemen. Die Möglichkeit, bestimmte Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse in sozialen Systemen verbindlich zu machen, wird als politisches Handlungspotential bezeichnet. Das politische Handlungspotential eines Individuums meint dessen Machtmittel. Politische Differenzierung läßt sich daher als Machtdifferenzierung begreifen. Bei der Gestaltung politischer Handlungspotentiale (und somit auch der Politik) in sozialen Systemen durch gezielte Machtdifferenzierung ist aber folgendes zu berücksichtigen: (1) Macht ist einer unter mehreren Verursachungsfaktoren von Bedingungen und Prozessen der Bedürfnisbefriedigung in sozialen Systemen. (2) Von anderen sozialen Verursachungsfaktoren (z. B. kulturelle, historische oder genetische Einflüsse) unterscheidet sich Macht dadurch, daß sie nur die interessegeleitete, bewußte und somit absichtsvolle soziale Verursachung umfaßt. (3) Es kann unterschieden werden zwischen Macht als (relative) Möglichkeit der Beeinflussung (Machtpotential) und Macht als (mehr oder weniger) erfolgreiche Wirkung von Machtpotential (intendierter, tatsächlich erzielter Einfluß). (4) Machtverwendung ist der Einsatz von Machtpotential zur gezielten Beeinflussung des (Entscheidungs-)Verhaltens von Individuen. Jedoch hängt es von zusätzlichen Faktoren ab, ob und wie ein Individuum sein Machtpotential zur Verhaltensbeeinflussung einsetzt (z. B. von seiner Motivation zur politischen Partizipation, von fremden Erwartungen, von seinen Zielen). (5) Machtpotential ist, auf das Individuum bezogen, die Chance, Entscheidungen über Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung in sozialen Systemen verbindlich zu machen. Die Verbindlichkeit von Entscheidungen garantiert allerdings noch nicht deren Umsetzung in konkretes Handeln. (6) Der Erfolg versuchter Verhaltensbeeinflussung durch Einsatz von Machtpotential hängt ab von - dem eigenen Machtpotential eines Individuums im Verhältnis zum Machtpotential anderer Individuen, - individuellen Merkmalen der Machtausübenden (z. B. Wahrnehmung ihres Machtpotentials, Fähigkeit zum Einsatz ihres Machtpotentials), - individuellen Merkmalen der Machtbetroffenen (z. B. Ziele und Uberzeugung, Bereitschaft und Fähigkeit zum eigenen Machteinsatz,

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Fähigkeit zur Umsetzung akzeptierter Entscheidungen in gefordertes Verhalten), - intervenierenden Variablen (situationsspezifische Einflußfaktoren der obigen Erfolgsbedingungen). (7) Je nachdem, welche Arten von Machtpotential eingesetzt werden, tritt die Machtausübung in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Solche Erscheinungsformen (Macht-Beziehungsmuster) sind z. B. Ausübung oder Androhung von Zwang, Uberzeugung (oder Überredung) von der Vorteilhaftigkeit bzw. Richtigkeit oder Legitimität eines bestimmten Verhaltens, Versprechung von materiellen Belohnungen, Angebot von Kompensationen, Androhung von Sympathieentzug, Manipulation von Informationen u. v. a. 48 . Zumeist werden dabei mehrere unterschiedliche Machtpotentiale zugleich eingesetzt. (8) Das Machtpotential eines Individuums sind jene Einflußmittel, die es zu einem bestimmten Zeitpunkt direkt oder indirekt zum Einsatz bringen kann. Beschränkt man Macht nicht auf Verfügung über dinglich/ physische Sanktionsmittel, dann muß auch das kognitive und affektive Potential eines Individuums berücksichtigt werden. Danach ließen sich grob drei Arten von Machtpotentialen unterscheiden: a) Dinglich/physisches Potential (z. B. eigene materielle, technische, physische Ressourcen sowie die Möglichkeit, fremdes dingl./physisch. Potential für sich zu aktivieren, wie etwa finanzielle od. körperliche Sanktionen durch Dritte zu bewirken); b) Kognitives 49 Potential (z. B. Bewußtsein, Wissen, Argumentationsfähigkeit sowie die Möglichkeit, fremdes kognitives Potential für sich zu aktivieren, wie etwa die Heranziehung von Experten); c) Affektives 50 Potential (z. B. sympathische Erscheinung, Einfühlungsvermögen, Charisma, Popularität, sowie die Möglichkeit, fremdes affektives Potential für sich zu aktivieren, wie etwa durch Verweis auf sympathische Referenzen). Vgl. hierzu die Diskussion von Macht als politisches Erklärungskonzept bei March (1966), S. 68 ff.; Naschold (1969), S. 151 ff. und die dort angegebene Literatur. 4> Eine Systematisierung der vielfältigen Erscheinungsformen von Machtausübung ist in der einschlägigen Literatur bisher nur recht unbefriedigend gelungen. Die meisten erwähnten Formen überschneiden sich, da in ihnen z. B. die gleichen Arten von Machtpotential aktiviert werden. So z. B. bei der „Drohung", die sich sowohl auf kognitives Machtpotential stützen kann (insbesondere wenn eine Sanktionsmöglichkeit faktisch gar nicht gegeben ist), als auch auf materielles Machtpotential (tatsächliche Verfügung über materielle Sanktionen) sowie auf affektives Machtpotential (z. B. Angebot und Entzugsdrohung von Zuneigung). Beispiele für Erscheinungsformen finden sich u. a. bei Dahl (1970), S. 32 ff.; Lindblom (1965); Klis (1969); Kirsch (1971, Bd. 3), S. 217 ff. und der dort angegebenen Literatur. 47

