Inspiriertes Coaching: Neun Impulse erfahrener Coaches in Zeiten der Transformation [1 ed.] 9783666403934, 9783525403938

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Inspiriertes Coaching: Neun Impulse erfahrener Coaches in Zeiten der Transformation [1 ed.]
 9783666403934, 9783525403938

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Antje Pfab (Hg.)

Inspiriertes Coaching Neun Impulse erfahrener Coaches in Zeiten der Transformation

Antje Pfab (Hg.)

Inspiriertes Coaching Neun Impulse erfahrener Coaches in Zeiten der Transformation

Mit einem Vorwort von Paul Fortmeier

Mit 10 Abbildungen und 3 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Den Absolventinnen und Absolventen des Weiterbildungsstudiums »Professionelles Coaching und Supervision« gewidmet

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: PRILL/Shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40393-4

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Über den Gewinn eines inspirierten Coachings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Antje Pfab Professionelles Coaching und Supervision in Zeiten der Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Antje Pfab und Werner Pfab Improvisation im Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Werner Pfab Wenn Gestalt im Spiel ist – Kreativität und Ästhetik im Coaching . . . . 79 Eckhard Budde-Schneider Der neugierige Coach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Helmut Reichert Zur Bedeutung des sozialen Raums im organisationalen Coaching . . . 135 Gudrun Dobslaw »… muss man im Kontext sehen!« – Professionalität im Umgang mit Kontextvielfalt im Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Antje Pfab »Virtuelles« Coaching und andere – Ein Aufräumversuch . . . . . . . . . . . 185 Ingmar Rothe Haltung und Achtsamkeit als zentrale Ressourcen in disruptiven Zeiten 207 Margot Klinkner

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Inhalt

Wertekonflikte in der Arbeitswelt – Umgang mit dem Dritten in Coaching und Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Wolfgang Dinger Interkulturelle Perspektiven im Coaching – Gedanken zu einem überaus komplexen und vielseitigen Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Antje Pfab und Collet Wanjugu Döppner Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Vorwort

Coaching wurde Anfang der 1990er Jahre von amerikanischen Sportplätzen kommend zunächst in Führungsetagen hoffähig und drang bald in immer weitere Bereiche der Arbeits- und Lebenswelt vor. Zunächst versprach es Managern, die durch die Komplexität von Führungsaufgaben herausgefordert waren, ein Führungstool jenseits der Anwendung hierarchischer Macht. Nach und nach fand es Anwendung in vielen weiteren arbeitsweltlichen Bereichen auch j­ enseits von Führungsfragen. Coaches führten oder managten nicht selbst, sondern stellten in Aussicht, dass mithilfe ihrer Dienstleistung die als VUCA (volatility, uncertainty, ­complexity, ambiguity) erlebte Arbeitswelt für alle Akteure handhabbarer werde. Mit dem VUCA-Akronym bezeichneten zunächst Militärs die multilaterale Gemengelage nach dem Ende des Kalten Kriegs, die sich, stetem Wandel unterworfen, als unsicher, komplex, vieldeutig und damit als strategisch schwer zu bewältigen erwiesen hatte. Mittlerweile hat der Coachingbegriff in den allgemeinen Sprachgebrauch Einzug gehalten. Für alle Wechselfälle des Lebens lässt sich mittlerweile ein Coaching­angebot finden. Die Dienstleistungsgesellschaft neigt dazu, soziales Leben marktförmig in Leistungen zu konfektionieren. Während bei Anwendungs­möglichkeiten, Zielen und Methoden von Coaching dem Einfallsreichtum keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen, hapert es tendenziell an fundierten Konzepten, klar definierten Coachkompetenzen und erst recht an verbindlichen Vorstellungen über ein »Berufsbild Coach«. In der DGSv, die damals noch Deutsche Gesellschaft für Supervision hieß, wurde seit 1997 über die Haltung von Supervisoren und Supervisorinnen zum Coaching diskutiert – und es war immer die berufs- und arbeitsweltbezogene Variante des Coaching gemeint. Im Jahr 2000 führte die Association of National Organisations for Super­ vision in Europe (ANSE), der europäische Dachverband nationaler Supervisions­ verbände in Europa, einen Kongress durch mit dem Thema: »Supervision und

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Vorwort

Coaching – Gleiche Angebote mit unterschiedlicher Aufschrift?«. 2001 gab die DGSv eine Stellungnahme ab, in der Coaching als ein Beratungsangebot bezeichnet wurde, »für das SupervisorInnen besonders gute Grundqualifikationen bereits durch ihre Ausbildung in Supervision erworben haben«1. In den 2000er Jahren drang das Coaching verstärkt in gemeinwohl­orientierte Organisationen ein, in denen bis dahin Supervision das Beratungsinstrument der Wahl gewesen war. Insbesondere Führungskräfte ließen sich coachen, obwohl es auch das eingeführte Instrument der »Leitungssupervision« gab. Es gab also zwei Bewegungen im Beratungsmarkt, die die DGSv und ihre Mitglieder herausforderten: Zum einen waren vermehrt Supervisorinnen auch als Coaches in neuen Arbeitsfeldern unterwegs. Zum anderen wurde mehr Coaching in den bisherigen, »klassischen«, eher gemeinwohlorientierten Feldern der Supervision nachgefragt. Recht elaborierte Supervisionskonzepte trafen dabei immer häufiger auf mehr oder weniger diffuse Erwartungen an ziel- und lösungsorientierte Vorgehensweisen, wie sie durch manche Coaches propagiert wurden. Coaching schien sich mit weniger »Berührungsängsten« den allfälligen Führungsthemen zu stellen, erklärte nachgerade seine Zuständigkeit. Supervisoren und Supervisorinnen fokussieren das Spannungsfeld, das sich ergibt, wenn Personen im Rahmen einer bestimmten Organisation berufliche Rollen einnehmen und Funktionen erfüllen, um durch ihr berufliches Handeln professionelle Antworten auf die speziellen Anforderungen und Dynamiken der Anspruchsgruppen zu geben, um derentwillen sie mit ihrer Arbeit beauftragt sind. Sowohl Coaching als auch Supervision sind im Prozess ihrer Qualifizierung als gefragte arbeitsweltliche Beratungsformate mit der Entwicklung ihrer Profession beschäftigt. Die DGSv als größter Fach- und Berufsverband in Deutschland und Europa nimmt für sich in Anspruch, Standards für Supervision und Coaching in der Arbeitswelt und in der Professionsentwicklung zu setzen. Darum entschied die Mitgliederversammlung der DGSv im Jahr 2016, Coaching in den Verbands­namen aufzunehmen. Seitdem heißt sie »Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching«. Wenn die DGSv zugleich formuliert, dass das Coaching, für das sie steht, Supervisionsqualität habe, ist es nur logisch, dass sie hinsichtlich der Qualitäts- und Qualifizierungsanforderungen an Coaches in der DGSv keinen Unterschied zwischen Supervision und Coaching macht. Damit nimmt die DGSv ihre spezifische Verantwortung gegenüber dem Markt und in der Verbändeszene war. 1

Paul Fortmeier (damals in der Funktion als Vorsitzender der DGSv): Stellungnahme der DGSv zu Coaching, 05.06.2001.

Vorwort

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Beide, Coaching und Supervision, lassen sich insbesondere durch die Anforderungen inspirieren, die durch die Ratsuchenden an sie gestellt werden. In diesem Prozess hatten und haben sie das Potenzial, sich auch gegenseitig zu inspirieren, gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkünfte, Schwerpunkte, Sicht- und Vorgehensweisen. Dieses Buch ist ein gelungenes Beispiel, wie Inspiration für Coaching gelingen kann. Es leistet damit einen wertvollen Beitrag zur Professionsentwicklung. Die informativen, fundierten und gut lesbaren Beiträge werden die Leserinnen und Leser inspirieren, sich intensiver mit den Möglichkeiten und Grenzen von Coaching auseinanderzusetzen. Paul Fortmeier Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv)

Über den Gewinn eines inspirierten Coachings Antje Pfab

Der Coachingmarkt boomt, ebenso wie die wachsende Zahl an methodenorientierten tool-Büchern, die zur – ebenfalls zahlreichen – Einführungs­literatur und anderen Standardwerken hinzukommt. Wenn man die Neuerscheinungen im letzten Jahr anschaut sowie die Themenauswahl von Tagungen und Kongressen, fällt auf, dass der bereits seit einigen Jahren beobachtbare Trend von neurowissenschaftlichen und aus der Hirnforschung kommenden Ansätzen weiter anhält, daneben jedoch – vor allem im englischsprachigen Raum – »agiles Coaching«, »Network-Coaching« und andere Konzepte zur Unterstützung anhaltender Veränderungsprozesse als notwendige Weiterentwicklung der Branche propagiert werden. Sofern es sich nicht ohnehin um einzelne Aufsätze und Artikel handelt, hat man bei den in diesem Bereich erscheinenden Tagungsbänden jedoch den Eindruck, dass es zwar eine gemeinsame Klammer wie »Resilienz« oder die vielbeschworene »VUKA-Welt« gibt, es aufgrund des Tagungscharakters, aus dem diese Bände entstanden sind, jedoch eine eher heterogene Auswahl ist, die sich dort versammelt. Was fehlt und für ein exzellentes Coaching in Zeiten der Transformation benötigt wird, sind aufeinander abgestimmte Impulse, die wesentliche Aspekte aufgreifen und erfahrene Coaches1 mit einer qualitativ hochwertigen (Grund-)Ausbildung anregen, diese Impulse aufzunehmen und ihre eigene Coachingpraxis dadurch zu professionalisieren und weiterzuentwickeln – anders und intensiver, als dies durch einzelne Aufsätze und Artikel möglich ist. Wenngleich auch »Coachinganfänger« sich von den in diesem Buch vorgestellten Impulsen inspirieren lassen können, richtet es sich primär an lang­jährig erfahrene Experten und Expertinnen der Branche – eine Zielgruppe, die über die 1

Die Bezeichnung »Coach« bezieht sich in unserer Verwendung sowohl auf weibliche als auch männliche Coaches. Bei Begriffen, die nicht ohnehin beide oder auch über diese klassische Unterscheidung hinausgehende Geschlechter miteinbeziehen, verwenden wir manchmal die weibliche Wortvariante, manchmal die männliche, jedoch nicht beide zugleich, um den Lese­ fluss nicht zu stören.

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zahlreichen Einführungs- und tool-Bücher längst hinausgewachsen ist und für die es nach meiner Kenntnis wenig weiterführende Literatur gibt. Diese Lücke möchte dieses Buch schließen. Es ist daher kein Buch, das genaue Anweisungen zur Anwendung und Umsetzung der dargestellten Impulse gibt; erfahrene Profis wissen selbst am besten, wie sie diese Impulse konstruktiv in ihre eigene Coaching­praxis einbinden können. Die Beiträge möchten vielmehr inspirieren, d. h., dazu anregen, die Impulse aufzunehmen, weiter darüber nachzudenken, sie sacken zu lassen, eigene Ideen dazu zu entwickeln und sie auszuprobieren. Vor dem Hintergrund einer (sehr) guten Ausbildung und eines reichen Erfahrungsschatzes werden diese Impulse und Inspirationen unterschiedliche Formen und Gestalten annehmen, sich kreativ (weiter-)entwickeln und in ihrer Vielfalt positiv wirken. Dieses Buch möchte dazu inspirieren, neben bewährten Herangehens­weisen und Methoden gelegentlich neue Wege und Pfade zu erkunden und dadurch die eigene Coachingpraxis zwischen Neuem und F ­ lexiblen sowie Altbewährtem und Stabilisierendem auszubalancieren. Darin liegt ein Gewinn, den nur ein inspiriertes Coaching bieten kann. Das Buch versteht sich darüber hinaus auch als Beitrag zur Professionalisierung der Branche. Mitglieder von Berufsverbänden sollen ebenso wie Wissenschaftlerinnen und Forscher in diesem Bereich Anregungen bekommen, was exzellente Coaches von den guten unterscheidet; die Beiträge möchten diese Leserschaft inspirieren, das »Meisterhafte« im Coaching weiter voranzubringen. Dazu gehört auch eine enge Verzahnung von erfahrungsbezogenen theoriegeleiteten Reflexionen aus der Coachingpraxis mit den theoretischen Fach­diskursen und akademischen Debatten um Supervision und Coaching. Die Leserinnen, die sich in dem unübersichtlichen Dschungel der reflexiven Beratung zurecht­finden müssen, um gute und zu ihrer Organisation passende Coaches auszuwählen, möchten wir inspirieren, für sie wesentliche Impulse heraus­zugreifen und bei der Zusammenstellung eines Coachingpools zu berücksichtigen. Die Lektüre soll ihnen dabei Anregungen bieten, worauf es bei den einzelnen Aspekten ankommt, sodass sie sich über ihr jeweiliges Verständnis darüber mit den Coaches auf Augenhöhe austauschen können. Bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren war es mir wichtig, nicht nur langjährig erfahrene Beraterinnen und Berater auszuwählen, sondern auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen praktischer Erfahrung und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu achten ebenso wie auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis: Von den vier Autorinnen und fünf Autoren sind vier selbstständige Coaches »in Vollzeit«, fünf haben neben ihrer beratenden Tätigkeit ein festes Standbein an Hochschulen oder dort angeschlossenen Weiterbildungseinrichtungen. Alle sind darüber hinaus erfahrene Dozentinnen und

Über den Gewinn eines inspirierten Coachings

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Dozenten, d. h., sie wissen, wie man Impulse nicht nur praktisch anwendet und umsetzt, sondern auch, wie man sie verständlich und inspirierend vermittelt. Dabei zeigt sich, dass die von ihnen hier vorgestellten Ideen eine resonante Beziehung zu den Aspekten der heutigen Arbeitswelt aufweisen und damit geeignet sind, Coaching und Supervision in Zeiten der Transformation professionell weiterzuentwickeln. Im ersten Beitrag »Professionelles Coaching in Zeiten der Transformation« lege ich zusammen mit Werner Pfab den »Grundstein« für die nachfolgenden Impulse zu einem inspirierten Coaching. Wir machen deutlich, was wir unter transformativen Zeiten verstehen, und skizzieren die für Coaching und Supervision aktuellen Bedingungen der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert. Dabei räumen wir auch zum Teil verbreitete diesbezügliche Irrtümer aus. Anschließend stellen wir grundlegende Kompetenzen vor, wodurch sich ein professioneller Coach auszeichnet und die er als Basis für die nachfolgenden Impulse beherrschen sollte. Werner Pfab setzt einen ersten Impuls zum Thema »Improvisation im Coaching«. Improvisation ist in agilen und flexiblen Zeiten nicht nur eine wichtige Fähigkeit, sondern auch eine hohe Kunst, die Coaching entscheidend voranbringen kann. In seinem Beitrag erläutert er aus kommunikationswissenschaftlicher und psychologischer Sicht, wie Improvisation in der Coach-Coachee-­ Beziehung die Kommunikation im Coaching auf ein neues Niveau anheben kann. Er nimmt dabei die Interaktionsbeziehung zwischen Coach und Coachee aus der Perspektive der Improvisation in den Blick. Dies hat mehrere Vorteile: Im Unterschied zu gängigen Charakterisierungen der Coach-Coachee-Beziehung, wie z. B. dem »Coach als Begleiter«, vermag ein Konzept von Improvisation das Geschehen im Coaching interaktionsnäher zu erfassen, insbesondere das interaktive Wechselspiel der Beteiligten und ihre Abstimmungsprozesse. Für Improvisation ist ein Spannungsverhältnis zwischen strukturellem Rahmen und kreativem Prozess konstitutiv. Darüber hinaus ist das Konzept der Improvisation auf das Moment des situativen Gelingens und das Hervorbringen, z. B. von Lösungen oder Deutungen, unter Bedingungen von Flüchtigkeit gerichtet. Schließlich kann damit der sinnliche Charakter der Coachinginteraktion und seine Erlebnisqualität erfasst werden. Werner Pfab lässt sich bei seinen Gedanken von musikalischen Improvisationen inspirieren und bezieht auch literarische und philosophische Darstellungen zur Improvisation mit ein. Eckhard Budde-Schneider thematisiert in seinem Beitrag »Spiel und Gestalt ‒ Kreativität und Ästhetik im Coaching« die Integration angesichts von Methoden­ vielfalt, Pluralismus der Ansätze und Hintergrundschulen. Dieser kreative Pool

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stellt ein wesentliches Moment der Professionalität von Coaching und Supervision dar, zum einen, weil in ihm dem Coach die Integration heterogener Ansätze gelingt, und zum anderen, weil er Coachees anregen kann, sich in ähnlicher Weise mit ihrem kreativen Pool auseinanderzusetzen, bis hin zu der Frage, warum ungewohnte Lösungswege nicht nur Supervision oder Coaching beleben, sondern tief und positiv in die Selbstwirksamkeit von Personen, Teams und Organisationen einwirken. Als dritten Impuls regt Helmut Reichert einen produktiven Umgang mit der Neugier an: Er skizziert in seinem Beitrag »Der neugierige Coach« zwei unterschiedliche Herangehensweisen beim Coaching anhand der Typen des »erwachsenen/wissenden« und des »neugierigen« Coachs. Der professionelle Coach ist dabei in der Lage, sein Wissen als Grundlage zur Verfügung zu haben; durch die Haltung des »neugierigen Coachs« stellt er sich jedoch dem Coachee als Forscher zur Verfügung und bietet ihm Wahrnehmungen, Überlegungen, Vermutungen und Hypothesen an. In der forschenden Haltung verlieren Allgemeingültigkeit, Wissen und Unvorhersehbarkeit ihre beherrschende Stellung. Stattdessen rückt die Originalität, die Einmalig- und Erstmaligkeit der konkreten Situation und Person ins Zentrum. Gudrun Dobslaw lässt sich ebenfalls von der Forschung inspirieren, jedoch auf eine ganz andere Weise, als Helmut Reichert dies tut. Sie greift in ihrem Beitrag »Zur Bedeutung des sozialen Raums im organisationalen Coaching« ein Instrument aus der Sozialraumorientierung auf, mit welchem Netzwerke im Sozialraum sichtbar gemacht werden, indem sie in sogenannten »Landkarten« abgebildet werden. Sie wendet diese Landkarten zur Diagnostik in der Klärungsphase bei Einzel- oder Teamcoachings in Organisationen an und setzt sie zur Beantwortung von Fragen zu Struktur und Kultur einer Organisation ebenso ein wie zum Spannungsverhältnis dieser beiden Organisationsdimensionen. Für die Klärungsphase im Coaching möchte auch ich einen neuen Impuls geben, indem ich zu einer bewussten und reflektierten Kontextualisierung des Coachs anrege. In meinem Beitrag »›… muss man im Kontext sehen!‹ – Professionalität im Umgang mit Kontextvielfalt im Coaching« systematisiere ich die verschiedenen Kontexte, die einen professionellen Umgang seitens des Coachs erfordern, und gebe Anregungen, wie so ein professioneller Umgang konkret aussehen kann. Ich beziehe dabei die unterschiedlichen Ebenen Coaching­ system, Arbeitswelt, Teamkultur etc. bis hin zum eigenen Wertekontext sowohl des Coachees als auch des Coachs mit ein. Ingmar Rothe beschäftigt sich anschließend mit einem ganz speziellen Kontext des Coaching, der inzwischen im Coaching nicht nur angekommen, son-

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dern auch zunehmende Verbreitung erfährt, dem medienbasierten Coaching2. Meines Erachtens kommt professionelles Coaching im 21. Jahrhundert nicht mehr ohne die Kompetenz medienvermittelten Coachings aus – also sowohl Telefon- als auch Online-Coaching. Von den Forschungsergebnissen der Interaktionsforschung zu medienvermittelten Beratungs-»Formaten« ausgehend, zieht Ingmar Rothe Rückschlüsse auf Coachingbedingungen und reflektiert sie in seinem Beitrag im Hinblick auf die Gestaltung von virtuellen Coachings. Er bezieht dabei die inzwischen erhebliche Bandbreite der Möglichkeiten von audiovisuellen als auch textbasierten Interaktionen in seinem Beitrag »›Virtuelles‹ Coaching und andere – Ein Aufräumversuch« mit ein und möchte mit seinem Impuls zu einem reflektierten Umgang insbesondere mit dem Begriff »virtuellem Coaching« anregen. Margot Klinkner wendet sich mit dem siebten Impuls unseres Bandes dagegen wieder einem Bereich zu, der zumindest für die Supervision und den Bereich des Gesundheitscoachings bereits seit Langem in der Branche bekannt und genutzt wird, der Achtsamkeit3. Sie zeigt in ihrem Beitrag »Haltung und Achtsamkeit als zentrale Ressourcen in disrup­tiven Zeiten« die intrapsychischen Zusammenhänge zwischen Kognitionen und Selbststeuerung auf und beleuchtet deren Potenzial zur Stärkung der individuellen Selbstwirksamkeit und zum nachhaltigen Ausbau der psychischen Stabilität. Wie Haltung und Achtsamkeit gerade in der heutigen Arbeitswelt, in der durch Stress verursachte Erkrankungen rapide zunehmen, Coaching gewinnbringend inspirieren können, wird durch profundes Hintergrundwissen in diesem Beitrag deutlich. Mit den Folgen anhaltender Ökonomisierung beschäftigt sich auch W ­ olfgang Dinger in seinem Beitrag »Wertekonflikte in der Arbeitswelt − Umgang mit dem Dritten in Coaching und Supervision«. Ausgehend von Kohlbergs Modell des moralischen Urteils stellt er dar, wie Werte entstehen und welche Rolle unterschiedliche Werthorizonte insbesondere in Konfliktfällen spielen. Er stellt einen Coachingansatz vor, der über die in Personen und Gestaltungen symbolisierten Werte hinaus den »abwesenden Dritten« als weiteren Repräsentanten 2

Auch in der Literatur gab es in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg an Veröffentlichungen, die sich mit dem Thema online- bzw. medienvermitteltem Coaching auseinandersetzen. In den Ausbildungsprogrammen zu Coaching und Supervision steht dies dagegen nach wie vor weitgehend aus; das seit 2011 bestehende Weiterbildungsstudium »Professionelles Coaching und Supervision« bildet mit einer profunden Kenntnis aus dem »e-learning« in dieser Hinsicht bei den Supervisionsausbildungen meiner Kenntnis nach noch immer ein Alleinstellungsmerkmal. 3 Im (Business- oder Life-)Coachingbereich dagegen wird eine achtsame Haltung und Selbststeuerung unter dem aus der Psychotherapie stammenden Begriff der »Introvision« in den letzten Jahren »neu« entdeckt.

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des Konflikts einbezieht. Die Haltung des Coachs im Wertekonflikt erfordert ­ riangulierungsfähigkeit. Methodisch geht das über die Wahrung der AllparteiT lichkeit, die Entwicklung von Mehrperspektivität und den Vollzug des Perspektivenwechsels. Anhand von Fallbeispielen gibt der Beitrag damit einen Impuls zu einer im Beratungsprozess notwendigen Haltung des Coachs, die wertebezogen ist, jedoch ohne zu bewerten. Diese Haltung ist auch für den letzten, neunten Impuls dieses Buches wesentlich, der sich mit Interkulturalität im Coaching auseinandersetzt. ­Collet ­Wanjugu Döppner und ich zeigen in unserem Beitrag »Interkulturelle Perspektiven im Coaching ‒ Gedanken zu einem überaus komplexen und vielseitigen Thema« die Relevanz von Interkulturalität im Coaching auf und geben konkrete Impulse für einen kulturkompetenten Umgang im Coaching. Ausgehend von überaus facettenreichen Kulturbegriffen stellen wir aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse vor und erläutern anhand von Fallbeispielen, wie ein konstruktives, kulturreflexives Coaching gestaltet werden kann. Wir gehen dabei sowohl auf Nutzen und Gefahren bei der Arbeit mit Kulturstandards ein als auch auf neue prozessorientierte Ansätze. Diese ermöglichen es dem Coach, seinem Gegenüber im Bewusstsein dessen vielschichtiger, sich permanent in Bewegung befindlichen Kulturen und der damit verbundenen Facetten zu begegnen, wie z. B. Erwartungen, Interpretationen und Hierarchieauffassungen. Kulturreflexives Vorgehen trägt dazu bei, das eigene kulturell geprägte Vorgehen während des Coachingprozesses bewusst wahrzunehmen und sich ggf. davon zu lösen; es ermöglicht darüber hinaus eine Perspektivenerweiterung und immer wieder neue Interpretationen im Coachingprozess. Wir machen dies bereits in unserem Text deutlich, bei dem kenianische Sicht­weisen (oder genauer: die einer Kikuyu) und Herangehensweisen einbezogen wurden. Die Autorinnen und Autoren freuen sich über Resonanz zu ihren Impulsen. Gern können Sie Rückmeldungen zu ihren Beiträgen geben und natürlich auch Ihre eigenen Inspirationen und Erfahrungen mit den hier vorgestellten Impulsen mit ihnen und mir, der Herausgeberin, teilen. Kontaktmöglichkeiten dazu sowie nähere Informationen zu den Autorinnen und Autoren finden Sie am Ende des Buches.

Professionelles Coaching und Supervision in Zeiten der Transformation Antje Pfab und Werner Pfab

1 Transformationsprozesse Studiert man Untersuchungen zum aktuellen Zustand der Arbeitswelt, bekommt man leicht den Eindruck, diese sei geprägt von erst in der letzten Zeit auftauchenden rapiden Veränderungen in allerlei Bereichen. Diese Auffassung teilen wir nicht. Wir verstehen die aktuellen Entwicklungsprozesse in der Arbeitswelt aus soziohistorischer Perspektive vielmehr als Momentaufnahmen langandauernder Veränderungsprozesse mit wechselnden Phasen von Stetigkeit und Beschleunigung in modernen westlichen Gesellschaften. Diese Prozesse bezeichnen wir als Transformationen. Sie umfassen alle gesellschaftlichen Bereiche – Wirtschaft und Kultur, Öffentlichkeit und Privatheit, Arbeit und Bildung. Wesentliche Transformationen sind: ȤȤ Individualisierung, ȤȤ Technisierung (insbesondere Digitalisierung), ȤȤ Ökonomisierung, ȤȤ Globalisierung sowie damit zusammenhängend Klimawandel und eine zunehmende soziale Ungleichheit. Wir betonen: 1. dass sich diese Prozesse wechselseitig beeinflussen, 2. dass zu diesen Prozessen stets auch entgegengesetzte Tendenzen in modernen Gesellschaften zu beobachten sind, die diese Gesellschaften jedoch nicht in diesem starken Maße prägen (vgl. Latour 1995), 3. dass wir die Ausdrücke »Veränderung« und »Entwicklung« deskriptiv, nicht wertend verwenden. Die beschriebenen Transformationsprozesse wirken sich entsprechend ihrer jeweiligen Eigenlogik und -dynamik und in Wechselwirkung aufeinander auf die Arbeitssituation und damit auf Menschen in Arbeit aus. Diese Auswirkungen stellen sich Menschen in Arbeit in Gestalt von Anforderungen dar. Diese

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Antje Pfab und Werner Pfab

und ihre subjektiven Verarbeitungsweisen sind es, die Thema in Coaching und Supervision werden. Eine ausführliche Darstellung dieser Prozesse würde natürlich den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Wir belassen es daher bei knappen Hinweisen, die den arbeitsweltlichen und gesellschaftlichen Hintergrund, den Coaches und Supervisorinnen heutzutage vorfinden, skizzieren und ergänzen diese zur Veranschaulichung mit beispielhaften Momentaufnahmen dieses Transformationsprozesses. 1.1 Individualisierung … Individualisierung ist ein gesellschaftlicher Transformationsprozess, der sich seit Beginn der Moderne durch die Entwicklung (insbesondere westlicher) Gesellschaften zieht. »Individualisierung meint zum einen die Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen – z. B. das Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft usw.; oder auch, wie im Fall der DDR und anderer Ostblockstaaten, der Zusammenbruch staatlich verordneter Normalbiographien, Orientierungsrahmen und Leitbilder. [Zum anderen kommen i]n der modernen Gesellschaft […] auf den einzelnen neue institutionelle Anforderungen, Kontrollen und Zwänge zu […] [,] institutionelle Vorgaben mit dem besonderen Aufforderungscharakter, ein eigenes Leben zu führen« (Beck u. Beck-Gernsheim 1994a, S. 11 f.). Im Zuge der Individualisierung kommt es zu einer zunehmenden Autonomisierung und Steigerung individueller Selbstbewusstheit und -reflexivität, der Ausbildung von Individualität und der Feststellung von Entfremdung. Damit verbunden ist die individuelle Zurechnung von Leistung, Beanspruchung von Chancen der Selbstentfaltung und zunehmender Mitspracheanspruch. Mit diesen neuen »Freiheiten« geht jedoch auch der Zwang einher, sein Leben selbst gestalten zu müssen, mit dem Verlust »selbstverständlich vorgegebener, oft erzwungener Bindungen« (Beck u. Beck-Gernsheim 1994a, S. 13) werden Beziehungen (auch die der Erwerbsarbeit) vorläufiger und sind im Falle eines Scheiterns selbst zu verantworten. Damit steigt auch das Bedürfnis nach subjek­ tiver Sinnhaftigkeit des Handelns. Gleichzeitig nehmen die Bindungskräfte von Gemeinschaften ab; es steigen die gesellschaftlichen Anforderungen an individuelle Lebens- und Arbeitsgestaltung (Selbstorganisation)1. 1 Zur Individualisierung allgemein vgl. z. B. Elias 1983; Beck u. Beck-Gernsheim 1994b; van Dülmen 2001; speziell zur Arbeitswelt z. B. Bröckling 2007; Illouz 2007.

Professionelles Coaching und Supervisionin Zeiten der Transformation

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… und ihre Auswirkungen in der heutigen Arbeitswelt: Selbstgestaltung und -verantwortung

Fietze sieht in ihrer Studie zur Arbeitswelt eine Tendenz zu »wachsenden Anforderungen […] an die Verantwortungsbereitschaft, aber auch […] zu einer zunehmenden Autonomisierung und Subjektivierung organisierter Arbeit« (2010, S. 20). Beschäftigte müssen »immer mehr eigenverantwortlich die Organisation und den Inhalt ihrer Arbeit […] entwickeln und […] gestalten« (Voß, Hausinger u. Haubl, S. 8), was zu steigenden psychosozialen Belastungen führt: »Druck, Stress, Erschöpfungszustände und Arbeits­ unzufriedenheit sind […] in der Masse der Organisationen und in den Führungsetagen angekommen« (S. 8). Dies hängt auch mit dem von Fietze festgestellten Prozess »der Entberuf­ lichung, in dem die Kernkompetenzen der Beschäftigten gegenüber neuen Kommunikations- und Koordinationsaufgaben zunehmend zurückgedrängt werden (Dostal 2002)«, zusammen (Fietze 2015, S. 13). Diese Koordinationsleistungen erforderten in den komplexen und von ständigem Wandel betroffenen Organisations- und Vernetzungsstrukturen »kommunikative Abstimmungsprozesse […], Selbst- und Prozessbeobachtung, reflexive[.] Selbststeuerung und [d]ie Bereitschaft, zu lernen und sich zu entwickeln« (S. 13). 1.2 Technisierung … Technisierung als eine Dimension gesellschaftlicher Transformation erfährt mit der Entwicklung der Naturwissenschaften und der Veränderung von Kriegs­ führung einen ersten starken Entwicklungsschub bereits zu Beginn der Moderne und wiederum mit diesen beiden Treibern in der Phase der Industrialisierung im 19. Jahrhundert (vgl. z. B. Ihde 1990; zum Einfluss des Gesellschaftstypus Ingenieur auf die Veränderung von Kommunikationsmentalitäten siehe ­Nothdurft 2013). Im 20. und 21. Jahrhundert begegnet uns Technisierung und Digitalisierung beispielsweise in der Automobil- und Verkehrsbranche, aktuell in Form von sich ständig weiterentwickelnden Navigationssystemen oder elektronischen Fahrassistenten bis hin zu digitalen Autobahn-Vignetten, daneben im Bereich künstlicher Intelligenz, z. B. bei der Entwicklung von Pflege­robotern oder in Form von Chatbots der Telekom zur Telefonnummernmitnahme bei einem Umzug. Gegenwärtig spielt sich Technisierung vor allem im Bereich »Digitalisierung« ab. So stellen Wiemann, Weibel und Zolliker fest: »Digitalisierung – kein Trend beeinflusst unser Leben derzeit mehr« (Wiemann et al. 2018, S. 161). Die Arbeitswelt ebenso wie das Privatleben nachhaltig verändernde Entwicklungen

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waren insbesondere die Einführung von Internet, das seit den 1990er Jahren auch für die private und kommerzielle Nutzung zur Verfügung steht, und die seit etwa zehn Jahren verbreiteten Smartphones. Der »Vorgänger des Internets« war das von der Advanced Projects Agency, einer 1957 gegründeten Behörde des US-Verteidigungsministeriums, entwickelte »ARPANET (Advanced Research Projects Agency Network)«, ein »Computer-­ Netzwerk von vier PCs« (Mayer 2018). Mit der Erfindung der »Übersetzungssprache […] Transmission Control Protocol (TCP)« 1974 zur Vereinigung der »Kommunikation zwischen isolierten Netzwerken« wurde der Begriff »Internet« Mayer zufolge erstmals verwendet. Durch die »Erfindung des World Wide Web« 1989 von Tim Berners-Lee am Kernforschungszentrum in Genf wurden »Dateien auch auf anderen Rechner[n] auffindbar […] und […] eine Verlinkung zwischen diesen« möglich. »Die heutigen Internetstrukturen waren damit geboren«, jedoch zunächst nur für Militär und Hochschulen. Ab den 1990er Jahren »wurde es für die kommerzielle Nutzung [ebenso wie Privatpersonen] freigegeben« (Mayer 2018). Laut Mayer hatten 2003 über »die Hälfte der Deutschen ihren ersten Internetzugang« (2018). Sie bezeichnet es als »wichtigste[s] Kommunikationsmittel der Menschheit« (Mayer 2018). Bereits 1996 brachte Nokia das erste Smartphone2 auf den Markt, den »Nokia 9000 Communicator«, der »[n]eben Telefonieren […] auch Faxe und Emails senden und empfangen [kann], und sogar per HTML-Browser auf Websites zugreifen – das allerdings nur sehr, sehr langsam« (Wittlich u. Schönball 2017). Auch aufgrund seines Preises von 2700 DM sind »[d]ie ersten Reaktionen […] zurückhaltend«; erst mit der Vorführung des ersten iPhones im Januar 2007, das nun auch einen touchscreen statt einer Tastatur hat, beginnt »der große Hype um die neue Technologie« – »[a]m ersten Verkaufstag im Juli wechseln 279.999 Geräte den Besitzer«, für »599 US-Dollar inklusive eines Mobilfunkvertrags« (Wittlich u. Schönball 2017). Diese Entwicklungen führen zu einer »Vernetzung von Menschen und Gegenständen« (Brynjolfsson u. McAfee 2014, zit. nach Petry 2016, S. 27), welche wiederum die »Basis für die sogenannte Industrie 4.0 [bilden], die für die vollständige Verschmelzung von Fertigungstechniken und IT zur ›Smart F ­ actory‹ steht« (Petry 2016, S. 27). Die (Weiter-)Entwicklung von künstlicher Intelligenz und Wettbewerbsvorteile durch die Auswertungsmöglichkeiten digital erhobener Daten (»Big Data«) (S. 28) wirken sich ebenfalls auf die heutige und zukünftige Arbeitswelt aus. 2

»Den Begriff ›Smartphone‹ prägt erst zwei Jahre später das schwedische Unternehmen ­Ericsson, das sein Modell R380 als solches bewirbt« (Wittlich u. Schönball 2017).

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… und ihre Auswirkungen in der heutigen Arbeitswelt: Entgrenzung und permanente Verfügbarkeit

Bei Entgrenzung geht es zum einen um die Ausdehnung raum-zeitlicher Verfügbarkeit von Arbeitnehmern über die herkömmlichen Grenzen von Arbeitsplatz und -zeit hinaus, die durch technische Innovationen möglich gemacht wurde. Zum Zweiten geht es um Eingriffe in die Subjektivität von Arbeitnehmern und zum Dritten um Entgrenzung eines Unternehmens selbst: Digitalisierung, »Virtualität und räumliche Mobilität« haben eine »Flexibilisierung von Arbeitsabläufen und die räumliche[.] Entgrenzung[.] der Betriebe« zur Folge »mit der Erwartung an die Beschäftigten […], selbst flexibler, schneller einsetzbar und mobiler zu werden« (Pfaff-Czarnecka 2018, S. 12). Hier wird eine Wirkung der »Digitalisierung« sichtbar. Durch die zunehmende »Auflösung von Strukturen (in zeitlicher, räumlicher etc. Hinsicht) betrieblich organisierter Arbeit« finde eine »Entgrenzung« statt (Liska 2010, S. 32). Damit entstehen nicht nur neue Betriebsformen, wie beispielsweise Online-Geschäfte, sondern Arbeitsorte und -räume wandeln sich durch nun mögliche Tele-Arbeit, Home-Office, weltweite Videokonferenzen, digitales Arbeitsmaterial, auf das man auch außerhalb des Arbeitsplatzes Zugriff hat. Damit verbunden ist eine permanente Verfügbarkeit auch über die Arbeitszeit hinaus, wenn nachts Telefonkonferenzen mit Kolleginnen in anderen Zeitzonen geführt werden, über die Whatsapp-Gruppe eines Teams abends und am Wochenende arbeitsbezogene Mitteilungen in den Freizeitbereich eindringen oder auch im Urlaub zumindest gelegentlich E-Mails beantwortet werden oder man »für Notfälle« per Handy erreichbar ist. All dies führt zur Forderung nach spezifischen Organisations- und Vernetzungskompetenzen von Berufstätigen, aber auch von Organisationen (­Hausinger 2013). So nehmen (digitale) Dokumentationspflichten zu, »Arbeit wird wissens­ basierter« und erfordert »lebenslanges Lernen«, um der »fortlaufende[n] Beschleunigung von Wissensprozessen bei steigender Komplexität und zunehmenden Lernanforderungen« standhalten zu können (S. 88). 1.3 Ökonomisierung/Rationalisierung … Rationalisierung als wesentliches Moment gesellschaftlicher Entwicklung ist ebenfalls seit Beginn der Moderne beobachtbar. Rationalisierung erfährt durch die Etablierung von Aufklärung als kultureller Leitidee einen bedeutsamen Schub und im 20. Jahrhundert mit der Expansion von Bürokratie. Rationalisierung setzt sich in den gegenwärtigen Ökonomisierungstendenzen von Arbeitsprozessen zur Effizienzsteigerung fort. So stellt Galdynski für den »Bereich des

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Sozialwesens« bereits 2009 eine »Ausrichtung an ökonomischen Prinzipien« fest (Galdynski 2009, S. 111), die sich durch Privatisierungen, aber auch out­ sourcing und Ausgliederungen von Arbeitsleistungen der kommunalen Träger, Landkreise und Ähnlichem weiterhin fortsetzt. … und ihre Auswirkungen in der heutigen Arbeitswelt: Leistungssteigerung und Kontrolle

Rationalisierungs- und Ökonomisierungsprozesse dienen vor allem der Leistungssteigerung sowie damit verbundenen Kontrollmechanismen, die sich beispielsweise an der weit verbreiteten Praxis von Kennzahlen und Maßnahmen des Qualitätsmanagements zeigen. Moldaschl sieht in der »massive[n] Ausdehnung evaluativer Praktiken« vor allem das Ziel der Leistungs- und Effizienzsteigerung, die sich unter anderem in Controlling, Benchmarking, Kundenbefragungen, Beschwerdemanagement, Kennziffern und Evaluationen ausdrückt und von diesen legitimiert werde (Moldaschl 2010, S. 148). Deren »rekursive, teils reflexive Steigerung« in Forschungen, Methoden- und Ergebnisevaluationen setze den Kreis der »reflexiven Modernisierung« fort (S. 148). Damit verbunden ist Effizienzdruck, da Kennzahlen nicht nur erreicht werden sollen, sondern mit Erreichung oft auch für den nächsten Planungszeitraum entsprechend erhöht werden – eine Stagnierung oder Absenkung der Zielvereinbarungen nach einem außergewöhnlich guten Geschäftsjahr ist in der Regel nicht vorgesehen. Kürzer werdende Planungsperioden führen dazu, dass langfristige Ziele und notwendige Investitionen tendenziell aus dem Blick geraten: Hauptsache, die Bilanz für die Aktionäre stimmt auch am Ende des nächsten Quartals oder zum Jahres­ abschluss, sodass – einigen – Boni ausgezahlt werden. 1.4 Globalisierung … Globalisierung erfährt einen ersten intensiven Schub mit der Etablierung des spanischen (und portugiesischen) Kolonialreichs in Mittel- und Süd­amerika. Sie weitet sich mit der englischen, niederländischen und französischen ­Kolonialisierung und ihren entsprechenden Organisationsformen (­companies) aus und hat einen Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Nach Einbrüchen durch die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert werden gegenwärtig »die National­ staaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchancen, Patentierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden« (Beck 2007, S. 29). Der Soziologe Ulrich Beck hat die Komplexität gegenwärtiger Globalisierung dargestellt: »Es existieren nebeneinander die verschiedenen Eigenlogiken der ökologischen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen,

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zivilgesellschaftlichen Globalisierung, die nicht aufeinander reduzierbar oder abbildbar sind […]: 1. geographische Ausdehnung und zunehmende Interaktionsdichte des internationalen Handelns, die globale Vernetzung der Finanzmärkte und der Machtzuwachs transnationaler Konzerne, 2. die informations- und kommunikationstechnologische Dauerrevolution, 3. die universal durchgesetzten Ansprüche auf Menschenrechte – also das (Lippen)Demokratieprinzip, 4. die Bilder-Ströme der globalen Kulturindustrien, 5. die postinternationale, polyzentrische Weltpolitik – neben den Regierungen gibt es an Macht und Zahl zunehmende transnationale Akteure (Konzerne, Nicht-Regierungsorganisationen, Vereinte Nationen), 6. die Fragen der globalen Armut, 7. der globalen Umweltzerstörungen und 8. transkulturelle Konflikte am Ort« (Beck 2007, S. 29 f.). Einen Entwicklungsschub erfährt Globalisierung außerdem in Gestalt zunehmender Migration durch Fluchtbewegungen. Beck führt diesen Prozess der Globalisierung mit dem Begriff der »Globalität« näher aus: »Globalität meint: Wir leben längst in einer Weltgesellschaft, und zwar in dem Sinne, daß die Vorstellung geschlossener Räume fiktiv wird. Kein Land, keine Gruppe kann sich gegeneinander abschließen« (Beck 2007, S. 27 f.). »Weltgesellschaft« bezeichnet für ihn dabei einen »durch Vielheit und Nicht-Integriertheit gekennzeichnete[n] Welthorizont, der sich dann eröffnet, wenn er in Kommunikation und Handeln hergestellt und bewahrt wird« (S. 31). … und ihre Auswirkungen in der heutigen Arbeitswelt: Mobilität und Interkulturalität

Hausinger stellt fest, dass sich »[d]er interkulturelle Einfluss durch Globalisierung und Migration in jeder Arbeit bemerkbar« macht (Hausinger 2013, S. 87), durch internationale Teams, Auslandseinsätze, Kundinnen und Klienten aus unterschiedlichen Kulturen, globale Vernetzungen. Durch neue Kooperationsformen über die Grenzen hinweg werde Arbeit »verteilter«: »Deregulierung von Arbeitsgesetzen, Normen und Vorschriften« in globalisierten Arbeitsstrukturen wirken sich beispielsweise auch auf Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsstrukturen aus mit einem Abbau sozialversicherungspflichtiger, unbefristeter Vollzeitbeschäf­ tigung und zunehmender Teilzeitarbeit, Minijobber, Leiharbeiterinnen etc. (S. 82). Eng damit verbunden ist die Forderung (oder auch der individuelle Wunsch) nach Flexibilität und Mobilität. Richard Sennett hat gezeigt, wie stark das Moment

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der Bewegung die Gestalt moderner Gesellschaften geprägt hat (­Sennet 1995, 2000). Ob Stadtentwicklung (Paris, Washington), Bewegungstechnologien (Eisenbahn, Auto, Aufzug), Informationsflüsse (Telegraf, Medien) oder Mobilitätsvorstellungen – »Bewegung« und der damit assoziierte Vorstellungszusammenhang ist ein Schlüsselbegriff moderner Sozialstruktur und modernen Selbstverständnisses. 1.5 Weitere Auswirkungen des Transformationsprozesses: Aktuelle Anforderungen an Menschen in der Arbeitswelt Neben den bereits genannten Anforderungen möchten wir unsere »Momentaufnahmen« noch ergänzen mit der verbreiteten Arbeitsbelastung sowie den Veränderungen von Arbeit und Arbeitsplätzen. 1.5.1 Arbeitsbelastung

»[D]ie Erfahrung mangelnder Anerkennung, Leistungsungerechtigkeit und Entfremdung« werden von Menschen als besonders belastend erlebt (King 2013, S. 140). Sind damit noch Arbeitsdichte und ein erhöhtes Arbeitstempo verbunden, wirkt sich dies nicht nur auf Qualität und Arbeitsergebnisse aus, sondern auch »auf berufliche Motivation und Zufriedenheit«. »Gefühle von Sinnverlust« können King zufolge »die körperlichen und psychischen Kräfte der Individuen in hohem Maße schwächen« (S. 140). »Aufgaben, die das Bewältigungsvermögen eines Menschen […] klar überschreiten oder in dichter Folge präsentiert werden, so dass keine Erholungsphasen dazwischengeschaltet werden können, führen zu einer Überaktivierung des Stress-Systems. Psychisch kann es bei den betroffenen Personen dann zu Angstsymptomen, Schlafstörungen und zu depressiven Störungen kommen, körperlich entwickeln sich oft psychosomatische Beschwerden wie Herz- und Kreislauferkrankungen oder Schmerzsymptome« (Bauer 2018, S. 261). »Überforderung, Erschöpfung und Ausgebranntsein […] [werden] mit veränderten Zeitverhältnissen, damit einhergehender Flexibilisierung und Leistungsdruck in Verbindung gebracht« (King 2013, S. 141). Gerade bei »steigenden Leistungsanforderungen« würde jedoch »ein ausreichender Sinnbezug des Arbeitsprozesses sowie Verlässlichkeit und Solidarität in Arbeitsbeziehungen« (S. 140) die emotionale Stabilität von Menschen fördern. Han macht darauf aufmerksam, dass das »Gefühl des Gehetztseins« nicht auf einer wirklichen, einen gerichteten Prozess voraussetzenden Beschleunigung beruhe, sondern »mit der fehlenden Erfahrung von Dauer« zu tun habe, »daß man heute nicht zu verweilen vermag«, sondern »ständig neu anfangen, sich für eine neue Option oder Version entscheiden« müsse (Han 2009, S. 39). Auch Bauer weist aus neurowissenschaftlicher Sicht darauf hin, dass eine »per-

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manente Exposition gegenüber Konsumreizen und sensorischen Stimuli […] dem Menschen die Muße [raubt]. Mit ihr verliert der Mensch die Möglichkeit, zu sich selbst zu kommen, sich zu zentrieren, zu träumen und darüber nachzudenken, was er längerfristig mit seinem Leben machen will« (Bauer 2018, S. 265). So brauche man für eine dauerhafte Gesundheit am Arbeitsplatz »gerechten Lohn und soziale Anerkennung von Vorgesetzten und Kollegen« sowie eine »gute Selbstfürsorge«, um regenerieren zu können (S. 265). Arbeitsdruck in beschleunigten und entgrenzten Arbeitswelten können King zufolge »zu selbstschädigendem Verhalten und Überforderungen führen oder eben dazu verführen« (King 2013, S. 155 f.). »[A]uch Prioritätenverschiebungen und die Entpriorisierung oder Wertverlust der sozialen Beziehungen« blieben zusammen mit »Entfremdung oder Sinnverlust« nicht ohne Folgen (S. 155). So sehr wir dem zustimmen, möchten wir auch auf die damit verbundene Gefahr hinweisen, gesellschaftliche und strukturelle Bedingungen der Arbeitswelt zu individualisieren und damit den Druck auf die Einzelnen zu erhöhen – z. B. durch den Gedanken: »Hätte ich mich und mein Leben besser im Griff oder ein effizienteres Zeitmanagement, könnte ich es schaffen und auch meiner Familie wieder eine höhere Priorität zuweisen …« Als erfahrene Coaches wissen wir auch, dass sich strukturelle Probleme nicht auf der individuellen Ebene lösen lassen, sondern durch die Individualisierung struktureller oder gesellschaftlicher Probleme deren Lösung sogar verhindert wird, weil die (strukturelle, gesellschaftliche) Ebene, auf der die Probleme möglicherweise gelöst werden könnten, damit aus dem Blick gerät. 1.5.2  Arbeits- und Arbeitsplatzveränderung

»Wo Zugehörigkeit bröckelt, verlieren Betriebe soziale (Teamfähigkeit), professionelle und ideelle Ressourcen, während gerade in Zeiten entscheidender Reorganisationen das Bedürfnis nach Orientierung, Sicherheit, Halt und Wertschätzung tendenziell ansteigt« (Pfaff-Czarnecka 2018, S. 17). Es ist festzuhalten, dass der Wandel in Organisationen seit 1990 »seinen Fixplatz […] im Arsenal der Organisationsberatung erobert [hat]« ebenso wie im »theoretischen und empirischen Diskurs« (Titscher, Mayrhofer u. Meyer 2010, S. 40). Wenn es zwar bereits »seit Bestehen von Organisationen« eine »[a]bsichtsvolle Gestaltung und Veränderung von Unternehmen« gab und dies demnach nichts Neues sei, so ist Kasper und Müller zufolge die »Radikalität und sprunghafte Zunahme von Veränderungsmanagement und -prozessen seit etwa 20 Jahren [heute also etwa 30 Jahren, Anm. d. Verf.]« durchaus neu (­Kasper u. Müller 2010, S. 184). »[V]or allem [durch] die Herausforderungen […] technische[r] Innovationen«, aber auch durch den »Euro, dessen Entwicklung höchst ungewiss

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ist; die Bedrohung durch den sich umgreifenden Nationalismus und Protektionismus; die Globalisierung und die wachsenden Widerstände dagegen« hat sich Gergs, Lakeit und Linke zufolge »[d]ie Geschwindigkeit des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft und die damit verbundene Unsicherheit […] im letzten Jahrzehnt nochmals deutlich erhöht« (Gergs et al. 2018, S. 178). Sie sprechen »im Zuge der Digitalisierung« von »disruptive[n] Umbrüche[n]« mit noch unabsehbarem Ausgang. Der ursprünglich in der Softwareentwicklung entstandene Begriff der »Agilität« werde dem gegenwärtig vorherrschenden Glauben nach als »Königsweg zur optimalen Operationsform« von Wandel gehandelt (S. 178). Gergs, Lakeit und Linke machen jedoch darauf aufmerksam, dass »[i]n der gegenwärtigen Diskussion um die Agilität […] die Folgeprobleme dieser neuen Organisationsform fast vollständig ausgeblendet« werden, wie beispielsweise Desintegration und ein damit einhergehender Rückgang der Leistungsfähigkeit (S. 178 f.). Sie weisen in diesem Zusammenhang auf das »Agilitäts-­ Stabilitäts-Paradox« hin: »Unternehmen stehen nicht nur vor dem Problem der ständigen Anpassung an sich verändernde Umweltanforderungen (Adaption), sondern müssen parallel hierzu auch die soziale Integration der Organisation sichern (Stabilisierung). Das Management muss daher gleichzeitig stabilitätsund veränderungs­orientiert handeln« (S. 183). Sie machen im Folgenden jedoch deutlich, dass dies nur scheinbar widersprüchlich sei, da sich Stabilität und Agilität gegenseitig bedingen (S. 183). Sie beziehen sich dabei auf ein von Parsons, Bales und Shils in den 1950er Jahren entwickeltes Schema (»AGIL«), das aus vier Phasen eines jeweils verschiedenen Systemzustands besteht, die jedoch in einer dynamischen Beziehung zueinander­stehen (Parsons et al. 1953, S. 187 f.): »Adaptation« – Anpassung eines sozialen Systems an »Realitätsanforderungen« (»reality demands«) und Veränderungen der äußeren Bedingungen des sozialen Systems (S. 183), »Goal ­Gratification« – das Erreichen gesetzter Ziele (S. 184), »Integration« – die Einbindung und Integration zum Erhalt der eigenen Systemgrenzen (S. 184 f.) und »Latency« – das Aufrechterhalten und die Erneuerung anregender und kultureller Werte und Strukturen, die wesentlich für das eigene System sind und daher eine notwendige Voraussetzung bilden für das dauerhafte Bestehen des Systems (S. 185). »Adaptation« und »Goal Gratification« kennzeichnen dabei Gergs, Lakeit und Linke zufolge Agilität, »Integration« und »Latency« dagegen sicherten Stabilität. So schränke Stabilität einerseits Wandel ein, biete aber andererseits erst die Grundlage, um Wandel zu ermöglichen (Gergs et al. 2018, S. 184). Die gegenwärtige Diskussion sehe jedoch Agilität als »Wunderformel zur Lösung der aktuellen Probleme von Unternehmen«, ohne das »wachsende Spannungsverhältnis zwischen Agilität und Stabilität« wahrzunehmen (S. 186). Vielmehr

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werde das »Folgeproblem der ›Re-Integration‹ agiler Organisationen und der Bedarf an ›Re-Stabilisierung‹ […] ausgeblendet« (S. 186). »Häufige Restrukturierungen innerhalb der Organisationen müssen kommunikativ ›abgearbeitet‹ werden, um nicht den angestrebten Effizienzgewinn durch anhaltende ›atmosphärische Störungen‹ zu konterkarieren«, mahnt auch Fietze (2010, S. 19). Mit der Ende der 1990er Jahre einsetzenden »New-Economy-Welle« gewann daher die Organisationskultur an Stellenwert: »›Chief Happiness Officer‹ […] oder ›Feel-Good-Manager‹« (Kühl 2018, S. 28) sollten Transformationsprozesse für die Arbeitnehmerinnen verträglicher gestalten. Die »New-Work-Ansätze[.] der 2010er Jahre« führten zu einer weiteren Bedeutungszunahme des Themas Organisationskultur, da durch die mit »Agilität oder Holacracy« einhergehende Enthierarchisierung und Dezentralisierung Führungskräfte »direkte Zugriffsmöglichkeiten verlieren würden […] [und] ihnen mit der Gestaltung der Unternehmenskultur ein anderes Instrument an die Hand […] [ge]geben [wurde], um die Organisation steuern zu können« (S. 29). Auch für Wiemann, Weibel und Zolliker »ist und bleibt Entwicklung im Bereich Unternehmenskultur zentral«, »[u]m die Herausforderungen der Zukunft der Arbeit meistern zu können« (Wiemann et al. 2018, S. 174).

2  Der Selbstbeschreibungsdiskurs der Arbeitswelt Die aktuelle Arbeitswelt ist über die genannten Ausprägungen der Transformationen hinaus auch geprägt von den Weisen, in denen sie sich selbst beschreibt. Diese Weisen der Selbstbeschreibung haben wesentliche Funktionen der Legitimation, der Erklärung, der (Selbst-)Verständigung und der Entlastung ebenso wie der Mystifizierung. Dies wollen wir an einem prominenten aktuellen Beispiel zeigen: dem VUCA-Diskurs. 2.1 Die VUCA-World Der Begriff VUCA (oder eingedeutscht: VUKA) hat Hochkonjunktur zur Beschreibung der die Lebens- und insbesondere Arbeitswelt prägenden Umwelt. Der Begriff setzt sich zusammen aus volatility (Volatilität oder Unbeständigkeit), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Ambiguität oder Mehrdeutigkeit). Er soll ausdrücken, welche Herausforderungen durch die oben skizzierten Arbeitsbedingungen entstehen, womit Organisationen und Führungskräfte sich im 21. Jahrhundert auseinandersetzen müssen. Globa­lisierung, Technisierung und demografischer Wandel veränderten »previously stable wor-

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king environment[s] in which traditional careers were contextualised« (Parker 2017, S. 421). Schnelle und unerwartete Veränderungen führten zu Instabilität und fehlender Weitsicht (S. 422). Die durch Digitalisierung ausgelösten Entwicklungen führten zu immer größer werdender Komplexität und mangelnder Geradlinigkeit, »non-linearity, which may be as overwhelming to the career actor as it is relentless« (S. 422). Die damit einhergehende Ambiguität fördert dabei Missverständnisse und führt zu Verwirrung – so das gängige düstere Bild der VUCA-World. Braak und Elle begründen dies mit der Herkunft des »VUCA-Konzept[s] [aus] der militärischen Erfahrung, dass sich eine Guerillaorganisation nicht nach den Gepflogenheiten moderner Armeen richtet« und es dann »um das blanke Überleben« gehe. »So haben dann auch die vorgeschlagenen Techniken den Hintergedanken, die VUCA-Phänomene noch besser in den Griff zu bekommen« (Braak u. Elle 2019, S. 70). Sie wollen die Gegebenheiten der VUCA-World nun »bei der Übertragung auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich« positiv umdeuten, indem sie darauf hinweisen, »dass es ohne VUCA keine Entwicklung, keinen Fortschritt, ja kein Leben gäbe«, und sie daher anbieten, »VUCA als Quelle von Lebendigkeit und Innovation zu betrachten« (S. 70 f.). Dass es bereits vor VUCA-Zeiten Entwicklung und Fortschritt, ja sogar Leben gab, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Es ist jedoch höchste Zeit, manche Irrtümer und willkürlichen Zuschreibungen in Zusammenhang mit dem Begriff VUCA auszuräumen: Der Begriff, bzw. das Akronym, VUCA stammt aus der US-Armee (z. B. K. Lawrence 20133; Petry 2016, S. 38; Lenz 2019, S. 51), jedoch sind die mit ihm verbundenen Beschreibungen bei Weitem nicht so neu und aktuell, wie es bei der Durchsicht der aktuellen Literatur oder dem Besuch einschlägiger Tagungen zur Zeit den Anschein hat. So irrt K. Lawrence (siehe Fußnote 3), dass das Akronym erst Ende der 1990er Jahre geschaffen worden sei und sich erst nach 9/11 durchgesetzt habe (Lawrence 2013). VUCA findet sich bereits bei Lawrence und Steck (1991) und Barber (1992). Barber stellt ebenfalls 1992 bereits fest: »Feedback from various sources indicated that VUCA has a negative, dark 3 K. Lawrence 2013, der häufig als Quelle genannt wird, beruft sich selbst auf P. Kinsinger und K. Walch vom 9. Juli 2012; die angegebene URL ist allerdings nicht mehr zugänglich. Lawrence schreibt: »The notion of VUCA was introduced by the U.S. Army War College to describe the more volatile, uncertain, complex, and ambiguous, multilateral world which resulted from the end of the Cold War (Kinsinger u. Walch, 2012). The acronym itself was not created until the late 1990s, and it was not until the terrorist attacks of September 11, 2001, that notion and acronym really took hold. VUCA was subsequently adopted by strategic business leaders to describe the chaotic, turbulent, and rapidly changing business environment that has become the ›new normal‹« (Lawrence 2013, S. 3).

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­connotation. This has caused us to expand the perspective to include ›possibilities‹ and ›opportunities‹« (Barber 1992, S. 8). Die VUCA-betreffenden Inhalte führt ­Barber auf die US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Bennis und Nanus zurück: »Drawing on the writings of Bennis and Namus [sic] […], the [US Army War] College has adopted the acronym VUCA (which stands for Volatility, Uncertainty, Complexity and Ambiguity) to describe the ­strategic environment« (S. 8). Tatsächlich findet sich eine ähnliche Beschreibung der Umwelt von Organisationen, wie man sie auch heute vielfach liest, in dem 1985 erschienenen Buch »Leaders: the strategies for taking charge«: So schreiben Bennis und Naus von »the enourmousness of present-day challenges and the pace of change« (1985, S. 2); »This is an era marked with rapid and spastic change. The problems of organizations are increasingly complex. There are too many ironies, polarities, dichotomies, dualities, ambivalences, paradoxes, confusions, contradictions, contraries, and messes for any organization to understand and deal with« (S. 8). »We do face an uncertain and unsettling future« (S. 18). »Deep feelings of insecurity are the norm« (S. 12). Sie ziehen daraus den Schluss, dass »[t]hese changes have profound effects on our society and on how we lead our organizations« (S. 9). »The contexts of apathy, escalating change and uncertainty make leadership like maneuvering over ever faster and more undirected ball bearings« (S. 13). »Traditional information sources and management techniques have become less effective or obsolete. Linear information, linear thinking and incremental strategies are no match for the turbulence of today’s business climate« (S. 10). In den Quellen der US-Armee bezieht sich der Begriff VUCA Anfang der 1990er Jahre – wie auch bei Bennis und Nanus – auf die Beschreibung der Umwelt, die Führungskräfte vorfinden und vor deren Hintergrund bestimmte Führungskompetenzen notwendig sind (z. B. Mackey 1992, S. 10; J. Lawrence u. Steck 1991, S. ii), in den neueren Quellen (z. B. bei M. Lawrence 2014) bezieht er sich auf die aktuelle Sicherheitslage: »Yet, this time the current security environment remains as violent, uncertain, complicated and ambiguous (VUCA), as ever with conflicts both ›hot‹ and ›cold‹ in many parts of the world like the Korean peninsula or the Russian Federation in the Crimea to new conflagra­ tions in places like Syria and Mali« (M. Lawrence 2014, S. 2). Die Phänomene, auf die VUCA bezogen wird (Ungewissheit etc.), sind also nicht erst in diesem Jahrtausend und auch losgelöst vom VUCA-Begriff bereits thematisiert worden, beispielsweise von Looss, der 1997 auf die »Zweifel und [das] Nicht-Wissen in persönlich bedeutsamen Fragen eigenen Verhaltens oder der eigenen Beziehungsgestaltung« von Managern hinweist (Looss 1997, S. 33). Für Manager seien »die Bewertungskriterien für Erfolg und Leistung

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[…] oft unklar und wechseln mit den Bewertern«, die gerade »[i]n Zeiten der Turbulenz wechseln«, was zu einer sinkenden Orientierung der nachgeordneten Führungs­kräfte bei organisatorischen Veränderungen führe (S. 42). Er stellt darüber hinaus fest, dass »[d]as Normensystem […] also vieldeutig [ist] und […] widersprüchliche Botschaften [sendet], insbesondere in Zeiten hoher Veränderungs­intensität« (S.  42). Etwa zeitgleich mit der Entstehung des VUCA-Begriffs hat Beck sein 1986 erschienenes Werk »Risikogesellschaft« geschrieben. Anders als der noch heute unverändert verwendete VUCA-Begriff hat Beck seine Gesellschaftsanalyse jedoch weiterentwickelt und bezieht in seiner 2008 erschienenen »Weltrisikogesellschaft« nicht nur die (vor zehn Jahren) aktuellen Entwicklungen des Globalisierungsprozesses in seine Analyse mit ein, sondern auch Terroranschläge, Gentechnik, Klimawandel und globale Gerechtigkeit (Beck 2008, S. 13 ff.). Gemäß seinem Risiko-bezogenen Fokus trifft er seine Auswahl, die sich – z. B. mit den durch die Digitalisierung verbundenen Risiken wie Datenschutz – selbstverständlich auch erweitern ließe. Durchaus zutreffend, komplexer und differenzierter als der VUCA-Begriff skizziert er einen »unbekannten Bedeutungs-Kosmos der Weltrisikogesellschaft, deren Wirren, Widersprüche, Symbole, Ambivalenzen, Ängste, Ironien und versteckte Hoffnungen wir durchleben und erleiden, ohne sie zu begreifen und ohne zu verstehen« (S. 19). Vielleicht gerade deswegen bleibt die VUCA-World mit ihren vier klar eingegrenzten Begriffen seit über dreißig Jahren bestehen – schließlich hat sich VUCA in dieser Zeit zur Analyse und Darstellung der bestehenden Verhältnisse bewährt und ist zu etwas Vertrautem geworden, das in all den volatilen, ­unsicheren, komplexen und ambivalenten Zeiten zumindest auf der gedanklichen Ebene Sicherheit vermittelt und sich bei der Handhabung und Bewältigung diverser Krisen bewährt hat: Was sich für die »großen Krisen« wie den Kampf gegen eine Guerillaorganisation (Braak u. Elle 2019, S. 70) im militärischen Bereich als nützlich erwiesen hat – und sei es nur vermeintlich –, wird neben Begriffen und Impulsen aus Technik und Informatik nur allzu gern (und entsprechend oft) in die zivile Alltags- und Arbeitswelt übertragen – auch wenn dort andere Regeln und Gesetze herrschen, wie Gergs, Lakeit und Linke dies sehr anschaulich beschreiben bezüglich der unterschiedlichen Anforderungen an ein ziviles Personenflugzeug und an den Eurofighter (Gergs et al. 2018, S. 179 f.). Infolgedessen könnten auch andere Bilder, Zuschreibungen und Muster durchaus hilfreicher und passender sein. Diese Bilder zu finden, Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen − auch dazu kann Coaching einen maßgeblichen Beitrag leisten.

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2.2 »Netzwerk« als zentrale Arbeitsplatzbeschreibung des 21. Jahrhunderts Während laut Western im von der Industrialisierung geprägten 20. Jahrhundert die vorherrschende Metapher die des Managers und der »Maschine« gewesen sei, sei es nun das »Netzwerk«, das den postindustriellen Arbeitsplatz des 21. Jahrhunderts präge, der von Internet, Globalisierung und digitaler Ökonomie beherrscht werde (Western 2017, S. 53). Netzwerke verändern nicht nur unsere Arbeits-, sondern auch unsere Lebensweise und welche Beziehungen wir zueinander haben. Da Netzwerke ebenso wenig hierarchisch sein könnten wie zentral geplant und kontrolliert, verändert sich Western zufolge auch die vertikale Hierarchiestruktur zu lateralen Beziehungen. Internet und Kommunikationstechnologien bieten neue Plattformen, die diese Veränderungen vorantreiben und unterstützen. So sind heute viele Teams und Kolleginnen mittlerweile über Whatsapp-­ Gruppen vernetzt und damit auch außerhalb ihrer Arbeitszeiten erreichbar. So ist für Western der »Netzwerk«-Begriff zentral für den Arbeitsplatz des 21. Jahrhunderts, der von Internet, Globalisierung und digitaler Ökonomie dominiert werde: »This reflects the increasingly interconnected and inter-­dependent world where organizations have complex stakeholder relationships, at both local and global levels« (S. 53). Um diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen, spricht sich Western für eine fortgeschrittene Form systemischen Coachings aus, dem »Network-Coaching«: »The Network coach works on the premise that there are multiple actors in fluid networks, and that organizations are networks of activity, that operate within other connected networks and eco-systems« (S. 54). Die Aufgabe des Coachs bestehe darin, Coachees in ihren Netzwerken zu verorten und sie darin zu unterstützen, diese vielfältigen Netzwerke zu erkunden und dann Strategien zu entwickeln, um Veränderungen zu beeinflussen (S. 54). Er sieht die Gefahr, dass die Coachingbranche ohne bessere Netzwerkkenntnisse veraltet und auf eine personalisierte Form arbeitsbezogener Psychologie beschränkt werden könnte. »Without embracing the network discourse it might be difficult for coaches to support progressive senior leaders to deliver ethical and strategic success in the light of tumultuous changes in organizational and social life« (S. 55). Dazu gehören aus unserer Sicht auch Kenntnisse darüber, wie man beispielsweise in der Branche fest verankerte ethische Wertmaßstäbe wie Diskretion und Datenschutz auch im digitalen Zeitalter aufrechterhalten kann. Dies haben unter anderem die vielfältigen Diskussionen und überaus unterschiedlichen Auslegungen der europäischen Datenschutzrichtlinie im letzten Jahr gezeigt. Um professionelle Qualitätsstandards auch beim Online-Coaching umsetzen

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zu können, bedarf es mehr als nur eines Internetzugangs, sondern Kenntnisse über Online-Datenschutz und medienbasierte Kommunikation (vgl. dazu den Beitrag von Rothe). Nur wer mit Methoden, Vorteilen und auch Fallstricken des Online-Coachings vertraut ist, sollte dies anbieten.

3 Der Beitrag von Coaching und Supervision zu einer produktiven Gestaltung individueller Arbeitssituationen Coaching trifft »[w]ie kaum ein anderes Beratungsangebot […] den Zeitgeist«, der sich »im Zusammenspiel der beschleunigten Prozesse der ­Individualisierung, der sozialen Komplexitätssteigerung und einem übergreifenden Bedeutungs­ zuwachs der extrafunktionalen, personenbezogenen Kompetenzen in der Arbeitswelt« herauskristallisiere (Fietze 2015, S. 18). »[C]oaching could ­benefit organiza­tions by enhancing employees’ performance and skills, well-being, coping, work a­ ttitudes, and goal-directed self-regulation« (Theeboom, Beersma u. van Vianen 2014, S. 3). Ebenso wie Supervision und Organisations­beratung dient es der »Qualitäts­sicherung oder -steigerung beruflicher Praxis und Kommunikation« (Fischer 2010, S. 22), beispielsweise bei »Kommunikations­ probleme[n] angesichts prekärer Selbststeuerung beruflichen Handelns« (S. 22). So löst »die zunehmende Komplexität der Arbeitsabläufe einen steigenden Bedarf nach Beratung aus« (Galdynski 2009, S. 112). Galdynski stellt auch die Frage, »ob aufgrund der permanenten ›Change-­ Prozesse‹ in der Gesellschaft Beratungen […] zunehmend an Normalität gewinnen« (S. 118). Durch den geschützten Rahmen, den Supervision und Coaching Klientinnen bieten, können dort schwierige Dinge thematisiert werden, »die in offiziellen Kontexten meist verschwiegen werden« (Hausinger 2013, S. 79). Ferner sind diese Beratungsformen besonders geeignet, um über zukünftige Handlungs­ schritte und Entscheidungen nachzudenken, »neue Zugänge zu Aufgaben, Anliegen, Rollen, Problemen und Konflikten« zu erlangen (S. 80). Coaching bietet so die Möglichkeit, anstehende Veränderungen gedanklich durchzuspielen, Folgen von Agilität, Flexibilität und neuen Arbeitsstrukturen in den Blick zu nehmen und auch auf der Gefühlsebene zu antizipieren, und kann so Veränderungsprozesse wirkungsvoll unterstützen. Fischer betont dabei die »Expertise des Nichtwissens […], [in der] vom Professionellen keine rezept­artigen Lösungen angeboten werden, sondern allenfalls gemeinsam Lösungen unter Einsatz (allen) verfügbaren Wissens ausprobiert werden« (Fischer 2010, S. 23). Darüber hinaus kann Coaching Stabilisierungsfaktoren stärken. Dabei ist ein wertebezogenes Coaching unabdingbar, das Halt und Orientierung gibt, gerade

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auch in Zeiten des Nicht-wissen-Könnens, in Zeiten, die von Unsicherheit und manchmal auch Angst geprägt sind (vgl. den Beitrag von Dinger). Wertebezogenes Coaching ist dabei jedoch deutlich zu unterscheiden von (be)wertendem Coaching. Durch den im Coaching erfolgenden Blick aus der Metaperspektive und das Wissen um gesellschaftliche Entwicklungen kann Coaching auch entlasten, wenn man feststellt, dass der »erheblich beschleunigte[.] Wandel der Arbeitswelten« (Voß et al. 2013, S. 7) mit der Forderung nach Innovation, Flexibilität und Agilität nun beinahe unverändert seit über dreißig Jahren besteht und die Arbeitswelt sich zwar verändert hat, aber nicht − wie von manchen überforderten Klientinnen befürchtet − dadurch gleich droht zusammenzubrechen. Das anhaltende Beschwören tiefgreifender, »disruptiver« Veränderungs­prozesse, die es so noch nicht gegeben habe, hängt unseres Erachtens unter anderem damit zusammen, dass damit auch eine Schutzfunktion verbunden ist: Unter so schwierigen, unvorhersehbaren Bedingungen kann auch die beste Managerin nicht immer richtig entscheiden und handeln − und damit auch einen Teil ihrer Verantwortung abgeben. Bei Organisationsberaterinnen und Coaches wiederum sichert die gleiche Beschwörung die eigene Auftragslage: Je schwieriger und komplexer die Zeiten für Unternehmen sind, desto nötiger wird die Unterstützung kompetenter Berater gebraucht. Nach dreißig Jahren Erfahrung mit Veränderungsprozessen liegen darüber hinaus auch jahrelange Erfahrungen mit unterschiedlichen Strategien und Ansätzen vor, wie man sich verändernden Anforderungen begegnen kann. So kann Coaching stabilisieren, indem eine Klärung stattfindet, wo eigene Verantwortlichkeiten und Handlungs­ möglichkeiten liegen und damit zusammenhängend auch individuelle Grenzen aufgezeigt werden. Anliegen, die nur auf struktureller Ebene gelöst werden können, werden so nicht individualisiert (was zu einem weiteren Gefühl der Überforderung oder des eigenen Scheiterns führen würde), sondern können dahingehend bearbeitet werden, herauszufinden, wo eigene Einfluss­möglichkeiten liegen, die zu einer Lösung auf struktureller Ebene führen könnten, sowie in einem zweiten Schritt Ressourcen des Coachees in den Blick zu nehmen und ihn dabei zu unterstützen, ob und ggf. wie ein guter Umgang mit diesen strukturellen Gegeben­heiten aussehen könnte. Auch Rauen, Strehlau und Ubben sehen eine Aufgabe des Coaching darin, »vorhandene Ressourcen zur Selbstregulation (wieder) zu aktivieren«, z. B. durch Kreativität erfordernde Methoden, »die das Selbst anregen«, die den Blick erweitern oder das Einfühlungsvermögen und »die Wahrnehmung von Körpersignalen und Gefühlen« fördern (Rauen et al. 2009, S. 158) (vgl. dazu den Beitrag von Budde-Schneider). Coaching kann Kontemplation fördern (­Stelter 2017, S. 333), die »Kunst des Verweilens« (Han 2009). Han stellt fest, »daß die hyperaktive Unruhe, die Hektik

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und Ruhelosigkeit von heute, dem Denken nicht gut bekommt, daß das Denken wegen eines zunehmenden Zeitdruckes nur noch das Gleiche reproduziert. […] Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, werden abweichende Ansichten gemieden. […] Die allgemeine Unruhe erlaubt es dem Denken nicht, sich zu vertiefen, sich weit hinauszu­wagen, sich zu etwas wirklich Anderem aufzuschwingen« (Han 2009, S. 106). Im Coaching kann das Verweilen durch das Reflektieren über Werte, (berufliche) Sehnsüchte, Träume und Hoffnungen erschlossen werden (Stelter 2017, S. 334). All das ist jedoch nur möglich, wenn man als Coach auf unterschiedliche und theoriebasierte, wissenschaftlich fundierte Coachingansätze zurückgreifen kann. »The diversity of coaching approaches allows coaches to draw on the most appropriate techniques and models to meet organizational and client needs« (Cox, Bachkirova u. Clutterbuck 2014, S. 156). »[T]here is a need to consider the issues facing the client and the organization; decide which paradigm ­appears to drive the coaching assignment, learning, performance, or meaning-of-work; and select appropriate coaching approaches« (S. 156). Dies gilt auch für unseren eigenen Ansatz, den wir im nächsten Kapitel vorstellen.

4  Ein Konzept von Coaching und Supervision 4.1 Gegenstand Wir begreifen Coaching als eine Form »beraterischer Interaktion, […] [die] an der Schnittstelle zwischen organisatorischen, insbesondere betrieblichen Systemen einerseits und individuellen Strukturen andererseits ansetzt mit dem Ziel, Menschen für dort auftretende Probleme Lösungen zu ermöglichen und sie in ihrem Potential beruflicher Selbstgestaltung zu fördern« (Pfab u. Pfab 2018, S. 435). Das Konzept beruht auf dem Grundgedanken der Reflexion von Arbeitssituationen. Reflexion ermöglicht Menschen, ihre Arbeitssituation nachzuerleben, in erweiterter Perspektive zu betrachten, eine kritische Distanz zu ihr zu entwickeln und sie dadurch zu beeinflussen, aber auch die Grenzen einer solchen Beeinflussung zu erkennen. Reflexion betrachten wir als spezifischen, angemessenen Zugang zu komplexen, von Kontingenzen und Ambivalenzen bestimmten Arbeitssituationen mit einem zunehmenden Anteil an kommunikativen Aktivitäten. In Coaching als reflexivem Beratungsformat kommen Menschen in ihrer Subjekthaftigkeit in besonders intensiver Weise zur Geltung.

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4.2 Theorieverankerung Unser Verständnis von Coaching und Supervision4 beruht auf der Grundlage von Theorien sozialer Interaktion: phänomenologische Sozialphilosophie, Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie und Interaktionale Sozio­linguistik (Studien zur sozialen Interaktion in organisatorischen Zusammenhängen z. B. Boden u. Zimmermann 1991; Drew 1992; Sarangi u. Roberts 1999; speziell zu Beratungsinteraktion Erickson u. Shultz 1982; Nothdurft 1984; Nothdurft, Reitemeier u. Schröder 1994), Konstruktivismus (z. B. Schmidt 2005) und systemischen Ansätzen (z. B. Simon 2009; Baecker 2003). Diese Theorien bilden eine fundierte Grundlage für das Handeln des Coachs in der reflexiv orientierten Beratungssituation. Die interaktionstheoretische Grundlage verhilft dem Coach zu einer erhöhten Sensibilität dem Coachingprozess gegenüber, zur Wahrnehmung von Resonanzen im Geschehen zwischen sich und seinen Klientinnen, zur Wachheit gegenüber dem multimodalen (nonverbalen und verbalen) Ausdrucksgeschehen, zur Aufmerksamkeit im Verfolgen des Zustandekommens interaktiver Konstruktionen, zur Schaffung von Synchronizität seines eigenen Handelns mit dem seiner Klientinnen, zur Beseitigung von Rede- und Hör­blockaden seiner Klientinnen wie auch eigener sowie zur Ermöglichung von Offenheit des Coachingsprozesses für Wagnisse (vgl. dazu den Beitrag von W. Pfab) und zur Überwindung von Grenzen. Die konstruktivistische Grundlage verhilft dem Coach zum Erkennen von Konstruktionen, ihrer jeweiligen Eigenlogik, zum Ausloten ihres förderlichen und blockierenden Potenzials (Deutungsmacht) für das Selbstverständnis und die Selbstverwirklichung seiner Klientinnen, ermöglicht ihm ein reflektiertes Arbeiten mit den Konstruktionen, z. B. unter Einsatz von Metaphern oder Arbeit mit Kontextualisierungen (vgl. dazu den Beitrag von A. Pfab), unterstützt ihn dabei, zusammen mit seinen Klientinnen für sie befriedigende und realistische Situations- und Selbstverständnisse zu entwickeln. Die systemische Grundlage leitet den Coach dabei an, Denkblockaden bei seinen Klientinnen zu beseitigen, ihnen zu einem angemessenen Verständnis ihrer Arbeitssituation zu verhelfen, auf die Dynamik wie auch auf die Stabi­ lität arbeitsbezogener Zusammenhänge aufmerksam zu machen (Kontextua­ lisierungen), den Blick seiner Klientinnen für Wirkungszusammenhänge ihres Handelns (Verantwortung) wie auch für Bedingungszusammenhänge zu öffnen, unter denen ihr Handeln erfolgt. 4

Unter Gesichtspunkten der theoretischen Fundierung gibt es für uns keinen Unterschied zwischen Coaching und Supervision. Es gibt allerdings pragmatische und andere Gesichtspunkte, die eine Unterscheidung relevant werden lassen.

