Inschriftlichkeit: Materialität, Präsenz und Poetik des Geschriebenen im höfischen Roman 9783110689693, 9783110689266

The study addresses some of the best-known fictive inscriptions in the German courtly literature of the High Middle Ages

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Inschriftlichkeit: Materialität, Präsenz und Poetik des Geschriebenen im höfischen Roman
 9783110689693, 9783110689266

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
2. Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius
3. Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois
4. Die ganze Welt kontrollieren: Reinfried von Braunschweig
5. Kontrolliert werden: Wolframs von Eschenbach Parzival, Albrechts Jüngerer Titurel, der Lohengrin
6. Schluss
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie
Index

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Astrid Lembke Inschriftlichkeit

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von  Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 37

Astrid Lembke

Inschriftlichkeit

Materialität, Präsenz und Poetik des Geschriebenen im höfischen Roman

Als Habilitationsschrift angenommen von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 2019. Fertiggestellt durch die Gewährung eines Feodor Lynen-Stipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung.

ISBN 978-3-11-068926-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068969-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068974-7 ISSN 2198-932X Library of Congress Control Number: 2020939962 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Cod.Pal.germ. 848, Blatt 355v. Wikimedia Commons Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Danksagung 

1

2 Einleitung Forschungspositionen zu Inschriften und Inschriftlichkeit 15 Definitionen, Fragen und Ziele 18 Vorgehensweise

4



Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius 23 27 . Gregorius’ Tafel in der Forschung 29 Allegorizität: Die Schreibtafel als Gesetzestafel Medialität: Vermittlung zwischen Zeiten, Orten und Menschen 39 Materialität: Die Beschriftung, Zerstörung und Wiederherstellung des Schriftträgers 43 48 . Selbstkontrolle und Kontrolle über das Kind 50 Das Geständnis der Mutter Die Identität des Sohnes 56 66 Gestörte Herrschaft . Die Tafel in älteren und jüngeren Bearbeitungen des Stoffs 72 72 Gesteigerte Präsenz in der französischen Vorlage 82 Modifikationen in den Versbearbeitungen Reduktionen in den Prosabearbeitungen 89 93 . Lebendige und verlebendigende Lektüren Der Prolog: Die Wegmetapher als Sinnbild des Lesens und Dichtens 93 Der Epilog: Die Geschichte vom Papier lösen 98 Paratexte und Gattungsfragen: Wie lesen? 100



Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois 106 . Das letzte Wort 109 Dilemma und Hoffnung des Erzählers 110 115 Männer verständigen sich Die Widerständigkeit einer Frau und die Macht ihres Epitaphs 118 . Finale Gegenständlichkeit 126 128 Einschlüsse und Ausschlüsse Geistliche und weltliche Deutungsangebote 131 Christliche und nicht-christliche Lesarten 137

VI

Inhalt

. Bestattungen und Beschriftungen auf dem Weg zur Herrschaft 142 143 Ohnmacht und Ermächtigung Gräber und Schriftstücke als Zeichen von Handlungsfähigkeit 148 Schwache Helden und lebendige Tote in jüngeren Bearbeitungen des Stoffs 158 161 . Die Auferweckung des Textes Artifizialität und Geltung 163 Vielgestaltige Idealität 169 174 Heterogenität und Hybridität 

Die ganze Welt kontrollieren: Reinfried von Braunschweig 180 184 . Schriftprothesen Das Begehren dauerhafter Präsenz 185 190 Innenräume und Außenwirkung, Stillstand und Beweglichkeit 194 Die Tode von Autor und Sängerin . Selbstbeschreibungen 200 200 Schreibende erfinden sich Pragmatische Liebe und Liebespassion 208 214 Vorsorge für die Zukunft 218 . Schrift als Handlungsgenerator Appelle im Briefverkehr 219 225 Verbote als Antrieb zum Wissenserwerb Räumliche Einschränkungen und narrative Grenzenlosigkeit 231 237 . Orientierung im Archiv 239 Räume begehen und Geschichten verstehen Geschriebenes sammeln, ordnen und darstellen 243 247 Textarbeit



Kontrolliert werden: Wolframs von Eschenbach Parzival, Albrechts Jüngerer Ti251 turel, der Lohengrin . Briefe vom Himmel 255 Ephemere Schriftlichkeit 256 264 Rätselhafte Inhalte Steuerung durch Sendschreiben 269 274 . Die Materialität der Gralinschriften Die Gegenständlichkeit des Grals 275 280 Sakrale Eigenmächtigkeiten 287 Verortungen und Einhüllungen der göttlichen Schrift . Was tun, wenn Gott schreibt? 295 295 Expertise, Verständnis und Ratlosigkeit auf der Gralburg Die totalitären Systeme des Grals 300 Die Exklusivität der lesenden Gemeinschaft 308

VII

Inhalt

. Vom ‚world building‘ zur Gemeinschaftsstiftung 314 Der Gral als Fluchtpunkt einer gemeinsamen erzählten Welt Beglaubigte Erzählungen – kontrolliertes Erzählen 324 Rezeptionsgemeinschaften 334 

318

340 Schluss Dimensionen von Inschriftlichkeit 341 Resultate inschriftlicher Kommunikation: Kontrolle und Kontrollverlust 350 Ausblick

Abkürzungsverzeichnis Bibliographie 355 355 Quellen 357 Forschung Index

378

354

346

Danksagung Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2019 von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen. Ein großer Dank gilt der Alexander von Humboldt-Stiftung, die es mir durch die Gewährung eines Feodor Lynen-Stipendiums ermöglicht hat, den größten Teil des Buchs während eines Forschungsaufenthalts in Kanada fertigzustellen. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich auch Markus Stock vom Department of Germanic Languages and Literatures der University of Toronto, der mir ein fabelhafter Gastgeber war. Herzlich bedanken möchte ich mich bei Andreas Kraß, der meinen Weg auch auf diesem Abschnitt begleitet hat, wie auch bei meinen Heidelberger Gutachtern Ludger Lieb und Tobias Bulang, die mir ebenfalls wichtige Anregungen und Hinweise gegeben haben. Für die Aufnahme in die Reihe ‚Deutsche Literatur. Studien und Quellen‘ danke ich den Herausgeberinnen Beate Kellner und Claudia Stockinger. Ohne Bob Göhler wäre mir noch viel mehr hilfreiches Material nicht zugänglich gewesen – ich danke ihm von Herzen. Für die hervorragende Unterstützung beim Fertigstellen des Manuskripts danke ich Christine Hehle und Stina Metter, für die sorgfältige Betreuung seitens des Verlags Robert Forke und Anett Rehner. Janin Afken, Nataša und Drazen Bedeković, Beschka Gloy, Corinna Glück, Ralf Hofmann, Traudl, Herbert und Falk Lembke, Stephan Müller, Ann Marie Rasmussen, Martin Schuhmann, Barbara Segelken, Regina Toepfer und Anna Wojtkowiak danke ich für die guten Jahre und freue mich mit ihnen auf die Zeit, die vor uns liegt. Gewidmet ist das Buch Jacob Klingner. Berlin, Juli 2020

https://doi.org/10.1515/9783110689693-001

1 Einleitung ‚hie liget frouwe Dîdô, / diu mâre und diu rîche, / diu sich sô jâmerlîche / dorch minne zû tôde erslûch‘ (Eneasroman 80,10 – 13).¹ ‚Hier liegt die Herrin Dido, die Berühmte und Mächtige, die sich so elend um der Liebe willen selbst tötete.‘

Knappe Grabinschriften wie diese, von der Heinrich von Veldeke in seinem Eneasroman erzählt, sind in der deutschsprachigen Literatur des Hochmittelalters nicht selten. Ähnlich wie viele andere intradiegetische Inschriften in höfischen Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts versorgt das Epitaph auf die karthagische Königin Dido seine Rezipientinnen und Rezipienten – d. h. sowohl die Figuren im Roman als auch das Publikum des Romans – mit Informationen, die ihnen dabei helfen sollen, Zustände und Prozesse innerhalb der erzählten Welt nachzuvollziehen und zu deuten. Zugleich aber werfen solche Inschriften als auf Dauer gestellte, von ihren Sprecherinnen oder Absendern abgetrennte Reden stets auch Fragen auf, die den hermeneutischen Sachverstand der Leser herausfordern: Weiß man, wer Didos Epitaph in Auftrag gegeben oder angefertigt hat? Warum ist diese Inschrift im Vergleich zum Epitaph auf dem Grab der Camilla so kurz? Sollte man für die Deutung des knappen Textes beachten, dass die Worte in goldenen Buchstaben auf einem grünen Edelstein angebracht wurden, während andere Grabinschriften im selben Roman aus anderen Materialien gemacht sind? Bildet die auf die oben zitierten Worte folgende Feststellung daz was wunderlîch genûch, / sô wîse sô si was (Eneasroman 80,14– 15: Das war sehr seltsam, da sie doch eigentlich so klug war) einen Teil der Grabinschrift oder kommentiert hier bereits der Erzähler die von ihm geschilderten Ereignisse und die innerhalb der Handlung geäußerte schriftliche Rede über diese Ereignisse? Welchen Einfluss hätte eine solche Annahme auf mögliche Interpretationen der Passage oder sogar der gesamten Erzählung? Wahrscheinlich hat man die Grabinschrift, die Didos Geschichte beschließt, zumeist auch deshalb höchstens am Rande beachtet, weil die in der Erzählung zuvor beschriebenen Umstände von Didos Tod um so vieles spektakulärer sind als ihr lakonisches Epitaph.² Dies gilt auch für eine der Inschriften in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland. In diesem Roman wird erzählt, dass man in Tarsis eine Säule

 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986.  Immerhin hat man sie überhaupt beachtet, wenn auch nicht im selben Ausmaß wie die beschrifteten Grabmäler des Pallas und der Camilla im selben Text. Vgl. z. B. Joachim Hamm: Camillas Grabmal. Zur Poetik der ‚dilatatio materiae‘ im deutschen Eneasroman, in: LwJb 45 (2004), S. 29 – 56; Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2003, S. 89 – 115. https://doi.org/10.1515/9783110689693-002

1 Einleitung

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mit einer goldenen Statue des Herrschers aufstellt, die eine Inschrift zu seinen Ehren trägt: Dem pilde in der rechten handt / Ain groß brieff wart pekantt. / Da stund an gegraben suß: / ‚Ich kunig Appolonius, / Furste da zu Tyrlant, / Pey disem pild tuen pekant / Das ich die Tarsere / Loßt auß grosser schwere / Mit leibnär und mit speyse. / Da von pin ich zu preyse / Her gesatzt, wie es ergie, / Und pin sein gezeug alhie‘ (Apollonius 1223 – 1234).³ In der rechten Hand der Statue war ein großes Schriftstück zu sehen, auf dem folgende Worte eingraviert waren: ‚Mit diesem Bild tue ich, Apollonius, Fürst von Tyrland, bekannt, dass ich die Menschen von Tarsis mit Nahrung und Speise aus großer Mühsal erlöst habe. Aus diesem Grund wurde ich zum Lobpreis aufgestellt, um kundzutun, wie es geschah, und zeuge hier dafür.‘

Auch diese intradiegetische Inschrift kann man schlicht als kurze Zusammenfassung des bisher Erzählten betrachten und rasch darüber hinweglesen, um weiter dem Handlungsverlauf zu folgen. Man könnte jedoch auch neugierig werden: Wer äußert sich hier? An wen richtet sich der Text? Was genau soll er mitteilen? Spielt es für die Rezeption eine Rolle, dass sich die Inschrift auf einem aus heterogenen Materialien und Einzelteilen zusammengesetzten Schriftträger (Marmorsäule, Diamantsockel, Goldstatue) befindet? Eine Untersuchung des inschriftlichen Herrscherpreises steht noch aus – vielleicht erschienen kurze Texte wie dieser den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich bislang für intradiegetische Schriften interessierten, einfach zu konventionell und zu wenig aufsehenerregend, um sie näher zu betrachten. In der germanistischen Forschung haben jedenfalls bisher jene intradiegetischen Inschriften die größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die von realen Inschriften so weit entfernt sind wie der Graltempel im Jüngeren Titurel von einer fränkischen Dorfkirche: etwa das ausführliche Epitaph im Mausoleum des Königs Helmas und der Königin Persine in Thürings von Ringoltingen Melusine, die mit Edelsteinen geschriebene Liebesgeschichte auf dem Brackenseil in Wolframs Titurel, die ephemeren göttlichen Botschaften auf dem Gral in Wolframs Parzival oder die wundersame, einen schrecklichen Krieg auslösende Schrift auf dem Apfel der Discordia in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. Im Folgenden werde ich mir eine Reihe von intradiegetischen Inschriften in deutschen höfischen Romanen des hohen Mittelalters genauer ansehen, wobei ich als ‚Inschrift‘ in diesem Zusammenhang jeglichen ‚Text im Text‘ betrachte, dessen materiale Beschaffenheit und physische Handhabung in der Erzählung thematisiert werden. Fragen möchte ich danach, ob und wie es möglich ist, solche intradiegetischen Schriftstücke als Interpretationsschlüssel zu verwenden. Was sagen der Inhalt und die Machart intradiegetischer Inschriften, aber auch das, was in der Diegese über die Rezeption von und den Umgang mit diesen Inschriften erzählt wird, darüber aus,

 Heinrich von Neustadt: ‚Apollonius von Tyrland‘ nach der Gothaer Handschrift. ‚Gottes Zukunft‘ und ‚Visio Philiberti‘ nach der Heidelberger Handschrift. Hg. von Samuel Singer. Mit 3 Tafeln. 2., unveränderte Auflage. Dublin, Zürich 1967.

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1 Einleitung

welche Ansichten höfische Autoren zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten kulturellen Kontext über die Kulturtechniken des Schreibens und des Lesens pflegten? Lassen sich aus solchen Reflexionen über die Potenziale und Grenzen schriftlicher Kommunikation Schlüsse über höfische Perspektiven auf das Schaffen erzählender Texte mithilfe von Schrift ziehen? Diese Arbeit geht von der Annahme aus, dass hochmittelalterliche höfische Dichter nicht nur in den Prologen ihrer Romane literaturtheoretische Programme entwerfen, wie Walter Haug dies in seiner Studie zur Literaturtheorie im deutschen Mittelalter beschrieben hat.⁴ Vielmehr tun sie es zuweilen auch innerhalb der Handlung, und zwar unter anderem dann, wenn sie vom Lesen und Schreiben, manchmal aber auch nur von der Existenz schriftlicher Texte erzählen. Was die Dichter außerhalb der Diegese – also in Prologen, Epilogen und Erzählerexkursen – allgemein erörtern, das führen sie innerhalb der erzählten Welt an konkreten Schriftstücken und an Schreib- und Lektüreprozessen vor, die einen Teil ebendieser erzählten Welt bilden. Möglicherweise kann man sich daher mithilfe intradiegetischer Inschriften neue Zugänge zum Verständnis der Texte verschaffen, in deren Handlung sie eingebettet sind und auf deren umfassendere Logik sie zuweilen vignettenhaft verweisen. An einigen solchen Stellen innerhalb der Handlung, an denen die Wirkweisen von Schrift thematisiert werden, wird, so der Ausgangspunkt meiner Argumentation, die Frage aufgeworfen, wie es möglich ist, schreibend und lesend Sinnzusammenhänge herzustellen, Kontrolle über Schriftprodukte zu behalten und auf diese Weise das eigene Leben zu beherrschen. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Reflexion über mögliche Beziehungen zwischen Einzelnem und Gemeinschaft sowie über die sozialen Hierarchien, die solche Beziehungen stabilisieren. In meiner Untersuchung werde ich anhand mehrerer Fallbeispiele vorführen, welches Spektrum an Überlegungen zu den Bedingungen des Schreibens, Lesens und Dichtens, aber auch zu Kontrolle und Kontrollverlust einige Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts in ihren Texten eröffneten, wie sie sich dabei in literarische Traditionen einfügten und wie sie ihrerseits Einfluss auf jüngere Autoren ausübten, die sich nach ihnen mit dem Zusammenhang von Dichtung und Schrift auseinandersetzten.