49 50

Vgl. hierzu den Kognitionsbegriff bei Price-Williams (1964), S. 99. Vgl. den Begriff der affektiven Einstellung bei Süllwold (1975), S. 475 ff.

1.4 Politische Differenzierung

55

French/Raven

Rewards/Coercion

Expert Power

Referent Power

Legitimate Power

Simon

Sanctions

Confidence

Persuasion

Legitimacy

Kirsch

Sanktionen

Sachverständigkeit

Identifikation

Internalisation der Gehorsamspflicht

physisch/dingliches Potential

z. B. Verfügung z. B. Besitz v. über ökonomische InformationsGüter technologien

z. B. Besitz dinglicher Erfolgssymbole

z. B. Amtsbezeichnung und Amtskleidung

kognitives Potential

z. B. Verfügung über erstrebte Informationen

z. B. Besitz von Detailkenntnissen

z. B. guter Ruf als Fachmann

z. B. Fähigkeit zur Kommunikation von Satzungen, Regeln, Traditionen etc.

affektives Potential

z. B. Eigenschaften, die jemanden begehrenswert machen

z. B. gute persönliche Beziehungen zu Informationsträgern

z. B. vertrauenserweckende Erscheinung

z. B. Charisma, Hervorrufung von Traditionsgefühlen

«-(gegenseitige Bedingtheit)—» Darst. 3: Möglichkeiten der Systematisierung von Machtpotentialen 51

Dingliche, kognitive und affektive Potentiale können sich gegenseitig stützen und bauen in ihrer Verfügbarkeit z. T. aufeinander auf (z. B. Gewinn eigenen materiellen Potentials oder Beeinflussung fremden materiellen Potentials durch Einsatz kognitiver und affektiver PotentiaDieser Versuch einer Systematisierung der Machtpotentiale deckt sich zwar sprachlich nicht ganz mit anderen gängigen Versuchen, vermag diese aber zu erfassen und z. T. noch zu differenzieren, wie Darst. (3) zeigen will. Ein gewisses Problem liegt dabei im Begriff der „legitimen Macht". Legitime Macht beruht auf dem Glauben an die Richtigkeit Vgl. Simon (1957d), S. 104 ff.; French/Raven (1959), S. 155 ff. (Macht wird hier aus der Perspektive des Machtobjektes definiert); Kirsch (1971, Bd. 3), S. 204 ff., unter Verweis auf die Systematik bei Peabody (1964), S. 120. Bei Weber's Begriff legitimer Herrschaft zeigt sich, daß der Legitimationsaspekt materielle, kognitive und affektive Machtgrundlagen beinhaltet, da die Legitimation z. B. auf bestimmten Bewußtseinshaltungen, persönlichen Qualitäten, Gesetzen, Sanktionen u. a. m. beruhen kann, Weber (1964), S. 26; weitere Klassifikationen von Machtpotentialen bzw. „Einflußtypen" finden sich bei Rüssel (1938), Gilman (1962), Harsanyi (1962), die von Cartwright (1965, S. 12 f.) zu einem Schema verarbeitet wurden, welches dem hier verwendeten recht ähnlich ist. 51