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4.3 Menschenbild Auf der Grundlage dieser Theorien begreifen wir Menschen ȤȤ als »Beziehungswesen«, d. h. als wesentlich durch die sozialen Beziehungen konstituiert, in denen sie sich bewegen, ȤȤ als sinnschaffende Wesen, d. h. als Wesen, die ihre soziale Umgebung und sich selbst reflexiv in subjektiv gesetzten, intersubjektiv ausgehandelten und sozial etablierten Deutungen (symbolisch) konstituieren, ȤȤ als »Menschen in Systemen«, d. h. als stets eingebunden in komplexe, dynamische kulturelle und soziale Zusammenhänge mit ihren Interdependenzen, aus denen heraus sie leben und handeln. Im Einzelnen: Menschen sind …  … Beziehungswesen: Menschen sind durch ihre leib-seelische, dem Anderen zugewandte Präsenz bestimmt. Der Mensch erlebt und begreift sich aus der Beziehungskonstellation heraus, in der er sich im jeweiligen Augenblick befindet, und ist in seinem Handeln wesentlich durch diese bestimmt. Sein Selbstverständnis ist geprägt von seinen lebensgeschichtlichen Beziehungserfahrungen sowohl in ihren verdrängten Anteilen als auch in ihren bewussten Reflexionen und den sich daraus ergebenden kognitiven Konstruktionen (Selbstbeschreibungen, Muster der Lebensgeschichte).5  …  sinnschaffend: Menschen sind darauf angelegt (vgl. Frankl 1981), ihrer Umgebung, den Ereignissen, deren Teil sie sind, und sich selbst Sinn zu verleihen (Antonovsky [1997] weist auf den Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten der Sinnschaffung [Kohärenz] und dem gesundheitlichen Wohlbefinden von Menschen hin). Diese Sinnbildung erfolgt zwar individuell, folgt aber gesellschaftlich und kulturell vorgegebenen Rahmen und vorgezeichneten Bahnen sowie im Wesentlichen in interaktiven Zusammenhängen. Insofern ist die Redeweise des sogenannten Radikalen Konstruktivismus, ein jeder

5 Mit dieser Auffassung grenzen wir uns gegen Vorstellungen von Menschen und ihren Beziehungen ab, die von einem Primat des einzelnen Subjekts ausgehen und Beziehungen dann aus den Positionierungen einzelner Subjekte zueinander bestimmen wollen und die den »Zugang« eines Subjekts zum anderen dann durch Empathie ermöglicht sehen. Solche Vorstellungen, insbesondere zu Empathie und Einfühlung, sind von der phänomenologischen Philosophie und Soziologie schon früh scharf kritisiert worden (prägnant Scheler 1923). Unsere Auffassung sozialer Interaktion beruht auf dessen Vorarbeiten sowie denen Merleau-Pontys (1966). Aktuell finden sich verwandte Auffassungen unter anderem im Forschungsprogramm des Embodiments (Varela 1990; Fuchs 2017) und des kommunikativen Realismus (Klemm u. Pfab 2019).

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schaffe sich seine eigene Wirklichkeit, falsch, weil sie den soziokulturellen Charakter der Wirklichkeitskonstruktion verkennt.  … im System: Menschen existieren nur in Zusammenhängen. Sie werden in sie hineingeboren, bedürfen ihrer zu ihrer Entwicklung, gestalten sie mit, werden von ihnen mitbestimmt und verstehen sich in ihnen und durch sie – und in Abgrenzung zu ihnen. Die Position eines Menschen in den Systemen, in denen er sich bewegt und bewegt wird, ist ein zentrales Thema im Coaching. Es geht über die Frage hinaus, welchen Systemen er angehört, um die Dynamik dieser Systeme, ihre Stabilisierung und Möglichkeiten und Grenzen ihrer Veränderung. Dieses Menschenbild bildet auch die ethische Grundlage unseres Handelns als Coach. 4.4  Anforderungen an den Coach Wir bestimmen die Anforderungen an einen Coach kompetenzbasiert, nicht wissensbasiert, oder mit anderen Worten: Wir bestimmen sie über das, was ein Coach können muss, nicht über das, was er wissen muss6. Dass dieses Können theoriegeleitet ist (also Wissen, in das Können mit eingeht), versteht sich von selbst. Eine kompetenzorientierte Bestimmung ist offen für unterschiedliche theoretische Ansätze oder »Schulen« im Coachingdiskurs. Die inhaltliche Bestimmung der Kompetenzen erfolgt aus unserem Grundverständnis von Coaching (siehe oben) bzw. als Antwort auf die Frage, was ein Coach können muss, wenn er das Ziel hat, Menschen für Probleme an der Schnittstelle zwischen individuellen und organisatorischen Strukturen Lösungen zu ermöglichen und sie in ihrem Potenzial beruflicher Selbst­gestaltung zu fördern. Er muss: ȤȤ den Prozess gestalten können, ȤȤ die Klientin bei der Klärung ihrer Probleme unterstützen, ȤȤ Initiativen ergreifen, um positive Veränderungsprozesse bei der Klientin in Bewegung zu bringen, ȤȤ die Klientin emotional stabilisieren und stützen. Dies bildet die vier Basiskompetenzen des Coachs: 6 Insofern grenzen wir uns auch von Ausbildungskonzepten für Coaching entschieden ab, die nur auf Vermittlung von Wissen basieren. Lane (2017) sieht solche Programme (jedenfalls für Großbritannien) eher an Universitäten angesiedelt: »[…] university led programmes […] focus […] on a knowledge base for coaching« (Lane 2017, S. 647).

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4.4.1 Prozesskompetenz

Der Coach ist in der Lage, Coachingprozesse – sowohl in interpersonellen Begegnungssituationen als auch in medial vermittelten Coachingprozessen (vgl. dazu den Beitrag von Rothe) – professionell durchzuführen: Gestaltung des Settings, Herstellung eines Arbeitsbündnisses, Rollendefinition, Auftragsklärung, Analyse des Auftragsumfelds (Funktionalisierung), Kontraktherstellung, kritische Selbstreflexion, Aufrechterhalten von Allparteilichkeit, Ergebnisoffenheit, Aushalten von Ambivalenzen, Umgang mit Fremdheit, Bewusstheit von Einflussnahme bzw. Vermeidung von Ausüben von Macht. Er beherrscht die wesent­lichen Qualifikationen kommunikativen Handelns in beraterischer Interaktion (zuhören können, fragen können, paraphrasieren können, moderieren können, argumentieren können, Schweigen aushalten können), und versteht es, diese angemessen zu gestalten. Er tut dies auf der Grundlage einer entwickelten Haltung professionellen Coachings mit einem reflektierten Rollen- und Professionsverständnis, Werthaltung und ethischen Prinzipien. 4.4.2 Klärungskompetenz

Der Coach ist in der Lage, die Klientin in Coachingsituationen zu einem vertieften Verständnis ihrer beruflichen Situation zu führen, ihre Haltungen und Gefühle verständnisvoll aufzugreifen, emotionale und gedankliche Verstrickungen zu entwirren, Handlungszwänge und Blockaden herauszuarbeiten und undurchsichtige Situationen transparent zu machen sowie zugrunde liegende emotionale und körperliche Blockaden zu lösen. Der Coach beherrscht die Grundlagen sprachanalytischer Verfahren, des klientenzentrierten und Gestaltansatzes, des Konstruktivismus und ethnologischer Konzepte des Verstehens und Fremdverstehens. 4.4.3 Interventionskompetenz

Der Coach ist in der Lage, die Klientin in trügerischen Sicherheiten zu irritieren, sie zu eigenen Zielfindungen anzuregen, Haltungen und Werte zu überdenken und zu fundieren, festgefahrene und fixierte Deutungsmuster aufzu­ lösen, das Verhaltensspektrum der Klientin und ihren Horizont zu erweitern und berufs­relevante Kenntnisse zur Verfügung zu stellen. Der Coach h ­ andelt auf der Grundlage systemischer Ansätze (Perturbation), lösungsorientierter Ansätze, Verfahren des Psychodramas und des Gestaltansatzes, der ratio-­ emotiven Th ­ erapie, sprachanalytischer Ansätze und Verhaltenstherapie.

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4.4.4 Stabilisierungskompetenz

Der Coach ist in der Lage, die Klientin emotional anzunehmen und aufzufangen, spezifische Belastungsaspekte zu erkennen und zu bearbeiten, Ressourcen der Klientin zu erfassen und zur emotionalen Stabilisierung und motivationalen Stärkung der Klientin zu nutzen. Diese Kompetenzen eignet sich der Coach auf der Grundlage von Motivationstheorien, Stresstheorien, Theorien des Selbstmanagements sowie Konzepten des Empowerments und ressourcenorientierten Ansätzen an.

4.5 Ausbildungskonzept »Professionelles Coaching und Supervision« Dieses Konzept bildet auch die Grundlage für unser Ausbildungsprogramm »Professionelles Coaching und Supervision«. Ziel des Ausbildungsprogramms ist die Entwicklung der für Coaching wesentlichen Kompetenzen, die sich im Zuge des Ausbildungsgangs zu einer professionellen Haltung »Coaching« sukzessiv verdichten. Die Entwicklung einer solchen Haltung ist unseres Erachtens entscheidend; sie geht über die Beherrschung einzelner Techniken und Verfahren weit hinaus. Dieser Prozess erfolgt auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit theoretischen Diskursen, methodischen Fragen, praktischen Erfahrungen in Lerncoachings und deren angeleiteter Reflexion in der Lehrsupervision. Das Konzept verbindet eine kommunikationstheoretische Grundorientierung mit einem interdisziplinären Ansatz. Aufgrund der kommunikationstheoretischen Grundorientierung wird Coaching als kommunikatives Handeln gesehen und demzufolge bilden kommunikative Kompetenzen (siehe die oben genannten Coachingkompetenzen) einen Schwerpunkt im Ausbildungskonzept. Die Kompetenzvermittlung basiert auf einem interdisziplinären pluralistischen Theorieansatz, der unterschiedliche Theorien, Verfahren und Konzepte aus Psychotherapie, Kulturanthropologie, Ethnografie, Kommunikationstheorie, (Organisations-)Soziologie, sprachanalytischer Philosophie, Lebens­ philosophie, ästhetischer Bildung und mehr umfasst. Diese Pluralität von Theorien und Konzepten soll es den Studierenden erlauben, in ihrer professionellen Coaching­tätigkeit situationsangemessen und fallspezifisch aus einer Vielzahl von Handlungs­möglichkeiten auszuwählen. Das curriculare Konzept ist von dem Gedanken zunehmender Professionalität bestimmt. Es bezieht sich auf eine soziokulturell fundierte Theorie von Lernen, der zufolge Lernen als Sozialisierung in eine community of practice

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verstanden wird.7 Damit sind über kognitive Aspekte hinaus auch Fragen der Identitätsentwicklung, von Werten, Einstellungen, Haltungen und Habitus und der Integration in eine Professionskultur angesprochen. Die Grundlagen dieses Konzeptes sind in den 1990er Jahren im Rahmen anthropologischer Studien zum Lernen entwickelt (Lave u. Wenger 1991) und mittlerweile sowohl in erwachsenenpädagogischen Ansätzen als auch in Kontexten der Organisationsentwicklung weitergeführt worden (Brown 1991; Gheradi, Nicolini u. Odella 1998; Hildreth, Kimble u. Wright 2000). Der Grundgedanke ist, dass Neueinsteiger in ein Ausbildungsprogramm von dessen Rändern aus (peripheral participation) durch erfahrene Mitglieder der community in aufeinander aufbauenden Phasen zunehmender Partizi­pation (Reifungsphase, Elaborierungsphase, Transformationsphase) in eine professionelle Haltung sozialisiert werden, die es ihnen ermöglicht, selbstverantwortlich in ihrer Profession tätig zu sein. Im Falle des Ausbildungs­programms wird der Kern einer solchen community von den Dozentinnen und Lehrsupervisoren des Ausbildungskurses gebildet, die – selbst erfahrene Coaches oder Mitglieder der entsprechenden akademischen community – die Teilnehmer in die community sozialisieren, bis diese im Laufe des Ausbildungsprozesses von »peripherer Partizipation« aus zunehmend die Identität eines Coaches entwickeln. Das Lernziel ist erreicht, wenn die entwickelten Coachingkompetenzen in individuell ausgestalteter Weise zum integralen Bestandteil professioneller

Abbildung 1: Community of Practice: Vom Novizen zum professionellen Coach

7 Dieses Konzept stammt nicht aus den Organisationswissenschaften, wie Haubl fälschlicherweise behauptet (Haubl 2009, S. 190), sondern aus der Theorie des Sozialen Lernens (vgl. Lave u. Wenger 1991).

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Identität als Coach geworden sind (daher der Titel »Professionelles Coaching und Supervision«). Als DGSv-zertifiziertes Programm beruht es auf den drei Säulen Seminar, Lerncoachings und Lehrsupervision.

5 Professionalisierung von Coaching: Vorschläge zur Qualitätsentwicklung Wir verstehen Professionalisierung von Coaching als einen kontinuierlichen Prozess der qualitativen Weiterentwicklung hin zu dem, was im internationalen Coachingdiskurs unter den Stichwörtern mastery oder excellence diskutiert wird. Die in diesem Band vorgestellten Impulse verstehen wir als Beiträge zu einem solchen Prozess. Über diese Impulse hinaus sollen an dieser Stelle Überlegungen zu einer solchen Professionalisierung vorgestellt werden. Es handelt sich um Vorschläge die Qualität von Coaching betreffend: ȤȤ die besondere Handlungsqualität von Coaching: Coaching als Kunst (5.1), ȤȤ Aspekte des professionellen Selbstverständnisses von Coaches (5.2), ȤȤ Kriterien für die Qualität von Coachingprozessen (5.3). Bei der Entwicklung dieser Vorschläge war für uns das interaktionstheoretische Verständnis von Coaching wesentlich leitend. Es wurde ergänzt durch professionstheoretische Überlegungen und Beiträge aus dem internationalen Coachingdiskurs.8

8 Wir sind skeptisch gegenüber einem Ansatz, die Weiterentwicklung von Coaching unhinterfragt aus dem betriebswirtschaftlichen Diskurs oder dem der Organisationsentwicklung abzuleiten, wie z. B. Lenz (2019) dies tut: »In Zeiten des tiefgreifenden Unternehmenswandels, der u. a. durch hybride Kundenanforderungen und Digitalisierung getrieben wird, stehen Geschäfts- und Organisationsmodelle sowie bisheriges Führungsverhalten zur Disposition. Führungskräfte benötigen ein hohes Maß an Resilienz, um diesen tiefgreifenden Wandel für sich selbst und ihre Mitarbeitenden erfolgreich zu gestalten. Dementsprechend steht auch Coaching vor einem Umbruch, bis hin zur Überprüfung bisher nicht hinterfragter Grundannahmen« (Lenz 2019, S. 50, Hervorhebung A. P./W. P.). Als gegeben angenommene Veränderungen werden hier gleichsam ungebremst auf die Ebene von Coaching heruntergereicht. Weder diskutiert Lenz die Frage der Übertragbarkeit des VUCA-Konzepts vom militärischen Kontext auf das System von Wirtschaft und Gesellschaft (»Die Übertragung dieser Erkenntnisse auf Zivilgesellschaft und Wirtschaftsunternehmen ist evident«, Lenz 2019, S. 52) noch sieht Lenz die Möglichkeit loser Koppelungen zwischen dieser VUCA-Welt und Unternehmen, noch ist für ihn die Anpassung von Coaching an (vermeintliche) Unternehmens­veränderungen ein professionstheoretisches Problem.

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5.1  Coaching – die hohe Kunst exzellenter Coachingpraxis Eine zertifizierte Ausbildung, die Inkorporierung theoretischer Konzepte als (emotional stabilisierende) Grundlage von Coachinghandeln und die Beherrschung der vier Basiskompetenzen (siehe 4.4) bilden die Grundlage für die gute Gestaltung von Coachingprozessen. Exzellentes Coaching geht darüber hinaus. In den Worten des Professionstheoretikers Lane: »[F]rom rule following to pattern recognition and increasing confidence to step outside protocol« (Lane 2017, S. 651). In Orientierung an aktuelle professionstheoretische Ansätze, interaktionstheoretische Befunde und Impulse aus dem Coachingdiskurs soll exzellentes Coaching als Kunst verstanden werden. Wir knüpfen damit an ein – traditionsreiches – Verständnis von »Kunst« an, wie es z. B. auch in der Formulierung »ärztlicher Heilkunst« zum Ausdruck kommt. Mit der Bestimmung von Coaching als Kunst sind natürlich auch professionsbezogene Implikationen verbunden, u. a. im Hinblick auf die Frage, ob es sich bei Coaching um eine Dienstleistung handelt oder um ein Handwerk. (Auf diese Frage können wir hier nicht eingehen.) Für Drake ist »meisterhaftes« (mastery) Coaching neben einer hohen Rollen­ sensibilität und profundem Wissen durch artistry gekennzeichnet – eine Qualität, die aus seiner Sicht wesentlich auf körperlichen Empfindungen des Coachs beruht (2014). In einer Gegenüberstellung des Novizen und des erfahrenen Coachs erläutert er diese Qualität in vier Aspekten: ȤȤ Während der Novize sich im Coachingprozess durch Zuwendung zu theoretischen Konzepten und methodischen tools Handlungs- und Deutungsorientierung und emotionale Sicherheit verschafft, zeichnet sich der erfahrene Coach durch eine erhöhte Präsenz im Prozess aus (Drake 2014, S. 39; zu Vorstellungen von Präsenz vgl. z. B. Gumbrecht 2012). ȤȤ Zwar gelingt es auch Novizen, eine gute emotionale Verbindung zu ihren Klientinnen aufzubauen; erfahrene Coaches jedoch entwickeln darüber hinaus »the capacity to observe themselves even as they are working. As such, they can […] align more fully with their values […], act with a deeper compassion in holding space for others, and be more engaged in sessions« (Drake 2014, S. 39). ȤȤ Novizen orientieren sich in ihrer Arbeit am Anliegen der Klientin an Bearbeitungsschemata, erfahrene Coaches vertrauen stärker ihrem Bauchgefühl und Instinkt (»gut instincts«, S. 39) als Orientierungsgröße ihrer Arbeit. ȤȤ Novizen neigen dazu, sich in einmal eingeschlagenen Bearbeitungswegen zu bewegen; erfahrene Coaches »adjust their stance or actions (e. g. notice when they need to switch from listening to probing, from decentering to centering), take appropriate action, and be more genuinely powerful in ­sessions« (S. 40). Kurz: Novizen brauchen eine road map, um sich einen Weg

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zu suchen – erfahrene Coaches kennen den Weg –, und weichen von ihm (gelegentlich) ab. Drake weist darauf hin, dass solche »Abweichungen vom rechten Weg« (so auch Budde-Schneider in diesem Band) einen bedeutenden interaktiven Effekt haben, »because a supervisee is often not able to travel farther in sessions than his supervisor is willing to go« (S. 40; vgl. dazu auch die Überlegungen zu »moments of meeting« in dem Beitrag von W. Pfab). Für die Professionstheoretiker Lane und Corrie beruht die Qualität des Künstlerischen im Coaching auf der Nicht-Vorhersehbarkeit des Geschehens: »[…] a substantial component of our ›artistry‹ entails being unable to predict which ideas will emerge and how we will implement them« (Lane u. Corrie 2006, S. 58). Damit befinden sie sich in Übereinstimmung mit Interaktionstheoretikern, die im Hinblick auf interaktive Ereignisse ebenfalls deren Kontingenz und Emergenz betonen (vgl. auch den Beitrag von W. Pfab). Hecht zeigt dies am Beispiel pädagogischen Handelns auf und versteht dieses ebenfalls als Kunst: »Eine Gruppe von Ansätzen beschreibt Pädagogik als Kunst, weil sie die Ausgangssituationen als so komplex betrachtet, dass sie allein aufgrund rationaler, planbarer, kontrollierbarer, wissenschaftlich begründeter Handlungen und Entscheidungen nicht hinreichend beschrieben werden kann. Es bedarf […] einer zwischen Theorie und Praxis vermittelnden Form, einer Kunstlehre, die Aspekte wie Intuition, Kreativität, Improvisation, Habitusformation und Erfahrung mit einschließt. […] Die Kunst besteht in der Auswahl und im situativen Gebrauch von Techniken und Regeln. Planbare, rationale Entscheidungshilfen werden mit spontanen, intuitiven Handlungen kombiniert. Unerwartete Situationen und Lernmomente werden erkannt und aufgegriffen. Pädagogisches Handeln stellt nach diesen Ansätzen eine auf Wissenschaft basierende Kunst dar« (Hecht 2009, S. 370 f.). Theorien sind relevant als erfahrungsintegrierter Bestandteil sogenannten »impliziten Wissens«, in das Können, das Know-how, eingeht: ein Können, in das situative Sensibilität, Kreativität und Leidenschaft inkorporiert sind (vgl. für Coaching Pfab u. Pfab 2018). Und wie in anderen Fällen kunstvollen Handelns kann das Ergebnis eines solchen Handelns gelingen oder nicht gelingen, situativ angemessen oder unangemessen sein. Dieses Erleben als gelungen wird von Gesichtspunkten bestimmt, die gleichsam ästhetischer Natur sind wie »befriedigend«, »passend«, »schön«, »bewegend«, »stimmig«, »erfüllend«. Theorien haben ein vergleichsweise stärkeres Gewicht in der Reflexion des Handelns9. 9 Allerdings ist diese Gegenüberstellung überakzentuiert: Natürlich geht Theoriewissen in das Handeln des Praktikers ein und die Reflexion, z. B. in der Kontrollsupervision, ist selbst wiederum praktisches interaktives, gekonntes Handeln.

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5.2 Dimensionen des professionellen Selbstverständnisses eines Coachs Wir betrachten den Gedanken der Reflexion als Kern professionellen Selbstverständnisses und daraus abgeleiteten Handelns des Coaches. Diese Reflexion muss aus unserer Sicht fünf Aspekte des professionellen Selbstverständnisses berühren: ȤȤ den Coach als Person in der Coachingsituation, ȤȤ den Coach als Mitglied einer scientific community, ȤȤ den Coach als berufspolitischen Akteur, ȤȤ den Coach als Unternehmer, ȤȤ den Coach als gesellschaftliches Subjekt. Dabei unterscheiden sich Gegenstand, Art der Reflexion und ihr Ort. Wir betonen eigens den dialogischen Charakter von Reflexion, d. h., wir verstehen Reflexion primär als »Reflexion zusammen mit«. In der Reflexion der Relevanz seiner Persönlichkeitsanteile in der Coachingsituation geht es um die Subjektivität des Coachs, seine Verführbarkeiten, seine blinden Flecken, Lieblingsgefühle etc. Der klassische Ort dieser Reflexion ist die Kontrollsupervision. In der Theoriereflexion geht es um Prozesse begriffskritischer Überprüfung der Geltung und Konsistenz coachingrelevanter Theorien in Beiträgen zur Fachdiskussion. Unserem Eindruck nach ist diese Form professioneller Selbstverständigung gegenwärtig eher unterentwickelt. Wir halten sie aber schon deshalb für erforderlich, weil sie verhindert, dass der einzelne Coach in eine Subjektivierungsfalle gerät ähnlich derjenigen, mit der er es oft genug bei seinen Klienten zu tun hat. Unter dem Aspekt beruflicher Identität geht es zum einen um die Frage, was es in der community bedeutet, ein guter Coach zu sein, und zum anderen um gesellschaftliche Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit als Coach. Die Form dieser Reflexion ist der kollegiale Austausch in Berufsverbänden und solidarisches Handeln in berufspolitischen Fragen. Ort der Reflexion ist der Berufsverband. Der Coach ist in seiner Arbeit typischerweise als Unternehmer tätig10. In dieser Facette seiner professionellen Identität erfolgt die Reflexion in der Weise seiner Positionierung auf dem Markt, also seiner Vermarktung unter Konkurrenzbedingungen. Diese Reflexion beinhaltet z. B. die Frage, welche Leistungen er anbietet – und welche nicht. Sie findet im Dialog mit seinen Kunden bzw. Auftraggebern statt. Der Coach ist mit seiner Tätigkeit Teil der Gesellschaft; er übt seine Tätigkeit unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus; seine Tätigkeit hat Einfluss auf 10 Fragen der steuerlichen Definition bleiben davon unberührt.

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die Stabilisierung und Veränderung gesellschaft­licher Strukturen. Es geht um die Reflexion seiner gesellschaftlichen Verantwortung, die moralische Qualität seines Handelns (vgl. dazu auch den Beitrag von Dinger) und seine handlungsleitenden Werte – »Zu was für einer Gesellschaft will ich durch mein Handeln als Coach beitragen und warum?«11 Coaches und Supervisoren »verpflichten sich dem Gemeinwohl«, formuliert die DGSv unter anderem in ihren »ethischen Leitlinien« (DGSv 2003). Aus diesen Reflexionen ergibt sich die Haltung des Coaches. Professionelle Reflexion Gegenstände

Form

... mit Hilfe von ...

Ort

I

Persönlichkeitsstruktur/ Coachingsituation

Therapie

Lehr- Supervisorin

Kontroll- Supervision

II

theoretische Grundlagen

Kritik

scientific community

Fach-Diskurs

berufliche Identität

Solidarität politisches Handeln kollegialer Austausch

Kollegen

berufspolitische Verbandsarbeit

Unternehmer

Vermarktung

Auftraggeber / Kunden Konkurrenten

Markt

Werte-Diskurs

Kollegen

Berufsverband

III

IV

V

gesellschaftliches Subjekt

Abbildung 2: Das Reflexionssystem des Coachs

5.3 Kriterien für die Qualität von Coachingprozessen: ein relationales Qualitätskonzept Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen Erfolgskriterien und Qualitäts­kriterien. Erfolgskriterien sind Gegenstand einer Vereinbarung zwischen Klient und Coach. »Was Auftraggeber/Supervisanden von der Supervision erwarten, muss in geeignete Erfolgskriterien umgesetzt werden. Hinzu kommen Kriterien, welche die Supervisoren anlegen, auch wenn sie in den Erwartungen von Auftrag11 »Leitwerte« diskutieren Hausinger und Haubl: »Heißt der Aufklärung, heißt der Nachhaltigkeit, heißt der Humanisierung der Arbeitswelt?«, fragt Haubl und bekennt: »Keine Ahnung« (Hausinger u. Haubl 2009, S. 236). Immerhin verständigen sich die beiden darauf, Super­vision als »wirtschaftstethisches Projekt« zu verstehen (S. 232).

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gebern/Supervisanden nicht vorkommen, da sich Supervision als professionelles Handeln nicht auf die Erfüllung von Kundenwünschen reduzieren lässt« (Haubl 2009, S. 195). Dies sind die Qualitätskriterien. Studien, die sich mit der Qualität von Coaching und Supervision – wie auch von Psychotherapie – beschäftigen, weisen übereinstimmend auf die Bedeutung der Beziehung zwischen Coach und Klienten hin. Es ist aber klar, dass eine solche Beziehung keine statische Größe ist, sondern sich im Verlauf eines Coaching- und Supervisionsprozesses verändert. Entsprechend kann die Beurteilung der Qualität über die Charakterisierung des Beziehungsprozesses zwischen Coach und Klienten erfolgen. Diese Überzeugung hat sich im Bereich der Psychotherapieforschung die Boston Change Process Study Group (BCPSG) in besonderer Weise zu eigen gemacht und ein beziehungsbezogenes Qualitätsmodell therapeutischen Handelns entwickelt. Dieses Modell übertragen wir versuchsweise auf den Coachingprozess und ergänzen es um interaktionstheoretische Überlegungen (vgl. Dullstein 2013; Schlicht 2013). Es betont drei Aspekte: ȤȤ die wechselseitige Beeinflussung von Coach und Klient – die Autoren weisen z. B. auf die Dynamik von Klärungsspiralen hin: »[W]hen the quality of the patient’s responses deepened, this was followed by higher-quality ›interventions‹ of the analyst« (BCPSG 2010, S. 200); ȤȤ die von Moment zu Moment erfolgende Veränderung der Beziehung, die in ihrer Verlaufsgestalt gesehen werden muss und nicht auf einzelne Momente (Interventionen, Krisen, metakommunikative Wendungen, thematische Durchbrüche, etc.) reduziert werden dürfe12; ȤȤ die multimodale Qualität sozialer Interaktion, die nicht auf die inhaltliche (propositionale) Aussage von Äußerungen reduziert werden dürfe, sondern alle Modalitäten des Einander-zugewandt-Seins umfassen müsse. Die Coachingbeziehung verstehen wir als eine Arbeitsbeziehung in dem Sinne, dass Coach und Klientin in Kooperation aufeinander bezogen sind. Wir verstehen die Beziehung also nicht als Behandlungsbeziehung, in der einer der Beteiligten dem anderen ein Anliegen vorlegt, dass dann von diesem – mit welcher 12 Die Autoren machen auf den Fehler bei der Betrachtung des therapeutischen Prozesses aufmerksam, die Moment-zu-Moment-Veränderungen nicht wahrzunehmen: »Most often, the relationship between the patient and therapist is conceptualized as ›nonspecific‹ because it exists in all approaches, or is at least the necessary ›context‹ for therapy, or is held ›in common‹ by all approaches. This view of ›nonspecificity‹ permits people to forget that the relationship is the most mutative aspect of therapy. In so doing, the relationship escapes serious study and the focus falls on the specific techniques that differentiate different schools« (BCPSG 2010, S. 202 f.).

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Technik auch immer – bearbeitet wird, z. B. durch das Stellen von Fragen oder durch empathisches Zuhören. Der Unterschied zwischen diesen beiden Typen von Beziehungen ist von entscheidender Bedeutung für die Bestimmung der Qualität: In einer Behandlungsbeziehung nimmt der Coach eine Beobachterposition ein – das Anliegen des Klienten und dieser selbst wird »Objekt«, Objekt der Beobachtung oder eben Behandlung. Diese Behandlungsbeziehung kann durchaus emotional gefärbt sein – aber eben von Emotionen aus der Beobachterposition: Mitleid, Anteilnahme, Sorge, Angst. In der Arbeitsbeziehung dagegen sind beide, Coach und Klient, in engagierter Weise in der Bearbeitung des Anliegens miteinander verbunden. Um es prägnant zu formulieren: In einer solchen Arbeitsbeziehung haben weder »Empathie« noch »bedingungslose Akzeptanz des Klienten« einen Platz – wohl aber »Echtheit« des Coaches wie auch die des Klienten und durchaus auch »persönliche« Gefühle der Beteiligten. Diese arbeiten gemeinsam an der Bewältigung der Schwierigkeiten, die einer guten Lebensgestaltung des Klienten im Wege stehen. Dem Klienten muss ermöglicht werden, dass er sich dem Coach gegenüber öffnet und seine Arbeitssituation schildert. Vom Coach ist gefordert, dass er sich voll und ganz auf diese Situation einlässt und sein Handeln aus dieser Einstellung heraus entwickelt. Es kommt so eine Beziehung zustande, die im Sinne dieser wechselseitigen Einlassung als intim gekennzeichnet werden kann. Intim »ist eine Beziehung, in der der direkte Austausch von Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen in einer Atmosphäre von Offenheit, gegenseitiger Achtung und Vertrauen möglich ist« (Hagehülsmann u. Hagehülsmann 2007, S. 111). Behandlungsbeziehung und Arbeitsbeziehung charakterisieren einander abwechselnde Phasen im Coachingprozess. Wir nehmen an, dass ein Coachingprozess zu Beginn eher den Charakter einer Behandlungsbeziehung aufweist, sehen es aber als Ausweis von Qualität an, wenn der Prozess zunehmend Anteile einer Arbeitsbeziehung annimmt. Es geht um Anschluss­fähigkeit im Prozess einer Suchbewegung, z. B. Gedanken weiterzudenken13. Daher sind wesentliche Kriterien, wie gut die Beteiligten »miteinander können«, und das Passungsverhältnis einer Äußerung oder Aktivität. Folgende Passungsverhältnisse können unterschieden werden: ȤȤ Passung zur unmittelbar vorher erfolgten Äußerung des Interaktionspartners, 13 Für die Gestaltung dieses Suchprozesses ist das Kriterium der Offenheit der einzelnen Äußerungen wesentlich. BCPSG verweisen auf Winnicotts Gedanken des »degree of inexactness« als Merkmal entwicklungsfördernder Interaktion (BCPSG 2010, S. 208 f.) – Vagheit und Unbestimmtheit von Äußerungen schaffen einen Bedeutungsraum, in dem kognitive und emotionale Bewegung gut möglich wird.

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ȤȤ Passung zu den – widersprüchlichen – Gefühlsmomenten des Interaktionspartners, ȤȤ Passung zur Orientierung des Interaktionspartners, ȤȤ Passung zum Rhythmus und der Veränderungsgeschwindigkeit des Prozesses, ȤȤ Passung zur Selbstwahrnehmung der Interaktionspartner, ȤȤ Passung zu den Persönlichkeitsstrukturen der Interaktionspartner. Das Ziel geht im Unterschied zu klientenzentrierten Vorstellungen über die Schaffung eines erweiterten und vertieften Selbstverständnisses der Klientin hinaus; dieses wird zwar auch angestrebt, dient aber seinerseits zur Verbesserung der Arbeitsbeziehung zwischen Coach und Therapeut. Es ist die Qualität dieser Beziehung, die primärer Maßstab der Qualität eines Coachings­prozesses ist.

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Improvisation im Coaching Werner Pfab

1  Worum es geht Ziel dieses Beitrags ist es, zu prüfen, ob sich mit einer Vorstellung von Improvisation ein vertieftes Verständnis der interaktiven Prozesse, die im Coaching erfolgen, gewinnen lässt und ob sich mit einer solchen Vorstellung Qualitäten im Coachingprozess erschließen und nutzen lassen, die bislang weitgehend unerkannt geblieben sind. Damit soll ein Beitrag zur Zielsetzung des vorliegenden Bandes geliefert werden, dem reflexiven Beratungsformat Coaching neue Qualitäten zu erschließen. Dieser Text versteht sich insbesondere als Beitrag zu dem Programm, das Format Coaching mithilfe neuer Konzepte praktisch zu bereichern bzw. theoretisch zu vertiefen, so wie Antje Pfab dies für das Konzept des Rituals bereits vorgeführt hat (A. Pfab 2018). Angesichts des Gebrauchs des Ausdrucks Improvisation im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs ist es zunächst nicht naheliegend, Coaching in Verbindung mit Improvisation zu denken. In Abschnitt 2 werden die Konnotationen, die mit Improvisation verbunden sind, ausgeleuchtet und Coaching und Impro­ visation in einem ersten Anlauf einander angenähert. Statt über eine Definition soll sodann in Abschnitt 3 ein Verständnis von Improvisation über eine Charakte­ risierung eines ihrer gesellschaftlichen Prototypen versucht werden: die Jazzband. Improvisation hat gegenwärtig in bestimmten akademischen Diskursen, die für Coaching relevant sind, Konjunktur. Abschnitt 4 beleuchtet die Verwendungsweise von Improvisation in diesen Diskursen, um daraus weitere Schlüsse für die Fruchtbarkeit einer Vorstellung von Improvisation für Coaching zu ziehen. Soweit wird allerdings noch nichts darüber ausgesagt werden können, wie man sich die Wirksamkeit von Improvisation vorstellen kann. Daher wird in Abschnitt 5 ein Ansatz vorgestellt, mit dessen Hilfe ein solcherart vertieftes Verständnis von Improvisation erreicht werden kann. In Abschnitt 6 schließlich erfolgt auf dieser Grundlage eine genauere Bestimmung dessen, was Improvisation im Coaching bedeuten kann.

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2  Das Alltagsverständnis von Improvisation Was die Alltagswelt angeht, so hat Improvisation keine gute Presse. »Wer improvisiert, hat keinen Plan, kein Geld bzw. keine adäquaten Mittel (etwa bei der Autoreparatur) oder keine Zeit. Das sind übliche Zuschreibungen: Improvisation als ein Phänomen und Indikator des Mangels« (Moldaschl 2017, S. 47). Der Arbeitswissenschaftler Böhle stellt fest, dass Improvisation mit Dilletantentum und mangelnder Perfektion assoziiert ist (2017, S. 74). Improvisation ist geradezu ein Synonym für Unprofessionalität. Im Hinblick auf Organisationen gilt Improvisation als Notbehelf, wenn es nicht anders geht, und als Provisorium, bis es besser geht. Improvisation gehört nicht in den funktionierenden, den guten, Alltag – schon erst recht nicht im Bereich der Arbeit. Improvisation schreiben wir dem Nicht-Alltäglichen zu, dem Spiel, der Kunst, jenem Bereich, in dem es um nichts geht, prominenterweise dem Bereich der Musik. Jedoch auch dort bleibt an der Improvisation das Image des Mangels gegenüber »richtiger« Musik haften – Improvisation, das ist Musik ohne Noten. Born, Lewis und Straw kommen bei einer Betrachtung von Improvisation in der Musikwissenschaft zum Schluss: »Improvisation has invariably ended up ­defined negatively: as a musical practice lacking characteristics of composed music« (Born et al. 2017, S. 12; Hervorhebung W. P.). Improvisieren wird in einem musikwissenschaftlichen Standardwerk charakterisiert als »triebhaft, instinktiv, reflexhaft, unüberlegt, unvorbereitet, spontan, gefühlsmäßig und spielerisch« (Ferand 1938, zit. nach Kurt 2008, S. 23). Bei dieser Gelegenheit soll gleich mit einigen irrigen Vorstellungen zum Thema Improvisation aufgeräumt werden: Mit dem Rückgriff auf die angeblich lateinischen Wurzeln des Ausdrucks und das oft bemühte Beispiel des »Stegreifs«. Vorschnelle Rückführungen des Ausdrucks im Lateinischen führen in die Irre. »The term improvisation itself does not have its roots, as is often claimed, in Latin, but in relatinised Italian. More importantly, it does not occur in the nominative, but in the prepositional phrase all’ improviso (›in the moment of the unforeseen‹). It is this special property of merging into the here and now or, as musicians like to put it, the ›magic of the moment‹, which is characteristic of improvisation« (Breyer, Ehmer u. Pfänder 2011, S. 186). Was den Stegreif angeht, so klärt R ­ aible auf: »Stegreifkomödie ist in Wirklichkeit eine höchst ritualisierte, überhaupt nicht extemporierte Form des Theaters. Sie hält sich strengstens an vorgegebene und erwartete Muster. Kleinere Freiräume erkauft sie sich durch eine nicht mehr zu überbietende Zuschauerlenkung. Auch die Stegreifrede ist kein gutes Beispiel für Improvisation: Sie galt in der Rhetorik schon seit Aristoteles als die höchste Form der Kunst und des aufs Sorgfältigste Vorbereiteten« (Raible 2009, S. 21).

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Was nun reflexive Beratung angeht, so handelt es sich ohne Zweifel um ein Moment des Alltags, genauer, ein Format aus dem Bereich der Arbeitswelt mit dem Anspruch hoher Professionalität. Soweit gesehen erwiese sich Improvisation als Moment von Coaching als unprofessionell, als (hilfloses) Hantieren in Augenblicken der Planlosigkeit. Bei genauerer Betrachtung von Coaching bzw. dem Selbstverständnis von Coaches zeigen sich jedoch auch Momente einer Affinität: Für Coaching ist die Ergebnisoffenheit entscheidend, wird in der eigenen Profession das Moment der Nicht-Standardisierbarkeit hervorgehoben (z. B. Looss 2014; Pfab u. Pfab 2018), für Coaching ist das Moment der Unsicherheit charakteristisch, die Bedeutung von Intuition und Prozesssensitivität, alles Momente also, die geradezu auch für Improvisation charakteristisch sind.

3  Der Prototyp der Improvisation: die Jazzband Als Prototyp von Improvisation gilt gemeinhin das Musizieren in einer Jazzband1. »Improvisation involves reworking precomposed material and designs in relation to unanticipated ideas conceived, shaped and transformed under the special conditions of performance, thereby adding unique features to every creation« (Berliner 1994, zit. nach Barrett 2000, S. 232). Ich beziehe mich in diesem Absatz auf die Darstellung der »Natur der Improvisation« des US-­amerikanischen Jazzmusikers und Wirtschaftswissenschaftlers Frank Barrett (2000), die ich in Form von drei Kernaussagen verdichte, wie im Folgenden erläutert: 1. sich darauf vorbereiten, spontan zu sein, 2. Situationen ohne Kontrolle sinnhaft gestalten, 3. sich bewusst dem Prozess anvertrauen. Zusätzlich werden Aussagen einbezogen, die Figueroa-Dreher im Rahmen einer Untersuchung von Jazzimprovisation von Jazzmusikern zu hören bekam (Figueroa-Dreher 2008).

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Auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieses Prototyps von Improvisation zu anderen Formen der Improvisation, z. B. im Theater oder in der Bildenden Kunst, gehe ich nicht weiter ein, vgl. dazu die Beiträge in Born et al. (2017). Ein hübsches Beispiel für die Mythenbildung, die Improvisation umkränzt, ist das Narrativ um Jackson Pollock, der sich für seine »drip paintings«, die als malerische Variante von Improvisation gelten, angeblich von Musik von Charlie Parker hat inspirieren lassen. Tatsächlich aber war Pollock eher ein Fan von traditioneller Dixieland-Musik, so Harrison (Harrison o. J., zit. nach Born et al. 2017, S. 30, Fn 19).

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1. Sich darauf vorbereiten, spontan zu sein Improvisation erfordert eine hohe technische Expertise im Musizieren, eine reiche Erfahrung und die Bereitschaft, über die Grenzen des momentanen Könnens (der eigenen Komfortzone) hinauszugehen. Barrett betont die große Versuchung, die für einen Jazzmusiker darin besteht, sich in seinem Musizieren auf seinem Können und seiner Routine auszuruhen. Die Herausforderung für den Jazzmusiker besteht darin, musikalische Kontexte zu suchen oder selbst herzustellen, die ihn nötigen, über seine musikalischen Fähigkeiten hinauszugehen und dadurch für ihn selbst (und die anderen Musiker) Neues zu schaffen und sich selbst weiterzuentwickeln. »By taking familiar structures away, musicians are hoping to notice the mobile, flowing configurations, the fragments and dispersed collages that are seeds for potential exploration and development« (Barrett 2000, S. 237). Barrett zitiert Miles Davis: »Sometimes you have to play a long time in order to play like yourself« (S. 233)2. 2. Situationen ohne Kontrolle sinnhaft gestalten Die Jazzmusikerin improvisiert in Kontexten, über die sie (wie ihre Kolleginnen auch) keine Kontrolle hat, die sie also nicht nach ihrem Plan und ihren vorab festgelegten Vorstellungen gestalten kann. In diesem Sinne kann man sagen, sie weiß nicht, was sie tut, oder genauer: Sie weiß noch nicht, was sie tut. Gleichwohl besteht die Herausforderung darin, zu einem musikalischen, stimmigen Kontext beizutragen (Barrett spricht von »sense« und »coherence«, 2000, S. 238). Die Musik entsteht nicht aus der Umsetzung einer Vorlage, sondern die Vorlage entsteht durch die Musik.3 »The musician looks back on what is emerging – the various chord progressions, melodic fragments, rhythmic patterns – and 2

Ein Beispiel für dieses Herstellen eines herausfordernden Kontextes ist die Musik des Albums »Kind of Blue«: »In a famous 1959 recording session, the musicians arrived in the studio and were presented with sketches of songs – some only partially complete – written in unconventional modal forms. One song, ›Blue in Green‹, contained 10 bars instead of the more familiar 8- or 12-bar form that characterized American popular music. Never having seen this music before, and unfamiliar with these odd forms, the musicians had no rehearsal. The album that resulted – Kind of Blue – consists entirely of ›first takes‹ so that what we hear when listening to the music is these musicians discovering the new music at the very moment they are inventing it. Miles Davis nurtured an aesthetic of surprise: he introduced incremental disruption that handicapped routines and made it impossible for the players to rely on rote learning and habitual responses« (Barrett 2000, S. 236). 3 An dieser Stelle soll bereits auf eine Ähnlichkeit zu Überlegungen des Organisationspsychologen Karl Weick hingewiesen werden, die er in folgender Geschichte verdichtet: »Ein Professor namens Alex Bavelas spielt häufig mit anderen Professoren Golf. Eines Tages nahm er Partner zum Viererspiel mit zum Golfplatz, und sie begannen Strohhälmchen für die Wahl des Mitspielers zu ziehen. Er sagte: ›Laßt uns das doch nach dem Spiel tun!‹ (Brand 1975, S. 47)«

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jumps into the morass. An appreciative sense-making involves attending closely to what is happening, seeing the potential for embellishing on motifs, linking familiar with new utterances, adjusting to unanticipated musical cues that re­ frame previous material« (Barrett 2000, S. 238). Es gehört »zu den ›Regeln‹ dieses Genres, dass man das Material […] langsam umarbeitet, bis innerhalb von Sekunden ›die Linie noch klarer wird‹ und aus dem zufälligen und disparaten Anfang eine musikalische Koordination – nicht unbedingt einheitlich – in Tempo und Klang, eine bestimmte schlüssige zusammenpassende Musik sich entwickeln kann, die jedoch nach sehr offenen, aber dennoch komplexen ästhetischen Kriterien in dem Moment als ›funktionierend‹ oder im Nachhinein als ›gelungen‹ gelten kann« (Figueroa-Dreher 2008, S. 166). »Für die Musiker ist Improvisieren […] mit einem bewussten ›Verlieren der Kontrolle‹ verbunden, ›ein bewusstes Verlassen des aktiven Gestaltungswillens‹, so der Jazzmusiker Weber« (zit. nach Figueroa-Dreher 2008, S. 167). »Das Ungewisse der Situation, das nicht Planbare steht im Vordergrund. Dies betrifft jedoch nicht nur das Spiel der anderen, sondern auch das eigene Handeln ist für die Musiker im Voraus ungewiss, nicht planbar und nicht festgelegt« (S. 167). Die Jazzmusikerin geht in ihrem Musizieren von einer bemerkenswerten Gewissheit aus: »[T]he improvisor assumes that there is a melody to be worked out from the quandary of rhythms and chord changes […] that what is ­happening will appear purposeful, coherent and inevitable« (Barrett 2000, S. 238). Ihre Annahme ist, dass das, was passiert, zweckhaft, kohärent und zwingend genau so passiert; sie gibt sich, so könnte man sagen, in die Hände und die Weisheit des Prozesses. Entsprechend gibt es auch keine Fehler. Im Gegenteil: Gerade Reaktionen auf unerwartete oder unpassende Beiträge erweisen sich als äußerst innovativ. 3. Sich bewusst dem Prozess anvertrauen Der Jazzmusiker lässt sich mit seiner ganzen Expertise, seinem Können und seiner situativen Sensibilität, d. h. mit allem, was ihn als Jazzmusiker ausmacht, darauf ein, im Prozess des gemeinsamen Improvisierens aufzugehen, Teil des Prozesses zu werden. Das ist, was Musiker mit dem Ausdruck groove bezeichnen. Der musikalische Prozess entwickelt ein Eigenleben, zu dem der Musiker als Teil dieses Prozesses beiträgt. »[D]ie befragten Free-Jazz-Musiker [berichten], dass sie das Improvisieren nicht oder nicht durchgehend als ein aktives Tun erfahren, sondern als eine (Weick 1985, S. 9). Siehe außerdem die Handlungstheorie von Suchman, derzufolge Motive nicht die Ursache für Handlungen sind, sondern nachträglich erfolgende Erklärungen bzw. Rechtfertigungen für vollzogene Handlungen (Suchman 1987).

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Erfahrung, […] in der sie ›die Musik passieren‹ lassen. Improvisieren heißt für sie auch, dass sie sich dem Fluss der Musik hingeben« (Figueroa-Dreher 2008, S. 175 f.). Jazzmusiker finden starke Worte, um diese Weise des Auf­ gehens im Prozess zu beschreiben: »[T]he cohesiveness is unbelievable. Those are the special, cherished moments. When those special moments occur, to me, it’s like ecstasy« (Curtis Fuller). »When the rhythm section is floating, I’ll float too, and I’ll get a wonderful feeling in my stomach. If this rhythm ­section is really swinging, it’s such a great feeling, you just want to laugh« (Emily ­Remeler). Lee Konitz spricht von »divine experiences« (alle zit. nach Berliner 1994 in Barrett 2000, S. 241). Barrett macht darauf aufmerksam, dass dieses Auf­gehen von Subjektivität im Prozess vom Musiker keineswegs als Subjektverlust erlebt wird, sondern dass ein solcher Prozess im Gegenteil als »holding environment« erlebt wird, »a safe context allowing one another to explore, develop, grow« (S. 240). In und durch den groove entsteht Sicherheit in Situationen hoher Instabilität.

4  Improvisation als Denkfigur in den Humanwissenschaften In einigen Bereichen der Human- und Gesellschaftswissenschaften erfährt der Begriff der Improvisation gegenwärtig eine gewisse Konjunktur, prägnant in Kongress- und anderen Sammelbänden sowie in Titeln bzw. Untertiteln von Monografien4. In diesem Abschnitt wird die Verwendung des Begriffs Improvisation in vier Bereichen der Humanwissenschaften nachgezeichnet: ȤȤ Interaktionsforschung, ȤȤ Organisationstheorie, ȤȤ Handlungstheorie, ȤȤ Psychotherapieforschung. 4.1 Interaktionsforschung Dass der Bereich der Interaktionsforschung generell für Coaching relevant ist, liegt auf der Hand – schließlich handelt es sich bei Coaching um eine Form sozialer Interaktion. Zutreffend ist allerdings auch, dass in vielen Konzeptionen von Coaching dieser interaktive Charakter nicht ausreichend gewürdigt wird. 4

Deutschsprachige Sammelbände, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Stark, Vossebrecher, Dell u. Schmidhuber (2017); Bormann, Brandstetter u. Matzke (2010); Gröne, Gehrke, Hausmann, Pfänder u. Zimmermann (2009); Kurt u. Näumann (2008).

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Im Bereich sozialer, insbesondere verbaler, Interaktion sind es vor allem drei Ansätze, in denen Improvisation eine wesentliche Rolle spielt: ȤȤ der Ansatz, verbale Interaktion aus dem Leitbild des »Gemeinsamen Musizierens« zu betrachten (4.1.1), ȤȤ der Ansatz, Improvisation als Strukturmoment sozialer Interaktion zu betrachten (4.1.2), ȤȤ der Ansatz einer Grammatik der Emergenz (4.1.3). 4.1.1  Das Leitbild des »Gemeinsamen Musizierens«

Der Vorstellung, dass soziale Interaktion ähnlich ist einer Weise des musikalischen Zusammenspiels, insbesondere des Jazz, ist in Deutschland schon am Ende des letzten Jahrhunderts mit der Arbeit von Nothdurft und Schwitalla: »Gemeinsam musizieren – Plädoyer für ein neues Leitbild für die Betrachtung mündlicher Kommunikation« der Weg geebnet worden (Nothdurft u. ­Schwitalla 1995). In Abgrenzung gegen ein text- und referenzfixiertes Modell sprachlicher Interaktion machen die Autoren auf dessen verfehlte Abstraktionen aufmerksam: »Längeres Sprechen ohne Referenz auf (irgendeine) Welt ist nicht möglich. Aber man sollte bedenken, dass man, wenn man über mündliche Kommunikation in dieser Weise redet, bereits eine Abstraktion vorgenommen hat. Man trennt den vermeintlichen Inhalt vom Klang seiner Äußerung, seinen Ton, der bekanntlich die Musik macht; man löst die Botschaft von ihrem Vollzug, die Mitteilung vom Akt ihrer Vermittlung, den Inhalt von seiner Vorführung« (S. 34). Die Autoren betonen die Momente der Orchestrierung bzw. Synchronisation des Miteinander-Sprechens, den Klangzauber und die ästhetische Qualität der Stimme und die Flüchtigkeit des Sprechens. »Wechselseitiges Einstimmen und Eingestimmtheit bilden ganz offenbar die Basis kommunikativen Handelns überhaupt« (S. 33). Im Absatz über die »existentielle Offenheit sprachlichen Handelns« geht es dann besonders um Improvisation: »Miteinander-Sprechen ist im Gegensatz zum Schreiben kein planbarer, eigengesteuerter, von seinem Ende her organisierbarer Prozess. Miteinander-Sprechen ist offen, immer gut für überraschende Wendungen, ungeahnte Entwicklungen und Verstrickungen. Antizipation von Zukünftigem, Planung, Steuerung und systematisches Vorgehen ist nur in sehr begrenztem Maße möglich. Interaktion vollzieht sich entsprechend als ›intuitive Improvisation des Gesprächs und der Beteiligung von Moment zu Moment‹ (Erickson 1988, S. 1086, u. Ü.)« (Nothdurft u. Schwitalla 1995, S. 34). Abschließend betonen die Autoren: »Sozial kompetente Beteiligung an verbaler Interaktion erfordert nicht etwa die Ausbildung eines (übersteigerten) Harmoniebedürfnisses, sondern die Ausbildung sozialer Sensibilität dem anderen

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gegenüber (so wie der Jazzmusiker auch die Improvisationen seiner Mitglieder mitverfolgen muss), eine Sensibilität, aus der heraus man darauf achtet, was der andere tut, und die dazu befähigt, eine stimmige Antwort zu finden. Je nach Situation ist Verständnis, Schlagfertigkeit, Witz, Gedankenfortführung oder auch Schweigen gefordert« (S. 41). Ein Paradebeispiel für die Bedeutung von Improvisation ist das Kommunikationsformat des »Dissens«, einem ritualisierten Statuswettkampf zwischen Jugendlichen in Gestalt gekonnter Reaktionen auf Beleidigungen (vgl. Schmidt 2004; W. Pfab 2018). Dabei zeigen sich beide Momente von Improvisation: der – stabilisierende – Rahmen und die gekonnte Entgegnung aus dem Stand. 4.1.2  Creating Conversation – Improvisation als Grundstruktur sozialer Interaktion

Für Sawyer (2001) ist soziale Interaktion – er spricht von »everyday discourse« – grundsätzlich durch Improvisation bestimmt. Zwar variiere das Ausmaß, in dem dies der Fall ist, je nach situativem Rahmen bzw. Kontext, und außerdem könne der improvisatorische Charakter durch Skripts überformt sein, aber dies ändere nichts an der improvisatorischen Natur sozialer Interaktion. Dass diese Natur in der Forschung lange übersehen wurde, liegt laut Sawyer an einer Überschätzung des Strukturanteils in sozialer Interaktion, die aufgrund retro­spektiver Betrachtung von Fällen sozialer Interaktion zustande kommt – nachträglich erscheint das Geschehen kohärenter, als es tatsächlich, im Vollzug, gewesen ist, wobei die gesellschaftliche Dominanz der Kategorie des »Ziels« eine wesent­liche Rolle spielt – nachträglich werden Verhaltensweisen als zielbestimmt gedeutet bzw. erinnert, die in ihrem Vollzug keine Zielorientierung aufgewiesen haben. Sawyers Bezugsgesichtspunkt ist der Begriff der Kreativität; er macht sich in Abgrenzung zur individualpsychologischen Kreativitätsforschung allerdings für einen interaktionstheoretisch bestimmten Improvisationsbegriff stark, d. h., er versteht Improvisation als ein interaktives, prozessuales Phänomen, an dessen Zustandekommen alle Interaktionsteilnehmer beteiligt sind. Er spricht von »collaborative emergence« (Sawyer 2001, S. 40). Am Beispiel von Brainstorming illustriert er die Bedeutung der Herstellung eines offenen Prozesses, in dessen Verlauf nur kreative Wendungen, überraschende Akzentuierungen, weiterführende Ideen zustande kommen können. Vertrauen in die Offenheit des Prozesses ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung kreativer Lösungen. Sawyer sieht diese improvisatorische Grundstruktur auch oder gerade in Fällen konfliktär (Streit) oder antagonistisch (Verhandlung) geprägter Interaktion gegeben, da es in diesen Fällen besonders

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darum geht, sich »aus dem Stand« souverän bewegen zu können (siehe das eingangs erwähnte Beispiel »Dissen«). Für ihn ist der Aspekt des Widerstands geradezu konstitutiv für Improvisation, wie er am Beispiel von Eltern-Kind-­ Spielsituationen illustriert: »It’s not improvisational if the adult determines everything that will happen next. It’s not improvisational if the adult allows the child to determine everything that happens next. Parents tend to either plan everything for the child or to respond positively to everything the child proposes« (Sawyer 2001, S. 205 f.). Die Charakterisierung »it’s not improvisational« steht allerdings in Widerspruch zu Sawyers Auffassung des improvisatorischen Charakters jeder Interaktion. Sawyer operiert implizit mit einer Vorstellung gut gelungener Improvisation gegenüber nichtkreativer Improvisation. Dieses Oszillieren zwischen einer deskriptiven und einer präskriptiven Herangehensweise an Improvisation zieht sich durch die gesamte Darstellung5. Seiner präskriptiven Orientierung ist die Angabe der drei bekannten Basis­regeln im Improtheater zu verdanken: 1. »yes, and …«, 2. »stay in the moment«, 3. »listen to the group«. 4.1.3  Der Ansatz der emergenten Grammatik

Sprache gilt gemeinhin als ein hochgradig regelgeleitetes Phänomen. Als ein wesentlicher Bereich dieser Regeln gilt »die Grammatik«, ein feststehendes, kodifiziertes Regelwerk, das Spracherzeugnissen, mündlichen wie schriftlichen, als zugrundeliegend diese erzeugend betrachtet wird. Auf dem Hintergrund dieses Verständnisses spielt Improvisation keine Rolle – es gibt nur »grammatisch korrekt« oder »grammatisch falsch«. Vertreter einer Emergenztheorie der Grammatik interessieren sich dafür, wie Sprach-»Benutzerinnen« im Prozess ihres Sprechens grammatische Kon­ struktionen einsetzen, wie sie gleichsam on-line die allmähliche grammatische Verfertigung ihres Sprechens vollziehen. Einer der Proponenten dieses Ansatzes formuliert programmatisch: »Informal dialogue from an on-line ­perspective consists not of sentences generated by rules, but of the linear on-line assembly of familiar fragments. Grammar is emergent and epiphenomenal to the ongoing creation of new combinations of forms in interactive encounters« (Hopper 2011, S. 26). Das bedeutet für Sprecherinnen in sozialer Interaktion: »[S]peakers do not create utterances by matching them in advance of the utterance to an a priori schema, but rather improvise at each point as the discourse unfolds« (Hopper 2011, S. 31, Hervorhebung W. P.). »They are 5 Sie dürfte der Biografie des Autors geschuldet sein. Sawyer ist neben seiner Tätigkeit als Psychologe – wen wundert’s – Jazzpianist und Mitglied einer Improtheatergruppe.

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improvised in much the same way that a jazz performance is improvised: publicly and jointly« (S. 32). Breyer, Ehmer und Pfänder illustrieren diesen Ansatz mit einem Gesprächsausschnitt, in dem eine semantische Improvisation erfolgt. Der Ausschnitt beginnt damit, dass einer der Beteiligten, Michael, ein »Faible« beschreibt, das er in einem Seminar bei den Orientwissenschaftlern erlebt hat6: »[U]nd die ham Irgendwie (.) das faible dass die die lEUte alle Abmaln (…) ich wurde nämlich von drei leuten glEichzeitich Abgemalt (…) das=is doch Echt ne k totAl bescheuerte (.) beschäftigung sich da: gegenseitig Abzumalen«. In der dann folgenden Sequenz ist Improvisation zu besichtigen: Der semantische »Tanz« um das Wort »malen« und das interaktive Spiel mit dem unglücklichen abgemalten Michael führt bei diesem zu einer resignierten Reaktion, in deren Verlauf er zu der Wortschöpfung »zuRÜCKmalen« gelangt: »naja du kAnnst ja man kann ja nich zuRÜCKmalen«. Diese Sprachschöpfung wird mit Lachen der Anwesenden honoriert. Diese Sprachschöpfung greift einer der Anwesenden, Emmanuel, auf und bettet sie in eine syntaktische Konstruktion und in ein Intonationsmuster ein, womit auf einen ganz anderen Diskurskontext angespielt wird – die Rundfunkansprache Hitlers zur Invasion in Polen am 1. September 1939. Heraus kommt dann: »ab heute wird zuRÜCKgemalt« (Breyer et al. 2011, S. 199). Breyer, Ehmer und Pfänder sehen an diesem Beispiel am Werk, was sie – paradox7 – als »Improvisationstechnik« der Analogiebildung bezeichnen, also die Bildung einer Ähnlichkeitsbeziehung, in diesem Fall zu einem anderen Diskurs­bereich, wodurch der – fragwürdige – Witz der Reaktion entsteht, zudem aber auch eine Ähnlichkeitsbeziehung zum latenten Thema der Aggression, das in Michaels Selbstbeschreibung nur implizit mitschwang, aber durch ­Emmanuels Reaktion plakativ akzentuiert wird. Ähnlichkeitsbeziehung als Moment von Improvisation wird im weiteren Verlauf (Abschnitt 5) in Zusammenhang mit dem Konzept des mimetischen Vermögens noch eine wesentliche Rolle spielen.

6 Der Gesprächsausschnitt ist hier in vereinfachter Transkription wiedergegeben; lediglich die Markierung von Betonung beim Sprechen (Großbuchstaben) und das Pausenzeichen (.) ist beibehalten worden. 7 Paradox, weil man in Fällen von Improvisation gerade nicht von einer »Technik« sprechen kann. Im Übrigen versteigen sich die Autoren zu einer völlig überzogenen Formulierung der Anforderungen an die Teilnehmerinnen von Improvisation: »The improvisor is at a high level of attention and awareness; aware of the potentiality of the structures at every moment, ­conscious of all the actions that might follow and thus of the very sound material itself« (Breyer et al. 2011, S. 187; Hervorhebung W. P.).

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4.2 Organisationstheorie In der Organisationstheorie hatte Weick bereits 1985 in seinem Klassiker »Der Prozess des Organisierens« das Thema Improvisation in den organisations­ theoretischen Diskurs eingeführt. Spätestens 1995 ist das Thema durch den Kongress »Jazz as Metaphor for Organizing the 21st Century« auf die Agenda der Organisationswissenschaft insgesamt gesetzt worden. Im deutschen Sprachraum hatte Dell bereits 2002 eine umfangreiche Studie vorgelegt, die er 2012 im Hinblick auf Organisationen vertieft hat (Dell 2002, 2012). Die Plausibilität von Improvisation für die Betrachtung und das Management von Organisationen ergibt sich aus zwei unterschiedlichen zusammenwirkenden Prämissen: zum einen aus einer (wie immer zustandekommenden) Organisations­erfahrung, dass im gegenwärtigen Zeitraum traditionelle Planungsund Steuerungsinstrumente und -prinzipien zur Gestaltung ­produktiver, innovativer organisationaler bzw. betrieblicher Abläufe zunehmend weniger in der Lage sind; zum anderen aus einem vor allem von Weick inspirierten Organisations­ verständnis, das Organisationen betrachtet als »an attempt to order the intrinsic flux of human action to channel it toward certain ends, to give it a particular shape, through generalizing and institutionalizing particular meanings and rules« (Tsoukas u. Cia 2002, zit. nach Dell 2012, S. 17 f.). In der organisationstheoretischen Debatte um Improvisation ist die Jazz­ improvisation die vorherrschende Deutungsfolie. »Um innovativ zu sein, müssen Manager – ganz wie Jazzmusiker – mit Stichworten auskommen, sich unstrukturierten Aufgaben stellen, unvollständiges Wissen anwenden. Manager müssen – wie Jazzmusiker – in Dialog und Austausch treten« (Barrett 1998, zit. nach Dell 2012, S. 129). Was die Organisationstheoretikerinnen an der Jazzimprovisation fasziniert, ist die dort erlebbare Souveränität im Umgang mit unerwarteten Wendungen, die hohe situative Präsenz, die Flexibilität in der Reaktion auf Vorgefundenes und das innovative, schöpferische Moment in solchen Reaktionen. Improvisation wird zum einen als ein Deutungsmuster gesehen, mit dessen Hilfe es gelingen kann, der organisatorischen Wirklichkeit jenseits rationalisierender Organigramme näherzukommen (erkenntniskritische Funktion: Schlüssel zum Verständnis organisatorischen Handelns, z. B. Weick 1985), und zum anderen als eine Haltung zur Gestaltung von Organisationen angesichts geringer werdender Planbarkeit, steigender Unsicherheit und zunehmender Veränderungsgeschwindigkeit (operative Funktion: Ansatz zum Design organisatorischer Systeme, z. B. Dell 2012; Duschlbauer u. Freisleben-Teutscher 2017; Wippermann 2016).

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4.3 Handlungstheorie Arbeiten zum Thema Improvisation im Forschungsbereich menschlichen Handelns verstehen sich vor allem als Kritik an einer Handlungstheorie, die für menschliches Handeln rationale Gesichtspunkte des Zwecks, des Ziels und des Plans in den Vordergrund stellt. Als Prototyp einer solchen Theorie gilt der Ansatz von Alfred Schütz (1993). Kurt skizziert diesen folgendermaßen: »Menschliches Handeln vollzieht sich entwurfsbezogen […]. Der Mensch setzt sich Ziele, bedenkt die Mittel, kalkuliert die Folgen, richtet sich an Werten, Normen, Menschen und Dingen aus, aktiviert das jeweils relevante Wissen, berücksichtigt Gewohnheits- und Gefühlsmäßiges und versucht dann im Rahmen dieses Orientierungsnetzes einen Handlungsplan zu komponieren, den es schließlich im praktischen Handeln entsprechend umzusetzen gilt« (Kurt 2008, S. 19). Ebenso findet sich diese Vorstellung auch in – kognitiv orientierten – psychologischen Handlungstheorien8. Implizit liegt diesen Vorstellungen das Paradigma der Produktion von Gegenständen zugrunde9. Ihnen werden Ansätze gegenübergestellt, die die Situationsgebundenheit menschlichen Handelns und das Moment der Kreativität in den Vordergrund stellen. Prototyp und prominentester Vertreter dieses Ansatzes ist die Handlungstheorie von Hans Joas (1996). Auf dessen Entwurf menschlichen Handelns sind die Beiträge zum Thema Improvisation im handlungstheoretischen Diskurs meist bezogen und greifen die Kritik Joas’ an einer teleologischen Vorstellung menschlichen Handelns auf. Joas hatte im Rückgriff auf Dewey (1980) Handlungsziele nicht als dem Handeln vor- und übergeordnete Instanzen verstanden, sondern als Bestandteile der Handlungssituation selbst, die zum Handeln in kontingenter Beziehung stehen, z. B. auch als Legitimation vollzogenen Handelns auftreten können – ein Gedanke, der in den sogenannten workplace-­studies bereits von Suchman (1987) vorformuliert worden ist. Beispielhaft ist Joas’ kindliches Spiel, dem er einen kreativen, flexiblen Umgang mit Handlungszielen und eine intensive Verwobenheit mit der Situation attestiert. Gleichwohl versteht Joas den Menschen nicht als einer solchen Situation ausgeliefert, er loka­lisiert den »Ort« menschlicher Strebungen allerdings anders als kognitiv orientierte Handlungstheorien. »Wo aber ist der Ort dieser Strebungen? Ihr Ort ist unser Körper; seine Fertigkeiten, Gewohnheiten und Weisen des 8 Eine kritisch-treffende Kritik dieser Rubikon-Modelle bis hin zum Ansatz des ZRM aus Coachingsicht findet sich bei Webers (2016). 9 Zur europäischen Denktradition, aus der diese Vorstellung stammt, vgl. Kurt 2008, S. 20.

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Bezugs auf die Umwelt stellen den Hintergrund aller bewussten Zwecksetzung, unserer Intentionalität, dar. Die Intentionalität selbst besteht dann in einer selbstreflexiven Steuerung unseres laufenden Verhaltens« (Joas 1996, S. 232). Mit Rückgriff auf Vorstellungen von Merleau-Ponty (1966), Mead (1909) und Schilder (1938) kann Joas den menschlichen Körper als einen durch Sozialität geprägten, bestimmen, insbesondere durch die »präödipale[.] Mutter-­KindInteraktion« (Joas 1996, S. 277). 4.4 Psychotherapieforschung Im Feld der Psychotherapie und -forschung ist es insbesondere der Ansatz der Boston Change Process Study Group um Daniel Stern (2006), die dem Thema Improvisation zentrale Bedeutung beimisst10. Beeinflusst von eigenen früheren entwicklungspsychologischen Forschungen, psychoanalytischer Ausbildung und von Theorien dynamischer Systeme hat die Forschergruppe einen Ansatz entwickelt, der sich durch innovative Momente wie auch durch begriffliche Unklarheit gleichermaßen auszeichnet. Es handelt sich deutlich um work in progress, das wegen seiner Fokussierung auf Improvisation hier vorgestellt werden soll (Boston Change Process Study Group 2010)11. Es geht der Forschergruppe (BCPSG) um die Bestimmung der Bedingungen persönlicher Veränderung (»change«) der Klienten in psychotherapeutischen Prozessen. Im Unterschied zu anderen therapeutischen Ansätzen (insbesondere der klassischen Psycho­analyse als Redekur) richten die Autoren ihr Augenmerk nicht auf die thematische Ebene des therapeutischen Prozesses mit Klärungen, Deutungen, Konfrontationen und anderen Weisen der expliziten Reflexion von Vorgängen mit korrespondierenden Prozessen der Einsicht beim Patienten. Sie machen stattdessen in den therapeutischen Prozessen eine andere Ebene des Geschehens aus, die sie als »shared implicit relationship« bezeichnen (die jedoch, wie die Autoren betonen, nicht mit der Ebene von Übertragung/Gegenübertragung verwechselt werden darf). Sie verstehen darunter eine Ebene unmittelbarer, nicht expliziter Intersubjektivität. Therapeutin und Patient bewegen sich auf dieser Ebene anhand vorbewusster, erfahrungsgesättigter Handlungs­schemata, sogenannte »implicit relational knowings«. Ein solches Schema integriert Affekte, Fantasien, 10 Das Thema Improvisation spielt natürlich im Bereich Musik- und Kunsttherapie eine große Rolle. Auf diesen Bereich gehe ich hier nicht ein. 11 Martens-Schmid hatte bereits 2009 auf die Bedeutung dieses Ansatzes für Coaching aufmerksam gemacht, ohne dass dies zu einer merklichen Resonanz in der Coachingdiskussion geführt hätte. Martens-Schmid hat allerdings meines Erachtens die interaktionstheoretische Pointe des Boston-Ansatzes nicht erkannt.

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Bewertungen und Werte (BCPSG 2010, S. 98), Kognitionen und Verhaltens­muster (S. 32)12. Geprägt von ihren eigenen Studien zur Mutter-Kind-­Interaktion betrachten sie diese Schemata als Internalisierung des Prozesses wechselseitiger Regulierung zwischen den Beteiligten13. Eine solche Auffassung löst das Moment persönlicher Veränderung aus der Klammer reflexiver sprachlicher Verständigung und ermöglicht es, persönliche Veränderung über andere Weisen der Interaktion zu begreifen (S. 99). An dieser Stelle kommt der improvisatorische Charakter psychotherapeutischer Prozesse als Motor des Wandels ins Spiel. »The microprocess of proceeding in a therapy session seems to occur in an improvisational mode in which small steps needed to get to a goal are unpredictable, and the goal itself is not always clear and can shift w ­ ithout notice« (S. 39). Für die Autoren stehen bei der Betrachtung sozialer Interaktion die Momente der Ungewissheit des Verlaufs, des Verstehens, der Absichten (eigener wie fremder) und der Selbstorganisation der Interaktion im Vordergrund. Diese Momente verweisen auf Vorstellungen von Improvisation, wie sie in den vorhergehenden Abschnitten skizziert worden sind. Während Ungewissheit unter Gesichtspunkten der Planung und Kontrolle als Problem betrachtet wird, betonen die Autoren das kreative Potenzial – vorausgesetzt, es erfolgt eine entsprechende Rahmung, z. B. durch das Setting einer Therapiesitzung. Andernfalls »the improvisational elements can veer toward chaos« (BCPSG 2010, S. 126). Die Unbestimmtheit und Offenheit des Prozesses ist gerade konstitutiv für das therapeutische Geschehen und das über­geordnete Ziel »emotional growth« (S. 209), denn »it is communicated to the patient as a way of proceeding that respects the subjectivity of the other, it is a way of implicitly communicating to the patient an awareness of the complexity of mind« (S. 209). Mit dem Moment der Selbstorganisation ist ein systemischer Blick auf den therapeutischen Prozess verbunden, durch den das Verhältnis der Akteure zum Interaktionsprozess neu justiert wird. Die Betonung liegt auf dem Prozess und seiner eigenen Dynamik ‒ konsequenterweise erarbeiten die Autoren dann auch ein beziehungsbezogenes Konzept der Qualität des therapeutischen Prozesses. Entsprechend diesen beiden Momenten entwickeln die Autoren als zentrales interaktionstheoretisches Konzept eine Vorstellung von Co-Kreation (»co-creation«, S. 101). 12 Man möchte meinen, dass die Autoren sich bei dieser Charakterisierung an Schelers Studie zu Wesen und Form der Sympathie angeregt haben (Scheler 1923). Scheler wird in ihren Arbeiten allerdings nicht erwähnt. Zu ebenfalls naheliegenden Bezügen des Ansatzes zur Gestalttheorie vgl. Spagnuolo Lobb und Amendt-Lyon (2006). 13 Damit grenzen sie sich im Sinne der Zwei-Personen-Psychologie bzw. Relationalen Psychoanalyse gegenüber einer psychoanalytischen Auffassung ab, der zufolge es die Akteure sind, die als »Objekte« internalisiert werden.

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Co-Kreation ist bestimmt als interaktive Bezogenheit unter Bedingungen von Ungewissheit und in kontinuierlich wechselnden Interaktionskontexten14. Sie erfolgt entsprechend Schritt für Schritt in einem zwangsläufig improvisato­ rischen Prozess (vgl. S. 112)15. Die Autoren lassen sich bei ihrer Betrachtung sozialer Interaktion von der Metapher des »Dahingleitens« leiten (»moving along«). Mit dieser Vorstellung verbunden ist auch die Vorstellung von »­sloppiness«, in der deutschen Übersetzung eines Vortrags von Stern als »Entgleisung« gedeutet: »Ein äußerst interessantes Merkmal dieser Improvisation ist ihre enorme Kreativität. Der Grund, warum sie so kreativ ist, ist, dass diese Improvisation des Dahingleitens eine sehr sorglose Angelegenheit ist. Man macht quasi in einem fort Fehler. Sie haben z. B. etwas nicht richtig kapiert oder Sie haben an etwas gedacht, während Sie redeten, und das hat dem Gesagten eine andere Schattierung verliehen. Eine Entgleisung jagt also die andere, und wir betrachten diese Entgleisungen als Chance und nicht als Fehler« (Stern 2006, S. 33). Aufgrund dieses improvisatorischen Charakters sind die Beteiligten zu einer kontinuierlichen Moment-to-moment-Koordination ihres Handelns veranlasst. Im Zuge dieser Koordination kommt es zu unterschiedlichen interaktiven Konstellationen wie Missverständnissen, Reparaturen, falschen Anschlüssen, Ablenkungen, Brüchen, Wiederholungen, Umformulierungen etc. (S. 195). Eine besondere Konstellation nennen die Autoren »present moments«. »A present moment is a unit of dialogic exchange that is relatively coherent in content, homogeneous in feeling, and oriented in the same direction toward a goal« (BCPSG 2010, S. 14 f.). Aus solchen »present moments« können dann »now moments« hervorgehen: »[…] these moments are unfamiliar, unexpected in their exact form and timing, unsettling or weird. They are often confusing as to what is happening or what to do. These moments are pregnant with an unknown future that can feel like an impasse or an opportunity. The present becomes very dense subjectively as in a ›moment of truth‹. These ›now moments‹ are often accompanied by expectancy or anxiety because the necessity of choice is pressing, yet there is no immediately available prior plan of action or explanation« (S. 16). Solche Momente, so hat Stern beobachtet, werden häufig durch ein Innehalten im Dahingleiten angekündigt (Stern 2006, S. 35). Ihnen folgt zunächst Schweigen (»An dieser Stelle herrscht immer Schweigen«, S. 35). Die Angesprochene gerät aus der Fassung, sie ist überrascht, konfus, sie weiß nicht weiter, Vertrautes steht auf dem Spiel. Martens-Schmid beschreibt ähnlich: »Zu diesen Momenten 14 Mit diesem Begriff setzen sich die Autoren auch gegen einen Begriff von Co-Konstruktion ab (vgl. BCPSG 2010, S. 103). 15 Cook-Gumperz und Gumperz haben einen solchen inkrementalen Prozess anlässlich einer Examensbewertung durch eine Gruppe von Hochschullehrern nachgezeichnet (1984).

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gehören zum Beispiel Pausen und Unterbrechungen im Gespräch, Blicke, auch das Nichteintreffen selbst gebildeter Prophezeiungen, das Fehlen einer Antwort auf eine Frage oder ähnliche interaktive »Kleinigkeiten« (Martens-­Schmid 2009, S. 70). An dieser Stelle eröffnen sich die »possibilities of promise and disaster« (BCPSG 2010, S. 43). Wird ein solcher Moment dann im Sinne des Kairos zu einer Reaktion mit besonderer Beziehungsqualität genutzt, kommt es zu dem, was die Autoren einen »Moment der Begegnung« (»moment of m ­ eeting«) nennen. In solchen Momenten kommt es, wenn sie genutzt werden, zu einer Umgestaltung (»rearrangement«, S. 6) des intersubjektiven Verhältnisses zwischen Patient und Therapeutin und in dessen Folge zu einer Veränderung der Beziehungs­ schemata (»implicit relational knowings«): »[T]he constraint of the usual implicit relational knowledge is loosened« (S. 12), was wiederum zu einer Veränderung des Selbstkonzeptes des Patienten (»sense of himself«, S. 3) führt, denn – so die interaktionstheoretisch fundierte Auffassung der Autoren – das Selbstkonzept eines Beteiligten beruht in einem hohen Maße auf seinen Beziehungs­konzepten. Sie formulieren dies in einem Beziehungsparadox: »Paradoxically the only way to become yourself is through participating in shared intentional directions with others« (S. 118) und »through certain kinds of exchange with others, you become more yourself« (S. 194)16. Dadurch, dass sich das, was die Beteiligten – aufeinander orientiert – tun, verändert hat, entsteht ein neues Bewusstsein für sich selbst. Einem solchen Moment folgt nach den Beobachtungen der Autoren ein »offener Raum«, eine Sequenz reduzierter Beteiligung der Interaktionspartnerinnen – ein Rückzug, in dem eine Assimilation der Beziehungsschemata unter dem Eindruck des unmittelbar erlebten Moments stattfindet. Stern illustriert den Übergang von einem »now moment« zu einem »moment of meeting« an einem Fallbeispiel aus einer psychoanalytischen Therapiesitzung, in der die Klientin unvermittelt sagt: »›Wissen Sie, eigentlich habe ich die Schnauze voll davon, Ihnen nicht ins Gesicht sehen zu dürfen. Ich möchte Ihr Gesicht sehen. Es ist mir schleierhaft, was Sie dahinten machen. Sie könnten genauso gut stricken, schlafen … und was weiß ich.‹ Nun hatte die Klientin nicht gewusst, dass sie so etwas sagen würde. Es war ihr urplötzlich in den Sinn gekommen, und sie sagte es einfach, setzte sich auf und drehte sich um, um die Therapeutin anzublicken. Das war in den zwei Jahren noch nie passiert. […] In diesem Fall haben wir nun also diese Frau, die die Therapeutin anblickt, und die Therapeutin sie, und Schweigen tritt ein. Und die Spannung steigt. 16 Dies erinnert an Miles Davis’ Aussage »Sometimes you have to play a long time in order to play like yourself« (siehe S. 56).