Forschungspositionen zu Inschriften und Inschriftlichkeit Schrift und der Umgang mit Schrift und Schriftlichkeit im europäischen Mittelalter bilden einen umfangreichen Themenkomplex, mit dem sich seit langer Zeit nicht nur die mediävistische Geschichtswissenschaft, sondern auch die Literaturwissenschaft beschäftigt. Weitreichende Erkenntnisse erlangte man in den vergangenen Jahrzehnten unter anderem über mittelalterliche Lese- und Schreibpraktiken,⁵ die körperlichen  Vgl. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung. Darmstadt 1985.  Vgl. z. B. Sonja Glauch und Jonathan Green: Lesen im Mittelalter. Forschungsergebnisse und Forschungsdesiderate, in: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Bd. 1: Theorie und For-

Forschungspositionen zu Inschriften und Inschriftlichkeit

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und sinnlichen Aspekte von Kommunikation, Medialität und Intermedialität⁶ sowie den Zusammenhang zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung.⁷ Was mittelalterliche Inschriften und ‚Inschriftlichkeit‘ angeht, d. h. die spezifische Form und Funktion epigraphischen Schrifttums, so konzentrierte man sich in der historischen und in der historisch orientierten literaturwissenschaftlichen Forschung zum einen auf reale Inschriften, sei es mit Blick auf den Texttyp Inschrift, auf einzelne Textzeugen oder auf Typen von Textzeugen.⁸

schung. Hg. von Ursula Rautenberg. Berlin 2010, S. 361– 410; Dennis H. Green: Medieval Listening and Reading. The primary reception of German Literature 800 – 1300. Cambridge 1994; Karl Brunner und Gerhard Jaritz (Hg.): Text als Realie. Wien 2003; Michael Stolz und Adrian Mettauer (Hg.): Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation. Berlin, New York 2005; Martin Steinmann: Lesen und Schreiben in den Klöstern des frühen Mittelalters, in: Teaching writing, learning to write. Hg. von Pamela R. Robinson. London 2010, S. 25 – 35.  Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; Horst Wenzel (Hg.): Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. München 1997; Michael Curschmann: Wort, Bild, Text. Studien zur Medialität des Literarischen in Hochmittelalter und früher Neuzeit. 2 Bde. Baden-Baden 2007; Christian Kiening: Medialität in mediävistischer Perspektive, in: Poetica 39 (2007), S. 285 – 352; Rüdiger Schnell: Literaturwissenschaft und Mediengeschichte. Kritische Überlegungen eines Mediävisten, in: IASL 34 (2009), S. 1– 48; Haiko Wandhoff: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur. Berlin 1996.  Vgl. Paul Zumthor: La lettre et la voix. De la ‚littérature‘ médiévale. Paris 1987; Ursula Schaefer: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Mittelalter, in: Aufriß der historischen Wissenschaften. Bd. 5. Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung. Hg. von Michael Maurer. Stuttgart 2003, S. 148 – 187; Walter Haug: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 376 – 397; Michael Curschmann: Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200, in: PBB 106 (1984), S. 218 – 257; Dennis H. Green: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im höfischen Roman des 13. Jahrhunderts, in: Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Hg. von Paola Schulze-Belli und Michael Dallapiazza. Göppingen 1990, S. 67– 82; Alois Wolf: Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1995.  Vgl. Friedrich Panzer: Inschriftenkunde. Die deutschen Inschriften des Mittelalters und der Neuzeit, für die zweite Auflage bearbeitet von Heinrich Köllenberger, in: Deutsche Philologie im Aufriß. Hg. von Wolfgang Stammler. Bd. 1. Berlin 21966, Sp. 333 – 378; Renate Neumüllers-Klauser (Hg.): Vom Quellenwert der Inschriften. Heidelberg 1992; Walter Koch: Inschriftenpaläographie des abendländischen Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bd. 1: Früh- und Hochmittelalter. Wien 2007; Gertrud Blaschitz: Wort und Bild auf Realien. Ein Versuch zur Systematik von Inschriften, in: Text als Realie. Hg. von Karl Brunner und Gerhard Jaritz. Wien 2003, S. 263 – 296. Zu Inschriften an spezifischen Orten oder auf spezifischen Artefakten vgl. z. B. Hans Ulrich Schmid: Die mittelalterlichen deutschen Inschriften in Regensburg. Edition, Untersuchungen zur Sprache, Abbildungen. Frankfurt a. M. 1989; Harald Drös: Mittelalterliche und frühneuzeitliche Inschriften in Württemberg. Neuere Ergebnisse der epigraphischen Forschung, in: ZWLG 72 (2013), S. 481– 508; Harald Drös: Tradition und Wandel an der Schwelle zur Neuzeit. Inschriften auf Waffen, Rüstungen und Kriegsgerät, in: Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext. Hg. von Christine Magin, Ulrich Schindel und Christine Wulf. Wiesbaden 2008, S. 277– 296; Klaus Düwel: Kämme mit Runeninschriften, in: Die deutsche Sprache in der Gegenwart. Festschrift für Dieter Cherubim zum

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1 Einleitung

Zum anderen wurden auch Studien zu erzählten Schriften in erzählenden Texten vorgelegt. Im Anschluss an Nikolaus Henkels Aufsatz zur „Stellung der Inschriften des deutschen Sprachraums in der Entwicklung volkssprachlicher Schriftlichkeit“ versammelt etwa Ulrich Ernst im Kapitel „Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters“ seines Buchs über Facetten mittelalterlicher Schriftkultur eine große Anzahl von intradiegetischen Schriften, die er den Kategorien ‚Inschriften‘ (‚Waffeninschriften‘, ‚Epitaphien‘, ‚Varietäten der Inskription‘), ‚Briefe‘ und ‚Skripturale Spiele‘ zuordnet.⁹ Ernsts Ziel ist es, ein Gegengewicht zu dem in der Forschung weit verbreiteten Interesse an Formen der Oral Poetry zu bilden und stattdessen die mittelalterliche Faszination an Schrift und Schriftlichkeit in den Vordergrund zu rücken. Die Textstellen werden systematisiert, wörtlich zitiert und in ihren Textzusammenhang eingebettet. Eine eingehende Interpretation der einzelnen Passagen oder auch der Gesamttexte muss angesichts der großen Fülle von Belegstellen notwendigerweise ausbleiben. Eine breit angelegte Überblicksstudie, die mehrere Beispiele interpretierend zueinander in Beziehung setzt, legte Elisabeth Martschini mit ihrer Dissertation zu Schrift und Schriftlichkeit in höfischen Erzähltexten des 13. Jahrhunderts vor.¹⁰ Untersucht werden darin Erwähnungen von und Erzählungen über Schrift in einer Reihe von Texten, die Martschini daraufhin befragt, inwiefern in ihnen die Problemfelder Identität und Identifikation, Beständigkeit, Liebe, Recht und Schriftkritik sowie die gesellschaftlichen Voraussetzungen für höfische Schriftdiskurse reflektiert werden. Allerdings nimmt sich auch diese Monographie zugleich viel und wenig vor: Die Erkenntnisse, die eine Systematisierung erzählter Schriftpraktiken ermöglichen könnte, werden dadurch beschränkt, dass auf 180 Seiten zehn höfische Romane betrachtet werden – das Ergebnis ist auch hier letztlich nur ein relativ grober Überblick über einige Themenbereiche, die höfische Autoren in ihren Werken mit Schrift und Schriftlichkeit in Verbindung bringen. Darüber, wie man womöglich die jeweiligen

60. Geburtstag. Hg. von Stefan J. Schierholz u. a. Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 11– 22; Friedrich E. Grünzweig: Runeninschriften auf Waffen. Inschriften vom 2. Jahrhundert n.Chr. bis ins Hochmittelalter. Wien 2004; Ines Heiser: Freidank-Inschriften, in: ZfdA 131 (2002), S. 488 – 493 sowie Ines Heiser: Freidank-Inschriften II, in: ZfdA 132 (2003), S. 239 – 248; Ann Marie Rasmussen: Badges. Abzeichen als sprechende Objekte, in: Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Monika Unzeitig, Angela Schrott und Nine Miedema. Berlin, Boston 2017, S. 469 – 487.  Vgl. Nikolaus Henkel: Die Stellung der Inschriften des deutschen Sprachraums in der Entwicklung volkssprachiger Schriftlichkeit, in: Vom Quellenwert der Inschriften. Hg. von Renate NeumüllersKlauser. Heidelberg 1992, S. 161– 187; Ulrich Ernst: Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration, Wissen und Wahrnehmung. Heidelberg 2006, S. 1– 148.  Vgl. Elisabeth Martschini: Schrift und Schriftlichkeit in höfischen Erzähltexten des 13. Jahrhunderts. Wien 2012 (Diss. masch.); vgl. auch Elisabeth Martschini: ‚buochelîn unde griffelîn‘. Lesen und Schreiben in höfischen Romanen um 1200. Saarbrücken 2009.

Forschungspositionen zu Inschriften und Inschriftlichkeit

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Texte von den in ihnen enthaltenen Inschriften her neu lesen könnte, erfährt man nicht viel.¹¹ Hilfreiche Informationen über mittelalterliche, aber auch frühneuzeitliche und moderne Perspektiven auf Schreiben und Schrift liefert hingegen der von Christian Kiening und Martina Stercken herausgegebene und 2008 erschienene Sammelband SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, der aus der Arbeit des Schweizer Nationalen Forschungsschwerpunkts ‚Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven‘ hervorging.¹² Zwar spielt in Christian Kienings ausführlicher Einleitung und den verschiedenen Kurzbeiträgen die Gattung des höfischen Romans nur am Rande eine Rolle.¹³ Dafür beschreiben und interpretieren Kiening und die einzelnen Beiträgerinnen und Beiträger aber zahlreiche konkrete Beispiele mithilfe historisierender und epochenübergreifender Ordnungskategorien, die für detailliertere systematische Untersuchungen von Einzeltexten genutzt werden können (Geheimnis, Aura, Heil, Bewegung). Darüber hinaus gibt die Einleitung wertvolle Hinweise zu modernen Schrifttheorien, etwa die von Jacques Derrida (De la grammatologie und L’écriture et la différance von 1967) und von Roland Barthes (Variations sur l’écriture, verfasst 1973, postum veröffentlicht). Weitere Aspekte vormoderner und vor allem moderner Inschriftlichkeit werden in dem 2019 von Ulrich Rehm und Linda Simonis herausgegebenen Sammelband Poetik der Inschrift beleuchtet.¹⁴ Sinnvoll ergänzen lassen sich diese Ausführungen mithilfe des zweibändigen, interdisziplinären Handbuchs Schrift und Schriftlichkeit/Writing and its Use, 1994 und 1996 herausgegeben von Hartmut Günther und Otto Ludwig. Darin widmen sich die Beiträgerinnen und Beiträger neben allgemeinen Aspekten von Schrift und Schriftlichkeit auch materialen und formalen Aspekten, der Geschichte der Schrift, verschiedenen Schriftkulturen, funktionalen, gesellschaftlichen und psychologischen Aspekten, Bedingungen des Schrifterwerbs, sprachlichen Aspekten von Schrift und Schriftlichkeit sowie Sonderschriften.¹⁵

 Noch kursorischer ist der Blick auf Hartmanns Gregorius, Gottfrieds Tristan, Wolframs Titurel, Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich und den Fortunatus in Albrecht Classen: The Book and the Power of Reading in Medieval High German Literature. Mystery, Enlightenment, Spirituality, and Love, in: The Book and the Magic of Reading in the Middle Ages. Hg. von Albrecht Classen. New York, London 1998, S. 61– 97.  Vgl. Christian Kiening und Martina Stercken (Hg.): SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne. Zürich 2008.  Zu volkssprachlichen Schriftlichkeitsdiskursen des Hochmittelalters vgl. Christian Kiening: Die erhabene Schrift. Vom Mittelalter zur Moderne, in: SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne. Hg. von Christian Kiening und Martina Stercken. Zürich 2008, S. 8 – 126, hier S. 44– 54.  Vgl. Poetik der Inschrift. Hg. von Ulrich Rehm und Linda Simonis. Heidelberg 2019.  Vgl. Hartmut Günther und Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung/An Interdisciplinary Handbook of International Research. 2 Bde. Berlin, New York 1994/1996.

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1 Einleitung

Mit Blick auf Schreib- und Leseakte, Inschriften und Inschriftlichkeit in höfischen Romanen und anderen erzählenden Texten des Hoch- und Spätmittelalters lohnt es besonders, sich die zahlreichen verstreuten, kürzeren Untersuchungen anzusehen, die sich textimmanenten Schriften in bestimmten Gattungen und Texttypen¹⁶ oder aber einer Inschrift oder mehreren Inschriften in einzelnen Texten widmen.¹⁷ Als besonders einflussreich haben sich auf diesem Gebiet die Arbeiten Peter Strohschneiders erwiesen. Strohschneider arbeitete in mehreren Aufsätzen die Bedeutung einer ganzen Reihe von intradiegetischen Schriften und ihren Schriftträgern heraus.¹⁸ Die Resultate seiner Einzeluntersuchungen zu den Büchern des heiligen Brandan, zum schriftlichen Vermächtnis des heiligen Alexius oder zu den Sternenschriften im  Vgl. z. B. zu Schrift in Minnereden Ludger Lieb: Minne schreiben. Schriftmetaphorik und Schriftpraxis in den ‚Minnereden‘ des späten Mittelalters, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hg. von Mireille Schnyder. Berlin, New York 2008, S. 191– 220; Michael R. Ott und Flavia Pantanella: Geschriebenes erzählen. Erzählte Inschriften in Minnereden aus narrativer, poetologischer und materialer Perspektive, in: Zwischen Anthropologie und Philologie. Beiträge zur Zukunft der Minneredenforschung. Hg. von Iulia-Emilia Dorobanţu, Jacob Klingner und Ludger Lieb. Heidelberg 2014, S. 329 – 362. Zu Körperschriften in der Visionsliteratur Urban Küsters: Auf den fleischernen Tafeln des Herzens. Körpersignatur und Schrift in der Visionsliteratur des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Hg. von Klaus Ridder und Otto Langer. Berlin 2002, S. 251– 273. Zu Schriftkommunikation im Liebes- und Reiseroman Werner Röcke: Liebe und Schrift. Deutungsmuster sozialer und literarischer Kommunikation im deutschen Liebes- und Reiseroman des 13. Jahrhunderts. (Konrad Fleck: ‚Florio und Blanscheflur‘, Johann von Würzburg: ‚Wilhelm von Österreich‘), in: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Werner Röcke und Ursula Schaefer. Tübingen 1996, S. 85 – 108.  Auch aus der großen Fülle von Untersuchungen zur Thematisierung von Schrift in einzelnen Texten seien nur wenige Beispiele genannt: Zur augustinischen Metapher der Welt als Buch und zu Büchern in mittelalterlichen Brandanerzählungen vgl. Beatrice Trînca: Brandans Buch der Welt − eine konkretisierte Metapher, in: Spatial Metaphors. Ancient Texts and Transformations. Hg. von Fabian Horn und Cilliers Breytenbach. Berlin 2016, S. 205 – 219; zu Gahmurets Grabinschrift im Parzival vgl. Heiko Hartmann: Gahmurets Epitaph (Pz. 107,29 ff.), in: ABäG 61 (2006), S. 127– 149; zum Lesen und Schreiben im Jüngeren Titurel vgl. Annette Volfing: Medieval Literacy and Textuality in Middle High German. Reading and Writing in Albrecht’s ‚Jüngerer Titurel‘. New York 2007; zu verschiedenen Schriften in der Melusine vgl. André Schnyder: Sehen und Hören, Rede und Schrift beim Stiften von Erinnerung im Melusineroman Thürings von Ringoltingen, in: Daphnis 35 (2006), S. 377– 400; zur Schrift auf dem Brackenseil im Titurel vgl. Elisabeth Schmid: ‚Dâ stuont âventiur geschriben an der strangen‘. Zum Verhältnis von Erzählung und Allegorie in der Brackenseilepisode von Wolframs und Albrechts ‚Titurel‘, in: ZfdA 117 (1988), S. 79 – 97; und zu den Grabinschriften im Prosa-Lancelot vgl. Christiane Witthöft: Finalität. Grabinschriften in der Untergangserzählung des ‚Prosalancelot‘, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hg. von Udo Friedrich, Andreas Hammer und Christiane Witthöft. Berlin 2014, S. 243 – 265.  Vgl. Peter Strohschneider: Der Abt, die Schrift und die Welt. Buchwissen, Erfahrungswissen und Erzählstrukturen in der Brandan-Legende, in: Scientia Poetica 1 (1997), S. 1– 34; Peter Strohschneider: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Alexius‘, in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hg. von Gert Melville und Hans Vorländer. Köln 2002, S. 109 – 147; Peter Strohschneider: Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens, in: Wolfram-Studien 19 (2006), S. 33 – 58.

Forschungspositionen zu Inschriften und Inschriftlichkeit

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Reinfried von Braunschweig und in Wolframs Parzival synthetisierte er in seiner 2014 erschienenen Monographie zu Höfischen Textgeschichten. ¹⁹ Gemeint sind damit Geschichten, in denen höfische Dichtung auf der „Ebene des Textes, seiner Textualität und seiner Medialität“ davon erzählt, was sie ist, wie sie entsteht und wie sie funktioniert.²⁰ Der Anspruch von Strohschneiders Untersuchungen besteht darin, „nicht die Beobachtung mittelalterlicher Texte, sondern die Beobachtung der Selbstbeobachtungen mittelalterlicher Texte“ zu fokussieren.²¹ Er geht dabei von der Annahme aus, dass höfische Literatur (im weitesten Sinn, und das heißt zunächst: Literatur am und für den Hof) ein innovatives Phänomen ist, zu dessen Verständnis und Handhabung die mittelalterlichen Autoren lange nicht auf vertraute und stabile Traditionen zurückgreifen können. Anders als die Formen und Methoden mündlicher Überlieferung ist das Nutzen von Schrift zum Zweck des Schaffens und Weitergebens von Dichtung im Hochmittelalter keine Selbstverständlichkeit. Diesen Umstand reflektieren die höfischen Dichter zuweilen, wenn sie daran mitwirken, geeignete Instrumente zu schaffen, mit deren Hilfe sie die Besonderheiten der neuen medialen Gegebenheiten in einer kulturellen Umgebung nutzen, die viel öfter auf persönliche Präsenz, körpergebundene Interaktion und Face-to-Face-Kommunikation setzt als auf Schrift.²² Zugleich kennt die christliche Adelsgesellschaft aber auch Alternativen zu Präsenz und direktem, sinnlichem Austausch. Ihre Auffassung von schriftlichen Texten wird schließlich unter anderem durch die Tatsache geprägt, dass Gott sich den Menschen nicht nur im ‚Buch der Natur‘ (also schriftlich im übertragenen Sinn) mitteilt, sondern auch im Medium einer konkreten Offenbarungsschrift, nämlich eines heiligen Buchs im wörtlichen Sinn. Zur Bibel befinden sich die höfischen Schriften – vor allem diejenigen mit eher profanen Schwerpunkten – in einem Verhältnis, das sowohl von Nähe als auch von Distanz bestimmt ist: Obwohl die Dichter wissen, dass das, was sie aufschreiben oder aufschreiben lassen, niemals eine ähnliche Geltung beanspruchen kann wie die Heilige Schrift, partizipieren ihre Texte durch Kontiguität an der Heiligkeit des ‚Buchs der Bücher‘. Diesen Effekt verstärken sie in manchen Fällen, indem sie auf materialer oder inhaltlicher Ebene Bezüge herstellen, die ihre eigenen ‚Bücher‘ und Texte auratisieren und ihnen auf diese Weise verstärkt Geltung verleihen.²³ Das Komplexitätsniveau, das die höfische Literatur im 13. Jahrhundert erreicht, erzwingt die Annahme, so Strohschneider, „dass Komposition wie Distribution dieses Erzählens die Funktionsmöglichkeiten von Schrift konstitutiv voraussetzen, und das heißt hier: voraussetzen im Sinne einer zwar nicht hinreichenden, aber doch notwendigen Bedingung ihrer Möglichkeit“.²⁴ Damit ge-

 Vgl. Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg 2014.  Strohschneider, Textgeschichten, S. 13.  Strohschneider, Textgeschichten, S. 27.  Vgl. Strohschneider, Textgeschichten, S. 4– 6.  Vgl. Strohschneider, Textgeschichten, S. 7– 8.  Strohschneider, Textgeschichten, S. 4.