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

(Gerechtigkeit) der Verhaltensbeeinflussung (des Gehorsams) (Dahl, 1970, S. 33). Dahinter steht jedoch dingliches (z. B. Legitimationssymbole), kognitives (z. B. Kommunikation von Gesetzen) oder auch affektives (z. B. Charisma) Machtpotential, mit dessen Hilfe der Glaube an die Angemessenheit der Einflußhinnahme in einer spezifischen sozialen Situation hervorgerufen wird (Kirsch, 1971, Bd. 3, S. 211 f., 215; Luhmann, 1969, S. 27 ff.). (9) Das Machtpotential eines Individuums - kann auf den Informationsgehalt (kognitives Potential), die soziale Reichweite (kognitives und dingliches Potential) und die Wirksamkeit (kognitives, dingliches und affektives Potential) seiner Entscheidungen bezogen werden. Im Zentrum steht zumeist das Problem der Wirksamkeit (motivationale und zeitliche Verbindlichkeit); - beruht auf vielfältigen Quellen, die zum einen in der Persönlichkeit des Machthabers (z. B. Intelligenz, Erscheinung, Erfahrung, Antrieb) und zum anderen in der äußeren Situation (z. B. Rollen, Gesetze, gesellschaftliche Normen, Bräuche und Institutionen, Infrastruktur, Bildungssystem, Familie, gute Beziehungen, Technologie) begründet sind; - kann seinerseits als Verursachungsfaktor der Machtquellengestaltung betrachtet werden. Deshalb spricht man auch nicht nur von Macht über Verhalten, sondern auch von Macht über Situationen (z. B. Einsatz kognitiven Potentials zur Veränderung der Gesetze) oder Macht über die Persönlichkeit (z. B. Einsatz affektiven Potentials zur Veränderung von Einstellungen); - ist mithin im weitesten Sinne Ursache und Wirkung zugleich. Dies schränkt von vornherein jede umfassende Machtanalyse und gezielte Machtdifferenzierung in ihrem Erfolg ein; - kann sich im Zeitablauf (durch Gebrauch) abnutzen; - ist in seiner Wirksamkeit u. a. auch davon abhängig, ob andere Individuen an die Existenz eines starken Machtpotentials glauben; - verursacht den Machtausübenden beim Einsatz Opportunitätskosten; - kann sich mit dem jeweiligen Entscheidungsgegenstand verändern; ein politisches Handlungspotential besteht demnach aus verschiedenen Teilhandlungspotentialen, die sich nach Entscheidungsgegenstand und -Verbindlichkeit von einander unterscheiden lassen. Das politische Mittel „Macht" ist eine Grundlage politischer Handlungspotentiale, weil erst sein Besitz es ermöglicht, Entscheidungen verbindlich zu machen. Die Verteilung von Machtmitteln (politische Differenzierung) kann dabei zum einen als Zustand und zum anderen als Prozeß betrachtet werden. Letzteres rückt jene „politischen Mittel" in den Vordergrund, die im Prozeß

1.4 Politische Differenzierung

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der Machtverteilung Anwendung finden können. Diese Mittel dienen dazu, Entscheidungen über Macht verbindlich zu machen (vorgeschaltete Quellen der Macht).52 Die folgenden Abschnitte dienen dazu, den Unterschied zwischen politischer Differenzierung als Zustand und als Prozeß stärker herauszuarbeiten. Dies erscheint vor allem notwendig, um Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung später als Einflußfaktoren der politischen Differenzierung behandeln zu können.

1.4.3 Politische Differenzierung als Zustand Die vorausgegangenen Betrachtungen behandelten politische Differenzierung vorwiegend als einen Strukturzustand sozialer Systeme. Dieser Zustand ist gekennzeichnet durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Differenzierung der politischen Handlungspotentiale von sozialen Interaktionspartnern. Ein soziales System ist in der Machtdimension um so stärker politisch differenziert, je eindeutiger sich die individuellen Möglichkeiten zur Verbindlichmachung von Entscheidungen (nach Machtpotential und Gegenstand) voneinander unterscheiden. Dieser Zustand kann außer mit den Machtmitteln auch mit dem jeweiligen Entscheidungsgegenstand schwanken, so daß z. B. das Individuum X in bezug auf Entscheidungen über die Befriedigung materieller Bedürfnisse mehr und in bezug auf die Befriedigung immaterieller Bedürfnisse weniger Macht besitzt als das Individuum Y. Statt in einem Mehr oder Weniger an Machtmitteln kann sich die Machtdifferenzierung auch in der Art der Machtmittel ausdrücken, indem etwa das Individuum X in bezug auf ein und denselben Entscheidungsgegenstand nicht weniger sondern andere (z. B. affektive statt kognitive) Machtmittel als das Individuum Y hat. Die Entscheidungsgegenstände, auf die sich die Machtdifferenzierung bezieht, können grob danach unterteilt werden, ob es sich um Machtentscheidungen oder Sach- bzw. Funktionalentscheidungen handelt. Machtentscheidungen sind Entscheidungen über politische Handlungspotentiale, d. h. über die Möglichkeit anderer Individuen, Entscheidungen verbindlich zu machen (vgl. S. 45). Funktionalentscheidungen sind demgegenüber Entscheidungen über die sachlichen Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung im sozialen System. Die Möglichkeit, Funktionalentscheidungen 52 Solche Mittel werden hier nicht mehr als „Macht" bezeichnet, da dies den Machtbegriff überdehnen würde. Sie können aber zum Gegenstand von Machtprozessen im weitesten Sinne werden.