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Wir nennen das einen ›Jetzt-Moment‹ (now moment). […] Die Therapeutin blickte also nach einer Schweigeminute die Klientin an, nahm allmählich einen weichen Gesichtsausdruck an, und ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht, während die Klientin sie anguckte. Dann sagte die Therapeutin: ›Hallo.‹ Weiteres Schweigen folgte. Dann legte sich die Klientin wieder hin. […] Dieser Augenblick hatte die Beziehung drastisch verändert, ohne dass je wieder darüber gesprochen wurde. Erst eineinhalb Jahre später bemerkte die Klientin: ›Sie erinnern sich doch an damals, als ich mich aufsetzte und Sie ›hallo‹ sagten. Ich glaube, das war das erste Mal, dass mir aufging, dass Sie für mich offen und auf meiner Seite sind‹« (Stern 2006, S. 29).

Momente der Begegnung sind keine Interventionen im Sinne der Anwendung einer Technik – schon allein deshalb nicht, weil sie gerade Interaktions­kontexte voraussetzen, in denen an die Anwendung einer Technik nicht zu denken ist – Kontexte von Konfusion, Plan- und Ratlosigkeit. Momente der Begegnung erfolgen – dies betonen die Autoren –, wenn der Therapeut über seine Rolle als Therapeut hinausgeht und sich als Person in den Prozess einbringt.

5  Eine Basis von Improvisation: das mimetische Vermögen In Improvisation ist ein mimetisches Vermögen in besonderem Maße am Werk17. Benjamin versteht darunter die Fähigkeit des Menschen, sich seine Umgebung (»Stimulanten und Erwecker«, Benjamin 1977b, S. 211) – sei es die soziale wie die natürliche – durch die Schaffung von Ähnlichkeit anzuverwandeln, zu Momenten seiner Umgebung eine Ähnlichkeitsbeziehung zu bilden. Im Falle sozialer Interaktion kann dies das Ähnlichmachen zu einer Person, dem Klang einer Äußerung, dem Gestus des Sprechens oder der gesamten Interaktionssituation sein, im Fall eines Textes ist es das Annähern des Lesers an ein Wort, eine Aussage oder eine Passage des Textes. Die Pointe des Konzepts des mimetischen Vermögens liegt zum einen darin, dass durch diese Fähigkeit ein Bezug des Menschen zu seiner Umgebung konstitutionell vor der Trennung in Subjekt (Individuum) und Objekt (Gegenstand, Alter Ego) hergestellt werden kann und damit eine besondere Qualität von Intersubjektivität geschaffen wird, die sich durch Unmittelbarkeit, Spontaneität und Körperlichkeit auszeichnet. »So ist der Sinnzusammenhang, der in den Lauten des Satzes steckt, der Fundus, aus 17 Ich beziehe mich in dieser Darstellung des mimetischen Vermögens über die Texte von ­Benjamin (1977a, 1977b, 1977c) selbst hinaus auf die ausführliche Arbeit von Fittler (2005) sowie auf Lemke (2006).

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dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen kann« (Benjamin 1977b, S. 209)18. Zum anderen liegt eine Pointe darin, dass der Begriff der Ähnlichkeit es erlaubt, primär kognitive Prozesse der semantischen Interpretation und primär körperliche Prozesse der Gestik, der Mimik, des Klangs in eins zu fassen. Das Ähnlich-Machen in sozialer Interaktion erfolgt durch Mimik, Gestik, Klang, es ist primär leibgebundene Kommunikation. »Im mimetischen Verhalten«, schreibt Raulet in seiner Würdigung des Mimesis-Konzepts, »tritt das intentional handelnde Subjekt hinter seinen Leib zurück« (Raulet 2016, S. 65). Im mimetischen Vermögen erfolgt eine Konzentration aufs Eigentümliche des Nachgeahmten – nicht durch kognitive Einsicht in oder empathisches Einlassen auf, sondern durch unmittelbare mimetische Korrespondenz mit der Äußerung (verbal, nonverbal) des Anderen auf einer spezifischen, präsymbolischen Ebene von Intersubjektivität. In Improvisation kommt das mimetische Vermögen in besonders prägnanter Weise zur Geltung. Gefordert sind psychische Dispositionen der Aufmerksamkeit, Gespanntheit, Präsenz, wie sie in Abschnitt 3 bei der Charakterisierung der Improvisation im Jazz aufgeführt worden sind. Mithilfe des Konzepts des mimetischen Vermögens lässt sich genauer bestimmen, worum es in Improvisation geht: um eine aufs Höchste geschärfte mimetische vorbewusste Beobachtungs- und Rezeptionsgabe19, aufgrund derer eine Interaktionsteilnehmerin in einen Zustand von Interaktionspräsenz gelangt, der es ihr ermöglicht, Impulse aufzugreifen und ihr Potenzial auszuschöpfen und sie damit stimmig weiterzuentwickeln. »Deutlicher kann es nicht gesagt werden: Der Leib ist ein verlässliches Instrument nicht mehr nur des ›Ahmens‹, sondern ebenso – und simultan zu diesem, mit ihm zusammenfallend – des ›Ahnens‹. Er wird über seine Bereitschaft zum Ähnlich-Werden ein subtiles Instrument des Vorwissens: Sehen, hören, fühlen, was man noch nicht weiß« (Fittler 2005, S. 85)20. Einem solchen aufblitzenden Moment des wiederentdeckenden Neuen schreibt Benjamin »ein Moment höchster Glückserfahrung« zu (ohne Quellenangabe, zit. nach Fittler 2005, S. 468). 18 In der Vorstellung des »Aufblitzens« sehe ich eine Ähnlichkeit zur Idee des Kairos im Improvisationsdiskurs. 19 Damit bildet dieser Ansatz auch einen Gegenentwurf menschlicher Kommunikation zum Ansatz von Mead, für den »fest steht, dass ›gesellschaftliches Bewusstsein […] die Voraussetzung für Nachahmung ist‹ (Mead 1909, S. 405, Übersetzung GR), nicht umgekehrt« (Raulet 2016, S. 65). 20 Die moderne Arbeitswissenschaft hat dieses »subtile Instrument des Vorwissens« unter dem Begriff des impliziten Wissens wiederentdeckt (vgl. z. B. Böhle 2017).

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Auf soziale Interaktion bezogen bedeutet dies: Das mimetische Vermögen ermöglicht und schafft einen Bezug zum anderen interaktionslogisch vor jeder Herstellung von Bedeutung – nämlich durch Nachahmung dessen, worauf Bezug genommen wird. Es ist anzunehmen, dass damit auch ein spezifischer Bewusstseinszustand verbunden ist, der sich z. B. von einer auf den Inhalt von Äußerungen gerichteten Hörhaltung deutlich unterscheidet. In dieser Schicht von Intersubjektivität gibt es nichts zu verstehen – es gibt nur die Aufforderung, sich anzuähneln21. Das Moment des Ähnlichen – im Gegensatz zum Gleichen22 – ist für Benjamin entscheidend, denn nur durch die Ähnlichkeit ist die Verbindung zum Bezugsphänomen geschaffen, gleichzeitig aber die Differenz zu ihm aufgemacht, die entscheidend dafür ist, dass das Bezugsphänomen in seiner Fremdheit gewürdigt und gleichzeitig in Nuancen weiterentwickelt werden kann – variiert, angereichert, vervollständigt, verschoben, verrückt, gebrochen. So kommen »Kontinua der Verwandlung« (Fittler 2005, S. 69) zustande. Mimetisches Vermögen ist die Fähigkeit, sich die Welt anzuähneln, alles, was ist und geschieht, durch Nachahmung als ähnlich, aber anders weiterzuführen. Für Benjamin ist das Moment der Nachahmung von entscheidender Bedeutung sowohl für die phylogenetische Entwicklung des Menschen als auch für die ontogenetische Entwicklung des einzelnen Menschen. Er sieht das mimetische Vermögen entsprechend vor allem im Kind ausgebildet: »Was letztere angeht, so ist das Spiel in vielem seine Schule« (1977b, S. 204 f.), was er in seinen autobiografischen Texten illustriert, sowie im Künstler – hier steht ihm vor allem Marcel Proust vor Augen. Benjamins Texte zum mimetischen Vermögen sind auch Rettungsversuche angesichts einer von ihm zeitgeschichtlich diagnostizierten Verkümmerung dieses Vermögens, insbesondere in Zeiten des Warenkapitalismus mit der damit einhergehenden Veränderung von Wahrnehmungsmodalitäten. »Die menschliche Gabe des Nachahmens wird an die Apparatur delegiert. Nicht mehr geübt und gebraucht muss sie darüber mehr und mehr verkümmern« (Fittler 2005, S. 472, Fn 84). 21 Fittler verweist in diesem Zusammenhang auf Hörisch, der in dem Konzept des mimetischen Vermögens einen »antihermeneutischen Impuls« sieht: »Dieser antihermeneutische Gestus zielt darauf ab, Sinn und Wahrheit des Werks vor dem Verstehen zu hüten, weil übliches Verstehen und Auslegen von extremer Wahrheitsferne sind; dagegen tritt im Begriff der ›objektiven Interpretation‹ die Wahrheit als sich selbst darstellend, als mitteilungs- und intentionslos auf« (Hörisch 1985, zit. nach Fittler 2005, S. 52, Fn 57). Was den Aufforderungscharakter betrifft, so sei auf das Konzept der Affordanz von Gibson (1982) verwiesen, das in aktuellen Wahrnehmungstheorien eine große Rolle spielt. 22 Das unterscheidet den Ansatz von Vorstellungen des Spiegelns, wie sie etwa im Ansatz des NLP propagiert werden – abgesehen davon, dass es Benjamin um ein Vermögen geht, nicht um eine Technik.

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Auch wenn man seiner Argumentation nicht folgt, ist zu konstatieren, dass das Moment der Nachahmung eine ähnlich negative gesellschaftliche Kodierung erfahren hat wie das Moment der Improvisation auch. »Nachahmung« ist etwas, was Kindern, Idioten – und Affen – zugeordnet wird. Im Forschungsprogramm der »theory of mind« (TOM), in dem es um die Erforschung der Ausbildung sozialer Kognitionen geht, hat man jedoch schon seit Längerem erkannt, dass in nachahmenden Tätigkeiten in der Kleinkind-Interaktion weit mehr passiert als nur das imitierende Einüben einfacher Abläufe: »We will argue that early imitation is relevant to developing theories of mind because it provides the first, primordial instance of infants making a conncetion between the visible world of others and the infants’ own internal states, the way they ›feel‹ themselves to be«, schreiben Meltzoff und Gopnik (1993, S. 337). Das Konzept des mimetischen Vermögens ist, soweit ich sehe, in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung nicht präsent.23 Eine Ausnahme bildet eine Studie der Sozialpädagogen Hörster und Müller (1996) zur Frage gelingender pädagogischer Prozesse, insbesondere deren Anfänge.24 Ihnen dient der Begriff des mimetischen Vermögens »zur Beschreibung der Fähigkeiten für den Übergang von jenen geschlossenen zu ›offenen‹ neue Möglichkeiten erschließenden Anfängen« pädagogischen Arbeitens (Hörster u. Müller 1996, S. 622). Sie erläutern ihr Verständnis an einigen Fallberichten von Lazarsfeld und Wagner (1924), Bernfeld (1974) und Makarenko (1961). In allen Fällen bestand die Ausgangssituation in pädagogisch »schwierigen« Konstellationen bzw. Jugendlichen, bei denen, so Makarenko, er nicht mehr ein und aus weiß (zit. nach Hörster u. Müller 1996, S. 626). In allen diesen Fällen war es das mimetische Vermögen der Pädagoginnen, die durch ein nachahmendes Aufgreifen der Impulse im Verhalten der Jugend­lichen der jeweiligen Situation einen »Dreh« gaben, der dann in der Folge pädagogisches Arbeiten im engeren Sinn erst möglich machte. »Die Wahrnehmung und die Herstellung von Verständigung durch das mimetische Vermögen der Erzieher und der zu Erziehenden […] ermöglichen in diesen Berichten eine Sinnerfahrung, die den Prozess weiter in Gang bringt. Voraussetzung dafür ist eine […] Erfahrung der Ähnlichkeit, die, so Benjamins schöne Formulierung, ›an ein Aufblitzen gebunden ist‹ oder auch ›vorbeihuscht‹« (­Hörster u. Müller 1996, S. 627). Besonders geglückte Wendungen in Interaktion, sei es nun eine schlagfertige Reaktion im rituellen Spiel des Dissens, sei es stimmige Synchronizität zwi23 Honneth hat Recht, wenn er von Benjamins Ansatz behauptet, er sei für die Forschung »ohne jede erkennbare Wirkung« (Honneth 1999, zit. nach Raulet 2016, S. 581). Diese Wirksamkeit gilt es gerade wiederzuentdecken. 24 Eine weitere Ausnahme stellen die Arbeiten des Ethnologen Taussig dar (z. B. 2013), auf die ich hier allerdings nicht weiter eingehe.

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schen Interaktionsbeteiligten, sei es eine Analogie oder Wiederholung, sei es ein Moment des being there, sei es eine stimmige pädagogische Reaktion, sei es ein resonantes Aufgreifen einer Vorlage in einer Jazzimprovisation, sei es die anspielungsreiche Modulation von »malen« über »zurückmalen« hin zu »ab heute wird zurückgemalt« – sie alle beruhen auf dem mimetischen Vermögen. Daniel Kehlmann hat eine artistisch perfektionierte Variante dieses mimetischen Vermögens anhand seiner Romanfigur Tyll charakterisiert: »Während die beiden hinter Pirmin hergehen, ist er mit seinen Gedanken noch bei der Lektion vom Vormittag: Wie machst du einen Menschen nach? Wie stellst du es an, jemandem kurz ins Gesicht zu sehen und dann er zu sein – deinen Körper zu halten, wie er seinen hält, deine Stimme klingen zu lassen wie seine, zu blicken wie er? Nichts lieben die Leute so sehr wie das, über nichts anderes lachen sie so gern, aber du musst es gut treffen, denn machst du es falsch, bist du armselig. Um jemanden nachzumachen, du Idiot, du dummes Kind, du verstockter, unbegabter Stein, musst du ihm nicht bloß ähnlich werden, sondern du musst ihm ähnlicher sein, als er sich selbst ist, denn er kann es sich leisten, irgendwie zu sein, aber du musst ganz und gar er werden […]. Es geht ums Hinsehen, begreifst du? Das ist das Wichtigste: Schau hin! Versteh die Leute. So schwer ist das nicht. Sie sind nicht kompliziert. Sie wollen nichts Ausgefallenes, nur will jeder das, was er will, auf etwas andere Weise. Und verstehst du einmal, auf welche Weise einer was will, dann musst du nur wollen wie er, und dein Körper wird folgen, dann ändert die Stimme sich von selbst, dann blicken auch deine Augen richtig«25.

6  Reflexionen über Improvisation im Coaching Improvisation – die normale Bastelei und der besondere flow. Es scheint sinnvoll, zu unterscheiden zwischen der improvisatorischen Natur jeglicher sozialer Interaktion und damit auch Coaching (4.1.2, 4.1.3, 4.4) auf der einen Seite von improvisatorischen Momenten, dem besonderen Aufblitzen im Augenblick (5), der geglückten Wendung (4.1.3), dem moment of meeting (4.4) auf der anderen Seite. Die folgenden Betrachtungen beziehen sich primär auf dieses besondere Improvisieren. Improvisation im Coaching bedarf der Rahmung – das wurde in den unterschiedlichen Beiträgen deutlich. Erst innerhalb eines Rahmens und durch einen 25 Daniel Kehlmann (2018). Tyll (12. Aufl.) (S. 329 f.). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Verlag, mit freundlicher Genehmigung.

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solchen können Improvisationen gelingen und ihre Wirkung entfalten – dies gilt für rituelle Beleidigungen im Rahmen des Kommunikationsformats des Dissens (4.1.1), dies gilt für besondere musikalische Eskapaden im Rahmen von Jazzimprovisationen (3), dies gilt für ausgefallene Lösungen im Rahmen organisatorischer Maßnahmen (4.2) und für moments of meeting im Rahmen eines therapeutischen Settings (4.4). Dieser Rahmen muss zwischen den Beteiligten vereinbart und deutlich markiert werden. Improvisation im Coaching stellt ein Wagnis dar. Überträgt man die Ausführungen zu Improvisation im Jazz aus Abschnitt 3, so kann man Improvisation im Coaching als eine Intervention mit erhöhtem Risikograd des Misslingens bestimmen. Beim Improvisieren verlässt der Coach die vertrauten und geläufigen Bahnen von Verfahren und tools mit den damit einhergehenden Momenten der Sicherheit und Kontrolle oder – wie im Fall von Makarenko (5) – er weiß »nicht mehr ein und aus«. In der Improvisation gilt in besonderem Maße jene existenzielle Offenheit, von der Nothdurft und Schwitalla geschrieben haben (4.1). Im Improvisieren überlässt sich der Coach dem Interaktionsprozess mit seiner Klientin und lässt sich von diesem Prozess leiten (siehe unten, S. 75). Er gibt Kontrolle auf und verliert Sicherheit. Darin liegt die Chance zur Schaffung von etwas Neuem, z. B. – wie von der Boston Group beschrieben (4.4) – zur qualitativen Veränderung der Beziehung mit der Klientin. Die Beteiligten werden getragen durch die Kooperation aller Beteiligten und die Qualität des Prozesses. Jazz (3) und Improtheater (4.1.2) bilden Modelle. Tool-Emergenz – die Studien zur emergenten Grammatik (4.1.3) – zeichnen ein Bild des Sprechens, das als Analogie zum Prozess des Coaching dienen kann: So wie wir als Gesprächsteilnehmerinnen aus dem Prozess des Sprechens heraus in ständigem Bezug auf diesen auf sprachliche Fertigteile und geläufige Konstruktionen zurückgreifen, so greift der Coach prozesssensitiv (siehe unten, S. 75) auf tools und Techniken zurück, wie es ihm sinnvoll erscheint, um den Prozess weiterzuentwickeln. Primär ist der Prozess, sekundär sind Techniken und tools. Genau dies zeichnet den erfahrenen, hochprofessionellen Coach aus. Improvisation im Coaching erfordert eine prä-reflexive Sensitivität, eine mimetische Haltung, sich durch das interaktive Geschehen im Coaching inspirieren zu lassen, eine Haltung des Witterns und des Spürens. Das Schaffen von Analogien ist eines ihrer Ergebnisse. Das Gesprächsbeispiel aus 4.1.3 zeugt von einer solchen Haltung. Sie ist als Nachahmen ontogenetisch im Menschen verankert und entfaltet sich im kindlichen Spiel (5). Sie wieder zu entfalten, ist Aufgabe für den Coach. In der Improvisation geht es nicht um kognitiv bezogene Konstruktionen und Deutungen von Geschehen und auch nicht um (wie immer bestimmte) Empathie mit Gefühlen der Klientin (»die Sippe der fatalen Miterleber«, wie Benjamin

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die Proponenten der Empathie genannt hat; Benjamin 1972, S. 51), sondern um eine intuitive Weise des Bezogenseins des Coachs auf die sich äußernde Klientin und dadurch um eine Aktivierung einer besonderen Weise von Intersubjektivität. Improvisation im Coaching erfordert und bedeutet eine erhöhte Sensibilität für den sich entwickelnden Interaktionsprozess und eine erhöhte Bereitschaft, sich ihm anzuvertrauen und die Bereitschaft zum riskanten (siehe oben, S. 74) Ergreifen von Gelegenheiten (Kairos). So wie ein Kajakfahrer sich dem Wildwasser anvertraut und sich in diesem bewegt. Dies wurde als Voraussetzung bestimmt dafür, Interaktionssynchronizität zu schaffen (4.1.1), in jenen Zustand des flow zu gelangen (3), in dem überraschende Wendungen, kreative Momente, moments of meeting zustande kommen können (4.4). Improvisation im Coaching bedeutet eine erhöhte Prozesssensitivität, bedeutet, eine Weisheit des Prozesses wahrzunehmen, sich ihr und damit dem Prozess anzuvertrauen (siehe oben, S. 74) und aus dem Prozess heraus zu agieren, den Kairos wahrzunehmen und zu ergreifen, den moment of meeting (4.4) zu nutzen. Damit ergibt sich eine Nuancen-Verschiebung in der Vorstellung von Prozessverantwortung: Das Moment des Managements und der Kontrolle tritt in den Hintergrund, gleichzeitig steigt die Anforderung an die Gestaltung eines für Coach und für Klientinnen offenen, Kreativität ermöglichenden Prozess (4.1.2). Kindliches Spiel als Prototyp von Improvisation. Auffällig ist, dass in allen Beiträgen zum Thema Improvisation kindliches Spiel als herausragend für Improvisation herausgestellt, ja geradezu gefeiert wurde. Dies gilt prominent für Benjamin (5), Joas (4.3), die Boston Group (4.4) und Sawyer (4.1.2). Ist dies wissenschaftliche Verklärung einer verlorenen Zeit oder ein ernstzunehmender gewichtiger Befund? Und falls ja – was können wir als Coach damit anfangen? In der Kontroll­supervision die eigenen kindlichen Anteile in den Blick nehmen? Kind­ liches Spiel in einer Art verspätetem Modelllernen beobachten und sich aneignen? Improvisation im Coaching bedeutet Grenzüberschreitung. Dies betrifft auch das professionelle Selbstverständnis des Coachs. Wie die Boston Group (4.4) gezeigt hat, geschieht in Momenten der Improvisation mehr als das, was durch die professionelle Rolle des Coachs abgedeckt ist. Es ist gerade dieses »mehr«, das die Bedeutsamkeit improvisatorischer Momente ausmacht – das »Aufblitzen« einer besonderen Beziehung zwischen Klientin und Coach. In Improvisation verlässt der Coach seine Rolle als Coach. Er wird – Person. Damit geht seine Professionalität nicht verloren, vielmehr wird sie in eine gesteigerte Form überführt. Improvisation im Coaching bedeutet auch Grenzüberschreitung im eigenen Vermögen. Dies gilt für Klient wie für Coach. Mit der Grenz­ überschreitung gelangt man in die »Zone der nächsten Entwicklung«. Vygotski (1993) hat sie beschrieben als die Zone, in der man etwas vermag, wenn man

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unterstützt wird. Es bedarf einer besonderen Prozessqualität, damit Coach und Klientin sich diese Unterstützung zuteilwerden lassen können. In den Charakterisierungen im Jazzkapitel (3) wurde Improvisation ein Moment besonderer emotionaler Intensität attestiert – Improvisation schaffe ein holding environment, einen Augenblick intensiver Geborgenheit. Dieser Gedanke wäre es wert, im Hinblick auf Coaching weiter ausgeführt und auf seine Tragfähigkeit hin überprüft zu werden. Im positiven Fall würde über seine kreativen, ästhetischen und relationalen Aspekte hinaus eine bedeutsame emotionale Facette von Improvisation sichtbar werden. Last, but not least ist Improvisation mit einem Glücksmoment verbunden. Jazzmusiker haben es erfahren (3), Walter Benjamin hat davon berichtet (5). Coaching gehört zu den gesellschaftlichen Rahmungen, die Improvisation ermög­ lichen und fördern. Alles spricht dafür, den Rahmen in diesem Sinne zu nutzen.

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Wenn Gestalt im Spiel ist – Kreativität und Ästhetik im Coaching Eckhard Budde-Schneider

1 Vorbemerkungen Vor 34 Jahren schrieb ich im Fachbereich Sozialpädagogik/Schwerpunkt Heil­ pädagogik der damaligen Fachhochschule Fulda meine Diplomarbeit. Wahrnehmung, Spiel und Kreativität waren zentrale Aspekte dieser Arbeit. Betreut wurde sie von Professor Franz Thiemel (1926–2006). Diesem Beitrag sind wieder die Begriffe Kreativität und Spiel vorangestellt. Das Verfahren, das ich mir in der Folge des oben genannten Studiengangs in vielen Jahren Aus- und Weiter­ bildung erst als Studierender, dann als Praktizierender und schließlich auch als Dozent erschlossen habe, ist der Gestaltansatz in den Beratungs­formaten Supervision und Coaching, den ich im Weiterbildungsstudium »Professionelles Coaching und Supervision« der Hochschule Fulda hauptsächlich vertrete. Meine Vorstellung von Coaching ist, gemeinsam kreative Prozesse zu gestalten; dies zwar auch mit dem Ziel, Lösungen für offene Fragen des Coachee zu finden, allerdings mit dem ideellen Anspruch, auch die tools gemeinsam zu entwickeln. In Märchensprache ausgedrückt: Ich möchte dazu ermutigen, die Unsicherheit an die Hand zu nehmen und der eigenen Wolfsnatur zu folgen, d. h., sich in der Beziehung zur inneren Rotkäppchenmutter zu emanzipieren und doch mal »vom rechten Wege« abzugehen, um forschend zu entdecken, was abseits von ihm zu finden ist. Die von mir verwendete Literatur zu Coaching und Supervision benutzt Begriffe, die unterschiedlichen Schulen und zu einem guten Teil auch dem gestalttherapeutischen Bezugsrahmen entstammen und zugleich ihre herausragende Bedeutung für Coaching und Supervision als kreativitätsfördernde Beratungsformate haben. Dennoch beziehe ich auch neuere Arbeiten zur Kreativitätsforschung ein, die eine eigene Position, eine eigene Nomenklatur und je eigene Definitionen aufweisen, um sie mit den vertrauten Ansätzen zu verbinden. In meiner Arbeit als Coach und Supervisor begegnen mir regelmäßig Phänomene von Stagnation und Regression. Menschen, Teams, beinahe ganze Organisationen können dem notwendigen und dem Menschen innewohnen-

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den Drang nach Neuem, nach Entwicklung und Veränderung nicht ohne Weiteres folgen. Sie stecken fest in wiederkehrenden Abläufen von Gewohntem und längst Überholtem. Wie der Wettermann Phil Connors in dem Film »Und täglich grüßt das Murmeltier« befinden sie sich in Schleifen aus den immer selben Abläufen. Sie stecken fest in den sich wiederholenden Versuchen, offene Fragen und Probleme zu lösen oder sich den Entwicklungen der Welt, den neuen Gesetzgebungen, dem Markt oder der davoneilenden Konkurrenz anzupassen. Regressiv statt progressiv. Konservativ statt innovativ. Darin liegt eine Tragik. Wie kommen die Coachees da heraus? Was benötigen sie, um, analog zu Phil, der die französische Sprache sowie das Klavierspiel lernt und vor allem sein Herz für die Menschen seiner Umgebung entdeckt, in ihrem Feld ihre Begabun­ gen und Herzensthemen zu erkennen und erfolgreich zu gestalten? ȤȤ Wie können sie sich selbst besser verstehen? = »Woher komme ich?« ȤȤ Wie können sie sich an Neues heranwagen? = »Wo will ich hin?« »Wie kann ich das schaffen?« ȤȤ Und was ist nachhaltig? = »Wie kann ich mir das bewahren?« Im Rahmen dieses Beitrags will ich zeigen, wie sich Kreativität als gestaltender Wirkfaktor im Coaching auf eine Weise entwickeln lässt, die sich nachhaltig auf Person und Umfeld des Coachees auswirkt. Dazu spanne ich einen Bogen, der Verwandtschaftsbeziehungen sichtbar werden lässt. Zwischen Ästhetik, Wahrnehmung und Erleben. Zwischen Erleben, Sinnlichkeit und Experiment. Zwischen Experiment, Kreativität und Gestalt. Zwischen Gestalt, Phänomenologie und Ästhetik … Coaching, das Kreativität nicht allein als Agens innerhalb des Settings einsetzt, sondern sie als individuelles und zugleich verbindendes Element weiterentwickelt, ist immer auch ein emanzipatorischer Ansatz. Darin sind Erlaubnis und Aufforderung impliziert, die dem einzelnen Menschen wie auch seiner Organisation sagen: »Erforscht euer Feld auf eure Weise. Entdeckt eure Lösungen. Löst euch von einengenden Denkvorgaben. Erweitert und vertieft eure Kreativität, ihr seid der kreative Pool.« Nach meiner Vorstellung ist der kreative Pool einer Organisation nicht eine abstrakte Ansammlung von Kreativität. Er ist auch nicht die Summe der Kreativität all ihrer Einzelpersonen; das wäre wieder abstrakt. Der kreative Pool ist das, was lebendig ist, wenn die Expertinnen1 einer Organisation sich wechsel1

Da in allen Zitaten die maskuline Form dominiert, verwende ich in diesem Beitrag die weibliche Form, wenn es um allgemeine Beschreibungen geht. In den Fallbeispielen, in denen es um eine konkrete Person geht, verwende ich die entsprechende passende Form. Zu ihrem Schutz wurden die Identitäten der Personen und Organisationen aus den Fallbeispielen ver-

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seitig erlauben, individuelle Wege zu gehen und dabei in Kontakt und Austausch mit dem Ganzen bleiben. Der kreative Pool ist dynamisch, er füllt sich, er leert sich, er verändert sich. Diese Sichtweise stellt eine Art durchlaufender Faden durch die einzelnen Kapitel dar.

2  Gestalt und Gestalten 2.1 Kreativität Laut Rainer M. Holm-Hadulla (2005) leitet sich der Begriff »Kreativität« von dem lateinischen Wort creare ab, das »schaffen, erzeugen, gestalten« bedeutet. Zwar ist seine Feststellung, dass dieser Begriff eng verwandt mit crescere ist, das »als werden, gedeihen, wachsen lassen« zu übersetzen sei (Holm-Hadulla 2005, S. 22), morphologisch inkorrekt, dennoch klingen im ursprünglichen Verständnis der jeweils eigenständigen Begriffe von creare und crescere zwei Aspekte der Kreativität an, die für das kreativitätsorientierte Coaching inhaltlich von großer Bedeutung sind: »das bewusste Schaffen des Neuen und das Wachsenlassen unbewusster Potenziale« (S. 22). Zunächst soll es um jene Aspekte gehen, die aus psychologischer und vor allem aus der Sicht des Gestaltansatzes für die Förderung des kreativen Potenzials maßgebend sind. Kreativität gehört in die Reihe der aufgeführten Wirkfaktoren. Einer Aufzählung wesentlicher Aspekte der Kreativität aus denkpsychologischer Sicht habe ich in der Tabelle 1 relevante Aspekte aus Sicht des Gestaltansatzes gegenübergestellt. Tabelle 1: Aspekte der Kreativität aus denkpsychologischer Sicht und aus Sicht des Gestalt­ansatzes Denkpsychologische Sicht (allgemein/Holm-Hadulla, 2005, S. 36)

Gestaltansatz (Setting und Prozess; Budde-Schneider)

–– intrinsische Motivation –– von innen heraus

–– Motivation von innen heraus –– Gestaltdrang –– zugleich Impulse von außen aufnehmend –– nicht vorrangig am Ergebnis orientiert, sondern auch am Prozess und Erleben

fälscht (Coaching 1, 2, 3). – Einzelne Abschnitte werden durch Slogans ergänzt, die beschriebene Sichtweisen und Positionen paraphrasieren. Teilweise sind sie Zitate aus anschließend genannten Quellen oder lehnen sich an solche an. Andere fassen meine persönlichen Erfahrungen und Haltungen thesenartig zusammen.

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Denkpsychologische Sicht (allgemein/Holm-Hadulla, 2005, S. 36)

Gestaltansatz (Setting und Prozess; Budde-Schneider)

–– Nonkonformismus

–– Individualität –– individuelle Lösungen

–– Selbstdisziplin

–– Gewahrsein –– Auseinandersetzung mit Widerständen als Teil des Prozesses –– Erleben von Identität

–– Überzeugung von der eigenen Sache

–– Spüren und Erleben der eigenen Energie

–– Toleranz für Kritik

–– offen sein für den Austausch mit der Umwelt

–– sorgfältige Auswahl von geeigneten Arbeitsfeldern

–– Gewahrsein: Was passt zu mir und wie passt es zu mir?

–– divergentes Denken unter Berücksichtigung der Tradition

–– Auseinandersetzen mit Introjekten: Verwerfen, Zurückweisen –– Umgestalten sowie Assimilieren des Nährenden

–– persönliche Verpflichtung auf die kreative Unternehmung

–– Empfinden von echten Gefühlen in der Erfahrung: Neugier, Lust und Freude am Prozess –– Verantwortung

Nach Albert Rothenberg sind Kreativität und der kreative Prozess der Zustand, die Fähigkeit und die Bedingungen, aus denen heraus Objekte oder Geschehnisse hervorgebracht werden, die neu und wertvoll sind (Rothenberg 1989, S. 14). Danach ist Kreativität eine Fähigkeit des Menschen, Ergebnisse durch Denken und Experimentieren zu erzeugen, die demjenigen im Wesentlichen neu sind, der sie erschaffen hat und dem sie vorher unbekannt waren. Dabei wird der intraindividuelle Aspekt der Kreativität angesprochen, wie er auch im Coaching bedeutsam sein kann. Von intraindividueller Kreativität spricht ­Rothenberg, wenn das Entdeckte und neu Geschaffene allein für den Einzelnen völlig neu ist, wenn es allein seine Erfahrungswelt betrifft. Andererseits liegt für ihn extraindividuelle, objektivierte oder auch soziale Kreativität dann vor, wenn eine Schöpfung oder Erkenntnis für eine Gruppe, den Kulturkreis oder auch für die gesamte Menschheit neu ist (Rothenberg 1989). Mihaly Csikszentmihalyi beschreibt, dass Kreativität nicht im Kopf des Individuums stattfindet, sondern in der Interaktion zwischen dem individuellen Denken und einem soziokulturellen Kontext (Csikszentmihalyi 2018, S. 41). Demnach ist Kreativität eher ein systemisches denn ein individuelles Phänomen. Einer rein individuellen Sicht würde es genügen, dass zur Kreativität nicht mehr gehört als die innere Gewissheit, dass das eigene Tun oder Denken neu und wertvoll ist. Wenn

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allerdings die Kreativität der Einzelnen als wertvoll für das Umfeld anerkannt werden soll, müsse die innere Gewissheit z. B. durch Experten bestätigt werden (S. 43). Csikszentmihalyi unterscheidet im Weiteren drei Phänomene der Kreativität: ȤȤ Brillanz: Menschen mit ungewöhnlichen Ideen, vielfältigen Interessen und scharfem Verstand – so lange sie nichts von bleibendem Wert erschaffen, können sie lediglich in diesem Sinne als kreativ bezeichnet werden. ȤȤ Persönliche Kreativität weisen Menschen auf, die »die Welt auf ungewöhnliche Weise erleben. Diese Personen entwickeln neue Perspektiven, gelangen zu tiefen Einsichten und machen möglicherweise Entdeckungen, von denen nur sie selbst wissen« (S. 44). ȤȤ Uneingeschränkte Kreativität haben jene Menschen entwickelt, die unsere Kultur auf einem wichtigen Gebiet verändert haben. Zu dieser Gruppe gehören Menschen wie Leonardo da Vinci, Einstein oder Picasso (S. 44). In seiner tragikomischen Kurzgeschichte »Der Erfinder« beschreibt Peter Bichsel einen kauzigen Mann, der jahrelang völlig abgeschieden lebte und eines Tages mit den Plänen für seine neue Erfindung in die Stadt ging. Ergriffen und aufgeregt angesichts der Bedeutung seiner Erfindung, zeigte er seine Pläne und Berechnungen den fremden Menschen in der Straßenbahn. »›Hier schaut mal, ich habe einen Apparat erfunden, in dem man sehen kann, was weit weg geschieht.‹ […] ›Der hat das Fernsehen erfunden‹, rief jemand und alle lachten. ›Warum lachen Sie?‹ fragte der Mann, aber niemand antwortete, und er stieg aus, ging durch die Straßen, blieb bei Rot stehen und ging bei Grün weiter, setzte sich in ein Restaurant und bestellte einen Kaffee, und als sein Nachbar zu ihm sagte: ›Schönes Wetter heute‹, da sagte der Erfinder: ›Helfen Sie mir doch, ich habe das Fernsehen erfunden, und niemand will es glauben – alle lachen mich aus.‹ Und sein Nachbar sagte nichts mehr. Er schaute den Erfinder lange an, und der Erfinder fragte: ›Warum lachen die Leute?‹ ›Sie lachen‹, sagte der Mann, ›weil es das Fernsehen schon lange gibt und weil man das nicht mehr erfinden muß‹, und er zeigte in die Ecke des Restaurants, wo ein Fernsehapparat stand, und fragte: ›Soll ich ihn einstellen?‹ Aber der Erfinder sagte: ›Nein, ich möchte das nicht sehen.‹ Er stand auf ging. Seine Pläne ließ er liegen. […] Seither kam der Erfinder nicht mehr in die Stadt. Er ging nach Hause und erfand jetzt nur noch für sich selbst« (Bichsel 1969/1987, S. 39 f.).

Menschen brauchen Würdigung und Anerkennung. Für ihr Sein. Für ihr Tun. Und dies gerade dann, wenn sie sich auf fremdes Terrain begeben und dort eine bedeutende Aufgabe bewältigt haben. Im Gruppencoaching bekommen die Protagonistinnen für das Gehen dieses Weges ein ehrliches Feedback der Gruppe, z. B. des Teams. Als Coach achte ich

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darauf, dass darin der Mut gewürdigt und die geöffneten Perspektiven unterstützt werden. Aber auch die unmittelbar sichtbaren Ergebnisse der kreativen Versuche, Anstrengungen und Leistungen, erfahren eine realistische Einschätzung und Wertschätzung. Im Einzelcoaching liegt die Aufgabe des Feedbacks beim Coach. Das Feedback steht hier auch für die Bestätigung der inneren Gewissheit durch Experten des betreffenden Umfeldes, wie es Csikszentmihalyi beschrieben hat (siehe S. 83). In diesem Sinne geht es mir um Kreativität im Coaching mit Menschen, die innerhalb eines begrenzten Kontexts nach neuen Wegen oder einer mutigen und förderlichen Haltung suchen, wenn sie sich unvermittelt mit neuen Wegen konfrontiert sehen. Der Wert dessen, was sie hervorbringen, lässt sich nicht unmittelbar am Ende einer intensiven und kreativen Auseinandersetzung ermessen. Für sie selbst und auch für ihr Umfeld, also ihr Team oder ihre Organisation, erweist sich so mancher Prozess vor allem erst in der Nachwirkung und im Verlauf einer kürzeren oder längeren Zeit als bedeutend und wertvoll. Das lustvolle Unterwegssein erhöht aber ganz sicher die Aufnahmefähigkeit für all jene Eindrücke, die in kreativer Betätigung ihren Ausdruck finden. SLOGAN 1 Nur auf das Ziel zu sehen, verdirbt die Lust am Reisen. (Friedrich Nietzsche, zit. nach Schleeger 2008, S. 115)

»Coaching ist ein kreativer Prozess, an dem Coachee und Coach beteiligt sind! Kreativität benötigen Coachees, um ihre Probleme zu lösen, ihren Visionen nachzugehen, Blockaden zu überwinden oder auch ihren Arbeitsalltag zu gestalten. […] Auch der Coach sollte kreativ sein, ein wacher Begleiter, dem immer wieder neue Ansichten auf- und einfallen, dem Ideen kommen, wie er seinen Coachee unterstützen kann. Coaching ist ein ko-kreativer Vorgang, bei dem alle Beteiligten ihr kreatives Potential einbringen« (Richter 2010, S. 42). Der Einsatz von kreativen Medien im Coaching kann klärend und ordnend wirken, er kann eher meditativ und spirituell oder betont expressiv angelegt sein. Ich setze Medien und Materialien themenzentriert ein (d. h. mit eingrenzender Vorgabe, siehe Coaching 2) oder mit Fokus auf das Erleben (d. h. ohne engere Vorgabe, siehe Coaching 1). Und manches, was für das eine Medium zutrifft, kann sinngemäß auch für die Anwendung anderer Medien gelten. Es geht zumeist um die Transponierung resp. Übersetzung eines Aspekts, z. B. eines Gefühls oder einer Idee in ein

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Medium, wie beispielsweise ein gemaltes Bild. Das Gefühl oder die Idee sind auf diese Weise gleichzeitig innen wie außen. Diese Expressivität dient zum einen der Anschaulichkeit für die Coachees, indem sie ihre eigenen inneren Vorgänge auch in materieller Form vor Augen haben und sie im Wortsinn begreifen können. In der manuellen Gestaltung und unter Beteiligung der Sinne (Eigenwahrnehmung, Sehen, Hören, Tasten etc.) können sie Veränderungen ausprobieren, deren positives Erleben und Ergebnisse sie anschließend verinnerlichen sowie gedanklich und emotional verknüpfen. Häufig läuft dies in einem Prozess von mehreren Transponierungen mit zunehmender Prägnanz. »Die Arbeit mit künstlerischen Medien verläuft prinzipiell so wie bei anderen Experimenten in der Gestalttherapie: Der fortlaufende Prozeß wird verdeutlicht, eine Bewußtheitserweiterung und das Sich-­Einlassen auf neue Erfahrungen werden angestrebt. Das Ziel ist Öffnung für brachliegende oder ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten durch das Einsetzen eines großen methodischen Repertoires« (Amendt-Lyon 1999, S. 861). 2.2  Ästhetik und Wahrnehmung Die Ausführung zu Ästhetik und Wahrnehmung erscheint mir deshalb so bedeutend zu sein, weil sie verdeutlicht, wie aus einem sinnlichen Erleben Erkenntnisgewinn erwachsen kann und wie die Beteiligung der ganzen Person für eine nachhaltige Verankerung der ästhetischen Erfahrung im kreativen Pool des Menschen sorgt. »›Ästhetik‹ kommt vom griechischen ›aisthesis‹, was so viel wie ›sinnliche Wahrnehmung‹ bedeutet. Heute versteht man unter Ästhetik im Allgemeinen die ›Wissenschaft vom Schönen‹ oder die Philosophie der Kunst. Das Adjektiv ›ästhetisch‹ bezeichnet die Art der Wahrnehmung eines Gegenstandes (der Kunst oder Natur); es dient aber auch zur Charakterisierung von Gegenständen selbst. Entsprechend wird unter ›ästhetisch‹ nicht die alltägliche Wahrnehmung verstanden, die wir mit unseren fünf Sinnen machen. Von ästhetischer Wahrnehmung, ästhetischer Erfahrung oder auch ästhetischer Erkenntnis spricht man vielmehr in besonderen Zusammenhängen« (Dietrich, Krinninger u. Schubert 2013, S. 16). Die Autoren heben das besondere »Ich-Selbst-Verhältnis« hervor, in dem die eigene Wahrnehmung sich mit dem verknüpft, was als schön, faszinierend, mitreißend etc. empfunden wird. Sie beziehen sich darin auf ­Alexander Gottlieb Baumgarten und dessen Werk »Aesthetica«: »Ihm geht es um die Anerkennung der sinnlichen Wahrnehmung als genuines Erkenntnis­vermögen. Ästhetik supplementiert für Baumgarten die Logik, die Wissenschaft von der

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diskursiven Erkenntnis, um eine Logik des Leibes: Erst beide zusammen, Logik und Ästhetik […] schreiten die Kognitionsfähigkeit des ›ganzen Menschen‹ wissenschaftlich aus« (Dietrich et al. 2013, S. 16). Dieser besonderen Art der Wahrnehmung gehe es nicht um das Wiedererkennen und klare Benennen, sondern um eine lustvolle Beunruhigung. Analog dem Abweichen vom rechten Weg ist das Uneindeutige, das Tastende kein Makel. Ästhetik richtet sich auf die sinnliche Wahrnehmung als subjektivem Erkenntnis- und Erfahrungs­ modus. 2.2.1  Ästhetische Empfindung

Ästhetische Empfindung unterscheidet sich von der einfachen Sinnesempfindung, auf der sie beruht, dadurch, dass das Sinnliche selbst thematisch wird. »Indem ich mich meinen Sinnesempfindungen zuwende, kann sich ein Abstand zu alltäglichen, pragmatischen Zusammenhängen bilden und es kann sich ein Spiel mit möglichen Bedeutungen entwickeln« (S. 19). 2.2.2  Ästhetische Wirkung

In einem Wechselspiel von sinnlichen und Vernunftkräften (Bezug zu Schiller, »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«) verwickelt sich der Mensch (resp. der Coachee) in eine Art Selbstgespräch, in dem er sich fragt, wo er »so etwas« schon einmal gehört, gesehen oder gespürt habe. Vielleicht sucht er dabei schon nach passenden Worten der Beschreibung oder er möchte das Geschehen auf ganz eigene Weise zum Ausdruck bringen, z. B. in einem Bild oder einer szenischen Darstellung. »Jedenfalls drängt die ästhetische Wirkung zur Darstellung« (S. 19). 2.2.3  Ästhetische Erfahrung

Die geronnenen Wirkungen werden zur ästhetischen Erfahrung. Sie erhalten eine Verortung, indem der Mensch Klarheit über ihre Bedeutungen gewinnt und sie in seinen inneren Erfahrungsschatz integriert. Es erfolgt eine Ausdifferenzierung des eigenen Erlebens. Der Mensch lernt auch, mit ästhetischen Wirkungen in einer Weise umzugehen, die dem eigenen Leben, z. B. im Kontext Arbeit, förderlich ist oder ihn bereichert, indem sie ihn in produktiver Weise verunsichert (vgl. Dietrich et al. 2013, S. 20). Im Coaching sorgt diese gewollte Verunsicherung auch dafür, dass der Coachee bereit und mutig ist, immer wieder aufs Neue auf eine Herausforderung zu schauen. Der kreative Pool beinhaltet Haltungen und Einstellungen ebenso wie konkrete Ideen. Ihn zu bereichern, geht mit akzeptiertem Chaos und gewollten Irritationen einher.

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Im Haus meiner Kindheit, einem jahrhundertealten Fachwerkhaus, in dem Generationen von Menschen gelebt hatten, gab es eine Küche mit einem alten Schrank, der wiederum große Schubladen hatte. Eine davon barg ein Sammelsurium an Dingen, Krimskrams, wie es bei uns hieß. Wenn ich etwas basteln wollte und mir ein Utensil fehlte, ein Material oder ein Werkzeug, machte ich es wie die Erwachsenen und kramte in dieser Schublade, bis ich etwas fand, das mir weiterhalf: ein Stück Schnur, eine Klammer, ein Glas, ein Keil, ein Rest Kork, Schaumstoff, eine Öse, ein Ring … So verschwand immer mal etwas aus dieser Schublade. Es hatte einen konkreten Zweck gefunden. Aber wie von Geisterhand füllte sich die Schublade auch immer wieder. Denn wer aus einer Arbeit etwas übrig hatte und nicht wusste, wohin damit, der legte es in sie hinein.

Auch wenn diese Schublade kaum mit dem ästhetischen Empfinden und der Bewusstheit gefüllt war, über die ich in diesem Beitrag schreibe, ist sie mir doch zum Sinnbild des kreativen Pools von Menschen und ihren Systemen geworden. Nicht allein der einzelne Gegenstand ist das ästhetische Objekt. Und auch nicht allein das Zusammenfügen einzelner Gegenstände zu einem neuen Ganzen macht die Ästhetik aus. Ästhetische Erfahrung ist der gesamte Vorgang von der ersten Idee über das Öffnen der Schublade und das Kramen in den Dingen. Sie geht weiter über das eigene sinnlich-leibliche Erleben während des Stöberns und Suchens hinaus. Und sie weitet sich aus bis hinein in das Schaffen von Neuem sowie das eigene emotionale Erleben angesichts des ästhetischen Produkts: Freude, Stolz, Befriedigung, Perspektive etc. 2.3  Gestalt = Ganzheit SLOGAN 2 Der richtige Weg zur Ganzheit besteht aus schicksalsmäßigen Umwegen und Irrwegen. Dass C. G. Jung, dem dieses Zitat zugeschrieben wird (Levine 2011, S. 39), sich mit dem Begriff der »Ganzheit« auseinandergesetzt hat, davon darf man sicher ausgehen. Auch heute ist die Kennzeichnung »ganzheitlich« in aller Munde und bildet in breiten Kreisen der Gesellschaft, von der ganzheitlichen, alternativen Medizin über eine ganzheitliche Pädagogik bis hin zur kommerziellen Vermarktung von Wirtschaftsgütern, ein populäres Schlagwort. Welche Merkmale unterscheiden Ganzheiten von summativen Und-Verbindungen, also Mengen, oder auch von Systemen?

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Der Begriff »System« unterstreicht mehr die Vernetzung einzelner Komponenten zu einem Ganzen, das eine Funktion erfüllt. In unserem menschlichen Organismus tragen alle Teile, innere Organe, Gehirn, Stoffwechsel, Blutkreislauf, Skelett, Muskulatur, in kunstvoller Weise dazu bei, dass das Ganze lebt. Die »Gestalt« eines Menschen erschließt sich uns über dieses Wissen nicht. Eine Gestalt ist zwar auch ein System, doch ein im Wortsinn anschauliches: mit einem Blick erfassbar, unmittelbar, sinnlich wahrnehmbar, greifbar. Die wissenschaftliche Grundlage für das Verständnis von Ganzheiten bilden die Gestalttheorie, als universell ausgerichteter erkenntnistheoretischer Denkansatz, und die moderne Systemtheorie. Aus all dem ergeben sich Kriterien, die den Gestaltansatz seit jeher und bis heute kennzeichnen und den grundlegenden Bezugsrahmen für ihre Wirk­ faktoren bilden. Ihre wichtigsten Vertreter mit Quellen stehen jeweils in Klammern dahinter: ȤȤ Ganzheitlichkeit/Gestalttheorie (von Ehrenfels 1890; Wertheimer 1925; Koffka 2009; Köhler 1971) ȤȤ Feldbezogenheit/Feldtheorie (Lewin 2012) ȤȤ Dialogische Grundhaltung/Dialogisches Prinzip (Buber 1962) ȤȤ Phänomenologische Haltung/Phänomenologie (Zahavi 2009; Merleau-­Ponty 1966) ȤȤ Neue Phänomenologie (Schmitz 2009) ȤȤ Orientierung am Hier und Jetzt (Buddhismus, Hinduismus) ȤȤ Orientierung am Prozess/Gestalttherapie (Perls, Hefferline u. Goodman 1988; Dreitzel 2004) ȤȤ Existenzielle, experientelle, experimentelle Orientierungen (L. Perls 1989) Daraus wiederum leiten sich Wirkfaktoren ab, die innerhalb eines Prozesses, resp. innerhalb einer spezifischen Coaching- oder Supervisionssituation, idealerweise zusammenspielen, sich wechselseitig bedingen und einander initiieren: ȤȤ Heilung aus der Beziehung Bezug: Dialogische Grundhaltung ȤȤ Unterstützung des Prägnanzprozesses Bezug: Gestaltgesetz der Prägnanz ȤȤ Heilung durch Förderung der organismischen Integration Bezug: Ganzheitlichkeit ȤȤ Ausweitung von Bewusstheit Bezug: Ganzheitlichkeit, Feldbezogenheit/Feldtheorie ȤȤ Problemlösung durch Kreativität Bezug: experimentelle Orientierung, Ästhetik, Phänomenologie

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ȤȤ Regulation des Selbstwertgefühls Bezug: existenzielle Orientierung ȤȤ Im Hier und Jetzt arbeiten Bezug: Phänomenologie ȤȤ Expressivität/zum Ausdruck bringen Bezug: Effekt der Gestalttransponierung ȤȤ Entdecken und erfahren lassen, lernen Bezug: experimentelle und experientelle Orientierung/Orientierung am Prozess Von Wirkfaktoren lassen sich wiederum Interventionsprinzipien ableiten. Und wiederum jedes Interventionsprinzip kann situationsgemäß in bestimmte Techniken und tools umgesetzt und z. B. mittels Medien angewandt werden. Astrid Schreyögg (1992) leitet aus anthropologischen und erkenntnis­ theoretischen Implikationen eines Metamodells der Gestalttherapie Wirkungsfaktoren der Veränderung ab, die in eine Anwendung gestalttherapeutischer Methodik in der Supervision münden. Sie fragt: »[I]n welchen Punkten stimmen die Intentionen für den Einsatz von Methoden der Gestalttherapie und in unserem Ansatz überein und […] in welchen Punkten unterscheiden sie sich?« (Schreyögg 1992, S. 318). Diese Frage taucht auch in Studiengruppen immer wieder auf. Dahinter stehen verschiedene Sorgen: ȤȤ nicht die persönliche oder Intimitätsgrenze des Klienten zu verletzen, resp. den Klienten nicht in seinen Gefühlen, ȤȤ sich nicht auf ein Terrain zu begeben, in dem man sich fachlich nicht auskennt, in dem man nicht ausgebildet ist und in dem man rechtlich nicht agieren darf, ȤȤ sich nicht selbst im Dickicht der Interventionsmöglichkeiten zu verfangen und damit die Orientierung zu verlieren. Übereinstimmung sieht Schreyögg weitgehend zwischen den Rekonstruktionsformen und den postulierten Veränderungsmechanismen. Hier wie dort werde szenische Rekonstruktion verlangt und zwischen spontanen und gezielten Wirkungen unterschieden, die sich auf Umstrukturierungen bzw. Neuentwicklungen von Deutungs- und Handlungsmustern beziehen (S. 318). Schreyögg benennt zu Recht deutliche Unterschiede zwischen Therapie einerseits und Supervision (Coaching) andererseits. So verweist sie darauf, dass es in der Therapie eher um die Auseinandersetzung mit den spezifischen projektiven Mustern gehe, mit denen die Klientin ihr vergangenes oder aktuelles

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Leben erfasse. Demgegenüber ziele Supervision auf die Auseinandersetzung mit objektiveren Phänomenen, z. B. wie sinnvoll der Supervisor praktiziert und/oder ob ihm ein gegebener Kontext erlaube, seine Praxis sinnvoll auszuführen (S. 319). 2.4 Phänomenologie SLOGAN 3 Gestaltcoaching ist etwas für Forscher, nicht für Macher! Analog einer Sichtweise zur Gestalttherapie von Reinhard Fuhr 1999

Natürlich müssen auch Forscher irgendwann zu Handlungen kommen und Macher das Terrain, in dem sie arbeiten, forschend erkunden – auch abseits der bekannten Wege und tradierten Denkstrukturen. Bei den Erkenntnis- und Erforschungsmethoden, die dem Gestaltansatz zugrunde liegen, »geht es nicht vordringlich darum, objektive Wahrheiten (oder Annäherungen daran) auf der Grundlage empirischer Daten als sichere Handlungsgrundlagen zu erkennen, sondern um ein Höchstmaß an Wahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Austausch durch bewußtes Wahrnehmen dessen, was ist, und durch Erkundung der Bedeutung dessen, was im Hier und Jetzt vorgefunden wird« (Fuhr 1999, S. 418). Angeregt durch seinen Lehrer Franz Brentano beschrieb Edmund Husserl Phänomene in der Beziehung zwischen dem Ich und dem Gegenstand. Husserl prägte den Begriff des intentionalen Bewusstseins. Dahinter stand die Überzeugung, dass Bewusstsein niemals ohne Bezug auf etwas ist: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas (vgl. Zahavi 2009, S. 12 ff.). Diese, aus heutiger Sicht banal wirkende, Einsicht bereitete auch den Weg zur Betrachtung eines der grundlegenden philosophischen Dilemmata, nämlich der Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt. Bildhaft beschrieben sei dies durch die folgende Zen-Weisheit, die sich im Dialog zwischen einem buddhistischen Mönch und seinem Lehrer zeigt: »Was ist der Weg?« »Er liegt vor deinen Augen.« »Warum kann ich ihn dann nicht sehen?« »Weil du an dein Ich denkst.« »Siehst du ihn denn?« »So lange du Worte gebrauchst wie ›Ich‹ und ›Du‹ und Sätze sprichst wie ›Du siehst‹ und ›Ich sehe nicht‹, kannst du ihn nicht sehen.«

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»Wenn es kein Ich und kein Du mehr gibt, kann man ihn dann sehen?« »Wenn es kein Ich und kein Du mehr gibt, wer will ihn dann sehen?« (Weber-Schäfer 1964, S. 43)

Man könnte sagen, dass die wahrgenommenen Phänomene der Umwelt (oder auch meiner selbst) kognitiv einer Wahrnehmungsautomatisierung verfallen und verhaltensmäßig Gewöhnungen entstehen, sodass die zu den Wahrnehmungen und Verhaltensweisen gehörende Bewusstheit abnimmt und verloren geht. Die Folge ist eine gewohnheitsmäßige Sicht- und Begegnungsweise gegenüber der Welt (oder auch mir selbst), die eine Reduktion in der Intensität des Erlebens und in der Kreativität des Handelns bewirkt. »Wenn sich unser Gehirn an etwas gewöhnt, dann reagiert es mit jeder Begegnung ein bisschen schwächer. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sehen zum ersten Mal etwas vollkommen Revolutionäres, zum Beispiel ein fahrerloses Auto. Beim ersten Mal rattert Ihr Gehirn heftig. Es nimmt etwas Neues auf und verarbeitet es. Beim zweiten Mal reagiert es schon etwas gelassener: Es interessiert sich weniger dafür, weil es nicht mehr ganz so neu ist. Beim dritten Mal fällt die Reaktion wieder schwächer aus. Und beim vierten Mal noch schwächer« (Eagleman u. Brandt 2018, S. 25). Der Hirnforscher Eagleman und der Musiker Brandt beschreiben so den Vorgang der Wiederholungsunterdrückung, um damit einerseits darauf hinzuweisen, dass Vorhersagbarkeit wünschenswert und nützlich ist, andererseits darauf, dass es dem menschlichen Gehirn nach Neuem dürstet. »Denn wenn das Gehirn etwas lernen kann, dann wird es hellwach« (S. 27). Der Hamburger Gestalttherapeut, Coach und Ausbilder Friedhelm Mat­ thies hat sich ausführlich mit der Neuen Phänomenologie beschäftigt. Er sagt, schon Edmund Husserl habe kritisiert, dass die modernen Wissenschaften mit ihrem Anspruch, die Welt objektivistisch zu erfassen, die Fragen der Menschen nach dem Sinn des Lebens nicht mehr beantworten. Mit wissenschaft­lichen Untersuchungen nach dem Muster der Naturwissenschaft, d. h. mithilfe statistischer Verfahren, finde ein systematischer Reduktionismus statt, der nicht die Wirklichkeit abbilde, sondern lediglich Prognosen und Wahrscheinlichkeiten liefere. »Wenn Menschen in diesem Zusammenhang ihre eigenen leiblichen Empfindungen, ihre sinnlichen Wahrnehmungen und ihr fühlendes Wert­ erleben mittels neuronaler Schaltkreisfunktionen und Synapsen­verbindungen, Systemfunktionen, Gensubstanzen oder statistischen Wahrscheinlichkeiten erklärt bekommen, droht eine fortschreitende Ent­leerung der subjektiven Welt. Das, was Menschen sinnlich anspricht, gefühlsmäßig ergreifen und persönlich betreffen kann, wird verobjektiviert. Dieser Wandel ist nicht kompatibel mit der

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Haltung und den Werten des G ­ estaltansatzes« (Matthies 2017, S. 2). Das darauf aufbauende, aber viel weitergehende Anliegen von Hermann Schmitz, einem der bedeutendsten Vertreter der Neuen Phänomenologie, sei es, so Matthies, den subjektiven Tatsachen und dem ganzheitlichen Erleben mehr Bedeutung zu geben. Er verstehe es als »Sichbesinnen des Menschen auf ein Sichfinden in seiner Umgebung« (Schmitz 2015, S. 13, zit. nach Matthies 2017, S. 1), »damit der Mensch Spielraum für Selbstbestimmung, Rechenschaft und Stellungnahmen im Verhältnis zu seiner Umgebung hat« (Schmitz 2015, S. 9, zit. nach Matthies 2017, S. 1). Dies beschreibt in philosophisch-phänomenologischer Weise ein wesent­ liches Anliegen des kreativitätsorientierten Coachings und soll mittels einer weiteren Unterhaltung buddhistischer Mönche pointiert illustriert werden: »Zwei Mönche betrachteten eine Fahne, die über dem Klostertor im Wind flatterte. ›Die Fahne bewegt sich‹, sagte der eine. ›Nein‹, erwiderte der zweite, ›nicht die Fahne bewegt sich. Der Wind bewegt sie.‹ In diesem Augenblick kam der sechste Patriarch vorbei. ›Weder die Fahne bewegt sich‹, sagte er, ›noch der Wind. Eure Herzen bewegen sich!‹ Da erschraken die Mönche« (Weber-Schäfer 1964, S. 10). Denn »unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben« (Schmitz 2010, S. 9, zit. nach Matthies 2017, S. 2).

Nach Matthies ist objektive Ganzheit zweckdienlich, während subjektive Erfahrungen existenziell und ganzheitlich sind (Matthies 2017, S. 3). Der Gedanke, dass alle Wahrnehmung Wahrnehmung von Situationen ist, leitet zum Wirkfaktor Bewusstheit über. 2.5 Bewusstheit SLOGAN 4 Nur der Schein trügt nicht. (Josef Albers 1888–1976, deutscher Maler, u. a. Lehrer am Bauhaus; Albers 1964/2000)

Wie die Würzburger Gestalttherapeuten, Ausbilder und Autoren Frank-M. ­Staemmler und Werner Bock (1998) rekapitulieren, war für Fritz Perls, den Mitbegründer der Gestalttherapie, Bewusstheit der entscheidende (therapeutische) Wirkfaktor. Mit den Begriffen awareness oder sensory awareness ging er über die ursprünglich von ihm gebrauchten Begriffe concentration und attention

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hinaus (Perls, Hefferline u. Goodman 1988b, S. 85). In den deutschen Übersetzungen fanden diese Begriffe als »Bewusstheit«, »Gewahrsein« oder auch als »Gegenwärtig-sein« oder als »Präsenz« ihren Ausdruck. F. Perls vergleicht das Gewahrsein mit dem Licht der Kohle, das aus der Eigenverbrennung stammt. Der Kontakt zur Welt beruht auf sinnlicher Bewusstheit: Die Sinne, die nach außen gerichtet sind, sowie das propriozeptive System (Eigenwahrnehmung) sind von gleicher Wichtigkeit. Sich seiner selbst bewusst zu werden, steigert also den potenziellen Handlungsbereich, weil eine breitere Orientierung sowie größere Wahl- und Aktionsfreiheit entstehen (Perls et al. 1988b, S. 85). Gremmler-Fuhr unterscheidet zwei Modi: Achtsamkeit: Sie bedeutet den wachsamen Kontakt mit dem (für das Individuum) wichtigsten Ereignis im Feld bei vollständiger sensomotorischer, emotionaler, kognitiver und energetischer Unterstützung. Gewahrsein bedeutet das unmittelbare Wahrnehmen und Erkennen von umfassenderen Zusammenhängen, des Zusammenhangs von Figur und Grund und des gesamten Feldes; aktives Wissen und Zusammenschauen unter Einschluss von Vergangenheit und Zukunft. Gewahrsein wird als weit und relativ unscharf beschrieben, weil es auf Strukturen, Muster und Zusammenhänge auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion gerichtet ist. Es erfasst Ganzheiten durch das Zusammenspiel von Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühlen, Fantasien, Gedanken und Handlungen (Gremmler-­Fuhr 1999). Wie den Autoren Staemmler und Bock ist es auch mir ein besonderes Anliegen, die umfangreiche Natur des Phänomens Bewusstheit darzustellen, um die umfänglichen Dimensionen von kreativen und ästhetischen Coachingprozessen darstellen zu können. »BEWUSSTHEIT ist das ganzheitliche, subjektive Wahrnehmen-­Erleben eines Menschen von Figuren in seinem gegenwärtigen Organismus-­UmweltFeld« (Staemmler u. Bock 1998, S. 45 ff.). Was ist damit gemeint? Bewusstheit ist ein ganzheitliches Phänomen, eine Funktion des Organismus insgesamt – und nicht einzelner Teile, z. B. des Auges oder des Gehirns. Und doch ist Bewusstheit eine Funktion der Sinneswahrnehmung, des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens sowie der Propriozeption, der Wahrnehmung der im Körper selbst entstehenden Reize, wie Wärme- oder Gleichgewichtsempfinden. Und dies schließt untrennbar das subjektive Erleben und seine aktuelle Bedeutung des sinnlich Wahrgenommenen mit seiner jeweiligen emotionalen Färbung ein (siehe 2.2.1). Bewusstheit richtet sich grundsätzlich und ausnahmslos auf gegenwärtige Vorgänge und ist immer subjektiv, d. h., sie ist immer nur die Bewusstheit des jeweiligen Individuums. Auch für die Situation des Coaching ist es von beson-

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derer Bedeutung, dass zwei Menschen, Coach und Coachee, sich derselben Situation immer in unterschiedlicher Weise bewusst sind; und diese beiden sollten sich dieser Tatsache wiederum auch bewusst sein (siehe hierzu den Beitrag von Antje Pfab zum Thema Kontext). Bewusstheit hat zudem immer einen Gegenstand, ist immer Bewusstheit von etwas. Fritz Perls sagt dazu, dass »wir es immer mit einer zweigeteilten Existenz zu tun haben: die Bewußtheit hier und jetzt und worauf sich diese Bewußtheit bezieht. Vordergrund impliziert Hintergrund. Der Hintergrund gestaltet den Vordergrund« (Perls 1980a, S. 251, zit. nach Staemmler u. Bock 1998, S. 47). Grundsätzlich erstreckt sich Bewusstheit auf das Wahrnehmen-Erleben der gesamten inneren und äußeren Welt, also auf das gesamte Feld. Bewusstheit ist also nicht allein eine ganzheitliche Funktion des Organismus, sie überwindet hinsichtlich dessen, wovon ein Mensch Bewusstheit haben kann, auch die Grenze zwischen Organismus und Umwelt. Innerhalb des in sich zusammengehörigen Feldes von Organismus und Umwelt bilden sich jedoch immer wieder neue Figuren – und es sind diese Figuren, die vor dem Hintergrund des jeweiligen übrigen Feldes Inhalt der Bewusstheit werden. F. Perls: »Wir […] versuchen, alle Erlebnisse zu erfassen und miteinander zu verknüpfen – ob nun körperliche oder seelische, sensorische, emotionale oder sprachliche –, denn das deutliche Figur/Grund-Verhältnis geht aus dem einheitlichen Zusammenwirken von Körper, Seele und Umwelt hervor (all diese Ausdrücke sind Abstraktionen)« (Perls et al. 1988a, S. 92, zit. nach Staemmler u. Bock 1998, S. 47). Denn »Gewahrsein ist nicht müßig; es ist Orientierung, Einschätzen, Sich­ nähern und Auswählen« (Perls et al. 1988, zit. nach Staemmler u. Bock 1998, S. 48). Die Wahrnehmungen werden konkreter und üben wechselseitige Anziehung aus. Während des ganzen Prozesses wird geforscht, entdeckt, gefunden und erfunden. Und auch wenn das Bedürfnis des Organismus Beständigkeit ist, so kann doch die Befriedigung des Bedürfnisses nur aus dem Neuen in der Umwelt kommen. In diesen Ausführungen mag auch deutlich geworden sein, dass der Gestaltansatz nicht ohne sein besonderes Verständnis von zeitlichen Abfolgen, also Prozessen, denkbar ist. In dem Modell des Bewusstheitsrades (Abbildung 1) stellen seine Autoren diesen Prozess zum Erleben und Handeln in fünf Schritten dar. Mit Schritt eins beginnend, bekommen Außenwahrnehmung (Perzeption) und Innenwahrnehmung (Propriozeption) über das gedankliche Bilden (Schritt zwei) von Annahmen und Vorstellungen von dem, was der Inhalt dieser Wahrnehmung bedeuten mag, eine spontane Richtung. Dies wird begleitet von Gefühlen (Schritt drei)

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1. Sinnesdaten/ Wahrnehmung

5. Handlungen Äußerungen, Bewegungen, Entscheidungen, Vereinbarungen, Aktivitäten

Außen: sehen, hören, riechen … Innen: Wärme, Kälte, Gleichgewicht …

2. Gedanken

4. Wünsche, Absichten, Ziele

Ideen, Annahmen, Theorien, Vorstellungen

Interesse, Motivation, Streben

Vorerfahrungen

3. Gefühle Aufregung, (Ab-)Neigungen Zuversicht, Langeweile, Gefühle über Gefühle

Abbildung 1: Das Bewusstheitsrad (in Anlehnung an Miller, Miller, Nunally u. Wackman 1998) Abbildung 1: Das Bewusstheitsrad (in Anlehnung an Miller, Miller, Nunally u. Wackman 1998)

wie Erregung/Aufregung, Angst oder Vorfreude. Mit zunehmender Bewusstheit werden daraus Wünsche, Absichten und Ziele (Schritt vier), die schließlich zu Impulsen und Handlungen (Schritt fünf) führen. All dies geschieht in einem Kontinuum, einem durchlaufenden Prozess. Da das Handeln und seine Ergebnisse neue Sinnesdaten hervorbringen, erneuert sich dieser Prozess. Die Schritte laufen nicht mechanisch in gleichförmiger Weise ab, sondern überlappen und beeinflussen sich stetig gegenseitig. Bruno M. Schleeger (2008) skizziert zwei Modi: die aktive und gerichtete Bewusstheit sowie die offene und ungerichtete Bewusstheit. Für das kreativitätsorientierte Coaching erscheint mir die offene und ungerichtete Variante stimmiger. Allerdings kann die situativ gewählte aktive und gerichtete Bewusstheit eine bereichernde Option sein.

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Aktive, gerichtete Bewusstheit ȤȤ geht in die Welt, ȤȤ zwingt etwas, sich zu zeigen, ȤȤ verwendet eine Struktur, einen Bezugsrahmen, der dahin lenkt, was er gern sehen, hören will usw., ȤȤ auf Befragungen ausgerichtet, strebt nach einem engen, klaren Blickfeld, ȤȤ sieht die Dinge im Rahmen von Kenntnissen darüber, wie sie funktionieren, was in einem normalen Sinn vorhanden ist und was »fehlt«, ȤȤ suchender Gebrauch der Sinnesmodalitäten, ȤȤ unterstützt die Arbeit durch inhaltliche Werte und konzeptionelle Vorlieben. Offene, ungerichtete Bewusstheit ȤȤ lässt die Welt zu sich kommen, ȤȤ wartet darauf, dass sich etwas zeigt, ȤȤ untersucht, ohne in Bezug auf das, was er sehen, hören will usw., irgendwie organisiert oder voreingenommen zu sein, ȤȤ behält ein Blickfeld bei, das möglichst viel Peripherie einbezieht; wenig Vordergrund und alles gleich bedeutsam, ȤȤ ist naiv bezüglich dessen, wie Dinge funktionieren; hofft, etwas Neues darüber herauszufinden, ȤȤ rezeptiver Gebrauch der Sinnesmodalitäten, ȤȤ Werte sind prozessorientiert, tendieren dahin, frei von Inhalten zu sein. 2.6 Neugier SLOGAN 5 Entdecke deine Wolfsnatur! Fuhr (1999, S. 422 f.) und Staemmler (1999) sprechen von »disziplinierter Neugier« als einer Art gerichtetem Erstaunen (vgl. auch den Beitrag von Helmut Reichert). Etwas drängt aus dem Hintergrund der Möglichkeiten in den Vorder­ grund und bekommt mehr und mehr Aufmerksamkeit, während die reduzierte Aufmerksamkeit für den Hintergrund (alles, was die Situation trägt) im mittleren Modus des Bewusstseins mitschwingt. Ob das gerichtete Erstaunen sogleich »das Richtige« hervorbringt (in Abgrenzung zum »Falschen«), ist an dieser Stelle des Prozesses noch nicht entscheidend. Nicht »richtig« oder »falsch« sind hier die Kriterien, sondern »Richtung« und »Bewegung«.

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Um noch einmal in die sinnbildlichen Märchenbilder zu wechseln, geht es um das Vertrauen, dass mich der Wald mit seiner Jahrtausende währenden Beständigkeit, seiner produktiven Ökologie und seiner ureigenen Weisheit halten, beschützen und fördern wird, wenn ich mich als »Rotkäppchen« zugleich meiner Wolfsnatur, meiner Intuition und Neugier anvertraue und sie insoweit diszipliniere, als dass ich mir der Richtung, in die sie mich lenkt, bewusst bleibe; auch und vor allem abseits der vorgegeben Wege. Es geht eben nicht um ein eher stupides »nur immer der Nase nach«, sondern um ein Vertrauen in den Prozess der eigenen Neugier, die fortlaufend überprüft, ob und wie das gerade Entdeckte und Gefundene zu der angestrebten Figurbildung und wie es zur sinnlichen Wahrnehmung und spontan erlebten Sinnhaftigkeit passt, dieser gerade entdeckten Spur zu folgen. Denn: »Das Pendel des Geistes schwingt nicht zwischen richtig und falsch, sondern zwischen Sinn und Unsinn« (Zitat nicht belegt. Es ist mir als Wort von C. G. Jung vertraut). »Gestalttherapeutisches Lehren und Lernen, sei es in Therapie, Beratung oder Bildung, besteht daher zu einem nicht unerheblichen Teil aus Motivations­ arbeit: Der Lehrende muß selbst immer wieder Neugier aufbringen und aufrechterhalten für die Einzigartigkeit des anderen, der verschiedenen Lebensumwelten und für sich selbst. Er muß diese Neugier auch in seinem Klienten (wieder)entfachen, sei es durch sein Beispiel, sein persönliches Commitment […] oder dadurch, daß er dem Klienten seine Neugier leiht« (Fuhr 1999, S. 419). Denn gelegentlich braucht Emanzipation support und Impuls. Fallbeispiel Coaching 1 – Kreativität des Erforschens

Laura Perls (1989), Mitbegründerin des Gestaltansatzes, charakterisierte dessen Praxisprinzipien anhand der drei Es: ȤȤ Experimentell = ausprobieren, versuchen, verwerfen ȤȤ Experientell = experimentelle Erlebnisse zu Erfahrungen werden lassen ȤȤ Existenziell = Erfahrungen als bedeutende Lebenserfahrung begreifen In der folgenden Coachingsequenz lassen sie sich gut erkennen: Herr Yps, 34 Jahre, geschieden, keine Kinder; Bank- und Versicherungskaufmann an der großstädtischen Zentrale eines international agierenden Instituts; über­ gewichtig. Herr Yps befindet sich in einer anspruchsvollen beruflichen Weiterbildung und arbeitet neben seiner eigentlichen Tätigkeit zusätzlich in der institutsinternen Akademie zur Weiterbildung der Nachwuchskräfte. Er musiziert in zwei Bands. Mit seiner Partnerin lebt er seit einigen Jahren in einem gemeinsamen Haus. Seit etwas mehr als einem Jahr unterhält er eine weitere Beziehung zu einer Frau. Beide Frauen wissen nicht voneinander.

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Der Vater des Coachee war Vorstandsvorsitzender dieses Instituts der Finanzund Versicherungswirtschaft und in der Zeit der Kindheit des Coachee voll und ganz mit seiner eigenen Karrieregestaltung beschäftigt und so gut wie nie zuhause. Die Rolle der Mutter war es, Hausfrau und Mutter zu sein. In der Familie lief alles nach festgelegten Plänen oder eingespielten Routinen ab, die Herr Yps tief verinnerlicht hatte. Einige der obersten Regeln hießen: »Bringe Leistung und passe dich an.« »Saubere Kinder sind lieb« (… werden geliebt). »Nur brave Kinder machen den Eltern Freude.« »Gehe nicht vom rechten Wege ab«, war nicht explizit dabei, hätte aber gut in diese Reihe gepasst … Herr Yps zeigt sich stark verunsichert. Mangelnden Selbstwert kompensiert er durch übermäßige Anpassung: An die Erfordernisse in zwei Tätigkeitsbereichen; an die Bedürfnisse seiner Frauen, was ihn immer wieder in Konfliktsituationen bringt, da er ja immer nur bei einer sein kann. Oder durch permanentes Beschäftigtsein, z. B. das Musizieren in wiederum zwei Bands. Der Termin von Herrn Yps liegt wie stets am frühen Abend nach seiner Arbeitszeit. Wie immer erscheint er in perfekter Businesskleidung mit Anzug, Hemd, K ­ rawatte. Auf mich wirkt er darin wie eingezwängt. Als ich meine (!) Wahrnehmung, resp. meinen Eindruck von Enge, benenne, sagt Herr Yps dazu, dass er zuhause, in seinem privaten Lebensraum, ganz anders lebe: »Lockere Klamotten, faul, bequem …« Doch dies zeige er niemandem. Allenfalls »in einer Art Realparodie« zeige er sich so, wie er ist, aber immer, indem er den Anschein erweckt, alles sei nur gespielt, in Wirklichkeit sei er ganz anders. Doch zumeist verberge er all seine natürlichen Seiten, indem er sich anpasse, fleißig arbeite, funktioniere. Um in einer Art Selbstironie oder Galgenhumor anzufügen: »Bis ich daran zugrunde gehe, durch Herzinfarkt oder so.« Auf Nachfrage bestätigt er, dass er dieses »Spiel« aufrechterhalten wolle, um jeden Preis, auch um den des eigenen Lebens. Bei diesen Worten kurzzeitig selbst verstummend, benennt Herr Yps eine bisher nicht formulierte Zielsetzung für sein Coaching: »Die Suche meines Wesens, meines Lebens im Schlamm«, während er von seinen deprimierenden Kindheitserfahrungen permanenter Anpassung spricht. Obwohl Herr Yps schnell abwiegeln will, greife ich dies sofort auf und stelle ihm eine große Schüssel mit Wasser sowie einen schweren Klumpen Ton (keramische Masse) hin, die ich aus dem Nebenzimmer hole und fordere ihn auf, Schlamm zu machen, darin zu wühlen und zu suchen. Zunächst sehr langsam und bedächtig steht er auf und zieht sein Sakko aus, knöpft und krempelt sich sorgsam die Hemdärmel auf. Seine wertvoll wirkende Uhr bleibt am Handgelenk. Geräuschvoll stöhnend kniet er sich auf den Boden, vor die Schüssel. Langsam tastet er sich an das Material heran, fragt immer wieder, ob es richtig sei, dass er da nun hineingreifen solle. Ich bestärke und bitte ihn, immer wieder bei der Suche nach seinem Wesen und seinem Leben neu zu beginnen, wenn er das

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Gefühl bekomme, das Experiment irritiere ihn. Und er möge sich gut mit Atemluft versorgen, während er wühle und knete. Nun deutlicher bereitwillig geht Herr Yps darauf ein. Er erzählt von seiner Freude an der Natur, vom Angeln und von seiner »heimlichen« Leidenschaft, dem Kochen. Vom »Ausnehmen von Fischen und Gänsen, vor dem sich andere ekeln – ich aber nicht.« Er sagt, dass Natürlichkeit und Menschenwürde für ihn in einem engen Zusammenhang stehen würden. Ich fordere ihn auf, seine Natürlichkeit zu erspüren und sie in einer Wechselresonanz mit der Natürlichkeit des Tons (stellvertretend für: Kochzutaten, Fische, Innereien etc.) zu erleben. Das fortdauernde Kneten im Ton wird nun ruhiger und gleichzeitig tiefer. Ebenso wie der Atem. Auf die Frage, was er denn nun erfahre und im Schlamm entdecke, antwortet Herr Yps: »Mein Wesen ist wirklich die Natürlichkeit. Sie geht mir so oft verloren. Jetzt habe ich etwas davon wiedergefunden.« Noch nicht unmittelbar nach dieser Sitzung, aber im Laufe der nächsten Monate gewinnt Herr Yps tiefe Klarheit über sich und das Leben, das er wahrhaftig führen, und die Arbeit, die er wirklich tun will. Er kann sich von einer der beiden Frauen trennen, heiratet und wird Vater. In Gesprächen mit seinem Vater, der ihn eigentlich in der Rolle des erfolgreichen Bankers sehen wollte, emanzipiert er sich von der Enge der familiären Vorgaben und befreit seine wahre Berufung: Er entscheidet sich für die Arbeit in der Akademie und taucht ganz in die Rolle als Lehrer für junge Kollegen ein. Nur in den beiden Bands spielt er weiterhin, unterbrochen von einer Babypause, jetzt aber nicht mehr mit den Gefühlen von Zerrissenheit und Terminhetze, sondern mit wachsender Freude und Hingabe. Die Aspekte von Experiment, Erfahrung und existenzieller Bedeutung lassen sich in der Schilderung dieser authentischen Coachingsequenz leicht erschließen. Nicht die Formung eines Gegenstandes aus Ton als ästhetischem Produkt war das Ergebnis dieser Auseinandersetzung. Kreativität und Ästhetik vollzogen sich in ganz eigener Weise in einem Wechselspiel aus Empfindung, Wirkung und Erfahrung (siehe 2.2).