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meint ist nicht nur, dass höfische Erzählungen schriftlich fixiert, konserviert und weitergegeben werden, sondern auch, dass Schriftlichkeit als Konzept fundamental die Art und Weise beeinflusst, mit der Dichtung imaginiert und Texte geplant und gemacht werden. Was die Dichter, Auftraggeber und Schreiber mithilfe schrifttragender Artefakte überliefern, ist demnach nicht ‚verschriftete‘ mündliche Rede, sondern, ein ‚verschriftlichtes‘ Erzählen, dem die Schriftlichkeit auf allen Ebenen inhärent ist. Mit der Skripturalisierung des Erzählens und der Reflexion über die Bedingungen und Folgen dieses Prozesses entsteht etwas Neues, nämlich ‚Literatur‘ im Wortsinn.²⁵ Peter Strohschneider zeigt an seinen Textbeispielen, dass eine Gesellschaft, in der es keine Selbstverständlichkeit ist, Schriftstücke in großer Menge, mühelos und mit stabil bleibendem Wortlaut zu reproduzieren, andere Vorstellungen von Schriftlichkeit und Textualität besitzt als eine Gesellschaft, die Mechanismen zur Vervielfältigung und Standardisierung schriftlicher Texte kennt. Diese Beobachtung steht auch im Mittelpunkt des Heidelberger Sonderforschungsbereichs 933 ‚Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften‘, an dessen Arbeit die vorliegende Studie anschließt. Einen wichtigen Grundlagentext für die Ausrichtung des Sonderforschungsbereichs bildet eine Studie, in der der Altorientalist Markus Hilgert zur Entwicklung einer ‚Text-Anthropologie‘ anregt.²⁶ In Anlehnung an Hans Beltings Konzept der ‚Bild-Anthropologie‘ setzt die ‚Text-Anthropologie‘ voraus, dass kein Text einen von vorneherein festgelegten Sinn enthält, den ihm sein Autor eingeschrieben hat und den es folglich in der Rezeption zu eruieren gilt, sondern dass jeglicher Sinn dem Text in jedem Rezeptionsakt neu zugeschrieben wird. Damit rücken menschliche Akteure und menschliche Praktiken an Objekten (in diesem Fall die vielfältige Rezeption von Texten) in den Fokus der wissenschaftlichen Untersuchung. Die Bedeutung von Schriftquellen in je spezifischen historischen Kontexten wird erschlossen über die Betrachtung „des Netzes sozialer (Rezeptions‐)Praktiken, in das das Geschriebene als artefaktisches ‚Objekt‘ und ‚Repräsentation‘ epistemischen Handelns eingebunden ist“.²⁷ Wie aber, so fragt Hilgert, lassen sich Rezeptionspraktiken rekonstruieren, wenn die meisten historischen Zeugnisse, auf die eine historisch orientierte Geisteswissenschaft zugreifen kann, schriftlicher Natur sind? Die Befragung von ‚Metatexten‘, also von Texten, die über Texte sprechen, verschiebt letztlich nur das Problem – auch Metatexte sind in ihrer Bedeutung nicht festgelegt, sie besitzen „keinen substantiell immanenten, universell identischen Sinngehalt“.²⁸ Für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler ist diese Erkenntnis wahrscheinlich keine große Überraschung, wissen sie

 Vgl. Strohschneider, Textgeschichten, S. 4.  Vgl. Markus Hilgert: ‚Text-Anthropologie‘. Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin 142 (2010), S. 87– 126.  Hilgert, Text-Anthropologie, S. 92– 93.  Hilgert, Text-Anthropologie, S. 96 (im Original kursiv).

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doch, dass kein Text die Gegebenheiten, unter denen er entstanden ist, wirklichkeitsgetreu abzubilden vermag, selbst wenn sein Verfasser dies beabsichtigt. Trotzdem sind solche Texte mit ihren Kontexten auf die eine oder andere Weise eng verknüpft. Hilgert nennt das Beispiel des Zitierens als Rezeptionspraxis: Wenn der Verfasser eines Textes explizit oder implizit Bezug auf einen anderen Text nimmt, dann kann man daraus schließen, dass er diesen Text in irgendeiner Weise kannte. Aus dem Modus, in dem der rezipierte Text in den Metatext eingebaut wurde, kann wiederum gemutmaßt werden, was der Autor von seiner Quelle hielt und welche Absichten er damit verfolgte, dass er sie in seinen eigenen Text wörtlich, paraphrasiert oder als Anspielung inserierte. Dabei bleiben allerdings viele Fragen offen, etwa: Wer war der Verfasser und warum schrieb er überhaupt? Warum schrieb er diesen und nicht einen anderen Text? Welche Quellen standen ihm außer den genannten zur Verfügung und wie kam er zu ihnen? Warum entschied er sich für das eine Zitat und nicht für ein anderes?²⁹ Um diese Fragen wenigstens annäherungsweise zu beantworten und die Lücken in der Beobachtung so weit wie möglich zu schließen, schlägt Hilgert vor, sich nicht ausschließlich auf die Informationen zu verlassen, die man aus den Inhalten der überlieferten historischen Texte schöpfen kann, sondern zusätzlich verstärkt die Schriftträger in ihrer Materialität und Präsenz daraufhin zu befragen, was sie über die Rezeption von und den Umgang mit Schrift verraten. Mit dem Begriff der Materialität adressiert Hilgert die physischen, sinnlich erfahrbaren Eigenschaften der Dinge, mit deren Hilfe Schrift überliefert wird.³⁰ Mit Präsenz wiederum ist die „Position der Artefakte in Relation zu anderen Artefakten, natürlich-physischen Objekten und den Körpern handelnder Subjekte, ihr ‚Vorhanden-Sein‘“ gemeint,³¹ und zwar – in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht – kein sozusagen passives Vorhandensein, sondern eines, das einen Einfluss auf menschliche Akteure ausübt. Wer sich dafür interessiert, wie Schrift in non-typographischen Gesellschaften gehandhabt wurde, sollte sich nicht ausschließlich mit Metatexten beschäftigen, die von Schrift, Schriftlichkeit und spezifischen Texten sprechen. Er sollte auch die Materialität und Präsenz von schrifttragenden Artefakten in den Blick nehmen, d. h. ihre dingliche, stoffliche Gemachtheit und Zusammengesetztheit sowie ihr Potenzial, die Welt ihrer Benutzer durch Interaktion mit diesen wie auch mit anderen Gegenständen zu definieren und zu verändern. Als Benutzer gelten dabei auch die Produzenten der Objekte in ihrer Rolle als ‚erste Rezipienten‘. Als Leitlinien für die interdisziplinäre Forschung nennt Markus Hilgert sechs Hypothesen zur Beschreibung und Interpretation von (schrifttragenden) Artefakten: 1. Artefakte sind von Menschen hergestellte Gegenstände, deren Materialität sich nicht in ihren physikalischen oder chemischen Eigenschaften erschöpft.Vielmehr

 Vgl. Hilgert, Text-Anthropologie, S. 96.  Vgl. Hilgert, Text-Anthropologie, S. 98.  Hilgert, Text-Anthropologie, S. 99. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004.

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gehen sie aus menschlichen Handlungen hervor, die ihnen ihren spezifischen Charakter verleihen. Artefakte sind keine passiven Objekte, sondern „nehmen als ‚Aktanten‘ effektiv an sozialen Praktiken teil“.³² Menschliche Handlungsspielräume und folglich auch Handlungen werden durch die Anwesenheit der Artefakte beeinflusst. Die Effektivität eines Artefakts in der Interaktion von Menschen ist daran gebunden, wie es gemacht ist. Das heißt: Wie das Artefakt wirkt, hängt davon ab, in welcher Weise seine materiale Gemachtheit dazu führt, dass es von den an ihm und mit ihm handelnden Menschen in bestimmte Wissensordnungen und Bedeutungssysteme einsortiert wird. Um wirken zu können, muss das Artefakt präsent und in Relationen eingebunden sein. Es ist notwendig, dass es Einfluss auf andere Artefakte, auf nicht durch menschliche Einwirkung modifizierte Gegenstände oder auf die Körper lebendiger Akteure nehmen kann. Die Relationen, in die es eingebunden ist, sind ihrerseits „das Ergebnis sozialer Praktiken und damit ebenfalls Ausdruck handlungswirksamer Wissensordnungen und Sinnzuschreibungen“.³³ Artefakte, die Schrift tragen, transportieren keine stabilen, dem Inhalt der Schrift oder der Materialität und Präsenz des Gegenstands inhärenten Bedeutungen. Ihr Bedeutungsgehalt wird bei jeder Handhabung neu festgelegt. Die Anwesenheit eines Artefakts konstituiert maßgeblich den Raum, in dem es sich befindet und den menschliche Akteure für soziale Handlungen nutzen können.

Der praxeologische Ansatz Markus Hilgerts wurde in den vergangenen Jahren von Teilprojekten des Heidelberger SFBs 933 angewandt und weiterentwickelt, die sich mit ganz unterschiedlichen Facetten der Materialität und Präsenz von Schrift in verschiedenen non-typographischen Gesellschaften auseinandersetzen.³⁴ Untersucht wurden seit 2011 unter anderem die sogenannte papierene Umwälzung im spätmittelalterlichen Europa, antike Briefe als Kommunikationsmedium, die Rolle der

 Hilgert, Text-Anthropologie, S. 102 (im Original kursiv).  Hilgert, Text-Anthropologie, S. 103 (im Original kursiv).  Von den Publikationen des SFB, die von fachübergreifendem Interesse sind, sind beispielsweise folgende zu nennen: Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Berlin, Boston 2015; Tobias Frese, Wilfried E. Keil und Kristina Krüger (Hg.): Verborgen, unsichtbar, unlesbar – zur Problematik restringierter Schriftpräsenz. Berlin, Boston 2014; Joachim Friedrich Quack und Daniela Luft (Hg.): Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften. Berlin, Boston 2014; Annette Kehnel und Diamantis Panagiotópoulos (Hg.): Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften. Berlin, Boston 2014; Susanne Enderwitz und Rebecca Sauer (Hg.): Communication and Materiality. Written und Unwritten Communication in Pre-Modern Societies. Berlin, Boston 2015; Markus Hilgert (Hg.): Understanding Material Text Cultures. A Multidisciplinary View. Berlin, Boston 2016; Joachim Quack, Klaus Oschema und Carina Kühne-Wespi (Hg.): Zerstörung von Geschriebenem. Historische und transkulturelle Perspektiven. Berlin, Boston 2019.

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Schreiber im islamischen Kanzleiwesen, Materialisierungen religiöser Texte im Alten Ägypten, mittelalterliche Reliquienauthentiken, Schrift und Schriftzeichen an mittelalterlichen Kunstwerken und die Medialität und Materialität illuminierter Querrollen im mittelalterlichen Japan. Ein Projektbereich beschäftigt sich mit Metatextualität, beispielsweise im Alten Testament, in der antiken augusteischen Literatur, in der griechischen Geschichtsschreibung und in vormodernen iberischen Literaturen. In diesem Feld ist auch das Projekt ‚Inschriftlichkeit. Reflexionen materialer Textkultur in der Literatur des 12. bis 17. Jahrhunderts‘ angesiedelt, aus dem die vorliegende Untersuchung hervorgegangen ist. Das Teilprojekt widmet sich nur in geringem Umfang realen mittelalterlichen Inschriften. Der Schwerpunkt liegt auf Inschriften ‚zweiter Ordnung‘, von denen in anderen Texten – d. h. in der Terminologie Markus Hilgerts: in Metatexten – die Rede ist.³⁵ Um zu definieren, welche Formen von Geschriebenem im Teilprojekt als ‚Inschriften‘ betrachtet werden, orientiert man sich allerdings an extratextuellen Maßstäben: Gemeint ist „Geschriebenes, das eingeritzt, eingegraben, aufgetragen oder plastisch geformt wird, mithin Formen des Geschriebenen jenseits einer Standardschriftlichkeit, für die im europäischen Mittelalter das Schreiben mit Feder und Tinte auf Pergament steht“.³⁶ Das Projekt argumentiert also ex negativo, ähnlich wie Rudolf Kloos in seiner mittlerweile schon klassischen Definition von realen Inschriften: Ihm zufolge handelt es sich bei diesen um „Beschriftungen verschiedener Materialien – in Stein, Holz, Metall, Leder, Stoff, Email, Glas, Mosaik usw. – die von Kräften und mit Methoden hergestellt sind, die nicht dem Schreibschul- oder Kanzleibetrieb angehören“.³⁷ In seinen „Neun Thesen zur höfischen Textualität im Spiegel textimmanenter Inschriften“ formuliert Ludger Lieb eine etwas flexibler einsetzbare Definition: „‚Inschrift‘ soll alle Texte bezeichnen, die mit dem Material, auf dem sie als eingeschriebene (eingegrabene, eingeritzte, applizierte oder aufgemalte) zu sehen und zu fühlen sind, eine gesteigerte Verbindung eingehen.“³⁸ In einer Vielzahl von Aufsätzen haben die an dem Teilprojekt Beteiligten verschiedene Aspekte vormoderner Inschriftlichkeit beleuchtet, indem sie textimma-

 Die Rede von Texten oder Inschriften ‚zweiter Ordnung‘ oder ‚zweiter Stufe‘ orientiert sich an Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993 (erstmals Paris 1982). Ich folge in der Definition von Metatextualität Ludger Lieb, für den „Metatexte Texte und Textpassagen sind, die Aussagen machen über Geschriebenes und über das Handeln, das sich auf Geschriebenes bezieht“. Ludger Lieb: Spuren materialer Textkulturen. Neun Thesen zur höfischen Textualität im Spiegel textimmanenter Inschriften, in: Höfische Textualität. Festschrift für Peter Strohschneider. Hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Stephan Müller. Heidelberg 2015, S. 1– 20, hier S. 5 (FN 14).  Ludger Lieb und Michael R. Ott: Schnittstellen. Mensch-Artefakt-Interaktion in deutschsprachigen Texten des 13. Jahrhunderts, in: Metatexte. Erzählungen von schrifttragenden Artefakten in der alttestamentlichen und mittelalterlichen Literatur. Hg. von Friedrich-Emanuel Focken und Michael R. Ott. Berlin, Boston 2016, S. 265 – 279, hier S. 267.  Rudolf M. Kloos: Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Darmstadt 2 1992, S. 2.  Lieb, Spuren, S. 2.

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nente Inschriften auf ihre materialen Eigenschaften hin untersuchten. Sie konzentrierten sich dabei beispielsweise auf die Affordanz (d. h. den Angebotscharakter) der Grabinschriften Didos, Gahmurets und des Sprechers in einem Lied Heinrichs von Morungen;³⁹ auf den Apfel der Discordia, das Brackenseil und den Gral als ‚Schnittstellen‘ zwischen menschlichen Akteuren und Dingen;⁴⁰ auf die agency der Tafel des Gregorius;⁴¹ auf die Beweglichkeit von Philomelas beschriftetem Gürtel, der Tafel des Gregorius, des Brackenseils und des Körpers Heinrich Seuses,⁴² auf die Bedeutung von Waffeninschriften für den Heldenstatus von Rittern wie Roland, Ortnit und Galaat⁴³ oder auf das Geschlecht der Inschriften auf dem Apfels der Discordia und auf der Lanze, die Anfortas verwundet.⁴⁴ Im Anschluss an ältere Arbeiten zu textimmanenten oder – wenn es um erzählende Texte ging – intradiegetischen Inschriften wurden damit weitere Stichproben unternommen, die zeigten, dass man textimmanente Inschriften in der Literatur des deutschsprachigen Mittelalters und darüber hinaus auf ganz unterschiedliche Weise systematisieren kann. Die in die jeweiligen Texte eingebauten Erzählungen über die Materialität und Präsenz der schrifttragenden Artefakte wurden je nach Fragestellung und Kontext der Untersuchung unterschiedlich gedeutet. Diese Studien gehen häufig induktiv vor: Ihr Ausgangspunkt ist die Menge aller bekannten Inschriften in der mittelalterlichen Literatur, die zuerst nach zuvor festgelegten Kategorien gruppiert werden, sodass aus dem Vergleich von einander aufgrund wechselnder Kriterien ähnlichen Inschriften Schlüsse über die Charakteristika der einzelnen Untermengen (z. B. Grabinschriften, lokomobile Inschriften,Waffeninschriften) oder über bestimmte Facetten von Inschriftlichkeit (z. B. die Eigenschaften von Mensch-Ding-Verbindungen) gewonnen werden können.