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

verbindlich zu machen, hängt von vorgelagerten Machtentscheidungen ab. Politische Differenzierung als Zustand meint deshalb primär das jeweilige Muster der aufeinander bezogenen unterschiedlichen (individuellen oder gruppenweisen) Machtentscheidungsmöglichkeiten. Erst in zweiter Linie ist politische Differenzierung durch die unterschiedlichen Funktionalentscheidungsmöglichkeiten charakterisiert. Kriterien politischer Differenzierung sind mithin sowohl die Machtmittel als auch die Entscheidungstatbestände, die den einzelnen politischen Handlungspotentialen zugeordnet sind. Wenn zwischen den einzelnen politischen Handlungspotentialen keinerlei Unterschiede bezüglich der Machtmittel und Entscheidungstatbestände existieren, soll hier von politischer Integration (i. S. faktischer Gleichheit) gesprochen werden.53 Jeder besäße dann in bezug auf alle Entscheidungstatbestände die gleichen Möglichkeiten, Entscheidungen verbindlich zu machen.54 Politische Integration in diesem Sinne ist nicht gleichbedeutend mit Koordination oder Ausgleich der individuellen Wertvorstellungen. Sie brächte eher im Gegenteil bestehende Meinungsunterschiede, Divergenzen oder unterschiedliche wertmäßige und kognitive Orientierungen erst zur Entfaltung. In der Politikwissenschaft sind unzählige Versuche gemacht worden, verschiedene Typen politischer (Macht-)Differenzierung oder Herrschaft gegeneinander abzugrenzen.55 Eine der ältesten und bekanntesten Typologien stammt von Aristoteles, der als Unterscheidungsmerkmale die relative Anzahl der Träger von Machtentscheidungen (einer, wenige, viele) und deren Orientierung an eigenen und fremden Interessen wählte (Barker, 1952, S. 110 ff.) Danach lassen sich als Grundformen politischer Differenzierung u. a. Monarchie (einer für alle Interessen), Oligarchie (wenige für eigene Interessen) oder Demokratie (viele für eigene Interessen) unterscheiden. Loewenstein beschränkt sich darauf, zwischen geteilter und konzentrierter Machtausübung (Polykratie/Monokratie) zu unterscheiden und sieht es als besonderes Kennzeichen geteilter Machtausübung an, daß eine Verfassung der Machtbeziehungen zugrunde liegen muß (Konstitutionalismus) (Loewenstein, 1969, S. 13, 27). Noch einfacher wäre ein Klassifikation in „nonpolyarchies" und „polyarchies" (Dahl, 1973, S. 7 ff.); besondere Merkmale der letzteren sind z. B. die Meinungsvielfalt, Freiheit von Zwang, Wahlmög53

Im Gegensatz hierzu bezeichnet „politische Integration" in der Literatur häufig einen allgemeinen Zustand gesellschaftlich-politischen Zusammenhalts, gleichgültig wie die Macht im Einzelfall verteilt ist, vgl. z. B. Weiner (1971), S. 645. 54 Vgl. hierzu die Modelle der direkten Demokratie, der herrschaftsfreien Gesellschaft und des Anarchismus, z. B. bei Hondrich (1973), S. 190 ff.; Hermens (1968); Dahl (1975), S. 59 ff.; S. 70 ff.; Apter/Joll (1971). 55 In neuerer Zeit insbesondere von Vertretern der vergleichenden politischen Wissenschaft, siehe hierzu u. a. Lijphart (1968), S. 3 ff.; Almond (1956), S. 391 ff.

1.4 Politische Differenzierung

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lichkeit der politischen Führer, Oppositionsmöglichkeit (Dahl, 1970, S. 62 ff.). Die Flut der verschiedenen Typologien und der dabei zahlreich auftretenden Zwischenformen (Naßmacher, 1970, S. 15 ff.) lehrt, daß politische Differenzierung und Integration angemessen nur mit der Vorstellung eines Kontinuums erfaßt werden können. An einem Ende steht dabei eine Struktur von Handlungspotentialen, die sich nach Machtmitteln pro Entscheidungsgegenstand erheblich voneinander unterscheiden (z. B. Diktatur) und am anderen Ende sind alle Handlungspotentiale durch annähernd gleiche Machtmittel pro Entscheidungsgegenstand gekennzeichnet (z. B. „totale Demokratie"). Im Extremfall hätten entweder nur ein Individuum oder alle Individuen die Möglichkeit, Entscheidungen über Bedingungen oder Prozesse der Bedürfnisbefriedigung im sozialen System generell verbindlich zu machen. Zwischenformen wären dann z. B. dadurch gekennzeichnet, daß nur in bezug auf einige Entscheidungen die Machtmittel eines Individuums oder einer Gruppe stärker sind, daß die Machtdifferenzierung sich rhythmisch verändert, daß nur die Art aber nicht die Wirksamkeit der Machtmittel differiert, daß ein Teil der Entscheidungen nur von allen gemeinsam verbindlich gemacht werden kann etc. In diesem Zusammenhang ist die Feststellung bedeutsam, daß bestimmte Grundmuster politischer Differenzierung (z. B. Polykratie/Monokratie) nur ordnungspolitische Idealtypen sind, Pläne für die Gestaltung von Handlungspotentialen also, die von der Wirklichkeit stets mehr oder weniger weit entfernt sind. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Dichotomisierung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit (Krüger, 1961). Häufig werden tatsächliche Machtdifferenzen von der (geschriebenen) Verfassung nicht berücksichtigt bzw. die in der Verfassung festgelegten Handlungspotentiale werden von der Wirklichkeit überholt (Hennis, 1968, S. 17). Auch die Diskussion bürokratisch-rationaler Herrschaft in Organisationen hat erbracht, daß eindeutige Grundformen politischer Differenzierung wie z. B. das einfache Befehlsmodell in der Realität nur selten anzutreffen sind (Leibenstein, 1960, S. 162 ff.). Insbesondere wird die Machtdifferenzierung dann mehrdeutig, wenn (wie in organisierten Sozialsystemen üblich) durch funktionale Differenzierung neue Arten von Machtbeziehungen (z. B. Expertenmacht) mit herkömmlichen (z. B. formal-hierarchische Macht) zu konkurrieren beginnen. Funktionale Differenzierung hat nämlich zur Folge, daß die Entscheidungsbefugnisse über Handlungspotentiale (Machtentscheidungen) und über sachliche Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung (Funktionalentscheidungen) jeweils auf unterschiedliche Individuen oder Gruppen verteilt werden. Dies ist nur sinnvoll, wenn auch die Möglichkeiten zur Verbindlichmachung von Entscheidungen (Machtmittel) nach dem offiziellen Muster verteilt sind oder verteilt werden. Andernfalls