2.7  Kreative Strategien: Biegen, Brechen und Verbinden In ihrem 2018 vorgelegten Buch »Kreativität« beschreibt das aus ganz unterschiedlichen Feldern stammende Autorengespann David Eagleman (Neuro­ wissenschaftler) und Anthony Brandt (Professor für Musik und Komponist) das schöpferische Wesen des Menschseins. Wir Menschen brauchen Vertrautes und Gewohntes. Neben dem, dass es einen sicheren Orientierungsrahmen bietet, erspart es unserem Gehirn einen erhöhten Energieeinsatz, wenn wir uns auskennen. Das ist notwendig, weil

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unsere Körper auf Energie angewiesen sind. Wenn also Vorhersagen unser Handeln optimieren und Vorhersagbarkeit nützlich ist, warum belassen wir es nicht dabei? »Weil keine Überraschung auch nicht gut ist. Je besser wir etwas verstehen, umso weniger Gedanken verschwenden wir darauf. Vertrautheit macht gleichgültig« (Eagleman u. Brandt 2018, S. 27). Der Mensch braucht in existenzieller Weise das Vertraute und das Neue. Eagleman und Brandt beschreiben drei kreative Strategien des menschlichen Hirns: »Biegen«, »Brechen«, »Verbinden«, die sie in zahlreichen Beispielen aus Kunst, Wissenschaft, Technik, Anthropologie etc. illustrieren. Biegen ist die Veränderung eines bestehenden Vorbilds. Aus der Veränderung von Form und Größe, Material und Geschwindigkeit entwickelt diese kreative Strategie eine unendliche Zahl von Möglichkeiten. In der bildenden Kunst geben z. B. die Porträtstudien eines Francis Bacon, in denen die Gesichter wie verdreht und verquirlt dargestellt sind, gute Beispiele dafür. Auch die französische Jugendsprache verlan, in der die Silben vertauscht und verdreht werden (zarbi statt bizarre, garettsi statt cigarette) ist ein gutes Beispiel für das Biegen. Das hier zugrundeliegende Gestaltgesetz der »Transponierbarkeit« sagt beispielsweise, dass eine Melodie in eine andere Tonhöhe übersetzt, ergo »transponiert« werden kann, ohne ihre Gestalt zu verlieren. Die Melodie ist vertraut und doch auf eigentümliche Art anders. Im Coaching geht es also auch darum, das Bekannte und Vertraute in neuer Weise zu erfahren (an dieser Stelle sei auch auf den Beitrag von Werner Pfab zur Improvisation hingewiesen). Der Gestaltansatz bietet einen reichen Fundus an sinnlich erfahrbaren Techniken, die in kreativer Weise der Förderung von Bewusstheit dienen: ȤȤ betont l-a-a-a-n-g-s-a-m sprechen, z. B. um den Gehalt eines Gedankens oder um ein Gefühl zu erforschen, ȤȤ betont schnellllll sprechen, z. B. um die eigene Verantwortlichkeit für die erlebte Hektik zu entdecken, ȤȤ die Lautstärke der Stimme immer weiter herunterregulieren und nur mit Körpersprache, Gesten und Mimik weitersprechen, z. B. um unbewusste Muster im Kommunikationsverhalten aufzuspüren, ȤȤ innere, also imaginative Bilder durch Malen oder Plastizieren in eine materielle Form bringen, um sie kreativ zu bearbeiten etc. »Brechen bedeutet, ein Ganzes – zum Beispiel einen menschlichen Körper – zu zerlegen und aus den Bruchstücken etwas Neues zu schaffen. […] Auf ähnliche Weise zertrümmerten Georges Braque und Pablo Picasso in ihren kubis-

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tischen Gemälden die sichtbare Welt in ein Puzzle aus Winkeln und Perspektiven« (­Eagleman u. Brandt 2018, S. 78 f., Hervorhebung E. B.-S.). Um veränderte (und verändernde) Perspektiven geht es auch im Coaching. Eine unerfüllbare berufliche Vorstellung aufzugeben, ist unter Umständen sehr schmerzhaft. Eine passende Technik in mehreren Schritten könnte beispielsweise sein, zu dieser Idee ein Bild malen zu lassen. Nach einer inhaltlichen Besprechung dieses Bildes geht es in einem weiteren Schritt darum, sich von der bisherigen Vorstellung zu verabschieden. Die anschließende Intervention heißt: »Zerreißen Sie das Bild in 20 bis 30 Teile.« An dieser Stelle lässt sich häufig Widerstand beobachten, denn mit solch einem experimentellen und expe­ rientellen Schritt tauchen unvermittelt existenzielle Komponenten auf. Doch schon der nächste und abschließende Schritt versöhnt und schafft Raum für neue Perspektiven: »Wählen Sie aus den Fragmenten eine passende und nicht zu große Anzahl aus und integrieren Sie diese in ein neues Bild, das, auch in emotional stimmiger Weise, Ihre erreichbaren Ziele repräsentiert.« An dieser Stelle sei auf die Arbeit von Antje Pfab hingewiesen: Übergangsrituale im Coaching: Bedeutung und Einsatzmöglichkeiten (A. Pfab 2018). Verbinden als kreative Strategie ist in diesem Beispiel bereits als Vorgang der Integration enthalten. Das Alte/Bisherige tritt in den Hintergrund und bringt eine neue Figur, eine neue Idee, eine neue Perspektive hervor. Von dem Bisherigen ist noch etwas da, doch es behindert nicht das Neue, sondern unterstützt es. »Beim Verbinden kombiniert das Gehirn zwei oder mehr Dinge auf kreative Weise miteinander. Ein Beispiel sind die mythologischen Mischwesen aus Mensch und Tier, die in vielen Kulturen der Welt entstanden« (Eagleman u. Brandt 2018, S. 93). Coachingtechniken, die dem entsprechen, können beispielsweise sein: ȤȤ Bilder, die die Gruppen-, resp. Teammitglieder gemeinsam anfertigen, ȤȤ Konfliktgespräche, in denen die Kontrahentinnen durch die Übernahme der Perspektive der anderen Verständnis füreinander und mentale wie inhaltliche Annäherung zueinander entwickeln etc.

3  Regression – Progression: Erlaubnis zum Spielen Das, was diese Autoren beschreiben, kennen wir alle. Wir brauchen Neues, aber nicht zu viel und nicht zu viel auf einmal. Vertrautes Wiedererkennen und Überraschung zugleich: eine Freundin oder einen Freund wiederzutreffen, sie sofort zu erkennen, am Gang, an den Bewegungen oder der Mimik, und doch überrascht oder auch positiv verstört zu sein, dass sie sich verändert hat: ihre Frisur, ihr Stil oder ihre Themen.

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SLOGAN 6 Bleibt alles anders!  … heißt es bei Herbert Grönemeyer (gleichnamiges Album von 1998). Als »fremde Vertrautheit« bezeichnete der Apple-Designer Jonathan Ive das Gefühl, das er herstellen wollte, als er der ersten Apple Watch einen technisch nicht notwendigen Drehknopf konstruierte, der dem Aufzugrad analoger Armbanduhren ähnelte, aber etwas versetzt angebracht war. In der gewohnten Position wäre die Apple Watch nicht als etwas völlig Neues erkannt worden. Ohne Knopf hätte sie gar nicht mehr wie eine Uhr ausgesehen (Eagleman u. Brandt 2018, S. 30). Doch natürlich sind nicht nur die Gehirne der in diesem Fall potenziellen Kunden auf die Verbindung von Bewährtem und Neuen ausgerichtet. Auch die kreativen Köpfe, die diese Entwicklungen hervorbringen, bauen auf Altem auf und verändern es in ihrer eigenen Weise. In der Kreativität vernetzen sich die Gehirne der Menschen: über die Generationen hinweg und innerhalb der jeweils aktuell lebenden Menschheit. Kreativität ist individuell und sie ist ein soziales Phänomen. Ein von Eagleman und Brandt sehr plastisch geschildertes Phänomen betrifft die Kunstwelt im Paris des 19. Jahrhunderts: Die Kunstakademie setzt die Maßstäbe für die bildenden Künste und veranstaltet alle zwei Jahre den Salon de Paris, die wichtigste Institution für Künstler, um das eigene Werk erfolgreich zu präsentieren. »Wer hier ausgestellt [wird, dem öffnen] sich die Türen zu Ruhm und Reichtum« (2018, S. 134). Doch die Jury ist elitär und wählerisch und in überholten Strukturen verkrustet. 1863 wird neben tausenden anderen Gemälden und Objekten auch Eduard Manets »Frühstück im Grünen« abgelehnt. Die Kommission zeigt sich angesichts der mit, wie sie findet, rohen Pinselstrichen dargestellten Sexualität empört. In all den Jahren zuvor war damit das Urteil gesprochen. In diesem Jahr aber trifft es zu viele Künstler und ihr Protest bewegt Napoleon III., die Einrichtung eines Salon des Refusés zu veranlassen, eine Ausstellung der Abgelehnten. Tausende staunende Besucher stehen bis heute für die Zerstörung der Tradition und die schöpferische Erneuerung der bildenden Kunst. Manets »Frühstück im Grünen« ist heute eines der berühmtesten und bedeutendsten Gemälde der Welt (S. 134 f.). Der kreative Pool der Gesellschaft (nicht nur der der Künstler!) wurde tiefer und weiter und füllte sich merklich. Aus ihm schöpfen Kunst und Gesellschaft bis heute, selbstverständlich immer auch in der Erneuerung des Pools selbst begriffen. Es braucht Mut, innere Überzeugung und starke Impulse, um den

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oftmals beschwerlichen Wegen der Kreativität zu folgen. Oder auch Gelassenheit und Zuversicht: Wenn Paul Goodman nach einer Handlungsmöglichkeit gefragt wurde, war einer seiner Lieblingssprüche. »Wir könnten das versuchen« (Fischman Slemenson 1997, zit. nach Fuhr 1999, S. 435). SLOGAN 7 Wir könnten das versuchen!

Fallbeispiel Coaching 2 – erster Teil Im Coaching mit einem interdisziplinären Team (mit Mitarbeitern aus Pflege, Medizin, Psychiatrie, Psychotherapie, Pädagogik) im Feld der klinisch-sozialpsychiatrischen Versorgung fielen mir Phänomene auf, für die ich auf der personalen Ebene des Teams, wie auch auf der Ebene der Teamstruktur, mittels mir vertrauter Modelle des Gestaltansatzes Erklärungen und Hypothesen finden konnte. Auffällig wurden mir die Kontaktmodifikationen (siehe Abbildung 2, S. 105), mit denen die Mitarbeiterinnen operierten, wenn sie sich mit den unterschiedlichen Interessen innerhalb des Teams, den Erwartungen der Leitung oder den Bedürfnissen ihrer Klientel konfrontiert sahen. In Situationen, in denen deutliche Zielkonflikte auftraten, nahm ich wahr, dass die Mitarbeiterinnen den Kontakt zu realistischen eigenen Möglichkeiten in ganz unterschiedlicher Weise verloren zu haben schienen. Die einen tendierten dabei offensichtlich in Richtung zu starker Anpassung. Einzelne Mitarbeiterinnen sagten mit gesenkter Stimme, dass doch alles in Ordnung sei und es doch vielleicht besser wäre, wenn alles so bliebe, wie es ist – um sie gehe es ja schließlich nicht (Konfluenz). Andere beugten sich wiederum allen Vorgaben der Leitung – »Der Chef ist nun mal der Chef« (Introjektion). Eine andere Gruppe fantasierte darüber, dass der Leiter schon wisse, wie sie aus der misslichen Lage herauskämen (Projektion). Oder, die Enttäuschten, suchten eine neue Person, die an Stelle des Leiters die Lösung hätte: der Coach. Andere wiederum zeigten deutlichere und teils überzogene Abgrenzungstendenzen. Einzelne, die zu Beginn locker kommunizierten, wurden regelrecht stumm (Retroflektion). Andere waren zunehmend damit beschäftigt, Informationen zu sammeln, ohne ihrerseits welche herzugeben (Egotismus), während weitere Mitarbeiterinnen vor allem Scherze machten, Phrasen von sich gaben oder in sich hinlächelten (Deflektion). Und es gab auch Teammitglieder, die Verhaltensweisen im Sinne eines Flüchtens, Sich-tot-Stellens oder auch Kämpfens zeigten (Reaktivität), indem sie, geleitet von vordergründigen Bedürfnissen, beispielsweise mitten in der Bearbeitung hinausliefen. Manche wechselten zwischen den Modi.

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Die unterschiedliche Tönung der Felder unter Pol A und Pol B (siehe Abbildung 2) steht für das betonte Erleben und Verhalten im jeweiligen Kontaktmodus. Während sich die ersten drei Funktionen also auf den Pol der Zugehörigkeit beziehen, kehrt sich mit der Retroflektion die Dominanz der Pole um, und die Betonung des Verhaltens betrifft die Abgrenzung und Eigenständigkeit. Die ungetönten Felder skizzieren das jeweils geringer betonte Erleben und Verhalten. Meine persönlichen Eindrücke (auch im Sinne einer Gegenübertragung) waren zunächst immer körperlich-emotional gefärbt. Sie variierten von Enge, Starre, Schwere bis zum Durchatmen und Ärmel-Hochkrempeln. Auf der Ebene der Organisation tat ich mich deutlich schwerer, die Dynamik zu verstehen, die sich in diffusem Beziehungsgeschehen, Strukturverletzungen und teils offenen, teils verdeckten Aggressionen ausdrückte.

»Organisation ist ein vielschichtiger Begriff. Zum einen beschreibt er den Prozess des Organisierens, zum anderen das Ergebnis dieses Prozesses, die Organisation als Institution. Hierin wird auch die Widersprüchlichkeit deutlich, die alle Organisation auf die Dauer auszeichnet: Organisation ist, mit Max Weber gesprochen, zweckrationales Handeln, der rationale Einsatz von Mitteln zum Erreichen eines vorgegebenen Zieles. Andererseits zeichnet sich Organisation durch Strukturen aus, die Prozesse in immer gleicher Form ablaufen zu lassen« (Boeckh 2008, S. 48 f.). Diese Automatisierung resp. Institutionalisierung schafft die notwendigen Freiräume, um funktional agieren oder sich auf das konzentrieren zu können, was man gemeinsam erreichen will. Zu starre Automatismen wirken allerdings dysfunktional. Das verweist auf die Notwendigkeit, dass die Organisation die Angemessenheit ihrer Strukturen regelmäßig überprüft. Lewin/ Schein haben dies mit dem Drei-Schritt »freezing – unfreezing – refreezing« beschrieben. Die Organisation braucht feste Strukturen für ihre Funktionalität ebenso wie das regelmäßige Auftauen und Anpassen an veränderte Gegebenheiten (Wirth 2004, S. 1). In meiner Arbeit in den erwähnten Organisationen der sozialpsychiatrischen Versorgung sind solche Strukturmodelle zum Verständnis ihres Aufbaus hilfreich. Ebenso das Organisation-Umwelt-Modell, das die Organisation in ihren komplexen Abläufen erklärt und sie in einen systemischen Zusammenhang stellt. Darüber hinaus empfinde ich das Konfliktmodell von Organisation besonders hilfreich. »Nach dessen Lesart stellen Organisationen das Ergebnis der Interaktion nur teilweise kompatibler, teils auch widersprüchlicher Interessen und Zielsetzungen von Personen und Gruppen dar« (Boeckh 2008, S. 53). Mir scheint es

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Pol A

Pol B

Zugehörigkeit Abhängigkeit

Eigenständigkeit Autonomie

Verschmelzen, Festhalten am Gewohnten

KONFLUENZ

Widerstand, Abgrenzung, Differenzierung

Übernahme von Konventionen und Fremdem

INTROJEKTION

Abwehr von ungeprüfter Beeinflussung

Fantasie, Vorstellung

PROJEKTION

Zurückhaltung, Nüchternheit, Sachlichkeit

Spontaneität, Kontrollaufgabe

RETROFLEKTION

Zurückwendung, Erstarren

Hingabe, Eingehen von Risiken

EGOTISMUS

Selbstbeobachtung, Umsicht, Distanzierung

Konzentrieren, Fokussieren, Verharren

DEFLEKTION

Indirektheit, Ablenkung

Dableiben, Verhandeln

REAKTIVITÄT

Kämpfen, Flüchten, Sichtot-Stellen

Abbildung 2: Kontaktmodifikationen (mittlere Spalte) und ihre Pole des Erlebens und Verhaltens (nach Gremmler-Fuhr 1999, S. 373)

außerordentlich hilfreich, diese Konflikte anzuerkennen und dennoch in Interaktion zu gehen, ganz im Sinne eines Wir könnten das versuchen! Die im Fallbeispiel »Coaching 2« (S. 103 f.) dargestellte Organisation der sozialpsychiatrischen Versorgung weist eine Vielzahl von Zielen auf, deren Gegensätze sofort auffällig sind, deren Vereinbarkeit jedoch eine (oft mühsame) Arbeitsleistung aller Beteiligten darstellt:

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a. das Coachingteam betreffend 1. medizinische und therapeutische Maßnahmen, 2. Persönlichkeitsentwicklung, 3. Vermittlung fachspezifischer Kenntnisse, 4. Förderung und Stabilisierung der instrumentalen Fähigkeiten, 5. Förderung von Arbeitsverhalten, Sozialverhalten und Sozioemotionalität; b. die Organisation betreffend 1. Wirtschaftlichkeit, 2. Erhalt und Ausbau der immobilen Struktur, 3. Personalführung, 4. Arbeitsplatzerhalt, 5. Kontakte: Pflege der Dienstgemeinschaft (innen) und Kooperationen (außen). c. Konzept und Werte 1. Weiterentwicklung des Konzepts und Anpassung an z. B. die sozialpolitischen und die wirtschaftlichen Entwicklungen, 2. Pflege der humanitären Werte, 3. Qualitätsmanagement, 4. Zertifizierungsverfahren etc. Im Kontrollcoaching reflektierte ich diese Phänomene anhand der Prozesse von Regression und Regressionsdruck. Bald wurde deutlich, wie komplex das Beziehungsgeschehen in Organisationen aufgebaut und wie störanfällig es ist, gerade im psychiatrischen Feld. 3.1  Der Regression entwachsen Das Neue ist nicht immer das Selbstverständliche, auch wenn das Neue, wie bereits ausgeführt, eigentlich das Natürliche ist. Der österreichische Ökonom und Konfliktforscher Friedrich Glasl (2007) beschreibt vier grundsätzliche Entscheidungsrichtungen in der Krisensituation: Richtung 1: Danach können wir die Anforderungen, die sich uns stellen, als bereits bekannt verstehen. Unsere Antwort auf eine altbekannte Frage­stellung kann dabei in zwei Richtungen gehen: Antwort A: Wir können routiniert auf Bewährtes zurückgreifen. Dann ist die Lösung konservativ. Eine solche Haltung hieße: »Das ist nichts Neues, das haben wir schon öfters gehabt. Damit sind wir in der Vergangenheit immer fertig geworden.«

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Antwort B: Wir können, trotz offensichtlich wenig Neuem in der Anforderung, dennoch eine für uns neue, somit kreative Lösung anstreben. Dieses Verhalten ist dann innovativ. Die Haltung dazu: »Es wäre doch spannend, einmal anders mit dieser Frage umzugehen und daraus zu lernen.« Richtung 2: Andersherum erleben wir manche Anforderungen oder Fragestellungen als neu. Antwort A: Auch dann können wir mit altbewährten Antworten aufwarten und die Erregungsangst vermeiden, die immer auftaucht, wenn wir Neuem begegnen. Dieser Lösungsansatz ist regressiv und bedeutet für die persönliche (oder institutionelle) Entwicklung ein Verharren, während die Entwicklungen in der Welt, am Markt oder in der spezifischen Fachlandschaft dynamisch ist. Diese Haltung entspricht einem: »Bloß nichts falsch machen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.« Antwort B: Unbekannte Probleme können wir auch als reizvolle Herausforderung annehmen, sodass wir von vornherein Neuland betreten und beschreiten. Diese Haltung enthält das Potenzial für Fortschritt, sie ist progressiv. Die passende Haltung ist: »Auf diese Gelegenheit haben wir gewartet, uns ganz neu auszuprobieren!« Antworten/Lösungen können sein:

Mögliche Fragen, Probleme und Herausforderungen können sein:

… alt/bekannt Antwort A

… neu/unbekannt Antwort B

… alt/bekannt Richtung 1

konservativ: Routine

innovativ: Kreativität

… neu/unbekannt Richtung 2

regressiv: Schutz, Verharren, Rückschritt

progressiv: Fortschritt, Neuland

Abbildung 3: Vier Entscheidungsrichtungen in der Krisensituation (nach Glasl 2007, S. 73)

Dass die Abwehr von Neuem Angst als Ursache haben kann, scheint einleuchtend. Etwas zu tun, das ich noch nie getan habe, z. B. von einem Ein-, Dreioder Fünfmeterbrett ins Wasser zu springen, freihändig Fahrrad zu fahren, eine Liebes­erklärung oder einen Heiratsantrag zu machen oder eine Gehalts­ erhöhung zu verlangen, all das mag in je individueller Weise mit Erregungsängsten verknüpft sein. Eine Angst, bei der in sehr rascher Folge psychophysiologische Impulse von Drängen und Halten abwechseln. Oder aus emotionaler

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Sicht: Impulse von Größenselbst und Selbstwertkrise, je nach Person und Situation mehr oder weniger intensiv. Dies betrifft den Zwischenschritt von Schritt vier zu Schritt fünf im Bewusstheitsrad (siehe 2.5). Ängste tauchen auch auf, wenn die Anforderungen fremd- und nicht selbstbestimmt sind und zu groß erscheinen. Der Erfüllungszweck liegt hier mehr in einer Art Gehorsam gegenüber dem Auftraggeber als in der erlebten Erfüllung, eine besondere Aufgabe in besonderer und eigener Weise gelöst zu haben. Hinter diesen, oft subtilen, regressiven Mustern liegen häufig gelernte, also sozialisierte Unsicherheiten und Gewohnheiten. Wenn man also Kreativität als Ziel anstrebt, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass das methodische Instrumentarium zur Stimulation des Schöpferischen recht leicht zu vermitteln ist. Der deutlich anspruchsvollere, aber tiefere und auch nachhaltigere Schritt ist, neben der kognitiv-handwerklichen Dimension, vor allem der, emotionale Blockaden und soziale Normen zu verändern, zu biegen, zu brechen, neu zu verbinden. Anders als in der Psychoanalyse, in der mit Regression ein psychischer Abwehrmechanismus gemeint ist, der der Angstbewältigung dient, gibt es innerhalb des Gestaltansatzes keine durchgängige Auseinandersetzung mit dem Regressionsbegriff. Im Lexikon der Gestalttherapie fehlt das Stichwort ebenso vollständig wie in den Sachwortregistern der überwiegenden Literatur. Dabei hat Fritz Perls durchaus etwas dazu zu sagen gehabt, das auch heute noch außerordentlich hilfreich erscheint. Laut F. Perls fällt ein Mensch nicht auf ein früheres Stadium seiner Entwicklung zurück, sondern offenbart nur eine andere Seite seiner Persönlichkeit. »Regression bedeutet ein Sichzurückziehen in eine Position, in der man für sich selbst sorgen kann, in der man sich sicher und geborgen fühlt« (Perls 1974, S 68). Dieser Gedanke mutet nicht nur tröstlich an, sondern erscheint auch hilfreich für Coaching und Supervision mit Personen und Organisationen. Einerseits verweist er darauf, dass die Person Ressourcen zum Selbsterhalt und Schutz besitzt, auch wenn dies nicht die erwünschte dauerhafte Perspektive ist. Andererseits zeigt dieser Gedanke, dass Organisationen möglicherweise zu wenig die einzelnen Mitarbeiterinnen im Blick haben, sodass sich Einzelne von ihnen oder ganze Gruppen in ihre Schutzräume zurückziehen müssen, anstatt mutig, selbstbewusst und im Vertrauen auf Zustimmung und support ihre komplexen Aufgaben angehen. Das wiederum kann ein guter Ansatz sein, um kreativitätsfördernd in Organisationen zu coachen: Der Einzelne muss gesehen werden und sich gesehen fühlen. Die Person muss sich als die erkannt fühlen, die sie ist. Und darauf kann die Anerkennung des Einzelnen aufbauen. Schon F. Perls weist einen Weg in Richtung Konfliktklärung, die in Teams und Organisationen immer wieder geübt werden muss. »Regression ist kein neuro-

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tisches Symptom, wie Freud meinte. […] Rückzug und Regression bedeuten, eine Position einzunehmen, von der aus wir in der Lage sind, uns auseinanderzusetzen, in der wir die notwendige Unterstützung bekommen oder die es uns ermöglicht, eine wichtige unerledigte Situation zu klären« (Perls 1980b, S. 133). Ausgehend von den Arbeiten Sigmund Freuds bezieht sich der Psychoanalytiker Otto Kernberg (2000) in seinen Ausführungen zur Regression auf die Forschungen von Wilfred R. Bion zu unstrukturierten Gruppen. Zwar haben wir es im institutionellen Coaching in aller Regel mit Teams oder Gruppen zu tun, die in irgendeiner Weise strukturiert sind, dennoch finden sich diese Phänomene auch dann, wenn die Strukturen oder Abläufe nicht in stimmiger Weise organisiert sind oder ein Update lange überfällig ist. Kernberg beschreibt die Folgen als: 1. Abhängigkeit. Die Mitglieder idealisieren die Leiterin und warten auf ihre Lösungen und negieren eigene Potenziale. Bezug zum Kontaktmodell (siehe Abbildung 2, S. 105): Die Kontaktmodi, die dem Streben nach Abhängigkeit und Zugehörigkeit dienen, werden betont – also Konfluenz, Introjektion und Projektion. 2. Kampf-Flucht-Verhalten. Die Gruppe spaltet sich in Untergruppen, die miteinander konkurrieren, oder sie kämpft gegen vermeintliche Gegner außerhalb. Bezug zum Kontaktmodell: Das Streben zum Pol der Abgrenzung tritt deutlich hervor: Reaktivität nach außen ebenso wie Retroflektion in Form von Aggressionen gegenüber internen Untergruppen. 3. Die Mangelpräsenz der Leiterin kompensierend, idealisiert die Gruppe Mitglieder aus ihren Reihen und projiziert die rettenden Zukunftsfantasien auf sie. Bezug zum Kontaktmodell: Die Projektion der Lebenssehnsüchte auf Teile der eigenen Gruppe weist auf ein entwicklungshemmendes Element hin, das sich ergibt, wenn das Feld ausgeblendet wird. Die Gruppe will ihren Fortbestand gewissermaßen autopoietisch (aus sich selbst heraus) sichern (Retroflektion, Egotismus), indem sie das Feld ausblendet. Fallbeispiel Coaching 2, zweiter Teil Die zwölfköpfige interdisziplinäre Gruppe der sozialpsychiatrischen Organisation hatte sich über einige Zeit immer wieder als ohnmächtig gegenüber einem Gegner präsentiert, den ich zunächst nicht recht begreifen konnte. Er wirkte eigentümlich abstrakt und war mit diffusen Eigenschaften belegt: –– politischer Wille, der keine Ahnung vom Alltag hat, –– Zertifizierungsvorgaben, die kein Mensch versteht, –– angespannte Wirtschaftslage, –– schlechte Zeit für neue Ideen etc.

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Nach einiger Bearbeitung näherten wir uns einem greifbaren Ansatz. So war es zwischen der Koordinatorin für die Dienste (Sozialer Dienst, Medizin, Therapie, Werkstatt) und dem für die Beschaffung neuer Werkaufträge verantwortlichen Akquisiteur zu einem Konflikt darüber gekommen, wie die Patientinnen in besonderen Situationen eingesetzt werden sollen. Die Koordinatorin, eine Sympathieträgerin im Team, setzte sich entschieden dafür ein, dass die Patientinnen entsprechend ihren individuellen Entwicklungs- resp. Teilhabeplänen Sport-, Koch-, Theater- oder Musikgruppen besuchen sollten, für die sie angemeldet waren. Dagegen erwartete der Akquisiteur, ein altgedienter Mitarbeiter mit gutem Standing in der Organisation, dass unter besonderen Umständen diese Patientinnen auf die Wahrnehmung dieser Angebote verzichten sollten, um Aufträge abzuarbeiten, von deren Erfüllung der Erhalt von Folgeaufträgen abhängen würde. Diese Vorgänge waren derart polarisierend, dass sie das Team zu spalten drohten. Die Erwartung an den Gesamtleiter, dass er hier einigend eingreifen und der Gruppe diesen inneren Kampf ersparen würde  – eine Erwartung der Kampf-Flucht-Grundannahme –, war im Erleben der Mitarbeiterinnen bisher enttäuscht worden. Meine Aufgabe sah ich zunächst darin, der Gruppe zu verdeutlichen, dass sie selbst Verantwortung übernehmen kann, nämlich im Verhandeln der unterschiedlichen Positionen und der Ausrichtung auf das gemeinsame sinnstiftende Ziel. Ich brachte meine Ankerstein-Baukästen zum Einsatz. Dies sind Bausteine aus natürlichen Materialien, bestehend aus Kreide, Quarzsand, Farbpigmenten und Leinöl. Ich verwende diese Steine, weil sie eine angenehme und auffordernde Haptik, Optik, Farbe, Form und Struktur aufweisen. Weil sie nicht so leicht wie die meisten Holzbausteine sind, eignen sie sich hervorragend zum Bau von komplexeren Gebilden. Und genau darin lag die Aufforderung: »Bauen, legen und stellen Sie mithilfe dieser Bausteine Ihre Aufgabenbereiche innerhalb der Organisation. Achten Sie darauf, dass Sie mit Ihren Bedürfnissen, Ihren Anforderungen, Ihren Werten, Ihren Zielen und Ihren Perspektiven darin vorkommen. Achten Sie darauf, genug Raum zu bekommen. Verhandeln Sie über das zur Verfügung stehende Material. Sprechen Sie miteinander und hören Sie einander zu.« Die gesamte Gruppe ließ sich auf dieses Experiment ein und betrat im wahrsten Sinne des Wortes neuen Boden, indem es sich auf den Boden hinab begab, um gemeinsam zu bauen. Natürlich kann man dieses Tool auch an einem Tisch anwenden, denn kritisch könnte man jetzt anmerken, ob diese kreative Form der Bearbeitung nicht auch regressionsfördernd sei, wenn man Kindern gleich mit Bausteinen auf dem Fußboden spielt. Ich hielt es an dieser Stelle lieber mit dem Autor Stefan Hermanns, der sich mit der Wirkung von Kunst im Coaching befasst (2001):

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SLOGAN 8 Runter vom Sofa! Über eine Zeit von etwa 30 Minuten agierte die Gruppe mit den Steinen und kommunizierte untereinander auf eine zugleich lebhafte und ernsthafte Weise: Die Teilnehmerinnen verhandelten über Platz und Material, beteiligten sich wechselseitig an ihren Ideen und Vorstellungen, inspirierten sich untereinander, wiesen sich auf Ungereimtheiten hin, organisierten sich neu … Die beiden Kontrahenten der Gruppe konnten schrittweise ihre Gegnerschaft aufgeben und sich mittels der dreidimensionalen Gestalt des entstehenden Gebildes für ihre unterschiedlichen Perspektiven interessieren. Statt als (lautstark) widersprüchlich konnten sie sich als komplementär innerhalb einer gemeinsamen Zielsetzung erleben und sich wechselseitig anerkennen. Hilfreich war zunächst ein interpersonaler Aspekt, nämlich der, dass sie erkennen konnten, spezifische Anteile eines größeren Ganzen zu verkörpern. Zugleich konnten sie aber auch die Entdeckung machen, dass ihre interpersonale Gegensätzlichkeit auch eine intrapersonale Entsprechung hatte: Indem der Akquisiteur bemerkte, dass auch er gern mehr Zeit für die arbeitsbegleitenden Angebote hätte, sich dies unter dem Druck aber nicht zugestehen konnte. Außerdem erkannte die Koordinatorin, dass der Umgang mit Finanzen und Wirtschaftlichkeit für sie persönlich seit jeher ein rotes Tuch war. Als die Gruppe, die diesen Prozess der kreativen Perspektivenübernahme engagiert unterstützte, einen positiven Verlauf wahrnehmen konnte, kamen aus ihrem Kreis viele zusätzliche kreative Ideen und Angebote. Schließlich war ein Gebilde aus etwa dreihundert Steinen entstanden, das sich über etwa zwei Quadratmeter im Raum erstreckte: ein Bauwerk komplexer Struktur und eigentümlicher Schönheit, ein ästhetisches Produkt, an dem alle mit ihren Sinnen beteiligt waren. Doch die Ästhetik zeigte sich nicht allein in dem Gebilde aus Bausteinen (was im Übrigen spontan noch mithilfe von Buntstiften, Blumen aus Taschentüchern, Knöpfen etc. ausgeschmückt wurde.) Der Prozess selbst, das Zwischen den Menschen war die Ästhetik: Für einige Augenblicke war jeder ganz in seiner Wahrnehmung von sich und den anderen versunken. Jeder spürte sich in seinem Körper, so auf dem Boden hockend, immer wieder aufstehend, das Ganze aus der Höhe betrachtend, sich wieder hinabbeugend … Jeder sah das Gebilde wachsen und sich verändern. Jeder sah und hörte die anderen und kommunizierte mit ihnen, bis schließlich alle zur Ruhe kamen. Im Laufe der Monate, die ich noch als Coach in dieser Organisation agierte, befreite sich das Team mehr und mehr von eingeschliffenen Mustern und Gewohn-

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heiten. Zwar gab es immer wieder teils sehr kontroverse Sichtweisen zu auftauchenden Problemstellungen, doch die Art und Weise, wie darüber verhandelt und nach Lösungen gesucht wurde, veränderte sich merklich. Etwas von den kreativen Prozessen, die wir in dieser oder ähnlicher Weise über mehr als zwei Jahre in den gemeinsamen Gruppencoachings gestalteten, schien in die DNA der Organisation eingesickert zu sein. Oder anders gesagt: Jede und jeder konnte den kreativen Pool der Organisation in jeweils eigener Weise bereichern und jede und jeder konnte in eigener Weise aus ihm schöpfen.

3.2  Regressionsdruck in der Organisation Fallbeispiel Coaching 2 – dritter Teil: Nachbetrachtungen Im Coaching mit dem eben beschriebenen Team der psychiatrischen Versorgung war ich zu Beginn immer wieder mit dem Phänomen von Strukturverletzungen konfrontiert. Das Team war kaum einmal zur vereinbarten Sitzungszeit versammelt. Immer wieder kamen Nachzügler und störten den Ablauf. Einzelne andere verließen den Raum in einer Weise, die einen notwendigen Toilettengang vermuten ließ. Tatsächlich hörte man sie dann draußen vor der Tür telefonieren. In der Thematisierung dieses Verhaltens stieß ich stets lediglich auf Vorwände. Auch wurde mir davon berichtet, dass es in den Dienstbesprechungen genauso sei. Das gehöre eben dazu, das sei in dieser Einrichtung wohl einfach so. Einerseits war dies natürlich nicht akzeptabel. Andererseits schienen mir diese Verhaltensweisen irgendwie automatisiert, sodass ich eine tiefere Dynamik dahinter vermutete.

Wieder bei Kernberg finden sich Erklärungen: »Die Eigenart der in psychiatrischen Institutionen durchgeführten Aufgaben, besonders bei Institutionen, in denen stark regredierte Persönlichkeiten behandelt werden, übt ebenfalls einen starken Einfluß auf diese Gruppenprozesse aus. Ich meine damit die Reproduktion der pathologischen Innenwelt von Objektbeziehungen, die durch Border­ line- und psychotische Patienten in den Gruppenprozessen ausgelöst wird, welche das Personal und die Patienten in jeder Versorgungseinheit, Station oder Abteilung betreffen. […] Man könnte sagen, daß die Art des ›Produkts‹, mit dem es die psychiatrischen Institutionen zu tun haben – primitive, tiefreichende menschliche Konflikte – das Funktionieren solcher Institutionen stark beeinflußt« (Kernberg 1997, S. 269 f.). Der Umgang mit Strukturen ist für Patienten sozialpsychiatrischer Organisationen besonders fordernd. Fehlen ohne Abmeldung, Aussetzen von Medikationen, plötzliches Negieren der Kenntnis von Tagesabläufen sind alltägliche Abläufe. In den Teams, die sich um diese Patienten kümmern, und in

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der gesamten Organisationsstruktur entstehen Abbildungen der psychischen Struktur der Patienten und demzufolge auch eine Abbildung ihrer Strukturverletzungen. Werden dem Personal und der Organisation als Ganzem diese Prozesse nicht bewusst, reagieren die Mitarbeiter wie die Leiter lediglich auf die Strukturverletzungen, die sie aneinander bemerken. Die Mitarbeiter verhalten sich in ihren internen Beziehungen, in ihren Beziehungen zur Organisation und in Beziehung zur Leiterin entsprechend der beschriebenen Modi Abhängigkeit, Kampf und Flucht sowie Idealisierung eines Teils ihrer selbst. Die daraus erwachsenden Konflikte führen bei Nichtbearbeitung zur Etablierung regressiver Prozesse. SLOGAN 9 Fürchte Fehler nicht, es gibt keine! Diese Miles Davis zugeschriebenen Worte kennzeichnen noch einmal die offene Haltung eines kreativitätsnutzenden und erlebnisorientierten Coachings.

4  Ästhetik einer Emanzipation Fallbeispiel Coaching 3 Der Coachee im hier folgenden und letzten Fallbeispiel, Frau Icks, ist Mitarbeiterin einer Organisation der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung und darüber hinaus Absolventin eines Curriculums Supervision und Coaching. Ihr Chef war mit der Frage an sie herangetreten, ob sie die Moderation einer Sitzung übernehmen wolle, in der die Vertreter der regionalen sozialpsychia­trischen Versorgungseinrichtungen über ein neues und bislang strittiges Konzept beraten und abstimmen wollen. Sie hatte zugesagt, da sie die Gelegenheit nutzen wollte, sich am Markt zu präsentieren und ihre Erfahrungen in diesem Bereich zu vertiefen, nachdem sie bereits eine organisationsinterne Moderation erfolgreich gestaltet hatte. Doch nun, wenige Tage vor dieser Sitzung, beschlich sie »ein mulmiges Gefühl«. Ihr Coaching wollte sie nutzen, um für diese Aufgabe innerlich frei zu werden. Durch unser einleitendes Gespräch wurde Frau Icks klar, dass sie durch die Anfrage ihres Chefs aus der Gruppe der Kollegen herausgehoben wurde. Das sei »noch immer etwas schwierig«, obwohl sie die betreffenden Aspekte ihrer Biografie schon öfters bearbeitet hätte, beispielsweise, die mütterliche Anforderung, sich selbst nicht wichtig nehmen zu sollen. Doch dies hänge zudem mit etwas anderem zusammen, das ihr mehr zu schaffen mache. Durch die Tatsache, dass da lauter

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Ärzte und Ärztinnen nebst anderen Fachspezialisten säßen, fühle sie sich eingeschüchtert. Auch da klängen ihr die mahnenden Worte der Mutter im Ohr, »dass man vor den Göttern in Weiß viel Respekt« haben müsse. Auch in der nun folgenden Aktionsphase bleiben wir im Dialog. Auf meine Frage, welchen Aspekt der bevorstehenden Begegnung mit den Ärzten sie jetzt anschauen wolle, benennt Frau Icks zuerst den, dass sie sich klein fühle. »Klein wie ein Kind?«, frage ich. »Wie am Boden kauernd.« »Möchten Sie das jetzt einmal ausprobieren?« Sie hockt sich nahe an den Boden: »Ich fühle mich wie ein Kind, das hinter einem Lattenzaun hockt und vorsichtig hindurchschaut, was da vor sich geht.« Und weiter: »Ich weiß gar nicht, wie ich da herauskommen soll. Mit so einem Gefühl von Unterlegenheit kann ich ja unmöglich diese Moderation gestalten. Irgendwie ist gerade das alles diffus.« »Diffus … Was wäre denn jetzt gut für Sie?« »Am besten wäre es, wenn jeder einzeln hier wäre. Nicht diese anonyme Gruppe.« Ich schlage ihr daraufhin eine Inszenierung vor, in der wir einen Kreis aus Stühlen und Hockern in der ungefähren Größe der zu erwartenden Zahl der Personen dieses Meetings aufstellen: Eine Als-ob-Aktualisierung der zukünftigen Situation im Hier und Jetzt. »Ja, jetzt ist das mit dem Zaun ganz real.« Unwillkürlich hockt sie sich hin. Ich bitte sie, in dem Bild zu bleiben, es in Ruhe zu erkunden und zu schildern, was sie erlebt. »Da habe ich erstmal Schutz. Man kann mich nicht so gut sehen, und an mich kommt niemand heran. Aber ich kann alle sehen und aufpassen, dass mir niemand zu nahe kommt.« »Und verändert das etwas in ihren Gefühlen zu dieser Moderation?« »Ja, da ist ein Gefühl von Schutz und Sicherheit. Das hat damit zu tun, alle sehen zu können.« »Das ist gut. Stellen Sie sich vor, Sie können diese Gefühle und Bilder mitnehmen, wohin Sie wollen, also auch in dieses Meeting. Wie sehen Ihre Bewegungen dann aus?« Frau Icks richtet sich langsam auf, schaut sich mit klarem Blick um und sucht sich einen Stuhl, der ihr gute Lichtverhältnisse und einen guten Überblick bietet. »Ich sehe jetzt klar. Ich habe hier eine zeitlich und inhaltlich begrenzte Aufgabe. Dazu brauche ich einen passenden Platz. Ich will denen auf Augenhöhe begegnen. Dazu muss ich gar nicht so herausgehoben sein, dass es mir peinlich wäre. Und ich spüre, dass ich mich abgrenzen kann, wenn die Erwartungen an mich unrealistisch werden.« Sie sucht sich einen Platz im Stuhlkreis und setzt sich.

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»Wie geht es Ihnen mit den Ärzten hier im Raum?« »Jetzt kann ich erkennen, dass im Augenblick sie diejenigen sind, die Unterstützung brauchen. Die sind tatsächlich keine Götter in Weiß.« Und mit einem Lächeln sagt Frau Icks: »Menschen, die Menschen brauchen. Wie ich gerade auch.« Die Coachee wirkt jetzt sehr ruhig und sicher. Mit einem klaren Blick schaut sie sich um. »Und die Anforderungen Ihrer Mutter?« »Ja, das ist gut, dass ich bemerke, dass die noch da sind. Um die werde ich mich ein anderes Mal kümmern.« »Und wie geht es Ihnen jetzt mit Ihren Kolleginnen und Kollegen?« »Wenn ich jetzt hier so sitze, kann ich es gut finden, dass der Chef mich gefragt hat. Ich nehme den Kollegen ja nichts weg. Wissen Sie was? Ich freue mich jetzt auf die Moderation.« Die Coachee hat aus dem Verwirrspiel von Projektion (Götter in Weiß; die können alles; ich kann nichts) und Retroflektion/Regression (erstarrt hinterm Zaun hocken) herausgefunden. Das Coaching hatte dabei verdeutlicht, dass Frau Icks sich selbst in einem regressiven Prozess verfangen hatte. Gleichzeitig war dieser (temporäre) regressive Prozess so etwas wie der emotional sichere Ort, an den sie sich zurückziehen konnte. Das Innehalten und Erkunden brachte ihr auch die Verschnaufpause, die sie brauchte. Sie hat einen deutlich und bewusst erfahrenen Wechsel vollzogen vom regressiven Verharren zum progressiven und kreativen Agieren. Sie hat eine Erfahrung gemacht, die ihr ein grundsätzliches Modell für spätere, konfliktbehaftete Prozesse sein kann. Sie hat Gefallen an ihrer Aufgabe (!) gefunden und wie nebenbei ihr Verhältnis zum Team der eigenen Organisation aufgehellt. Dass sie Freude an sich selbst gefunden hatte, hatte eine ganz eigene Ästhetik und zeigte sich ihr und mir in ihrem würdevollen Sich-Aufrichten und Schauen.

5 Reflexion anhand der kreativen Strategien Biegen, Brechen, Verbinden Coachingprozesse unter dem Aspekt der Kreativität zu reflektieren, ist mir seit Langem vertraut. Dieses anhand der kreativen Strategien von Biegen und Brechen zu tun, war mir bis zur Lektüre der Arbeit von Eagleman und Brandt jedoch fremd. Verbinden ist hier das, was im Gestaltansatz mit Integration beschrieben wird. Das Coaching des Herrn Yps (Coaching 1) zeigt deutliche Elemente des Biegens. Das Kneten im Ton und das beständige Umformen des Materials gehen einher mit einem Umformen der mentalen Haltungen. Der Coachee beugt die

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Kniee und hockt sich auf den Fußboden. Er wühlt im Schlamm und kommt auf den Boden seiner Werthaltungen. Und er gewinnt die Freiheit, verändert daraus hervorzugehen. Auch das kreative Element des Brechens lässt sich finden. Der Klient bricht seine konventionelle Schale auf und legt das Jackett ab. Herr Yps bricht mit Traditionen und konservativen Einstellungen, die er vormals introjiziert hatte. In ihm bricht etwas auf, das wie unter einem verkrusteten Panzer verborgen war. Es bricht aus ihm heraus, dass sein Leben natürlich sei und er seine Natur leben wolle. Diese Sitzung steht für einen Aufbruch in eine neue Lebens- und Arbeitsphase. Herr Yps muss nicht auf der personalen Ebene mit seinem Vater brechen, denn es gelingt ihm, sich selbst in seinem familiären und seinem beruflichen Umfeld zu emanzipieren. Er stellt vielmehr Verbindungen her: zwischen offenen Gestalten (unfinished businesses) und Sehnsüchten in ihm (Vater werden, Ausbilder sein) und den realen Möglichkeiten der Welt. Auch in der beschriebenen Sitzung der Frau Icks (Coaching 3) kommen diese Elemente zum Vorschein: In der Differenzierung der bislang anonymen und »diffusen« Gruppe bricht sie die bedrohlich-anonyme Gruppe der Ärztinnen und Ärzte auf. Jede und jeder bekommt einen eigenen Stuhl (wobei es nicht auf eine korrekte Anzahl ankommt). Das Spähen durch den Zaun, aus kindlicher Perspektive und vom Boden aus, steht genauso für den kreativen Vorgang des Biegens wie das Umhergehen im Raum und das Erspüren der veränderten Wahrnehmung und Stimmung. Schließlich schafft Frau Icks neue Verbindungen. Sie vermittelt zwischen der erwachsenen Frau und der eigenen kindlichen Vergangenheit. Sie moderiert die inneren Spannungen zwischen der eigenen Person und der zu erwartenden Gruppe. Sie schafft eine Übereinstimmung zwischen dem Reiz, sich auszuprobieren, und der konkreten Herausforderung. Und sie schafft reifen Kontakt zwischen sich und ihren Kolleginnen. Im Gruppencoaching (Coaching 2) lässt sich gut die enge Verzahnung dieser drei Kreativitätsaspekte erkennen. Das gewählte Material der Anker-Bausteine steht schon selbst für das Brechen: Ein später angestrebtes Ganzes zeigt sich zunächst unverbunden, zersplittert und fragmentiert. In der Aufgabenstellung des gemeinsamen Bauens eines großen Ganzen ist die Verbindung theoretisch schon enthalten. Das Wie ist das Biegen: sich abstimmen, sich hinterfragen lassen, Kompromisse finden, Perspektivenübernahme etc.

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6 Ausblicke SLOGAN 10 Leimen Sie nie die Bauklötze fest! (Kapitelüberschrift bei Eagleman u. Brandt 2018)

Die Reflexion des Coaching anhand der kreativen Strategien Biegen, Brechen und Verbinden/Integration erlaubt auch einen Ausblick auf die Verankerung der Kreativität im Repertoire der Coachees oder deren Institutionen. Drei Faktoren sind aus meiner Sicht wesentlich für das Gelingen: ȤȤ Alle Strategien und ihre Interventionen müssen in experimenteller, experienteller und existenzieller Weise zur Anwendung kommen, damit der Wirkfaktor der Kreativität greifen kann. ȤȤ Das Coaching ist ein dialogischer Prozess zwischen Coachee und Coach. Beide bewegen sich über den gesamten Verlauf auf Augenhöhe. Alle Lösungswege und Ergebnisse finden in ständiger Abstimmung statt. Der Coach agiert im Vertrauen auf seinen eigenen kreativen Prozess und im Vertrauensvorschuss für seine Coachees. ȤȤ Coachees und ihre Organisationen sollten im Rahmen eines in solcher Weise angelegten Coachings vertiefte Einsichten und Haltungen dazu entwickeln, dass auch sie sich ständig weiterentwickeln. Die Organisation entwickelt sich zum kreativen Umfeld und kreativen Pool für alle an der Entwicklung Beteiligten. Jede und jeder ist auf jeweils eigene Weise Expertin und Experte. Vielleicht wird die Organisation sogar zum Märchenwald für instinktgelei­ tete Wolfsnaturen, neugierige Rotkäppchen und andere Wesen, die gern auf Entdeckungsreise gehen. Und darin bekommen auch die Förster als schützende und sichernde Instanzen ihre Anerkennung. In einem Vortrag hörte ich den Kernphysiker und Friedenskämpfer Hans-Peter Dürr (1929–2014) sagen: »Alles Leben ist Gestaltwandel.« Wenn Coachees und Organisationen sich in der Weise begreifen, dass ihre Veränderung natürlich ist, müssen sie nicht aus Angst vor dem Neuen am Alten festhalten. Fragen erfordert Suchen. Suchen bringt Antworten. Antworten schaffen neue Wege. Neue Wege rufen neue Fragen hervor … Regressionen wären in diesem Sinne lediglich natürliche Krisenphasen in anspruchsvollen Entwicklungsprozessen und keine verfestigten Haltungen. Individuum, Gruppe und Organisation können stattdessen auf die Schätze ihres kreativen Pools vertrauen!

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Eckhard Budde-Schneider

SLOGAN 11 Alles Leben ist Gestaltwandel!

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Wenn Gestalt im Spiel ist – Kreativität und Ästhetik im Coaching

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Der neugierige Coach Helmut Reichert

Im Folgenden skizziere ich zwei unterschiedliche Herangehensweisen beim Coaching als zwei unterschiedliche Typen. Ich nenne sie »der erwachsene Coach« und »der neugierige Coach«. Diese Entwicklung der beiden Typen begann als Konzept für eine Coachingausbildung, die ich im Rahmen der Ausbildung von »Supervision und TZI e. V.« entwickelt und in Begleitbriefen ansatzweise formuliert habe. In dem Studiengang »Professionelles Coaching und Super­ vision« an der Hochschule Fulda habe ich es schließlich erproben und weiterentwickeln können.1

1  Impulse für eine Coachinghaltung Meine Suche nach impulsgebenden Quellen wurde ausgelöst durch meine Unzufriedenheit mit der Zielorientierung von Lernen, sowohl des schulischen Lernens als auch in der Erwachsenenbildung. Die Orientierung an Lernzielen im Coaching und in der Coachingausbildung erschien mir einengend und zu sehr der linearen Kommunikationsauffassung mit der Vorherrschaft des Verstandes anhängend. Ich sah darin die Gefahr, dass die Konzentration auf das Erreichen der Ziele den Blick borniert und bewirkt, dass Erreichtes außerhalb dieses Fokus nicht wahrgenommen wird. Ein erster Schritt, dieser Gefahr zu begegnen, bestand darin, aus festen Zielen vorläufige zu machen. Die am Beginn eines Coachings vereinbarten Ziele sollten im Verlaufe der Zusammenarbeit ab und zu überprüft und bei Bedarf umformuliert oder verworfen und durch neue ersetzt werden. Beim Reflektieren meiner Arbeit in Fortbildung, Supervision und Coaching wurde mir offenbar, dass mein Blick immer häufiger zu den Wirkungen ging. 1 Ich danke meiner Ausbildungskollegin Annemarie Reber für ihre wohlwollende Begleitung und konstruktive Unterstützung.

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Zunächst forderte ich die Kunden zur Zwischenbilanz auf. Ich bat sie – wenn ich den Eindruck hatte, jetzt sei ein Abschnitt der Arbeit beendet oder eine »Station«, ein »Treppenabsatz« erreicht (also bei einem »naturwüchsigen Innehalten«) – zu bestimmen, was sie bis jetzt erreicht hätten. Es ging mir darum, in die Bewusstheit zu bekommen, was jetzt gerade ist, im Rückblick herauszufinden, was sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ergeben hat. Insofern hatte sich auch mein Vorgehen dahin entwickelt, dass ich mich mehr für den Ausgang und das Studium der Wirkungen2 interessiere als für Ziele. Das Erforschen meiner eigenen Praxis führte mich zu meinem wahrnehmungs- und kommunikationsorientierten Konzept in Fortbildung, Supervision und Coaching. Ich möchte mein Vorgehen bei der Rezeption von Fachliteratur erläutern. Wenn ich bei der Lektüre Äußerungen finde, die mir einen Impuls für mein Nachdenken über meine eigenen Ansichten, meinen jeweils eigenen Ansatz geben, dann verharre ich an dieser Stelle des Textes. Meine Frage­stellung: Was kann ich aus dem Gedankengang dieser Textstelle lernen für meinen eigenen Ansatz, mein eigenes Konzept? Ich verstehe mein mitdenkendes Lesen als Co-Konstruktion, als meinen Beitrag zu der gemeinsamen Konstruktion von Sinn. Ich möchte mich bei meinem Lernen nicht damit aufhalten, dass ich herauszufinden versuche, was denn der Autor tatsächlich gemeint hat, was die autorisierte Bedeutung der Textstelle ist. Diese Suche nach dem tatsächlich Gemeinten ist fruchtbar; sie führt zu immer neuen Impulsen für das eigene Lernen. Sie führt aber normalerweise nicht zu der einen einzig richtigen Bedeutung. Auch der Glücksfall, dass ich mit der Autorin in einer Hier-und-Jetzt-Interaktion über den Text sprechen kann, bildet da keine Ausnahme. Ausgang dieser aktuellen Verständigung ist zwar der geschriebene Text, das Gespräch führt aber schnell zu neuen Texten. Auch wenn wir hypothetisch ein Gemeintes postulieren: Wir befinden uns in einer neuen originalen Sinn-Konstruktion. Bei dem Aufgreifen von Impulsen bewege ich mich auf der Verfahrensebene. Ich versuche das einem Verhalten, einer Handlung zugrundeliegende Verfahren – das Muster – herauszufinden. Verfahren, d. h. Muster von Handlungen, Verhalten, Abläufen, sind nicht auf einen Bereich, auf eine Branche beschränkt. Ich halte sie für grundsätzlich auf andere Bereiche übertragbar, also auch auf mein Konzept von Coaching und Supervision und auf das Konzept der Ausbildung. So war ich bei Feldenkrais (1968) nicht in erster Linie an der Sparte Entspannungs­training bzw. Körpertherapie und bei Jacoby (1983) nicht an 2 Vgl. Reichert zur Schilderung eines Beispiels, wie dies im Fall eines Konfliktcoachings aussehen könnte (Reichert 2019, S. 38).

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Musikpädagogik interessiert. Ich habe mich nicht davon abhalten lassen, dass ich mich in beiden Fächern nicht auskenne. Um von einem Gedankengang profitieren zu können, muss ich nicht Fachmann in dem Spezialgebiet des jeweiligen Textes sein. Es reicht, wenn ich neugierig bin und ein Erkenntnisinteresse habe. Dieses Vorgehen setzt weniger auf Suchen als auf Finden. 1.1 Vom zielorientierten vorsätzlichen Lernen zum Lernen durch Einprägung Bei meiner Beschäftigung mit Feldenkrais ging es mir vorrangig um seinen Lernansatz. In seinen Anleitungen zur Aufmerksamkeit geht es nie um Zielorientierung, sondern um die Bewusstheit dessen, was jetzt gerade in meinem Körper zu spüren ist, um die Präsenz (Feldenkrais 1968). Ich sah darin erstens eine Bestätigung der Aufforderung der praktischen humanistischen Psychologie zum Gewahrsein im Hier und Jetzt: Was fühlst, empfindest du jetzt? Was nimmst du jetzt wahr? Zweitens sah ich darin eine Bestätigung meines Verständnisses von frühkindlichem Lernen. Dies ist nicht vorsätzlich, es ist nicht zielorientiert, vielmehr sehe ich im frühkindlichen Lernen primär einprägendes Lernen. Der Säugling nimmt sich nicht vor, etwas Bestimmtes zu lernen, es prägt sich ihm etwas ein. Ich sehe da kein zielgerichtetes aktives Lernen, sondern die latente Offenheit und Neugierde lässt Lernen geschehen. Im Unterschied zum vorsätzlichen Lernen, welches sich auf etwas richtet, das in der Zukunft liegt, auf etwas zu Erreichendes, hat das Lernen durch Einprägung einen Inhalt, den es bereits gibt. Im Nachhinein wird dem Lernenden bewusst, dass und was er gelernt hat. Diese Art zu lernen ist – wie gesagt – die grundlegende Lernform des Kleinkindes. Sie ist aber auch bei Erwachsenen zu finden, nämlich beim Erfahrungslernen, bei dem mir bewusst wird, was ich an Einsichten und Erkenntnissen gewonnen habe. 1.2 Von der Fixierung auf die äußere Realität zur Aufmerksamkeit auf die persönliche psychophysische Verfasstheit Der Musikpädagoge Heinrich Jacoby3 hatte Zweifel an der Klassifizierung von Menschen in »musikalisch begabt« und »unbegabt«. Er hat seine Sichtweise in seiner umfangreichen Praxis bestätigt. Erweitert auf Leistungsschwierigkeiten allgemein schreibt er: »Leistungsschwierigkeiten erscheinen mir nicht als Problem der Leistungsfähigkeit (Möglichkeit) oder Leistungsunfähigkeit 3 Eine gute Systematisierung von Jacoby findet sich bei Zahner (2016).

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(Unmöglichkeit), sondern als Problem der Leistungsbereitschaft bzw. der gestörten Bereitschaft; d. h. also weitgehend als Zustands- und Verhaltensproblem – als dynamisches Problem – und nicht als Problem der Qualität der Organe und der Konstitution, nicht als statisches Problem« (Jacoby 1983, S. 9). Aus ­Jacobys Ansatz mache ich mir den Impuls: Wenn mir der Coachee unter Druck erscheint – z. B. Leistungs- oder Handlungsdruck –, dann lenke ich seine Aufmerksamkeit weg von der vermeintlich objektiven Realität des Drucks und hin auf seine Befindlichkeit. Ich strebe an, dass ihm seine Wirklichkeit als von ihm geschaffene bewusst wird, dass er den Druck als Ausdruck seiner Psychodynamik einordnen kann. Ich arbeite mit ihm an dem Komplex Sprache als Lebenswirklichkeit, indem ich mit ihm die Unterscheidung von Sprache und Sein übe. Darüber hinaus übe ich mit ihm, die objektive Realität von seiner Befindlichkeit zu trennen. Traditionell ausgedrückt: Ich übe mit ihm zu reflektieren. Die Impulse aus den Ansätzen von Moshé Feldenkrais und Heinrich Jacoby habe ich in folgendem Ausbildungsbegleitschreiben umgesetzt: »Die selbstverständlichen Grundlagen des Coaching bewusst machen: Ich möchte mit euch an den Grundlagen, den Voraussetzungen des Coaching arbeiten, an dem Selbstverständlichen, was stillschweigend vorausgesetzt ist und deshalb nicht thematisiert und häufig nicht sonderlich beachtet wird: Gefühl, Wahrnehmung und alles, was mit Körper zu tun hat. Als Elemente im Fall und in der Fallsituation im Dort und Dann sind sie sehr wohl im Blick, aber selten als Elemente im Hier und Jetzt. Ich möchte dazu anregen, dass das Hier-undJetzt-Geschehen bei der Fallarbeit stärker und selbstverständlicher ins Bewusstsein kommt und infolgedessen auch zur Sprache kommen kann. Dass es zum selbstverständlichen Gesprächsgegenstand wird wie die Frage nach dem Befinden bei der Kontaktaufnahme zu Beginn der Sitzung. Die Reihe der Selbstverständlichkeiten Körperempfindung, Wahrnehmung, Gefühl lässt sich mit Moshé Feldenkrais noch radikal erweitern. In seinem Ansatz ›Bewusstheit durch Bewegung‹ (1968) leitet er dazu an, im eigenen Körper das Zusammenspiel von Skelett, Muskulatur und Nervensystem zu erforschen und darüber hinaus zu beachten, dass unser Körper – dies in der Nachfolge von Heinrich Jacoby – der Schwerkraft unterliegt. Was wir von Feldenkrais für Coaching lernen können, ist seine Haltung als Übungsleiter. Er geht davon aus, dass der Einzelne selbst kompetent ist für seine Bewegungen und für sein Spüren. Er leitet nicht dazu an, die Bewegung zu verbessern, sondern nur dazu, die Bewegung zu machen und sich bei der Bewegung und nach der Bewegung zu spüren. Er ist Aufmerksamkeitstrainer. Wer Coaching als Aufmerksamkeitstraining macht, hat automatisch die Haltung, dass der Coachee allein die Kompetenz hat, seine Interessen und Ziele,

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seine Probleme und Lösungen zu identifizieren. Der Aufmerksamkeitstrainer hat die Zuversicht, dass der Coachee seine Lösung findet. Er vertraut auf die ›Selbstheilungskräfte‹ des Coachees, ohne sich arbeitslos oder überflüssig zu fühlen. Der Coachee ist darauf angewiesen, dass der Coach seine Aufmerksamkeit anleitet und ihn beim Verstehen seiner selbst begleitet. Das Anleiten der Aufmerksamkeit sehe ich als wichtigen Teil der Coachingkompetenz, speziell der Klärungskompetenz. Sie bietet ein Training in Differenzierung und Unterscheidung. Ganz im Sinne der einfachen Frage einer Feldenkrais-Übung ›Wie hast du deinen Rücken vor der Übung gespürt? Wie spürst du ihn jetzt?‹« (Reichert 2016a). 1.3  Von der Wissensvermittlung zur Förderung von Neugier Am Beginn der Konzeptentwicklung stehen Anregungen für die Coaching­ haltung, die ich aus der Entwicklungsförderung des Kleinkindes aufgenommen habe. Die Erforschung der kleinkindlichen Entwicklung geht davon aus, dass das Kleinkind neugierig, aufmerksam und klug, wach und normalerweise in Bewegung ist. Man könnte sagen: Es hat nicht Neugierde und Aufmerksamkeit, sondern es ist Neugierde, Aufmerksamkeit, Welteroberung. Das Kleinkind ist ein geradezu grenzenlos lernendes Subjekt. Und darin ist es dem Erwachsenen haushoch überlegen. Auch wenn wir meinen, Grenzen seien prinzipiell erweiterbar: Die Lernfähigkeit ist nach der Kindheit nie mehr so grenzenlos wie in unserer Zeit als Kleinkind (Stern 1991). Aus einem Ausbildungsbegleitbrief: »Wir nehmen uns also im Bereich von Körper- und Wahrnehmungsorientierung das Kleinkind zum Vorbild und auch diejenigen, die sich darin auskennen, seine Entwicklung zu fördern. Diese Entwicklungsförderinnen geben zunächst nicht Erwachsenenwissen weiter an das Kleinkind, sondern lernen von dem Kind, wie es sich entwickelt. Sie beschränken sich darauf, Entwicklungshindernisse aus dem Weg zu räumen und im Übrigen den immer schon aktiven Kompetenzen des Kleinkindes ›Futter‹ zu bieten. Die vorhandenen Kompetenzen Neugierde, Aufmerksamkeit, Weltverstehen, Selbstbehauptung, Kontakt- und Begegnungsfähigkeit bekommen Anregungen, Anreize – und die Entwicklung nimmt ihren Lauf – individuell und persönlich. Vorbedingungen für diese Art der fördernden Entwicklungsorientierung: Die Einengung der Kommunikation auf die (verbale) Sprache wird aufgegeben. Die Kommunikation mit dem Kleinkind erweitert sich auf ihre ursprüngliche Ganzheitlichkeit, in der alle Sinne aktiv sind. Die Bezugsperson stellt sich um von der sonst allgemein herrschenden Zielorientierung auf Wirkungsorientierung. Sie verlernt die Konzentration auf ein Ziel und studiert stattdessen die

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Wirkungen nach dem Motto: Wenn ich kein Ziel für das Kind habe, bin ich frei und offen dafür, in seinem Tun und Kommunizieren einen Sinn zu erkennen und zu verstehen, nämlich den des Kindes« (Reichert 2015). Die Haltung ist idealerweise wohlwollend-kritisch. Wenn der Coach darauf verzichtet, die richtigen Einfälle und wahren Erkenntnisse zu haben, wird er auch sich selbst als Forschungsgegenstand nutzen. Das ist das altbekannte »Reflektieren«. Ein neugieriger Vater als Modell für den Coach? Eine literarische Ausgestaltung dieser Haltung findet sich in »Lo und Lu«, dem »Roman eines Vaters« von Hanns-Josef Ortheil (2003). Die Darstellung der Verbindung von forschender Unterstützung der kindlichen Entwicklung und Selbstforschung scheint mir in diesem Text gut gelungen. Der Vater beschreibt seine Erlebnisse mit dem Säugling Lu und der wenige Jahre älteren Lo. Er schildert die Geschehnisse, das Verhalten der Kinder, seine eigenen Impulse für die Kinder und seine Berg- und Talfahrten beim Überlegen, was interessant und befriedigend für sie sein könnte. Er beobachtet genau, wie die Kinder reagieren, begleitet sie und sich selbst als Forscher und führt Buch. »Immer wenn ich ihm etwas erkläre und etwas benenne, geht ein leichter Ruck durch seinen Körper, als hielte das neue Wort in ihm Einzug und machte sich irgendwo breit. Bewegte Dinge beschäftigen ihn aber noch weitaus mehr als die ruhigen, in sich gekehrten, wie gebannt betrachtet er zum Beispiel die Bewegungen der Äste über uns […]. Lu wendet seinen Blick nur selten gleich anderswohin, und auch Lo hat sich aus ihren frühsten Tagen noch immer die Angewohnheit bewahrt, lange und geduldig irgendwohin zu schauen« (­Ortheil 2003, S. 42). Der Vater versteht sich als experimentierenden Entwicklungsforscher: »Geradlinig und stur experimentiere ich jedenfalls nicht, ich baue eine Versuchsanordnung auf und überlasse es Lo und Lu, sie umzubauen oder neu anzuordnen. In meinem Experimentieren stehen die Kinder im Mittelpunkt und nicht die Experimente. Beinahe wie von selbst bringen die Kinder mich auf die besten Gedanken, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Experimente mit Kindern sollten immer auch Experimente sein, die von den Kindern selbst mitgestaltet werden und die ihren Wegen folgen, notiere ich noch« (S. 85). Wer hinter dem bisweilen schwärmerischen Ton Einstellung und Taten des Vaters herauslesen kann, bekommt eine entwicklungsförderliche Haltung zu Gesicht und eine Sammlung von Vorgehensweisen, die man auf das eigene Coaching (Konzept und Praxis) umschreiben kann.

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2  Der erwachsene und der neugierige Coach 2.1  Der erwachsene Coach Die Entwicklung des Coaches beginnt in der Regel mit der Rolle des erwachsenen Coaches. So wie die Biografie des Beraters mit dem Ausdenken und Finden von Ratschlägen, von Lösungsideen für den Ratsuchenden beginnt und im Laufe der Jahre zur Lösungsbegleitung wird, so macht sich der angehende Coach das Problem des Coachee zu eigen. Er erarbeitet sich Lösungsideen auf dem Boden seiner eigenen Lebenserfahrung und seiner Beratungserfahrungen. Am Anfang von Beratung und Coaching steht die Identifikation mit dem Ratsuchenden. Mein Bild des »erwachsenen Erwachsenen« gegenüber dem Kleinkind: Er sieht vorherrschend die Niedlichkeit der Kleinen aus der überlegenen Perspektive des fertigen Erwachsenen. Er übernimmt Verantwortung für das Kind und will es vor Gefahren bewahren – als eine Art »Vor-Mund«. Und keine Frage: Er will für das Kind das Beste. Es soll alle Chancen haben, ein fertiger, glücklicher, erfolgreicher Erwachsener zu werden. In dieser Entwicklung, in der Vorbereitung auf das eigentliche Leben, das Erwachsenenleben, will er als Erwachsener das Kind mit all seinen Kräften, mit seiner Erfahrung und mit seinem Wissen unterstützen. Übertragen auf Coaching heißt das: Der Coach unterstützt den Coachee in seiner Entwicklung als einer, der schon dort ist, wohin sich der Coachee entwickeln soll oder will. Das ist die Haltung dessen, dem eine gute Lösung für den Coachee eingefallen ist. In der Haltung des fertigen Erwachsenen geht der Coach auf dem in Umrissen bereits vorgezeichneten Entwicklungsweg voraus, beseitigt bzw. erkundet Hindernisse und spürt Fördernisse auf. So soll ihm die optimale Unterstützung des Coachee gelingen. Der Coach wird sein Faktenwissen dem Coachee nicht vorenthalten. Er lässt den Coach nicht mithilfe von begleitender Bewusstheitsförderung herausfinden, was er selbst weiß. Wenn es um Fakten geht, stellt er sein eigenes Feldwissen zur Verfügung. Aber genauso hält er sich zurück, wenn ihm das erforderliche Wissen fehlt. Soweit das Bild des erwachsenen Coach – zugegebenermaßen vereinfacht. 2.2  Der neugierige Coach In Abgrenzung und Überschneidung dazu das Bild des neugierigen Coaches, der kein Wissen über die Zukunft und die passenden Lösungen des Coachee hat. Auch er läuft – in Gedanken – auf dem Entwicklungsweg des Coachee voraus, aber nicht als fertiger Erwachsener. Er läuft eher wie ein Hund bei einem Spazier-

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gang immer wieder voraus und wieder zurück, ohne sicher zu wissen, welcher Weg denn tatsächlich gegangen werden wird. So wie der Vater in dem Roman »Lo und Lu« in einem Gedanken- und Gefühlswirbel um die Kinder tanzt, vieles abwägt und sich schließlich doch auf die Situation einlässt, wie sie geschieht. Der neugierige Coach ist als »Forscher« unterwegs, der die Ergebnisse seiner Forschungen nicht im Voraus kennt. Vielleicht kennt er nicht einmal die Ziele seines latenten Forschens, sondern nur den Antrieb: Es soll dem Coachee förderlich sein. Er stellt sich ihm als Forscher zur Verfügung und bietet ihm Wahrnehmungen, Überlegungen, Vermutungen, Hypothesen an. Manchmal auch Wissen und eigene Erfahrungen als Fundus/Steinbruch für dessen Überlegungen, Gefühle, Experimente, Entscheidungen und letztlich Handlungen. Wenn ich Coaching als Entwicklungsförderung begreife, dann begleite ich neugierig die Entwicklungsschritte des Coachee. Zur Förderung der Bewusstheit kommentiere ich die Schritte, die ich bei ihm wahrnehme, ohne dass ich sie beurteile und ohne sie selbst zu gehen. Auch bei Problemlösungsideen und Lösungsschritten biete ich meine Wahrnehmungen, Gedanken, Assoziationen an, ohne darauf zu bestehen, dass sie richtig sind. Förderlich für die Forschungshaltung des Coaches sind Experimente, die er mit sich selbst unternimmt. Mein Forschungsbegriff leitet sich her von der Aktionsforschung von Kurt Lewin, für Lehrerinnen ausgebaut von Altrichter und Posch (2006). Ich unterscheide Forschung von Wissenschaft. Plakativ: Die Wissenschaft ist zuständig für Allgemeingültiges und die Vermittlung von Wissen. Im Forschen sehe ich vorrangig das Entdecken, Finden und Erfinden, also eher Originalität. Die Betonung liegt auf Einmaligkeit, nicht auf unbegrenzter Wiederholbarkeit, die zur Allgemeingültigkeit führt. Es geht also vorrangig um die Erforschung von Besonderheit, von der eigen-artigen Entwicklung der Person, von dieser selbst vorgenommen. In der Ausbildung habe ich zu dieser Selbstforschung angeregt, z. B. in folgender Einladung zu einem Präsenzmodul: »Zur Vorbereitung schlage ich dir eine Selbsterforschung im Bereich Gefühle vor. Achte in den nächsten Tagen mal verstärkt auf den Umgang mit Gefühlen, bei dir selbst und in deiner Kommunikationsumgebung. Wie achtsam, wie sorgsam ›behandelst‹ du deine eigenen Gefühle? Und zwar sowohl bei den Gefühls-Informationen als auch bei den (sprachlichen und körperlichen) Gefühlsausdrücken. Und was beobachtest du bei anderen? Wie bedeutsam oder wie unwichtig ist dir der passende Ausdruck in der Bezeichnung: ȤȤ Angst, Ängstlichkeit, Sorge, Panik, Unsicherheit, Aufregung, ȤȤ Freude, Glück, Zufriedenheit, Wohlfühlen, ȤȤ Ärger, Zorn, Wut, Unbehagen …

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Welche Übereinstimmung, welche Diskrepanz zwischen Bezeichnung und körperlichem Ausdruck (Mimik, Gestik, Intonation, Körperhaltung) nimmst du wahr? Ich möchte mit euch eure gesammelten Erfahrungen durchgehen und daraus Impulse fürs Live-Coaching gewinnen« (Reichert 2016b). In der Haltung dieses Forschenden verlieren Allgemeingültigkeit, Wissen und Vorhersehbarkeit ihre beherrschende Stellung. Im Zentrum steht die Originalität, die Einmalig- und Erstmaligkeit der konkreten Situation und Person. In dieser Konsequenz beschreibt in Ortheils Text der Vater sein Kaufverhalten: »Ich habe mich noch nie auf einen Kauf vorbereitet. Wenn ich etwas kaufen will, muß sich alles von selbst ergeben« (Ortheil 2003, S. 14). 2.3  Die Entwicklung des Coachs zur distanzierten Identifikation Indem der Coach über sein Beraten nachdenkt, geht er auf Distanz zum Fall und zum Coachee. Damit beginnt die Beratung im Spannungsfeld zwischen der zunächst dominanten Identifikation und der nun wachsenden Distanzierung. Der Berater/Coach wechselt zwischen diesen beiden Polen seiner Haltung, zwischen diesen beiden Rollen in seinem Verhalten und Intervenieren. Im Laufe der Kompetenzentwicklung in Beratung nimmt sein Abstand zum Coachee zu und die Identifikation nimmt ab. Es entsteht die Kunst der distanzierten Identifikation. Diese ist nicht als statische Haltung zu verstehen, sondern als Balancieren zwischen den Polen Identifikation und Distanzierung, die eine dynamische Gegensatzeinheit bilden4. Eine Veränderung in der Arbeitsweise des Coaches kann sein, dass er weniger auf den geschilderten Fall eingeht, sondern den Lernprozess des Coachee in den Fokus rückt. Er richtet die Aufmerksamkeit des Coachee von der Inhaltsebene stärker auf die Verfahrensebene, er thematisiert weniger Handlungen als Handlungsmuster. Insofern nimmt das gemeinsame Reflektieren zu, vielleicht auch die Aufmerksamkeit auf die Kooperation im Coaching und den Umgang miteinander.