 Vgl. Ludger Lieb und Ricarda Wagner: Dead Writing Matters? Materiality and Presence in Medieval German Narrations of Epitaphs, in: Writing Matters: Presenting and Perceiving Monumental Texts in Ancient Mediterranean Culture. Hg. von Irene Berti, Katharina Bolle, Fanny Opdenhoff und Fabian Stroth. Berlin, Boston 2017, S. 15 – 26.  Vgl. Lieb/Ott, Schnittstellen.  Vgl. Michael R. Ott: Die Tafel des Gregorius als schrifttragendes Artefakt, in: ZGerm 25 (2015), S. 253 – 267.  Vgl. Ludger Lieb und Michael R. Ott: Schrift-Träger. Mobile Inschriften in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, in: Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften. Hg. von Annette Kehnel und Diamantis Panagiotópoulos. Berlin, Boston 2014, S. 15 – 36.  Vgl. Michael R. Ott: Der Held, die Waffe, die Schrift. Aspekte einer Dreiecksbeziehung in deutschsprachigen Texten des 13. Jahrhunderts, in: Helden, Heroes, Héros 3 (2015), S. 59 – 65.  Vgl. Michael R. Ott: Haben Inschriften ein Geschlecht? Antworten anhand deutschsprachiger Erzähltexte des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Poetik der Inschrift. Hg. von Ulrich Rehm und Linda Simonis. Heidelberg 2019, S. 257– 272.

Definitionen, Fragen und Ziele

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Definitionen, Fragen und Ziele Für meine eigene Arbeit möchte ich zunächst geringfügig die Definition von Inschriftlichkeit modifizieren, die die Vertreter der Epigraphik, aber auch die Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler des Heidelberger Inschriftlichkeitsprojekts vorgelegt haben. In einem Aufsatz über mobile Inschriften schreiben Ludger Lieb und Michael Ott: „Von Inschriften ist dann die Rede, wenn das Geschriebene und der Schriftträger eine gesteigerte Verbindung eingehen – wenn also die Schrift (und das mit der Schrift Ausgesagte) über das normale Maß hinaus vom Schriftträger mitbestimmt wird.“⁴⁵ Was aber ist normal? Oder, mit anderen Worten gefragt: Woher stammen die Maßstäbe dafür, ob die Verbindung zwischen Geschriebenem und Schriftträger als normal gelten kann oder nicht? Auf diese Frage kann man verschiedene Antworten geben: Entweder entnimmt man die Maßstäbe zur Identifikation einer Inschrift der empirischen Welt der mittelalterlichen Autoren. Wenn ein höfischer Dichter beispielsweise von einem Brief erzählt, der aus Pergament oder Papier besteht und mit Tinte beschriftet ist, dann würde man ihn aus dieser Perspektive nicht als eine Inschrift bezeichnen, da der Brief mit den gewöhnlichen Mitteln zeitgenössischer europäischer Standardschriftlichkeit hergestellt wurde.⁴⁶ Die zweite Möglichkeit setzt nicht die Maßstäbe der empirischen, sondern die der erzählten Welt an: Wenn nach den Regeln einer solchen erzählten Welt Briefe in ihrer Materialität als völlig außergewöhnliche Gegenstände gelten, die von den Figuren mit Erstaunen und vielleicht sogar Verehrung bedacht werden, dann erhalten diese Schriftstücke eine inschriftliche Dimension, die sie in der empirischen Welt der Autoren nicht besitzen. Aus dieser Überlegung wird wiederum ersichtlich, dass es sinnvoll sein kann, sich bei der Definition von Inschriften nicht allein auf die Kategorie der Materialität zu beschränken und also ausschließlich danach zu fragen, wie ‚normal‘ die Verbindung zwischen dem Inhalt der Schrift und dem Schriftträger in den Augen der empirischen Rezipienten oder der Figuren ist. Vielmehr kann man zusätzlich die Präsenz der Schrift im Text in den Blick nehmen, d. h. die Voraussetzungen zu ihrer Handhabung und die Handlungen, die innerhalb der erzählten Welt an ihr und mit ihrer Hilfe vollzogen werden. Sobald man die Kategorie der Präsenz stärker in den Vordergrund rückt, wird es denkbar, einen intradiegetischen, mit den gewöhnlichen Mitteln des Kanzleibetriebs hergestellten Brief als Inschrift zu betrachten, sofern dieser Brief in der Erzählung Praktiken provoziert, die seine materiale Dimension sowie seine Funktionen in der Interaktion zwischen Figuren hervorheben und beleuchten – indem etwa eine Figur den Brief in hundert Stücke zerreißt und ihn dann wieder zusammensetzt, indem sie ihn lustvoll verspeist oder zum Verbinden einer Wunde nutzt, indem sich der Brief in einen Vogel verwandelt und einer geliebten Person zufliegt oder indem er in eine Hauswand eingemauert und von einer anderen

 Lieb/Ott, Schrift-Träger, S. 18.  Vgl. Lieb/Ott, Schnittstellen, S. 267.

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Person als dem adressierten Empfänger gefunden und gelesen wird. Da es mein Anliegen ist, nicht nur etwas über verschiedene Sorten von Inschriften und ihre spezifischen erzählten Eigenschaften herauszufinden, sondern auch über die Erzählungen, in denen diese Inschriften vorkommen, erweist sich eine solche auf erzählte Praktiken zielende Perspektive als heuristisch ergiebig. Als Inschrift gilt daher im Zusammenhang der folgenden Betrachtungen jede Schrift, (1) deren materiale Eigenschaften zum Gegenstand der Erzählung werden und (2) von der erzählt wird, dass sie als dinglicher Gegenstand innerhalb der erzählten Welt aus Handlungen hervorgeht, in Handlungen eingebunden ist und/oder Handlungen hervorruft. Wendet man diese Definition an, dann können Handlungen an und Interaktionen zwischen einer größeren Anzahl von erzählten schrifttragenden Artefakten fokussiert werden, als es in früheren Untersuchungen oft der Fall war. Die erste der Thesen, die Ludger Lieb zur Untersuchung intratextueller Inschriften aufgestellt hat („Die Urheberschaft von Texten ist meist nicht expliziert, sondern als Spur konzipiert, die auf den Verfasser als Abwesenden zurückführt und ihn zugleich als Handelnden, der festlegt und definiert, anwesend macht“),⁴⁷ weist auf eine wichtige Eigenschaft von Schrift hin, für die die verschiedenen Definitionen von Inschriftlichkeit höchstens eine untergeordnete Rolle spielen: Schrift ist in Kommunikationsprozessen ein Instrument zur Überwindung von Flüchtigkeit und zur produktiven Zerdehnung der Kommunikationssituation. Mit ihrer Hilfe kommunizieren Absender und Empfänger, obwohl sie nicht ko-präsent sind. Oder, wie Konrad Ehlich es ausdrückt: Im Ergebnis bedeutet die schriftliche Vertextung die Dissoziierung der in sich homogenen Sprechsituation. Die Sprechsituation, die in der Vertextung ohnehin zerdehnt wird, zerfällt in zwei Bereiche, in denen jeweils einer der Aktanten im Mittelpunkt steht, bis auch diese Beziehung sich verliert. Während in der mündlichen Vertextung über die Situationsstärkung dieser Prozeß überbrückt wird, zerfällt die Sprechsituation als einheitliche in der schriftlichen Kommunikation vollends.⁴⁸

Diese Dissoziierung, oder, mit Wulf Oesterreicher, dieser Bruch im Kommunikationsprozess,⁴⁹ hat zur Folge, dass ein Autor, Verfasser oder Schreiber sich zwar darum

 Lieb, Spuren, S. 7.  Konrad Ehlich: Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation, in: Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its Use. Bd. 1. Hg. von Hartmut Günther und Otto Ludwig. Berlin, New York 1994, S. 18 – 41, hier S. 19.  Wulf Oesterreicher äußert sich kritisch zur Konrad Ehlichs Verwendung der Begriffe ‚Zerdehnung‘ oder ‚Überbrückung‘ der mündlichen oder schriftlichen Sprechsituation, indem er einen grundsätzlichen Bruch in Kommunikationsereignissen postuliert, die durch eine situative Dissoziation geprägt sind. Vgl. Wulf Oesterreicher: Revisited: Die ‚zerdehnte Sprechsituation‘, in: PBB 130 (2008), S. 1– 21, hier S. 13. In seinen Augen ist es „evident, dass Sprecher, Schreiber und Rezipienten in konkreten, individuierten, variablen Kommunikationsräumen unterschiedlich agieren; diese Kommunikationsräume dürfen gerade nicht einfach als eine ‚Sprechsituation‘, auch nicht als eine ‚zerdehnte‘ oder ‚überbrückte‘ Sprechsituation konzipiert werden“. Oesterreicher, Revisited, S. 15 – 16.

Definitionen, Fragen und Ziele

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bemühen kann zu steuern, wer den Text rezipiert, wie man ihn rezipiert und welche Schlüsse man aus den inhaltlichen und materialen Aspekten der Botschaft zieht – ob das Unterfangen des Senders gelingt, kann aber nie als ausgemacht gelten. Um nochmals Ehlich zu zitieren: Ist für den mündlichen Text eine sekundäre Empraxie – z. B. im Kultus – und eine Veräußerlichung bzw. Transposition von Teilen des sprachlichen Handelns in semiotische Mittel ein praktisch hinreichendes Gegenmittel, so wird für den aus der Empraxie herausgelösten schriftlichen Text eine textinterne Bearbeitung der Problematik unumgänglich. Eine Fehlmodellierung des Lesers wirkt sich fatal für das Verstehen aus. Diese Problematik verstärkt sich durch den beliebigen Akzeß, den der Text finden kann, und die Vervielfältigung des Lesers zur Lesergruppe.⁵⁰

Ich gehe davon aus, dass die hochmittelalterlichen Autoren höfischer Erzählungen sich unter anderem für genau diese Dimension von Schriftlichkeit interessieren, wenn sie von Inschriften erzählen: für die Kontrolle, die man zu erlangen versucht, indem man über die Vergangenheit, die Gegenwart und die erwartete oder gewünschte Zukunft schreibt, über sich und andere Menschen, über Dinge und Ereignisse; und für den Kontrollverlust, der sich einstellt, sobald die Schrift zur Rezeption (d. h. zur Rezeption durch andere oder zur neuerlichen Rezeption durch den Verfasser) freigegeben ist. Es gilt herauszufinden, wie höfische Metatexte die Materialität und Präsenz von Schrift nutzen, um von Kontrolle und Kontrollverlust zu erzählen, und ob diese Reflexionen auch als poetologische Aussagen zur Gemachtheit der Texte zu verstehen sind. Ziel meiner Untersuchung ist es nicht, ein neues Modell mittelalterlicher Inschriftlichkeit zu entwickeln, eine neue Theorie, mit der man alle mittelalterlichen Inschriften systematisieren und in ihrer Gesamtheit oder auch gruppenweise beschreiben und interpretieren kann, wenngleich der gewählte Fokus auf intradiegetische Inschriften die untersuchten Texte in gewisser Weise vergleichbar macht. Stattdessen möchte ich anhand weniger und sehr unterschiedlicher Beispiele einen Eindruck von dem großen Spektrum an Themen, Narrativen und Erzählweisen vermitteln, auf das mittelalterliche Dichter zurückgreifen können und an dem sie selbst mitarbeiten, wenn sie Schrift und Schriftlichkeit explizit zum Gegenstand des Erzählens machen. Welche Möglichkeiten stehen diesen Autoren zur Verfügung, um anhand von erzählten Inschriften das Thema der Kontrolle in allen möglichen Facetten zu diskutieren? Wie reflektieren die Dichter dabei ihr eigenes Vorgehen? Um auf diese Fragen einige Antworten zu finden, werden im Folgenden nicht einzelne Textpassagen gelesen und isoliert vom größeren Zusammenhang der Gesamttexte gedeutet. Vielmehr frage ich für jeden Text von Neuem: Welchen Platz nimmt die Inschrift in der erzählten Welt ein? Wäre diese Welt eine andere, wenn die Inschrift mit anderen Eigenschaften ausgestattet wäre, die ihre Materialität und Präsenz konturieren? Und inwiefern ist die Inschrift nicht Teil einer statischen Ausstattung der er-

 Ehlich, Funktion, S. 22.

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zählten Welt, sondern partizipiert am Verlauf der Handlung? Das heißt: Wie lesen sich höfische Erzählungen, wenn man sie von ihren Inschriften her betrachtet?

Vorgehensweise Peter Strohschneider weist in seinen Arbeiten darauf hin, dass höfische Dichter zuweilen von Schriften erzählen, deren Materialität und Präsenz mit weitaus größerem Einsatz beschrieben werden als ihr Inhalt.⁵¹ Er spricht in diesem Zusammenhang von ‚blockierter‘ und von ‚übersprungener Textualität‘. Mit blockierter (oder ‚eingekapselter‘) Textualität ist gemeint, dass die Materialität der Schrift gegenüber ihrem Inhalt so stark in den Vordergrund tritt, dass das Medium der Kommunikation im Rezeptionsakt nicht hinter der diskursiven Bedeutung verschwindet, sondern selbst zum „Objekt einer faszinierten Praxis“ wird.⁵² In Fällen von ‚übersprungener Textualität‘ wiederum erlangen das Erscheinen und Rezipieren des Textes eine solch gesteigerte Präsenz, dass er nicht so sehr zeichenhaft auf etwas Abwesendes verweist als vielmehr selbst zum Ereignis wird. In beiden Fällen geraten die hermeneutischen Aspekte der Wahrnehmung fast oder gänzlich aus dem Blick. Die vorliegende Arbeit verzichtet darauf, von ‚blockierter‘ oder ‚übersprungener Textualität‘ zu sprechen und auf diese Weise kategorial zu differenzieren zwischen intradiegetischen Schriften, die ihren Rezipientinnen und Rezipienten eine diskursivsinnhafte Rezeption ermöglichen oder nahelegen, und solchen, die ausschließlich eine Erfahrung von sinnlicher Wahrnehmung oder sogar Überwältigung durch Präsenz erzeugen. Ich gehe davon aus, dass beide Dimensionen des Schriftgebrauchs einander prinzipiell überlagern können.⁵³ Der Sinn – so inszenieren es jedenfalls viele höfische Romane und andere volkssprachliche Texte –, den die Rezipienten einem Schriftstück entnehmen, setzt sich potenziell immer aus einer inhaltlichen und einer materialen Komponente zusammen. Potenziell deshalb, weil nicht immer beide Komponenten auch als sinntragend ausgestellt werden: Nicht alle höfischen Romane erzählen von schrifttragenden Artefakten, und selbst die, die es tun, thematisieren zuweilen die physisch erfassbaren Eigenschaften der Schriftträger nur flüchtig oder auch gar nicht – ganz zu schweigen von Texten anderer Gattungen (z. B. das lateinische geistliche Schrifttum, die deutsche Heldenepik etc.). Wie aber Ulrich Ernsts Sammlung zeigt, sind Überlegungen zur Materialität und Präsenz von Schrift in volkssprachlichen höfischen Romanen nicht selten. Konrad Ehlich legt zwar dar, dass beim Schreiben als Abstraktionsprozess „Sinnlichkeit durch Konzentration und durch Heraushebung einer Dimension der Wahrnehmungstätigkeit gegenüber anderen und gegenüber ihrer Kombinatorik“ zurückgenommen werde, und spricht mit Aleida  Vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 34.  Strohschneider, Sternenschrift, S. 34.  Etwas Ähnliches stellt Strohschneider an anderer Stelle ebenfalls fest. Vgl. Strohschneider, Textgeschichten, S. 6.