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

entstehen ungeplante Handlungspotentiale, die das offizielle Muster der politischen Differenzierung gründlich unterlaufen können (Luhmann, 1971c, S. 43 ff.). So besteht z. B. in größeren organisierten Sozialsystemen eine gewisse Tendenz zur Durchbrechung hierarchischer, mit Sanktionsmitteln abgesicherter politischer Differenzierung durch Dezentralisation des Sachverstandes und der Sachbeiträge (Professionalisierung, Spezialisierung), was zu einer partiellen Annäherung an den Zustand politischer Integration führen kann. 5 " Auch in Kleingruppen fällt es schwer, eindeutige Muster politischer Differenzierung zu identifizieren. Das haben verschiedene Untersuchungen zum Verhältnis von Führern und Geführten gezeigt, bei denen die Verteilung materieller, kognitiver und affektiver Machtmittel als Problem eindeutiger Machtdifferenzierung sichtbar wurden (Hofstätter, 1957, S. 134 ff.; French/ Snyder, 1959, S. 138 ff.). Obige Betrachtungen sollten deutlich machen, daß planmäßige und konstante Grundmuster politischer Differenzierung in der Realität kaum ausgemacht und noch schwieriger kontrolliert werden können (Truman, 1951, S. 258 ff.). Dies ist vorab bedeutsam für die später eingehend zu behandelnde Frage, inwieweit Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung als Instrumente zur planmäßigen Gestaltung der Systempolitik taugen. Fraglich ist, ob eine spezielle Verteilung von Handlungspotentialen voraussehbare Wirkungen auf die Systempolitik, d. h. auf die Ausübung politischer Macht und auf verbindliche Entscheidungen in bezug auf das Gesamtsystem hat. Wie noch zu zeigen sein wird, ist politische Differenzierung nämlich nur eine unter mehreren Grundlagen des politischen Geschehens in sozialen Systemen und noch keinesfalls identisch mit dem Begriff der Systempolitik. 57 Gleichwohl werden an die Einrichtung und Aufrechterhaltung eines bestimmten Zustandes politischer Differenzierung mehr oder weniger große Hoffnungen geknüpft, was den Einfluß auf das politische Leben, die Willensbildung und die konkrete Gestaltung der Bedingungen und Prozesse der Bedürfnisbefriedigung in sozialen Systemen anbetrifft. Dies wird u. a. deutlich in verschiedenen Modellen der Demokratie, Bürokratie oder Mitbestimmung, soweit sie überwiegend bei der Frage nach der Verteilung von Handlungspotentialen ansetzen. Dem kann die Auffassung gegenübergestellt werden, daß die Gestaltung der Systempolitik sich nicht mit politischer Differenzierung erledigt, sondern daß die Systempolitik u. a. auch davon Vgl. hierzu auch die These, daß der Zwang zur Leistungssteigerung von Organisationen zugleich Demokratisierung erforderlich macht, Bennis (1966), S. 19; Naschold (1971), S. 62 ff., insb. S. 79; ähnlich auch Hondrich (1972); (1973), S. 127 ff., S. 195; Paul (1977), S. 58 ff. 57 In der Literatur wird sie deshalb auch nur als eine Komponente „politischer Systeme" behandelt; andere Komponenten sind z. B. die „politische Kultur" oder das „sozioökonomische Niveau" eines politischen Systems; vgl. z. B. Dahl (1970), S. 50 ff.; Narr (1972), S. 142. 56

1.4 Politische Differenzierung

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abhängt, ob und wozu vorhandene Handlungspotentiale bzw. Machtmittel genutzt werden. Die in dieser Richtung über die politische Differenzierung hinausgehende Bedeutung von Unternehmens Verfassung, formale Organisation und personale Gestaltung wird später ebenfalls Gegenstand der Untersuchung sein.