4 Zu dem Ansatz der dynamischen Gegensatzeinheiten siehe Reichert 2019.

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3  Zur Coachingkommunikation

3.1  Kommunikation als zirkuläre Co-Konstruktion sinnvoller Gestalten Bei allen Spezialkompetenzen, bei allem Fachwissen: Coaching ereignet sich zunächst einmal als Verständigung. Es ist Kommunikation. Diese Selbst­ verständlichkeit möchte ich in den Blick nehmen und mein Kommunikations­ verständnis erläutern. Dabei folge ich dem Ansatz, den Werner Nothdurft in dem Studienbrief »Zwischenmenschliche Kommunikation I: Verbale Kommunikation« im Rahmen des Studiengangs »Sozialkompetenz« als das Systemkonzept der »Kommunikation als soziales System« (Nothdurft 2011, S. 15–17) skizziert. Ich verstehe Kommunikation in erster Linie nicht als lineare Interaktion der Kommunikationspartner, als Austausch von Botschaften, in dem die Partner abwechselnd senden und empfangen – immer hübsch nacheinander. Kommunikation ereignet sich meiner Meinung nach als zirkulärer Prozess, in dem Sprechen und Hören nicht isolierte Aktionen sind, sondern sich überlappen/ interferieren. Ich sehe Kommunikation nicht als Austausch von Gemeintem, sondern als Kooperation in gemeinsamer Verständigung. Sprechen und Zuhören sind zwar einzelne Aktionen, als solche aber Aktionen im gemeinsamen Verständigungsprozess. Ich möchte ausdrücklich zwischen Zuhören und Hören unterscheiden. Das Zuhören richtet sich als gezielte Aktion auf den Sprechenden und auf das, was er sagt. Es beginnt und wird beendet. Das Hören ist als latente Bereitschaft zu verstehen, es hat keinen Beginn und kann nicht abgestellt werden. Ich höre meinen Kommunikationspartner und auch mich selbst, wobei ich meinem Partner vielleicht aufmerksamer zuhöre als mir selbst. In der Coachingkommunikation sehe ich die Kooperation der Verständigung, Verständigung als Kooperation in der Sinn-Konstruktion. Ich nehme den Sinn des Gesagten nicht passiv in mich auf, sondern ich bin sehr aktiv: Ich verstehe. Das heißt: Es ist meine Leistung, dass ich verstehe oder nicht verstehe. Auch wenn wir oft feststellen, dass ich genau das verstehe, was mein Partner gemeint hat: Grundsätzlich ist jedes Verstehen eine Sinn-Konstruktion, in der ich mir das Vernommene sinnvoll mache. Insofern sehe ich in jeder Verständigung antizipierendes Verstehen, vorauseilendes Finden/Wahrnehmen von Sinn. Im Verständnis des Gestaltansatzes: Finden sinnvoller Gestalten. So wie unsere Wahrnehmungsorgane gestalten, das ist sinnvolle Einheiten konstruieren, so schaffen, finden, konstruieren wir in der Kommunikation Sinn. Die Sinn-Konstruktionen sind angeleitet von den Besonderheiten der Persönlichkeit, von den Neigungen der Person und auch von ihrer augenblick­

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lichen Stimmung. Neigung verstehe ich als eingespieltes Reaktionsmuster, als etabliertes Verfahren der Sinn-Konstruktion einer Person. In den Ausdrücken »mit dem falschen Bein aufgestanden« oder »auf Krawall gebürstet« sehe ich Zuschreibungen, die zunächst die Stimmung beschreiben. Darüber hinaus sehe ich darin auch einen Ausdruck dafür, zu welcher Reaktion sie vermutlich neigen wird, also welche Reaktionen in den nächsten Stunden von dieser Person zu erwarten sind. Solche Erwartungen, die zum großen Teil vorbewusst ablaufen, beeinflussen meine Haltung und mein Verhalten in der Kommunikation. Je nach ihren Stimmungen und Neigungen werden die beteiligten Personen in der Kooperation bei der Sinn-Findung miteinander oder eher gegeneinander ihren Sinn konstruieren. Ob sie einander verstehen, hängt auch von der beiderseitigen Bereitschaft ab, sich zu verständigen, also von der Neigung die Sinn-­ Konstruktionen des Gegenübers als sinnvoll anzunehmen. In der Konsequenz führt die These der Co-Konstruktion von Sinn zu der Annahme, dass ich nur jemanden ärgern kann, der über die Disposition verfügt, sich zu ärgern. Die Annahme, es sei doch normal, sich darüber zu ärgern, verliert ihre Allgemeingültigkeit. Ärger und Beleidigung in diesem Sinne sind nicht etwas, was ich einseitig jemandem zufüge. Sie sind Ergebnis eines Zusammenspiels von zwei Personen mit ihren jeweiligen Stimmungen im Augenblick und Neigungen, Dispositionen. 3.2  Ein praktisches Verfahren als Bestätigung der Theorie Eine praktische Anwendung der Auffassung von Kommunikation als Co-Kon­ struktion von Sinn sehe ich in der Gehörtherapie. Der Begleittext der terzo-­ Gehörtherapie (ISMA 2017) klärt mich darüber auf, dass schlechtes Hören nicht nur eine Frage des geschwächten Organs Gehör ist. Die Therapie ist ausdrücklich als Verstehenstherapie konzipiert. Sie beschränkt sich nicht auf das isolierte Trainieren des Wahrnehmungsorgans Gehör. Sie aktiviert das Zusammenspiel von Gehör und Gehirn. Die Gehörtherapie soll bewirken, dass durch gezielte Verstehensübungen die geschwächte Filterfunktion des Gehirns – sowohl des Verstärkens als auch des Abschwächens von Lauten – regeneriert wird. Diese Therapie der Kooperation von Gehör und Gehirn wird von Gedächtnistraining begleitet und unterstützt. Es wird deutlich, wie die verschiedenen Instanzen miteinander kooperieren: Gehör und Gehirn; Wahrnehmung, Bewusstheit, Verstand, Gedächtnis, Erinnerung usw. Hören ist kein passives Befülltwerden mit Lauten. Es ist die Aktivität, gehörte Laute sinnvoll zu machen (ISMA 2017). Überspitzt gesagt: Hören ist raten, was der andere gesagt hat. In den Übungen hat der Übende die Aufgabe, Wörter, Wendungen, Sätze und ganze Texte,

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die von Störgeräuschen begleitet werden, zu verstehen. Beispiel: Das gehörte Wort aus der Reihe »spielte – spülte – spulte« herausfinden. Bei meinem Bemühen, das Wort, welches gesagt wurde, zu verstehen, höre ich gleichsam der Sprecherin entgegen. Ich suche aktiv – wenn auch vorbewusst – in meinem Wortschatz nach dem Wort, nach einer Redewendung, allgemein ausgedrückt: nach der passenden Form für die Laute. Dabei ist meine Konzentration, meine ganze Aufmerksamkeit gefordert. Die Therapie ist ein Aufmerksamkeitstraining und schult insofern die Einprägung. Ich frage mich, was genau ich da gerade gehört habe. Und indem sich Diagnose und Therapie nicht auf das geschwächte Gehör beschränken, sondern die psychische Bereitschaft, das Interesse zu hören, ebenso wichtig nehmen, ist sie ein Training in »Leistungsbereitschaft« (siehe Jacoby 1983). Auch wenn sich in diesen Übungen kein alltäglicher Verständigungsprozess ereignet mit dem üblichen zirkulären Interagieren von Sprechen, Zuhören und Sprechen, so geht es doch um Verstehen. Hier passt meine Behauptung von oben: Verstehen ist »antizipierendes Verstehen, vorauseilendes Finden von Sinn«. Man könnte meinen, bei der Entwicklung der Therapie hätten Jacoby und Feldenkrais Paten gestanden. Dies in der Sichtweise, dass die Praxis der Theorie und dem Plan folgt. Ich bevorzuge die Sichtweise, dass die Praxis sich zwar mit Begleitung der Bewusstheit entwickelt, dass sie von Reflektieren begleitet wird, dass sie aber keinen Plan, kein vorgefasstes Konzept braucht, um sich entwickeln zu können. In diesem Sinn finde ich in der Gehörtherapie die Konkretisierung der Ansätze von Jacoby und Feldenkrais. 3.3  Coaching ist Unterstützung des Coachee beim Verstehen Indem sich der Coach auf das Verstehen (und die Verständigung) konzentriert, kümmert er sich weniger um die Lösung und kann diese leichter dem Coachee überlassen. Der Coach kommt gleichsam in die Rolle eines Mediums, das zwischen dem Coachee und seinem Verstehen vermittelt. Der Coach stellt seinen Intellekt, seine Gefühle, sein Empfinden, seine Erfahrungen und sein gesammeltes Wissen in den Dienst des Verstehensprozesses des Coachee. Dabei mischt er sich nicht ein, er agiert nicht auf der Fallebene und bezieht nicht Position in der Sache. Ein Bild dazu: In einem Als-ob-Spiel lässt sich der Coach in den Coachee hinab und in seinem Innern flanieren. Er versucht, in dessen Gefühle und Gedanken einzutauchen und sich alles, was der Coachee sagt, sinnvoll zu machen. Der Coach zielt darauf, für den Coachee Verstehensmaterial zu sammeln, mit dem sich dieser selbst besser verstehen kann. Nach dem Auftauchen

Der neugierige Coach

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vermag der Coach den Coachee umfassender beim Verstehen seiner selbst zu unterstützen. Der Coach betreibt Coaching als Lernprozess, in dem der Coachee sich selbst und seine Situationen in seinem Arbeiten und Leben besser verstehen lernt. Neugierig und staunend betrachtet er, wie sich der Coachee seine Welt erfindet und gestaltet – sowohl seine innere als auch seine äußere Welt. Er stellt sich in den Dienst dieses Verstehens und Gestaltens von Wirklichkeit, ohne es besser zu wissen und ohne zu bestimmen, was richtig und falsch ist. Er macht sich gleichsam den Bewertungen des Coachee untertan. Der Coachee ist nicht genötigt, seine Ansichten, Erfahrungen, Positionen zu verteidigen, und in der Folge: Er muss nicht mehr an ihnen festzuhalten. Ein Nebeneffekt kann sein, dass der Coachee sich vom Forscherdrang des Coaches anstecken lässt, sich von seiner Fixierung auf die Lösung löst und neugierig herausfinden will, wie er selbst gestrickt ist.

Literatur Altrichter, H., Posch, P. (2006). Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsevaluation durch Aktionsforschung (4. Aufl.). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Feldenkrais, M. (1968). Bewusstheit durch Bewegung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Feldenkrais, M. (1985). Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. ISMA AG (Hrsg.) (2017). terzo-Gehörtherapie. Therapeutisches Gehörtraining (6., überarb. Aufl.). Stuttgart: terzo-Institut. Jacoby, H. (1983). Jenseits von »Begabt« und »Unbegabt«. Zweckmäßige Fragestellung und zweckmäßiges Verhalten; Schlüssel für die Entfaltung des Menschen. Hrsg. von S. Ludwig (2. überarb. Aufl.). Hamburg: Christians. Nothdurft, W. (2011). Zwischenmenschliche Kommunikation I: Verbale Interaktion. Schriften des Weiterbildungsverbundstudiums Sozialkompetenz. Koblenz: ZFH. Ortheil, H.-J. (2003). Lo und Lu. Roman eines Vaters (7. Aufl.). München: btb. Reichert, H. (2015). Begleitbrief zum Seminar: »Meine Person als Coach«. Unveröffentlichtes Manuskript. Reichert, H. (2016a). Begleitschreiben zum Vertiefungsmodul Klärungskompetenz des Weiterbildungsstudiums »Professionelles Coaching und Supervision« der Hochschule Fulda. Unveröffentlichtes Manuskript. Reichert, H. (2016b). Einladung zur Präsenzphase Vertiefungsmodul Klärungskompetenz des Weiterbildungsstudiums »Professionelles Coaching und Supervision« der Hochschule Fulda. Unveröffentlichtes Manuskript. Reichert, H. (2019). Dialektik ‒ ein Grundzug der TZI. Themenzentrierte Interaktion 1, 35‒45. Stern, D. N. (1991). Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt. München/ Berlin: Piper. Zahner, H. (2016). Selbstbefähigung. Der psychophysische Ansatz Heinrich Jacobys. Boncourt: Sentio.

Zur Bedeutung des sozialen Raums im organisationalen Coaching Gudrun Dobslaw

1  Worum es geht Dieser Beitrag verfolgt zwei Zielsetzungen: Zum einen soll die Bedeutung eines fundierten diagnostischen Vorgehens im Coaching hervorgehoben werden, und zwar insbesondere in organisationalen Settings, zum anderen soll für den diagnostischen Prozess in organisationalen Settings ein Instrument eingeführt werden, das im Kontext der Sozialen Arbeit schon lange seinen Platz hat und die Anforderung an einen gemeinsamen Produktionsprozess erfüllt: die Sozialraumanalyse. Die konzeptionellen Grundlagen, die sich auf den Prozess der Aneignung von Raum beziehen, lassen sich sehr gut auf berufliche Kontexte übertragen und beziehen die Rahmenbedingungen der Organisation, Teamoder Gruppenprozesse und das Erleben des Einzelnen mit ein. Dieser Beitrag gliedert sich folgendermaßen: Zunächst wird eine kurze Zusammenfassung zur Rolle der Diagnostik im Coaching gegeben. Dabei wird deutlich, dass es bislang wenig Anhaltspunkte dafür gibt, was das Spezifische der Diagnostik im Coaching sein könnte. Da sich Coaching in der Regel im Kontext von Organisationen vollzieht, wird in Kapitel 3 eine Einführung in die wichtigsten Grundlagen der Organisationstheorie gegeben, mit besonderem Blick auf die Kultur in Organisationen. Im Spannungsfeld Struktur und Kultur ergeben sich viele Konfliktfelder für die Coachees. Diese im Prozess des Coaching begreifbar zu machen, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung von Veränderungs- und Entwicklungsprozessen. Mithilfe der Sozialraum­analyse soll beispielhaft verdeutlicht werden, wie die Perspektiven der Organisationsmitglieder im Kontext der Organisation mit ihren strukturellen und kulturellen Rahmenbedingungen sichtbar gemacht werden können.

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2  Die Rolle der Diagnostik im Coaching Coachee und Coach sollten in der Anfangsphase des Coaching zu einer Eingrenzung und Bestimmung des Problems kommen, das es aus Sicht des Coachees zu bearbeiten gilt. Üblicherweise geschieht dies in der Phase der Auftrags­ klärung, dabei wird festgestellt, wer Auftraggeber ist, welche Interessen eine Rolle spielen, welches Thema bearbeitet werden soll und wer daran zu beteiligen ist (Pühl 2009, S. 92). Ist das Coaching im Rahmen einer Qualifikationsmaßnahme innerhalb einer Organisation »verordnet« und eventuell auch finanziert, müssen Organisationsvertreterinnen mitgedacht werden; das wäre beispielsweise nicht der Fall, wenn es sich um ein privates Einzelcoaching handelt und der Reflexion privater und beruflicher Perspektiven dient. Um herauszuarbeiten, welches Thema bearbeitet werden soll und welches Problem es zu lösen gilt, stehen im Coaching ganze Kataloge von Instrumenten zur Verfügung (vgl. u. a. Rauen 2018). Sie sollen dem Coachee helfen, sich und seine Problemlage besser zu verstehen und dem Coach viele wertvolle Informationen für die Gestaltung des Beratungsprozesses liefern. Das gilt sowohl für Einzelcoaching als auch für Gruppen- oder Teamcoaching. Der Begriff Diagnostik wird für diese Phase des Sammelns von Informationen und dem Herausarbeiten der Problemlage in der Coachingcommunity nur sehr selten genutzt, üblich ist eher die Bezeichnung »Auftragsklärung«. Rappe-­Giesecke (2009, S. 75) vermutet, dass der Begriff zu sehr mit klassischen medizinischen bzw. psychotherapeutischen Kontexten assoziiert wird, bei dem es Expertinnen gibt, die das Fachwissen haben, und Ratsuchende, die auf der Grundlage dieses Wissens eine Diagnose mit entsprechenden Handlungsanweisungen zur Verfügung gestellt bekommen (vgl. dazu u. a. Bromme u. Jucks 2014). Der gesamte Beratungsprozess im Coaching soll in Abgrenzung zu einer solchen asymmetrischen Beziehung kooperativ angelegt sein und auf der Grundlage des dialogischen Prinzips geführt werden (vgl. Mührel 2011, S. 75). Das impliziert Respekt vor der Expertise der Akteure im Beratungsprozess und fußt auf Ressourcenorientierung, der Stärkung des Selbstwirksamkeits­erlebens1 und Transparenz im Prozess. Diese Grundhaltung bezieht sich auf den gesamten Prozess des Coaching, schließt also auch die Informationssammlung zur Diagnosestellung mit ein. Die Steuerung des Prozesses obliegt allerdings immer dem Coach, denn zu den von den Coachees geäußerten Informationen kann er durch gezielte Fragen und den Einsatz passend erscheinender Instrumente 1 Zur Selbstwirksamkeit als wichtige Ressource im Umgang mit Stress siehe den Beitrag von Klinkner.

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zusätz­liche relevante Informationen sichtbar werden lassen. Dies lässt dem Coach jede Menge Spielraum für die Interpretation, welche Informationen eventuell dazugehören, um das zu bearbeitende Problem genauer zu beschreiben bzw. herauszuarbeiten. Ungünstig gerade für Neueinsteiger könnte die unüberschaubare Vielfalt an verfügbaren Instrumenten sein, die dazu führen könnte, dass nicht nur die Wahl des Instruments erschwert wird, sondern auch eine gewisse Verführbarkeit für die Durchführung ganz vieler Instrumente entsteht (Heller u. ­Gallenmüller 2016, S. 4). Möller und Kotte (2018) äußern berechtigte Kritik daran, dass es bislang wenig Systematisierungsversuche für das diagnostische Vorgehen gegeben hat. Denn welche Instrumente der Coach letztlich nutzt und ob er diese überhaupt einsetzt, wird Möller und Kotte (2018, S. 107) zufolge davon beeinflusst, welchen professionellen Hintergrund der Coach hat und sicherlich auch davon, welche Instrumente ihm oder ihr besonders gut liegen oder vertraut sind. Da sich im deutschsprachigen Raum nahezu alle Berufs­gruppen als Coach ausbilden lassen können, ist zu erwarten, dass die gesammelten Informationen über den Coachee und sein Umfeld durch die »professionsspezifischen Brillen« (S. 107) betrachtet werden. Die beiden Autorinnen sehen hier die Gefahr, dass die gesammelten Informationen je nach Referenztheorie »über Veränderung von Erleben und Verhalten von Menschen in Organisationen […] eher wissenschaftlich fundiert – aktuell oder veraltet – oder eher dem Feld subjektiver Theorien zuzuordnen sein [werden]« (S. 107). Zudem geben die beiden Autorinnen zu bedenken, dass der Umgang mit diagnostischen Instrumenten oder Verfahren unreflektiert erfolgen könnte und so »Coachees […] vorschnell in unpassende Typisierungen und/oder Kategorien sortiert werden« (Möller u. Kotte 2016, S. 8). Aus fachlicher Sicht wird hier also die Frage des Wissens um Qualitätsstandards in der Diagnose­phase thematisiert sowie die der Kompetenzen, die sich nicht nur auf die Auswahl der Instrumente, sondern auch auf die fachlich angemessene Interpretation der gewonnenen Informationen beziehen. In anderen Handlungsfeldern, beispielsweise der Psychotherapie oder der medizinischen Versorgung (vgl. u. a. Stieglitz u. Freyberger 2017), gehört eine fachlich fundierte und zum Teil auch standardisierte Diagnostik zum Behandlungsprozess selbstverständlich dazu ebenso wie im Rahmen anderer Beratungsformate, wie der Hilfeplanung in der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Teil­ habeplanung in der Eingliederungshilfe, oder in Handlungskonzepten, wie dem Case Management. Die Diagnostik (oder das Assessment als weitere Bezeichnung) spielt hier eine zentrale Rolle für die Problembestimmung und die daraus abzuleitenden Zielperspektiven und orientiert sich an klaren konzeptionellen Grundlagen (vgl. dazu für das Case Management u. a. Monzer 2018). Die

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Ergebnisse des diagnostischen Prozesses dienen aber auch als Grundlage für eine Evaluation oder Wirksamkeitsbestimmung oder auch -messung. Kotte und Möller gehören zu den Autorinnen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie man im Coaching das diagnostische Vorgehen systematisieren kann. Der Vorteil bestünde ihrer Meinung ganz klar darin, dass eigene blinde Flecken oder Vorlieben des Coaches den Prozess durch ein strukturiertes Vorgehen nicht oder weniger beeinflussten und dadurch Wesentliches nicht (so schnell) über­sehen würde (Kotte u. Möller 2016, S. 136). Den Autorinnen kommt es dabei nicht darauf an, ein objektives und reproduzierbares Beratungssetting herzustellen, aber sie verweisen darauf, dass der gesamte Beratungsprozess durch die Wirklichkeitskonstruktionen nicht nur der Beraterin, sondern auch durch die Coachees bestimmt wird: Nur ihre Informationen werden in den Beratungs­prozess eingespeist, es liegen in der Regel keine Gutachten oder andere Berichtsformen vor, die eine Außenperspektive auf das Geschehen unterstützten, wie das beispielsweise in anderen Handlungssettings der Fall ist. So fließen viele subjektive Einschätzungen, Bewertungen und Schlussfolgerungen in den Coachingprozess ein, die eingeordnet und verarbeitet werden (müssen). Hier gilt es, auch aus der Perspektive des Coaches den eigenen offenen Blick für Informationen zu bewahren, die den eigenen Interpretationsmustern entgegenstehen, was über ein strukturiertes Vorgehen in der Diagnostikphase sicherlich gefördert werden könnte. Zusammenfassend lässt sich das Problem mit der Diagnostik bis hierher folgendermaßen beschreiben: Es liegt für das Beratungsformat Coaching keine verbindliche Konzeption vor, aus der sich (überprüfbare) Standards für das Sammeln von Informationen ableiten ließen. Der Begriff Diagnostik konnte sich deshalb – stellvertretend für das Sammeln von Informationen – bisher auch kaum im Coaching etablieren. Offen bleibt die Frage, wie man in der Praxis mit der Fülle an Instrumenten verfährt, welche Tipps oder Regeln es für die Anwendung des einen oder des anderen Instruments geben könnte. Möller und Kotte schlagen für eine Systematisierung vorliegender Instrumente das Kasseler Coaching-Raster vor. Es orientiert sich an folgenden Fragen (Möller u. Kotte 2018, S. 110; siehe Tabelle 1): ȤȤ Was soll erfasst werden und wer steht im Zentrum? Hier erfolgt eine Zuordnung zu den drei Dimensionen im Coaching: Individuum, z. B. die Persönlichkeit des Coachees oder dessen Motivstruktur, Team/Rolle: Interaktionsbeziehungen in der Organisation oder das organisationale Umfeld2. 2 Zu diesen und weiteren coachingrelevanten Kontexten siehe den Beitrag von A. Pfab.

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ȤȤ Womit soll dieser Inhalt erfasst werden, welches Instrument ist geeignet? Hier besteht die Möglichkeit, dass sich der Coach auch selbst als Beobachtungsinstrument versteht und entsprechend methodisch handelt.3 ȤȤ Durch wen wird dieser Inhalt erfasst, welche Informationsquellen werden genutzt? Die Fragen nach dem Instrument und der Informationsquelle werden in Beziehung gesetzt zu den drei Dimensionen des Coaching: Individuum, Team/Rolle und Organisation, sodass Instrumente in einer zwei­ dimensionalen Tabelle auf ihre Aussagekraft hin eingeordnet werden können: Tabelle 1: Verfahrensprofile im Vergleich (Möller u. Kotte 2013, S. 326; zit. nach Möller u. Kotte 2018, S. 111)

Tabelle 1 verdeutlicht diese Systematisierung anhand dreier verschiedener Instrumente mit unterschiedlicher Zielrichtung. Über das spezifische Profil, das sich für jedes Instrument ergibt, lassen sich anlassbezogene Einsätze ableiten und entsprechend im Coaching einsetzen. Das setzt natürlich das Wissen voraus, auf welcher konzeptionellen Basis das Instrument einzuordnen ist und welches Ziel mit dem Einsatz dieses Instruments genau verfolgt werden kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine strukturierte und auf konzeptionellen Grundlagen basierende Diagnostik im Coaching durchaus Vorteile 3 So z. B. in dem Beitrag von Reichert beschrieben.

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hätte, sowohl was den Umgang mit den eigenen blinden Flecken als Coach betrifft als auch den fachlich angemessenen Einsatz, der die drei Dimensionen des Coaching systematisch berücksichtigt: den Einzelnen, das Team/die Gruppe und die Organisation. Auf die Rahmenbedingungen, die durch die Organisation vorgegeben werden, soll im Folgenden noch etwas genauer eingegangen werden.

3  Diagnostik im organisationalen Kontext Coaching ist üblicherweise sehr eng mit beruflichen Fragen verbunden, die sich im Rahmen von Einzelprozessen, Gruppen- oder Teamprozessen oder auch einer Beratung von Führungskräften vollziehen können. Sind Coachees Mitglieder dieser Organisation und erfüllen bestimmte Funktionen, dann muss die Organisation immer mitbedacht werden. Das bedeutet, dass sowohl die Strukturen als auch die Prozesse einer Organisation in den Beratungsprozess einfließen. Der Beratungsprozess vollzieht sich damit auf der Basis unterschiedlicher Erwartungen, Voraussetzungen und auch Zielsetzungen der Akteure. Um die Komplexität dieses Vorhabens zu verstehen, bietet sich das von Rappe-­ Giesecke 2008 entwickelte Modell des Beratungssystems an (Abbildung 1): Rappe-Giesecke bezieht dieses Modell auf das Beratungsformat Supervision, was in diesem Fall aber auf das Format Coaching zu übertragen ist, weil in beiden Fällen die Beratung in organisationalen Kontexten Gegenstand der Überlegungen ist. Rappe-­ Giesecke zufolge besteht die Aufgabe des Coaches Abbildung 1: Das Beratungssystem aus Rappe-Giesecke darin, ein Beratungssys(2008; zit. nach Rappe-Giesecke 2009, S. 82) tem zu etablieren, bei dem geklärt ist, wer Auftraggeber, wer Coachee und wer Berater ist. Zudem müssen die Kooperationsgrundlagen dieser Akteure geklärt werden, um ein Beratungssystem etablieren zu können. Alles, was sich in diesem neu gegründeten Beratungssystem vollzieht, basiert auf »eigenen Regeln, Zugangsbedingungen, Rollendefinitionen, Zielen, System-Umwelt-Beziehungen und einer eigenen

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Identität« (Rappe-­Giesecke 2009, S. 81). Über diesen Klärungsprozess ergeben sich für den Coach bereits sehr viele bedeutsame Informationen, die für den nachfolgenden diagnostischen Prozess sehr hilfreich sein können. Hier fließen nicht nur Informationen des ratsuchenden Systems (= Coachee) ein, sondern auch des Auftraggebers, in diesem Fall als Vertreterin einer Organisation gedacht oder als organisationale Rahmenbedingungen. Da die Organisation den strukturellen und fachlichen Rahmen eines Coachees oder eines Teams bildet, soll zunächst geklärt werden, was unter einer Organisation zu verstehen ist. 3.1  Die Organisation und ihre Mitglieder Organisationen können aus einer Makro- und der Mikroperspektive betrachtet werden. Aus der Makroperspektive heraus wird das ordnungsstiftende Prinzip für Organisationen beschrieben. Eine Organisation hat immer ein »Innen« und ein »Außen«, das sich über strukturelle Merkmale festmachen lässt – wenn es sich beispielsweise um Gebäude handelt, aber auch über Mitgliedschaften: Wer ist in der Organisation beschäftigt oder wer ist auf andere Weise Mitglied? Im Sprachgebrauch äußert sich dieses »Innen« und »Außen« einer Organisation beispielsweise in der Unterscheidung zwischen dem »wir« und »die anderen« (vgl. Wimmer 2009, S. 217 f.). Die »anderen« sind aus systemtheoretischer Sicht die Umwelt des »wir«, also der Organisation. Organisationen weisen in ihrem Inneren Strukturen auf (Aufbauorganisation). Dem klassischen Verständnis einer hierarchischen Strukturierung von Organisationen entspricht die Linienorganisation. Es gibt Führungskräfte und nachgeordnete Mitarbeiter, Abteilungen mit fachspezifischer Ausrichtung, und Dienstwege, Weisungsbefugnisse und Aufgabenbereiche sind klar geregelt. Stabsfunktionen können eine Linienorganisation erweitern, in vielen Organisationen sind das beispielsweise die Qualitätsbeauftragten (vgl. Schuler u. Moser 2014, S. 462). Außerdem gibt es Aussagen zu einer strategischen Ausrichtung, die in Form von Zielvereinbarungen festgehalten werden (können). Diese strategische Ausrichtung, z. B. »der Kunde soll bei uns König sein«, soll im Organisationshandeln verfolgt und nach außen hin für die Kunden oder potenziellen Nutzerinnen der Organisation erkennbar sein. Die Ablauforganisation bezeichnet die Prozesse in einer Organisation und deren koordiniertes Zusammenspiel, beantwortet also die Frage: Wie genau (!) funktionieren wir als Organisation im Sinne der strategischen Ausrichtung? Konkret würde das für das oben genannte Beispiel bedeuten: Wie bekommen

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wir es hin, dass der Kunde auch wirklich immer bei uns König ist? Und woran wird er das merken? An dem folgenden Beispiel soll das Zusammenwirken von Aufbau- und Ablauforganisation einer Organisation im Sinne dieser strategischen Zielsetzung verdeutlicht werden: Bewirbt sich beispielsweise eine ältere Dame für die Aufnahme in einem Seniorenheim, dann muss das Aufnahmegespräch, die formale Aufnahmeprozedur, zunächst mit allen notwendigen Verwaltungs­aktivitäten und auch den Formularen in einem zeitlich aufeinander abgestimmten Prozess miteinander verknüpft werden. Der Prozess muss so gestaltet sein, dass die alte Dame zwischenzeitlich nicht das Gefühl bekommt, sie sei in einer anderen Einrichtung womöglich besser versorgt, weil diese besser organisiert ist. Sie sollte vor allem das Gefühl vermittelt bekommen, dass die Einrichtung sich auf sie freut und sie mit ihren positiven Eigenschaften wunderbar zu den bereits dort wohnenden Personen passt (die Kundin ist Königin). Um das gut hinzubekommen, müssen die zuständigen Personen entsprechend handeln. Wer für das Setting der Neuaufnahmen zuständig ist, wird über die Aufbauorganisation geregelt und lässt sich beispielsweise im Organigramm grafisch verdeutlichen. Daraus lässt sich auch ersehen, wer das Telefonat mit der alten Dame führt, wer die Verwaltungsangelegenheiten erledigt und wer die Beratung übernimmt. Außerdem lässt sich aus dem Organigramm auch ersehen, wer für die gesamte Aufnahmeprozedur der alten Dame ins Seniorenheim verantwortlich zeichnet. In allen Phasen der Aufnahmebearbeitung sollte das strategische Ziel »Der Kunde ist bei uns König« verwirklicht werden. Für die Mitarbeiterinnen in einer Organisation bedeutet das, dass sowohl die Struktur als auch die Prozessabläufe in einer Organisation handlungs­leitend sind. Denn nur auf der Grundlage eines strukturierten Vorgehens kann die Organisation ihrem Auftrag gerecht werden, nämlich relevante gesellschaftliche Problemstellungen adäquat zu bearbeiten, sei es nun die Versorgung alt gewordener Menschen, die behördliche Bearbeitung von Steuerangelegen­heiten oder die Produktion von Windrädern. Die Menschen in der Organisation erfüllen dabei die ihnen zugewiesenen Aufgaben, die dazu dienen, den Organisationszweck zu erfüllen. Der einzelne Mensch in der Organisation bleibt hier weitgehend unberücksichtigt, weil die Funktionsweise einer Organisation an sich in den Blick genommen wird (Schuler u. Moser 2014, S. 12). Aus einer eher mechanistischen Perspektive heraus, die sich an einer Zweck-Mittel-Logik orientiert, kann eine Organisation so eher mit dem Bild einer Maschine beschrieben werden, bei dem das Personal ein Bestandteil ist. Sie sind damit aber auch zugleich Seismografen für Störungen, wenn Abläufe nicht gut gelingen.

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Die Funktionsweise einer Organisation lässt sich allerdings über die reine Beschreibung von Prozessen und Strukturen nicht erklären. Insbesondere in Organisationsentwicklungsprozessen zeigt sich, dass es weitere steuernde Momente für eine Organisation gibt, die auf einer expliziten Ebene nur schwer zu fassen sind. Dieser Teil der Organisation wird mit dem Begriff Organisationskultur4 belegt. »Kultur« bezieht sich immer auf ein Referenzsystem und meint Traditionen, Werte, Normen, die Identität, die kollektiven Erwartungen, die Denkmuster und Überzeugungen, gewachsene Umgangsformen, aber auch Einstellungen zu Führung und Zusammenarbeit, Sprachregelungen, Argumentationsmuster usw. (vgl. Schein 1983; 1993; Senge 2011; Rüegg-Sturm 2003). Die Kultur eines Unternehmens speist sich Rüegg-Sturm (2003) zufolge aus dem vorhandenen, zumeist impliziten, also unbewussten Wissen, das nicht in expliziter Form, z. B. in QM-Handbüchern, zur Verfügung steht. Dieses Wissen hat sich über die Zeit innerhalb einer Organisation herausgebildet und wird von der Mitarbeiterschaft gepflegt, weitergetragen und ist Gegenstand von kommunikativen Prozessen innerhalb der Organisation (vgl. Pelzmann u. Strümpf 2018, S. 43 ff.). Auf der Grundlage vorhandener Wissensbestände und tradierter Erfahrungen bilden sich Erwartungen heraus, z. B. Verhaltensmuster oder Interaktionen zwischen Kolleginnen oder mit Führungskräften. Diese Erwartungen werden Allgemeingut und über einen permanenten Klärungsprozess zu einem gemeinsamen Sinnsystem (vgl. Schreyögg 2018, S. 429). Dieses kann sich auf Informationen zur Entwicklung der Organisation und Einordnung von Strukturmerkmalen beziehen (warum sind die Dinge so, wie sie sind) oder aber auf Wissen zu Abläufen, die einfacher, effektiver oder erfolgreicher sind als in QM-Handbüchern beschrieben, z. B. Erfahrungen dazu, wie Abläufe entgegen den Vorschriften effektiver und zufriedenstellender laufen könnten. Das kulturelle Wissen in einem Unternehmen erlaubt es, Entwicklungen, Festlegungen und Vorgaben angemessen zu verstehen und anwenden zu können. Unvorhersehbare, schwer verständliche, mehrdeutige Ereignisse und Entwicklungen können so sinnhaft in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden, indem sie auf bereits vorhandenes Wissen bezogen und so verständlich werden. Auf dieser Grundlage bleibt Rüegg-Sturm (2003) zufolge die Kulturgemeinschaft handlungsfähig (vgl. dazu u. a. auch von Hehn, Cornelissen u. Braun 2016, S. 10 ff.). Diese Kulturmerkmale einer Organisation finden sich im übertragenen Sinne »in den Wänden« der Organisation und werden tagtäglich im Handeln der Organisationsmitglieder sichtbar, beispielsweise über die Art, wie Prozesse gestaltet werden. Im Kontext von Organisationsberatung oder Organisations4 Zum Einfluss der Organisationskultur auf Coaching siehe auch den Beitrag von A. Pfab.

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entwicklungsprozessen sind zahlreiche konzeptionelle Ansätze und auch Instrumente entwickelt worden, um die Kultur einer Organisation zu beschreiben und auch zu verändern (vgl. u. a. Nerdinger 2014; von Hehn et al. 2016; Pelzmann u. Strümpf 2018). Von Hehn, Cornelissen und Braun beschreiben das Zusammenwirken von Struktur und Kultur als »Kultur verspeist Strategie zum Frühstück« (von Hehn et al. 2016, S. 2; diese Aussage geht angeblich auf den sehr einflussreichen Management-Theoretiker Peter Drucker zurück). Mit der Kulturebene in einer Organisation kommt die Mikroperspektive zum Tragen, denn jetzt kommen die Organisationsmitglieder als Einzelpersonen oder aber auch als Gruppen oder Teams in den Blick, beispielsweise mit Fragen, wie sich das Verhalten und Erleben der Organisationsmitglieder im Einzel­fall erklären oder im Sinne der Organisationsziele steuern lässt, oder auch eben nicht. Diese Perspektive ist im Rahmen von Organisationsentwicklungsprozessen und in der Organisationsberatung nicht der primäre Gegenstand der Analyse und Interventionsplanung, sondern findet sich eher in Beratungskontexten wie dem Coaching wieder. Eine Besonderheit der Organisationskultur ist, dass sie im Gegensatz zu strukturellen Vorgaben, wie Dienstanweisungen, nicht explizit ist. Kulturmerkmale sind beispielsweise dann vorzufinden, wenn neue Mitglieder in eine bestehende Organisation eintreten. Kulturelle Anforderungen der Organisation müssen von ihnen erkannt und verstanden werden. Sogenannte Fettnäpfchen, in die man tappen kann, wenn man eine neue Stelle angetreten hat, betreffen in der Regel das Nicht-Einhalten von relevanten Kulturmerkmalen, z. B. mit wem spricht man wie zu welcher Gelegenheit, welche Aufträge werden sofort, welche aber sicher erst mit Verzögerung bearbeitet, wie deutlich darf man seinen Arbeitseifer zum Ausdruck bringen, wo trifft man sich und was wird dort besprochen usw. Gleichzeitig werden Kulturmerkmale von neuen Mitgliedern einer Organisation mit beeinflusst und damit neu geprägt. Auch Kundinnen oder Klienten kommen mit der Organisationskultur in Berührung, bezogen auf das oben genannte Beispiel könnte die alte Dame, die nicht nur mit einer Mitarbeiterin spricht, feststellen, dass unterschiedliche Beratungsstile, unterschiedliche Haltungen oder auch unterschiedliche Arten der Anfragebearbeitung praktiziert werden, mal freundlich, mal flott, mal unfreundlich oder auch zäh. Das Wissen um die Strukturen und auch die Kulturmerkmale einer Organisation ist für den Coachingprozess ganz wesentlich. Die Praxis zeigt, dass viele Probleme, die im Coaching thematisiert werden, aus dem Spannungsfeld von strukturellen Vorgaben und kulturellen Gepflogenheiten entstehen. Hier besteht die Anforderung an alle Beteiligten des Prozesses, vor allem aber auch

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an den Coach, vor dem Hintergrund struktureller Vorgaben und kultureller Gepflogen­heiten der Organisation das Anliegen des Coachees zu rekonstruieren (vgl. Schreyögg 2018, S. 431). Es gibt eine Reihe von Ansätzen, wie das in der Praxis umsetzbar sein könnte. Beispielsweise empfiehlt Schreyögg, die strukturellen Konfigurationen gleich in der Diagnosephase des Coachingprozesses zu ermitteln, indem ein Organigramm erstellt wird (S. 431). Hier kann der Coachee seine eigene Position innerhalb der Organisation reflektieren und bearbeiten, indem seine Position innerhalb der Organisation sichtbar wird und mit Aufgaben, Befugnissen, Erlebnissen, Kooperationsnotwendigkeiten oder auch gewünschten Entwicklungen in Zusammenhang gebracht werden kann. Auch Kühl und Muster (2016, S. 17 ff.) berücksichtigen in ihrem Ansatz alle Ebenen des Coaching und regen an, als Coach den Blick in dreierlei Richtung zu schärfen: Zunächst sollte die formale Struktur einer Organisation erfasst werden, also die Aufbauorganisation mit ihrer strategischen Ausrichtung, ihren internen Kommunikationswegen und dem Personal. Zweitens sollte auch die nichtformale Seite der Organisation, also ihre Kultur, in den Blick genommen werden, um das Zusammenspiel von Verständigung, Macht und Vertrauen zu verstehen. Schließlich empfehlen Kühl und Muster, die »Schauseite« der Organisation in den Blick zu nehmen, ihre nach außen präsentierte Darstellung und ihre Leitbildaussagen. Durch die Berichte der Coachees werden im Coaching die genannten Dimensionen einer Organisation sichtbar und auch ihre eigene Rolle und Befindlichkeit in dem kulturellen Gefüge: Es gibt Unzufriedenheit mit der Aufgabenbeschreibung, mit der Zusammenarbeit im Team oder mit Kollegen, mit der Qualität der Dienstleistungen oder Produkte oder auch Unsicherheiten in Bezug auf eigene Kompetenzen im Verhältnis zu den Anforderungen. Diese beziehen sich auf das tagtägliche berufliche Handeln und wirken sich hier auch aus, beispielsweise darin, ob man gern zur Arbeit geht, mit welchen Kolleginnen Kontakt auf welche Weise gepflegt wird, wie Arbeitsabläufe gestaltet werden, wie man seine Mittagspausen verbringt usw. Diese Informationen liefern wertvolle Hinweise für den Coachingprozess. Denn je nach Funktion, Rolle, Befindlichkeit, Einbindung in das Team usw. organisieren oder konstruieren sich die Menschen ihr Handlungsfeld und auch ihre Arbeitsstätten: Es ist nicht beliebig, wo und wann Kaffeepausen absolviert werden, wann man zum Briefkasten geht, welche Wege im Haus man nutzt usw. Für andere Lebensbereiche wurde das bisher mit dem Ansatz der Sozialraumorientierung bereits ausführlich beschrieben (vgl. u. a. Früchtel, Budde u. Cyprian 2013). Der Ausgangspunkt für die Überlegung, wie im Rahmen eines diagnostischen Prozesses die Rahmenbedingungen des Handelns als kulturabhängige

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und auch kulturstiftende Variable im Coaching sichtbar gemacht werden kann, ist hier, dass sich berufliches Handeln in Organisationen in Räumen vollzieht, die für den Einzelnen oder auch Teams relevant sind, die bewusst ausgewählt und auch strukturiert werden. Im Folgenden wird etwas näher auf das Raumkonzept eingegangen, bevor das Instrument der Sozialraumanalyse für den diagnostischen Prozess im Coaching vorgestellt wird. 3.2  Soziale Räume als kulturbildende Orte in der Organisation Räume sind Orte der Begegnung und des gemeinsamen Handelns, ob in privaten oder beruflichen Kontexten: das Wohnzimmer als sozialer Ort der Begegnung und des Entspannens, das eigene Zimmer als Rückzugsort mit dem Schild vor der Tür »Eltern haben keinen Zutritt«, das Büro oder die Kaffeeküche als Ort der Kommunikation mit Kolleginnen und der Begegnung mit Klienten usw. Räume zeichnen sich durch ihre Strukturmerkmale aus, sie haben Abmessungen, Einrichtungsgegenstände und sind vielleicht auch ihrem Zweck entsprechend oder nach bestimmten Gestaltungsregeln gestaltet. Und: Räume werden für Ereignisse genutzt, beispielsweise treffen sich Menschen in Räumen, um gemeinsam einen Kaffee zu trinken und sich nach der Dienstbesprechung auszutauschen. Räume werden auch mit Ereignissen verbunden, die in ihnen stattgefunden haben, beispielsweise der Raum, in dem geheiratet wurde. Über die Nutzung werden Räume zum sozialen Ort: Menschen eignen sich den Raum an und gestalten ihn durch die Art der Nutzung: Ein Büro wird zum Treffpunkt von Kollegen, weil es keine Kaffeeküche gibt oder weil diese gegenüber dem Chefbüro liegt und man ungestört über den Urlaub sprechen möchte. Studierende versammeln sich im Sommer auf der Wiese hinter der Universität und gestalten auf der Wiese sitzend ihren Ort der Begegnung. Damit sind »Raum und Zeit […] konstitutive Elemente sozialer Lebenszusammenhänge« und können nicht unabhängig von sozialem Handeln verstanden werden (Kessl 2006, S. 38). Räume als sozial konstruierte Orte werden in der Sozialen Arbeit und Soziologie schon seit Längerem untersucht, prominente Autoren, die sich mit sozialen Raumkonstruktionen befasst haben, sind Henri Lefebvre (1991), Pierre Bourdieu (1983), Anthony Giddens (1993) oder aktuell auch Martina Löw und Gabriele Sturm (2019), um nur einige zu nennen (vgl. für einen ausführlichen Überblick Christmann 2016). Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass Raum nicht als »Behälter« gesehen wird, der einen Rahmen schafft und Aktivitäten innerhalb des Raumes definiert

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und strukturiert, sondern Raum wird als Produkt von Handlung und Struktur in der oben dargestellten Weise verstanden (Löw 2001, S. 224). Handlung bezieht sich dabei auf alle Aktivitäten, die Menschen miteinander ausführen und mit denen sie unterschiedliche Ziele und Zwecke verfolgen. Dieses Verständnis von Raum impliziert, dass die reine Existenz eines Raumes noch nichts darüber aussagt, ob, wie und von wem er genutzt wird. Existieren keine geeigneten Räume, werden sie geschaffen (z. B. der Wiesen-­ Treffpunkt) oder verlagert, beispielsweise die (inoffizielle) Dienstbesprechung in die Teeküche. Der eigentliche Zweck eines Raumes definiert sich also erst über seine eigentliche Nutzung. Das erklärt auch, warum die Planung von Diensträumlichkeiten und deren Nutzung nicht immer in Einklang miteinander stehen. Räume entscheiden auch über Zugehörigkeiten: Nicht jeder darf das private Zimmer betreten, nicht jeder darf an der »Kaffeekonferenz« teilnehmen, nicht jeder wird zur privaten Geburtstagsfeier eingeladen. Die Auswahl der Menschen, die sich in Räumen versammeln, ebenso wie diejenigen, die fehlen, prägen den Charakter des Raumes und auch die Menschen selbst. Kommt ein unfreundlicher oder schlecht gelaunter Mensch zur Dienstbesprechung, wird die Atmosphäre »im Raum« eventuell schlechter, als wäre er nicht gekommen. Schließlich hat Raum auch eine zeitliche Dimension: Die Feier beginnt zu einer bestimmten Uhrzeit, die Kaffeepause, zu der sich alle versammeln, findet immer um 8:30 Uhr statt, wer dann nicht da ist, hat sie verpasst und damit auch alle Informationen, die dort ausgetauscht wurden. Raum entsteht so durch die »soziale[n] Subjekte – und in der Folge auch [durch] soziale Strukturen – […], die Räume entstehen lassen und sogar physisch prägen« (Christmann 2016, S. 9). Bezogen auf Organisationen vollzieht sich in Räumen Kommunikation und Interaktion und prägt diese. Räume können auch hier verstanden werden als tatsächliche Räume, wie beispielsweise Büroräume oder Teeküchen, aber auch Räume außerhalb der Organisationsräumlichkeiten, die für Raucher reserviert sind, beispielsweise der Treff unter dem Vordach. Für das Coaching in Organisationen, insbesondere die Diagnosephase, lässt sich dieser Ansatz nutzen, weil über die konkrete Identifikation und Beschreibung von Räumen als Orten sozialen Lebens Analysen durchgeführt werden können, die sich auf die Menschen und ihre Lebens- und Arbeitsgewohn­heiten beziehen (Kessl 2006, S. 38 f.). Gegenstand der Analyse ist hier einerseits der Raum, der sich an objektiven Gegebenheiten orientiert, andererseits vor allem der wahrgenommene oder erlebte Raum und die Konstruktionsleistungen selbst (vgl. Dörfler 2013, S. 34).

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3.3  Sozialraumanalyse im Coaching Wegbereiter des methodischen Vorgehens bei der Analyse von sozialen Räumen sind Autoren wie Früchtel, Budde und Cyprian (vgl. u. a. Früchtel et al. 2010). Sie unterscheiden unterschiedliche Ebenen, die im Rahmen einer Sozialraumanalyse in den Blick genommen werden können: das Individuum, die Organisation, das Netzwerk und die Sozialstruktur. Nimmt man das Individuum als Analyseebene, dann stellt sich der Raum als subjektive Wirkzone dar, die sich auf »subjektiver Bedeutung, erfahrener sozialer Teilhabe und dem Aktionsfeld individueller Stärken und Kompetenzen« (Früchtel et al. 2010, S. 15) gründet. Gemeint ist hier, dass Räume nicht als statische Gegebenheiten verstanden werden dürfen, sondern sich mit dem Menschen verändern und dem Leben, das sich in dem Raum vollzieht. Dazu gehört auch die subjektive Erfahrung, beteiligt und bedeutsam für andere Menschen zu sein. Räume werden damit zu Sozialräumen. Sie können sich auf konkrete Orte beziehen, wie Wohnräume oder Büroräume, und sind damit gleichzeitig auch Interaktionsräume »und Infrastruktur für den Alltag« (S. 16). Sozialräumen kommt aber auch eine symbolische Qualität zu, wenn Orte zur Heimat werden, Möglichkeitsräume eröffnen oder zur Identitätsbildung beitragen (S. 15). Auch das lässt sich auf berufliche Kontexte übertragen, wenn beispielsweise Orten oder Räumen eine wegweisende Funktion für die berufliche Weiterentwicklung zugeschrieben wird (»Als wir noch in dem alten Gebäude saßen …«). Nicht jeder Ort ist für jeden Menschen gleichbedeutend, aber es gibt Überschneidungen. Früchtel et al. (2010) zufolge ist das Konstruktionsprinzip dieser »Überlappungs-Räume« soziale Nähe. Sozialraum ist demnach das Ergebnis von »Vernetzung und Abgrenzung« (Früchtel et al. 2010, S. 17). Beispielhaft nennen die Autorinnen Gärten und Wohnzimmer, auf die sich – im Zuge von Nachbarschaftsentwicklung – Spielmöglichkeiten von Kindern ausdehnen und die von ihnen genutzt werden, obwohl es sich nicht originär um Spielräume handelt. Für den Einzelnen beinhaltet der soziale Raum Früchtel et al. (2010) zufolge die Verbindungen zwischen verschiedenen Individuen und deren Potenzialen des sozialen Kapitals, mit den damit verbundenen Ressourcen, also vor allem auch Beziehungen zu anderen Menschen. Der Begriff des »Sozialkapitals« geht auf Pierre Bourdieu zurück (Bourdieu 1983), er meint damit »die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder wenigen institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen« (Bourdieu 1983, S. 190).

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Gemeint sind damit vertrauensvolle Beziehungen, die in ihrer Gesamtheit eine Art Kapitalstock darstellen, in den Mitglieder einer Gruppe investieren und von dem sie auch profitieren. »Bourdieus Vorstellung von Sozialkapital liegt sehr nahe am Alltagsverständnis: Sozialkapital ist ›Vitamin B‹, es sind die Beziehungen zu anderen, die einem im entscheidenden Moment die richtige Tür öffnen, den richtigen Job vermitteln und die richtigen Kontakte herstellen können« (Roßteutscher 2009, S. 169). Soziales Kapital wird aber auch dann im alltäglichen beruflichen Handeln wirksam, wenn es um die Frage geht, wer für dringende Fragen zur Verfügung steht, wer ein offenes Ohr für berufliche oder vielleicht auch sehr drängende private Probleme hat, wer Orientierung gibt usw. Früchtel, Budde und Cyprian zufolge wird der soziale Raum als Netz konzipiert, »dessen Knotenpunkte die einzelnen Menschen und Organisationen symbolisieren, während die Verbindungsmaschen die Beziehungen zwischen ihnen sind, die als Förderbänder gedacht werden können, auf denen die vielfältigsten Austauschprozesse ablaufen und unter der Hand die Integration der Individuen in die Gesellschaft erfolgt« (Früchtel et al. 2010, S. 26). Eine Analyse dieser Netzwerke bezieht sich auf die Beziehungen der Netzwerkpartnerinnen, die nach Intensität und Qualität unterschieden werden können: Wie gelingt es, Beziehungen herzustellen, wie werden Kooperation, Solidarität, Vertrauen usw. gelebt? Betrachtet man die Ebene der Organisation, werden deren Binnenstruktur und die Austauschbeziehungen innerhalb der Organisation in den Blick genommen. Betrachtet werden kann hier die Gestaltung von Zugängen: Diese, beispielsweise zu Angeboten, hängt nicht nur von Zuständigkeiten ab, sondern auch davon, wie der Zugang gestaltet wird. Zugänge können sich aber auch auf rein strukturelle Fragen beziehen, beispielsweise die Barrierefreiheit von Zugängen oder Öffnungszeiten. Das Interesse der Sozialraumorientierung steckt in der Aufdeckung von Potenzialen, die in sozialen Netzwerken stecken. Wie können diese Beziehungen im Netzwerk in der Praxis des Coaching erhoben werden? Die grundlegende Vorgehensweise besteht zunächst in der Beobachtung. Diese erfolgt systematisch und reflektiert (vgl. Thierbach u. Petschick 2019). Aus der Beobachtung folgt aber noch keine Interpretation: »Die eigentlich die Handlungen auslösende Syntheseleistung als Verknüpfung und Interpretation des Wahrgenommenen kann mittels Beobachtungen nicht erhoben werden. Stattdessen werden die Nutzung funktionsbestimmter und zweckentfremdeter Räume sowie die Nutzenden selbst systematisch beobachtet und intervenierende Raumelemente in Form von Begehungen protokolliert« (Dangschat u. Kogler 2019, S. 1340). Dabei empfiehlt es sich, auf visuelle Daten zurückzugreifen, beispielsweise zeichnerische Darstellungen von Räumen, in denen Menschen (hier: der Coachee oder das Team) sich bewegen und die geprägt sind von der subjektiven

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Interpretation: Welche Wege gehe ich bevorzugt, welche Orte sind mir aus dem Blick geraten, an welchen Orten fühle ich mich ein- oder ausgeschlossen? Usw. Bezogen auf das Coaching könnte das in der Darstellung von Grundrissen des eigenen Arbeitsbereiches sein und den Aktionen, die darin stattfinden. Abbildung 2 zeigt eine solche, etwas vereinfachte und auch entfremdete Darstellung, in der die Schulleitung einer Privatschule ihre Beziehung zu ihren nachgeordneten Mitarbeitern verdeutlichte. Anlass für die Inanspruchnahme des Coaching war die Feststellung, dass Anweisungen nicht befolgt werden. Die Schulleitung selbst schätzte sich als gut integriert ein, die von allen respektiert und auch gemocht wird. Zur Verdeutlichung ihrer täglichen beruflichen Routinen zeichnete die Schulleitung einen Grundriss ihres Arbeitsplatzes, mit den typischen Wegen am Tag, die sie und die Kolleginnen absolvieren. In Abbildung 2 sind nur einige dieser Wege abgebildet, und zwar diejenigen, die sich auf die Frage beziehen, welche Wege von ihr und den Kolleginnen zur Zeit der Frühstückspause zurückgelegt werden. Das subjektive Erleben von Räumen und wie sie wirken, wird für den Coach (und auch den Coachee) sichtbar, indem im Prozess des Zeichnens und auch mit der Fertigstellung der Zeichnung darüber berichtet wird. In diesem Fall führte das zu einer ausführlichen Analyse und auch Reflexion der Beziehungen zwischen der

Abbildung 2: Der Arbeitsplatz als Sozialraum, Beispiel für die Durchführung einer Sozialraumanalyse

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Schulleitung und den Mitarbeiterinnen, die sich offensichtlich nicht nur zu Zeiten der Kaffeepause in einem Büro der Kollegin versammelten und sich über Dinge austauschten, von denen sie nichts wusste, aber die sie beunruhigten. Die Kollegin, bei der der Austausch stattfand, wurde von der Schulleitung als hochgradig konkurrent beschrieben, sie sei es, die die größten Probleme habe mit der Befolgung von Anweisungen. Sie selbst mache keine Kaffeepausen, das sei in der Regel die Zeit, in der sie mit der Sekretärin zusammen die Aufgaben des Tages bespreche. Im Rahmen der diagnostischen Phase des Coaching wurden noch weitere Fragen gestellt, die sich auf die berufliche Raumnutzung im Sinne des Sozialraumkonzepts bezogen und so Stück für Stück Zusammenhänge der Beziehungen, Aufgaben, Funktionen und Routinen der Beteiligten sichtbar machten. Das Ziel eines solchen diagnostischen Vorgehens kann es also sein, die soziale Wirklichkeit der Menschen selbst herauszufinden und dabei über die grafische Darstellung den Bezugspunkt zur Organisation und den anderen darin beschäftigten Menschen nicht zu verlieren. Der Coach geht so mit dem Coachee gemeinsam auf die Suche, wie in der Rolle des Abenteurers, um fremde Lebenswelten zu verstehen (vgl. Früchtel et al. 2013, S. 106; siehe dazu auch den Beitrag von Reichert). Denn nicht nur in Stadtvierteln oder privaten Lebensräumen, wie es bislang in der Sozialen Arbeit erforscht wurde, sondern auch in beruflichen Räumen finden vielfältige Verflechtungen statt; es finden sich spezifische Atmosphären und Charaktere der Räume oder auch unterschiedliche Interaktionsdichten (vgl. Früchtel et al. 2013, S. 106). Da es selten möglich ist, als Coach in das »Leben« der beruflichen Räume der Coachees einzutauchen und sich selbst ein Bild zu machen, können solche grafischen Darstellungen dazu dienen, sich gemeinsam mit den Coachees in diese Welt zu begeben. Darüber, dass aus Sicht des Coachees der Versuch unternommen wird, ein genaues Abbild der Arbeitsrealität herzustellen, ist es möglich, auch Aspekte anzusprechen, die ansonsten schnell aus dem Blick gerieten oder in reinen Erzählungen des Coachees nicht vorkämen. Im Sinne der Organisationstheorie betrifft die Aufdeckung solcher Beziehungen als sozialer Netzwerke den kulturellen Teil der Organisation, der nur schwer explizit zu machen ist. Je nach konzeptioneller Ausrichtung und Anliegen des Coachee können vom Coach entsprechende Fragen zu der grafischen Darstellung formuliert werden: Wer könnte ein positives Selbstwerterleben oder ein positives Selbstkonzept unterstützen? Wer steht für Unterstützung bei Fragen zu beruflichen Abläufen oder Fachwissen? Wer hilft bei der Bewältigung hohen Arbeitsaufkommens oder Stress? Wer steht im Krisenfall zur Verfügung? Usw. In einem weiteren Analyseschritt lassen sich die Beziehungen der beteiligten Akteure grafisch darstellen, um beispielsweise herauszufinden, wer auf welche

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Weise Unterstützung bei Veränderungsprozessen bieten kann. Dazu werden die Beziehungen der Coachees zu den anderen Akteuren genauer beschrieben. Kirschniok (2014) unterscheidet hier die strukturelle und die qualitative Dimension. Die strukturelle Dimension beinhaltet Aspekte, wie die Erreichbarkeit, das Ausmaß an Interaktionen zwischen den Akteuren (Dichte), die Netzwerkgröße oder auch die Abgeschlossenheit oder Offenheit gegenüber Personen(gruppen) außerhalb des Netzwerkes, beispielsweise in anderen Abteilungen. Die inhaltliche Dimension beschreibt das Netzwerk in seinen inhaltlichen Qualitäten, beispielsweise wie hoch der Intimitätsgrad zwischen den Akteuren ist, wie lange der Kontakt schon besteht, welche Themen relevant sind usw. Die Relevanz dieser Dimensionen für die Coachees kann im weiteren Coachingprozess vertieft werden und dient als erste Grundlage für die Hypothesen­ bildung, welche Probleme aus Sicht des Coachees zu bearbeiten wären. Im weiteren Prozess lassen sich dann sowohl Fragen der Problementstehung wie auch der Problembearbeitung mit der notwendigen (sozialen) Unterstützung bearbeiten.

4 Fazit Wie bereits zu Beginn dieses Beitrags erwähnt, wurden zwei Zielsetzungen verfolgt: Zunächst sollte für die Bedeutung der fachlich fundierten Diagnostik im Coaching sensibilisiert werden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass eine gründliche und umfassende Diagnosephase, die den Blick auf alle relevanten Einflussfaktoren für eine Problemstellung freilässt, die beste Voraussetzung für die Entwicklung von Lösungsstrategien ist. Denn in der Diagnostikphase geht es ja nicht nur darum, dass der Coach versteht, »wo der Schuh drückt«, für den Coachee ist es bereits Teil des Beratungsprozesses. Er sieht sich im Spiegel, wenn Instrumente eingesetzt werden und der Coach Fragen dazu stellt. Wie der Spiegel gehalten wird und welche Teile von sich der Coach darin sieht, hat der Coach wesentlich in der Hand. Ein systematisches Vorgehen hilft hier, sich den Prozess nicht durch eigene blinde Flecken anzueignen. Die Systematik von Möller und Kotte hilft hier, vorhandene Instrumente auf ihre Zielrichtung hin zu erforschen und einzuordnen. Mit diesem ersten Anliegen verknüpft sich ein zweites: Mit der Einführung eines Instruments aus der Sozialraum­analyse sollte versucht werden, ein an theoretischen Grundlagen orientiertes methodisches Vorgehen auch für den Coachingprozess nutzbar zu machen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich in dem Prozess die Konfliktlinien von Struktur- und Kulturmerkmalen einer Organisation abbilden und für das einzelne Organisationsmitglied spür-

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bar werden. Beide Dimensionen einer Organisation müssen dann in den Blick genommen werden, wobei es sehr viel schwieriger ist, Kulturmerkmale einer Organisation zu erfassen, als Strukturen zu beschreiben. Das Instrument der Sozialraumanalyse erlaubt es, das soziale Kapital für ein Organisationsmitglied (hier den Coachee) zu beschreiben, indem Netzwerke, Kooperationsbeziehungen, Kommunikationswege, wichtige und weniger wichtige Orte im Unternehmen usw. sichtbar gemacht werden und quasi von außen durch die Nachfragen des Coaches beobachtet werden können. Dieses Vorgehen birgt die Chance für ein systematisches und konzeptionell eingebettetes Vorgehen im Coachingprozess, das die Perspektive des Individuums, des Teams und auch der Organisation gleichermaßen abbilden kann.

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»… muss man im Kontext sehen!« – Professionalität im Umgang mit Kontextvielfalt im Coaching Antje Pfab

1  Einführende Überlegungen Bereits in der einführenden Literatur zum Thema Coaching und Supervision wird ebenso wie in qualitativ hochwertigen Coaching- oder Supervisionsausbildungen auf die Wichtigkeit des Kontexts in der reflexiven Beratung verwiesen. Cox, Bachkirova und Clutterbuck halten die Kenntnis über den Kontext von Coaching für einen substanziellen Bereich (Cox et al. 2014, S. 146). Auch erfahrende Coaches und Supervisorinnen halten die Berücksichtigung von Kontext(en) in ihrer Beratungsarbeit für ein wesentliches Element, um den Beratungsprozess zu einem guten Ergebnis führen zu können. Teilweise taucht der Begriff sogar schon bei der Bestimmung dessen auf, was Coaching und Supervision eigentlich sind: So schreibt beispielsweise G ­ aldynski, dass es sich bei der »personenorientierte[n] Beratung in Organisationen […] unter den Begriffen Coaching und Supervision […] um Beratungen im Kontext von Organisationen« handele (Galdynski 2009, S. 11). Liska stellt fest, »dass Coaching im Organisationskontext ein legitimiertes Instrument bzw. Format geworden ist und sich als solches bereits teilweise institutionalisiert hat« (Liska 2010, S. 37). Dennoch wird der Kontextbegriff sowohl in der einschlägigen Literatur als auch im Gespräch mit Kollegen selten genau reflektiert oder definiert1 – und das in 1

So auch bei Kuhlmann in seinem auf Lehrsupervision bezogenen Beitrag: »Das Spiel der Kontexte«, in dem er sich auf einen sehr eingeschränkten und auch fragwürdigen Kontextbegriff bezieht: »Der Kontext ist also ein geschaffener ›Raum‹, der ermöglicht, Informationen zu erhalten und mit diesen weiterzuarbeiten« (Kuhlmann 2017, S. 190). Gerade im Ausbildungskontext wäre eine Klarheit zentraler Begriffe mehr als nur wünschenswert. Ein weiteres Beispiel findet sich bei Pohl und Fallner, die unter »Coaching-Kontexte[n]« (Teil V ihres Buches) ihr »Verständnis von Begrifflichkeiten [auflisten], die für Konzept und Kontext wichtig sind« (Pohl u. Fallner 2010, S. 15). Es finden sich dabei so heterogene Begriffe wie »analoge und digitale Kommunikation« (S. 141) oder »Theorie« (S. 160 f.) bis hin zu »Ästhetik« (S. 142) oder die Auflistung einer Rockgruppe: »City« (S. 145), die die Autoren zudem ohne jegliche Kommentierung warum ebenfalls mit aufgenommen haben. So nennen Pohl

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einer Branche, in der das genaue Hinschauen, das Nachfragen, was konkret mit einer Aussage gemeint ist, das Einbeziehen unterschiedlicher Ebenen und die Verdeutlichung von Unterschieden Grundlagen erfolgreicher Beratungsarbeit bilden. Trotz des Wissens, zu welchen Fehlschlüssen unhinterfragte Annahmen und vermeintliche »Klarheiten« führen können, wird die Verwendung des Kontextbegriffs ebenso wie die Arbeit mit Kontext(en) offenbar als etwas so Selbstverständliches gesehen, dass es scheinbar keiner weiteren Klärung mehr bedarf. Möglicherweise liegt dies im Bereich der Supervision auch daran, dass durch die Herkunft aus der Sozialen Arbeit und dem Einfluss der Psychotherapie »allzu lange nur die Personen von Supervisor und Super­visand mit ihrer Subjektivität das Zentrum der Beratung bildeten« (Schreyögg u. Schmidt-­Lellek 2010, S. 7) und der berufliche Kontext demzufolge mit »von psychotherapeutischen Verfahren dominiert[en]« »diagnostischen Positionen« (Schreyögg 2007, S. 103) oder »Ansätze[n] aus der Familien- bzw. Kommunikationstherapie« erfasst werden sollte (S. 106). Unter Gesichtspunkten des Coachinghandelns stellen Kontexte ein Deutungs- und Veränderungspotenzial in Coaching und Supervision dar. Dazu bedarf es allerdings eines kundigen und professionellen Umgangs mit diesem Potenzial durch den Coach. Dieses kann jedoch nur dann voll ausgeschöpft werden, wenn sich die Beraterin mit der Kontextvielfalt in diesen Beratungs­feldern differenziert auseinandergesetzt hat und so in der Lage ist, relevante Kontexte wahrzunehmen und reflektiert in ihre Beratungsarbeit ­miteinzubeziehen.

und Fallner unter dem noch einmal eigens gelisteten Stichwort »Coaching-Kontexte« auch »Biographie/Berücksichtigung persönlicher Eigenarten und Geschichten« (147). Der gesamte Eintrag zu »Coaching-Kontexten« lautet: »Coaching mit System ist integrativ und behandelt Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbeziehungs-Systeme im Wirkungsfeld beeinflussender Kontexte. – Organisation/Aufmerksamkeit für Struktur, Hierarchie, Betriebsklima; – Biographie/ Berücksichtigung persönlicher Eigenarten und Geschichten; – Ideologie/Auseinandersetzung mit Leitbildern, Sinn- und Glaubensfragen; – Gesellschaft/Blick auf den größeren sozialen Zusammenhang, Verantwortung für das Ganze« (S. 147). Was sie unter »das Ganze« verstehen, bleibt dabei (trotz ihres im Teil V ihres Buches beabsichtigten Glossars) weiterhin im Unklaren.

»… muss man im Kontext sehen!«

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2 Kontext: Was genau ist das und warum ist die Berücksichtigung von Kontexten gerade in Coaching und Supervision so wichtig?

2.1 Begriffsklärung Der Begriff Kontext ist im Coaching und vor allem in der systemischen Super­ vision ein Schlüsselbegriff. Dennoch finden sich nur wenige Versuche einer Begriffsbestimmung. Ich führe dies darauf zurück, dass der Begriff in sehr unterschiedlicher Weise verwendet wird2. Der vom lateinischen con-textus (»Zusammenhang« zu textere, »flechten«) abgeleitete Begriff Kontext bezeichnet in der Kommunikationstheorie »alle Elemente einer Kommunikationssituation, die systematisch die Produktion und das Verständnis einer Äußerung bestimmen. Man kann drei elementare K.-Typen unterscheiden: (a) den allgemeinen K. der Sprechsituation, z. B. Ort, Zeit, Handlungszusammenhang der Äußerung, (b) den persönlichen und sozialen K. der Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, ihren Einstellungen, ihren Interessen und ihrem Wissen bzw. ihren wechselseitigen Wissensannahmen, sowie (c) den sprachlichen K. […]. Erst im Zusammenwirken mit allen K.-Faktoren ergibt sich aus dem Sinnpotential eines Satzes der aktuelle Sinn einer Äußerung bzw. aus einer Folge von Äußerungen ein Text« (Bußmann 2002, S. 374). Der Begriff bezieht sich also allgemein auf den textuellen Zusammenhang, in dem ein sprachlicher Ausdruck erscheint und der ihm seine Bedeutung verleiht (daher auch »Kon-Text«). Aber auch ein angemessenes Sozial­verhalten (social behavior) erfordert Wissen darüber, in welchem Kontext man sich befindet und wann Kontexte wechseln, ebenso wie das Wissen darüber, welches Verhalten in jedem dieser Kontexte angemessen ist (Erickson u. Shultz 1983, S. 147). Kontexte beziehen sich daher nicht nur auf physische Räume (z. B. der Besprechungsraum) oder auf Verbindungen zwischen Personen (z. B. Geschwister oder ein Projektteam), sondern werden vielmehr dadurch erzeugt, was Menschen tun und wo und wann sie es tun (S. 148). 2 Smith, Glenberg und Bjork haben bereits 1978 festgestellt: »›Context‹ […] is a kind of conceptual garbage can« (Smith et al. 1978, S. 342). Auch Clark und Carlson beklagen: »Although the notion of context plays a central role in most current explanations of language understanding, what can count as context is generally undefined. If it includes any information a listener can make available to himself, then it loses much of its power to explain. […] And the further its uses have been extended, the murkier its denotation has become« (Clark u. Carlson 1981, S. 313 f.).

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Auf Supervision und Coaching bezogen zielt der Begriff darauf ab, sozialen Sachverhalten Bedeutung zu verleihen. Stellvertretend für viele verweise ich an dieser Stelle auf Bateson, für den Kontext mit dem Begriff der Bedeutung verknüpft ist: »Ohne Kontext haben Worte und Handlungen überhaupt keine Bedeutung« (Bateson 1984, S. 25). Kontext ist relevant für die Bedeutung (S. 150), er legt die Bedeutung fest (S. 26). Das verbindende Muster besteht darin, dass »alle Kommunikation einen Kontext erfordert, daß es ohne Kontext keine Bedeutung gibt und daß Kontexte Bedeutung vermitteln, weil es eine Klassifizierung von Kontexten gibt« (S. 28). Dies betrifft, wie Retzer betont, »[j]egliches Denken, Fühlen und Verhalten von Menschen« (Retzer 1990, S. 366). Der Kontext oder bedeutungsgebende Rahmen wiederum sei ein »erkennbares Muster von Ereignissen oder Ideen, das von einem Individuum oder einer Organisation in Interaktion mit seiner Umgebung geschaffen wird« (S. 366). So gibt es »sehr viele Möglichkeiten, die Welt zu beobachten, je nachdem welche Systemreferenz zugrunde liegt« (Weigand 2012, S. 20). Buer bezeichnet dagegen mit Kontext »die Interpretationsebene der äußeren Welten«, die er von den mit einem Ich-Gefühl verbundenen inneren Welten sowie den mit einem Wir-Gefühl verbundenen interpersonalen (Arbeits- und Lebenswelten) abgrenzt. Kontext bezieht sich bei ihm also ausschließlich auf die »hinter« diesen Mit-Welten liegenden Um-Welten, also äußeren Welten, zu denen wir laut Buer nur indirekten Kontakt haben (Buer 1999, S. 226). Andererseits wird der Begriff Kontext als Synonym für einen bestimmten Arbeitsbereich verwendet, wie z. B. bei Birgmeier, der in seinem Artikel: »Coaching im Kontext der Sozialen Arbeit« zwar den Begriff »Coaching« im Hinblick auf die von ihm zugewiesene Bedeutung, Eigenschaften und auch Beziehung zur Sozialen Arbeit näher beleuchtet – nicht jedoch den sogar im Titel genannten und folglich ebenfalls zentralen Begriff des Kontexts (­Birgmeier 2016, S. 96 ff.). Der Kontextbegriff, den ich in diesem Beitrag und meiner Arbeit als Coach zugrunde lege, betont den bedeutungsgenerierenden konstruktiven Charakter von Kontexten (siehe oben) und beinhaltet sowohl den Hintergrund einer bestimmten Situation als auch die mit ihr verbundenen Rahmenbedingungen. Im Coaching sind diese Kontexte vor dem Hintergrund des speziellen Systems Coaching zu sehen, das selbst wiederum von spezifischen Rahmenbedingungen geprägt ist. Folglich ist also alles Kontext, was zu einer im Coaching geschilderten Situation dazu gehört bzw. relevant ist für das Verstehen dieser Situation und der damit verbundenen Gefühle.

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2.2  Wirklichkeitskonstruktionen und ihr Einfluss auf Kontextbildung »[E]s gibt keine von der Beobachtung unabhängige Wirklichkeit. Die objektive Realität ist nicht erfahrbar, Realität wird subjektiv interpretiert« (Kasper u. Mayrhofer 2015, S. 11). Die Theorie des Konstruktivismus geht davon aus, dass jeder Mensch sich seine Wirklichkeit selbst konstruiert, sich seine eigene Wirklichkeit schafft auf der Grundlage der eigenen Sozialisation, Erziehung, Kultur, in der jemand aufgewachsen ist, gemachter Erfahrungen, erworbener Prinzipien, Vorannahmen und anderem. Diese bilden einen Kontext seines Handelns. »Konstruktivisten leugnen die Existenz einer Außenwelt nicht, verneinen aber ihre voraussetzungsfreie Erkennbarkeit und fragen stets nach dem Zustandekommen von Realitätskonzepten. […] Allerdings: Konstruktion ist kein individueller Schöpfungsakt, kein bewusst steuerbarer Vorgang, sondern vielfältig bedingt durch Natur und Kultur, Geschichte, Sprache und Medien« (Pörksen 2012, S. 1). Dies führt dazu, dass Konstruktionen in der Regel hartnäckig sind, stabil, nicht so leicht zu erschüttern – und daher eine nicht zu unterschätzende Komponente in Coachings darstellen. Menschen haben bestimmte Annahmen darüber, wie man sich unter welchen Umständen verhalten sollte, bestimmte Ereignisse betrachtet werden und wie sie sich selbst in Kontakt mit ihrer Umwelt und ihrem System sehen sollten. Je nachdem, zu welchem Ergebnis sie dabei mit ihrer Wirklichkeitskonstruktion kommen, sind die daraus folgenden Resultate sehr unterschiedlich und führen zu unterschiedlichen Handlungsweisen, welche die eigene Wirklichkeitskonstruktion aufrechterhalten (Retzer 1990, S. 359 f.). Als Coach ist es daher unerlässlich, die Konstruktionen, auf deren Grundlage Coachees handeln und denken, im Blick zu behalten und sich gleichzeitig darüber bewusst zu sein, dass auch man selbst eigene Wirklichkeitskonstruktionen hat, auf deren Grundlage man bestimmte Hypothesen und Vorannahmen bildet – und diese sich unter Umständen sehr von denen der Coachees unterscheiden können. So weisen auch Kasper und Mayrhofer darauf hin, dass es bei der Beobachtung der »Realität« immer darauf ankommt, »aus welcher Perspektive und mit welchem Interesse man diese wahrnimmt« (Kasper u. Mayrhofer 2015, S. 11). »In sozialen Strukturen und Prozessen […] gibt es zwar auch ›harte Fakten‹, allerdings werden diese unweigerlich perspektivenabhängig interpretiert« (S. 11). Die Sichtweise und Bewertung eines sozialen Systems sei folglich »immer etwas Ausgehandeltes, etwas Vereinbartes, etwas Konstruiertes. Diese Aushandlungsprozesse hängen von der Bewertung und Interpretation einer Situation ab. Sie sind durch die Perspektive derjenigen, die das beobachten, massiv beeinflusst« (S. 11 f.). So bedingen Wirklichkeitskonstruktionen wie Motive, informelle Füh-

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rung oder gelebte Verhaltensnormen Kasper und Mayrhofer zufolge stärker als »›harte Fakten‹ […] Prozesse und Strukturen sowie auch Kultur und Strategie/ Ziele« (S. 12). Bei sozialen Phänomenen entscheide daher »die persönliche Sichtweise der Beobachterinnen und Beobachter und – bestenfalls – in der subjektiven Vereinbarung mit anderen Beobachterinnen und Beobachtern, was Sinn macht oder was Blödsinn ist oder was für die Situation nützlich oder schädlich ist« (S. 12). Auf Coaching und Supervision bezogen kann man unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen nutzen, um Klientinnen neue Handlungsoptionen, neue Perspektiven zu erschließen3; schließlich bewirkt oft eine andere Sichtweise, ein »neuer Blick« auf eine als schwierig erlebte Situation, um aus einer vermeintlich festgefahrenen Situation einen Ausweg zu finden, Handlungsmuster aufzuzeigen, deren Erkennen das Aufbrechen derselben möglich machen können. So kann die gleiche Situation einen sehr unterschiedlichen Kontext aufweisen, je nach Perspektive derjenigen, welche sie schildert – und abhängig davon, wo im System diejenige sich in der geschilderten Situation befindet. Konkret heißt das am Beispiel Schule, dass eine beteiligte Lehrerin einen sehr anderen Blick auf eine bestimmte Situation haben wird als eine betroffene Schülerin, die wiederum einen anderen Blick darauf hat als ein nichtbetroffener Schüler oder ein Elternteil, dem nachmittags davon erzählt wird. 2.3 Relevanz für Coaching und Supervision »Jede Berufstätigkeit […] steht in unterschiedlichem Maße in organisatorischen und institutionalisierten Kontexten« (Schreyögg 2009, S. 18). Versteht man Coaching und Supervision als berufsbezogene Beratung, ist eine Ausein­andersetzung mit Kontexten folglich unabdingbar. So ist die Kenntnis darüber, welche Kontexte in einer geschilderten Situation oder Falldarstellung eine maßgebliche Rolle spielen, zum einen wichtig, um ein angemessenes Verständnis der Schilderung und des damit verbundenen Anliegens einer Klientin entwickeln zu können, zum anderen eröffnet kontextbezogenes Wissen4 die Möglichkeit, verschiedene Kontexte in den Coachingprozess miteinzubeziehen und der Klientin so eine erweiterte Perspektive auf ihre Schilderung zu ermöglichen. Die Berücksich­ 3 Siehe auch Ebbecke-Nohlen, die darauf hinweist, dass sich die Supervisorin im Kontext systemischer Supervision »von der Idee, dass es eine einzig richtige Antwort gibt, verabschieden [kann] und mit den SupervisandInnen eine Vielzahl von Möglichkeiten entwickeln [kann], aus denen die SupervisandIn die für sie am besten passenden Optionen auswählen kann« (Ebbecke-Nohlen 2009, S. 48). 4 Zum handlungsrelevanten Wissen in der Coachingprofession siehe Pfab und Pfab (2018, S. 436 ff.).