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Assmann von einer „Exkarnation des Textes“. Zuvor allerdings nennt er zwei Dimensionen eines sinnlichen Zugangs zu schriftlichen Texten, denen in der mittelalterlichen Schriftkultur eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zugestanden wird: „die Materialität der Zeichengestaltung einerseits (Haptik)“ sowie „die Visualität andererseits“.⁵⁴ Ausgesprochen häufig wird in der mittelalterlichen Literatur reflektiert, wie die nicht diskursiven, sondern sinnlich erfahrbaren Eigenschaften des Schriftträgers einen Rezipienten in der Art und Weise beeinflussen, in der er die Worte auf dem Schriftträger wahrnimmt. Umgekehrt wird, so führen es die Erzählungen an manchen Stellen vor, auch die Physis des Schriftträgers in einer spezifischen Weise wahrgenommen, die davon abhängig ist, ob oder wie die Worte auf ihm gelesen, verstanden und gedeutet werden. Von dieser Beobachtung ausgehend erweitere ich Peter Strohschneiders Ansatz, Texte mit Blick auf die in ihnen enthaltenen Inschriften zu lesen, indem ich mich darum bemühe, sowohl die Inschriften als auch die Texte aus einer möglichst großen Anzahl von verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Dieses Vorgehen ist weniger induktiv als deduktiv: Das Einzige, was die von mir gewählten Metatexte miteinander gemein haben, ist die Tatsache, dass sie ‚Intratexte‘ oder eben erzählte Inschriften enthalten. An diese Inschriften werden jedoch ähnliche Fragen gerichtet: Was steht da geschrieben? Wie ist der Schriftträger gemacht? Was passiert damit in der Erzählung? Was sagen uns all diese Einzelheiten über die Erzählung oder darüber, was der Autor über das Verfassen von Erzählungen im Medium der Schrift möglicherweise denkt (oder was das Publikum denken soll)? Indem dieser Fragenkatalog dazu zwingt, sich allen Beispielen auf ähnliche Weise zu nähern, bildet er ein disziplinierendes Gegengewicht zu dem Bestreben, möglichst viele plausible Deutungen der Metatexte und ihrer Inschriften zu erproben. Während Walter Haug in seiner Literaturtheorie im deutschen Mittelalter die Prologe, Epiloge und Erzählerexkurse höfischer Romane daraufhin untersucht hat, wie Dichter das eigene Vorgehen beim Verfassen oder Bearbeiten einer Erzählung explizit reflektieren, betrachte ich Fälle von „implicit theorizing“, von dem ich, ähnlich wie Mark Chinca und Christopher Young, annehme, dass es auf der Ebene der Handlung stattfindet.⁵⁵ Intradiegetische Inschriften scheinen regelrecht dazu prädestiniert zu sein, Anlass zu poetologischen Selbstreflexionen zu bieten. Darin ähneln die Beschreibungen von Inschriften ‚Mikronarrativen‘, ‚Paranarrativen‘ oder ‚Hyponarrativen‘, d. h. ‚Erzählungen in Erzählungen‘,⁵⁶ aber auch Kunstbeschreibungen, in die sie

 Ehlich, Funktion, S. 20. Ehlich bezieht sich hier auf Aleida Assmann: Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift, in: Raum und Verfahren. Hg. von Alois Müller und Jörg Huber. Basel 1993, S. 133 – 155.  Mark Chinca und Christopher Young: Literary theory and the German romance in the literary field c. 1200, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. Hg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2001, S. 612– 644, hier S. 614.  Vielfältige Spiegelungen von Mikro- und Makronarrativen beschreiben beispielsweise die Aufsätze in einem von Harald Haferland und Michael Mecklenburg herausgegebenen Sammelband: Harald

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häufig fließend übergehen. Die schriftlichen ‚Texte im Text‘ werden im Folgenden auf vier verschiedene Dimensionen von Textualität hin untersucht: die der Diskursivität, die der Materialität, die der Interaktivität und die der Poetizität. Zum einen richtet sich der Fokus der Untersuchung auf den Inhalt von erzählten Inschriften. Gefragt wird also danach, was auf dem schrifttragenden Artefakt geschrieben steht, aber auch, ob die Erzählung auf irgendeine Weise markiert, dass das Geschriebene Lücken enthält. Zum anderen werden die Materialität des Schriftträgers und seine Gemachtheit untersucht, seine Zusammensetzung und Gestaltung, seine Form und sein Aussehen. Drittens geht es darum, inwiefern schrifttragende Artefakte für die Interaktion genutzt werden, wer also die Schrift schreibt, überbringt und liest, welche Folgehandlungen dadurch ausgelöst werden und inwiefern die Welt danach eine andere ist als vorher. Und schließlich wird danach gefragt, ob man die untersuchte Inschrift oder die Inschriften zu den extradiegetischen Aussagen in Beziehung setzen kann, die der Erzähler im Prolog, im Epilog oder in seinen Exkursen tätigt, und ob es möglich ist, die spezifische Gemachtheit der Inschriften als Reflexion auf die Gemachtheit des Textes oder auf den Vorgang des Dichtens und des Rezipierens von Dichtung allgemein zu verstehen. Die Beispiele, an denen ich zeigen will, wie man höfische Erzählungen mithilfe intradiegetischer Inschriften erschließen und interpretieren kann, sind folgende: Hartmanns von Aue Gregorius (G),⁵⁷ Wirnts von Grafenberg Wigalois (W),⁵⁸ der Reinfried von Braunschweig (R),⁵⁹ Wolframs von Eschenbach Parzival (P),⁶⁰ Albrechts Jüngerer Titurel (JT)⁶¹ sowie der Lohengrin (L).⁶² Diese Texte wurden nach zwei Gesichtspunkten ausgewählt, um ein möglichst breites Spektrum von Phänomenen höfischer Inschriftlichkeit zu erfassen. Auf der Ebene des discours unterscheiden sie

Haferland und Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. München 1996.  Hartmann von Aue: Gregorius. Hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Burghart Wachinger. 16., unveränderte Auflage. Berlin, New York 2011.  Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. 2., überarbeitete Auflage. Berlin, Boston 2014.  Reinfrid von Braunschweig. Hg. von Karl Bartsch. Tübingen 1871.  Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Auflage. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin, New York 2003.  Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, Bd. I (Strophe 1– 1957). Nach den ältesten und besten Handschriften. Hg. von Werner Wolf. Berlin 1955; Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, Bd. II/1 (Strophe 1958 – 3236). Nach den ältesten und besten Handschriften. Hg. von Werner Wolf. Berlin 1964; Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, Bd. II/2 (Strophe 3237– 4394). Nach den ältesten und besten Handschriften. Hg. von Werner Wolf. Berlin 1968; Albrechts Jüngerer Titurel, Bd. III/1 (Strophe 4395 – 5417). Hg. von Kurt Nyholm. Berlin 1984; Albrechts Jüngerer Titurel, Bd. III/2 (Strophe 5418 – 6327). Hg. von Kurt Nyholm. Berlin 1992.  Lohengrin. Edition und Untersuchungen. Hg. von Thomas Cramer. München 1971.

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sich unter anderem darin, dass sie unterschiedliche Mengen an Inschriften enthalten, die zudem an unterschiedlichen Stellen im Gefüge der Erzählung platziert sind: Hartmanns von Aue Gregorius enthält mit der beschrifteten Elfenbeintafel eine einzige zentrale Inschrift, die im Verlauf der Handlung immer wieder von verschiedenen Figuren rezipiert wird, jedes Mal auf etwas andere Weise und mit anderen Konsequenzen. Wirnts von Grafenberg Wigalois kommt die längste Zeit über ganz ohne Inschriften aus. Mit der Einführung von Japhites Epitaph allerdings verändert sich die erzählte Welt: Im letzten Drittel des Romans weist die Mehrzahl der erzählten Artefakte, ob schrifttragend oder nicht, Ähnlichkeiten mit dieser Grabinschrift auf, sodass jedes der nachfolgenden Objekte auf die Bedeutung des Moments in der Handlung aufmerksam macht, in dem von Japhites Epitaph erzählt wird. Im Reinfried von Braunschweig wird von vielen verschiedenen Inschriften erzählt, die jeweils ganz unterschiedliche Charakteristika aufweisen und die in der erzählten Welt des Romans unterschiedliche Funktionen besitzen. Dabei unterscheiden sich die Inschriften im ersten Teil des Textes deutlich von denen im zweiten Teil, was neben dem Ortswechsel des Protagonisten verstärkt den Blick auf die Dichotomie, aber auch auf den Zusammenhang von Liebes- und Abenteuerhandlung in diesem Text lenkt. In den drei deutschen Romanen des 13. Jahrhunderts wiederum, die von Gralinschriften erzählen, erscheinen diese an unterschiedlichen Stellen im Handlungsverlauf – inmitten der Erzählung und am Ende (Wolframs Parzival) oder zu Beginn und am Ende (Albrechts Jüngerer Titurel, der Lohengrin). In all diesen Erzählungen fungieren Inschriften als Handlungszäsuren, mit deren Hilfe die Geschichte gegliedert werden kann. Dies geschieht auf jeweils spezifische Weise, je nachdem, an welchem Punkt eine Inschrift eingeführt wird, ob dieselbe Inschrift nur einmal oder mehrmals erscheint oder ob im Text nur eine einzige Inschrift oder ganze Cluster von Inschriften erwähnt werden. Die Textauswahl ermöglicht somit einen Einblick in eine spezifische Möglichkeit, durch paradigmatische Verweise in Form von „Dingwiederholungen“ leicht erkennbare Strukturen zu erzeugen und dadurch dem Publikum den ersten Schritt zur Erfassung und Deutung des Gesamttextes zu erleichtern.⁶³ Auch auf der Ebene der histoire vermitteln die gewählten Texte einen Eindruck davon, welche Zusammenhänge höfische Dichter im 12. und 13. Jahrhundert zwischen den Themen Schriftlichkeit und Kontrolle herstellen. Viele Kombinationen wiederholen sich zwar; es lassen sich aber in den einzelnen Texten unterschiedliche Schwerpunktsetzungen beobachten: Im Gregorius wird vor allem deshalb geschrieben und das Geschriebene anschließend nur ausgewählten Rezipienten zugänglich gemacht, um Kontrolle über sich selbst und, in absentia, über die eigenen engsten Familienangehörigen auszuüben. Im Wigalois ist Schrift außerdem ein Mittel, die Kontrolle über die eigene Handlungsfähigkeit zu dokumentieren und dadurch einen

 Michael Stolz: Dingwiederholungen in Wolframs ‚Parzival‘, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hg. von Anna Mühlherr, Heike Sahm, Monika Schausten und Bruno Quast. Berlin, Boston 2016, S. 267– 293.

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Anspruch auf Herrschaft über ein größeres Territorium zu formulieren. Im Reinfried von Braunschweig werden mithilfe von Schrift sowohl der soziale Nahbereich als auch der Herrschaftsbereich regiert; in diesem Text kommt noch die Vorstellung hinzu, mithilfe schrifttragender Artefakte Kontrolle sogar über die ganze Welt und über den Verlauf der Geschichte ausüben zu können. Die Gralromane schließlich drehen diesen Gedanken um: Die Rezeptionsakte auf der Gralburg signalisieren, dass jedes Steuerungsbestreben von menschlicher Seite sich letztlich dem göttlichen Willen unterzuordnen hat, der den Menschen schriftlich mithilfe des Grals mitgeteilt wird. Alle sechs Texte, die zwischen dem Ende des 12. und dem Ende des 13. Jahrhunderts entstanden sind, bieten zudem Möglichkeiten zu mehr oder weniger umfangreichen Vergleichen. Der komparatistische Ansatz kann den Blick dafür schärfen, welche Gestaltungsmöglichkeiten das Erzählen von Inschriften bietet. Zwar sind die direkten Vorlagen des Wigalois oder des Reinfried nicht bekannt. Beide Romane enthalten aber eine große Anzahl intertextueller Verweise auf andere Werke des höfischen Kanons. Es bietet sich daher an zu untersuchen, wie die Autoren der beiden Texte bezüglich der Themen Schriftlichkeit und Kontrolle auf bereits vorliegende literarische Konzeptionen reagieren. Was die Gralinschriften angeht, so liegt ein Vergleich des Parzival mit seinen französischen Vorlagen nahe, außerdem der Vergleich zwischen dem Parzival und den jüngeren deutschen Bearbeitungen des Gralstoffs im Jüngeren Titurel und im Lohengrin. Bei der Tafel des Gregorius schließlich stehen die französische Vorlage sowie mehrere spätmittelalterliche lateinische und deutsche Bearbeitungen von Hartmanns Text für einen Vergleich mit dem deutschen Gregorius zur Verfügung. Die Gestaltung des Inhalts, der Materialität oder der Präsenz der erzählten Inschriften lässt Rückschlüsse darüber zu, wie die jeweilige Perspektive auf Schriftlichkeit und Schrift vom historischen und literarischen Kontext abhängt, in dem Dichter in Anlehnung an bekannte Vorbilder von der Produktion und Rezeption von Inschriften erzählen.

2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius In Hartmanns von Aue Gregorius wird zwar nur an einer prominenten Stelle tatsächlich geschrieben – allerdings ist in dem kurzen Text dafür umso öfter vom Lesen und Schreiben, von Schrift und Schriftstücken die Rede. Die Erzählung beginnt damit, dass der Herrscher des Landes Aquitanien verstirbt und zwei junge Kinder zurücklässt. Der Sohn tritt die Herrschaftsnachfolge an, seine Schwester wird, da der Vater es versäumt hat, für ihre Verheiratung Sorge zu tragen, in die Obhut des Bruders gegeben. Nachdem die beiden aufgrund der Einflüsterungen des Teufels eine inzestuöse Beziehung miteinander eingegangen sind und das Mädchen von seinem Bruder schwanger geworden ist, kommt es zur Trennung der Protagonisten: Die Schwester bleibt in Aquitanien und übernimmt dort die Herrschaftsgeschäfte, der Bruder macht sich auf den Weg ins Heilige Land und stirbt auf der Reise. Das gemeinsame Kind wird allein in einem Boot aufs Meer hinausgeschickt. An dieser Stelle kommt das zentrale schrifttragende Artefakt des Textes ins Spiel: Die junge Mutter gibt ihrem Sohn neben einem kostbaren Seidenstoff und zwanzig Goldmark eine Elfenbeintafel mit, die sie eigenhändig mit Informationen und Anweisungen versehen hat. Auf der Tafel, so der Erzähler, sei zu lesen, dass das Kind adlig sei, aber aus einer inzestuösen Beziehung stamme. Der Finder möge es taufen lassen, das beiliegende Geld vermehren und das Kind in der Heiligen Schrift unterrichten. Wenn es erwachsen sei, solle es die Geschichte seiner Abkunft auf der Tafel lesen und für die Verfehlungen seiner Eltern Buße tun. Der Erzähler stellt auch fest, welche Angaben die Tafel ihren Lesern vorenthalte, nämlich sämtliche konkreten Informationen über die Eltern und die Heimat des Kindes: ein tavel wart getragen dar / der vrouwen diu daz kint gebar, / diu vil guot helfenbein was, / gezieret wol, als ich ez las, / von golde und von gesteine, daz ich nie deheine / alsô guote gewan. / dâ schreip diu muoter an / sô si meiste mahte / von des kindes ahte: / wan si hâte des gedingen / daz ez got solde bringen / den liuten ze handen / diu got an im erkanden. / Dar an stuont geschriben sô: / ez wære von gebürte hô, / unde diu ez gebære / daz diu sîn base wære, / sîn vater wære sîn œhein, / ez wære, ze helne daz mein, / versendet ûf den sê. / dannoch schreip si mê: / daz manz toufen solde / und ziehen mit dem golde, / und ob sîn vindære / alsô kristen wære, / daz er im den schaz mêrte / und ez ouch diu buoch lêrte, / sîn tavel im behielte / und im der schrift wielte, / würde ez iemer ze man, / daz er læse daran / alle dise geschiht, / sô überhüebe er sich niht, / unde würde er alsô guot / daz er ze gote sînen muot / wenden begunde, / sô buozte er zaller stunde / durch sîner triuwen rât / sînes vater missetât, / und daz er ouch der gedæhte / diu in zer werlde bræhte: / des wære in beiden nôt / vür den êwigen tôt. / im wart dâ niht benant / weder liute noch lant, / geburt noch sîn heimuot: / daz was ouch in ze helne guot (G 719 – 766). Eine Tafel brachte man der Dame, die das Kind geboren hatte. Diese bestand aus kostbarem Elfenbein und war, wie ich gelesen habe, schön mit Gold und Edelsteinen verziert. Nie habe ich selbst es zu einer so kostbaren Tafel gebracht. Die Mutter schrieb darauf über die Herkunft des Kindes, soviel sie konnte. Sie hegte nämlich die Hoffnung, dass Gott es in die Hände von Menschen bringen werde, die Gottes Walten an ihm erkennen würden. Darauf stand Folgendes: Es sei https://doi.org/10.1515/9783110689693-003

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

von hoher Geburt, und diejenige, die es geboren habe, sei die Schwester seines Vaters. Sein Vater sei der Bruder seiner Mutter. Es sei, um den Frevel zu verbergen, auf dem Meer ausgesetzt worden. Weiter schrieb sie Folgendes: dass man es taufen und mithilfe des Goldes aufziehen solle. Wenn sein Finder ein Christ sei, dann solle er das Vermögen für das Kind vermehren und es lehren, die Heilige Schrift zu lesen. Er möge die Tafel für es aufbewahren und es Lesen lehren. Wenn es dann zu einem erwachsenen Mann werde, dann möge dieser die ganze Geschichte darauf lesen. Er werde sich dann nicht überheben, sondern so gut werden, dass er sich ganz Gott zuwenden werde. Er werde immerzu aufgrund seiner Treue für die Missetat seines Vaters büßen und möge auch der Frau gedenken, die ihn zur Welt gebracht hatte. Dies hätten sie beide nötig, um die ewige Verdammnis abzuwenden. Nicht offenbart wurden ihm Land und Leute, Abstammung und Heimat. Dies zu verheimlichen erschien ihnen gut.