1.4.4 Politische Differenzierung als Prozeß Eine andere Frage ist es, wie politische Differenzierung zustande kommt. Damit wird der Prozeßcharakter politischer Differenzierung hervorgehoben. Geht man davon aus, daß das politische Geschehen in einem sozialen System, wenn nicht ausschließlich, so doch maßgeblich durch dessen politische Differenzierung fundiert ist, dann hätte eine gezielte Beeinflussung der Sytempolitik bereits bei jenen Größen anzusetzen, von denen der Prozeß der Machtverteilung abhängt. Politische Differenzierung als Prozeß bezeichnet den Vorgang des individuellen oder gruppenweisen Erwerbs von Machtmitteln. Dabei ist es prinzipiell gleichgültig, ob sich dieser Prozeß als Zuteilung oder als Aneignung von Machtmitteln vollzieht. Bei der Erforschung der Vorgänge politischer Differenzierung erscheint es nicht immer sinnvoll, von archaischen Zuständen oder einem politisch noch undifferenzierten sozialen System auszugehen, auch wenn nicht bestritten werden kann, daß z. B. die Betrachtung sog. primitiver Kulturen fundamentale Einsichten in politisch relevante Prozesse erbringen kann (Radcliffe-Brown, 1952). Die Untersuchung von Prozessen des Machterwerbs muß vielmehr bei Faktoren ansetzen, die bereits das Ergebnis vorgelagerter Differenzierungsprozesse sein können. Solche Faktoren oder Determinanten eines politischen Differenzierungsprozesses können z. B. bestehende gesellschaftliche Institutionen wie Recht, Wahlverfahren und staatliche Gewalten sein oder auch andere Variablen wie Einkommensverteilung, Bildungswesen, Technologie, Gruppenpluralismus und funktionale Differenzierung eines sozialen Systems. So gesehen sind letztlich Zustände und Prozesse politischer Differenzierung für einander Ursache und Wirkung zugleich, was die Möglichkeiten kausaler Erklärung erheblich einschränkt. Ein verbreitetes Paradigma zur Untersuchung von Prozessen des Machterwerbs und zur Erklärung des Zustandekommens unterschiedlicher politischer Handlungspotentiale (Machtdifferenzierung) geht von bestimmten Individuen in einer spezifischen Situation aus (Dahl, 1970, S. 38 f., 91 ff.; Cartwright, 1965, S. 5). Diesen Ansatz wählt auch die auf Dahl (Dahl, 1970, S. 93) zurückgehende Darstellung (4). Allerdings versteht Dahl „Macht" bereits als ausgeübten Einfluß, wohingegen Macht hier zunächst nur als

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Einflußmöglichkeit (Machtpotential) verstanden werden soll (was bei Dahl etwa die „Ressourcen" wären). Die Analyse wird dadurch verfeinert, indem jetzt noch zwischen latenten (potentielle Machtquellen) und manifesten (Machtpotentiale) politischen Ressourcen unterschieden wird. Dies erscheint sinnvoll, weil „Ressourcen" nicht notwendig politischen Charakter haben bzw. „politische Ressourcen nicht nur zur Einflußnahme, sondern auch zum Erwerb weiterer Machtpotentiale verwendet werden.

Darst. 4: Ein Ansatz zur Erklärung politischer Differenzierung

1.4 Politische Differenzierung

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Manifeste Machtunterschiede könnten mithin auf die Menge der eingesetzten (latenten) Machtquellen und auf die Geschicklichkeit des Machtquelleneinsatzes zurückgeführt werden. Menge und Geschicklichkeit des Machtquelleneinsatzes wiederum sind jeweils sowohl durch persönlich-situationale als auch durch motivationale Ursachen fundiert. Man kann über diese Systematik unterschiedlicher Meinung sein. So stört z. B., daß zu wenig auf die qualitativen Unterschiede der Machtquellen abgehoben wird, genetische Unterschiede als „situationale" Merkmale behandelt werden, nicht genau zwischen Anreiz und Motiv unterschieden wird und ausgerechnet die Ursachen für den „Zugang zu Machtquellen" (z. B. historische Gründe) nicht analytisch-systematisch erfaßt werden. Auch fällt auf, daß die situationalen und motivationalen Unterschiede nicht aufeinander bezogen werden, wo doch etwa der Zugang zu Machtquellen wiederum als eine Funktion der Geschicklichkeit oder der Motivation (und umgekehrt) betrachtet werden könnte. Gleichwohl verhilft das Paradigma zu bestimmten Einsichten in den Prozeß der politischen Differenzierung. Festgehalten werden soll hier vor allem folgendes: (1) Der aktive Erwerb von Machtpotential hängt davon ab, welche Ressourcen mit welchem Wirkungsgrad zum Machtpotentialerwerb eingesetzt werden. (2) Nicht alle verfügbaren Ressourcen (z. B. Zeit) werden stets zum Erwerb von Machtpotential eingesetzt. (3) Ein Individuum A erhält voraussichtlich mehr Machtpotential als ein Individuum B, wenn es (c. p.) über mehr „persönliche" Ressourcen (z. B. Geschicklichkeit beim Kapitaleinsatz) verfügt, wenn es über mehr „unpersönliche Ressourcen" (z. B. Kapital) verfügt und wenn es einen größeren Anteil seiner verfügbaren Ressourcen zum Machterwerb verwendet. (4) Die Verfügung über Ressourcen und deren Verwendungsart hängen von den Eigenarten und der äußeren Situation des Individuums ab. Man kann hiernach also unterscheiden zwischen Machtpotential, Grundlagen des Machtpotentials (persönliche und unpersönliche Ressourcen bzw. latente Machtquellen, politische Mittel i. w. S.) und intervenierenden Variablen (Person und Situation). Während das Machtpotential die Summe der bewußten und manifesten Möglichkeiten zur Verbindlichmachung von Entscheidungen darstellt, sind die Grundlagen des Machtpotentials jene latenten Quellen, aus denen das Machtpotential laufend bezogen werden kann.58 Ein Beispiel mag den Unterschied zwischen Machtpotential und 58 In der Literatur wird nicht immer so kraß zwischen Macht- (bzw. Einfluß-)Potential und Ressourcen unterschieden, so daß sie einmal als identisch und einmal als Stufen der politischen Differenzierung erscheinen, vgl. Dahl (1970), S. 18, 37, 93.