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tigung und Darstellung der verschiedenen Kontexte tragen zu einer Klärung der geschilderten Situation oder des geschilderten Falls bei. In der Interventionsphase führen sie zu einer Erhöhung des Handlungsspielraums und einer veränderten Sichtweise, insbesondere in Kombination mit einer systemischen und/ oder konstruktivistischen Herangehensweise. So erleichtert die Verdeutlichung der verschiedenen relevanten Kontexte einem Klienten in einer Konfliktsituation nicht nur einen Perspektivenwechsel, sondern trägt auch zu einem tieferen Verständnis des Konflikts bei, indem verschiedene Konfliktebenen durch den Fokus auf unterschiedliche kontextuelle Hintergründe des Konflikts erkennbar werden. Lohmer zeigt anhand eines Fallbeispiels aus seiner Supervisionspraxis sehr eindrücklich, wie sich ein Supervisionsauftrag entwickeln kann, wenn Kontexte unberücksichtigt und unreflektiert bleiben. Er schildert in seinem Fallbeispiel einer Teamsupervision in einer Abteilung stationärer Psychotherapie, wie er sich vom Oberarzt hat vereinnahmen lassen und ihm die »Rolle als ›Kultur- und Wissensträger‹ der Einrichtung« zugeschrieben habe (Lohmer 2012, S. 66 ff.). Durch die erfolgte Verbrüderung mit dem Oberarzt und eine »Wahrnehmungs­einschränkung gegenüber den Signalen aus dem Feld« habe er seinen »eigent­lichen supervisorischen Auftrag, die Gesamtdynamik des Teams zu erkennen und ›allparteilich‹, abstinent und mit Abstand zum Kunden­system zu wirken, nicht mehr ausreichend erfüllen« können (S. 67 f.). Dies wurde ihm jedoch erst deutlich, nachdem der Oberarzt nach einer Konflikteskalation auf der Leitungsebene beurlaubt wurde und ihm das Team daraufhin »bittere Vorwürfe gemacht [hat], dass ich blind für ihre Signale gewesen sei und allmählich […] klar [wurde], dass viele Teammitglieder sich ihm [dem Oberarzt, Anm. A. P.] gegenüber wie in einem Terror-Regime erlebt hatten« (S. 67). Hätte er Schreyöggs »Handhabung unterschiedlicher Coachingsituationen« befolgt, wäre Lohmer sein Scheitern in seinem geschilderten Supervisionsprozess erspart geblieben: »Der Coach sollte besonders sorgsam Kontextfaktoren zu erfassen suchen, denn sie färben nicht nur die Thematik im Coaching ein, sondern auch die Beziehung zum Coach sowie bei Mehrpersonensettings noch die Beziehungen der Klienten untereinander« (Schreyögg 2009, S. 26).

3 Kontextdiskurs − Reflexion in der Coachingund Supervisionsbranche Wenn man nun sowohl die hohe Relevanz von Kontexten für Coaching und Supervision bedenkt als auch die durch einen professionellen Umgang mit diesen Kontexten deutlich erhöhten konstruktiven Bearbeitungsmöglichkeiten

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eines Coachinganliegens, erstaunt es doch sehr, wie wenig entwickelt der Diskurs darüber sowohl unter Supervisorinnen als auch in der Coachingbranche ist. Dies wird umso deutlicher, wenn man sich dagegen die große Anzahl methoden- oder tool-orientierter Bücher und Workshops auf dem Markt anschaut, die zwar ebenfalls wichtig sind für einen erfolgreichen Coachingprozess, aber in keinem Verhältnis zu ihrem Anteil an einem guten Gelingen desselben stehen. Auch »the growing body of coaching literature« im englischsprachigen Bereich »tends to focus on the micro-practices of coaching (how to coach)« und hinterlässt eine Lücke in der Literatur, »leaving out the wider social, theoretical and organizational influences (the discourses) that shape coaching« (­Western 2017, S. 42). In den Leitlinien des Deutschen Bundesverbands Coaching e. V. (DBVC) wird die Berücksichtigung von Kontexten zwar ebenso wie ein erforderlicher Theorie- und Methodenbezug im Sinne professioneller Standards genannt, was der DBVC bzw. die diese Leitlinien entwickelt habenden Mitglieder darunter jedoch verstehen, bleibt wiederum unklar (DBVC 2012). Fischer konstatiert für die »beratenden und helfenden Professionen« einen »naive[n] Realismus […], der detachiert erkennen und abbilden will, was ist, ohne sich zu verwickeln« (Fischer 2010, S. 15). Dies könnte zumindest ein Grund dafür sein, warum eine Kontextualisierung der eigenen Person des Beraters tendenziell ausgeblendet wird; erkennt man die auf den Coach bezogenen Kontexte als prozessrelevant an, ist gleichzeitig der Einfluss desselben nicht mehr nur durch seinen Ausbildungshintergrund und die Wahl seiner Interventionsvorschläge gegeben. Der Einfluss, den er selbst auch aufgrund seines eigenen Erfahrungshintergrunds und seiner persönlichen Einstellungen auf den Coachingprozess ausübt, ist dann kaum mehr zu leugnen und steht in Widerspruch zu der insbesondere in der Supervisionsbranche so verpönten »Verstrickung«. So beschreibt Huber »Polaritäten-Paare« zwischen »Entwicklung und Wissensvermittlung [,] […] Prozesskompetenz versus Fachkompetenz« (Huber 2018, S. 43), darin unter anderem: »Dienen – Bestimmen In der Prozessbegleitung bestimmen in letzter Konsequenz immer die Beteiligten. […] Auf der Seite des Wissenstransfers stehen wir hingegen als Person und mit unserem Wissen im Vordergrund und bestimmen im Wesentlichen, was dabei rauskommt. […] Katalysator sein – Inhaltlich Einfluss nehmen ȤȤ Katalysator zu sein, ist eine Grundlage unserer Arbeit als Coach im Prozess. Wir sind nicht Teil dieses Prozesses [sic!]. Wir bringen einen Prozess in Gang, beschleunigen ihn, manchmal bremsen wir ihn auch. ȤȤ Wir nehmen jedoch inhaltlich keinen Einfluss, unsere eigene Meinung fließt nicht in die Entscheidung mit ein« (Huber 2018, S. 45).

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Dass dies in der Realität so nicht zutreffend ist und ein Ausblenden des eigenen Einflusses auf den Coachingprozess eine große Gefahr darstellt, liegt auf der Hand. Dann kann nämlich nicht einmal eine Reflexion desselben stattfinden, die ein Coach wiederum bei seinem Handeln im Prozess berücksichtigen kann. In der kritischen Reflexion seines eigenen Handelns in einem von ihm selbst als gescheitert erlebten Supervisionsprozess wird auch bei Hirsch deutlich, dass es nicht immer ausreichend ist, sich auf die vermeintliche Abstinenz des Super­visors zu beschränken: »Hätte ich etwas (anderes) tun können? Beraten, Ratschläge geben, regulieren, anordnen, strukturieren, intervenieren? Ich wollte doch nur sein, ein interessierter Beobachter, Begleiter sein, wohlwollend-­ neutraler Aufdecker und Interpret der (unbewussten) Dynamik. All das hat aber nicht ausgereicht, den unaufhaltsamen, einer antiken Tragödie gleichenden Ablauf wirksam zu beeinflussen« (Hirsch 2012, S. 119). In dem Beispiel hätte eine stärkere Berücksichtigung der vielfältigen Kontexte sowie der eigenen Rolle den Prozessverlauf positiv beeinflusst. Darüber hinaus kann auch aufgrund der häufig vorzufindenden Vorbehalte der in der Praxis tätigen Supervisorinnen und Coaches gegenüber der Wissenschaft5 kein Diskurs in Gang kommen, wie er beispielsweise in der Ethnologie bezüglich der unbeabsichtigten Beeinflussung des erhobenen Datenmaterials und Forschungsergebnisses seitens der Forscherin stattgefunden hat und wie in dessen Folge Kriterien wissenschaftlicher Standards überprüft und verändert wurden6. Um es mit Fischers Worten zu sagen: »Auf der Seite professioneller Praxis, etwa in der Sozialen Arbeit, der Pädagogik oder den Beratungs­berufen beschwört man vielleicht in Sonntagsreden die Verbindung zur Wissenschaft, hält aber alltags nicht viel davon. Man bleibt auf Distanz zu Forschung und Forschungs­diskursen, weil diese scheinbar für die Praxis nichts taugen« (Fischer 2010, S. 16). Ein gutes Beispiel für die gewinnbringende Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis stellt der Beitrag von Gotthardt-Lorenz, Hausinger und Sauer über das »forschende Vorgehen in Supervisionsprozessen« dar (Gotthardt-Lorenz et al. 2013). Sie zeigen auf, wie sich Forscherhaltung, -methoden und -heran5 Gründe für die mangelnde Rezeption gesprächslinguistischer Studien finden sich bei Pfab und Pfab (2018, S. 440 f.). 6 Bereits in den 1920er Jahren hatte Malinowski mit der Einführung der »teilnehmenden Beobachtung« neue Forschungsstandards gesetzt (Malinowski 1922), die den möglichen Einfluss des Forschers auf sein Forschungsumfeld thematisieren. Insbesondere nach der posthum erfolgten Veröffentlichung seiner Tagebücher (Malinowski 1967) fand eine rege Forschungsdebatte statt, in deren Folge die Reflexion des eigenen Forschungshandelns als maßgebliches Kriterium in die Praxis guter wissenschaftlicher Arbeit Eingang gefunden hat (Clifford u. Marcus 1986).

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gehensweisen in einem Supervisionsprozess nützlich erweisen können, gerade auch auf relevante Kontexte bezogen: »Es geht also nicht allein darum, die relevanten Umwelten der arbeitsbezogenen Themen, Fragestellungen und emotionalen Befangenheiten zu analysieren, sondern auch die Zusammenhänge zu erfassen zwischen dem, was im Beratungssystem von Personen bzw. Rollen-/ Positionsvertreter/-innen formuliert wird und sich in den dortigen Einstellungen, Interaktionen, Konflikten zeigt und dem, was an Anforderungen, Bedingungen, Konfliktlagen und Unklarheiten der Arbeitsfeld- und Organisationskontexte vorliegt. Durch forschendes Vorgehen, das Phänomene der einen Ebene mit Phänomenen der anderen Ebene zusammenbringt und von einen zum anderen rückkoppelt, können einseitige Sichtweisen und Fixierungen auf vordergründige Problemsichten erweitert werden, so dass das Entstehen von kreativen Handlungsperspektiven ermöglicht wird« (Gotthardt-Lorenz et al. 2013, S. 205). Leider findet im weiteren Verlauf des Artikels dann eine meines Erachtens nicht zulässige Rollenvermischung statt, wenn »mit den Supervisand/-innen […] ›Forschungsgefährten‹ […] entwickel[t] und […] verfolg[t]« werden sollen (S. 205). Nicht nur, dass viele Supervisanden damit überfordert wären und eine von ihnen eingenommene Forscherhaltung aufgrund der damit verbundenen Distanzierung auch den Supervisionsprozess behindern würde, sondern auch seitens der Supervisorin könnten dann die unterschiedlichen Ziele, Aufträge und damit verbundenen Rollen als Forscherin versus denen der Supervisorin nicht mehr angemessen berücksichtigt werden. So macht auch Kühl darauf aufmerksam, dass »[d]ie Annahme, dass ›gute Wissenschaft‹ auch zwangsläufig ›gute Praxis‹ ist, […] schon deswegen naiv [ist], weil die Erfolgskriterien von Wissenschaftlern ganz andere sind als die von Praktikern« (Kühl 2018, S. 3). Sofern die Supervisorin jedoch die notwendige Forschungskompetenz mitbringt – und nur dann –, kann ein zeitweises »forschendes Vorgehen« den Supervisionsprozess voranbringen; sie bleibt dabei jedoch noch immer in der Rolle der Supervisorin und dem damit verknüpften Auftrag verbunden, der sich von dem mit der Rolle der Forscherin verbundenen Auftrag unterscheidet. Häufiger anzutreffen ist ein reflexiver Diskurs in der Branche speziell auf den Organisationskontext bezogen: So hat die von Schreyögg und Schmidt-Lellek vor knapp zehn Jahren noch beklagte mangelnde Berücksichtigung des Organisationskontexts (Schreyögg u. Schmidt-Lellek 2010, S. 7 f.) zwischenzeitlich Eingang gefunden sowohl in Supervisionsausbildungen als auch in die supervisorische Praxis. Aufgrund des wirtschaftlichen Entstehungshintergrunds des Formats Coaching wurde der »organisatorische Rahmen« in diesem Feld auch früher eher in die Beratungsprozesse eingebunden (S. 7). In der englischsprachigen Coachingdebatte nimmt der Kontextbegriff bereits einen breiteren Raum

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ein, bleibt jedoch bei Cox et al. auf die Organisation und die sie beeinflussende Umwelt beschränkt. Sie sehen den Kontext als gleichermaßen bedeutsam an wie den individuellen Coach und Klienten sowie ihre Coachingbeziehung (Cox et al. 2014, S. 142). Der von Schreyögg und Schmidt-Lellek geforderte »angemessen breite[.] und analytische[.] Rahmen für Coaching und Supervision«, bei dem die Mikroebene nicht nur »eingebettet in einen Makro-Rahmen betrachtet«, sondern auch die Mesoebene einbezogen wird (Schreyögg u. Schmidt-Lellek 2010, S. 7), wird dagegen meines Erachtens vielfach noch immer nicht ausreichend berücksichtigt in der supervisorischen Praxis. Durch das konkrete Aufzeigen der Vielfalt relevanter Kontexte möchte dieser Text einen Beitrag dazu leisten, die angemessene Berücksichtigung und Reflexion dieser Kontexte in der Praxis umzusetzen.

4  Coachingrelevante Kontexte Im Folgenden stelle ich eine Systematik der verschiedenen Kontexte vor, die im Coaching konstruktiv berücksichtigt werden können. Da ein systemisches Coaching Menschen und Begebenheiten nicht isoliert betrachtet, sondern im Zusammenhang seines – von der Sichtweise des Coachee bestimmten – Systems, sind im Grunde alle Kontexte, die für die Fragestellung und Zielklärung des Coachees relevant sind, auch im Coaching von Bedeutung. Von der Metaebene Coaching aus betrachtet kommen noch weitere, neue Aspekte hinzu, nun vor dem Kontext des Coachingsystems. Dieses System bzw. mein Verständnis desselben möchte ich im Folgenden näher erläutern. 4.1  Der Coachingprozess selbst Der Kontext des Coachingprozesses selbst beinhaltet den Auftrag, den dem Prozess zugrundeliegenden Kontrakt/Vertrag, das Setting, in dem die einzelnen Coachingsitzungen stattfinden, aber auch die Prozessgestaltung und evtl. auftretende Übertragungen/Übertragungsphänomene. »Latente Funktionen«, »hidden agendas«, »heimliche Tagesordnungen« und andere »verborgene Phänomene«, die ebenfalls Teil von Beratungsprozessen sind und diese entsprechend beeinflussen (Weigand 2012, S. 21), gehören in diesen Kontext sowie Professionalisierungselemente, z. B. wenn bei der Prozessgestaltung am Ende des Prozesses eine Evaluation desselben durchgeführt wird. Die oben genannten Punkte sind Teil des »Beratungssystems« (in Abgrenzung zum »Heimatsystem«, von dem der Coachee in seinen Falldarstellungen

Abbildung 1: Coachingrelevante Kontexte

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innerhalb des Beratungssystems Coaching berichtet). Auch dieses kann als Kontext genutzt werden, z. B. indem der Coach sich den Interaktionsprozessen des Coaching selbst in metakommunikativer Weise zuwendet und das Verhalten des Coachees in den Blick nimmt oder wenn der Coach Gesichtspunkte des Settings zum Thema macht, beispielsweise: »Mir fällt auf, dass Sie immer ein bisschen zu spät kommen.« Auf einer übergeordneten Ebene macht Schreyögg darauf aufmerksam, dass sich durch »den aktuellen supervisorischen Kontext […] fast automatisch die Beziehungen im gruppalen System und die Präferenzen für bestimmte Themen [bestimmen]« (Schreyögg 2004, S. 304). Sie macht auch die »je unterschiedliche Bereitschaft zur Selbstöffnung« vom »jeweiligen Kontext« abhängig. »So werden einzelne Supervisanden oder ein Supervisanden-Kollektiv die spezifischen kontextuellen Bedingungen der Supervision thematisieren und begründetermaßen als Basis für die Wahl aktueller Themen begreifen« (S. 304). 4.2  Coacheebezogene Kontexte Wenden wir uns daher nun den coacheebezogenen Kontexten zu. Das ist zum einen der Kontext des persönlichen Erfahrungs- und Wertehintergrunds des Coachees, zum anderen der Arbeitskontext und der dazu gehörende Organisations­ hintergrund, die zum häufig so genannten »Heimatsystem« des Coachees gehören. 4.2.1  Erfahrungs- und Wertehintergrund des Coachees

Die Erfahrungen, die jemand in seinem bisherigen Leben gemacht hat, prägen nicht nur sein Handeln und Denken, sondern auch seine Gefühle, Vorannahmen, sogenannte »wunde Punkte« oder »Lieblingsgefühle«7. Wie jemand an Dinge herangeht, welche Einstellungen er zu bestimmten Themen hat, ist maßgeblich beeinflusst von der Kultur, in der derjenige aufwächst, von der sozialen Schicht, der Umgangsweise, die er von seiner Herkunftsfamilie gewohnt ist, seinem Selbstbild8 und den Wünschen und Zielen, die er in seinem Leben erreichen möchte. Mayrhofer bezieht unter dem Begriff »Herkunftskontext« auch »vergangene und gegenwärtige Sozialbeziehungen« mit ein (Mayrhofer 2010, S. 282). Neben diesen »allgemeinen« Lebenserfahrungen gehören auch die bishe­rigen Erfahrungen mit Coaching und Supervision in diesen Kontext: Wurde Coaching 7 Die Begriffe »Lieblingsgefühle« und »wunde Punkte« stammen aus der Transaktionsanalyse. Auf soziale Interaktion und Kommunikation übertragen findet sich eine gute Darstellung bei Langfeldt und Nothdurft (2004, S. 165). 8 Zur Entstehung von Selbstbildern und ihren prägenden Einflüssen siehe auch Pfab (2016, S. 14 f.).

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bisher als hilfreich erlebt, ist die betreffende Person wesentlich offener für die dort angestoßenen Prozesse als jemand mit negativen Coaching­erfahrungen. Beides, die eigenen Lebens- und eventuell vorhandenen Coachingerfahrungen eines Coachees, beeinflussen den Coachingprozess und müssen entsprechend berücksichtigt werden. 4.2.2 Arbeitskontext

Unter den Arbeitskontext fällt all das, was mit der beruflichen Tätigkeit des Coachees zusammenhängt, wie beispielsweise seine Berufsausbildung oder ein für seine Berufstätigkeit notwendiges Studium mit seinen fachspezifischen Sichtund Herangehensweisen. Professionalisierung, beispielsweise durch Weiter­ bildungen, gehört ebenfalls zum Arbeitskontext. Auch die Kunden-, Klientinnenund Produkt­systeme, mit denen ein Coachee im Rahmen seiner Arbeit zu tun hat, fallen in den Arbeitskontext. Dazu gehören auch Gesichtspunkte fachlichen Handelns. Der Arbeitskontext besteht darüber hinaus auch aus vielen den Arbeitsalltag betreffenden Punkten, z. B. Anfahrtswegen oder ob jemand selbstständig tätig ist oder einer Institution angehört, Arbeitskolleginnen hat und anderes. Hier ergeben sich Schnittmengen zum im nächsten Abschnitt (4.2.3) dargestellten Organisationshintergrund: Ob ein Arbeitsalltag vorgegeben wird oder selbst strukturiert abläuft, hängt beispielsweise mit der Organisationskultur des Unternehmens zusammen, für das ein Coachee arbeitet. Diese kann je nach Hie­ rarchieebene oder Arbeitsbereich auch innerhalb des Unternehmens unterschiedlich sein (so unterliegen Verwaltungsmitarbeiterinnen an manchen Hochschulen der Zeiterfassung, Fachbereichsmitglieder jedoch nicht). Arbeitsplatz­bezogene Dinge fallen ebenfalls in diese Schnittmenge: Einzel- oder Großraumbüro wäre z. B. zunächst ein organisationsbezogener Kontext, wie ein Coachee seinen Arbeitsplatz jedoch gestaltet oder ob er gern mit anderen zusammen in einem Büro sitzt oder zur Ausübung seiner Tätigkeit einen ungestörten Arbeitsplatz benötigt, gehört zum eher individuell auf den Coachee bezogenen Arbeitskontext. Auch das Betriebsklima muss vor dem Hintergrund der Organisation betrachtet werden, stellt gleichzeitig jedoch einen Arbeitskontext dar, der auch über die Organisationsgesichtspunkte hinaus einen coacheerelevanten Kontext bildet. Ein weiteres Beispiel für diesen Bereich sind Uhrzeiten für Telefon­konferenzen (oder die Sprache, in der sie geführt werden) in einem inter­national agierenden Unternehmen. Geschlechtsspezifische Merkmale und damit verbundene Stereotypen gehören ebenfalls zum Arbeitskontext. Auf einen bestimmten Lebensabschnitt des Coachees bezogene Kontexte wie Möglichkeiten der Telearbeit oder vorübergehender Arbeitszeitreduzierung bei der Familiengründung oder Pflegebedarf von Angehörigen betreffen nicht nur

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den Organisationshintergrund und Arbeitskontext, sondern auch den Kontext der persönlichen Werte und Lebenserfahrung eines Coachees. Behinderungen bilden ebenfalls einen Kontext, der sich auf alle Kontextbereiche eines Coachees bezieht, zum einen durch die damit verbundene persönliche Einschränkung des Coachees, zum anderen durch diesbezüglich in einer Organisation vorherrschende Regelungen, aber auch allgemeine Fragen des Arbeitskontexts, wenn beispielsweise eine Epileptikerin nicht Auto fahren darf und ihre Teamkollegen daher für sie bestimmte Tätigkeiten übernehmen müssen. Dies kann – da die Behinderung seitens des Unternehmens nicht öffentlich gemacht werden darf – zu Unmut und Unverständnis bei den Kollegen führen. Trotz dieser Überschneidungen halte ich eine coacheebezogene Trennung dieser Kontexte in Supervision und Coaching für sinnvoll, da ein anhand der Beispiele sichtbar gewordenes Spannungsfeld zwischen Arbeitskontext und dem damit verbundenen Organisationshintergrund besteht. So ist z. B. der »Organisationskontext« besser als Oberbegriff für Organisationsstrukturen und -­kulturen zu sehen, in dem sich Dynamiken abspielen. Ich unterteile den Kontext des Organisationshintergrunds (4.2.3) daher noch einmal in formale und informelle Organisationskontexte, die bei der Thematisierung von Rollen und Funktionen eines Coachees, aber auch bei Team- und Gruppendynamiken beide in den Blick genommen werden sollten. 4.2.3 Organisationshintergrund

Kühl zufolge herrscht in vielen Organisationen des 21. Jahrhunderts die Überzeugung, dass »die Zukunft unsicher und unbestimmbar ist« (Kühl 2015, S. 63). Organisationen müssten daher möglichst »wandlungsfähig« gehalten werden (S. 63), z. B. durch Leitbilder wie das der »lernenden Organisation«, in dessen Vordergrund die Veränderungs- und Innovationsfähigkeit der Organisation stehe. Diese »Veränderungsorientierung« führe zu einem »permanenten Wandel«, der wiederum eine große Unsicherheit produziere (S. 61). Als »stabilisierende Momente« in diesen Veränderungen sollten die »Wandlungsprozesse« durch »stabile Regeln« möglichst »berechenbar« gestaltet (S. 64), die »unsicheren Organisationsstrukturen […] durch stabile Regeln des Organisations­wandels abgesichert« werden (S. 84). Für Beratung und Forschung führe dies laut Kühl dazu, »ihr Augenmerk mehr auf Prozesse des Organisationswandels zu richten statt auf Organisationsstrukturen« (S. 85). Dies könnte beispielsweise ein relevanter Organisationshintergrund im Rahmen eines coacheebezogenen Kontexts sein. In Zeiten der Transformation und vor dem Hintergrund der »lernenden Organisation« werden auch organisationsbezogene Kontexte unklarer und wandelbarer und sollten in Coaching­prozessen

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entsprechend »mitlaufend« reflektiert werden. Dabei ist es meist sinnvoll, zwischen der formalen und informellen Organisationskultur zu unterscheiden. »Kultur besteht aus den gemeinsamen unausgesprochenen Annahmen, die eine Gruppe bei der Bewältigung externer Aufgaben und beim Umgang mit internen Beziehungen erlernt hat« (Schein 2010, S. 173). Schein betrachtet eine Unternehmenskultur in mehreren Ebenen: Auf der Ebene der »Artefakte« befinden sich »sichtbare Organisationsstrukturen und -prozesse (schwer zu entschlüsseln)«, darunter »[ö]ffentlich propagierte Werte« mit »Strategien, Ziele[n], Philosophien (propagierte Rechtfertigungen)«, noch tiefer »[g]rundlegende unausgesprochene Annahmen«, also »unbewusste, für selbstverständlich gehaltene Überzeugungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle (letztlich die Quelle der Werte und des Handelns)« (S. 31). »[D]ie gemeinsamen unausgesprochenen Annahmen, aus denen die Kultur besteht, [beeinflussen] alle Aspekte der Organisation und ihrer Funktionen […][,] Aufgaben und Strukturen« (S. 175). Über diese Gesichtspunkte hinaus betont Kühl die Bedeutung der Mitgliedschaft für die formale Organisationsstruktur. Laut Kühl ist die formale Organisationsstruktur gekennzeichnet von den »entschiedenen Mitgliedschafts­ bedingungen«, also getroffene Entscheidungen, »an die sich die Mitglieder zu halten haben, wenn sie Mitglied der Organisation bleiben wollen« (Kühl 2018, S. 13). Er unterscheidet davon die von ihm als »informal« bezeichnete Struktur: »Dabei handelt es sich um Festlegungen, die nicht durch Entscheidungen eines Unternehmensvorstands […] zustande kommen, sondern die sich als Gewohnheiten herausgebildet und erfolgreich etabliert haben«, wie beispielsweise »das Netzwerk bewährter kommunikativer Trampelpfade« (S. 13). So gehören zur formalen Organisationsstruktur in Organigrammen abgebildete Positionen, offizielle Funktionen und Tätigkeitsbeschreibungen, zur informellen dagegen inoffizielle Entscheidungsträger wie die »graue Eminenz« oder die Ausübung von Tätigkeiten, die zwar nicht in der offiziellen Tätigkeitsbeschreibung genannt werden, aber dennoch von den Angehörigen der Organisation erwartet und ausgeführt werden. Im Kontext der Organisationskultur gehören Unternehmensleitbilder beispielsweise zur formalen Organisationskultur, die dort möglicherweise festgeschriebene, aber in der Unternehmenspraxis nicht umgesetzte Nachhaltigkeit bzw. der Umgang mit diesem Leitbild dagegen zur informellen Organisationskultur. Offiziell formulierte bzw. angewiesene Arbeitsabläufe bilden Teil der formalen Organisationskultur, der »kleine Dienstweg« zwischen Mitarbeitenden, die aus Effizienzgründen den direkten Weg gegenüber dem hierarchisch vorgesehenen bevorzugen, wiederum zur informellen Organisationskultur. Auch die formal in offiziellen meetings getroffene und pro-

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tokollierte Entscheidung versus einer faktisch im informellen Rahmen auf dem Golfplatz bereits abgestimmten Entscheidung wäre ein weiteres Beispiel. Eine Darstellung des Einflusses der Organisationskultur auf Coaching und Supervision findet sich unter anderem bei Pfab (2018, S. 496). In Coaching und Supervision wird daneben immer wieder »die ökonomisch-organisatorische Legitimierung« von Organisationen (Liska 2010, S. 33) als Organisationskontext genannt, z. B. bei der inzwischen auch im sozialen Bereich von den Fachkräften mit Führungsverantwortung geforderten Berücksichtigung wirtschaftlicher Faktoren bei ihren Entscheidungen und ihrem Handeln. Darüber hinaus machen Delmestri und Mühlbacher darauf aufmerksam, »dass Unternehmens- bzw. Organisationsführung und strategisches Management kontextgebundene Tätigkeiten sind, welche die Einbettung von Organisationen nicht nur in Märkten, sondern auch in Kulturen und Institutionen mitberücksichtigen sollten« (Delmestri u. Mühlbacher 2015, S. 241). Gleichzeitig nimmt auch Liska einen zunehmenden Legitimationsdruck von Organisationen auf der kulturell-gesellschaftlichen Ebene wahr (Liska 2010, S. 33). In Coachingprozessen muss der Organisationshintergrund ebenso wie der Arbeitskontext und die persönlichen Werte und Erfahrungen eines Coachees bei der häufig in diesen Prozessen vorzunehmenden Rollenklärung berücksichtigt werden. Rollen bezeichnen dabei »Erwartungsbündel, die dem Umfang nach dadurch begrenzt sind, daß ein Mensch sie ausführen kann, die aber nicht auf bestimmte Menschen festgelegt sind, sondern durch verschiedene, mög­ licherweise wechselnde Rollenträger übernommen werden können. Durch die Identität der Rolle werden Erwartungen von Person zu Person übertragbar« (­Luhmann 1972, S. 86 f.), sie sind folglich personenunabhängig. »Die sozialen Rollen, die ein Individuum einnimmt, sind definiert durch seine sozialen Positionen, […] aber auch durch die Situation und den Kontext einer Interaktion« (Limburg 2014, S. 88). Im Coaching gilt es daher zu klären, welche Rolle ein Coachee in welchem (coachingrelevanten) Kontext ausübt oder welche dieser Rollen »in der aktuellen Situation gerade handlungsrelevant ist, da Interaktanten [die an einer Interaktion beteiligten Personen, Anm. A. P.] immer zueinander positioniert sind und dies bereits ihre Rollen definiert« (Aksu 2018, S. 39). Looss weist bereits 1997 darauf hin, dass »[d]ie extremen Turbulenzen, unter denen Organisationen seit einigen Jahren funktionieren müssen«, bei Führungskräften und Mitarbeitenden dieses »völlig unbekannte und ungewohnte Gefühl von Angst« erzeugen (S. 46). Da sie laut Looss keine »eingeübte Möglichkeit im Kontext der Organisation [haben], dieses Angstgefühl zu besprechen« und auch keine »Führungswerkzeuge zur Verfügung [stehen], um mit der Angst von Mitarbeitern bzw. deren Auswirkungen umgehen zu können« (S. 46), bietet Coa-

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ching einen geschützten Raum, um sich mit diesem Gefühl auseinanderzusetzen. Hier kann der Einsatz von Ritualen oder rituellen Elementen sehr hilfreich sein (siehe dazu Pfab 2018), aber auch Kontextualisierungen bieten eine Möglichkeit der Klärung und tragen zu einer Stärkung der eigenen Handlungsfähigkeit bei. Die Erwartungen der Organisation – z. B. ein an das Coaching geknüpfter Auftrag − gehören ebenfalls zum Organisationshintergrund und bilden gleichzeitig einen relevanten Kontext des Beratungssystems Coaching. Jäggi weist da­ rauf hin, dass der »sozio-kulturelle Kontext […] in Form von Kommunikationsund Verhaltens-Code vor[gibt], nach welchem Muster – das heißt in welcher Reihenfolge und nach welchen Regeln – eine Interaktion oder Kommunikation abzulaufen hat« (Jäggi 2009, S. 16). Auf diese Weise werde einerseits Verhalten gesteuert, andererseits im Rahmen des sozialen Kontextes Sinn generiert (S. 19). Beide kontextuellen Bezüge müssen in einem erfolg­reichen Coachingprozess berücksichtigt werden. Coacheebezogene Kontexte haben – je nach Sichtweise und Konstruktion eines Coachees – ganz bestimmte Wirkungen auf die Wahrnehmung des Coachees ebenso wie auf den Fortgang des Coaching. Im Sinne einer kon­ struktivistischen Grundhaltung (siehe dazu den Beitrag von Pfab u. Pfab) gilt es dabei, darauf zu achten, nicht den eigenen Kontext zur Grundlage der He­ rangehensweise in diesem Prozess zu machen, sondern als Coach darauf zu achten, den vom Coachee festgelegten Kontext in den Blick zu nehmen. Er legt fest, welcher Kontext für sein Anliegen relevant ist. Seine Wahrnehmung desselben findet sich in seiner Wirklichkeitskonstruktion wieder, welche die Grundlage des von ihm im Coaching bearbeiteten Anliegens bildet. Dazu gehört auch, das von ihm definierte System miteinzubeziehen: Wer und was ist bei seiner Schilderung relevant für sein Anliegen? Die Berücksichtigung verschiedener Kontexte übt folglich einen Einfluss auf das Coaching und im Nachgang auch auf das Heimatsystem des Coachees aus. Gleichzeitig besteht so auch die Möglichkeit, über Veränderungen des Kontexts eine neue Sichtweise bestimmter Rahmenbedingungen, neue Perspektiven auf ein geschildertes Problem entstehen zu lassen, bislang nicht wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. 4.3  Coachbezogene Kontexte 4.3.1  Erfahrungs- und Wertehintergrund des Coachs

Auch seitens des Coachs bilden die eigenen Erfahrungen und persönlichen Werte einen wichtigen Kontext eines Coachings. Die bereits unter 4.2.1 geschilderten Punkte wirken sich ebenso wie unreflektierte Vorannahmen und eigene

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Wunschbilder oder auch frühere Coachingerfahrungen in einem ähnlichen Feld auf den Coachingprozess aus. Cox et al. nennen darüber hinaus auch zwischenmenschliche Fähigkeiten eines Coaches, seine Herangehensweise und auch das Niveau seiner professionellen Ethik als maßgebliche Faktoren eines Coachingprozesses (Cox et al. 2014, S. 142 f.). Ähnlich wie auch Vorerfahrungen einer Klientin mit Coaching einen wesentlichen Coachingkontext darstellen, prägen auch die bisherigen Erfahrungen, die ein Coach in seinem Berufsfeld gemacht hat, seine Herangehensweise an einen neuen Coachingprozess. 4.3.2  Ausbildungs- (inkl. Berufs)hintergrund

Der jeweilige Ausbildungshintergrund eines Coachs bildet ebenfalls einen coachingrelevanten Kontext. Er bezieht sich dabei sowohl auf den »Erst­beruf«, also die Tätigkeit(en), die jemand bereits vor seiner Coachingtätigkeit ausgeübt hat, als auch auf die Richtung der gewählten Coachingausbildung (z. B. systemisch oder konstruktivistisch, psychoanalytisch, lösungsorientiert oder auf Gestalttherapie, NLP, TZI oder Psychodrama beruhend). So unterscheiden sich beispielsweise die Berufserfahrungen und Herangehensweisen einer Ingenieurin von denen eines Sozialarbeiters, ein Ethnologe hat einen durch sein Studium geprägten anderen Blick auf unterschiedliche Kulturen als eine Betriebswirtin. Ähnlich prägend ist auch der gewählte Theorie- und Methodenbezug der eigenen Coachingausbildung: So arbeitet ein psychoanalytisch orientierter Coach anders als ein lösungsorientierter, der gerade nicht daran interessiert ist, die Ursachen eines von einem Coachee als problematisch erlebten Anliegens herauszufinden, sondern vielmehr ausschließlich zukunftsorientiert daran arbeitet, wie das als problematisch erlebte Anliegen verändert werden könnte, sei es durch eine Veränderung des Sachverhalts oder auch eine veränderte Wahrnehmung seitens des Coachees. 4.3.3  Theoretische und wissenschaftliche Verortung des Coachs

Eng damit verbunden, aber meines Erachtens dennoch als separat zu betrachtenden Kontext stellt die eigene theoretische und wissenschaftliche Verortung des Coaches dar. Auch wenn die eigene theoretische Verortung häufig von derjenigen der Coachingausbildung geprägt ist oder manchmal auch mit ihr ganz übereinstimmt, entwickeln sich professionelle und erfahrene Coaches regelmäßig weiter, indem sie weitere Fortbildungen besuchen, die gerade nicht die ihnen bereits bekannte Herangehensweise vermitteln, sondern Richtungen, die ihres Erachtens eine gute Ergänzung zu ihrem bisherigen »Handwerkskoffer«

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und ihren Kenntnissen bieten. Auch sollten regelmäßig neue für die Branche relevante wissenschaftliche Erkenntnisse wahrgenommen werden, die in der Regel auch das eigene Berufsbild als Coach verändern. So werden durch die in der Branche weit verbreitete systemische Herangehensweise beispielsweise Systemzusammenhänge und auch Kontexte stärker in den Blick genommen, Kühl macht jedoch darauf aufmerksam, dass »[d]urch die Rezeption der allgemeinen Systemtheorie […] in der Supervision zwar ein ausgefeiltes Interventionsverständnis entwickelt [wurde], aber zugleich eine Sensibilisierung für die Spezifik von Professionen tendenziell vernachlässigt« worden sei (Kühl 2006, S. 14). Dies könnte ein Anlass für einen Coach sein, sich beispielsweise auf einer Tagung mit professionssoziologischen Überlegungen auseinanderzusetzen und sein Repertoire entsprechend zu erweitern. Daneben sollten Coaches auch (inter-)kulturelle Kompetenzen haben und sich über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse dazu auf dem Laufenden halten (siehe dazu den Beitrag von A. Pfab und Döppner). Coaches »need to […] develop cultural competences and critical self-reflectiveness, and support empowerment, criticality, and social action«, da sie nicht unabhängig »from the overall culture of their practice« handelten (Shoukry 2017, S. 187). 4.4  Anliegenbezogene spezifische Kontexte Über die Unterscheidungen in prozessbezogene, coach- und coacheebezogene Kontexte hinaus sollten anliegenbezogene spezifische Kontexte noch einmal separat in den Blick genommen werden. Wenngleich sie in der Regel eng mit den coacheebezogenen Kontexten verbunden sind oder auch die prozess­bezogenen Kontexte beeinflussen, ermöglicht die separate Betrachtung auch vom Coachee oder dem Coachingprozess unabhängige Kontextualisierungen. So können beispielsweise bei Bewerbungs- und Karrierefragen auch Beratungsstellen wie die Agentur für Arbeit Teil des Systems und folglich ein relevanter Kontext sein. Auch in den Fällen, in denen anliegenbezogene Kontexte eng mit dem coacheebezogenen Organisationskontext verknüpft sind, wie beispielsweise bei der unter 4.2.3 bereits genannten Forderung an eine Führungskraft im sozialen Bereich, zukünftig neben der Fachlichkeit auch die Wirtschaftlichkeit in das eigene Handeln und die Einrichtung betreffende Entscheidungen miteinzubeziehen, lohnt es sich, eine soweit wie möglich rein auf das Anliegen bezogene Kontextualisierung durchzuführen. Dies kann in dem von mir gewählten Beispiel, das den Anlass für einen Coachingauftrag bildet, den Blick aus der Per­ spektive des Trägers und zunächst personenunabhängige Rahmenbedingungen erleichtern. Erst in einem nächsten Schritt kann man sich dann der ganz auf

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die Person des Coachees bezogenen Kontextualisierung widmen, um dann die Erkenntnisse aus beiden Prozessschritten wieder zusammenzuführen. 4.5  Gesellschaftliche Kontexte (u. a. Kontexte der »Umwelt«) Die Wahrnehmung von Situationen, Personen und Begebenheiten ist immer auch von gesellschaftlichen Kontexten beeinflusst wie dem aktuellen »Zeitgeist«, politischen und kulturellen Strömungen und Einstellungen sowie eventuell wissenschaftstheoretischen Einflüssen (akademischer Kontext). »[W]hat coaches do in their practice is influenced by what happens in the macro-social field, which recognizes that coaching does not exist in a vacuum« (­Western 2017, S. 56). Gotthardt-Lorenz et al. nennen »[g]esellschaftliche Entwicklungen in der Arbeitswelt« sowie »Funktion der Supervision aktuell […] im gesellschaftlichen Kontext« (Gotthardt-Lorenz et al. 2013, S. 203). Cox et al. sehen in diesem Bereich breiter gefasste soziale, politische und ökonomische Faktoren, welche ein Coaching beeinflussen können (Cox et al. 2014, S. 145). Auch Shoukry stellt fest, dass Coaching nicht isoliert von seinem sozialen Kontext stattfinden kann (Shoukry 2017, S. 187). »[G]esellschaftliche Erwartungshaltungen, Werthaltungen, Regeln, Normen und Diskurse [werden] an die Organisationen heran- und in sie hineingetragen« (Liska 2010, S. 30). Kontexte aus der »Umwelt« der Organisation spielen allerdings auch deswegen eine maßgebliche Rolle, weil »die Grenzen der Organisationen durchlässiger und fl ­ exibler geworden sind und an die Stelle klarer Organisationsgrenzen Netzwerk­strukturen getreten sind« (Fietze 2010, S. 17). Diese bereits in den 1980er Jahren einsetzende »Veränderung der Organisationsgrenzen hin zu einer größeren Durchlässigkeit und Flexibilität […], einen Strategiewechsel von der Internalisierung zur Externalisierung und […] die Veränderung der Kontrollmechanismen durch die Ablösung der zentralisierten, hierarchisierten Strukturen durch die dezentralisierten Strukturen flacher Hierarchien« kennzeichnen das Verhältnis zwischen Organisationen und ihrer Umwelt (Scott 2004, zit. nach Fietze 2010, S. 17). Durch die Digitalisierung und mit ihr verbundene permanente Erreichbarkeit wird diese Tendenz weiter verstärkt. Ebenfalls zu nennen wären hier weiterhin andauernde Globalisierungstendenzen, die sich in Zukunft noch stärker als bisher auf Coachingprozesse auswirken werden. Die Liste ließe sich selbstverständlich fortsetzen – wichtig ist mir aufzuzeigen, dass »die gesellschaftlichen Verhältnisse« ebenso wie die kulturellen Einflüsse als »Kontext, in dem Supervision arbeitet« (Siller 2010, S. 20) sowohl in einer Analyse über Supervision und Coaching als auch in der Praxis berücksichtigt werden müssen.

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Ehe ich mich dem professionellen Umgang im Coaching mit diesen Kontexten zuwende, sei darauf hingewiesen, dass die von mir hier genannten Kontexte sich teilweise auch überlappen: So kann beispielsweise gender als relevanter Kontext anliegenbezogen sein, wenn sich z. B. eine weibliche Führungskraft aufgrund ihres Geschlechts von ihren Kollegen nicht ernstgenommen fühlt und dies als Thema in einen Coachingprozess einbringt. Es kann jedoch auch als coach- und coacheebezogener Kontext in den Blick genommen werden, wenn z. B. ein durch eigene negative Vorerfahrungen beeinflusster Coach dieses Anliegen mit der Klientin bearbeitet oder die Klientin durch ihre Herkunftsfamilie von einem sich unterzuordnenden Frauenbild geprägt ist. Hier müssten die Werte- und Erfahrungshintergründe von Coach9 und Klientin ebenso reflektiert werden wie gesellschaftliche Kontexte, aus deren Zeitgeist heraus sich Frauenbilder im Laufe der Generationen auch verändern können bzw. bereits verändert haben.

5  Professioneller Umgang mit diesen Kontexten im Coaching 5.1  Im Coachingprozess Zunächst beinhaltet der professionelle Umgang mit den in Kapitel 4 genannten Kontexten, sich diese zu vergegenwärtigen und gegebenenfalls in den Coachingprozess miteinzubeziehen. In einem die berufliche Weiterentwicklung eines Coachees betreffenden Coaching bedeutet dies beispielsweise, die »objektive Karriere«, die nach Mayrhofer »die Positionsbewegungen im Berufs­verlauf« umfasst, wie »die Bewegungen durch die Hierarchie und Struktur« eines Unternehmens (Mayrhofer 2010, S. 280) ebenso zu berücksichtigen wie die Reflexion der »subjektiven Karriere«, die »aus der lebenslangen Sequenz von rollenbezogenen Erfahrungen und persönlichen Verarbeitungsprozessen« besteht und die Grundlage bildet für die eigenen Konstruktionen und Bewertungen der »individuelle[n] Karriere« eines Coachees. So gehören zum »objektive[n] Karriereerfolg« Dinge wie Einkommen oder übertragene Führungsverantwortung, zum »subjektive[n] Karriereerfolg« die persönliche »Karrierezufriedenheit« (­Mayrhofer 2010, S. 280). 9 Anders als bei den coacheebezogenen Kontextualisierungen sollte die auf den Coach bezogene Reflexion nicht im Rahmen des Coachingprozesses stattfinden (oder nur seitens des Coachs im Hintergrund »mitlaufen«), sondern vom Coach ohne Einbeziehung der Klientin erfolgen, ggf. im Rahmen einer Intervisionsgruppe oder Kontrollsupervision.

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Die in diesem Zusammenhang möglicherweise auftauchende Frage »nach dem Sinn und dem Zweck der beruflichen Arbeit (im Kontext eines Lebenszusammenhangs)« steht Klessmann zufolge beim Verständnis und der Verbesserung von Arbeitszusammenhängen eines Coachees »immer mit im Hintergrund« (Klessmann 2012, S. 253). Der in den unterschiedlichen Kontexten bewanderte Coach kann diese Frage dann sowohl im Kontext des persön­lichen Wertehintergrunds des Coachees aufgreifen als auch im gesellschaftlichen Kontext und so den Coachee dabei unterstützen, eventuell herauszufinden, ob z. B. die Beantragung von Telearbeit zwecks einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich seinen Wünschen entspricht oder vielmehr eher der Übernahme einer gesellschaftlichen Erwartung entspräche. Wichtig ist also, zunächst zu klären, welcher Kontext (oder welche Kontexte) einen wie starken Einfluss bei welcher Fragestellung ausüben. Meine hier vertretene Auffassung, anliegenbezogene spezifische Kontexte (4.4) separat von den coacheebezogenen Kontexten zu betrachten, ist auf den ersten Blick vielleicht überraschend. In der Tat ist ein Anliegen schon allein durch die Tatsache, dass es für einen Coachee ein Anliegen ist und von diesem entsprechend in den Coachingprozess eingebracht wird, immer mit ihm selbst verbunden. Dennoch ist es nicht nur in dem folgenden Beispiel vielfach nützlich und sinnvoll, anliegenbezogene spezifische Kontexte zunächst separat in den Blick zu nehmen und erst dann wieder mit den coacheebezogenen Kontexten zu verknüpfen: Kühl macht darauf aufmerksam, dass »der Rationalitätswandel in Organisationen« insbesondere beim »mittleren Management« zu beobachten sei (Kühl 2015, S. 74). Nachdem ihr bisheriges Aufgabenfeld, »die Umweltunsicherheit von den Mitarbeitern des produktiven Kerns fernzuhalten […] in vielen Organisationen zunehmend überflüssig« werde, weil »Unsicherheiten, Komplexität und Widersprüchlichkeiten […] jetzt direkt an die Mitarbeiter im produktiven Kern durchgestellt [werden]« (S. 74), seien »[d]ie unter Rationalisierungsdruck stehenden Manager der mittleren Führungsebene […] mit dem Versprechen neuer wichtiger Aufgaben beruhigt [worden]: Beraten und Coachen von Mitarbeitern, Personalentwicklung, Management und Koordination von Reorganisationsprojekten« und anderem mehr (S. 75). Hier wäre es in einem Coachingprozess hilfreich, die damit verbundenen unterschiedlichen Kontexte zunächst separat in den Blick zu nehmen, also beispielsweise losgelöst von der Person des Coachees zu reflektieren, was »Beraten und Coachen von Mitarbeitern« eigentlich meint und welche damit verbundenen spezifischen Kontexte für das Anliegen des Coachees, diese Aufgabe im Unternehmen zukünftig zu übernehmen, eine bedeutende Rolle spielen. Dabei wäre neben der Kontextklärung von Beratung wie der Unterscheidung zwischen

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Fachberatung und reflexiver Beratung auch der Organisationshintergrund der zu beratenden Mitarbeitenden ein anliegenbezogener spezifischer Kontext. Der auf den Coachee bezogene Kontext seines eigenen Organisationshintergrunds wird dagegen erst reflektiert, wenn das Anliegen, also die zukünftige Beratungsrolle des Coachees, in Bezug auf die coacheebezogenen Kontexte im Coachingprozess bearbeitet wird. Dies hat den Vorteil, dass eine zunächst soweit wie möglich vom Coachee losgelöste Betrachtung des Kontextes »Beratung und Coaching« zur Klärung des neuen Aufgabenfelds beiträgt und dem Coachee eine distanziertere Betrachtung desselben ermöglicht. Bei der Beschäftigung mit den coacheebezogenen Kontexten ginge es dann unter anderem darum, die diesbezüglichen Kompetenzen des Coachees in den Blick zu nehmen, seine bisherigen Beratungserfahrungen, die Unterstützung, die ihm seitens der Organisation zur Erfüllung seiner neuen Aufgabe zuteil wird (oder möglicherweise auch gerade nicht), aber auch seine persönliche Lust, die Rolle eines Coaches bei seinen Mitarbeitenden zu übernehmen. Wollte man in einem Coaching alle relevanten Kontexte auf einmal reflektieren, wäre die Komplexität so hoch und auf unterschiedliche Interessen- und Erwartungslagen bezogen, dass eine konstruktive Bearbeitung deutlich erschwert, in manchen Fällen auch unmöglich würde. Metaphern bieten eine in der Branche viel genutzte Möglichkeit, mit Kontexten zu arbeiten. Metaphern sind sprachliche Figuren, bei denen Aspekte der Standardisierung, Stilisierung und Symbolisierung auftreten. Sie »erzeugen Symbole, die auf einen anderen Kontext als einen alltagssprachlichen verweisen« (Sedmak 1999, S. 43 f.). Anders als beim wörtlichen Sprachgebrauch ist eine Metapher »zwar von der alltäglichen, primären Bedeutung abgeleitet«, sie unterscheidet sich jedoch in ihrer Bedeutung von ihr, indem sie »gemessen an den Standards der gewöhnlichen Sprache […] [sogar] falsch ist« (S. 44 f.). Da man bei Metaphern nicht auf alltägliche Gebrauchskontexte zurück­greifen könne, sei ihre Bedeutung vage, sodass weitere Umstände berücksichtigt werden müssen, um zu klären, was in der aktuellen Situation relevant ist für das Verständnis der Metapher (S. 45). Metaphern eignen sich daher hervorragend zur Kontextarbeit, weil bei ihrer Verwendung die Bedeutungsklärung derselben, also was genau ein Coachee mit dieser Metapher zum Ausdruck bringen möchte, bereits im Vordergrund steht. Durch den bei der Metaphernarbeit implizierten Klärungsprozess werden zudem häufig weitere Kontexte sichtbar, die für die Bearbeitung des Anliegens eines Coachees relevant sind. Kühl kritisiert allerdings, dass »gerade die Nutzung griffiger Metaphern« dazu führe, »dass man eben nicht in die Details konkreter Praktiken der Organisation geht. Gerade weil sie Assoziationen zu fremden Kontexten herstellen,

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stoßen Metaphern bei der Konkretisierung von Sachverhalten sehr schnell an ihre Grenzen« (Kühl 2018, S. 38). Meines Erachtens ist diese Gefahr jedoch nur gegeben, wenn man nicht darüber hinausgehend weiterarbeitet, sondern die von der Klientin gefundene Metapher unhinterfragt stehen lässt. Meiner Erfahrung nach machen es Metaphern dagegen gerade durch ihre Distanzierung von den konkreten Sachverhalten manchmal überhaupt erst möglich, schwierige Themen anzusprechen. Auch in Teamcoachings fällt es manchen Coachees vor den Kolleginnen leichter, durch Metaphern »indirekt« auf einen problematischen Sachverhalt hinzuweisen, als ihn direkt anzusprechen. In der Metaphernarbeit kann darüber hinaus »Ausgeblendetes […] auftauchen, Widersprüchliches erkannt und vielleicht integriert werden etc.« (Klessmann 2012, S. 262). 5.2 In Reflexion, Kontrollsupervision oder anderen Qualitätssicherungsmaßnahmen Die Reflexion des eigenen Beratungshandelns ist ein wesentlicher Bestandteil des professionellen beraterischen Handelns und gilt nicht nur bei der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv) als Qualitätsstandard, auf den sie ihre Mitglieder verpflichtet. Auch bei einem professionellen Umgang mit unterschiedlichen Kontexten ist diese Reflexion unabdingbar, insbesondere auf die unter 4.3 genannten coachbezogenen Kontexte. Auch wenn die in der Branche geforderte »Distanz des ›objektiven Beobachters‹« (Lohmer 2012, S. 64) meines Erachtens den Mythen der Branche zugerechnet werden muss, da die Abstinenz des Coachs ohne jegliche Beeinflussung des Heimatsystems eines Coachees sich in der Realität nicht vollständig umsetzen lässt, sollte ein »Mitagieren im System« in Form von »Verwicklung und Verstrickung« (Lohmer 2012, S. 64) möglichst vermieden werden. Eine gute Kenntnis der eigenen Werte und Erfahrungen, von persönlich einladenden »Verführbarkeiten« und Ähnlichem ist für ein professionelles Coaching daher unabdingbar und muss bezüglich der eigenen Coachingprozesse regelmäßig reflektiert werden, allein sowie in Intervisions- oder Balintgruppen oder mittels Kontrollsupervision. Hier sollte auch eine gezielte Reflexion der coach­bezogenen Kontexte immer wieder erfolgen. »Die Verantwortung des Beraters/Supervisors besteht darin, das eigene ›Mitagieren‹ immer wieder zu bemerken, die eigene Gegenübertragung zu analysieren, offen für kritische Rückmeldungen und Irritationen im Kundensystem zu sein und die Reflexionsschleifen in seiner Berater-Peer-Group bzw. einer eigenen Projektsupervision zu nutzen« (Lohmer 2012, S. 70). Dann können »die ganz eigenen emo-

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tionalen Reaktionen und Verhaltensimpulse in der situativen Bedeutung eines gegebenen Augenblicks im Zusammenhang mit der eigenen Lerngeschichte [… verstanden] und […] [wiedererkannt werden]. Erst dadurch wird es möglich, in der gegenwärtigen, aktuellen Situation aus alten Verhaltensautomatismen ›auszusteigen‹ und andere, zusätzliche[,] Möglichkeiten des Agierens zu erwägen« (Looss 1997, S. 194). Auch Klessmann fordert, dass Coaches und Supervisorinnen »sich Rechenschaft geben über ihre eigenen weltanschaulichen Vorverständnisse, denn die beeinflussen natürlich den supervisorischen Prozess« (Klessmann 2012, S. 260). Als Coach ist daher Selbstreflexion, die Kenntnis der eigenen Lebenskontexte, Verführbarkeiten, Familienaufträge und Ähnliches unerlässlich, um gute Arbeit zu leisten, weitgehende Neutralität wahren zu können und sich nicht zu vorschneller Hypothesenbildung hinreißen zu lassen, weil bestimmte Schilderungen von Coachees an eigene Lebens­erfahrungen anknüpfen.

6 Ausblick Sowohl auf den Coachee bezogen als auch auf den Reflexionsprozess des Coachs (siehe 5.2) wird die Relevanz des Kontexts zwar manchmal explizit genannt, meist aber nicht näher bestimmt, welche Kontexte konkret gemeint sind und was die jeweilige Autorin darunter versteht. So schreibt beispielsweise Fietze: »Coaching stimuliert die Reflexivität des Klienten durch einen methodisch eingeführten Perspektivenwechsel, die Anleitung zum Denken in Alternativen und zur Selbstpositionierung in übergreifenden Kontexten« (Fietze 2010, S. 22 f.). »Vor allem werden die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und die Flexibilität, sich in wandelnden Kontexten neu zu positionieren, maßgeblich für die Handlungsfähigkeit in relationalen und prozessualen Organisationsstrukturen« (S. 23). Kontextualisierung wird also für Supervisions- und Coachingprozesse gefordert und findet auch statt, jedoch vergleichsweise unreflektiert. Analog stellt Siller bereits 2010 fest: »Während in den professionstheoretischen und -politischen Texten mit grundsätzlichen Überlegungen zur Supervision arbeitsweltund organisationsbezogene Kontextbedingungen eine große Rolle spielen […], finden sie sich in den empirischen Untersuchungen kaum« (Siller 2010, S. 18). Mein vorliegender Beitrag versteht sich als Impuls, dazu anzuregen, die für Coachingprozesse relevanten Kontexte sowohl in die eigene Coachingpraxis als auch in die Reflexion derselben stärker miteinzubeziehen. Zu erfahren, wie gewinnbringend und inspirierend das sein kann, dazu lade ich meine Leserinnen herzlich ein.

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»Virtuelles« Coaching und andere – Ein Aufräumversuch Ingmar Rothe

1  Die Ausgangslage Dreißig Jahre nach der »Erfindung« des World Wide Web kann dessen N ­ utzung für Coachings als etabliert gelten. Für eine einheitliche und klare Benennung möglicher Coachingvarianten, die damit relevant geworden sind, gilt das nicht – bei weitem nicht. So vielfältig die Nutzungsmöglichkeiten online-­basierter Kommunikation erscheinen, so heillos ist das Durcheinander. Das liegt nicht daran, dass es zu wenige Publikationen zum Thema gäbe oder sich Coaches, die online-basiert arbeiten, nicht in die Karten schauen ließen. Gerade in der zweiten Jahreshälfte 2018 sind zahlreiche Monografien und Aufsatzsammlungen erschienen, die sich damit beschäftigen (siehe Kapitel 1.2). Bei genauerem Hinsehen fällt aber auf, dass zum Teil mit dem gleichen Begriff völlig verschiedene Varianten gemeint sind (z. B. »virtuelles Coaching«) und dass sich hinter nebulösen Titeln die gleichen Ideen verbergen (so z. B. E-Coaching, Online-­ Coaching, virtuelles Coaching). Angesichts der Tatsache, dass »Coaching« selbst ein äußerst diffuser Begriff ist (Pfab u. Pfab 2018, S. 424 ff.), ist die verwirrende Vielfalt der Benennungen vielleicht nicht sehr verwunderlich. An dieser Stelle kann und soll gleichwohl nicht der Versuch unternommen werden, zu klären, was Coaching ist. Im Hinblick auf virtuelles Coaching kann mit Rückgriff auf Pfab und Pfab (S. 425) lediglich bemerkt werden, dass es in irgendeiner Weise um »virtuelle Berater- oder Trainertätigkeiten« geht. Natürlich wird an dieser Stelle bereits ein Problem greifbar. Wenn es nämlich so ist, dass für den einen Coach, sagen wir, strikte Lösungsorientierung der Ansatz der Wahl ist, während der andere seine Klientinnen aufstellt, um Stimmungen und Beziehungen zu verkörpern, dann ist auch schon klar, dass beide an virtuelle Varianten völlig unterschiedliche Ansprüche haben. Die Folgen für die Begriffsbildung werden in Kapitel 1.2 dargestellt. Dabei geht es mir vor allem darum, die Bandbreite der nebeneinander existierenden medienvermittelten Coachingarten aufzuzeigen und grundlegende Unterschiede

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zu benennen. Weil insbesondere das »Virtuelle Coaching« gebräuchlich zu sein scheint, wird dieses etwas ausführlicher behandelt (Kapitel 1.2). Dabei zeigen sich einige Fallstricke. Am Ende dieses ersten Kapitels soll ein Vorschlag zur Entwirrung gemacht werden. Wenngleich medienvermitteltes Coaching als etabliert gelten kann, gibt es durchaus unterschiedliche Positionen zu dessen Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit. Diese sind untrennbar mit der Frage verbunden, was unterschiedliche Medien leisten und verhindern können. Grundlegende Annahmen darüber möchte ich aufzeigen und mit Bezug auf die immer gleichen Bezugsgrößen der kritischen Betrachtung – Körper, Raum, Stimme und Sprechweise – hinterfragen. Es ist nicht Grundidee dieses Beitrags, eine weitere Coachingvariante zu entwickeln oder zu »zeigen, wie es geht«. Vielmehr möchte ich einen Beitrag dazu leisten, verschiedene Positionen in der Diskussion um internetbasiertes Coaching an einen Ort zu bringen, und Denkanstöße zur Weiterentwicklung einerseits und zur Ausdifferenzierung andererseits geben. 1.1  Ausdifferenzierung ist nötig Wozu ist diese Ausdifferenzierung überhaupt nötig? Die zunehmende Kommunikation online scheint es mit sich zu bringen, dass das Angebot von entsprechenden Coachingangeboten eine gewisse Selbstverständlichkeit hat. Aus Sicht eines Coaches, der »Online-Coaching« oder »Virtuelles Coaching« in sein Portfolio schreibt, kann nun zweierlei passieren: Entweder er benennt ein Format, von dem Klientinnen etwas völlig anderes verstehen als er selbst, oder er bedient sich eines Namens, der bereits für eine ganz bestimmte Form verwendet wird, macht dann aber etwas ganz anderes. Für Coaches kann die Entzerrung der Begrifflichkeiten also eine klärende und absichernde Wirkung haben. Für Klienten ist das ohnehin der Fall, weil eine bessere Ausdifferenzierung idealerweise auf den ersten Blick erkennen lässt, was sich dahinter verbirgt. Sowohl Coaches als auch deren Klientinnen kann so also mehr Sicherheit bei der Orientierung verschafft werden. Andererseits passen sich mit der Weiter­entwicklung von Technik und Übertragungsmöglichkeiten auch die Gestaltungsmöglichkeiten im Coaching ständig an. Dem gegenüber stehen jedoch größere konzeptionelle Unschärfen in ganz grundlegenden Fragen. Diese treten besonders in der Auseinandersetzung mit der aktuellen Diskussion zutage. Eine Ausdifferenzierung kann daher Grundlage zum Weiterdenken und Weiter­entwickeln sein. Obgleich es einige Beiträge zu den Bedingungen von Online-Coachings gibt, scheint eine systematische Aufarbeitung bislang zu fehlen. Viele Auto-

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ren beschränken sich auf erfahrungsbasierte Rahmenbedingungen (Martens-­ Schmid 2018; Bache 2018) und/oder zeitgenössische tools (z. B. Berninger-Schäfer 2012; Geißler 2012; Geißler 2018). Ein grundlegendes Verständnis medienvermittelten Coachings fördert das nicht. Es scheint vor allem darum zu gehen, bestimmte Methoden zu beschreiben und zu bewerben. Einen recht aktuellen Überblick dazu gewinnt man bei Geißler (2018). Die Leistung jenes Überblicks liegt nicht gerade in einer klaren Definition von Begriffen, dafür aber in einer Zuordnung der tools zu bestimmten Zielgruppen. Es wird zum Beispiel deutlich, dass ein Coachingprozess, der in alternierendem telefonischen und schriftlichen Austausch betrieben wird, vergleichsweise wenig aufwändig ist. Dagegen sind virtuelle Welten, die an SecondLife® erinnern, vor allem an Aufstellungsverfahren und entsprechende Coachingzwecke geknüpft und für solche entwickelt worden. Zudem listet Geißler (2018) wohl beinahe die komplette Bandbreite üblicher medial vermittelter Coachingvarianten auf, die zum Teil synonym gebraucht werden (Geißler 2018, S. 16): ȤȤ E-Coaching ȤȤ Online-Coaching ȤȤ Virtuelles Coaching ȤȤ Distance Coaching ȤȤ Remote Coaching ȤȤ Coaching 2.0 Alle diese Termini erscheinen zunächst plausibel und allgemein genug, um als Oberbegriffe geeignet zu sein. Dass sie nebeneinander existieren, hängt zum einen damit zusammen, dass jeweils eine andere Eigenschaft des Coaching hervorgehoben werden soll. So betont Online-Coaching das vermittelnde Medium, Distance Coaching die zu überwindende (wahlweise die zwischen Coach und Coachee bestehende) geografische Distanz, Remote Coaching die Abgelegenheit des einen Ortes in Relation zum anderen, und Coaching 2.0 knüpft an die Versions-Nummerierung aus der Informatik an, die man auch in der Bezeichnung Web 2.0 wiederfindet. Damit wird sowohl auf die Weiterentwicklung des ursprünglichen Coachingsettings (quasi Coaching 1.0) referiert als auch auf die soziale Dimension des Internets (Fraas, Meyer u. Pentzold 2012, S. 14 f.). Sicher geht es nicht zuletzt auch darum, die Gestalt des Coaching verkaufswirksam zu verklausulieren bzw. zielgruppengerecht zu formulieren. Eine Variante der Benennung ist vor diesem Hintergrund doppelt problematisch: »virtuell« ist nicht nur diffus in seinem semantischen Gehalt, es bleibt auch diffus in seiner Zielgruppenspezifik.

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1.2  Virtuelle Verwirrung Die Rede vom »virtuellen Coaching« ist also ein glänzendes Beispiel dafür, dass die vielfältige Benennung medienvermittelter Coachingverfahren bisweilen völlig willkürlich geschieht. Unter demselben Namen firmieren unterschiedliche Dinge – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite werden falsche Hoffnungen geweckt, weil schleierhaft bleibt, was genau gemeint ist. Deshalb sollen im Folgenden die unterschiedlichen Bedeutungen von »virtuellem Coaching« aufgefächert werden. 1.2.1  virtuell = telefonisch + schriftlich

In der, eher en passant gegebenen, Definition von Geißler (2012, S. 155) zeichnet sich virtuelles Coaching dadurch aus, dass sich schriftliche Handlungsschritte und mündlicher Austausch ergänzen und zu einem Gesamt-Coachingprogramm verbinden. »Schriftlichkeit ist damit ein wesentliches Merkmal von VC [Virtuelles Coaching, I. R.]. Im Gegensatz zum Online-Coaching, das ausschließlich auf schriftliche Dialoge setzt […], verbindet sich Schriftlichkeit im VC in spezifischer Weise mit telefonischer Kommunikation« (Geißler 2012, S. 155). Interessant ist, dass Geißler in diesem Zusammenhang das telefonische und das face-to-face-Gespräch funktional gleichsetzt. Das Alleinstellungsmerkmal ist also das schriftliche Beantworten von Fragen. Das wäre einleuchtend, ginge es dabei darum, diese Fragen nicht gegenüber einer Person, sondern in der Auseinandersetzung mit sich selbst zu beantworten (sozusagen in der eigenen Vorstellung). Virtuell ist es aber auch dann, wenn der Coach der Klientin Fragen im (telefonischen) Gespräch stellt, die diese dann verschriftlicht (S. 158). Diese Definition erklärt sich auch aus Geißlers Perspektive auf Coaching insgesamt als Anleitung zum Selbstcoaching und damit einem vielmehr pädagogischen als beratenden Ansatz (S. 138 ff.). Je nach Coachingprogramm gibt es Phasen, in denen die Selbstcoaching-­Komponente überwiegt und die Klientin Fragen auf sich alleingestellt beantwortet. »An dieser Stelle rückt Virtuelles Coaching deshalb konzeptionell etwas in die Nähe des sich ausschließlich auf den schriftlichen Dialog beschränkenden Online-Coachings« (S. 160). Das heißt, die Fragen werden immer online beantwortet, sodass der Coach mit- und nachlesen kann. Damit wird dieser zwangsläufig auch für die schriftlichen Äußerungen des Klienten zum Dialogpartner. VC wird als Tool vermarktet (Geißler 2018; www.virtuelles-coaching.com). 1.2.2  virtuell = räumlich und zeitlich getrennt

Um eine historische Aufarbeitung der Begriffe »virtuell« und »real« bemüht sich Berninger-Schäfer (2018). Demnach sei die ursprüngliche Abgrenzung auf

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die Nutzung von Chat und E-Mail zurückzuführen und damit an die räumliche und ggf. auch zeitliche Trennung der Interaktionspartner (Berninger-­ Schäfer 2018, S. 14). Die Autorin führt ins Feld, dass in medienvermittelten Interaktionen face-to-face-Coaching durchaus möglich sei und real seien diese ohnehin. »face-to-face« meint in dieser Lesart tatsächlich »von Gesicht zu Gesicht« – was natürlich bei Videotelefonie der Fall ist. Daher erscheine die Trennung von virtuell und real nicht zeitgemäß (S. 15). Als »virtuelle Kommunikationsmöglichkeiten« zählt Berninger-Schäfer auf: Audio, Video, Platt­ formen bzw. Avatare. Auch hier steht »virtuell« also für die gesamte Bandbreite des derzeit Möglichen. Wendet man die »Möglichkeiten« zu Modalitäten bzw. Ressourcen (Mondada 2008), die damit in der Inter­aktion relevant werden, dann wären das: mimische, gestische, kinetische, vokale und damit auch prosodische. Die Möglichkeit, einen Avatar durch eine digital generierte Landschaft zu steuern (siehe z. B. Berger, Jucker u. Locher 2016 zu SecondLife®; Geißler 2018 zitiert gleich mehrere digitale Coachinglandschaften), macht auch proxemische und räumliche Ressourcen relevant. Der vielfach reflexhaft geäußerte Vorbehalt, technisch vermittelte Coachings reduzierten die Wahrnehmung massiv (so z. B. Bache 2018), erscheint mindestens diskutabel, aber dazu später mehr. ­Ebenso deutlich wird: Mit zunehmenden Möglichkeiten werden auch die Grenzen zwischen den Formaten durchlässiger, die unterscheidenden Merkmale müssen umso klarer gewählt werden. Berninger-­ Schäfer (2018) hält fest, »dass der große Unterschied zwischen den face-toface- und Online-Begegnungs­formen darin besteht, dass weder Zeit noch Ort geteilt werden und […] die professionelle Kommunikation medial vermittelt wird« (S. 15). Deutlich wird, dass Berninger-Schäfer den Begriff des Online-Coaching vorzieht, diesen aber als ähnlich zerfasert vorfindet wie den des virtuellen Coaching (S. 28). Das Beispiel zeigt, dass die Benennung medial vermittelter Coachingformen recht hilflos zwischen etablierten und »neuen« Termini geführt wird. So gilt das Prädikat face to face für leiblich und zeitlich kopräsentes Coaching als so etabliert, dass es nicht sinnvoll erscheint, es um videobasierte Formate zu erweitern. Der Aspekt geteilter zeitlicher und/oder räumlicher Präsenz erscheint als Distinktionsmerkmal plausibler. Sinnvoll gelingt dies daher nur dann, wenn das jeweils bemühte Konzept von Raum und Räumlichkeit transparent gemacht wird (siehe unten, S. 197 ff.). 1.2.3  Exkurs: »virtuell« in anderen Zusammenhängen

Fraas et al. verweisen auf ein Verständnis des Internets als »ein[en] virtuelle[n] Raum dezentraler Kommunikation und Interaktion« (2012, S. 116). Dieser Idee

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folgend, könnte zumindest jede Interaktion, die tatsächlich internetbasiert ist, als virtuell gelten. Berger, Jucker und Locher (2016, S. 84) definieren virtuelle Welten deutlich spezifischer als computergenerierte, grafische Umgebungen, die über ebenso generierte, grafische Körper, also Avatare, betreten werden können. Der Bereich des Virtuellen bekommt damit einen klaren Zuschnitt als etwas Computer-Programmiertes. Etwas, das im Virtuellen stattfindet, findet also in einer grafisch repräsentierten Umgebung statt. Die nichtvirtuelle Umgebung wird in Abgrenzung dazu definiert als »physisch«. Übertragen auf Coaching hieße das, wirklich nur dasjenige Coaching als virtuell zu bezeichnen, das auf Plattformen stattfindet, die artifizielle grafische Umgebungen anbieten. In denen befinden sich Repräsentanzen der beteiligten Personen, die dort auch auf verschiedenen Wegen miteinander interagieren können. Dass in diesem Zusammenhang von »virtuell« und »physisch« die Rede ist, vermeidet die seltsame Idee von irgendwie irrealen Begegnungen, wie sie in den Gegensätzen »virtuell« versus »real« impliziert sind. Berger et al. (2016) argumentieren außerdem, dass auch virtuelle Interaktionsräume entstehen, deren Beschaffenheiten für die Gesprächspartner Bedeutung haben, die Orientierung notwendig machen und deren Interaktionsarchitekturen (­Hausendorf u. Schmitt 2013) den Gesprächsprozess beeinflussen. Physischen Räumen und ihrer Gestaltung wird im Zusammenhang mit Coaching eine erhebliche Bedeutung beigemessen (Martens-Schmid 2016). Verfolgt man die Idee virtuellen Coachings konsequent, muss auch die Dimension des Raums neu gedacht oder zumindest angepasst werden. »Räumliche Kopräsenz« kann dann nicht mehr ohne Weiteres als Kriterium zur Unterscheidung von Coaching­formaten herangezogen werden – zumindest muss die Art der Kopräsenz genauer spezifiziert werden. Der Begriff »virtuelles Coaching« bleibt irreführend. Wie sich zeigt, ist er in seiner Verwendung äußerst diffus, weil er sowohl für das verwendet wird, was im engeren Sinne virtuell ist (siehe oben), als auch für Telefoncoaching oder Coaching per Chat. Die Grade an Virtualität könnten jedoch unterschied­licher nicht sein. 1.3  Ein möglicher Lösungsansatz Eine grundlegende Schwierigkeit besteht offensichtlich darin, dass die Weiterentwicklung der Medien vormals geeignete Begriffe überholt. Ein Beispiel ist die Idee vom face-to-face-Gespräch, die sich historisch für nichtmedial ­vermittelte Interaktion etabliert hat. Gleichwohl stammt sie aus einer Zeit, in der Bildübermittlung noch keine Rolle spielte.

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Geißler (2018), dessen Begriff von »virtuellem Coaching« wie bereits gezeigt ein recht enger ist, schlägt als allgemeineren Sammelbegriff »E-Coaching« vor: Das ist »Coaching mit modernen Medien« (S. 17). Identisch definiert Bache (2018) »virtuelles Coaching« und beruft sich damit auf ein Praxispapier der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e. V. (S. 199). Die Spezifizierung auf »moderne Medien« ist nachvollziehbar, allerdings steht die Frage im Raum, ob Online-Coaching auch dann noch E-Coaching bzw. virtuelles Coaching ist, wenn das Internet als Medium nicht mehr »in Mode« ist. Von »modernen Medien« zu sprechen, ist also in diesem Zusammenhang ähnlich wenig hilfreich wie von »neuen Medien« (ich erinnere an dreißig Jahre Internet). G ­ eißler (2018) grenzt jedoch die sogenannten modernen von sogenannten klassischen Medien ab, nämlich Brief und Telefon. In dieser Nomenklatur existieren dann demnach »E-Coaching« (modern), Briefcoaching (klassisch) und Telefon­coaching (klassisch). Um die Verwirrung zu komplettieren, sei darauf hingewiesen, dass z. B. Bache (2018) in seinen Begriff von »modernen Medien« auch das Telefon und allerlei »Textformen« integriert: »Virtuelle Coaching-Formen sind unter anderem Coaching per Telefon, per Computer mit oder ohne Videoübertragung, in verschiedenen Textformen, mittels Online-Programmen oder Avataren« (S. 199). Genauso wenig wie »virtuelles Coaching« ist also »E-Coaching« die erhoffte terminologische Rettung. Berninger-Schäfer (2012) konstatiert Ähn­liches für »Online-Coaching«. Fietze und Bachmann (2018) sprechen von »Digitalisierung des Coachings«, warnen aber zurecht davor, Digitalisierung und Medien­vermittlung gleichzusetzen (S. 289). Worum geht es eigentlich grundsätzlich bei der Unterscheidung zwischen Coaching, bei dem sich zwei Menschen miteinander in einem physischen Raum befinden, zumeist sitzend, und anderen Formen? Ursprünglich geht es darum, dass das eine direkt und die anderen medienvermittelt stattfinden. Wenn es also einen Sammelbegriff geben soll, unter dessen Dach die nötige Ausdifferenzierung stattfinden kann, dann wäre ein Ansatz, genau diesen ursprünglichen Aspekt zu benennen. Statt »virtuelles/Online-/E-Coaching« könnte man von »medienvermitteltem Coaching« sprechen. Natürlich versammeln sich darunter dann sehr verschiedene Formen. Dafür trägt »medienvermittelt« auch der Tatsache Rechnung, dass dies der fundamentale Unterschied ist, aus dem heraus sich zahlreiche Schnittmengen der unterschiedlichen Formate ergeben. Zudem kann »medienvermittelt« begrifflich als durchaus etabliert gelten, weshalb nicht ganz verständlich ist, warum es im Zusammenhang mit Coaching ungleich seltener diskutiert wird – zumindest im Vergleich zu den aufgeführten Betitelungen. Neu ist diese Idee gleichwohl nicht. Auch Berninger-Schäfer (2018, S. 34) argumentiert ähnlich, stellt jedoch medial vermittelte Kommunikation an

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den Anfang eines Professionalisierungskontinuums, an dessen Ende als elaborierteste Form eine »integrierte, interaktive, professionelle Coaching-­Plattform« steht (S. 35). In dieser Lesart erscheint die mediale Vermittlung eher als Relikt aus der Vergangenheit im Sinne einer niedrigen Evolutionsstufe. Dass es aber produktiv ist, sich den Vermittlungsaspekt genau anzusehen, vor allem in seiner Bedeutung für die spezifische Coachingtätigkeit, wird im weiteren Verlauf thematisiert.