Die Elfenbeintafel wird im folgenden Handlungsverlauf immer wieder von Neuem rezipiert, jedes Mal mit unterschiedlichen Ergebnissen: Nachdem Gregorius nahe einer Insel von Fischern gerettet wurde, liest der Abt des Klosters auf der Insel, was auf der Tafel steht, und nimmt sich daraufhin des Kindes an. Er tauft es auf seinen eigenen Namen Gregorius und zieht es gemeinsam mit einem der Fischer auf. Als der junge Gregorius Jahre später durch einen Zufall erfährt, dass die Fischersleute nicht seine leiblichen Eltern sind, und daraufhin die Insel und das Kloster verlassen will, übergibt der Abt ihm die Tafel, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Gregorius aber verlässt dennoch mit der Tafel im Gepäck den Abt, das Kloster und die Insel und gelangt nach Aquitanien, wo er, ohne zu wissen, mit wem er es zu tun hat, seine eigene Mutter vor einem aggressiven Werber rettet, sie heiratet und Landesherr wird. In der folgenden Zeit beschäftigt er sich regelmäßig mit der Tafel. Dabei wird Gregorius von einer Dienerin beobachtet, die die Herzogin verständigt. Diese erkennt die Tafel als diejenige wieder, die sie ihrem neugeborenen Kind mitgegeben hatte, und klärt Gregorius darüber auf, dass sie nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seine Mutter und Tante sei. Gregorius geht daraufhin vom Hof und aus Aquitanien fort und zieht sich als Asket auf eine einsame Felseninsel zurück. Seine Tafel vergisst er auf dem Festland. Wiederum Jahre später kommen zwei Gesandte zu der Insel, denen Gott im Traum mitgeteilt hat, dass Gregorius zum Papst berufen sei. Wunderbarerweise findet sich die Tafel unzerstört. Papst Gregorius wird in Rom erneut mit seiner Mutter vereint und erwirkt Gottes Vergebung für seine Eltern. An insgesamt neun Stellen im Roman wird erzählt, wie die Tafel von einer Figur oder von mehreren Figuren in irgendeiner Weise gehandhabt oder zumindest wahrgenommen wird. Diese Situationen lassen sich danach gruppieren, in welchen Teilräumen der erzählten Welt sie sich verorten lassen. Von diesen Teilräumen gibt es in Hartmanns Gregorius zwei höfische und zwei nichthöfische: Die höfischen Räume sind der Sitz der Herrscher von Aquitanien und der Sitz des Papstes in Rom, die nichthöfischen sind die Klosterinsel im Meer und die Felseninsel in der Wildnis. Anders als jede andere Figur durchschreitet der Protagonist Gregorius jeden einzelnen dieser Teilräume einmal oder auch doppelt, wobei er auf seinem Weg von einem zum anderen stets ein Gewässer überqueren muss. Während der Vater zwar Aquitanien verlässt, an seinem Ziel Jerusalem allerdings nie ankommt und die Mutter sich im

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Verlauf der Handlung lediglich von einem Hof (dem aquitanischen) zu einem anderen (dem päpstlichen) bewegt, unternimmt Gregorius eine Art Zickzack-Bewegung zwischen den höfischen und den nichthöfischen Räumen des Textes: von Aquitanien auf die Klosterinsel, dann zurück nach Aquitanien, dann auf die Felseninsel und schließlich nach Rom. Der einzige Ort, an dem sich Gregorius zweimal aufhält, ist der aquitanische Hof. Von diesem Ort aus entfaltet sich mithin ein zweizügiger Handlungsverlauf: Im ersten Teil der Handlung verlässt Gregorius Aquitanien und gelangt in den nichthöfischen Bereich der Klosterinsel, um von dort aus nach Aquitanien zurückzukehren. Im zweiten Teil verlässt er Aquitanien nochmals und gelangt in den nichthöfischen Bereich der Felseninsel, um dieses Mal allerdings von dort nicht nach Aquitanien zurückzukehren, sondern nach Rom zu gehen.¹ Aus dieser Perspektive bewegt sich Gregorius zweimal von einem höfischen in einen nichthöfischen Raum und dann wieder zurück in einen höfischen. Von einem ‚Doppelweg‘ kann man insofern sprechen, als sein zweiter Aufbruch einen Zugewinn zur Folge hat – am Ende des ersten Kursus ist Gregorius Herrscher von Aquitanien, am Ende des zweiten aber ist er zum Oberhaupt der gesamten Christenheit geworden.² Die Elfenbeintafel kommt lediglich in drei der vier Teilräume zum Einsatz: in Aquitanien anlässlich der Beschriftung durch Gregorius’ Mutter; dann bei Gregorius’ Ankunft und bei seinem Abschied auf der Klosterinsel; erneut mehrmals in Aquitanien; und schließlich bei Gregorius’ Ankunft und bei seinem Abschied im Umkreis der Felseninsel. Im vierten Teilraum der erzählten Welt, in Rom, spielt die Tafel keine Rolle mehr: Der aquitanische Hof: (1) Gregorius’ Mutter beschriftet die Tafel und legt sie zusammen mit Stoff und Geld zu ihrem Kind in ein Gefäß in einem Boot.

 Zur räumlichen Struktur des Textes vgl. Peter Strohschneider: Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ‚Gregorius‘, in: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger und Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 105 – 133, hier S. 109 – 112. Strohschneider weist darauf hin, dass Gregorius’ Reise von der Klosterinsel nach Aquitanien nur aus der weltlichen Perspektive seiner Mutter und des Hofes eine Heimkehr ist – aus der Perspektive des Klosters handelt es sich um einen Auszug ins Exil, der den jungen Mann von seinem geistlichen Vater trennt und der erst durch Gregorius’ Einkehr auf der Felseninsel aufgehoben und damit zur ‚Rückkehr‘ wird. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 112 (FN 18).  Vgl. Dagmar Hirschberg: Zur Struktur von Hartmanns ‚Gregorius‘, in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Festschrift für Hans Fromm. Hg. von Klaus Grubmüller. Tübingen 1979, S. 240 – 267. Peter Strohschneider warnt zu Recht davor, sich bei der Interpretation vorschnell auf das Strukturmodell der Legende oder des Artusromans festzulegen. Gregorius ist weder ein gewöhnlicher Legendenheiliger, der eine conversio durchmacht, noch ein gewöhnlicher Artusritter, der in eine Krise gerät, sondern beides zugleich und damit keines von beiden. Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 108.

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

Die nichthöfische Sphäre der Klosterinsel: (2) Der Abt liest die Tafel. (3) Der Abt gibt Gregorius die Tafel. Der aquitanische Hof: (4) Gregorius beschäftigt sich regelmäßig mit der Tafel. (5) Eine Dienerin beobachtet ihn mit der Tafel und berichtet ihrer Herrin davon. (6) Gregorius’ Mutter erkennt die Tafel wieder. (7) Sie konfrontiert Gregorius mit der Tafel. Die nichthöfische Sphäre der Felseninsel: (8) Gregorius vergisst die Tafel am Ufer des Sees. (9) Gregorius findet nach seiner Rückkehr ans Festland die Tafel unzerstört wieder. Anders als Gregorius selbst bewegt sich die Tafel somit nicht zweimal von einem Hof in eine nichthöfische Sphäre und dann wieder an einen Hof. Vielmehr wird sie zweimal gemeinsam mit oder von Gregorius vom aquitanischen Hof in eine andere nichthöfische Sphäre transportiert. Am Ende der zweiten Bewegung scheidet sie aus der Handlung aus. Wirklich gelesen wird der Inhalt der Elfenbeintafel nur im ersten Teil des Doppelwegs, nämlich von den Adressaten, an die sie sich explizit richtet: von dem Abt und von dem jungen Mann Gregorius auf der Klosterinsel sowie von Gregorius während seiner Zeit in Aquitanien. Diese Art der Rezeption der Tafel wird in dem Augenblick durch eine andere abgelöst, in dem Gregorius von der Dienerin seiner Mutter beim Lesen beobachtet wird. Von nun an wird die Tafel nicht mehr gelesen, sondern nur noch angesehen. Die Dienerin, die Mutter, das Fischerpaar und die römischen Gesandten nehmen sie ausschließlich in ihrer Dinghaftigkeit wahr, ohne ihre diskursive Komponente zu berücksichtigen.³ Fortan an liegt die Aussagekraft der Tafel nicht mehr darin, dass sie einen Text trägt, sondern in ihrer reinen Gegenständlichkeit, die nicht auf Vergangenes, Zukünftiges oder räumlich Entferntes verweist, sondern auf das Hier und Jetzt, in dem Gregorius Schmerzen leidet, gleichzeitig Sohn und Ehemann ist oder von Gott erwählt wurde. Die Interpretationsspielräume der Rezipienten sind bei dieser Art der Wahrnehmung offenbar geringer als zuvor: Der Dienerin ist klar, dass die Tafel etwas mit dem Kummer ihres Herrn zu tun haben muss, die Mutter erkennt ohne Zweifel, dass sie ihren Sohn geheiratet hat, und der Fischer und die Legaten, die anwesend sind, als die Tafel unversehrt wieder aufgefunden wird, schließen aus dem Wunder sogleich, dass Gregorius ein sælic man sei, womit sie dem Erzähler zufolge völlig richtig liegen (G 3736 – 3740). Nun sind Schlagworte wie ‚Kummer‘, ‚Sünde‘ und ‚Heiligkeit‘ viel weniger konkret als die detaillierten Angaben,

 Nur die Mutter erkennt erst, dass sie ihre eigene Tafel vor sich hat, die sie selbst einst beschrieben hat, und liest sie dann nochmals (G 2471– 2485).

2.1 Gregorius’ Tafel in der Forschung

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die die Mutter auf der Tafel festhält. Dafür sind diese Eindrücke aber auch nicht anfällig für selektive Wahrnehmung, Ausblendung oder Gewichtung nach persönlichem Urteil oder Vorurteil. Die Tafel besitzt als nicht-diskursiver Gegenstand eine vielleicht nicht höhere, aber doch zumindest anders geartete Evidenz denn als Textträger. Steht der Text im Vordergrund, dann beginnen seine Rezipienten zu interpretieren – steht der Gegenstand im Vordergrund, dann fegt seine Präsenz alle hermeneutischen Angebote und Verlockungen auf der Stelle hinweg. Im Folgenden werde ich zunächst einige Aspekte rekapitulieren, unter denen sich die Forschung zu Hartmanns Gregorius der Tafel als Gegenstand und als Textträger bislang gewidmet hat. Von früheren Überlegungen zur Allegorizität, Medialität und Materialität der Tafel ausgehend, betrachte ich im nächsten Schritt das wiederholte Erscheinen der Tafel in der Handlung als strukturierendes Element, wobei die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Produktions- oder Rezeptionsakte Aufschluss darüber gibt, in welcher Weise die ‚beschriebene Person‘ Gregorius in ihren wechselnden Zugehörigkeiten beeinflusst wird. Ein Vergleich mit den älteren und jüngeren Bearbeitungen des Stoffs wird zeigen, welche spezifischen Vorstellungen von Schrift, Zugehörigkeit und Kontrolle Hartmann von Aue gegen Ende des 12. Jahrhunderts im Gegensatz zu älteren oder jüngeren mittelalterlichen Autoren entwickelt. Im letzten Schritt betrachte ich die Tafel unter Rückbezug auf den Prolog und den Epilog des Romans, um herauszufinden, inwiefern sich dieser Schriftträger als ‚Text im Text‘ für eine poetologische Lektüre eignet.

2.1 Gregorius’ Tafel in der Forschung Die Forschungsbeiträge der germanistischen Mediävistik zu Hartmanns Gregorius sind Legion. Schwerpunkte liegen dabei unter anderem auf der handschriftlichen Überlieferung,⁴ auf der Struktur des Textes,⁵ auf seiner Gattungszugehörigkeit,⁶ auf Be-

 Vgl. Kurt Gärtner: Der Anfangsvers des ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue als Federprobe in der Trierer Handschrift von Konrads von Würzburg ‚Silvester‘, in: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Hg. von Nine R. Miedema und Rudolf Suntrup. Frankfurt a. M. 2003, S. 105 – 112; Ulrich Ernst: Der ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue im Spiegel der handschriftlichen Überlieferung. Vom Nutzen der Kodikologie für die Literaturwissenschaft, in: Euphorion 90 (1996), S. 1– 40; Diana Müller: Textgemeinschaften. Der ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue in mittelalterlichen Sammelhandschriften. Frankfurt a. M. 2013.  Vgl. Hirschberg, Struktur; Albrecht Hausmann: Gott als Funktion erzählter Kontingenz. Zum Phänomen der ‚Wiederholung‘ in Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘, in: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Cornelia Herberichs und Susanne Reichlin. Göttingen 2010, S. 79 – 109.  Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 131– 150; Fritz Peter Knapp: legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in ‚falschen‘ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: GRM 53 (2003), S. 133 – 154.

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

zügen zur Sozialgeschichte,⁷ auf der Beziehung der Erzählung zu ihrem Prolog und Epilog,⁸ auf Unterschieden zu und Gemeinsamkeiten mit der älteren französischen Vie du Pape Saint Grégoire, Arnolds von Lübeck jüngeren Gesta Gregorii Peccatoris, den spätmittelalterlichen Adaptionen des Stoffs⁹ und vor allem mit Thomas Manns moderner Bearbeitung Der Erwählte,¹⁰ auf dem Thema Verwandtschaft und Inzest¹¹ sowie auf Entwürfen von Männlichkeit und Weiblichkeit.¹²

 Vgl. Hermann Henne: Herrschaftsstruktur, historischer Prozeß und epische Handlung. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zum ‚Gregorius‘ und ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. Göppingen 1982; Bernward Plate: Lehnsrecht in Hartmanns ‚Gregorius‘, in: Mediävistik 10 (1997), S. 219 – 236; Rudolf Kilian Weigand: Rechtsprobleme in den Erzählungen Hartmanns von Aue. Die Bedeutung des Rechts in der ritterlichen Lebensform, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hochund Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 829 – 852.  Siegfried Grosse: Beginn und Ende der erzählenden Dichtungen Hartmanns von Aue, in: PBB 83 (1961/62), S. 137– 156; Haug, Literaturtheorie, S. 131– 150.  Vgl. Britta Plaggemeier: Die Perspektivenstrukturen und Rezeptionsbedingungen der französischen ‚Vie du pape Saint Grégoire‘, des ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue und der ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘ Arnolds von Lübeck, in: Der Kurzroman in den spätmittelalterlichen Sammelhandschriften Europas. Hg. von Miriam Edlich-Muth. Wiesbaden 2018, S. 107– 125; Marianne Kalinke: ‚Gregorius Saga Biskups‘ and ‚Gregorius auf dem Stein‘, in: PBB 113 (1991), S. 67– 88; Nigel Harris: The presentation of clerical characters in Hartmann’s ‚Gregorius‘ and in the ‚Vie du pape Saint Grégoire‘, in: Medium Aevum 64 (1995), S. 189 – 204; Brian Murdoch: Gregorius. An Incestuous Saint in Medieval Europe and Beyond. Oxford 2012, besonders Kap. 3 und 4.  Vgl. Ulrike Beer: Das Gregorius-Motiv. Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘ und seine Rezeption bei Thomas Mann. Meldorf 2002; Silke Grothues: Grenzüberschreitungen in Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘ und Grenzauflösungstendenzen in Thomas Manns ‚Gregorius‘-Adaption ‚Der Erwählte‘, in: Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Hg. von Ulrich Knefelkamp und Kristian Bosselmann-Cyran. Berlin 2007, S. 490 – 503; Hannah Rieger: Die altersgraue Legende. Thomas Manns ‚Der Erwählte‘ zwischen Christentum und Kunstreligion. Würzburg 2015; Jutta Eming: Ein schöner Stein zum Leiden. Ironisches Erzählen in Thomas Manns ‚Der Erwählte‘ und in Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘‘, in: Mittelalterbilder in der deutschsprachigen Literatur des langen 20. Jahrhunderts. Rezeption – Transfer – Transformation. Hg. von Michael Dallapiazza und Silvia Ruzzenenti. Würzburg 2018, S. 81– 98.  Vgl. Danielle Buschinger: Das Inzest-Motiv in der mittelalterlichen Literatur, in: Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. Hg. von Jürgen Kühnel. Göppingen 1985, S. 107– 140; Anita Guerreau-Jalabert: Inceste et sainteté. La ‚Vie de saint Grégoire‘ en français (XIIe siècle), in: Annales 43 (1988), S. 1291– 1319; Strohschneider, Inzest-Heiligkeit.  Vgl. Ingrid Kasten: Schwester, Geliebte, Mutter, Herrscherin. Die weibliche Hauptfigur in Hartmanns ,Gregorius‘, in: PBB 115 (1993), S. 400 – 420; Kerstin Schmitt: Körperbilder, Identität und Männlichkeit im ‚Gregorius‘, in: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hg. von Ingrid Bennewitz und Ingrid Kasten. Münster 2002, S. 135 – 155; Susanne Schul: ‚frouwen‘-Wissen – ‚herren‘-Wissen? ‚Geschlecht‘ als Kategorie des Wissens in mittelhochdeutschen Narrationen, in: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Andreas Gardt, Mireille Schnyder und Jürgen Wolf. Berlin, Boston 2011, S. 183 – 202; Andrea Fiddy: The Presentation of the Female Characters in Hartmann’s ‚Gregorius‘ and ‚Der arme Heinrich‘. Göppingen 2004.

2.1 Gregorius’ Tafel in der Forschung

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Besonders häufig jedoch wurde eine Forschungsperspektive eingenommen, deren Sog sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lange nicht entziehen konnten: die Frage nach Gregorius’ Schuld am Inzest mit seiner eigenen Mutter.