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

Machtquelle verdeutlichen: Wenn sich einem Individuum aufgrund bestimmter Umstände Chancen für besondere Bildungsmaßnahmen bieten, so kann es diese Bildungschancen (Machtquelle) dazu nutzen, um in den Besitz kognitiven Machtpotentials (z. B. bessere Sachargumente) zu gelangen, oder aber es nutzt seine besondere Machtquelle eher zur Erlangung politisch weniger wirksamer Erkenntnisse (z. B. ästhetischer Art) oder gar nicht. Als persönliche Ressourcen werden hier solche latenten Machtquellen bezeichnet, die zu einem bestimmten Zeitpunkt beim Individuum selbst vorliegen wie z. B. seine spezifische körperliche und geistige Konstitution, seine Wahrnehmungsfähigkeit und Einstellungen, seine Bildung oder seine besonderen Persönlichkeitsmerkmale wie Furchtlosigkeit, Verschlagenheit, Verhandlungsgeschick etc. Demgegenüber sind unpersönliche Ressourcen jene Quellen, die dem Individuum von außen zufallen bzw. derer es sich bedienen kann, wie z. B. Einkommen, Zeit, Informations- und Bildungsmöglichkeiten, Ansehen, Grundbesitz oder gute Beziehungen. Alle persönlichen und unpersönlichen Ressourcen können dem Erwerb von Machtpotential dienen. So mögen z. B. Bildungschancen zu kognitivem Machtpotential (z. B. Argumentenrepertoire), körperliche Konstitution und Einkommen zu dinglich/physischem Machtpotential (z. B. Sanktionsmöglichkeiten) oder soziale Kontakte und Persönlichkeitsmerkmale zu affektivem Machtpotential (z. B. Sympathie) führen. Persönliche und unpersönliche Ressourcen bedingen einander, in dem z. B. das Einkommen eines Individuums z. T. von seinen genetischen Merkmalen, oder seine Gesundheit z. T. von der ihm zur Verfügung stehenden Zeit abhängen. Die Tatsache, daß Individuen über unterschiedliche Ressourcen verfügen (Art, Menge, Einsatzwirksamkeit) und daß sie ihre Ressourcen unterschiedlich verwenden, ist in der Politikwissenschaft vielfältig zu erklären versucht worden. Die eher institutionell-mechanistischen Begründungen der älteren Staatsrechtslehre wurden zunehmend als unzureichend erkannt und von historischen, heute insbesondere von sozialwissenschaftlichen Betrachtungen abgelöst. Schwerpunktmäßig wird dem Problem der Ressourcenverteilung seit einiger Zeit vor allem in der politischen Soziologie und speziell in der Demokratieforschung nachgegangen (Stammer, 1965, S. 3 ff., 43 ff., 137 ff.; Mannheim, 1970, S. 39 ff.). Die Grundlagen zu dieser Richtung wurden in Deutschland u. a. durch Arbeiten von K. Marx (Lieber, 1960, S. 268 ff.), M. Weber und V. Pareto (Coser/Rosenberg, 1957, S. 123 ff.) geschaffen und in den Vereinigten Staaten von Wissenschaftlern wie Maclver (Maclver, 1947) oder Janowitz (Janowitz, 1956). Konkret ließe sich die Frage nach der unterschiedlichen Ressourcenverfügung und -Verwendung zunächst vielleicht allein aus Persönlichkeitsunterschieden erklären (Lasswell, 1948, 1968, S. 81 ff.; Browning, 1968, S. 93 ff.), denen bestimmte genetische oder entwicklungsmäßige Ursachen zugrunde