2  Perspektiven auf medienvermitteltes Coaching Im Großen und Ganzen zeigen sich in der einschlägigen Literatur zu medienvermitteltem Coaching (unter welchem »Decknamen« auch immer) zwei grundlegende Haltungen: die optimistische und die pessimistische. 2.1  Die optimistische Perspektive Ein verbreiteter Ausgangspunkt der optimistischen Perspektive scheint zu sein, dass die Digitalisierung im Coaching unausweichlich ist (Fietze u. Bachmann 2018; Kantelberg 2018; Heller u. Koch 2018; Triebel 2018). Sie zeichnet sich grundlegend durch die Annahme aus, dass die besonderen Eigenschaften des medienvermittelten Coachings auch besondere Vorteile für den Coaching­ prozess bergen. Diese Position nimmt z. B. Geißler (2018) ein, der die neuen Nutzungs­potenziale »moderner Medien« ganz besonders betont (S. 20). Ein Beispiel für die vorbehaltlose Anerkennung dieser Potenziale ist die bei ­Geißler (2018) zitierte virtuelle Plattform »ProReal«, auf der man einen Avatar auf zwanzigfache Weise bewegen kann, um damit »Gefühle zum Ausdruck« zu bringen (S. 21). Das mag ein beachtenswertes technisches Feature sein. Wird diese Beweglichkeit als Ausdrucksressource begriffen, muss gleichwohl in Betracht gezogen werden, dass zu ihrer Nutzung ein hoher Grad an Reflektiertheit gegenüber dem eigenen emotionalen Zustand gehören dürfte. Das kann im Coaching ein gewollter Schritt sein, darf aber nicht mit einer affektbasierten Äußerung von Gefühlen gleichgesetzt werden. Berninger-Schäfer (2018) geht davon aus, dass schriftbasierte Kommunikation im Coaching einen Eigenwert an sich hat. Durch die gegebene Asynchronität können sich Coachees demnach mit einer Frage ihres Coaches beispielsweise länger beschäftigen und so auch zu einem tieferen Verständnis gelangen (so argumentiert im Übrigen auch Geißler 2012). Für Coaching per E-Mail stimmt das sicher. Nicht alle schriftbasierten Coaching­varianten sind jedoch zwangsläufig asynchron: Die meisten aktuel-

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len Chat-Applikationen ermöglichen eine quasi-synchrone Interaktion, weil die Interaktionspartner den Beitrag des anderen nicht erst sehen, wenn er fertig ist, sondern live sehen können, dass der andere schreibt (oder eben nicht). Man kann davon ausgehen, dass so auch die Textproduktion beeinflusst wird. Geißler, Kurzmann und Metz (2012) untersuchen gezielt die Unterschiede zwischen face-to-face- und mit »modernen Medien« vermittelten Beratungen und kommen zu dem Schluss, dass bezogen auf die (Sprech-)Handlungen der Beteiligten kaum Unterschiede zwischen den Formaten bestehen. Allerdings räumen die Autoren ein, dass diese Feststellung auf sehr wenigen Fällen beruht und die Untersuchungsergebnisse deshalb »nicht mehr als erste Hinweise sein« können (Geißler et al. 2012, S. 378). Aus meiner Sicht liegt dieses Ergebnis tatsächlich bereits in der Auswahl der Stichprobe begründet. Diese setzt sich zusammen aus vier verschiedenen Formaten, die sich eben nicht nur im Hinblick auf nicht- versus medienvermittelt unterscheiden, sondern auch mit Bezug auf die Beteiligten, die thematisierten Probleme und den Grad der Elizitierung (experimentell vs. authentisch) (S. 360 ff.). Im Vergleich dieser recht heterogenen Interaktionsereignisse zeigt sich in anderen Worten, dass die Beteiligten ähn­liche Handlungen vollführen. Diese sind also unabhängig vom Format möglich, weswegen die Autorinnen alle Formate derselben kommunikativen Gattung zurechnen, der subsidiären Beratung. Die interessantere und aus meiner Sicht wichtigere Frage aber lautet, wie die Beteiligten diese Handlungen jeweils realisieren, denn daran kann erst ersichtlich werden, welche Handlungsweisen format- und welche beratungsbezogen sind. Gross und Stephan (2012) sehen als besondere Leistung des Coaching mit »neuen Medien [als] Prozessinnovation« (Gross u. Stephan 2012, S. 329), dass dieses »zeitlich deutlich beschränkt« ist und »klare Vorgaben bezüglich des Ablaufs und der Inhalte« bestehen (S. 329 f.). Damit lägen »die inhaltliche Steuerbarkeit sowie die Standardisierungsmöglichkeiten deutlich über denen klassischer Coachingformate« (S. 330). Gross und Stephan (2012) argumentieren, dass diese klaren Rahmenbedingungen dazu beitragen, Coaching als Personalentwicklungsmaßnahme für Unternehmen ganz grundsätzlich interessanter zu machen. Neben diesen betriebswirtschaftlichen Aspekten heben die Autoren einen Aspekt hervor, der dem Attribut »virtuell« eine ganz neue Dimension verleiht. Durch »neue Medien« sei es nämlich viel leichter möglich, ein Coaching im Unternehmenskontext so durchzuführen, dass Arbeitskollegen davon nichts bemerken (S. 335). Den umfassendsten aktuellen Beitrag zum Online-Coaching liefert Berninger-Schäfer (2018). Als Ergebnisse verschiedener Studien arbeitet sie spezifische Wirkfaktoren von Online-Coaching heraus. Demnach kann dieses die

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Bereitschaft zur Selbstoffenbarung erhöhen, verändert die Selbstreflexion und ermöglicht mehr Selbstkontrolle. In Bezug auf Beziehungsgestaltung verweist Berninger-Schäfer auf Ergebnisse, die belegen, dass medienvermittelt zwar auf anderem Wege, aber doch qualitativ gleichwertige Beziehungen aufgebaut werden können (Berninger-Schäfer 2018, S. 52 ff.). Letztlich seien Online-Formen besonders geeignet, den Transfer der Coachingergebnisse in den Alltag zu unterstützen. Diesem Argument schließt sich auch Kantelberg (2018) an und führt dies vor allem zurück auf die problemlose und quasi ständige Verfügbarkeit von E-Coaching (begrifflich folgt sie hier Geißler 2018, siehe oben). K ­ antelberg geht sogar noch weiter und leitet daraus eine für den Coachee höhere »Wirkmächtigkeit« ab sowie die Fähigkeit, den Prozess »flexibler nach seinen Bedürfnissen und Wünschen [zu] gestalten« (S. 303). Ein Alleinstellungsmerkmal sei zudem die Option absoluter Anonymität. Triebel (2018) vertritt die These, dass die Digitalisierung den Coachingmarkt in ähnlicher Weise verändern wird, wie sie zuvor die Musik- und Buchbranche verändert hat. Das bedeutet zunächst, dass die Digitalisierung grundsätzlich nicht vermeidbar ist. Der zweite Kerngedanke besteht in einer Konzentration auf vollständig digitale und vollständig analoge Coachingprodukte. Drittens werde die Digitalisierung mit einer Konsolidierung des Marktes einhergehen: »Coaches mit hochwertig fundierter Ausbildung werden bleiben, ›mittelmäßige‹ Coaches werden durch Apps ersetzt werden« (Triebel 2018, S. 13). Zusammengefasst zeichnet sich die optimistische Perspektive durch folgende Gesichtspunkte aus: ȤȤ technische Möglichkeiten erlauben die immer umfangreichere Darstellung von inneren Vorgängen (Geißler 2018), ȤȤ schriftliche Kommunikation hat einen Eigenwert an sich (Berninger-­Schäfer 2018), ȤȤ asynchrone Kommunikation führt zu einem tieferen Verständnis (­Geißler 2012), ȤȤ Handlungsmuster face-to-face und medienvermittelt gleichen einander (Geißler et al. 2012), ȤȤ Online-Coaching erhöht die Bereitschaft zur Selbstoffenbarung und ermöglicht mehr Selbstkontrolle (Berninger-Schäfer 2018), ȤȤ Online-Formen unterstützen besonders den Transfer in den Alltag (Berninger-Schäfer 2018), ȤȤ Online-Coaching ist flexibler und deshalb wirkmächtiger als face-to-faceCoaching (Kantelberg 2018), ȤȤ mittelmäßige Anbieter verschwinden vom Markt (Triebel 2018).

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2.2  Die pessimistische Perspektive Wenn die Rede von der »Einschränkung der Wahrnehmung« geführt wird, ist implizit, dass der Königsweg das nichtvermittelte Coaching ist – weil bei allen vermittelten Formaten eben etwas (oder auch eine ganze Menge) fehle. So wird z. B. davon ausgegangen, dass sinnliche Reize fehlen und es ohne diese Reize schwierig wird, Emotionen zu transportieren (Berninger-Schäfer 2018, S. 16). Diese defizit­orientierte Sicht auf medienvermitteltes Coaching hängt zusammen mit der Blickrichtung bzw. Ausgangsposition, die typischerweise eingenommen wird und für die ich hier exemplarisch auf Martens-Schmid (2018) verweisen möchte: Medienvermitteltes Coaching wird gemessen am face-to-face-­Gespräch und seine Leistungsfähigkeit und Eigenschaften werden in Relation dazu beschrieben. Natürlich liegt das nahe, weil nicht nur im Coaching historisch gesehen der unvermittelte Kontakt zwischen zwei Interaktions­partnern die Urform der Interaktion darstellt (Martens-Schmid 2018; Rusch 1998; Geißler 2018). Gegenstand der Skepsis bei Martens-Schmid (2018) ist vor allem der Wegfall des gemeinsamen physischen Raums und damit auch die fehlende Wegezeit, die die Beteiligten normalerweise aufbringen müssen, um zum Ort des Coaching zu gelangen. Damit fielen auch die Distanz zum Alltag, die gewisser­ maßen erzwungene »Auszeit« und die mögliche gedankliche Vorbereitung weg. Hinzu komme, dass die Haptik des Raums auch die Interaktionspraktiken beeinflusse (Martens-Schmid 2018, S. 308; siehe Kapitel 3.1). Durch die Aktivierung aller Sinne in der face-to-face-Begegnung sei auch eine andere Art der Intimität möglich (S. 306). Für medienvermittelte Interaktionen bedeute das, dass dieser Grad an Intimität per se nicht möglich ist. Nichtsdesto­weniger räumt Martens-Schmid (2018) ein, dass auch medienvermittelt »emotional bedeutsame Momente des beraterischen Dialogs möglich werden« (S. 312). Den kritischsten Punkt macht die Autorin im Wandel des Coaches zum reinen Dienstleister aus, denn »die unmittelbare Begegnung zwischen Coach und Klient als ›ganzer Personen‹ in einer professionellen Begegnung auf Zeit, die Auseinandersetzung mit einem psychisch und physisch präsenten Gegenüber, die nach heutigem Verständnis den Kern professionellen Coachings ausmacht, – sie gerät darin aus dem Blick« (S. 316). Dem bereits zitierten Argument, die Digitalisierung der Lebenswelten könne auch vor Coaching nicht haltmachen, setzt Martens-Schmid entgegen, dass gerade dadurch das physisch kopräsente Gespräch aufgrund seiner spezifischen Qualitäten Bedeutung gewinnen könne (S. 317). Bache (2018) ist sich sicher, dass es Themen gibt, die im face-to-face-­ Coaching grundsätzlich besser zu bearbeiten sind. Dazu gehören »diffuse The-

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men« (Bache 2018, S. 201) und solche, die sich erst im Verlauf des Coachingprozesses als »persönlich bewegender, stark emotionaler Themenkomplex« entpuppen und deshalb eine große »Einlasstiefe« erfordern (S. 205). Die Gegenstände, die medienvermittelt nicht gut verhandelt werden können, spielen bei Bache eine große Rolle. Dazu gehören auch alle Arten von Aufstellungen. Geradezu schwarzseherisch wirkt die Einschätzung, dass jede Vermittlungstechnik störungsanfällig sei (Unterbrechungen, schlechtes Bild, verzerrter Ton), was die Qualität des Coaching negativ beeinflusse. Auch störungsfrei fehlten aber Hinweise für das Coaching, die nur bei ganzheitlicher Wahrnehmung, also im face-to-face-­Gespräch, aufgenommen werden könnten (S. 204). Fietze und Bachmann (2018) kritisieren die Geschäftsmodelle von Online-Coaching-Plattformen, die sich zwischen Nutzen für den Klienten und der (kostenpflichtigen) Nutzung der Plattform austarieren müssen. Ob sich das immer mit dem eigentlichen Zweck des Coaching vereinbaren lasse, sei dabei keineswegs garantiert (Fietze u. Backmann 2018, S. 287). Zum Thema Vertraulichkeit und Datensicherheit beziehen die Autorinnen sehr deutlich Position: Es gehöre »schon eine Menge Naivität dazu, wenn man wirklich wichtige und heikle Themen via Internet bespricht und auch noch Spuren seiner Schwächen, Zweifel, Probleme, Konflikte, Unzulänglichkeiten, Verletzlichkeiten, Abwanderungsgedanken etc. explizit in Form von Dokumenten auf Internetplattformen hinterlegt« (S. 288) (siehe auch den Beitrag von Pfab und Pfab). In Bezug auf medienvermitteltes Coaching sind Fietze und Bachmann (2018) grundsätzlich davon überzeugt, dass es »vor allem die nicht-reduzierte intersubjektive Begegnung [ist], in deren Verlauf Empathie, im Sinne eines umfassenden mitfühlenden Verstehens, die wichtigste Qualität der Beratungsbeziehung und entscheidende Grundlage der persönlichen Veränderung darstellt« (S. 290). Auf diesem Paradigma gründet dann auch das Zukunftsbild, dass die Autorinnen zeichnen. Man müsse sich entscheiden zwischen dem analogen Pol, der sich auszeichnet durch »persönliche Begegnung, Empathie, Unterstützung, Langsamkeit, Fokussierung auf das Erleben im Hier und Jetzt, Energie, Körperlichkeit, Ganzheit, menschliche Wärme, aber auch Feedback, Irritation, Konfrontation«, und dem digitalen Pol, der »Effizienz, Effektivität, Schnelllernen, Zielerreichung, Messbarkeit, Verfügbarkeit, Nutzen und Ergebnis« verspricht (S. 291). Verbunden ist diese Zukunftsvision mit dem Ausblick auf tatsächlich virtuelle Coachings, bei denen also nicht mehr von einem Menschen medienvermittelt gecoacht wird, sondern von einer Algorithmen- und Big-Data-­basierten Maschine (S. 290). Zusammengefasst zeichnet sich die pessimistische Perspektive durch folgende Gesichtspunkte aus:

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ȤȤ sinnliche Reize fehlen, Emotionen können nicht gleichwertig transportiert werden (Berninger-Schäfer 2018), ȤȤ die fehlende Anreisezeit verhindert das innere Einstellen auf das Coaching (Martens-Schmid 2018), ȤȤ inmitten allgegenwärtiger Digitalisierung sollte Coaching eine physisch kopräsente Insel sein (Martens-Schmid 2018), ȤȤ die medienvermittelte Einlasstiefe ist gering (Bache 2018), ȤȤ nicht jedes Thema ist medienvermittelt bearbeitbar (Bache 2018), ȤȤ Medien sind störanfällig (Bache 2018), ȤȤ Plattformen generieren Nutzungszwänge (Fietze u. Bachmann 2018), ȤȤ die Datensicherheit ist nicht gewährleistet (Fietze u. Bachmann 2018), ȤȤ Empathie ist medienvermittelt nicht möglich (Fietze u. Bachmann 2018).

3  Besondere Bedingungen Das Medium, das die Interaktion vermittelt, sorgt für bestimmte Bedingungen. Interaktion ist grundsätzlich multimodal, ohne dass eine Modalität grundsätzlich wichtiger oder in irgendeiner Weise leitend wäre. »Multimodale Interaktion« wird hier verstanden als »eine Konzeption, die Kommunikation als einen ganzheitlichen und letztlich von der Körperlichkeit der Beteiligten nicht zu trennenden Prozess beschreibt. Ganzheitlich ist dieser Prozess insofern, als er immer aus dem gleichzeitigen Zusammenspiel mehrerer Modalitäten besteht« (Schmitt 2005, S. 18). Publikationen zum medienvermittelten Coaching, unter welchem Titel auch immer, bleiben hier erstaunlich vage und unterreflektiert. Für die Medienvermittlung im Coaching scheinen drei Modalitäten distinktiv besonders interessant zu sein: Raum, Körper sowie Sprechweise und Stimme. 3.1 Raum Stark vereinfachend kann als Schnittmenge der bereits zitierten Publikationen formuliert werden: Der Unterschied zwischen medienvermitteltem Coaching und face-to-face-Coaching liegt im Vorhandensein körperlicher Kopräsenz im Raum. Diese Unterscheidung ist zunächst absolut plausibel. Die Frage, die darin jedoch vielfach unbeantwortet bleibt, lautet: Welche Art von Raum ist denn hier gemeint (siehe auch den Beitrag von Dobslaw)? Dabei ist es keineswegs so, dass Raum, Räumlichkeit und Raumgestaltung in Bezug auf Coaching völlig unbeachtet blieben (siehe z. B. Martens-Schmid 2016). Unspezifiziert bleibt in der Regel jedoch, in welchem Verständnis von Raum über diesen gesprochen

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wird. Versteht man nämlich Raum nicht als etwas Gegebenes, Vorausgesetztes, sondern als etwas sozial Hergestelltes (Kajetzke u. Schroer 2010, S. 193), dann entsteht Raum auch im sogenannten Virtuellen, dann entsteht Raum nicht nur im face-to-face-Gespräch, sondern auch medien­vermittelt. Diese Überlegung ist deshalb wichtig, weil aus meiner Sicht in Bezug auf Coaching Raum zunächst als Interaktionsraum (Hausendorf 2010; ­Hausendorf u. Schmitt 2013; Hausendorf, Schmitt u. Kesselheim 2016) gedacht werden muss, wenn Raum als Einflussgröße auf Coaching diskutiert werden soll. »Interaktionsraum bezeichnet die räumlichen Konfigurationen, die die Interaktanten im Verlauf ihrer Aktivitäten herstellen« (Mondada 2007, S. 55). Er ist »weder vom umgebenden Raum vorgegeben noch ein für alle Mal festgelegt. Er ist die praktische Hervorbringung der Interaktanten, eine Konfiguration, die im gemeinsamen Handeln emergiert und auf dessen praktische Zwecke zugeschnitten ist« (S. 87). In diesem Zusammenhang wird auch das Konzept der ­affordances (siehe auch den Beitrag von W. Pfab) relevant, also die Benutzungshinweise, die räumliche Gegebenheiten, die Interaktionsarchitektur (­Hausendorf et al. 2016), den Interagierenden geben (Gibson 1986; Norman 1989). Denn daraus lassen sich auch Nutzungspotenziale des jeweiligen Raums ableiten. Das kann an dieser Stelle nur schlaglichtartig passieren, denn das Thema bietet genügend Potenzial für (mindestens) eine eigene Publikation. Illustrieren möchte ich das Problem an dem Beitrag von Martens-Schmid (2018): Die Autorin spricht immer wieder vom »Dialograum«. Wie sich dieser zum Konzept vom Interaktionsraum verträgt, wird an keiner Stelle explizit. Beschrieben wird der Raum als Funktionsträger. »Im dialogischen Raum des Coaching findet das Subjekt […] einen handlungsentlasteten Raum des Nachdenkens« (Martens-Schmid 2016, S. 220). Damit ist noch nichts dazu gesagt, ob hier der Raum als architektonisch ge- und überformtes Gebilde gemeint ist, in welchem Coaching stattfindet, oder ob doch das Coaching selbst der Raum und damit von interaktiv hergestelltem Raum die Rede ist. Unplausibel wäre Letzteres nicht. In diese Richtung zielt zumindest auch eine von der Autorin benutzte Überschrift aus der Süddeutschen Zeitung (9.10./10.10.2010, zit. nach Martens-­Schmid 2016), Coaching sei »ein Zimmer für die Angst«. An dieser Stelle läuft die Raummetapher wieder mit dem natürlichen Raum zusammen. Demgegenüber ist »virtuell« offenbar für die Autorin gleichbedeutend mit »online« – wenngleich diese Gleichsetzung nicht expliziert wird (Martens-Schmid 2018, S. 306). Im »virtuellen« Coaching gibt es offenbar einen »virtuellen« Dialog, es entsteht ein »virtueller Dialograum« (S. 307). An anderer Stelle ist vom »dialogischen Raum« die Rede (Martens-Schmid 2016). Ähnlich wie für das medienvermittelte Coaching insgesamt haben auch die zahl-

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reichen Versuche, für das »Raumproblem« eine Lösung zu finden, zu einigen miteinander konkurrierenden, wenig voneinander abgegrenzten Raum­begriffen geführt. Eine unvollständige Auswahl: ȤȤ Coachraum, (virtueller) Begegnungsraum, Kommunikationsraum, physischer Raum (Berninger-Schäfer 2018), ȤȤ Möglichkeitsraum, Spielraum (Bredl, Bräutigam u. Herz 2012), ȤȤ digitaler Raum (Heller, Triebel, Hauser u. Koch 2018), ȤȤ face-to-face-Raum (Berninger-Schäfer, Kupke u. Wahl 2018), ȤȤ Resonanzraum (Martens-Schmid 2018), ȤȤ zentraler Raum der Begegnung, Gesprächsraum (Martens-Schmid 2016), ȤȤ dreidimensional gestalteter Raum, kreierter Raum (Kantelberg 2018). Für ein Konzept von räumlicher Kopräsenz ist ein klarer Raumbegriff jedoch entscheidend. Geht es nun um absolute Einflüsse des hergestellten Raums in medienvermittelten Settings, so können diese kaum mit Sicherheit ausgemacht werden. Als Beispiel: Es wirkt erst einmal plausibel, dass der Interaktionsraum bei einem Videotelefonat flexibler ist als jener bei einem face-to-face-Gespräch. Hält man sich aber vor Augen, dass beide Interaktionspartner für den jeweils anderen im Rahmen eines Bildschirms präsent sind, dann erscheint der physische Anteil des etablierten Interaktionsraums denkbar klein und eingegrenzt. Betrachtet man den Raum, in dem Coaching stattfindet, grundsätzlich als Ressource, die von den Teilnehmerinnen zur Interaktion genutzt wird, werden dessen Möglichkeiten offenbar. Ganz anders fallen die Befunde aus, wenn der Gegenstand der Analyse nur darin besteht, zu zeigen, was in medienvermittelten Gesprächsereignissen im Vergleich zu face-to-face alles fehlt. So ist es in einem videotelefoniebasierten Gespräch beiden Teilnehmern möglich, den für den anderen sichtbaren Ausschnitt zu bestimmen. Dieser kann so eingerichtet werden, dass das Gesicht als »Close-up« zu sehen ist, genauso können aber Teile des physischen Raums ins Bild gebracht und da auch benutzt werden. Auch Nähe und Distanz sind durch den jeweiligen Abstand von der Kamera beeinflussbar und in der Interaktion absolut relevant – nicht nur als visuelles, sondern auch als auditives Korrelat der räumlichen Gegebenheiten. Genau wie in face-to-face-Situationen werden also räumliche (physische) Gegebenheiten zu Einflussgrößen in der Interaktion, wird der Interaktionsraum determiniert von dem physischen Raum, in dem er von den Beteiligten etabliert (hergestellt) wird. Ähnlich lässt sich das für Audiotelefonate durchdeklinieren. Auch hier kann der physische Raum in den Möglichkeiten des Mediums relevant werden, etwa in der Entscheidung für oder gegen Raumton. Um in der Raummetapher zu

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bleiben: Veränderbar ist sowohl der Hörraum als auch der Sprechraum. Visuell Wahrnehmbares ist verbalisier- bzw. beschreibbar und, wenn es für die Interaktion wichtig wird, gegebenenfalls fotografierbar. Das ändert nichts daran, dass sich die Interaktionsteilnehmer beim medienvermittelten Coaching an verschiedenen geografischen Orten befinden, also lokal voneinander getrennt sind. Im Coaching erschaffen sie dennoch einen Interaktionsraum, in dem räumliche Ressourcen per se relevant gemacht werden (können). In anderen Worten: In medienvermittelten Coachings gibt es einen Raum A, einen Raum B und einen Raum dazwischen. 3.2 Körper Wie weiter oben bereits dargestellt, wird oft auf die körperliche Kopräsenz referiert, was in medienvermittelten Coachings sowohl den ganzheitlichen Ausdruck als auch die ganzheitliche Wahrnehmung verhindere. Das gilt unbestritten für die interaktive Relevanz von Gerüchen (die ohnehin der Analyse schwer zugänglich ist) und für körperliche Nähe. In der Diskussion entsteht jedoch leicht der Eindruck, das Sprechen sei durch die mediale Vermittlung gänzlich vom Körper getrennt. Der Körper, seine Funktion und sein Ausdrucks­ potenzial sind in dieser Diskussion untrennbar mit dem geteilten physischen Raum verbunden. Für das medienvermittelte Miteinander-Sprechen gilt das in dieser Absolutheit nicht. So beruhen zum Beispiel zahlreiche Ansätze der Sprecherziehung und Stimmbildung auf dem Zusammenhang von Körper und Stimme und dem Verständnis des Sprechens als ganzkörperlichen Prozess (stellvertretend: Brügge u. Mohs 1994; Heilmann 2009). Körperlicher Ausdruck wirkt also auf stimmlichen Ausdruck und wird damit auch auditiv wahrnehmbar. Das Prinzip des »funktionellen Nachvollzugs« (Fiukowski 2010, S. 49) beschreibt gar das meist unbewusste körperliche Mitbewegen beim Hören. Mondada (2008) argumentiert überzeugend für die videobasierte Analyse von Telefongesprächen, um die reichhaltigen körperlichen Aktivitäten aufzuzeichnen, die Telefongespräche begleiten. Analysegegenstand sind in dem Fall zwar Callcenter-Gespräche. Das Vorhandensein körperlicher Aktivität und dessen Auswirkungen auf die medienvermittelte Interaktion wird auf diese Weise nichtsdestoweniger empirisch belegt. Auch hier gilt also: In vielen Formen medienvermittelten Coachings sind Körper und Körperlichkeit auf spezifische Weise präsent. Auf welche Weise, muss für das jeweilige Format daher auch spezifisch bestimmt werden. Dann ist es auch möglich, fundierte Annahmen darüber zu machen, welche Möglich-

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keiten der Gestaltung für den Coachingprozess zur Verfügung stehen und ob diese adäquat sind oder nicht. Weniger komplex, aber für den Unterschied zwischen face-to-face-­Coaching und medienvermitteltem Coaching von einschneidender Bedeutung, ist die zeitliche Kopräsenz. Während Formate mit mündlichen Anteilen in aller Regel synchron sind – einen Sonderstatus genießen hier Sprachnachrichten –, sind schriftlich basierte Formate bzw. Anteile auf einer Skala von synchron (gemeinsame Online-Whiteboards und geteilte Bildschirme), über quasi-­synchron (Chatund Messenger-Kommunikation) bis asynchron (E-Mail und cloud-­basierte Lösungen) einzuordnen. Dürscheid (2005) arbeitet plausibel heraus, dass innerhalb der verschiedenen Kommunikationsformen (E-Mail, Chat usw.) einzelne kommunikative Gattungen von­einander abgegrenzt werden können, die sich substanziell unterscheiden. Coaching-­Chats, ob Mes­senger- oder Foren-basiert, sind dabei Gesprächen sehr ähnlich, weil sie nicht nur quasi-synchron, sondern auch zwangsläufig sequenziell sind (Dürscheid 2005, S. 13). Das heißt auch, dass Beiträge der Interagierenden immer aufeinander aufbauen. 3.3  Stimme und Sprechweise Die Zusammenstellung von zahlreichen Studienergebnissen bei Sendlmeier (2016) zeigt, wie variabel und leistungsfähig Stimme und Sprechweise im Hinblick auf den Ausdruck von Emotionen und Persönlichkeitsmerkmalen sind und dass umgekehrt das Hörverstehen recht treffsicher funktioniert. ­Sendlmeier trägt vor allem experimentelle, quantitativ ausgewertete Studien zusammen. Qualitative Arbeiten zum Sprechausdruck wie Bose (2003) vermitteln das gleiche Bild. Bendel (2007) zeigt eindrücklich, wie Callcenter-Mitarbeiter sprachlich und sprecherisch individuelle und klar identifizierbare Stile entwickeln. Die gesamte Prosodieforschung zeigt seit inzwischen einigen Jahrzehnten, welche Bedeutung vokalen Phänomenen in der Verstehenssicherung und Koordination in Interaktion zukommt (stellvertretend: Selting 1995; Barth-Weingarten u. Szczepek Reed 2014). Der Allgemeinplatz, medienvermittelter Kommunikation fehlten eben sinn­liche Reize, muss vor diesem Hintergrund neu bewertet werden. Natürlich stimmt das und die umfangreiche zeitgenössische Multimodalitätsforschung gründet im Prinzip auf dieser Tatsache. Gleichzeitig kann eben keiner Moda­lität eine Prominenz oder Deutungshoheit zugesprochen werden und es ist davon auszugehen, dass das Fehlen von Ressourcen in der Inter­aktion anderweitig zumindest kompensiert wird. Ein gern erhobener Vorwurf gegenüber medienvermitteltem Coaching ist die technische Einschränkung von Empathie (Fietze u. Bachmann 2018; Kreu-

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ser 2018). Gleichzeitig sei »professionelle Empathie« entscheidend, um Coaching zu ermöglichen (Kreuser 2018, S. 190). Kupetz (2014) zeigt demgegenüber, dass Empathiedarstellungen in Interaktion mit einer Fülle sprecherischer und stimmlicher Mittel realisiert werden – sowohl in face-to-face-Situationen als auch in radio-phone-ins. Entscheidend ist, dass der Untersuchung eine »interaktionale Auffassung von Empathie« zugrunde liegt: »Empathie wird nicht als psycho-emotionaler Zustand konzeptualisiert, sondern als Darstellung des Verstehens der emotionalen Situation einer betroffenen Person bzw. als Darstellung von Verständnis oder Mitgefühl für die emotionale Situation einer betroffenen Person« (Kupetz 2014, S. 88). Die Studie zeigt also, in welcher Weise Empathie im Gespräch vermittelt und von den Teilnehmerinnen verstanden und behandelt wird. Gerade diese »Darstellung von Empathie« erscheint für Coachinginteraktionen relevant (zur Einschätzung von Empathie auch Pfab und Pfab). Medienvermittelte Kommunikation ist nicht zwangsläufig defizitär, denn Coaching ist Kommunikationsarbeit. Der Diskussion um medienvermitteltes Coaching täte daher eine Fokussierung auf das, was im Coaching passiert, welche Modalitäten gebraucht und welche Ressourcen genutzt werden können, gut. Diese Fokussierung defizitorientiert vorzunehmen, ist weder für die Weiter­ entwicklung und -verbreitung von Formaten sinnvoll noch wirklich angemessen. In der Reduktion auf verbale und vokale Ressourcen kann eine für das jeweilige Coaching fruchtbare Fokussierung liegen. Der Wechsel zwischen synchronen und asynchronen Formen des Austauschs zwischen Coach und Klientin kann neue Sichtweisen zutage fördern. Mediale Vermittlung kann helfen, Hemmungen abzulegen – diese Annahmen spielen in Theorien zu sozialen Beziehungen in der Online-Kommunikation immer wieder eine Rolle (vgl. z. B. Fraas et al. 2012, S. 93 ff.). Dazu gesellen sich Möglichkeiten, die im face-to-face-Coaching nicht so leicht zu gewährleisten sind, die freie Wahl der Umgebung etwa oder ein »Speedcoaching« am Arbeitsplatz. Vor- und Nachteile verschiedener medienvermittelter Coachingformen aufzuzeigen (wie z. B. in Berninger-Schäfer 2018, S. 254) wäre ein Anfang – unabhängig von einer optimistischen oder pessimistischen Grundhaltung. Aus meiner Sicht völlig zu Recht bemerkt Kantelberg (2018), dass Praktiken für die Verständigung über die Distanz z. T. bereits vorhanden und gut routinisiert sind. Das gelte fürs Telefonieren ebenso wie für das Schreiben. Der wichtige Aspekt, der hierbei angerissen wird, ist, dass das Digitale in seiner Gesamtheit nicht per se eine Neuerfindung ist (so auch Pfab und Pfab), sondern eben auf Praktiken zurückgreift, die älter sind und sich längst bewährt haben, die aber z. B. anders gestaltet (E-Mail statt Brief) bzw. erweitert werden (z. B. Video­telefonie). Auch Praktiken verändern sich dadurch, aber nicht zwangsläufig fundamental. Sie werden eher angepasst, modifiziert, variiert,

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erweitert. Für face-to-face- wie für medial vermittelte Coachingformen geht es am Ende immer um die Arbeit mit den vorhandenen Möglichkeiten im Sinne des Coaching selbst.

4  Wie kann es weitergehen? (Ein Fazit) Zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Vor- und Nachteilen einzelner Formen braucht es deutlich mehr Wissen über die Auswirkungen der Medien­ vermittlung im Coaching und über die Praktiken, derer sich Coaches und Klienten bedienen, um den Prozess unter diesen Voraussetzungen in ihrem Sinne zu gestalten. Dieses Wissen muss empirisch fundiert sein – die bloße Weitergabe von Erfahrungswissen reicht nicht aus. Zwar ist dieses eine unentbehr­liche Quelle. Gleichwohl ist es subjektiv und damit haltungsabhängig (optimistisch oder pessimistisch). »Es wird noch viel zu wenig versucht und untersucht«, konstatieren W ­ estebbe und Westebbe (2018, S. 182). In diesem Zusammenhang stellen die Autorinnen auch fest, dass Coaches für die digitalen Umgebungen geschult werden müssen. So argumentiert auch Kantelberg (2018), die betont, dass die Befähigung der Coaches über das »gekonnte Toolnutzen« hinaus gehen muss. Vielmehr brauche es »fundierte mediendidaktische Grundkenntnisse« (Kantelberg 2018, S. 299). Je komplexer (unter dem Rückgriff auf den Anfang dieses Beitrags: je virtueller) das Coaching wird, desto höher sind auch die Anforderungen für Coaches. Ähnlich wie in der Studie von Mondada (2008) gezeigt, kommen dann zur eigentlichen Interaktion zahlreiche »Nebentätig­ keiten« hinzu, für die entsprechende Routinen gebraucht werden. In diesem dringend notwendigen Forschungsprogramm ginge es also darum, empirische Erkenntnisse dazu zu erlangen, wie sich Teilnehmerinnen in den verschiedenen Kommunikationsformen verhalten. In den Anfängen der Beforschung »neuer Medien« ging es oft um die Frage, inwiefern Medien (z. B. E-Mail) das Produkt (das Geschriebene) verändern. Produktiver und inzwischen state of the art ist die Frage, welche Handlungsweisen, welche Praktiken Teilnehmer in Berücksichtigung des Kontextes (siehe auch den Beitrag von A. Pfab) sowie des Mediums und seiner Potenziale entwickeln. Je reichhaltiger dieses Wissen wird, desto fundierter lassen sich auch Empfehlungen für medienvermittelte Coachings geben. Wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, sind auch medienvermittelte Coachings multimodale Ereignisse, die komplexer sind, als es aus der Perspektive von face-to-face-Gesprächen zunächst erscheinen mag. Gesprächsanalytische multimodal ausgerichtete Forschung, die medienvermitteltes Coaching als spezi-

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fischen Gegenstand anerkennt und konsequent als solchen untersucht, stellt dem Erfahrungswissen professioneller Coaches empirische Erkenntnisse zur Seite. Aus dem Abgleich zwischen beiden können sich neue Impulse für das coachende Tun und so auch für die medienorientierte Coachingausbildung ergeben. Vor allem dem, wie Pfab und Pfab (2018, S. 434) zeigen, offenbar verbreiteten Vorwurf an medienvermitteltes Coaching, es sei unzulänglich und defizitär, könnte dann empiriebasiert begegnet werden. Der methodisch hypothesenfreie Blick auf soziale Wirklichkeit, der qualitativer Forschung grundsätzlich zu eigen ist, dürfte besonders geeignet sein, die spezifischen Bedingungen medienvermittelter Settings und die darauf bezogenen Praktiken der Interagierenden zu beschreiben. Angesichts der zahlreichen aktuellen Publikationen zum Thema und der gleichzeitig zunehmenden Unübersichtlichkeit der medial vermittelten Coachingformate wäre die Zeit für solch ein Forschungsprogramm mehr als reif.

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Haltung und Achtsamkeit als zentrale Ressourcen in disruptiven Zeiten Margot Klinkner

1 Sozioökonomische Veränderungen und psychische Gesundheit Globalisierung, ein sich immer schneller entwickelnder technologischer Wandel und die Auflösung traditioneller Familien- und Wertestrukturen haben in den vergangenen Jahren die Lebens- und Arbeitswelt tiefgreifend verändert. Mit der stetigen Produktivitäts­steigerung innerhalb des globalisierten Wett­bewerbs und der damit verbundenen Arbeitsverdichtung hat sich die Komplexität der Arbeitsprozesse erhöht. Die weitreichende Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und die mit der digitalen Transformation und den modernen Kommunikationsmedien einhergehende Tendenz einer zunehmenden räumlichen wie zeitlichen Entgrenzung von Erwerbsarbeit, verbunden mit hohen Erwartungen an eine größtmögliche Mobilität der Beschäftigten, stellt den Einzelnen heute vor neue und zum Teil unüberschaubare Anforderungen. Hinzu kommt, dass in einer von Individualisierung und zunehmender Vereinzelung geprägten Gesellschaft Erwerbstätigkeit eine Bedeutung erlangt, die über die reine Existenzsicherung deutlich hinausgeht: In einer individualisierten Gesellschaft wird Arbeit nicht selten zum sinn- und identitätsstiftenden Faktor. In der Folge erhalten Belastungen, die im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit auftreten, eine besondere Bedeutung für das psychische Wohlbefinden und die k­ örperliche Gesundheit. Parallel zu diesen Veränderungen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften eine starke Zunahme diagnostizierter psychischer Störungen festzustellen. Wie Kaluza bereits 2015 konstatiert, verzeichnen die gesetzlichen Krankenkassen seit Mitte der 1990er Jahre in ihren jährlich veröffentlichten Statistiken über krankheitsbedingte Fehlzeiten einen starken Anstieg von Arbeitsunfähigkeitsfällen aufgrund psychischer Störungen. Ein Trend, der sich auch in jüngeren Untersuchungen weiter bestätigt (vgl. DAK Gesundheitsreport: Storm 2017, S. 143). Psychische Erkrankungen spielen nicht nur bei krankheitsbedingten Fehlzeiten, sondern zunehmend auch bei Früh-

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verrentungen eine entscheidende Rolle. Unter Bezugnahme auf Statistiken der Bundespsychotherapeutenkammer bilden psychische Erkrankungen mit einem Anteil von mehr als 40 Prozent demnach heute die häufigste Ursache für Frühverrentungen in Deutschland (Bundespsychotherapeutenkammer 2014, zit. nach Kaluza 2015, S. 5). Unabhängig davon, ob es sich bei der verstärkten Diagnose psychischer Erkrankungen nun um einen realen Anstieg aufgrund veränderter, belastender gesellschaftlicher Bedingungen handelt oder ob sie möglicherweise auch aufgrund einer zunehmenden Enttabuisierung entsprechender Krankheits­ bilder und einer damit einhergehenden vermehrten Inanspruchnahme psycho­ therapeutischer Behandlungen häufiger registriert und statistisch erfasst werden: Betroffene wie auch die Gesellschaft stehen in disruptiven Zeiten, die von massiven Veränderungen und vermehrt von Unsicherheiten geprägt sind, vor der Aufgabe, im Sinne des Erhalts bzw. der Wiederherstellung der psychischen Gesundheit effektive Techniken und Strategien zu entwickeln, um Stressoren möglichst proaktiv zu begegnen. Coaching kann dazu einen positiven Beitrag leisten. Bevor nachfolgend auf die Details möglicher Strategien und deren Anwendbarkeit näher eingegangen wird, gilt es zunächst, das hier zugrunde gelegte Verständnis von psychischer Gesundheit zu erläutern.

2 Psychische Gesundheit als lebenslanger Gleichgewichtsprozess Orientiert an modernen Konzepten der Gesundheitsförderung, die bereits in die Ottawa-Charta der WHO von 1986 eingeflossen sind, geht das hier vorliegende Verständnis von psychischer Gesundheit über eine am medizinischen Modell ausgerichtete, mechanistisch-reduktionistische Gesundheitsauffassung explizit hinaus. Gesundheit wird als lebenslanger Gleichgewichtsprozess gefasst, der von intraindividuellen Faktoren ebenso wie von strukturellen Umwelt­bedingungen beeinflusst wird. Im Sinne einer Körper-Geist-Seele-Einheit umfasst psychische Gesundheit demnach neben der biophysischen Perspektive auch die geistig-­ seelische ebenso wie die soziokulturelle Dimension und stellt neben strukturell bedingten externen Faktoren insbesondere das subjektive Befinden des Einzelnen und sein Potenzial an Selbstwirksamkeit in den Fokus. Der hier vorgestellte Gesundheitsbegriff orientiert sich zum einen an einem Verständnis von psychischer Gesundheit im Sinne eines Regulationskompetenz­ modells, dem als Leitidee ein mit Kompetenzen ausgestattetes Individuum zugrunde liegt, welches kraft seiner Kompetenzen zur (Wieder-)Herstellung

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eines inneren und äußeren Gleichgewichts befähigt ist (Badura 1993, S. 24). Er integriert aber auch Aspekte des Selbstaktualisierungsmodells der humanistischen Psychologie (Rogers 1993) und Elemente der Sinnfindung, wie sie im Ansatz von Viktor E. Frankl begründet sind, wonach psychische Gesundheit insbesondere durch eine vom Individuum als sinnstiftend wahrgenommene Lebensgestaltung gestärkt und stabilisiert wird (Frankl 1981; 1994). Ausgehend von diesem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff umfasst das hier verwendete Verständnis psychischer Gesundheit demnach ein umfassendes psychophysisches Wohlbefinden, das nicht als ein einmal erreichter Zustand betrachtet wird, sondern welches vom Individuum im Sinne eines dynamischen und prozesshaften Geschehens in ein immer wiederherzustellendes dynamisches Gleichgewicht – sowohl innerhalb der Person selbst als auch zwischen der Person und den jeweiligen Umweltgegebenheiten – gebracht werden muss. Der so verwendete Gesundheitsbegriff steht in direktem Zusammen­hang mit dem Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1997), wonach Krankheit und Gesundheit als Kontinuum begriffen werden, angesiedelt zwischen zwei Polen eines Gleichgewichtsprozesses, bei dem die Prozesse der Gesunderhaltung sowie eine Ressourcen- und Handlungsorientierung im Fokus stehen. Zentral ist in dem Kontext das sogenannte Kohärenzgefühl (sense of coher­ ence) im Sinne eines Gefühls der Stimmigkeit in Bezug auf das eigene Leben. Diese Stimmigkeit ist nach Antonovsky gegeben, wenn eintretende Ereignisse oder Anforderungen vom Individuum als verstehbar, vorhersehbar und durchschaubar wahrgenommen (sense of comprehensibility auf der kognitiven Ebene), als handhabbar bzw. kontrollierbar eingestuft (sense of manageability auf der kognitiv-emotionalen Ebene) und als sinnvoll und/oder bedeutsam betrachtet werden (sense of meaningfulness auf der spirituell-emotionalen Ebene). Diese drei Komponenten und Wahrnehmungsdimensionen des Kohärenzgefühls stehen in enger gegenseitiger Wechselwirkung und bieten den Ausgangspunkt für konkrete Entwicklungsprozesse. Auftretende Stressoren werden dabei als allgegenwärtige Herausforderungen betrachtet, die es nicht zu vermeiden, sondern vielmehr zu bewältigen gilt (Antonovsky 1997, S. 34 f.). Das Gesundheitskonzept der Salutogenese weist enge Verbindungen zum oben erwähnten Regulationskompetenzmodell auf, welches sowohl durch Freud als auch durch Vertreter neuerer Gesundheitswissenschaften wie Badura (1993, S. 24) mitbegründet wurde. Die Grundannahme bildet hierbei das Verständnis von einem Individuum, welches mit Kompetenzen ausgestattet ist, die es grundsätzlich zur instrumentellen, mentalen und regenerativen Bewältigung alltäglicher Belastungen im Sinne der (Wieder-)Herstellung eines inneren und äußeren Gleichgewichtes befähigen.

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Neben dem grundlegenden Aspekt des Prozessgeschehens ist bei dem hier zugrundeliegenden Verständnis psychischer Gesundheit insbesondere auch die individuelle Perspektive entscheidend – im Sinne einer individuell erlebten Gesundheit, bei der das persönliche Lebensziel, das eigene Wertesystem und die sozialen Bezüge als stimmig, erfüllend und energetisierend wahrgenommen werden. Psychische Gesundheit ist in Anlehnung an Fritz Hartmann (1993) und Matthias Lauterbach (2008; 2015) in diesem Sinne als individuelles Lebenskonzept zu betrachten, das von Selbstfürsorge, innerer Achtsamkeit und durch die das Individuum umgebenden sozialen Beziehungen geprägt ist. Der hier vorgestellte Gesundheitsbegriff steht zugleich auch in der Tradition der humanistischen Psychologie und des dort entwickelten Selbstaktualisierungsmodells, wonach das Individuum über die Fähigkeit zur Selbsteinsicht, Selbstachtung und Selbststeuerung verfügt, die es zu einem selbstverantwortlichen und selbstsicheren Umgang sowohl mit eigenen Interessen und Bedürfnissen als auch mit externen Anforderungen befähigt, die im Kontext soziokultureller und sozioökonomischer Entwicklungen zutage treten. Bei aller Betonung der individuellen Perspektive und der dem Individuum zugesprochenen Kompetenzen zur Selbststeuerung ist bei dem hier vorgestellten Verständnis von psychischer Gesundheit zugleich eine deutliche Abgrenzung zu einem individualistisch-reduktionistischen Gesundheitsbegriff vorzunehmen, der das Individuum in seiner Lebensgestaltung und den damit einhergehenden gesundheitsrelevanten Aspekten als vollkommen frei und unabhängig einstuft und ihm damit die alleinige Verantwortung für gesundheitliches Wohlergehen zuschreibt. Die im ersten Kapitel beschriebenen sozioökomischen und soziokulturellen Veränderungen in einer von digitalem Wandel, globalisiertem Wettbewerb und zunehmender Individualisierung geprägten Gesellschaft und die damit einhergehenden Herausforderungen für jeden Einzelnen bleiben bei diesem Ansatz weitgehend unberücksichtigt1. Gemäß den Erkenntnissen der sozialepidemiologischen Forschung werden Ressourcen, die zum Erhalt der individuellen Gesundheit herangezogen werden können, nicht unerheblich von Faktoren wie Einkommen, Bildungsstand und Beruf bestimmt, was eine schichtspezifische Ungleichverteilung von Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken befördert (Kaluza 2015, S. 11). Dies gilt es bei den nachfolgenden Ausführungen insbesondere hinsichtlich individueller Optionen zum Aufbau von gesundheitsfördernden und gesundheitserhaltenden Ressourcen im Blick zu behalten.

1 Siehe dazu auch den Beitrag von Pfab und Pfab.

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3 Abweichung von der Homöostase: Denk- und Handlungsoptionen auf kognitiv-emotionaler Ebene Ausgehend von der Annahme, dass gesundheitliches Wohlbefinden einem fortwährenden Gleichgewichtsprozess entspricht, bei dem das Individuum bestrebt ist, physiologische wie auch selbstwertrelevante »Sollwerte« im Sinne einer physischen wie psychischen Homöostase zu erreichen und einzuhalten, sind Situationen und Anforderungen, die zu einer Bedrohung und Abweichung von den inneren Sollwerten führen, als Stressoren einzustufen. Neben physio­logischen Sollwerten, die vitale körperliche Funktionen und Bedürfnisse betreffen, sind beim Blick auf die psychische Gesundheit insbesondere auch selbstwertrelevante Sollwerte zu betrachten, bei denen zentrale psychische Motive und Bedürfnisse wie Anerkennung, Kontakt, Sicherheit und Selbstverwirklichung ebenso wie Ansprüche an das eigene Leistungs- und Sozialverhalten eine Rolle spielen. Inwieweit einer Situation die Qualität eines Stressors zukommt, hängt vor allem von den individuellen Sollwerten des Individuums ab. Nach Kaluza lassen sich zwar einige übergreifende Kriterien identifizieren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Situation als Stressor wahrgenommen und in der Folge zu Stressreaktionen seitens des Betroffenen führt. Dazu gehören insbesondere neue, unvertraute oder auch als besonders bedeutsam eingestufte Gegebenheiten, die aus Sicht des Betroffenen als unvorhersehbar, intransparent und/oder als nicht beeinflussbar eingeschätzt werden. Ausschlaggebend dafür, ob Situationen auf den Einzelnen letztlich tatsächlich als Stressor wirken, sind aber weniger diese objektiven Situationsmerkmale, sondern vielmehr die subjektiven Prozesse der Wahrnehmung, Bewertung und Einschätzung der jeweiligen Person, und zwar vor dem Hintergrund ihrer individuell gegebenen inneren Sollwerte. Die kognitive Einstellung und emotionale Stellungnahme des Einzelnen entscheidet darüber, ob und inwieweit eine Situation eine Stressreaktion auslöst. Diese individuelle Perspektive bietet das Kernelement psychologischer Stressmodelle und einen wichtigen Ansatzpunkt zur Stressbewältigung (Klinkner u. Jesse 2014, S. 33 ff.). Das transaktionale Stressmodell von Richard Lazarus (1966; Lazarus u. ­Launier 1981) geht davon aus, dass Personen Stressoren in ihrer Umwelt nicht passiv ausgesetzt sind, sondern diesen mittels kognitiver Wahrnehmung, Gedanken und Schlussfolgerungen aktiv begegnen. Der Ansatz reiht sich ein in die Kognitionspsychologie, wonach Verhalten keine automatisch ablaufende Ereignis­kette darstellt, sondern von Erwartungen, Bewertungen, Interpretationen und Werten des Individuums gesteuert wird. In seinem transak-

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tionalen Stressmodell unterscheidet Lazarus zwischen zwei intraindividuellen Bewertungs­vorgängen, deren Ergebnisse darüber entscheiden, ob eine Stressreaktion des Individuums erfolgt oder ausbleibt. Stress wird hierbei definiert als »eine Beziehung mit der Umwelt, die vom Individuum im Hinblick auf sein Wohlergehen als bedeutsam bewertet wird, aber zugleich Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglichkeiten beanspruchen oder überfordern« (Lazarus u. Folkmann 1986, S. 63). Vor dem Hintergrund persönlicher, durch die eigene Lebensbiografie individuell geprägter Sollwerte erfolgt eine primäre Bewertung der Situation. Je nach gegebenem Sollwert wird die Situation entweder als irrelevant, als angenehm-positiv oder als stressbezogen bewertet. Je höher die individuellen Sollwerte ausfallen, desto häufiger werden Situationen im Rahmen der primären Bewertung überhaupt als »Sollwert-­ relevant« und damit stressbezogen eingeschätzt. Lazarus unterscheidet hierbei drei Kategorien stressbezogener Bewertung: Herausforderung, Bedrohung oder Schaden/Verlust. Während sich die Wahrnehmung einer Herausforderung wie auch einer Bedrohung auf bevorstehende Gefahren oder Ereignisse bezieht, ist die Einschätzung eines Schadens oder Verlustes auf bereits eingetretene und vergangene Situationen ausgerichtet. Je nach Kategorie wird die kognitive Einschätzung von unterschiedlichen Emotionen begleitet, wobei Bedrohung oder Schaden bzw. Verlust vornehmlich negative Emotionen wie Depression, Angst und Ärger auslösen, Herausforderungen hingegen zum Teil auch positive Emotionen erzeugen können. Parallel zur primären Bewertung erfolgt eine sekundäre kognitive Einschätzung der Situation, bei der es um die Bewertung der eigenen Kompetenzen im Umgang mit der wahrgenommenen Anforderung geht, wie auch etwaiger externer Unterstützungsmöglichkeiten, auf die zur Bewältigung der Situation zurückgegriffen werden kann. Der wesentliche Unterschied zwischen primärer und sekundärer Bewertung besteht also darin, was bewertet wird. Die beiden Bewertungsvorgänge können sich zeitlich überlappen und wechselseitig beeinflussen. Kommt die betroffene Person bei der primären Bewertung der Situation zu dem Ergebnis, dass diese »Sollwert-relevant« ist, weil wichtige Lebensbereiche, Bedürfnisse, Motive, Ziele bedroht, geschädigt oder herausgefordert erscheinen, und ist sie im Rahmen der sekundären Bewertung hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und möglichen externen Ressourcen unsicher, ob und inwieweit diese für eine erfolgreiche Bewältigung ausreichen, setzt sich das biologische Stresssystem in Gang (Abbildung 1). Im transaktionalen Verständnis entsteht demzufolge Stress immer dann, wenn eine subjektiv angenommene Diskrepanz zwischen den erlebten Anforderungen einerseits und den eigenen Fähigkeiten und Ressourcen andererseits besteht.

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Situation

Primäre Bewertung: Einschätzen der Situation

irrelevant

stressbezogen Bedrohung Schaden/Verlust Herausforderung

positiv/günstig

Sekundäre Bewertung: Einschätzen eigener Kompetenzen

Stressreaktion

Abbildung 1: Transaktionales Stressmodell nach Lazarus (Kaluza 2015, S. 44)

Dabei kann die Einschätzung der Anforderungen wie auch der eigenen Fähigkeiten und Ressourcen der Realität entsprechen, sie muss es aber nicht. Handelt es sich tatsächlich um eine relevante Anforderung und fehlen nachweislich die erforderlichen Kompetenzen, um die Situation erfolgreich zu bewältigen, gerät die betroffene Person sozusagen »zu Recht« in Stress. Sind die persönlichen Maßstäbe und inneren Sollwerte jedoch ausgesprochen hoch, nimmt nicht nur die Häufigkeit an Situationen zu, die im Hinblick auf den Selbstwert bzw. persönliche Bedürfnisse, Motive und Ziele als herausfordernd, bedrohlich oder schädlich eingestuft werden. Auch die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und verfügbaren Ressourcen erfolgt bei erhöhten inneren Sollwerten tendenziell wenig realitätsbezogen und führt in der Folge vermehrt zu Stressreaktionen. Entscheidend für die Einschätzung sowohl von Anforderungen als auch der verfügbaren Fähigkeiten und Ressourcen sind nicht nur die inneren Sollwerte, sondern auch über Jahre persönlich erworbene Muster der Informationsverarbeitung. Die Muster und Maßstäbe können so beschaffen sein, dass sie in einer Vielzahl von Situationen stressbezogene Reaktionen auslösen. Kaluza (2015, S. 46) spricht in diesem Kontext von stressverschärfenden Denkmustern und persönlichen Stressverstärken, die es zu erkennen, zu beobachten und achtsam wahrzunehmen gilt, um sie, sofern sie denn vorliegen, im Sinne der eigenen Gesunderhaltung mittels kognitiver Umstrukturierung in stressvermindernde Denkmuster und förderliche Einstellungen umzuwandeln. In dieser achtsamen Wahrnehmung persönlicher Denkmuster und der sie begleitenden Emotionen liegt der Schlüssel, um Prozesse in Gang zu setzen, die

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es ermöglichen, stressbezogene Transaktionen zu reduzieren und gesundheitsförderliches Erleben und Verhalten zu entwickeln. Achtsamkeit bildet auf der kognitiv-emotionalen Ebene daher einen zentralen Ausgangspunkt, um vorliegende Muster des Erlebens und Verhaltens zu erkennen und gesundheitsfördernde Denk- und Handlungsoptionen zu entwickeln.

4  Schlüsselkomponente Achtsamkeit Der Begriff der Achtsamkeit (mindfulness) hat seine historischen Wurzeln im Buddhismus und der damit einhergehenden fernöstlichen Meditationspraxis. Mit dem Einzug von Meditationstechniken in die Psychotherapie in den 1960er Jahren wurden auch Elemente der Achtsamkeit in die westliche Medizin und Psychologie integriert. Sie finden sich beispielsweise in den Konzepten der humanistischen Psychotherapie, wie sie von Carl Rogers oder Charlotte Selver entwickelt wurde. Eine häufig zitierte Definition stammt von Jon Kabat-Zinn, der Ende der 1970er Jahre Achtsamkeitstechniken in sein Therapiekonzept integriert und in dem Kontext die Technik der sogenannten Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion entwickelt hat, in Fachkreisen besser bekannt als Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR. Nach seiner Definition handelt es sich bei Achtsamkeit um eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll, auf den gegenwärtigen Moment bezogen und frei von Wertung ist (Kabat-Zinn 1982, S. 33 ff.). Im Gegensatz zur Konzentration, bei der die Aufmerksamkeit eng auf ein bestimmtes Objekt fokussiert wird, ist bei Achtsamkeit die Aufmerksamkeit bewusst weit eingestellt, um das eigene Erleben und Verhalten umfassend, klar und offen wahrzunehmen. Weiss und Harrer (2010) definieren in ihrem Achtsamkeitskonzept in vergleichbarer Weise eine Haltung »innerer Achtsamkeit«, die als offen, rezeptiv und neugierig, ohne Veränderungswillen und ohne Bewertung gegenüber den wahrgenommenen Situationen und Reaktionen gekennzeichnet ist. Ein vermeintlich anzunehmender Widerspruch zwischen dem Kriterium »absichtsvoll« bei KabatZinn und dem Merkmal »ohne Veränderungswillen« bei Weiss und Harrer löst sich auf, wenn mit »absichtsvoll« allein die Intention verstanden wird, Achtsamkeit bewusst zu praktizieren. Mit dem nichtwertenden, beobachtenden und die Realität annehmenden Verhalten werden Situationen in ihrer ganzen Bandbreite wahrnehmbar, das Individuum tritt förmlich aus ihnen heraus und betrachtet sich selbst im Spiegel des Geschehens2. Mit der inneren Achtsamkeit können sich 2 Vgl. den Beitrag von Dinger zu den positiven Auswirkungen einer nichtwertenden Haltung in Konfliktfällen.

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aufschaukelnde emotionale und körperliche Stressreaktionen durchbrochen und das Auftreten von Symptomstress kann reduziert werden – eine wichtige Grundlage, an der insbesondere auch im Coaching gezielt angesetzt wird, um erworbene Muster der Informationsverarbeitung zu erkennen und innere Sollwerte zu überprüfen, an denen sich die Prozesse der Informationsverarbeitung orientieren, und darauf aufbauend alternative Denk- und Handlungsoptionen zu entwickeln.

5  Haltung als personale Ressource der Stressbewältigung Angesichts der massiven Umbrüche und Veränderungen, die sich insbesondere aufgrund der digitalen Transformation heutzutage quer durch alle Lebens- und Arbeitsbereiche ziehen, stellt sich umso mehr die Frage nach gesundheitlichen Schutzfaktoren, die den Einzelnen befähigen, die erhöhten Belastungen zu bewältigen. An dieser Stelle bietet es sich an, auf das Konzept der Salutogenese zurückzukommen, bei der protektive Faktoren im Fokus stehen, die dem Einzelnen als Ressourcen beim Umgang mit Belastungen dienen und dazu beitragen können, die Gesundheit trotz bestehender Belastungen aufrechtzuerhalten und sogar zu fördern (siehe Kapitel 2). In personaler Hinsicht spielen hierbei insbesondere Kontroll- und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen eine Rolle, also die innere Überzeugung des Einzelnen, eine schwierige Situation selbst kontrollieren und mittels eigener Fähigkeiten oder unter Heranziehung externer Unterstützung erfolgreich bewältigen zu können. Wie Kaluza (2015, S. 56) unter Bezugnahme auf Veröffentlichungen von S­ chwarzer (1993) und O’Leary (1984) betont, wurde in zahlreichen empirischen Studien wiederholt gezeigt, dass eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung die Bewältigung unterschiedlichster Stressoren erleichtert. Wie in Kapitel 3 erläutert, hängt die Einschätzung einer Situation und damit auch die innere Überzeugung, die Situation erfolgreich meistern zu können, von lebensbiografisch verinnerlichten Sollwerten und langjährig erworbenen Mustern der Informationsverarbeitung ab. Wie soll also das Individuum zu neuen Sollwerten und neuen Informationsverarbeitungsmechanismen gelangen, die die Zuversicht in die eigene Selbstwirksamkeit steigern, die Situation erfolgreich bewältigen zu können? Das Einüben und Anwenden der »inneren Achtsamkeit«, wie im vorher­gehenden Kapitel beschrieben, bildet hierfür einen wichtigen Baustein und eine grund­ legende Ausgangskomponente, mit der der Boden für eine mögliche Denk- und Verhaltens­veränderung bereitet werden kann. Sie allein reicht aber nicht aus, um eine kognitive Umstrukturierung tatsächlich in Gang zu setzen. Hierzu bedarf es der Herausbildung einer reflektierten und selbstkritischen Haltung

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gegenüber den individuell wahrgenommenen Stressoren – einer Haltung, mit der die Bewertung situativer Anforderungen und hierbei herangezogenen bestehenden Sollwerte in Form von Normen, Werten und Zielen sowie generalisierten Einstellungen (im Sinne der primären Bewertung nach Lazarus) wie auch die eigenen Regulationsmöglichkeiten (im Sinne der sekundären Bewertung nach Lazarus) (1966; Lazarus u. Launier 1981) selbstkritisch reflektiert und bei Bedarf angepasst werden können. Diese Haltung zu entwickeln, bildet das Kern­instrument eines mentalen Stress­managements, wie es vor allem in kognitiven Interventions­ansätzen zur Stressbewältigung praktiziert wird (z. B. ­Meichenbaum 1991). Dazu gehört es unter anderem, eigene perfektionistische Leistungsansprüche kritisch zu überprüfen und eigene Grenzen akzeptieren zu lernen, weniger festgefügte Vorstellungen und Erwartungen an andere zu haben, sich des Positiven und Gelungenen bewusst zu werden und dieses dankbar und wertschätzend anzunehmen. Kaluza verweist in diesen Kontext auf die von Schwarzer (1993, S. 27) propagierte »Kultivierung eines funktionalen Optimismus« als Bestandteil einer psychologischen Gesundheitsförderung, mit der generelle und spezifische, auf bestimmtes Erleben und Verhalten bezogene leicht erhöhte Erwartungen hinsichtlich des Erfolgs eigener Handlungen als Fundament einer insgesamt positiv-optimistischen Zukunftssicht systematisch gefördert werden. Eine derart verstandene Haltung bildet als zentrale personale Ressource die Grundlage, um darauf die für eine wirksame Stressreduktion und -bewältigung notwendigen Kontroll- und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen entwickeln zu können. Darüber hinaus wirkt sich diese Haltung in positiv-stabilisierender Form auf weitere protektive Faktoren der Gesundheitsförderung aus, die in Form von sozialer Unterstützung und sozialen Beziehungen bestehen. Deren Wirksamkeit kann sich aber nur dann entfalten, wenn sie vom Betroffenen als Schutzfaktoren erkannt, angenommen und zugelassen werden. Eine Haltung, bei der emotionale Unterstützung etwa als Ausdruck persön­ licher Schwäche und des Versagens abgelehnt wird, lässt sozialen Ressourcen von vornherein wenig Raum. Eine Haltung, die es dem Individuum hingegen erlaubt, eigene Grenzen anzuerkennen, sich den Bedarf an emotionaler und instrumenteller Unterstützung zuzugestehen und es auf diese Weise überhaupt dazu befähigt, Hilfssignale an das soziale Netzwerk auszusenden und Hilfe letztlich auch anzunehmen, erweitert das Spektrum verfügbarer Schutzfaktoren und potenziert deren Wirksamkeit im Sinne der persönlichen Gesunderhaltung und der individuellen Stressresistenz. Coaching bildet an dieser Stelle einen ­wichtigen Baustein, um die Entwicklung einer solchen Haltung wirksam zu unterstützen. Das »Anforderungs-Ressourcen-Modell« von Kaluza (2015, S. 59) verdeutlicht

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Zentrale personale Ressourcen:

Achtsamkeit….. …

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……Haltung

Abbildung 2: Haltung und Achtsamkeit als zentrale personale Ressourcen, integriert in das »Anforderungs-Ressourcen-Modell« nach Kaluza (2015, S. 59)

Abbildung 2: Haltung und Achtsamkeit als zentrale personale Ressourcen, integriert in das „Anforderungs-Ressourcen-Modell“ nach Kaluza (2015, S. 59) das Ineinandergreifen von personalen und sozialen Ressourcen bei der Stress-

bewältigung. Ausgehend von den vorangehenden Überlegungen bietet es sich an, die beiden Komponenten Haltung und Achtsamkeit in das Modell von Kaluza explizit zu integrieren, um sie in ihrer Funktion als zentrale personale Ressourcen für den Aufbau gesundheitsförderlichen Verhaltens herauszustellen (siehe Abbildung 2).

6  Strukturelle Komponenten für psychisches Wohlergehen Wie am Ende von Kapitel 2 beschrieben, werden Ressourcen, die zum Erhalt der individuellen Gesundheit herangezogen werden können, nicht unerheblich von Faktoren wie Bildungsstand, Beruf und Einkommen bestimmt. Zugleich kommt Berufstätigkeit heute im Zuge fortschreitender Individualisierung und Vereinzelung eine zunehmende Bedeutung im Hinblick auf die individuelle Identitätsbildung und Sinnstiftung zu. Neben personalen Ressourcen sind deshalb auch strukturelle (Arbeits-)Bedingungen gleichermaßen in den Blick zu nehmen und

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die Rolle wie auch die Verantwortung von Wirtschaft und Politik zu berücksichtigen. Dass Arbeitsbedingungen eine wichtige Rolle für die psychische Gesundheit der Beschäftigten spielen, zeigt sich nicht zuletzt in den regelmäßigen Veröffentlichungen der Krankenkassenverbände zu krankheits­bedingten Fehlzeiten der Beschäftigten (siehe Kapitel 1). Laut einer repräsentativen Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), für die 2018 über 2.000 Personen zwischen 16 und 65 Jahren befragt wurden, ist es für 98,4 Prozent der Befragten im Hinblick auf ihre Berufstätigkeit besonders relevant, sich am Arbeitsplatz wohlzufühlen. Damit einher geht eine gute Zusammenarbeit mit den Kollegen (97,9 Prozent), ein gutes Betriebsklima (96,8 Prozent), die Loyalität des Unternehmens gegenüber den Mitarbeitern (96,8 Prozent) sowie ein gutes Verhältnis zum Vorgesetzten (92,4 Prozent). Den Ergebnissen der Studie zufolge hat »Sinnerleben im Beruf« einen starken Einfluss auf die Gesundheit: Erleben Beschäftigte ihre Arbeit als sinnstiftend, haben sie geringere Ausfallzeiten und zeigen deutlich weniger arbeitsbedingte gesundheitliche Beschwerden (Fehlzeiten-Report 2018 des AOK-Bundesverbandes (Badura et al. 2018)). Insbesondere in disruptiven Zeiten, in denen vielfältige, kaum überschaubare Veränderungen zu einer grundlegenden Verunsicherung innerhalb der Gesellschaft beitragen, sind Arbeitgeber in der Verantwortung, die psychische Gesundheit ihrer Beschäftigten durch ein von Vertrauen, Transparenz und Anerkennung geprägtes Führungsverhalten quer durch alle Hierarchie­ebenen an den Tag zu legen. Die Einführung einer betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) bietet hierbei ein geeignetes Instrument, um den Aufbau einer gesundheitsfördernden Unternehmenskultur gezielt voranzubringen. Im Sinne eines struktur­zentrierten Ansatzes setzt Gesundheitsförderung im Unternehmen dabei auf unterschiedlichen Ebenen an (Abbildung 3). Entwicklung der persönlichen Gesundheitskonzepte

Bewegung

Ernährung

Entspannung Stressprotektion

Salutogene Kompetenz

Lebensbalancen

Gesundheitsorientierte Führungskonzepte Salutogener/gesundheitsorientierter Führungsstil

Salutogene/gesundheitsorientierte Arbeitsprozesse

Vorbildfunktion der Führungskräfte

Betriebliches Gesundheitsmanagement Prinzipien von Gesundheitsmanagement

Module des Gesundheitsmanagements

Führungsaufgaben im Gesundheitsmanagement

Abbildung 3: Ebenen von Gesundheit im Kontext von Organisationen (Lauterbach 2015, S. 52) Abbildung 3: Ebenen von Gesundheit im Kontext von Organisationen (Lauterbach 2015, S. 52)

3

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Hierbei geht es nicht nur um die gesundheitsförderliche Gestaltung der materiellen, organisatorischen und sozialen Arbeitsbedingungen, sondern insbesondere auch um den Aufbau einer Führungskultur, in der die Gesundheitsförderung der Beschäftigten explizit als Führungsaufgabe verstanden wird und die Einführung gesundheitsorientierter Führungskonzepte zugleich die Basis für die Entwicklung individueller Gesundheitskonzepte bildet. So wie bei der individuellen Stressbewältigung in Kapitel 4 ausgeführt, bietet das Prinzip der Achtsamkeit auch auf organisationaler Ebene eine Schlüsselkomponente, mit deren Hilfe arbeitsbezogene Gesundheitsgefährdungen gemeinsam reflektiert und transformiert werden können. In Anlehnung an Ellen J. Langer (2015, 66 ff.) kann Achtsamkeit im organisationalen Kontext die Bildung neuer Kategorien und die Offenheit für neue Informationen bewusst fördern. Mit spielerischem Brainstorming, dem Blick auf Details und dem Hineinversetzen in Person und Kontext durch Perspektivwechsel wie auch durch Bewusst­machung dessen, dass es immer mehr als eine Perspektive gibt, im Zweifelsfall so viele Perspektiven wie Beobachter, wird »organisationale Achtsamkeit« zur Schlüsselkomponente beim Aufbau einer gesundheitsfördernden Unternehmenskultur. Nach Becke, Behrens, Bleses, Meyerhuber und Schmidt (2013) ist »organisationale Achtsamkeit« dabei auf die Früherkennung von Gesundheitsgefährdungen und gesundheitlich problematischen Bewältigungsmustern im Umgang mit Arbeitsanforderungen und -belastungen ausgerichtet und zielt auf die Entwicklung, Stärkung und Regeneration gesundheitlicher Ressourcen von Beschäftigten und Führungskräften ab. Darüber hinaus lenkt sie die Aufmerksamkeit der Organisation gezielt auf die Reflexion gesundheitlich problematischer ­Kultur- und Handlungsmuster wie Präsentismus und ermöglicht der Organisation, Arbeits- und Leistungsbedingungen zu reflektieren, um möglichst salutogene Arbeitsstrukturen und -prozesse einzuführen. Dazu gehören transparente Führungs­grundsätze und ein mitarbeiterorientierter Führungsstil, der den Einzelnen beim Aufbau eines gesunden Arbeitsverhaltens unterstützt, ebenso wie Maßnahmen zur Teamentwicklung, zum Konfliktmanagement und zur Eta­blierung transparenter Rückmeldungsund Beurteilungssysteme. Mit Badura (2014) lassen sich hierbei drei Interventionsebenen unterscheiden: 1. die Organisationsebene (verhältnisorientiert, z. B. lebensphasenorientierte Personalpolitik als Teil der Unternehmenspolitik und -führung), 2. die Abteilungs- und Teamebene (verhältnisorientiert, z. B. Teamentwicklung, Gesundheitszirkel, Konfliktmanagement) und 3. die Personalebene (verhaltensorientiert, z. B. Seminare, Trainings, Gesundheitscoaching).

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Coaching, verstanden als strategisches Element der Organisationsentwicklung, kann hier – an der Schnittstelle von Organisation, Arbeitsprozessen und Individuum – gezielt ansetzen und systematisch dazu beitragen, Betroffene auf unterschiedlichen Ebenen aktiv in den Prozess der Gestaltung gesundheitsförder­ licher Strukturen einzubeziehen.

7 Fazit Ausgehend von einem ganzheitlichen, als lebenslangem Gleichgewichts­prozess gefassten Gesundheitsbegriff, bei dem die Prozesse der Gesunderhaltung im Kontext einer Ressourcen- und Handlungsorientierung betrachtet werden, kommt der kognitiv-emotionalen Verarbeitung von Stressoren auf individueller wie auf organisationaler Ebene besondere Bedeutung zu. Die achtsame Wahrnehmung persönlicher Denkmuster und die sie begleitenden Emotionen, gepaart mit einer reflektierten Haltung im Hinblick auf innere Sollwerte, Leistungsansprüche und Leitbilder bieten sowohl dem Einzelnen als auch dem Unternehmen ein geeignetes Instrumentarium, um den wachsenden Anforderungen in einer zunehmend komplexer werdenden und von tiefgreifendem Wandel geprägten Welt proaktiv zu begegnen. Damit Gesundheitsförderung angesichts der bestehenden gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen auf allen Ebenen gelingt, sind Wirtschaft und Politik gleichermaßen gefordert, gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen zu schaffen, bei denen individuums- und strukturorientierte Interventionen wirksam ineinandergreifen und der Aufbau einer gesundheitsfördernden Unternehmens- und Arbeitskultur dauerhaft befördert werden kann.

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Wertekonflikte in der Arbeitswelt – Umgang mit dem Dritten in Coaching und Supervision Wolfgang Dinger

1 Vorbemerkungen Supervision und Coaching bewegen sich im Blick auf den Organisations­ hintergrund der im Beratungsrahmen verhandelten Themen im Spannungsfeld von fachlicher Orientierung und wirtschaftlichen Anforderungen. So stellt sich von selbst die Frage, wie Supervisorinnen und Coaches diese Polarität erfahren und wie sie – in den verschiedenen Rollen als Berater, als (selbstständige oder abhängig beschäftigte) Berufstätige oder als Person – damit umgehen können. Die Veränderungen in der Arbeitswelt der zurückliegenden zwei Dekaden sind gekennzeichnet von Globalisierung, Digitalisierung und Technisierung. Auch ist der Umbau des Sozialstaats zugunsten einer Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche seit der neoliberalen Wende der 1980er Jahre erfolgt und inzwischen gesellschaftlich wirksam geworden. Die Neoliberalisierung beeinflusst die Denkweisen und das Handeln von Politik und Wirtschaft, sozialen Gruppen und Individuen, bestimmt Orientierungen und Arbeitsweisen von Organisationen. Der Primat der Ökonomie ist in unserem Alltag unübersehbar: Ich-AGs in der Arbeitswelt und Kundschaftsverhältnisse im sozialen Dienstleistungssektor. Die Auswirkungen auf die Gestaltung der Arbeitsprozesse, der Arbeitsorganisationen und auf die Mitarbeiterinnen können so skizziert werden: Es findet eine Entgrenzung von Ort, Raum und Zeit statt sowie von Arbeits- und Beschäftigungsformen. Arbeit kann an jedem Ort und zu jeder Zeit geleistet werden. Dadurch wird Arbeit »enträumlicht«. Sie ist nicht mehr an den Betrieb, das Büro, den Arbeitsplatz gebunden. Das geht einher mit einer Flexibilisierung von Rahmenbedingungen und von Formen des Arbeitens und mit einer Beschleunigung der Abläufe. Das Subjekt soll sich als »Arbeitskraftunternehmer« (Pongratz u. Voß 2003) verstehen und unterliegt einer beständigen Selbstoptimierung. Das »unternehmerische Selbst« wird zum Leitbild (Bröckling 2007). Das Persönliche und das Soziale werden verknüpft. Es wird Initiative erwartet, die bereit ist zur Verantwortungsübernahme, dazu fähig, projektorientiert

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zu arbeiten und zur Selbstmotivation. Dabei nähern sich die Arbeitswelten im Profit- und Non-Profit-Bereich an. Die Akzeptanz des neoliberalen Modells beruht auch auf Individualisierungsprozessen – dem Wunsch nach Selbstverwirklichung, Autonomie und nichtentfremdeter Arbeit, wie er in den sozialen Bewegungen gepflegt wird. Das Freiheitsversprechen des Neoliberalismus von mehr Autonomie, Handlungs­freiheit und Selbstständigkeit entspricht dem Umstand, dass individuelle Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen einen hohen Rang in der gesellschaftlichen Wertehierarchie haben. Das hat auch zu Veränderungen in der Gestaltung der Arbeitswelt geführt, die konkrete Vorteile für die Arbeitnehmer gebracht haben. Home-Office-Arbeitsplätze bringen nicht nur den Unternehmen Effizienz- und Kostenvorteile, sondern eben auch den Mitarbeiterinnen den Vorteil persönlicher Flexibilität, durch die sich Arbeitserfordernisse und persönliche Lebensumstände besser miteinander vereinbaren lassen – allerdings um den Preis der Auflösung von Grenzen. Die damit verbundene Anstrengung, die Bereiche auseinanderzuhalten, verbleibt bei den betreffenden Mitarbeiterinnen. Wenn Arbeitsverhältnisse nach Kostenersparnis und Funktionalität ausgerichtet werden, bleiben also Wertekonflikte nicht aus. Sie verweisen auf die Schnittstellenthemen zwischen Arbeitswelt und Gesellschaft, von Konflikt und Kooperation und zwischen Person, Rolle und Organisation. Sie bilden sich in den Beratungssituationen von Coaching und Supervision ab. Beratung von Teams und von Einzelnen in Institutionen konfrontiert Coaches und Supervisorinnen immer mit der subjektiv erlebten, oft auch erlittenen Krisenhaftigkeit von Arbeit, die die individuelle Arbeitsfähigkeit belastet und die Person in ihrem Kompetenz- und Selbstwertgefühl verunsichern kann. Die persönliche Biografie wird dann zum Austragungsort beruflicher Konflikte. Beispielsweise wird in einer Supervision mit Mitarbeitern in einer Altenpflege­ einrichtung über die begrenzten Möglichkeiten geklagt, Zeit für die Bewohnerinnen zu erübrigen, die nicht durch den Pflegeplan bestimmt ist. Sei die Grundpflege, die medizinische Pflege oder die Essensverabreichung abgeschlossen, müsse die nächste Bewohnerin aufgesucht werden. Der Zeitplan sei so eng, dass keine Zeit für ein Gespräch übrig bleibe. Auch wenn es für die Bewohnerinnen förderlich sei, könnten die Mitarbeiter es sich nicht leisten, bei ihnen zu verweilen. Die Pflegekräfte berichten, dass sie diese Situation als belastend erleben und sie dabei das ungute Gefühl hätten, den Bewohnerinnen etwas schuldig zu bleiben. Durch die Reflexion der strukturellen Dimension der Arbeitsorganisation wird sichtbar, dass der Altenhilfebereich nach den gesetzlichen Vorgaben des Gesundheitswesens reguliert ist. Danach sind nur medizinische oder pflegerische Hand-

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lungen abrechnungsfähig und somit refinanziert. Andere Dienstleistungen sind in der Struktur nicht vorgesehen. Die Erkenntnis dieser Rationalität führt bei den Pflegekräften zu einer Entlastung von falschen Schuldgefühlen. Wenn die strukturellen Vorgaben eine Funktionalität begründen, in der menschliche Zuwendung und Zeit-Haben für Bewohner zum Luxus wird, muss an dieser Stelle nicht mehr individuelles Versagen thematisiert werden. Stattdessen kann die Art der Arbeitsorganisation besprochen werden und auch die Kreativität des Managements der Einrichtungen gefragt sein. Beispielsweise könnte durch die Gewinnung ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen das Angebot für die Bewohner erweitert und die Pflegekräfte entlastet werden.

Wenn man den Kontext ignoriere, würde man »den tatsächlich kapitalsten Fehler supervisorischer Arbeit systematisch begehen: die psychologische Individualisierung problematischer Prozesse im Organisationsgefüge unter Missachtung der enormen Bedeutung sozialer und organisationaler Einflussfelder« (Frenzel 2000, S. 37) (vgl. den Beitrag von A. Pfab).