Allegorizität: Die Schreibtafel als Gesetzestafel Lange teilte sich die germanistische Mediävistik in dieser Frage in zwei Lager: Die einen beharrten darauf, dass Gregorius indirekt für den Inzest verantwortlich und daher subjektiv schuldig sei, da er, obgleich durch seine Abstammung hochgradig gefährdet, das Kloster verlasse, um sich einem weltlichen Leben zuzuwenden. Für Ulrich Ernst etwa gilt es als unbestreitbar, „daß Gregorius persönlich Schuld auf sich geladen, ja eine ganze Reihe von Todsünden (peccata criminalia) begangen hat“,¹³ und auch Herbert Kolb weist Gregorius mit der Superbia eine Todsünde nach. Für ihn hätte die Geschichte sogar „ohne eine Schuld, eine persönlich zu verantwortende Schuld […] keinen Sinn“,¹⁴ während Tomas Tomasek etwas milder lediglich von „Schwachpunkte[n]“ des Protagonisten spricht.¹⁵ Andere Wissenschaftler argumentieren dagegen, dass Gregorius zwar lauter richtige Entscheidungen treffe, schließlich aber seine unwissentlich herbeigeführte Verstrickung in eine schlimme Sünde erkenne und Buße tue, so wie es jedem von der Erbsünde belasteten Menschen zukomme.¹⁶ Ob man den Gregorius als Erzählung über einen Fehltritt und die dafür geleistete Wiedergutmachung liest oder als Auseinandersetzung mit dem Schicksal oder der prinzipiellen Sündhaftigkeit aller Menschen, hängt Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer zufolge davon ab, mit welchen Deutungsinstrumenten man dem Text zu Leibe rückt: „Kernfrage für jede Deutung ist, welche Normen sie als handlungssteuernd betrachtet; weil der Erzähler diese selten explizit nennt, ist der Interpret genötigt, die

 Ulrich Ernst: Der Antagonismus von ‚vita carnalis‘ und ‚vita spiritualis‘ im ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue. Versuch einer Werkdeutung im Horizont der patristischen und monastischen Tradition, in: Euphorion 72 (1978), S. 160 – 226, hier S. 162.  Herbert Kolb: ‚der wuocher der riuwe‘. Studien zu Hartmanns ‚Gregorius‘, in: LwJb 23 (1982) S. 9 – 56, hier S. 39.  Tomas Tomasek: Verantwortlichkeit und Schuld des Gregorius. Ein motiv- und strukturorientierter Beitrag zur Klärung eines alten Forschungsproblems im ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue, in: LwJb 34 (1993), S. 33 – 47, hier S. 46. Zu einer persönlichen Schuldhaftigkeit des Protagonisten vgl. auch Gabriele Schieb: Schuld und Sühne in Hartmanns Gregorius, in: PBB 72 (1950), S. 51– 64; Hildegard Nobel: Schuld und Sühne in Hartmanns ‚Gregorius‘ und in der frühscholastischen Theologie, in: ZfdPh 76 (1957), S. 42– 79.  So spricht etwa Albrecht Hausmann von „existentielle[r]“ Schuld und der „Ausschaltung jeglicher möglicher ‚Verantwortlichkeiten‘ beim zweiten Inzest“. Hausmann, Gott, 103.

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Erwartungen des historischen Publikums zu rekonstruieren.“¹⁷ Die Methoden, mit denen man in der Geschichte der Germanistik zu entscheiden versuchte, ob Gregorius als schuldig, unschuldig oder als zugleich schuldig und unschuldig betrachtet werden sollte, reichten vom Abgleich des literarischen Textes mit zeitgenössischen theologischen Erörterungen über Vergleiche mit anderen Inzesterzählungen bis hin zur Verwendung von Argumenten, die sich aus der mittelalterlichen Sozialgeschichte speisten.¹⁸ Letztlich ging es jedoch in all diesen Studien darum, dem Protagonisten des Textes oder auch seiner Mutter irgendeine Art von Schuld nachzuweisen – irgendjemand musste eben schuldig sein.¹⁹ Hierin fügt sich die Forschung zum Gregorius einer weit verbreiteten Tendenz vor allem der Nachkriegsgermanistik, Fragen nach der Folge von absichtlichen oder unbeabsichtigten Fehltritten und Missetaten, nach Schuld und Verantwortung zu stellen.²⁰ Bissig äußerte sich Rainer Warning zu der wiederholten Frage nach der Schuld: „Da der Text selbst hierauf keine konsistente Auskunft gibt, kam es zu bisweilen abenteuerlichen Anleihen bei mittelalterlicher

 Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. Dritte, aktualisierte Auflage. Mit bibliographischen Ergänzungen (1992/93 bis 2006) von Thomas Bein. München 2007, S. 114.  Zu unterschiedlichen älteren Forschungspositionen zum Thema der Schuld im Gregorius vgl. beispielsweise die Überblicke bei Elisabeth Gössmann: Typus der Heilsgeschichte oder Opfer morbider Gesellschaftsordnung? Ein Forschungsbericht zum Schuldproblem in Hartmanns ‚Gregorius‘ (1950 – 1971), in: Euphorion 68 (1974), S. 42– 80 und bei David Duckworth: Gregorius. A Medieval Man’s Discovery of his True Self. Göppingen 1985, S. 1– 63. Brigitte Herlem-Prey nennt nicht zwei, sondern stärker differenzierend drei in der Forschung häufig geäußerte Antworten auf die Schuldfrage: (1) Der Inzest wird als objektive Schuld gesehen, „in die Gregorius trotz subjektiver Unschuld gerät“, (2) „Gregorius’ Schuld […] steht für die […] menschliche Sündhaftigkeit überhaupt oder (3) Gregorius hat persönliche Schuld auf sich geladen. Brigitte Herlem-Prey: Schuld oder Nichtschuld, das ist oft die Frage. Kritisches zur Diskussion der Schuld in Hartmanns ‚Gregorius‘ und in der ‚Vie du Pape Saint Grégoire‘, in: GRM 39 (1989), S. 3 – 25, hier S. 3. Für die erste Option steht etwa Pieter Boon, der eher komparatistisch und sozialgeschichtlich als theologisch argumentiert: „Zu Zeiten Hartmanns wurde jemand, der wie Gregorius unwissentlich und unwillentlich in das Laster des Sohn-Mutter-Inzestes verfiel, ohne jeden Zweifel für einen argen Verbrecher gehalten. Daß sich unser Rechtsempfinden dagegen sträubt, ist völlig irrelevant: Hartmann erweist sich als ein ,Kind seiner Zeit‘ und urteilt den zeitgenössischen Auffassungen gemäß.“ Pieter Boon: Ist Hartmanns Gregorius ein Sünder? Zur ungewollten Missetat in der Sicht des Mittelalters, in: Neophilologus 64 (1980), S. 405 – 414, hier S. 412. Vgl. auch Wolfgang Wetzlmair: Zum Problem der Schuld im ‚Erec‘ und im ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue. Göppingen 1997; Oliver Hallich: Poetologisches, Theologisches. Studien zum ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue. Frankfurt a. M. 1995; Klaus Dieter Goebel: Untersuchungen zu Aufbau und Schuldproblem in Hartmanns Gregorius. Berlin 1974. Differenzierter argumentiert Siegfried Christoph, wenn er zeigt, dass der Gregorius nicht nur von Sünde im theologischen Sinn, sondern auch von sozialem Ehrverlust handelt und davon, wie man zwischen beidem abwägen kann. Vgl. Siegfried Christoph: Guilt, Shame, Atonement, and Hartmann’s ‚Gregorius’, in: Euphorion 76 (1982), S. 207– 221.  Zu verschiedenen Versuchen, die Schuld bei der Mutter zu suchen, vgl. Kasten, Schwester, S. 402.  Vgl. beispielsweise die Forschungsdiskussionen zu Schuld, Sünde und falschem Verhalten in Hartmanns Erec, in Wolframs Parzival oder im Nibelungenlied, die Regina Toepfer in ihrer Untersuchung zur höfischen Tragik nachzeichnet: Regina Toepfer: Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen. Berlin, Boston 2013.

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Sünden- und Bußtheologie, so als ginge es im Gregorius um nichts anderes als um die Illustrierung eines theologischen Diskurses.“²¹ Immer wieder versuchte man auch, Gregorius’ Schuld mit der Tafel in Verbindung zu bringen, die die Mutter dem Neugeborenen mitgibt. Tomas Tomasek etwa sieht die Tatsache, dass Gregorius an dem Morgen, an dem er zur Felseninsel gebracht werden soll, in seiner Eile die Tafel vergisst, als Hinweis darauf, dass eine von Gregorius’ gravierenden Schwächen in seiner gâcheit bestehe. Diese verleite ihn zu unüberlegtem und ungutem Handeln.²² Albrecht Classen hingegen nimmt an, dass Gregorius seine Tafel während seiner Zeit als Herrscher zwar immer wieder lese, ihren ‚wahren‘ Inhalt aber zu verstehen nicht in der Lage sei und daher vergeblich trauere.²³ Ein Erinnerungsstück wie die Tafel könne nur dann tatsächlich beim Erinnern helfen, wenn man, so Classen, einen philosophischen Verstand, eine demütige Haltung, Liebe zu den Eltern und Verständnis für die Bedeutung des Lebens besitze – Eigenschaften, an denen es Gregorius offenbar mangelt.²⁴ Differenzierter in Bezug auf eine möglicherweise defizitäre Lektürehaltung argumentiert Albrecht Hausmann, der feststellt, dass „[e]s […] auch, vielleicht sogar vor allem um die Frage [gehe], wie die Geschichte des ersten Inzests angesichts ihrer inhärenten Ambivalenz ‚richtig‘ zu lesen ist“.²⁵ Gregorius lese den Inhalt der Tafel fälschlicherweise als Bericht über ein ‚historisches‘ Geschehen, nicht jedoch als exemplarische Geschichte und müsse diese Lesart später revidieren. Härter urteilt Ulrich Ernst, in dessen Augen Gregorius schlicht missachtet, was ihm auf der Tafel aufgetragen wird, nämlich die „stellvertretende[] Buße für seine Eltern“, die er im Kloster leichter erfüllen könne als in der Welt und die er daher mit Verlassen des Klosters zu sehr auf die leichte Schulter nehme.²⁶

 Rainer Warning: Berufungserzählung und Erzählerberufung. Hartmanns ‚Gregorius‘ und Thomas Manns ‚Der Erwählte‘, in: DVjs 85 (2011), S. 283 – 334, hier S. 286. Schon 1978 spricht Volker Mertens davon, dass die Schuldfrage „die Interpreten fast hypnotisch fixiert“ habe. Er plädiert dafür, Gregorius‘ Schuld als Faktum zu akzeptieren und von hier ausgehend nachzuvollziehen, wie der Text Buße und Rettung narrativ plausibel macht. Volker Mertens: Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption. München 1978, S. 12.  Vgl. Tomasek, Verantwortlichkeit, S. 38 – 40.  „The narrator keeps the audience informed about the true meaning of the words on the tablet, whereas the protagonist cannot penetrate their meaning and cries in vain.“ Albrecht Classen: Objects of Memory as Hermeneutic Media in Medieval German Literature. Hartmann von Aue’s ‚Gregorius‘, Wolfram von Eschenbach’s ‚Parzival‘, Thüring von Ringoltingen’s ‚Melusine‘, and ‚Fortunatus‘, in: ABäG 65 (2009), S. 159 – 182, hier S. 165; vgl. auch Classen, Book, S. 65.  Vgl. Classen, Objects, S. 179.  Hausmann, Gott, S. 101.  Ernst, Antagonismus, S. 167. Gegen diese Auffassung wendet sich Helmut Beifuss mit den Argumenten, dass die Mutter wünsche, dass ihr Kind nicht unter den Sünden der Eltern leiden solle, und dass der Abt dem jungen Mann eine reiche Heirat und damit eine weltliche Alternative zum Klosterleben in Aussicht stelle. Vgl. Helmut Beifuss: ‚Riuwe‘ und ‚buoze‘ in Hartmanns ‚Gregorius‘. Versuch einer Interpretation vor dem Hintergrund der Analyse der Wortbedeutung und des Wortgebrauchs, in: Hartmann von Aue. Mit einer Bibliographie 1976 – 1997. Hg. von Petra Hörner. Frankfurt a. M. 1998, S. 51– 89, hier S. 69. Kritisch zu der Annahme, Gregorius missachte die Anweisungen seiner Mutter,

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Bei einer starken Fokussierung auf Gregorius’ Transgressionen und Verstöße gegen soziale oder theologische Normen lag es nahe, die Tafel mit ihren Appellen und Geboten allegorisch als Repräsentation des göttlichen Gesetzes zu interpretieren, das Gregorius beachten soll und das er mit seinen Handlungen verletzt. Manchmal wurde in der Forschung ein konkreter Bezug zu den steinernen Gesetzestafeln hergestellt, von denen in Ex 31,18 und in Deut 5,22 gesagt wird, dass Moses sie auf dem Berg Horeb von Gott erhalten habe, wobei es allerdings oft bei bloßen Allusionen blieb.²⁷ In der Nachfolge von Walter Ohly und Ulrike Schwab wiederum hat sich die Deutung verbreitet, wonach die Elfenbeintafel dazu diene, die Handlung des Gregorius mit den drei Phasen der Heilsgeschichte ante legem, sub lege und sub gratia zu überblenden.²⁸ Gregorius’ Jugend bis zu seiner ersten Lektüre der Tafel sei demnach die Zeit vor dem Gesetz, die Zeitspanne zwischen dem Verlassen der Klosterinsel und dem Verlassen der Felseninsel sei die Zeit unter dem Gesetz, danach breche die Zeit der Gnade an. Schon während der Askese aber, als Gregorius die Tafel nicht mehr bei sich hat, erreicht er André Schnyder zufolge eine neue Ebene des Umgangs mit dem, was auf der Tafel verzeichnet ist. Zum Vergleich zitiert Schnyder den zweiten Korintherbrief: äußert sich auch Jens-Peter Schröder: Arnolds von Lübeck ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘. Eine Interpretation, ausgehend von einem Vergleich mit Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘. Frankfurt a. M. 1997, S. 125 – 126 (hier auch weitere Literaturhinweise). Den Vorwurf, Gregorius widersetze sich einer angeblich klaren Anweisung, Mönch zu werden, weist auch Marianne Kalinke zurück. Vgl. Marianne E. Kalinke: Hartmann’s ‚Gregorius’: A Lesson in the Inscrutability of God’s Will, in: The Journal of English and Germanic Philology 74 (1975), S. 486 – 501, hier S. 492. Am schärfsten formuliert Fritz Peter Knapp: „Ulrich Ernst […] kann daher seine endlose Liste schwerer Sünden, welche angeblich alle von Gregor begangen werden und ihn sozusagen notwendigerweise als letzte Konsequenz in den Inzest treiben, nur aus der monastisch-rigoristischen Moraltheologie, nicht aber aus Stellungnahmen der Akteure und/oder des Erzählers in Hartmanns Text belegen.“ Knapp, Legenda, S. 144 (FN 30).  Haiko Wandhoff etwa erkennt „deutliche Analogien zur Gesetzestafel des Moses“. Wandhoff, Ekphrasis, S. 319. Auch Urban Küsters bemerkt: „Sucht man nach Vorbildern und Parallelen in der religiös-legendarischen Tradition, kommen die Gesetzestafeln in den Sinn, zumal die Aussetzung des Kindes auf die Moses-Geschichte verweist.“ Urban Küsters: Marken der Gewissheit. Urkundlichkeit und Zeichenwahrnehmung in mittelalterlicher Literatur. Düsseldorf 2012, S. 472; Silke Grothues spricht davon, dass Gregorius’ Identität „der mütterlichen Tafel mosaisch-gesetzmäßig eingeschrieben“ sei, führt dies aber nicht näher aus. Grothues, Grenzüberschreitungen, S. 491; vgl. auch Harold Bernard Willson: Hartmann’s ‚Gregorius‘ and the Parable of the Good Samaritan, in: MLR 54 (1959), S. 194– 203, hier S. 198 – 199.  Vgl. Walter Ohly: Die heilsgeschichtliche Struktur der Epen Hartmanns von Aue. Berlin 1958, S. 37. „Die Tafel, deren ‚Entdeckung‘ am Anfang und am Ende der Legende – und figuraliter auch im Zentralstück, wie wir gleich weiter sehen – zusammen mit der Kleidersymbolik das wiederholte bedeutungsvolle Geschehen der piscatio begleitet, steht für das reht: dieser Begriff ist im weitesten Sinne zu fassen, nämlich als praecepta Dei im allgemeinen, als Busspflicht sowohl im objektiven, als auch spezifisch auf die Lage des Helden bezogenen subjektiven Sinn. Die Tafel enthält ja das Gesetz, unter dem das Kindlein Gregorius seinen Weg als durch die Schuld seiner Eltern Schuldiger und zur Busse Verpflichteter antritt.“ Ute Schwab: Lex et Gratia. Der literarische Exkurs Gottfrieds von Straßburg und Hartmanns Gregorius. Messina 1967, S. 49. Vgl. auch Schwab, Lex, S. 66 – 67. Vgl. auch Ulrich Ernst: Der ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue. Theologische Grundlagen – legendarische Strukturen – Überlieferung im geistlichen Schrifttum. Köln 2002, S. 124– 125.

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epistula nostra vos estis. scripta in cordibus nostris quae scitur et legitur ab omnibus hominibus. manifestati quoniam epistula estis Christi ministrata a nobis. et scripta non atramento sed Spiritu Dei vivi. non in tabulis lapideis. sed in tabulis cordis carnalibus (2 Kor 3,2– 3). Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen! Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen.