1.4 Politische Differenzierung

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liegen. In neueren Elitetheorien wird allerdings deutlich, daß solche Persönlichkeitsunterschiede relativ und durch bestimmte äußere Rahmenbedingungen vermittelt sind (Jaeggi, 1960). Differenzierungsprozesse bezüglich der Ressourcen und ihres Einsatzes lassen sich nicht allein durch genetische Unterschiede erklären. Hinzutreten muß die Analyse bestimmter Situationsvariablen wie z. B. ökologische, kulturelle, ökonomische, technische oder sozio-strukturelle Bedingungen59. Art und Menge der persönlichen wie unpersönlichen Ressourcen, auf die ein Individuum oder eine Gruppe zurückgreifen können, hängen mithin nicht nur von ihnen selbst, sondern z. B. auch und wesentlich vom jeweiligen Wirtschaftssystem ab (Rousseau, Marx) oder auch von sozialen Normen und Bedürfnislagen (Hondrich, 1973, S. 62 ff., 102 ff.) sowie vom Bildungssystem, Institutionengefüge oder von Gruppenstrukturen, Schichtung, Produktions- und Organisationstechniken und vielem anderen mehr. Diesem Kreis von intervenierenden Variablen des politischen Differenzierungsprozesses lassen sich auf der Ebene kleinerer Sozialgebilde (Unternehmungen) auch die hier näher zu untersuchenden Einflüsse von Unternehmensverfassung, formaler Organisation und personaler Gestaltung zurechnen. Sie stellen in ihrer generellen Gültigkeit noch keine unmittelbaren Ressourcen dar, sondern regeln z. T. die Verfügungsmöglichkeiten über Ressourcen sowie deren Verwendung zum Machterwerb und eventuell auch die Verwendung des Machtpotentials selbst. So kann es möglicherweise von der Unternehmensverfassung oder der personalen Gestaltung (z. B. Personalentwicklung) abhängen, welche beruflichen Chancen und welches Einkommen einem Individuum zur Verfügung stehen, oder die vorherrschenden Organisationsformen beeinflussen die zeitlichen, informationsmäßigen und physiologischen Chancen eines Individuums. Dabei muß berücksichtigt werden, daß jene intervernierenden Variablen sich i. d. R. auch gegenseitig bedingen bzw. sich im Wege stehen können. Beispiele hierfür liefern etwa jene Fälle, in denen liberale oder demokratische Verfassungen auf eine feudalistische funktionelle und soziale Differenzierung oder auf autoritäre Erziehungssysteme stoßen.60 Wenn soeben behauptet wurde, daß intervenierende Variable wie Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung noch keine unmittelbaren Ressourcen für den Erwerb von Machtpotential darstellen, geschah dies eher aus analytischen und darstellungstechnischen Grün59

Einen Bedingungsrahmen des politischen Geschehens zeichnet z. B. Easton (1965a), S. 70; vgl. auch Burdeau (1964), S. 277 ff., Narr/Naschold (1971), S. 137 ff.; Dahl (1975), S. 89 ff. 60 Vgl. Habermas (1969), S. 21, 24; Stammer (1965), S. 15 ff.; vgl. hierzu auch den „normativen" und den „nominalistischen" Verfassungstyp bei Loewenstein (1957), S. 152 f. sowie das Spannungsverhältnis zwischen liberalistischer Verfassung und hierarchisch gegliederter Gesellschaft bei Habermas (1969), S. 20 f.

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1. Politik und politische Differenzierung in sozialen Systemen

den. Die (z. B. gesetzlich gewährte) Möglichkeit, sozialen Systemen eine Verfassung „zu geben", sie formal „zu organisieren" und in ihnen ein bestimmtes System personaler Gestaltung verbindlich zu machen, ist sicherlich für den, der sie besitzt, schon eine „Machtquelle", die ihm eventuell gewisse Vorsprünge im politischen Prozeß verschafft. Dies wäre der Fall, wenn mittels der genannten drei Variablen gezielt in die (übrige) Ressourcenverteilung eingegriffen werden kann. U m bei der späteren Untersuchung dieser Frage nicht von vornherein in einen Kreislauf zu geraten (z. B. formale Organisation als Ressource, deren Verfügbarkeit z. T. „durch sich selbst" induziert ist) und die drei Variablen überhaupt idealtypisch als Instrumente analysieren zu können, werden sie hier sprachlich von den (induzierten) Ressourcen abgehoben und als unabhängige intervenierende (gesetzte) Variable bezeichnet. Darstellung (5) soll die wichtigsten Überlegungen nochmals vereinfacht zusammenfassen. Festgehalten werden muß aus obigen Betrachtungen vor allem folgendes: - Politische Differenzierung vollzieht sich auf drei Ebenen, die miteinander in Verbindung stehen: intervenierende Variable (Individium - Situation), Ressourcen (latente oder potentielle Machtquellen) und manifeste Machtpotentiale (dinglich/physisch, kognitiv, affektiv). - Persönliche und unpersönliche Ressourcen bedingen sich gegenseitig. - Die intervenierenden Variablen des Ressourcenerwerbs, der Ressourcenverwendung und der Machtverwendung bedingen sich ebenfalls gegensei- Unternehmensverfassung, formale Organisation und personale Gestaltung sind nur drei unter vielen möglichen intervenierenden Variablen der politischen Differenzierung und Systempolitik. - Eine gezielte Gestaltung des politischen Geschehens in komplexen sozialen Systemen mittels Veränderung einzelner intervenierender Variablen erscheint wegen der Vielfalt möglicher Kausalrelationen auf und zwischen allen Ebenen der politischen Differenzierung generell höchst problematisch. Zumindest muß die Gestaltung einzelner Variablen mit Störeinflüssen und unerwünschten Folgen oder Rückwirkungen rechnen.

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1.5 Zusammenfassung des Analyserahmens

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