2  Uneindeutigkeit von Werten Auch wenn man sich einig darüber ist, dass Werte unverzichtbar sind, bleibt dennoch eine gewisse Uneindeutigkeit bezüglich ihrer Gültigkeit. Sie haben eine Orientierungsfunktion, indem sie Selektionsleistungen ermöglichen, mit deren Hilfe sich die Fülle der Möglichkeiten strukturieren lässt. »Mag die Zuweisung einer Orientierungsfunktion noch einleuchten, so ist damit keineswegs evident, dass Werte zugleich auch tauglich für Begründungsleistungen sind: Ist auf Werte zu rekurrieren, wenn man Maßstäbe des moralischen Urteils entwickeln will? Sind Werte selbst schon Maßstäbe …?« (Höhn 2006, S. 5). Wie also Situationen, Ereignisse, Vorkommnisse im Arbeitskontext zu bewerten sind, ist nicht eindeutig. Von daher entstehen im Arbeitszusammenhang immer wieder Konflikte unter Mitarbeitern, zwischen Mitarbeitern und ihren Vorgesetzten, zwischen verschiedenen Arbeitsbereichen, mit den Kundinnen und Klienten oder mit der sozialen Umwelt. Im günstigen Fall werden sie diskursiv ausgetragen. Wenn das nicht gelingt, bringt das für die Beteiligten Belastungen mit sich, die dann im Coaching oder in der Supervision angesprochen werden. Eine Mitarbeiterin einer Einrichtung für behinderte Kinder und Jugendliche, die dort im Internat leben und zur Schule gehen sowie sozialpädagogisch und therapeutisch betreut werden, kommt zur Supervision. Wiederholt werden von ihr Konflikte mit

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Leitungspersonen im Internats- und Schulbereich thematisiert, die divergierende Vorstellungen offenbaren, wie mit Kindern umzugehen sei, wie sie beschult oder pädagogisch betreut werden sollen. Die Supervisandin ist selbst dem therapeutischen Arbeitsbereich zugeordnet und beschäftigt sich hauptsächlich mit diagnostischen Erhebungen zur Einstufung der Leistungsfähigkeit der Kinder. Sie sieht ihre Arbeit und ihre Fachlichkeit schnell entwertet, wenn von den anderen Bereichen ihre Handlungsempfehlungen nicht übernommen werden. Sie interpretiert die unterschiedlichen Einschätzungen, die zu Spannungen führen, teils als Ungenügen der Leitung und äußert heftige Kritik an den betreffenden Leitern (»Die haben keine Ahnung«), teils als gegen ihre Arbeit und Fachkompetenz gerichtet (»Die verhindern, dass ich fachlich gut arbeiten kann«), und schließlich fühlt sie sich auch gemobbt. Im Supervisionsprozess stellt sich allmählich heraus, dass für die Supervisandin konzeptionelle Differenzen schnell zu Wertefragen werden (Was ist das Beste für die Kinder?) und zu Machtfragen, weil sie ihren Einschätzungen normative Geltung beimisst. Auf diese Weise gerät sie zunehmend in einen Machtkampf mit den Leitungen der anderen Bereiche, mit denen sie auftragsgemäß zu kooperieren hat und denen sie zuarbeiten soll. Der Machtkampf wiederum hindert sie daran, das klärende Gespräch zu suchen. Sie bewertet das Verhalten des Gegenübers als nicht akzeptabel und verliert die Einsicht in die Notwendigkeit des Gesprächs. Die Dimension des Kontexts wird für sie unzugänglich. In der Beschäftigung mit diesem Hindernis, das sie von notwendigen Ressourcen abschneidet, isoliert und in der Organisation für den Auftrag unverträglich macht, kristallisiert sich ein innerer Konflikt heraus, der zum äußeren (gemacht) wird. Sie hadert damit, dass sie abhängig Beschäftigte ist. Ihr Ideal ist die selbstständige Tätigkeit in eigener Praxis, was sie aus unterschiedlichen Gründen derzeit nicht realisieren kann. Die Enttäuschung darüber ist ihr nicht bewusst und wird so zum Antrieb für ihren Kampf gegen die Organisation, da sie die Auseinandersetzung nicht mit sich führt. Das eigene, ungenügende Selbstwertgefühl wird so zur Wertefrage am Arbeitsplatz. Die unbewusste Selbstentwertung wird projektiv auf die Leitungspersonen gerichtet, mit denen sie außen den eigenen inneren Kampf austrägt. Das Drama nimmt seinen Lauf, so lange es nicht (selbst-)reflexiv eingeholt wird.

Das Beispiel zeigt – wie bereits die Fallvignette über die Pflegekräfte –, dass Werte aus unterschiedlichen Gründen uneindeutig sind und damit kontrovers. Dahinter stehen nicht bewusste Werthorizonte der Beteiligten. Dieser Umstand erfordert es, (selbst-)reflexive Diskurse über die jeweiligen Orientierungen der Beteiligten zu installieren. Dabei spielt auch die moralische Urteilsfähigkeit der handelnden Personen eine Rolle.

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Mithilfe des Kohlbergschen Modells von der Entwicklung der Fähigkeit zur Werterkenntnis soll im Folgenden eine Orientierung über die Grundlegung des Wertbewusstseins aufgezeigt werden.

3 Stufen der Werterkenntnis, des Wertbewusstseins und der Werterziehung – Kohlbergs Modell des moralischen Urteils Der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg (1927–1987) ist nach vergleichender Forschung in Ländern unterschiedlicher Kulturräume (unter anderem in Mexiko, der Türkei, Israel, Amerika) zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die moralische Urteilsfähigkeit bei Menschen in sechs Stufen entwickelt (Kohlberg 1995). Er geht dabei von problematischen Situationen aus, in denen eine Entscheidung zwischen mindestens zwei Werten gefällt werden muss. Im sogenannten Heinz-Dilemma (Kohlberg 1995, S. 495), welches von ihm und seinen Mitarbeitern wiederholt verwendet wurde, um Probandinnen das Auswertungs­ system zu erklären, geht es um Leben oder Tod von Heinz’ Frau, die durch ein allgemein nicht erhältliches Medikament geheilt werden könnte. Es stellt sich die Frage: Soll Heinz das Medikament stehlen, das seiner Frau das Leben retten könnte? Die Entwicklung des moralischen Urteils sieht nach den Kohlberg’schen Stufen folgendermaßen aus: 1. Stufe: Orientierung an Strafe und Gehorsam Ob eine Handlung gut oder schlecht ist, hängt von den Folgen ab, die jemand körperlich oder seelisch zu spüren bekommt. Er versucht, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, und gehorcht dem, der mehr Macht hat. Er verwechselt den Wert des Lebens mit dem von Sachen und macht ihn davon abhängig, wie viel Besitz oder Macht der andere hat. Die Richtlinie des Handelns lautet: Folge den Regeln, um nicht bestraft zu werden. 2. Stufe: Orientierung an unmittelbarer Befriedigung der eigenen Bedürfnisse Ein Verhalten ist dann richtig, wenn es die eigenen Bedürfnisse befriedigt. Menschliche Beziehungen werden wie der Güteraustausch auf dem Markt gesehen. Menschliches Leben ist ein Mittel, die eigenen Bedürfnisse oder die anderer Menschen zu befriedigen. Die Richtlinie des Handelns lautet: Verhalte dich, wie es verlangt wird, um Belohnung zu erhalten.

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3. Stufe: Orientierung an guten Beziehungen Jemand hält das für richtiges Verhalten, was andere zufriedenstellt, ihnen hilft und von ihnen gutgeheißen wird. Es ist die Orientierung daran, was die Mehrheit als natürlich betrachtet. Verhalten wird nach den Absichten beurteilt. Der Wert des Lebens bemisst sich danach, ob jemand Mitleid oder Zuneigung empfindet. Die Richtlinie des Handelns lautet: Verhalte dich, wie es verlangt wird, um nicht auf Missbilligung und Abneigung deiner unmittelbaren Umwelt zu stoßen. 4. Stufe: Orientierung an Autoritäten und sozialer Ordnung Das Leben ist gesellschaftlich der höchste Wert. Deshalb besteht richtiges Verhalten darin, seine Pflicht zu tun und die soziale Ordnung einzuhalten, damit Zusammenleben in einer Gemeinschaft möglich wird. Die Richtlinie des Handelns lautet: Verhalte dich, wie es verlangt wird, um nicht von den legitimen Autoritäten einen Verweis zu erhalten und Schuld auf dich zu laden. 5. Stufe: Orientierung an individuellen Rechten und demokratisch akzeptiertem Gesetz Jemand betrachtet das als richtiges Verhalten, was demokratisch zustande gekommene Gesetze respektiert und allgemeine Regeln, die von der ganzen Gesellschaft Zustimmung erhalten. Alle Menschen haben Rechte, die von Alter, Geschlecht, Religion, Nation und sozialer Stellung unabhängig sind. Man ist sich bewusst, dass es eine Fülle persönlicher Werte und Auffassungen gibt. Außerhalb des gesetz­lichen Bereichs gelten freie Abmachungen und Verträge als moralisch verpflichtend. Die Richtlinie des Handelns lautet: Verhalte dich so, dass du die Achtung eines unparteiischen Beobachters behalten kannst, der im Blick auf das Wohl der ganzen Gemeinschaft urteilt. 6. Stufe: Orientierung an ethischen Prinzipien Für jemand gilt als richtig, was aufgrund einer Gewissensentscheidung zustande kommt, die gut überlegt wurde, logisch nachvollziehbar ist und die Interessen und Rechte aller Beteiligten berücksichtigt. Ethische Prinzipien, die eine solche Gewissens­entscheidung leiten, sind Gerechtigkeit, Gegenseitigkeit, Gleichheit der Menschenrechte und Achtung der Menschenwürde. Dazu gehört auch die Goldene Regel von der Wechselseitigkeit der Verhaltenserwartung im Neuen Testament: »Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!« (Mt 7,12). Die Richtlinie des Handelns lautet: Verhalte dich so, um nicht von deinem Gewissen verurteilt zu werden, das sich an ethischen Prinzipien orientiert.

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Aus den Entwicklungsstufen lassen sich für das Thema der Werte in Konfliktsituationen grundlegende Erkenntnisse ableiten: Die Entwicklung des Wert­ bewusstseins ist eng mit der geistigen Reife und mit der Urteilsfähigkeit verknüpft. Sie hängt entscheidend von der Beziehung des Einzelnen zu seiner Umwelt ab. Eine Umwelt ist besonders anregend, wenn sie beständig, geordnet und vielfältig ist, wie das mit dem Begriff der »vorbereiteten Umgebung«1 in der Montessori-Pädagogik beschrieben wird. Die Ordnung des Raums, das strukturierte Material und die Gemeinschaftsinteressen bilden den Rahmen für die freie Interaktion der Kinder. Werteerziehung versucht, die moralische Urteilsfähigkeit des Einzelnen zu entwickeln unter Berücksichtigung der jeweiligen Umwelt, von Problemsituationen und Konflikten, in denen das Individuum zwischen konkurrierenden Werten entscheiden muss. Durch Fragen kann das Nachdenken angeregt und vorhandenes Wissen zutage gefördert werden. Ungenügende Antworten werden dabei sichtbar. Die eigene Position kann erweitert werden, sodass mehr Aspekte bei der Beurteilung der Situation berücksichtigt werden können. Der Einzelne wird lernen, wie z. B. ein Konflikt aus der Sicht der jeweils Beteiligten aussieht – mit dem Ziel, eine Lösung zu finden, der alle am Konflikt Beteiligten zustimmen können. Damit wird eine Bewusstheit über die Auswirkungen des eigenen Handelns auf andere hergestellt. Die Stufen der Werteerkenntnis unterscheiden sich dadurch voneinander, dass eine höhere Stufe mehr Informationen einbezieht und verarbeitet und sich somit die Sicht auf die Verantwortung erhöht. Von Stufe zu Stufe erweitert sich der Umfang der Verantwortung vom ausschließlichen Blick auf das eigene Ich über das Du und Wir zur sozialen Gemeinschaft und Gesellschaft. Endlich schließt die Sichtweise die ganze Menschheit ein. Kohlberg geht davon aus, dass, je mehr sich jemand über das im Klaren ist, was richtig, gut und wertvoll ist, er es umso eher tun wird entsprechend dem kognitiv-entwicklungstheoretischen Ansatz des Moralerwerbs (Kohlberg 1995, S. 132). Die Fähigkeit zum Perspektiven­wechsel als Fähigkeit, sich in die Position des Gegenübers zu versetzen, ist für die Werterkenntnis unerlässlich. Was für die pädagogische Situation gilt, gilt analog auch für die Beratungs­ situation: Zum Nachdenken anregen, die Reflexivität fördern, Bewusstheit schaffen, vorhandenes Wissen aktivieren und neues Wissen generieren, über sich hinausblicken und denken erhöhen die Möglichkeit der Erkenntnis. Ein wichtiges Paradigma stellt der Perspektivenwechsel dar. Er hat für die Beratungs1 https://www.montessoribayern.de/landesverband/paedagogik/die-paedagogik-ihre-bereiche/ die-vorbereitete-umgebung.html (Zugriff am 11.6.2019).

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situation eine zentrale Bedeutung – als Baustein des Coaching, bei Wertekonflikten Mehrperspektivität anzuregen und zu ermöglichen.

4 Werte in der Arbeitswelt – ein Szenario Wie wollen wir leben? Wie wollen wir arbeiten? Das sind Fragen die, nicht nur, aber insbesondere Menschen in Führungspositionen beschäftigen. Welche Antworten haben Berater – Coaches und Supervisorinnen – darauf? Mit diesen Fragen kann man sich nicht beschäftigen, ohne von der Konflikthaftigkeit menschlicher Interaktion auszugehen, vom sozialen Konflikt also. An einem Beispiel aus dem vielfältigen Repertoire dessen, was die Coachingszene anbietet, soll es veranschaulicht werden. Motivationscoach Andreas Winter (Winter 2018) benennt in einem Interview (»Bloß nicht leiden!«, Zeitung am Samstag, Ausgabe 253 vom 08.09.2018, S. 2) den Selbstverwirklichungsaspekt als grundlegenden Wert: »Dann kann daraus eine Berufung werden. Man muss nicht unter Arbeit leiden, um sein Ziel zu erreichen.« Der Interviewer fragt daraufhin: »Es fällt schwer, in jedem Beruf die Möglichkeit einer Selbstverwirklichung zu erkennen.« Winter antwortet: »Die meisten Menschen arbeiten ja gar nicht für Geld. Die meisten arbeiten für Lob, Dank und Anerkennung. Die bekommt man aber leider nicht. Da kommt kein Chef vorbei und lobt einen dreimal am Tag. Wenn man das versteht, dass man beispielsweise in einem Großraumbüro nur Geld für seine Arbeit bekommt, nichts anderes, dann erwartet man auch nichts anderes mehr. Dann ermüdet man auch nicht, es stresst einen nicht mehr. Das ist der Trick. Geh dahin, um Geld zu verdienen. Nicht mehr. Mach deine Sachen gut, aber erwarte keine Beförderung oder Anerkennung.« Der Interviewer: »Dann sitzt man also im klimatisierten Großraumbüro, um Geld zu verdienen. Aber wie findet man hier seine Berufung?«

Der Wert der Berufung in der Arbeit scheint sich verflüchtigt zu haben. An die Stelle der Erfahrung von sinnvoller Tätigkeit tritt ein materieller Wert. Selbstverwirklichung wird mit Geld beantwortet. Die Erwartung nach mehr wird aufgelöst. Die Konflikthaftigkeit des sozialen Arrangements, der Organisation von Arbeit, der Inhalte und der Aufträge wird individualisiert. Sie wird nicht Gegenstand der Betrachtung und der Beratung. Man muss sich nur richtig motivieren, heißt die Lösung, dann hat man mit den Bedingungen der Arbeit nichts mehr zu tun. Indem jedoch der soziale Konflikt ignoriert wird, nicht ausgetragen wird und stattdessen in die Person verlagert wird, gibt es keine Antwort auf die Frage nach den sozialen Werten wie Selbstverwirklichung und Berufung.

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Der Wertekonflikt wird nicht geklärt. Stattdessen werden in diesem Coaching die Werte zum Verschwinden gebracht. So verstandenes Motivationscoaching gibt keine organisationsrelevanten Antworten auf die wertbezogenen Fragen. Letztlich führt es von der Verantwortung (des Coachs wie auch der Coachees) für die Organisation weg, hin zu einem subjektiven Umgang mit der Situation. Nicht die Mündigkeit des Subjekts ist das Ziel, sondern seine Anpassung an die bestehenden Verhältnisse: Wer nichts merkt, leidet nicht. Was hat Coaching, das nicht Anpassungscoaching sein will, bei Wertekonflikten zu leisten? Wenn Wertefragen berührt sind, Bewertungen und Abwertungen erfahren werden sowie Diskrepanzen zwischen betrieblichen Vorgaben und Vorstellungen von Mitarbeiterinnen deutlich werden, erfordert das im Beratungsprozess eine grundlegende Haltung des Coachs, die wertbezogen ist, ohne zu bewerten. Werthaltungen gehören zur professionellen Ausstattung guter Beratung (vgl. den Beitrag von Pfab u. Pfab). Konflikte um Werte lassen sich nicht pragmatisch erledigen.

5 Das Rüstzeug für werteorientiertes Coaching: Mehrperspektivität und Triangulierung Im Coaching und in der Supervision geht es immer um die abwesenden Dritten. Werte werden von Personen repräsentiert und sind in sozialen Gestaltungen symbolisiert. Für eine adäquate Bearbeitung sind die im Beratungs­setting abwesenden Dritten als Repräsentanten des Konflikts einzubeziehen. Die Haltung der Coaches im Wertekonflikt braucht ihre Triangulierungsfähigkeit. Methodisch erfordert das die Wahrung der Allparteilichkeit, die Entwicklung von Mehrperspektivität und den Vollzug von Perspektivenwechsel. Coaches müssen neben ihrer Haltung ein entsprechendes methodisches Wissen zur Verfügung haben, mit dessen Hilfe die Themen erschlossen und im Rahmen der Beratung besprechbar sowie handhabbar gemacht werden können. 5.1  Triangulierung und Triade »Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der dritte!« (Friedrich Schiller, »Die Bürgschaft«, 1798). Autoren im Feld der Supervision wie Stefan Busse und Erhard Tietel (2018; Tietel 2003), Heidi Möller (2001), Harald Pühl (2005), Rudolf Heltzel und ­Wolfgang Weigand (2012; Weigand 2006) beschreiben Coaching und Super-

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vision in Organisationen als triangulierende Arbeitstechnik. Wie kann das Triangulierungs­konzept helfen, in Arbeitsbeziehungen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse zu befördern, den Wertediskurs zu führen und Konflikte anzugehen? Wie Triangulierung zu einer tragfähigen Triade führt, soll anhand des psychoanalytischen Entwicklungskonzepts ausgeführt werden. Ernst Abelin (1971), ein Mitarbeiter der Psychoanalytikerin Margaret ­Mahler, die sich mit der frühen Entwicklung des Kindes und der Beziehung zur Mutter beschäftigt hat, hat den bei Vermessungen in der Geodäsie gebräuchlichen Begriff »Triangulierung« in die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie eingeführt. Der Begriff ist verknüpft mit der psychoanalytischen Konflikttheorie, nach der unbewusste intrapsychische Konflikte und deren Bewältigung die Grundlage aller psychischen Vorgänge und Reifungsprozesse sind und das Gelingen damit auch unerlässlich ist für die soziale Entwicklung des Menschen, für seine Fähigkeit, in sozialen Gefügen zu leben und diese zu gestalten. Der Schweizer Analytiker Heinz Müller-Pozzi konstatiert: »Die Triade ist die erste Gruppe im Leben eines Menschen, Vorläufer aller späteren Gruppen. Die psychische und die soziale Geburt des Menschen gehen Hand in Hand. Was wir Gemeinschaftsgefühl nennen können, wurzelt in der Triade. Es beinhaltet die Fähigkeit, gleichzeitig zu mehreren Personen unterschiedene Beziehungen haben und alle zusammen als Gemeinschaft wahrnehmen und erleben zu können« (Müller-Pozzi 1991, S. 129). Bei der Triangulierung handelt es sich also um eine Grundsituation in der Entwicklung der psychischen Wirklichkeit mit Folgen für alle Ebenen des menschlichen Seins. In der psychoanalytischen Theorie werden die komplexen Hintergründe von Triangulation hinsichtlich der subjektiven Verarbeitung der Triade betrachtet. Triangulierungskonflikte sind die Grundformen psychoanalytischer Konflikte bei der Entstehung der psychischen Wirklichkeit, der »Innenwelt der Außenwelt« (Müller-Pozzi 1991, S. 123). Die Frankfurter Psychoanalytikerin Ilka ­Quindeau (2008) beschreibt vier Grundformen von Konflikten, die sich in den ersten Lebensjahren eines Kindes entfalten, jedoch nicht darauf beschränkt bleiben, sondern zeitlebens weiterbestehen. Deren Erleben und ihre jeweilige Verarbeitung prägen die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen. Quindeau unterscheidet Trennungskonflikte, Individuationskonflikte, ­Triangulierungskonflikte sowie Selbstwertkonflikte (Quindeau 2008, S. 29). Die Grundkonflikte sind um eine bestimmte Entwicklungsstufe des Kindes zentriert: Trennungskonflikte in der oralen Phase – erstes Lebensjahr – prägen die »psychische Geburt« des Menschen. Das Kind wird psychisch geboren, wenn es bemerkt, dass es ein von anderen Menschen getrenntes Wesen ist. »Während des zweiten Lebensjahres schreitet der Individuationsprozeß zügig voran und Mahler

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beschreibt, wie die Hochstimmung der Übungsphase nun endgültig in die ›psychische Geburt‹ des Kleinkindes mündet (Mahler, Pine u. Bergman 1978). Neue Verhaltensweisen treten auf: Das Kind bringt der Mutter Spielzeug […]; das Interesse an Dritten – Vater, Geschwister, andere Kinder – wird erkennbar, ebenso wie Versuche, Vater und Mutter nachzuahmen« (Tyson u. Tyson 2001, S. 112). Individuations-Separations- bzw. Autonomiekonflikte finden in der analen Phase statt – im zweiten und dritten Lebensjahr. In dem Zeitraum entsteht das Nein des Kindes. Triangulierungskonflikte gehören zur phallisch-ödipalen Phase des vierten bis fünften Lebensjahrs. Ausgangspunkt sind die Erkenntnisse Freuds, die zur Formulierung des Ödipuskomplexes geführt haben. Freud beschreibt mittels der Metapher der griechischen Tragödie des Sophokles die unbewussten Fantasien des Kindes beim Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils. Die Konflikte dieser Phase stehen in Verbindung mit dem Ödipuskomplex, den Freud als Kernkomplex der Neurosen aus den anderen Konfliktkonstellationen heraushob, indem er seine konstitutive, strukturbildende Funktion betonte (­Laplanche u. Pontalis 1973, S. 354). Vorangehend haben sich in der psychischen Entwicklung des Kindes Selbstund Objektrepräsentanzen in der kindlichen Psyche gebildet und es wurden Trennungs- und Autonomiekonflikte mit den dazu gehörenden Wünschen und Ängsten vorerst bewältigt und integriert. Nun steht der Übergang von der dyadischen zur triadischen Beziehung an, die sogenannte Triangulierung. »Im Übergang von der Dyade zur Triade gewinnt der Dritte seine spezifische Bedeutung. Der Prozeß der Loslösung, Triangulierung und Individuation setzt auf dem Höhepunkt der Dyade ein, wenn sie so sicher funktioniert, daß sie bereits zeitweilig in Frage gestellt werden und überschritten werden kann. Nun beginnt das Kind, aktiv die Beziehung aufzunehmen, die vom dritten Objekt her bereits besteht« (Müller-Pozzi 1991, S. 128). Quindeau erweitert diese Sicht über den familiären Rahmen hinaus: »Das Kind verortet sich im Netz der familiären Beziehungen und wird gewahr, dass es nicht im Mittelpunkt aller sozialen Beziehungen steht. Metaphorisch könnte dieser Schritt als kopernikanische Wende in der Ontogenese bezeichnet werden, die der Einsicht in die Dezentrierung der menschlichen Existenz Rechnung trägt und die ›ptolomäische Phase‹ der dyadischen Beziehungsstrukturen beendet. Dieser Schritt hat entscheidende Bedeutung für die Bildung der psychischen Struktur, er bildet die Grundlage für ein ›Leben im Dreieck‹ als Grundform aller sozialen Beziehungen« (Quindeau 2008, S. 33). In Anlehnung an Mahlers Begriff der »psychischen Geburt« des Menschen kann man also hinsichtlich der Fähigkeit zur Triangulierung mit Müller-Pozzi

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von der »sozialen Geburt« des Menschen sprechen (Müller-Pozzi 1991, S. 129), die Menschen dazu befähigt, sich in Verbindung mit mehr als einer weiteren Person zu erleben. In der Triangulierung wird nicht nur eine weitere Objektrepräsentanz in der psychischen Wirklichkeit ausgebildet, sondern das Muster sozialer Beziehungen schlechthin. Damit verknüpft ist die Angst, ausgeschlossen zu werden, nicht dazuzugehören. Das Kind erbringt also die Leistung, die Fähigkeit zu entwickeln, Beziehungen zwischen zwei anderen bedeutsamen Objekten wahrzunehmen und aushalten zu können. Auf der affektiven Ebene geht es um die Integration von Ambivalenz, um die Anerkennung von widersprüchlichen Gefühlsregungen. »Am Ödipuskomplex hängt erstens die Triangulierung, d. h. die Verortung des Kindes im Geflecht der familiären und darüber hinaus allgemein in sozialen Beziehungen; zweitens die Anerkennung der Geschlechts- und Generationengrenzen durch das Aufheben der bisexuellen Illusion [des Kindes bezüglich seiner selbst, Anmerkung des Verfassers] und das Begehren der Eltern. Darüber hinaus geht es um die Integration von Ambivalenz: Es wird anerkannt, dass es sowohl positive als auch negative Gefühle derselben Person geben kann, Zuneigung und Hass bestehen nebeneinander und werden nicht mehr wie in früheren Phasen auf verschiedene Personen verteilt. Triangulierungskonflikte finden sich in der weiteren Lebensgeschichte in verschiedenen Dreierkonstellationen, die oft mit Neid und Eifersucht einhergehen. Der, die, das Dritte muss dabei nicht immer eine Person sein, an diese Stelle kann auch eine Tätigkeit, eine Berufstätigkeit ebenso wie ein Hobby treten, das heißt alles, was die dyadische Struktur zu einer triadischen erweitert« (Quindeau 2008, S. 35). Damit der Mensch ein Individuum werden kann, muss er sich aus der Dyade lösen, zum Dritten in Beziehung treten. Und er muss sich als Selbst, als Zentrum eigener Wünsche, Wahrnehmungen und Initiativen in diesem Geschehen begreifen können. Das Kind erreicht die Fähigkeit, andere in ihrem Anderssein zu sehen und zu berücksichtigen – die Grundlage für die Gegenseitigkeit von Beziehungen. Mit der Triangulierung setzt so in der psychischen Struktur die Entwicklung des Realitätssinns und die Befähigung zur Realitätsprüfung ein. »Vielleicht bedeutet die Triangulierung die größte Umwälzung in der Entwicklung des Menschen« (Müller-Pozzi 1991, S. 128). 5.2 Mehrperspektivität und Perspektivenwechsel im triadischen Konzept Der psychischen Fähigkeit, sich in einem Dreieck zu bewegen und eine triadische Position einzunehmen, entspricht die Fähigkeit zur Wahrnehmung sozia-

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ler Realität, nämlich der Blick auf das jeweils andere, den jeweils anderen. »Wie wir die Welt erleben, wird zwangsläufig davon bestimmt, wie wir in ihr situiert sind und aus welcher Perspektive wir auf sie blicken. Dies gilt auch und in besonderem Maße für die gesellschaftliche Welt. Wie wir gesellschaftliche Verhältnisse beurteilen, hängt von der Perspektive ab, also von dem Ort – geographisch, historisch, sozial oder geistig –, von dem aus wir die Welt betrachten. Die Spannbreite möglicher Perspektiven auf die gesellschaftliche Welt ist nahezu unbeschränkt groß« (Mausfeld 2018, S. 9). Die Triangulierung ermöglicht dem Individuum Mehrperspektivität und Perspektivenwechsel. Sie ermöglicht eine dreidimensionale Wahrnehmung der sozialen Umwelt, die Bezug nehmen kann auf Ich, Du und Wir. »So hängt eben alles von der Perspektive ab. Was wir sehen, hängt von der Perspektive ab. Ebenso, was wir sehen wollen und, mehr noch, was wir nicht sehen wollen. Auch die Schlussfolgerungen, die wir aus dem, was wir sehen, erfahren und wissen, ziehen und zu ziehen bereit sind, hängen von der Perspektive ab. […] Also von unseren eigenen Erfahrungen […] [,] von unserer Sozialisation, von unseren Normen und unseren Vorurteilen, von unseren Ängsten und Sorgen, […] und von dem Bild, was wir von uns selbst und von unserer Rolle in der Welt haben« (Mausfeld 2018, S. 15). Das beschreibt exakt den Reflexionsraum im Coaching, in dem es darum geht, das (abwesende) Dritte in den Blick zu nehmen und nicht in einer kurzschlüssigen, dyadischen Wahrnehmung steckenzubleiben (vgl. den Beitrag von A. Pfab). Eine andere Perspektive einzunehmen, heißt, von dem zu sprechen, was verschwiegen oder verborgen wird – im Beispiel der Pflege von den Strukturen und der Ökonomie, im Beispiel des Großraumbüros von der Rolle des Chefs und der Monotonie der Arbeitsabläufe. Der Perspektivenwechsel ermöglicht also eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen, manchmal widersprüchlichen Positionen und Ansichten und ist damit grundlegend für einen wertbezogenen Diskurs. Innere Konflikte können so an ihren sozialen Ort zurückgeführt und bewertet werden bezüglich ihrer Relevanz für das Handeln und Verhalten der Coachees. Sie gewinnen damit Handlungsfähigkeit gegenüber den Herausforderungen ihrer Arbeitsrealität und Gestaltungsmöglichkeiten. Somit ergibt sich eine für Coaching und Supervision enorme Lernrelevanz. 5.3 Drei-Sicht statt Zwei-Sicht schafft Einsicht – Triangulierung als Weg des reflexiven Diskurses im Wertekonflikt Erst eine stabile triadische Beziehungsrepräsentanz befähigt dazu, in einem Beziehungsdreieck zu zwei anderen gleichzeitig eine Beziehung zu haben und

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ein zeitweiliges eigenes Ausgeschlossen-Sein ohne Verlustängste oder das aktive Ausschließen des einen Partners ohne Loyalitätsprobleme zu ertragen. Die Beratungssituation bildet immer eine triadische Situation ab: Im Coaching wird vom Coachee von Ereignissen aus seiner Praxis außerhalb des Beratungs­settings und über abwesende Personen berichtet. Dass es um ein Drittes oder einen Dritten geht, bedeutet in der Triade, dass die Verbindung erhalten bleibt, wenn sich der Fokus ändert. Die Bezugnahme auf den abwesenden Dritten schmälert nicht die Bedeutung der Anwesenden und die Bezugnahme auf die Anwesenden bringt den Abwesenden nicht zum Verschwinden. Das Dreieck wird aufrechterhalten. Ein Konflikt wird nicht auf Kosten des einen oder des anderen erledigt. Alle relevanten Bezugspunkte und Personen sind (innerlich) repräsentiert. Dieses Gleichgewicht in der Triade ist hergestellt, wenn ȤȤ alle drei Pole klar voneinander differenziert sind (Individuum – Gegenüber – Dritter) und als voneinander getrennte Individuen wahrnehmbar und erlebbar sind, ȤȤ zwischen allen drei Polen wechselseitige Beziehungen bestehen, ȤȤ alle Beteiligten diese Beziehungen billigen, ȤȤ alle drei Relationen des Dreiecks überwiegend positiv getönt sind, ȤȤ jede der drei Relationen bei allen Beteiligten mental repräsentiert ist, d. h., der abwesende Dritte einbezogen ist. Beteiligte sind neben der Beraterin die Coachees und Supervisanden sowie die Vertreterinnen der Organisation als institutionelle Auftraggeber des Beratungsprozesses. Das hat für die Rahmengestaltung von Coaching und Supervision zur Voraussetzung, dass ein Dreieckskontrakt geschlossen wird, in dem die Organisation als im Prozess nicht anwesende Dritte die Vereinbarung billigt und in dem ihre Stellung beschrieben wird und worauf sie Anspruch hat. Das zu regeln, erfordert, dass benannt wird, wer seitens der Organisation des Coachees die zuständige Kontaktperson ist bezüglich Auswertung und Abschluss des Prozesses oder im Konfliktfall. Die Wahrung der für den Beratungsprozess konstitutiven Regel der Verschwiegenheit gegenüber Dritten braucht folglich die Unterscheidung zwischen personenbezogenen Inhalten und Umständen und arbeitsbezogenen, strukturellen Informationen und Erkenntnissen: Verschwiegenheit im Persönlichen – Transparenz im Strukturellen. Neben der äußeren Repräsentanz des Dreiecks braucht es deren innere. Triangulierung vollzieht sich dann, wenn aus der äußeren Dreierkonstellation ein dreidimensionaler innerpsychischer Raum entsteht. Triangulierung bezeichnet also die Entwicklungsaufgabe, aus dem äußeren Beziehungsdreieck ein inneres zu machen – eine Aufgabe, die in der familiären Situation nicht nur

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das Kind, sondern auch die Eltern zu bewältigen haben. Wenn es gelingt, ist ein Pendeln zwischen dyadischen und triadischen Handlungs- und Erlebniszuständen möglich. Dadurch werden emotionsregulierende Kompetenzen erworben, die im kognitiven Bereich ein Dazu- und Umlernen ermöglichen. »Aus struktureller Perspektive ist die Triangulierungskompetenz verwandt mit der Reflexions­ kompetenz und der Mentalisierung, bezieht sie sich doch auf die intrapsychische Fähigkeit, aus einer dritten Position heraus auf sich selbst in Beziehung zum anderen zu schauen. Die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdreflexion basiert sowohl auf der Theorie des Mentalen – der gesicherten Erkenntnis, dass der andere ein denkendes und fühlendes motivationales Wesen ist – als auch auf der Fähigkeit, innerlich einen Perspektivenwechsel vornehmen zu können, sich also mit dem eigenen Selbst und dem Objekt wechselseitig identifizieren zu können. Unserer Meinung nach beinhalten die Reflexions- und Triangulierungskompetenz miteinander verbundene kognitive und emotionale Anteile, die in frühen Beziehungserfahrungen wurzeln. Insofern sind die strukturelle und die entwicklungspsychologische Perspektive miteinander verbunden und stellen nur zwei Seiten einer Medaille dar« (Dammasch, Katzenbach, Ruth 2008, S. 10). Die emotionalen Anforderungen des Umlernens verlangen die Fähigkeit, Verunsicherungen zu ertragen, die Angst vor Unbekanntem auszuhalten und sich selbst gegenüber eine reflektierte Position einnehmen zu können. Aus der Dichotomie des Entweder-oder kann ein Sowohl-als-auch entwickelt werden, das ein Drittes zulässt. Coaches und Supervisorinnen können als beobachtende, reflektierende Dritte verstanden werden, die ihre Klienten dabei unterstützen, aus ihren dyadischen Verwicklungen und aus der Dichotomie des Entweder-oder herauszutreten und in eine verstehende Position zu kommen. Und das erlernen sie, indem ihre Beraterinnen in gleicher Weise ihnen gegenüber die Position des Sowohl-als-auch einnehmen. Die Haltung des Coachs im Wertekonflikt erfordert seine Triangulierungsfähigkeit.

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Wolfgang Dinger

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Interkulturelle Perspektiven im Coaching – Gedanken zu einem überaus komplexen und vielseitigen Thema Antje Pfab und Collet Wanjugu Döppner1

1 Coachingrelevanz Mit zunehmender kultureller Diversität steigt die Relevanz von interkulturellem Coaching (cross-cultural coaching) (Abbott u. Salomaa 2017, S. 454). Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität sind ständige Begleiterinnen in einer Arbeitswelt, die von Globalisierung, Volatilität und kultureller Komplexität geprägt ist (siehe zu den Bedingungen der heutigen Arbeitswelt den Beitrag von Pfab u. Pfab), auch wenn sie oft unbemerkt »mitlaufen«. Im Coaching begegnen sie uns auf verschiedenen Ebenen: 1. Seitens der Coachees … a. als Betroffene, sogenannte natives unterschiedlicher Kulturen, z. B. bei einem Team aus unterschiedlichen Kulturen im Sinne von Nationalitäten, aber auch im Sinne von unterschiedlichen Berufskulturen (Software-­ Entwicklung und Vertrieb, Sozialarbeiterinnen und Verwaltungsmitarbeiter etc.), b. durch die von den Coachees thematisierten Fälle, z. B. einem Schüler mit Migrationshintergrund, oder Anliegen, z. B. bei der Vorbereitung einer Managerin zu einer Auslandsentsendung, 2. seitens des Coachs … a. ebenfalls als Betroffene, d. h. Angehörige bestimmter Kulturen (z. B. des Geschlechts, der Nationalität, eines bestimmten Berufshintergrunds …), b. durch die jeweilige Auftragslage in verschiedenen Branchen (z. B. Wirtschaft und Soziale Arbeit). Sie begegnen uns auf der Mikroebene (z. B. in Teams), auf der Mesoebene (z. B. im Organisationskontext) und auf der Makroebene (z. B. in der Gesellschaft). 1

Collet Wanjugu Döppner ergänzt die Ausführungen durch die Perspektive ihrer kenianischen Herkunftskultur, um so bereits beim Lesen dieses Beitrags Multikulturalität zu veranschaulichen.

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Antje Pfab und Collet Wanjugu Döppner

2  Begriffsbestimmung Kultur Eine Betrachtung zum Thema kommt um eine Auseinandersetzung mit dem Kultur-Begriff nicht herum. Was im Einzelnen unter »Kultur« verstanden wird, ist in der einschlägigen Literatur sehr unterschiedlich. Da Definitionen von »Kultur« im jeweiligen historischen und sozialen Kontext gesehen werden müssen, »gibt es keine ›richtigen‹ oder ›falschen‹, sondern nur mehr oder minder angemessene Kulturbegriffe« (Bolten 2013, S. 4). Mahadevan definiert Kultur im Anschluss an E. B. Tylor (1871, S. 1) als »that complex whole which ­includes knowledge, belief, arts, morals, law, custom, and any other capabilites and habits acquired by man as a member of society« (zit. nach Mahadevan 2017, S. 13), »that […] might refer to any collective b ­ elonging« (2017, S. 1). Döppner berichtet: In Kenia ist die Identität eines Menschen wesentlich über seine ethnische Zugehörigkeit2 bestimmt. Nach außen und besonders in Konflikt- oder Bedrohungssituationen von außen sprechen die Menschen jedoch eine Sprache und sehen sich als ein Volk, das auch gemeinsam agiert. Das heißt, dass Kenianer einen fließenden Übergang schaffen zwischen dem, was sie als ethnische Identität und Landesidentität sehen. Sie können diesen flexiblen Wechsel jeden Tag ohne Probleme leben und sich ohne groß darüber nachzudenken von einer Identität zur anderen bewegen. Passend dazu ist die Formulierung von Bolten, der sagt: »Identitäten – sowohl auf der Mikroebene von Individuen als auch in Makrobereichen von ›Kollektiven‹ […] sind demzufolge nicht mehr ›autonom‹ und kohärent, sondern kohäsiv zu denken. ›Kohäsion‹ ist hierbei […] [w]ie Wassermoleküle[, die] aufgrund von Kohäsionskräften eine Oberflächenspannung erzeugen, aus der sie sich aber zu jeder Zeit ›unbeschädigt‹ auch wieder lösen und anderweitig ›andocken‹ können« (Bolten 2012, S. 33). In der Außenbetrachtung neigt man dazu, sich von Grenzen leiten zu lassen und das »innerhalb« für homogen zu halten. Sieht man sich das Innere genauer an, geraten feine Unterschiede in den Blick. »Kulturen sind keine Container, sie sind – je näher man an sie heranzoomt und sich auf ihre Details konzentriert – weder homogen noch mit dem Zirkel voneinander abgrenzbar, sondern – als Zeichen ihrer Vernetzung – an den Rändern mehr oder minder stark ›ausgefranst‹ zu denken« (Bolten 2012, S. 27).

2 In Kenia gibt es circa 42 verschiedene Ethnien und jede Ethnie hat eine eigene Sprache, Musik, Bräuche, Gerichte und anderes. Die größten zwei Ethnien, die auch ständig miteinander in politischem Konflikt stehen, sind Kikuyu und Luo.

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Unter Bedingungen weltweiter Vernetzung, Migrations- und Fluchtbewegungen, gesellschaftlicher Verflechtungen (wirtschaftlicher, kultureller, politischer Art) definiert z. B. das GLOBE-Projekt, eines der größten weltweiten Projekte im kulturvergleichenden Management, Kultur als »shared motives, values, beliefs, identities, and interpretations or meanings of significant events that result from common experiences of members of collectives that are transmitted across generations« (House, Hanges, Javidan, Dorfman u. Gupta 2004, S. 15). Diese Kulturdefinition kann laut den Autoren auch auf Organisationskulturen angewendet werden. Laut Trompenaars und Woolliams geht es bei Kultur »darum, welche Bedeutung Dingen, Handlungen und Verhaltensweisen beigemessen wird« (­Trompenaars u. Woolliams 2004, S. 31). Dazu Döppner: Die Bedeutungen, die Dinge und Handlungen in einer Kultur haben, können einen Coachingprozess enorm behindern, weil das, was als ein angemessenes Verhalten in einem Kulturkreis gilt, in einer anderen Kultur unangemessen oder sogar ein Tabubruch sein kann. Coaching im interkulturellen Kontext ist daher nicht nur für den Coach manchmal eine Herausforderung, sondern auch für Coachees, besonders wenn sie aus Kulturen stammen, die sich stark von der Kultur des Coaches unterscheidet. Die zeigt das Fallbeispiel 1 (siehe 3.1).

Thomas definiert Kultur »als ein universelles, für die Mitglieder einer Nation, einer Organisation und einer Gruppe, aber auch für jedes Individuum sehr spezifisches Orientierungssystem« (Thomas 2013, S. 49). Van Nieuwerburgh bezieht Kultur auf »generally accepted beliefs, conventions, customs, social norms and behaviours associated with people who self-identify as members of a particular group« (van Nieuwerburgh 2017, S. 441). Aus soziologischer Perspektive gehört für Nazarkiewicz und Krämer »Kultur zu den zunächst unreflektierten, im Hintergrund wirkenden machtvollen Erwartungsbedingungen« (Nazarkiewicz u. Krämer 2012, S. 72). Erschwerend kann noch hinzukommen, dass »[d]as Verhalten und das Erleben von Menschen […] oft weniger davon bestimmt [wird], was sie wollen, was sie denken oder was sie möchten, sondern viel öfter davon, was sie vermuten, was andere von ihnen wünschen« (von Schlippe, El Hachimi u. Jürgens 2008, S. 84). Mit den neueren prozessorientierten Sichtweisen verändert sich auch der Kultur­begriff: »›Kultur‹ und ›Interkultur‹ [werden] nicht mehr als mehr oder minder geschlossene Strukturen verstanden […], sondern als offene Netzwerke« (­Bolten 2012, S. 8). Bolten definiert Kultur entsprechend als »fuzzy« (S. 35): Kultur »beschränkt sich nicht auf soziale Lebenswelten bzw. soziale Praktiken, sondern schließt mit der Betrachtung der Dynamik komplexer Mensch-­Umwelt-Systeme

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nicht-menschliche Akteure mit ein. Er ist holistisch, ganzheitlich, weil ›Kultur‹ als Netzwerk verstanden wird, in dem sich akteursbezogene Umwelt-, Selbst-, imaginative und soziale Reziprozitätsdynamiken wechselseitig beeinflussen. […] Was dabei jeweils als Handlungsfeld (und damit als Kultur) perspektiviert wird, hängt von den Interessen und Motiven des Betrachters ab, und erst durch eine kontinuierliche und zugleich kollektive Perspektivierung desselben Handlungsfeldes wird dieses als ›Kultur‹ konstruiert« (S. 35 f.). So sieht auch Nazarkiewicz »die Zukunft eines genaueren Verständnisses von interkulturellem Coaching [i]n einem dynamischen und konstruktivistischen Kulturbegriff« (Nazarkiewicz 2018, S. 26). »Kultur­ reflexives3 Coaching ist eine zielorientierte, systematische und zeitlich begrenzte Unterstützung und Begleitung eines Entwicklungs- und Veränderungsprozesses im Rahmen beruflicher oder privater Neuorientierung in Kontexten, die zunehmend transkulturell verfasst sind oder als solche aufgefasst werden« (S. 35).

3 Wie kann Interkulturalität im Coaching aufgegriffen werden? Jeder Coach und jeder Coachee hat Erfahrungen mit unterschiedlichen Kulturen gemacht – je größer die kulturellen Unterschiede sind, desto wichtiger wird es, diese im Coaching zu berücksichtigen. Die Erkenntnislage ist so komplex wie die Problematik selbst auch. Hat man die Theoriereflexion jedoch einmal durchdrungen, bieten die unterschiedlichen Ansätze dem Coach wertvolle Hinweise, Anregungen und Perspektiven für ein professionelles Coaching. Dies umfasst strukturelle Ansätze ebenso wie prozessorientierte und kulturreflexive Herangehensweisen: Auf der strukturellen Ebene beschäftigt man sich mit Kulturstandards (siehe unten), prozessorientierte Ansätze konzentrieren sich auf die Beziehungsebene und -gestaltung, oder wie van Nieuwerburgh es formuliert: »[A]ttention is focused on the role of culture in the interplay be­tween coach and coachee« (van Nieuwerburgh 2017, S. 439). Welche Heran­gehensweise man wählt, hängt sowohl von der Zielgruppe ab als auch dem Coachingthema/Anliegen. Idealerweise bezieht man beide Pole, strukturelle ebenso wie prozessorientierte Herangehensweisen4, mit ein. 3 Kulturreflexivität schließt »als übergreifender Begriff« bei Nazarkiewicz und Krämer sowohl »interkulturell«, »multikulturell« als auch »transkulturell« mit ein und betont »die Bewusstheit in der professionellen Haltung« (Nazarkiewicz u. Krämer 2012, S. 9 f.). 4 Darüber hinaus gibt es noch den Ansatz der »Kulturellen Intelligenz« (»cultural intelligence«), die Earley und Ang definieren als »an individual’s capability to adapt effectively to new cultural contexts« (Earley u. Ang 2003, S. 59, zit. nach Gröschke 2013, S. 483). Dies geschieht über die

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3.1 Ansätze mit Kulturstandards oder -dimensionen (strukturelle Ebene) Ausgehend von der Annahme, dass es grundlegende Themen und Wertvorstellungen gibt, mit denen sich jede Kultur auseinandersetzt, wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts universelle Kategorien gebildet, anhand derer Kulturen miteinander verglichen werden konnten. W. Pfab betont in einer Untersuchung der Interkulturalität von Beratungssituationen die Wichtigkeit gesellschaftlicher Werte, deren kulturübergreifende Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede: »Jede soziale Gemeinschaft setzt sich mit den gleichen Grundfragen ihrer Existenz auseinander: der Beziehung der Menschen zur Welt, der Beziehung eines Menschen zu seinen Mitmenschen, der Beziehung zu sich selbst, der Beziehung zu dem, was nicht fasslich ist – dem Übernatürlichen bzw. Göttlichen, der Beziehung zur Zeit und zum Raum. Diese Grundfragen sind allen Kulturen gemeinsam, die Antworten auf diese Fragen allerdings können deutlich unterschiedlich ausfallen« (W. Pfab in Vorb.). Je nachdem, welche Kulturdimensionen zugrunde gelegt wurden, entstanden unterschiedliche Konzepte, »wobei der wohl bekannteste Vertreter und Pionier der wissenschaftlichen Untersuchung kultureller Wertorientierung […] Geert Hofstede ist« (Thomas u. Utler 2013, S. 42). Hofstede begründete seine Kulturdimensionen auf einer großangelegten Fragebogenaktion in dem Unternehmen IBM (wobei – das ist einer der Kritikpunkte an seiner Vorgehensweise – fast ausschließlich Männer befragt wurden). Er entwickelte daraus die Kulturdimensionen »Machtdistanz«, »Unsicherheitsvermeidung«, »Individualismus – Kollektivismus«, »Maskulinität – Femininität« (siehe Hofstede 1980). Später kamen noch die Dimensionen »Langzeitorientierung – Kurzzeitorientierung« hinzu sowie »Genuss – Zurückhaltung« (https://www.hofstede-insights.com/ models/national-culture/). Dazu Fallbeispiel 1 von Döppner: Nachdem ich ein interkulturelles Coaching für Geflüchtete angeboten hatte, wurde mir schnell klar, wie stark Aspekte wie Hierarchie, Geschlecht und kollektive Orientierung den Coachingprozess beeinflussen. Ein Teilnehmer, der in seinem Heimatland des Mittleren Ostens als Anwalt tätig war, wollte, dass man ihm sofort in der Dimensionen »cognitive cultural intelligence« (Wissen und Kognition über andere Kulturen), »metacognitive cultural intelligence« (Metawissen und kognitive Strukturen zur Entwicklung von Coping-Strategien), »motivational cultural intelligence« (Motivation wie Selbstwirksamkeitserwartung) und »behavioral cultural intelligence« (Handlungsfähigkeit im Sinne eines kulturell angemessenen Handlungsrepertoires) (Early u. Ang 2003, zit. nach Gröschke 2013, S. 483).

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ersten Sitzung sage, wie er schnell zu einer Arbeit kommen könne. Jeder Versuch, einen solchen Suchprozess gemeinsam mit ihm zu gestalten, seine Ziele in den Blick zu nehmen und herauszufinden, wie er sie umsetzen kann, scheiterte. Verschiedene Ansätze, z. B. welche Ressourcen er habe und wer ihm helfen und ihn beraten könnte, wie er nach einer Weile und nach genügend Deutschkenntnissen an eine Arbeit kommen könnte, wurden mit Kommentaren abgeblockt wie »Frau Döppner, Sie sind doch hier die angebliche Expertin. Sie sollten mir jetzt sagen, wie ich schnell eine Arbeit finden kann!«. Sein Drängen dominierte den Gruppenprozess. Hinzu kam, dass die weiblichen Teilnehmerinnen eingeschüchtert waren und sich kaum trauten, ihre Anliegen in dieser Gruppe zu äußern – weil männliche Teilnehmer dabei waren und es sich in so einer gemischten Gruppe nicht gehören würde, frei über persönliche Themen und Probleme zu sprechen. Hier wirkte sich »Kultur« in unterschiedlicher Weise auf das Coaching aus: eine unterschiedliche Umgangsweise zwischen den Geschlechtern, in der Unvertrautheit mit dem Beratungsformat »Coaching«, in der Irritation über das Fehlen direkter Ratschläge, in der spezifischen kulturellen Codierung, was Arbeit in Zusammenhang mit Statusverlust bedeutet und – nicht zuletzt – in der existenziellen Sorge, ausgelöst durch Flucht. Coaching als Prozess mag in Deutschland bekannt und akzeptiert sein, aber in anderen Kulturen ist das Format der reflexiven Beratung eher ungewöhnlich. Pfab und Pfab sagen dazu: »Während Coaching als eine reflexive Beratungsform […], bei der die Person der Klientin und ihre Interaktionen und Beziehungen zu anderen Beteiligten des relevanten Systems im Fokus steht, in individualistischen Gesellschaften (zum Beispiel Westeuropa oder den USA) anschlussfähig ist, löst eine solche Interaktionsform in anderen Kulturen eventuell Irritationen, Verunsicherung und Peinlichkeit aus, weil Arbeitsprobleme anders kulturell kodiert und zugerechnet werden« (Pfab u. Pfab 2018, S. 434). Welche »Beratungskultur« wird hier skizziert – die »asiatische Kultur«, die der Hells Angels oder die aus Offenbach am Main? In meiner kenianischen Heimat sucht man Rat meistens in einer intimen Gruppe, z. B. Familie, Dorf, engere Freunde. Dabei spielen viele Aspekte eine Rolle, die mir auch in meiner persönlichen Erfahrung als Coach und interkultureller Trainerin wieder begegnet sind: –– Das Alter: Lebensalter wird mit Lebenserfahrung und -weisheit verbunden. Alter wird wertgeschätzt. Ist die Ratgeberin jünger (d. h. weniger Erfahrung und Lebensweisheit) als die Ratsuchende, muss sie besonders versuchen, ihre Kompetenz herauszustellen – es wird nicht gern gesehen, wenn jemand, der jünger ist, einen älteren Menschen berät. –– Die Hierarchie: jemand aus einer niedrigeren Schicht wird nicht als geeignet angesehen, jemanden aus einer höheren Schicht zu beraten.

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–– Das Geschlecht: Männer tun sich schwer damit, sich von Frauen beraten zu lassen. Männer sehen sich in vielen Kulturen noch als überlegen oder »das stärkere Geschlecht«. Das gilt allerdings nicht für alle Frauen. Männer folgen gern den Ratschlägen ihrer Mütter. Muttersein hat einen hohen Stellen­wert in vielen Ethnien. Es kommt also darauf an, die kulturellen Rollen­zuschreibungen zu berücksichtigen. –– Die Geschichte und ethnische Zugehörigkeit: Aus der Geschichte heraus gibt es immer noch Ethnien, die sich nicht gut verstehen. Ethnische Unterschiede bilden eine große Hürde, wenn z. B. jemand der Kikuyu jemanden der Luo beraten will. Die Aversionen sind wechselseitig und kaum zu vermeiden, weil diese beiden größten Ethnien in Kenia starke Rivalen sind und diese Rivalität leider immer noch politisch instrumentalisiert wird, um an Macht zu gelangen.

Edward T. Hall entwickelte ein Konzept, das sich insbesondere mit den Dimensionen Kommunikation (»high und low-context cultures«) (Hall 1977), Raum (Nähe, Distanz und Abgrenzung) (Hall 1966) sowie Zeit (monochron versus polychronem Zeitverständnis) auseinandersetzt (Hall 1983). Dazu Fallbeispiel 2 von Döppner: In einem Online-Coaching mit einer Teilnehmerin aus Spanien musste ich als Coach ständig auf meinen Coachee warten, und einmal hat sie sogar das Treffen sehr kurzfristig abgesagt. Da wurde mir klar, dass das unterschiedliche Zeitverständnis in einem Coachingprozess eine Rolle spielt und wie störend das sein kann. Ich habe den Umgang mit Zeit in unseren Coachings thematisiert, damit der weitere Verlauf nicht weiter gestört wird und damit auch die angestrebten Ziele des Coachees erreicht werden können. Mir wurde bewusst, wie sehr die Zeitdimensionen von Hall eine Rolle spielen können im Coaching.

Kulturstandards unterscheiden sich von Kulturdimensionen dahingehend, dass sie keinen »universalistischen Gültigkeitsanspruch« erheben, sondern »im Kern als ein kulturrelativistischer Ansatz zum Verständnis von Verhaltensunterschieden zu verstehen« sind (Thomas u. Utler 2013, S. 48). Sie sind laut Thomas »zentrale Merkmale des kulturspezifischen Orientierungssystems […]. Unter Kulturstandards werden alle Arten des Wahrnehmens, Denkens und Handelns verstanden, die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und andere als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich angesehen werden« (1993, S. 3815, zit. nach Thomas 2013, S. 50). »Sie wirken 5 Leider ist Thomas 1993 in der von mir genutzten Quelle Thomas 2013 im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt.

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wie ›implizite Theorien‹, steuern also unbewusst das Verhalten der Mitglieder einer Kultur« (von Schlippe 2008, S. 29). 3.2  Prozessorientierte Ansätze (Beziehungsebene) Insbesondere für eine von »zunehmender Pluralisierung und internationaler Vernetzung« geprägten Zeit stellt Bolten fest, dass »kollektive Wissensvorräte und kulturelle Stile« zwar fortbestehen, scheinbar Homogenes sich jedoch tatsächlich als sehr differenziert erweise, sodass die »jeweils konkreten und insgesamt einmaligen Sozialisationskontexte des Einzelnen« ebenfalls berücksichtigt werden müssten (2012, S. 73) (zur Berücksichtigung von Kontexten siehe auch den Beitrag von A. Pfab). Prozessorientierte Ansätze fragen daher nach unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten und kulturellen Aspekten, die für eine bestimmte Situation relevant sind. Mahadevan entwickelt eine »cross-cultural management«-Theorie und Praxis, der ein ganzheitlicher Blick auf Kultur zugrunde liegt (Mahadevan 2017, S. 1). Sie bezieht dabei fünf verschiedene Perspektiven ein: eine ethnologisch inspirierte »kulturelle Perspektive«, die eine Kultur »as a whole and without comparison« betrachtet und mit dem eigenen kulturellen Handeln in Verbindung bringt, sodass ein »kulturelles Bewusstsein« (»cultural awareness«) entsteht; eine kulturvergleichende Perspektive, die Unterschiede zwischen Kulturen wahrnimmt (»cross-cultural management«); eine interkulturelle, interaktionistische Perspektive, die durch das Erschaffen neuer (inter-)kultureller Bereiche ermöglichen soll, die kulturvergleichende Perspektive hinter sich zu lassen (»intercultural management«); eine kritische Perspektive, die mehrfache Kulturen in den Blick nimmt wie z. B. diversity und mehrere/vielfältige Identitäten (»critical multiple cultures management«) sowie eine machtsensible Perspektive, welche die Schnittstellen von Macht, Geschichte und Wissen anerkennt (»power-sensitive management«) (S. 2). Nazarkiewicz zufolge ist es »[f]ür einen kulturreflexiven Coach […] notwendig, auf einer Metaebene verschiedene Perspektiven einnehmen und wechseln zu können und die daraus jeweils folgenden Konsequenzen im Blick zu haben« (Nazarkiewicz 2018, S. 28). Coaches müssen ihrer Ansicht nach »Experten darin sein […], ihre Herangehensweisen an die individuellen, kulturübergreifenden und situativen Herausforderungen der Coachingpartner anzupassen. Es gilt, deren polykulturelles Selbstverständnis aufzugreifen und sie in der Multirelationalität zu unterstützen. Kulturen sind dann – dynamisch gedacht – Reziprozitäts­kontexte, in denen Gemeinsames be- oder entsteht und zu managen ist: in und außerhalb von Coaching« (S. 35). Für »transkulturelle Coaching-

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arbeit« ist es ihr und Krämer zufolge hilfreich, »die im interkulturellen Bereich entwickelten Überlegungen und relevanten Methoden und Modelle zu kennen, um sie einsetzen und bzw. gegebenenfalls auch wieder von ihnen absehen zu können« (Nazarkiewicz u. Krämer 2012, S. 125). 3.3  (Weitere) Beispiele aus unserer Coachingpraxis Die unterschiedlichen Ansätze bereichern die Deutungsfolien und das Interventionsrepertoire des Coaches. Nachdem die Kulturstandards und -dimensionen insbesondere zur Jahrhundertwende sehr in Mode waren (siehe S. 243) oder auch in den in den 1990er Jahren begonnenen GLOBE-Studien (Global Leadership and Organizational Behavior Effectiveness; Brodbeck 2016)6, plädieren ­neuere ­Forschungen für eine Herangehensweise, die stärker auf den Prozess und die Beziehungsgestaltung hin orientiert ist (vgl. Pauw 2017). Und doch wirken Kultur­standards nach wie vor und beeinflussen Sichtweisen, Haltungen, persönliche Werte und Herangehensweisen durch mehr oder weniger bewusste Vorurteile oder »Grundannahmen« – auch im Coaching. Bolten stellt fest, dass man »auf Typisierungen […] nicht gänzlich verzichten können [wird], weil sie helfen, Komplexität zu reduzieren und Handlungssicherheit zu vermitteln« (Bolten 2013, S. 7). Man sollte sich also im Einzelfall fragen, welchen Nutzen das Thematisieren von (welchen) Kulturstandards im jeweiligen Coachingprozess hat (z. B. ein größeres Verständnis für eine bestimmte Verhaltens­weise oder einen bestimmten Kommunikationsstil) und wobei es hinderlich ist (z. B. könnte ein durch Stereotype angeregtes Schubladendenken eine differenzierte Wahrnehmung verhindern). Verfehlt wäre es, einen Coachee z. B. mit einer nationalkulturellen Identifikation in seiner komplexen Persönlichkeit zu reduzieren. Auch Bolten weist darauf hin, dass »Typisierungen, wenn überhaupt, dann so zu verwenden [sind], dass keine Festschreibungen i. S. von stereos (dt. ›starr‹) entstehen, sondern kulturelle Handlungsorientierungen flexibel, offen und in angemessener Weise unsicher bleiben« (Bolten 2013 S. 4). Dazu Fallbeispiel 3 von Döppner: In einer interkulturellen Supervision an einer Hochschule ging es darum, zu verstehen, warum so viele ausländische Studierende ihre Abschlüsse nicht schafften und 6 Aber auch heute noch finden sich insbesondere im Bereich des interkulturellen Managements Bestseller wie Meyers »The Culture Map. Decoding how people think, lead, and get things done across cultures« (Meyer 2015).

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es so viele Konflikte mit ihnen gab. Die Studierenden, die aus dem Mittleren Osten kommen, erwarteten, dass man versteht, dass sie aus einer anderen Kultur kommen und sie dort andere Handlungsweisen und Standards haben. Die Mitarbeiterinnen und Professoren aus dem betroffenen Fachbereich baten mich zu klären, worin die Probleme liegen könnten. Lag das an der Kommunikation? War das interkulturell? Spielten die zugeschriebenen Vorurteile gegen die ausländischen Studierenden eine Rolle in dem Konflikt? Klar war, dass der Fachbereich unzufrieden war mit der Leistung der ausländischen Studierenden. Im Laufe der Supervisionssitzung kam auch die Frustration darüber zur Sprache, dass die ausländischen Studierenden erwarteten, dass man die Standards von den deutschen Studierenden reduziert, nur um den ausländischen Studierenden entgegenzukommen. Ich hatte in der Supervision den Eindruck, dass die ausländischen Studierenden als eher faul und nicht sehr leistungsorientiert gesehen wurden. Hier war es wichtig, zu erkennen, wie schmal der Grat zwischen Kulturstandards und Stereotypen ist, und zu versuchen, eine vernünftige Lösung mit dem Fach­bereich zu erarbeiten – ohne sich an Stereotypen zu klammern. Natürlich ist es wichtig und gut zu wissen, welche kulturellen Aspekte eine Rolle spielen könnten, damit der Coach in diesem Fall weiß, womit er es zu tun hat, aber noch wichtiger ist, nicht zuzulassen, dass die Stereotype im Vordergrund stehen und dadurch den Prozess des Coaching oder der Supervision beeinflussen. Die Kulturstandards sollen eine Hilfe im Sinne einer Orientierung sein, um das Verhalten des Coachees zu verstehen.

Unter diesen Voraussetzungen liefern die oben skizzierten Ansätze Hinweise …  … für eine angemessene Einschätzung der Person des Coachees und seines Verhaltens in der Coachingsituation: Hier kann Wissen über Kulturstandards der Herkunftskultur des Coachees aufschlussreich sein, unter anderem über ȤȤ individualistische und kollektivistische Kulturen (Hofstede), ȤȤ unterschiedlichen Umgang mit Zeit (Hall), ȤȤ unterschiedlichen Umgang mit Grenzen (Raum), Distanz und Nähe (Hall), ȤȤ unterschiedliche Umgangsweisen in Bezug auf Respekt und Höflichkeit, ȤȤ Unterschiede zwischen direkter und indirekter Kommunikation (u. a. Hall), ȤȤ unterschiedliche Werte. Diese Aspekte sollten auch berücksichtigt werden …  … für einen angemessenen Umgang mit interkulturellen Themen bei der Bearbeitung des Anliegens eines Coachees. Dazu gehört darüber hinaus eine ange­ messene Wahl aus Interventionsmöglichkeiten: So könnten bestimmte Interventionen in einer bestimmten Kultur tabuisiert sein, wie z. B. Provokationen. Andere könnten besonders anschlussfähig sein, wie narrative Interventionen, Arbeit mit

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Geschichten, Metaphern, Symbolen oder auch rituelle Elemente im Coaching (siehe dazu A. Pfab 2018). Insbesondere bei der Auswahl von Methoden oder Interventionen kann es hilfreich sein, evtl. kulturell geprägte Denk- und Arbeitsweisen zu berücksichtigen (siehe oben, S. 248, Einschätzung der Person des Coachees und seines Verhaltens). Eine kulturell verankerte Zeitstruktur (siehe dazu ausführlich Hall 1983), beispielsweise ein starker Bezug auf Gegenwart, Vergangenheit oder eine starke Zukunftsorientierung, wirken sich auf die Methodenauswahl aus: »Futur II7« als eine weit auf die Zukunft ausgerichtete Intervention wäre beispielsweise in stark gegenwartsbezogenen Kulturen keine gute Wahl.  … für eine angemessene Prozessgestaltung: In interkulturellen Coachingprozessen sollte sich ein Coach damit auseinandersetzen, welche Kultur wie viel der beispielhaft folgenden Herangehensweisen verträgt – oder auch geradezu braucht für einen erfolgreichen Coachingprozess: ȤȤ Smalltalk vorab (z. B. ist es bei vielen kollektivistischen Kulturen wie in Afrika, Nahost usw. wichtig, zuerst über Familie zu reden und zu fragen, was im Moment gerade wichtig ist, um Interesse zu zeigen. Das kreiert ein wichtiges und nötiges Fundament, auf dessen Grundlage man dann die eigent­lichen Themen besprechen kann. Dies könnte vieles im anschließenden Prozess erleichtern.),

ȤȤ Höflichkeitsregeln (z. B. ob man sich gegenseitig unterbrechen darf oder bezüglich der Benutzung von Handys während der Coachingsitzung), ȤȤ unterschiedliche Zeitstrukturen (die sich im Coaching z. B. auf Terminvereinbarungen und das Einhalten von zeitlichen Absprachen auswirken kann), ȤȤ Entscheidungs- und Hierarchiefragen (z. B. wer darf welche Entscheidungen treffen?), ȤȤ Statusfragen, ȤȤ direkte oder indirekte Fragen, ȤȤ Hypothesenbildung, ȤȤ eine klare und konkrete Zielorientierung und -formulierung (dies erweist sich in stark kollektivistisch geprägten Kulturen unter Umständen als große Blockade im Coaching). Speziell im Coaching kommt noch ein kulturell geprägter Umgang mit Beratung hinzu, der in der einschlägigen Literatur zu inter- oder transkulturellem 7 »Futur II« versetzt den Coachee in eine mehrere Jahre entfernt liegende Zukunft, in der seine Ziele bereits verwirklicht wurden. Nachdem dieses »Zielbild« auf kognitiver, aber auch emotionaler Ebene erkundet wurde, führt man den Coachee Schritt für Schritt (oder Jahr für Jahr) zurück in die Gegenwart, sodass er herausfinden kann, welche »kleinen Schritte« notwendig sind, um sein Ziel erreichen zu können. Eine ähnliche Methode beschreibt auch Korn (2014, S. 145 ff.).

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Coaching unserer Kenntnis nach regelmäßig unerwähnt bleibt8: Wer holt sich in welcher Kultur Rat und von wem? In welchen Angelegenheiten? Wie direkt darf die Beratung erfolgen bzw. wie indirekt muss sie erfolgen (z. B. nur durch Metaphern oder anhand von Geschichten)? Wie offen (oder überhaupt) kann zugegeben werden, Rat zu benötigen (Gesichtswahrung)? So ist Coaching als personenorientierte Beratungsform in individualistisch geprägten Gesellschaften hoch anschlussfähig, in kollektivistischen Gesellschaftsformen kann es einem Coachee dagegen schwerfallen, sich selbst so in den Mittelpunkt zu stellen. Hier kann z. B. eine andere Herangehensweise helfen, die weniger personenbezogene Fragen stellt (oder erst in einem zweiten Schritt), sondern organisations- oder gesellschaftsbezogene wie: »Welchen Nutzen hat Ihr Coaching für Ihr Unternehmen?«, »Worin könnte ein Vorteil liegen, Ihr eigenes Handeln zu reflektieren?« Möglicherweise muss ein Coachee erst für den Coachingprozess gewonnen werden – und zwar aus einer anderen Motivation heraus, als dies bei einem Coachee aus einer individualistisch geprägten Gesellschaft der Fall wäre.  … für ein angemessenes eigenes Verhalten als Coach – dazu gehört neben den bereits genannten Aspekten eine kulturelle Bewusstheit (cultural awareness) eigener kultureller Hintergründe sowie Selbstreflexion des eigenen Verhaltens. Dies ist gerade auch bei der Arbeit mit Kulturstandards wichtig, um zu vermeiden, uns selbst oder unsere Coachees als »Andere« zu charakterisieren, da dies einen Dialog auf Augenhöhe verhindere (van Nieuwerburgh 2017, S. 445 f.). »Interculturally-sensitive coaches will necessarily have to develop their capacity to practise humility. This means that a coach would not presume that their cultural beliefs and values are in any way superior to those of their coachees« (S. 446). Interkulturelles Coaching erfordert kontinuierliche eigene Weiterentwicklung (continuous learning), eine erhöhte Sensibilität gegenüber kulturellen Einflüssen sowie Anpassungsfähigkeit (Abbott u. Salomaa 2017, S. 456). Sowohl ein lösungsorientierter Ansatz als auch eine systemisch-konstruktivistische Herangehensweise bieten konstruktive Möglichkeiten im interkulturellen Coaching, aber auch kreative Ansätze (siehe auch den Beitrag von Budde-­Schneider) oder Psychodrama haben sich in interkulturellen Coachings bewährt. Eine kulturreflexive, prozessorientierte Herangehensweise kann z. B. darin bestehen, zu fragen, was wem im gemeinsamen Prozess/der gemeinsamen 8 Von Schlippe et al. weisen immerhin darauf hin, dass Beratungseinrichtungen je nach Kulturkreis nicht als »unverbindliches Angebot« angesehen würden (von Schlippe et al. 2008, S. 79), und fragen, ob »es überhaupt ein entsprechendes Wort für professionelle Beratung oder Therapie« gäbe (S. 80). Beratungsrelevante Aspekte von Interkulturalität erörtert W. Pfab (in Vorb.).

Interkulturelle Perspektiven im Coaching

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Arbeit besonders wichtig ist und so zum gegenseitigen Verständnis beitragen, eine größere Toleranz zu entwickeln. Statt auf Unterschiede (wie bei Kulturstandards) zu fokussieren, hat sich in unserer Coachingpraxis eine ressourcenorientierte Herangehensweise bewährt: Wo liegen (kulturelle) Vorteile für ein gemeinsames Projekt oder zu bewältigende Aufgaben? Wer bringt welche Stärken mit, auf die im Coaching­prozess – oder auch dem »Heimatsystem« eines Coachees – aufgebaut werden kann? Bildliches oder metaphorisches Denken hat sich auch für Abbott und S­ alomaa bewährt, »to holisitically engage with these reciprocal influences and the interrelationship of multiple variables and perspectives« (Abbott u. Salomaa 2017, S. 460). Darüber hinaus sehen wir insbesondere Ambiguitätstoleranz, Offenheit für Neues und Unbekanntes, Selbstreflexivität, die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche Kulturen und Sichtweisen einzulassen, »switchen können«, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, aber auch, mehrere Perspektiven in den Blick zu nehmen als wesentliche Kompetenzen, die ein Coach im Umgang mit Interkulturalität benötigt – zusätzlich zu Coachingwissen und -kompetenzen.

Literatur Abbott, G. N., Salomaa, R. (2017). Cross-cultural coaching: An emerging practice. In T. Bachkirova, G. Spence, D. Drake (Eds.), The Sage handbook of coaching (pp. 453–469). London u. a.: Sage. Bolten, J. (2012). Interkulturelle Kompetenz (Neuaufl.). Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Bolten, J. (2013). Fuzzy Cultures: Konsequenzen eines offenen und mehrwertigen Kulturbegriffs für Konzeptualisierungen interkultureller Personalentwicklungsmaßnahmen. Mondial, 4–9. Brodbeck, F. C. (2016). Internationale Führung. Das GLOBE-Brevier in der Praxis. Hrsg. von F. C. Brodbeck, E. Kirchler, R. Woschee. Berlin/Heidelberg: Springer. Earley, P. C., Ang, S. (2003). Cultural intelligence: Individual interactions across cultures. Stanford, C. A.: Stanford University Press. Gröschke, D. (2013). Kompetenzen im Umgang mit Stress in interkulturellen Settings. In P. Genkova, T. Ringeisen, F. T. L. Leong (Hrsg.), Handbuch Stress und Kultur. Interkulturelle und kulturvergleichende Perspektiven (S. 473–488). Wiesbaden: Springer. Hall, E. T. (1966). The hidden dimension. Garden City: Doubleday. Hall, E. T. (1977). Beyond culture. Garden City: Anchor Press. Hall, E. T. (1983). The dance of life. The other dimension of time. New York: Anchor Books. Hofstede, G. (1980). Culture’s consequences. International differences in work-related values. Beverly Hills: Sage. House, R. J., Hanges, P. J., Javidan, M., Dorfman, P. W., Gupta, V. (Eds.) (2004). Culture, leadership, and organizations: The GLOBE study of 62 Societies. Thousand Oaks et al.: Sage. Korn, H.-P. (2014). Blick zurück in die Zukunft. In P. Röhrig, Solution Tools. Die 60 besten, sofort einsetzbaren Workshop-Interventionen mit dem Solution Focus (5. Aufl.) (S. 145–151). Bonn: managerSeminare. Mahadevan, J. (2017). A very short, fairly interesting and reasonably cheap book about cross-­ cultural management. Los Angeles u. a.: Sage.

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Meyer, E. (2015). The Culture Map. Decoding how people think, lead, and get things done across cultures. New York: PublicAffairs. Nazarkiewicz, K. (2018). Was ist interkulturelles Coaching? 20 Jahre und (k)ein bisschen Klarheit. In Organisationsberatung – Supervision – Coaching, 25, 21–39. Nazarkiewicz, K., Krämer, G. (2012). Handbuch Interkulturelles Coaching. Konzepte, Methoden, Kompetenzen kulturreflexiver Begleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pauw, D. (2017). Beziehungsgestaltung im interkulturellen Coaching. Eine erste empirische Annäherung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Pfab, A. (2018). Übergangsrituale im Coaching: Bedeutung und Einsatzmöglichkeiten. In Organisationsberatung – Supervision – Coaching, 25, 487–500. Pfab, A., Pfab, W. (2018). Coaching. In S. Habscheid, A. Müller, B. Thörle, A. Wilton (Hrsg.), Handbuch Sprache in Organisationen (S. 424–443). Berlin u. a.: De Gruyter. Pfab, W. (in Vorb.). Kompetent beraten in den Sozialen Diensten. München/Basel: Reinhardt. Schlippe, A. von, El Hachimi, M., Jürgens, G. (2008). Multikulturelle systemische Praxis. Ein Reise­ führer für Beratung, Therapie und Supervision (3. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Thomas, A. (2013). Psychologie der interkulturellen Zusammenarbeit. In A. Thomas, Leben und Arbeiten in internationalen Kontexten. Schriftensammlung zur interkulturellen Kompetenz (S. 45–84). Münster: Lit. Thomas, A., Utler, A. (2013). Kultur, Kulturdimensionen und Kulturstandards. In P. Genkova, T. Ringeisen, F. T. L. Leong (Hrsg.), Handbuch Stress und Kultur. Interkulturelle und kulturvergleichende Perspektiven (S. 41–58). Wiesbaden: Springer. Trompenaars, F., Woolliams, P. (2004). Business Weltweit. Der Weg zum interkulturellen Management. Hamburg: Murmann. Tylor, E. B. (1871). Primitive culture: Researches into the development of mythology. London: John Murray. Van Nieuwerburgh, C. (2017). Interculturally-sensitive coaching. In T. Bachkirova, G. Spence, D. Drake (Eds.), The Sage handbook of coaching (pp. 439–452). London u. a.: Sage.

Die Autorinnen und Autoren

Eckhard Budde-Schneider, Diplom-Sozialpädagoge/Heilpädagoge, Praxis für Gestalttherapie, Supervision und Coaching. Ausbilder für Gestalttherapie und Supervision, Lehrtherapeut und Lehrsupervisor am Symbolon-Institut, Nürnberg, und Dozent im Weiterbildungsstudium »Professionelles Coaching und Supervision« der Hochschule Fulda. Mitglied der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie (DVG), der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv) und der Psychotherapeutenkammer Hessen (LPPKJP Hessen). www.budde-schneider.de; [email protected] Wolfgang Dinger, Diplom-Theologe, Supervisor, Gruppenanalytiker, Lehrsupervisor, Dozent u. a. im Weiterbildungsstudium »Professionelles Coaching und Supervision« der Hochschule Fulda sowie der Katholischen Akademie für Jugendfragen. Gutachter für Zertifizierung der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv). Zahlreiche Veröffent­lichungen zu Super­vision und Coaching. Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv) und beim Institut für Gruppenanalyse Heidelberg (IGA). [email protected] Gudrun Dobslaw, Prof. Dr. für Beratung und Intervention an der Fachhochschule Bielefeld, Supervisorin, zertifizierte Projektmanagerin (Level D), Ausbilderin für Care und Case Management, Dozentin im Weiterbildungsstudium »Professionelles Coaching und Supervision« der Hochschule Fulda. Zahlreiche Ver­öffentlichungen. Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv) und der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management e. V. (DGCC). www.fh-bielefeld.de; [email protected] Collet Wanjugu Döppner, M. A. in »Intercultural Communication and European Studies«, selbstständige Trainerin und Beraterin, vorwiegend im Hochschulkontext (u. a. sieben Jahre DAAD-Tutorin zur Beratung internationaler

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Die Autorinnen und Autoren

Studierender, Online-Coachings an der Hochschule Fulda zur Vorbereitung und Unterstützung von Auslandsaufenthalten). Coach und Beraterin im Migrationsbereich und im Rahmen des europäischen »Open-eye«-Austauschprogramms zur Unterstützung junger Unternehmer und Unternehmerinnen. [email protected] Margot Klinkner, Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin, stellv. Geschäftsführerin der zfh – Zentrum für Fernstudien im Hochschulverbund, Koblenz. Dozentin an diversen Hochschulen zu den Themen Kommunikation, Selbstwahrnehmung und Gesundheitsmanagement. Sprecherin der DGWF-Landesgruppe Rheinland-Pfalz und Saarland und Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium (DGWF) e. V. www.zfh.de; [email protected] Antje Pfab, M. A., Ethnologin, Coach und Supervisorin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda, Leitung des Weiterbildungsstudiums »Professionelles Coaching und Supervision« (zertifiziert bei der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V.). Laufendes Promotionsprojekt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Bedeutung von Übergangsriten in der reflexiven Beratung. Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv) www.hs-fulda.de; [email protected] www.zielklaerung.de; [email protected] Werner Pfab, Prof. (em.) Dr. für Theorie und Praxis sozialer Kommunikation, HS Fulda. Kommunikationswissenschaftler und Diplompsychologe. Ehemaliger Leiter der Weiterbildungsstudiengänge »Sozialkompetenz« und »Professionelles Coaching und Supervision« (zusammen mit Antje Pfab). Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. zu Beratungs- und Konfliktkommunikation. [email protected] Helmut Reichert, M. A. in Philosophie, Supervisor, Gestalttherapeut, Lehr­ beauftragter für TZI, Gründung und ehem. Leitung des Instituts »Supervision und TZI e. V.«, ehem. Dozent im Weiterbildungsstudium »Professionelles Coaching und Supervision« der Hochschule Fulda. Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv), Mitglied der Fachgruppe Supervision des Ruth Cohn Institute for TCI international. www.supervisionsausbildung.net www.coaching-bereichert.de; [email protected]

Die Autorinnen und Autoren

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Ingmar Rothe, M. A., Diplom-Sprechwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kommunikations- und Medienforschung an der TU Chemnitz. Trainer für professionelle Telefonie in der Personalentwicklung und mündliche Kommunikation, E-Trainer. Seit 2015 Doktorand im Forschungsprojekt CrossWorlds an der TU Chemnitz, das die Kopplung realer und virtueller sozialer Welten auf vielfältige Weise untersucht. Veröffentlichungen u. a. zu Telefonkommunikation und Gesprächskompetenz. Mitglied bei der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e. V.), International Pragmatics Association (IPrA) und Scrum Alliance. www.tu-chemnitz.de; [email protected]