Gregorius, so Schnyder, habe als Fürst im Angesicht der materialen Tafel Buße geübt, ohne die wahre Bedeutung des Schriftstücks in sein Inneres vordringen zu lassen. Auf der Felseninsel hingegen habe er die Buße inkorporiert und sei „selber zur Tafel geworden“,²⁹ sodass der Gegenstand überflüssig geworden sei. Tatsächlich hat schon die jüngere, auf den französischen Grégoire zurückgreifende lateinische Exempelliteratur die Tafel des Protagonisten so ausgelegt, dass sie explizit auf die mosaischen Gesetzestafeln verweist. Im Gregoriusexempel in den Gesta Romanorum aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts etwa heißt es in der an die Erzählung anschließenden moralisatio, dass Jesus nach seiner Menschwerdung den Teufel bekämpft und den Menschen das Paradies zurückgewonnen habe. Danach habe er, wie Gregorius, seine Mutter geheiratet, nämlich die Kirche: Post hec matrem suam i. e. sanctam ecclesiam desponsavit, per quam tabelle erant scripte i. e. decem precepta, que Moyses a deo recepit. Illa singulis diebus debemus videre et in cordibus nostris imprimere et sacram scripturam respicere, legere et intellegere […].³⁰ Danach heiratete er seine Mutter, d. h. die heilige Kirche, für die die Tafeln geschrieben worden waren, d. h. die Zehn Gebote, die Moses von Gott erhielt. Diese sollen wir an jedem einzelnen Tag ansehen und sie in unsere Herzen eindrücken und die heilige Schrift beachten, lesen und verstehen.

Wie aber lässt sich eine solche spätere Auslegung mit Gewinn auf die Handlung von Hartmanns Gregorius anwenden? Was genau ist gesetzhaft am Inhalt der Tafel? Inwiefern befindet sich die Mutter in einer vergleichbaren Position wie Gott, dass sie Gesetze niederlegen kann? Und welche möglichen Gebote übertritt Gregorius denn tatsächlich, die er nach dem Lesen der Tafel eigentlich hätte beachten sollen? Diese Fragen werden nirgends explizit gestellt, geschweige denn beantwortet. Bis zum Jahr 2000 schien es, als habe sich die Forschung mit ihrer Konzentration auf die Schuldfrage derart festgefahren, dass neue Erkenntnisse über Hartmanns Gregorius und damit auch über die Funktion der Tafel im Text kaum zu erwarten waren. Peter Strohschneider brachte das Problem in seinem paradigmatischen Auf André Schnyder: Das Buch im Buch. Von lehrreicher, erfreulicher und gefährlicher Lektüre in mittelalterlichen Texten, in: Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation. Hg. von Michael Stolz und Adrian Mettauer. Berlin, New York 2005, S. 123 – 143, hier S. 135.  De mirabili divina dispensatione et ortu beati Gregorii pape, in: Gesta Romanorum. Hg. von Hermann Oesterley. Berlin 1872, Cap. 81, S. 399 – 409, hier S. 408, Z. 36–S. 409, Z. 1.

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satz zur ‚Inzest-Heiligkeit‘ auf den Punkt: Beim Gregorius handle es sich um einen Text, „dessen ästhetischer Rang und dessen kanonische Geltung in der germanistischen Mediävistik zwar außer Frage stehen, der indes zugleich in kreisenden, auch aporetischen Forschungsdebatten beinahe endgültig zum Verstummen gebracht worden ist: Gewissermaßen der ‚klassische‘ Fall eines toten Klassikers“.³¹ Strohschneiders Wunsch bestand folglich darin, einen gänzlich neuen Ansatzpunkt zu finden, um wieder produktiv über diesen Text sprechen zu können.³² Der Vorschlag, den er mit seinem Aufsatz macht, besteht darin, nicht im Detail nach den Vorstellungen des Textes von Gott, Gnade und Heil zu fragen und dabei die „poetische Rede von Sünde und Schuld, Buße und Erlösung“ erneut zu reproduzieren,³³ sondern sich vielmehr von diesen sehr spezifischen Kategorien zu lösen und den Blick auf das zu richten, von dem der Protagonist ausgeschlossen wird, d. h. auf die diesseitige, auf genealogischen Unterscheidungen beruhende höfisch-feudale Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten. Strohschneider zeigt, dass die aquitanische Herrscherfamilie von Anfang an dazu neigt, zu sehr unter sich zu bleiben, obgleich dies an keiner Stelle mit zielgerichteten Entscheidungen begründet wird: Der Vater versäumt es, seine Tochter mit einem nicht-verwandten Mann zu verheiraten, sein Sohn zeigt kein Interesse daran, eine nicht-verwandte Braut zu finden und die Tochter weist nach dem Tod des geliebten Bruders alle Werber ab, bis sie schließlich den einen nimmt, mit dem sie blutsverwandt ist. Die Problematik, die aus dieser Tendenz zur Endogamie entsteht, ist Strohschneider zufolge durch die zeitgenössische Sündentheologie nicht angemessen zu beschreiben. Diese sei letztlich nur ein „historisch-kulturell kontingente[r]“ Ausdruck einer viel fundamentaleren Gesetzmäßigkeit nicht nur der mittelalterlichen höfischen Gesellschaft.³⁴ Gefragt werden müsse „nach dem […] Gesetz schlechthin“,³⁵ das heißt, mit Claude Lévi-Strauss gesprochen, nach dem Inzestverbot als dem wichtigsten Stützpfeiler der elementaren Strukturen der Verwandtschaft.³⁶ Das Inzestverbot unterscheidet Verwandte von Nicht-Verwandten, es unterscheidet Menschen, mit denen man schlafen und Nachkommen erzeugen darf, von solchen, mit denen dies verboten ist. Mit dieser grundlegenden Unterscheidung führt es eine von verschiedenen Gemeinschaften unterschiedlich definierte, doch oft als unumstößlich betrachtete Ordnung in das komplexe Geflecht sozialer Beziehungen ein, in das der oder die Einzelne eingebunden ist. Oder, mit Peter Strohschneider: „Damit begründet es Ordnung überhaupt, die nicht anders denn als strukturiertes Gefüge des Unterschie-

 Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 109.  Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 109.  Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 106.  Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 116.  Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 116.  Vgl. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1993 (erstmals Paris 1949).

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denen zu denken ist.“³⁷ Hartmanns Gregorius erzähle von einem Verstoß gegen das Inzestverbot nicht nur als von einer Todsünde, sondern von einer „Krise der Unterschiede“, die die Ordnung der Gemeinschaft an sich in Frage stelle.³⁸ Ein Symptom dafür ist, dass die Verwandtschaftsterminologie keine eindeutigen Zuordnungen mehr erlaubt, wie sie es eigentlich tun sollte. Wenn die Mutter eines Menschen zugleich seine Base und sein Vater sein Oheim ist, wenn seine Geliebte und Ehefrau auch seine Mutter und seine Tante ist, dann beginnen die Bezeichnungen und die Kategorien einander zu überlagern und sich zu verwirren, bis es schwierig wird, sie miteinander in Einklang zu bringen. Die Betroffenen versuchten Strohschneider zufolge mehrmals, die Gesetzesübertretung zu heilen, indem sie einen der daran Beteiligten aus der Gemeinschaft ausstießen: Gregorius’ Vater mache sich ins Heilige Land auf, das Kind werde ausgesetzt, der erwachsene Gregorius gehe vom Hof weg. In Gregorius’ zweimaliger Entfernung vom Ort des Inzests sieht Strohschneider ein Anzeichen dafür, dass er zuerst zum Stellvertreter des Vergehens gemacht werde und diese Rolle später willentlich auf sich nehme.³⁹ Das Ziel des Textes allerdings bestehe darin, dass Gregorius nicht nur seine Eltern, sondern alle christlichen Menschen vor Gott vertrete. Zu diesem Zweck müsse er selbst vom Sündenbock zum Sünder werden, müsse also selbst das Gesetz der Verwandtschaft brechen und für dieses Verbrechen büßen, indem er es mit sich aus der Gemeinschaft entferne, in der es begangen wurde. Gregorius erkenne mit der Notwendigkeit seiner Entfernung die Gültigkeit des Gesetzes und damit die Notwendigkeit von Ordnung und Struktur an.⁴⁰ Mit seinem Eintritt in die Askese verliere er alle Gegenstände und Merkmale, die ihn von anderen Menschen erkennbar unterschieden. Auf diese Weise mache er an sich selbst die Entdifferenzierung sichtbar, die die Gemeinschaft so lange unsichtbar von innen bedroht habe. Dafür werde ihm die

 Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 117.  Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 118.  Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 126. Zum Mechanismus der Ausstoßung, der eine Krise der Entdifferenzierung beheben und die Gemeinschaft retten soll, vgl. René Girard: Der Sündenbock. Zürich 1998 (erstmals Paris 1982). Jan-Dirk Müller moniert mit Harald Haferland an Strohschneiders Anwendung von Girards Sündenbockmodell, dass im Gregorius an keiner Stelle von einer sozialen Krise die Rede sei. Vgl. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 105; Harald Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99 (2005), S. 323 – 364, hier S. 361.Vgl. auch Warning, Berufungserzählung, S. 296 (FN 20). Dem könnte man entgegenhalten, dass es sich bei Gregorius nicht um einen gewöhnlichen Sündenbock handelt, der von seiner Gemeinschaft ausgestoßen wird, um eine schwere Krise zu bewältigen. Wer sich sozusagen selbst aussetzt, kann dies auch dann tun, wenn die meisten anderen Menschen von dem Problem, das er zu lösen beabsichtigt, noch gar nichts wissen. Dies unterscheidet den Gregorius als ‚Opfertext‘ von ‚Verfolgungstexten‘. Zu den Begriffen und ihren Implikationen vgl. Andreas Kraß und Thomas Frank: Sündenbock und Opferlamm – der Märtyrer in kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums. Hg. von Andreas Kraß und Thomas Frank. Frankfurt a. M. 2008, S. 7– 21, hier S. 11.  Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 128.

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Gnade Gottes zuteil. Seine bevorstehende Erwähltheit werde evident in Gregorius’ maximaler Distanzierung von der geordneten, durch Unterschiede strukturierten höfischen Welt. Heilig sei er nicht, obwohl, sondern weil er mit seinem Inzest dazu beigetragen habe, die soziale Ordnung zum Kollaps zu bringen, um sie dann als freiwilliger Sündenbock neu zu errichten. Das Neue an Strohschneiders Lesart des Gregorius ist, dass er erstmals mit Nachdruck danach fragt, nach welchen Regeln die erzählte Welt organisiert ist und wie höfische Gemeinschaft in ihr funktioniert – nicht im Detail, sondern im Großen und Ganzen. Aus dieser Perspektive wird im Gregorius nicht von einem persönlichen Problem des Protagonisten erzählt, sondern von einer sehr basalen systemischen Herausforderung. Jan-Dirk Müller stellt deren realhistorischen Hintergrund noch weiter heraus, wenn er feststellt: „Im Inzest ist bloß zugespitzt, was eine zur Endogamie tendierende feudale Ehepraxis latent immer bedroht“:⁴¹ Die adlige Elite sei bestrebt, Macht und Besitz möglichst auf eine kleine Gruppe zu konzentrieren. Das Ausschlusskriterium, das man zu diesem Zweck in Zentral- und Westeuropa wählt, ist das der Verwandtschaft (und nicht etwa das der im Kampf bewiesenen Idoneität). Der Inzestfall, so Müller, ist Ausdruck des Wunsches, die Grenzen der verwandtschaftlich definierten Gruppe eng zu halten, Außenseitern möglichst keinen Zugang zu gewähren und aus diesem Grund auf Verwandte als Heiratskandidaten zurückzugreifen. „Der Inzest ist die extreme Konsequenz eines vor aller ständischen Kontamination zu bewahrenden Bluterbes, der Grenzwert, der nicht angestrebt werden darf, an dem sich aber alles ausrichtet.“⁴² Die Vorstellung, Herrschaft durch Reproduktion unter nahen Verwandten in der engsten Familie zu behalten, kann in einem solchen Kontext sowohl Abscheu als auch Begehren erzeugen. Und dies ist es schließlich auch, was die Tafel des Gregorius tut. Als der junge Mann den Inhalt der Tafel zum ersten Mal liest, heißt es, dass er darüber sowohl traurig als auch froh sei – traurig ist er über die Nachricht, in der Sünde des Inzests geboren worden zu sein, zugleich freut er sich aber auch darüber, nun doch dazuzugehören zum Kreis der wenigen, die mit dem Recht der Geburt Ritterschaft üben dürfen. In seinem Aufsatz wendet sich Peter Strohschneider en passant gegen die Applikation von Sigmund Freuds psychoanalytischem Ödipus-Modell auf Hartmanns Gregorius – vielleicht, um vor der Verlockung durch ahistorische, da vermeintlich überzeitliche Erklärungen für menschliches Verhalten auch in vormodernen literarischen Texten zu warnen.⁴³ Dennoch könnte man darüber nachdenken, ob die Gedankenfiguren, die die Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts anbietet, Strohschneiders Vorschlag nicht doch einige wichtige Facetten hinzufügen könnten, wenn man beschreiben möchte, inwiefern es sich bei der Tafel des Gregorius um eine Art ‚Gesetzestafel‘ handelt.

 Müller, Kompromisse, S. 103.  Müller, Kompromisse, S. 104.  Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 116 – 117.

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Ein gewöhnlicher Gesetzeskodex ist sie sicher nicht. Anders als der Dekalog etwa enthält sie keine auf Anhieb verständlichen allgemeinen, für alle oder viele Menschen gültigen Regeln (z. B. „Du sollst nicht töten“), sondern sehr spezifische Aussagen über den Stand und die inzestuöse Herkunft des ausgesetzten Kindes und die Bedürftigkeit seiner Eltern sowie Anweisungen und Wünsche an den Finder und den erwachsenen Findling. Der Inzest wird nicht einmal als solcher benannt, sondern etwas umständlich umschrieben (diu ez gebære / daz diu sîn base wære, / sîn vater wære sîn œhein, G 735 – 737). Die Tat ist offenbar zu verwerflich, als dass man sie ohne Weiteres in deutliche Worte fassen dürfte. Zugleich zeigt die Umschreibung aber auch, was der Inzest angerichtet hat – da Kindsgebärerin und Tante in eins fallen und die Rollen des Vaters und des Onkels nicht von zwei Personen, sondern von ein und derselben Person ausgefüllt werden, kann dem Kind im Verwandtschaftsverbund keine eindeutige Position zuerkannt werden. Mit der Terminologie der Verwandtschaft versagt die Sprache selbst. Bewertet und eingeordnet wird dieses Vergehen an der Ordnung der Verwandtschaft sogleich, nämlich als mein, also als Frevel (G 738) und als missetât (G 758) und es werden mit der ewigen Verdammnis (G 762), also der Höchststrafe, auch die schrecklichen Konsequenzen genannt, die die Missetäter ohne Fürsprache erleiden müssen. Die Tafel affirmiert das Gesetz der Verwandtschaft, das der Text unhinterfragt als fundamental für das Funktionieren der Gemeinschaft voraussetzt, und schreibt es ihm bei jeder weiteren Erwähnung im Verlauf der Handlung erneut ein. Aus dem aquitanischen Sonderfall lässt sich damit durchaus ableiten, dass die Figuren aus der Perspektive ihres Autors nicht gegen eine mehr oder weniger bedeutende soziale Konvention, sondern gegen die gesellschaftliche Ordnung an sich verstoßen haben, oder, um mit Jacques Lacan zu sprechen, gegen die symbolische Ordnung. Diese verlangt, dass der Einzelne das ‚Nein‘ akzeptiert, das seinem Begehren eine Schranke errichtet, dass er sich dem allumfassenden Gesetz unterwirft, das ihm Verzicht gebietet.⁴⁴ Ausgesprochen wird dieses lacansche non-du-père nicht von Gregorius‘ Vater, sondern von seiner Mutter. Festgehalten und auf Dauer gestellt wird das Verbot auf der Tafel, die sie ihrem Kind mitgibt. Gregorius tut das, was er – glaubt man der Psychoanalyse – genau wie jeder andere Mensch tun muss: Er begehrt,

 Dieses Nein-des-Vaters (non-du-père) im Namen-des-Vaters (nom-du-père) wird Lacan zufolge nicht von einer tatsächlichen Person formuliert, also vom Vater eines Kindes, das diesem Kind das ödipale Begehren der eigenen Mutter verbietet, sondern durch „das Bild von etwas Gelungenem, das Modell einer Harmonie“. Dazu ist „ein Gesetz notwendig, eine Kette, eine symbolische Ordnung, das Eingreifen der Ordnung des Sprechens, das heißt des Vaters. Nicht der natürliche Vater, sondern das Eingreifen dessen, was sich Vater nennt. Die Ordnung, welche die Kollision und das Bersten der Situation insgesamt verhindert, beruht auf dem Bestehen dieses Namens des Vaters“. Jacques Lacan: Das Seminar III. Die Psychosen. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übersetzt von Michael Turnheim. Weinheim, Berlin 1997 (erstmals Paris 1981), S. 116. Vgl. auch Jacques Lacan: Namen des Vaters. Hg. von Jacques-Alain Miller, übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Wien 2006. Zur Psychoanalyse als ‚Theorie des Dritten‘ vgl. Susanne Lüdemann: Ödipus oder ‚ménage à trois‘. Die Figur des Dritten in der Psychoanalyse, in: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. von Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer und Alexander Zons. Berlin 2010, S. 80 – 93.

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wird in seinem Begehren eingeschränkt, fügt sich und gelangt dadurch zu einem erfolgreichen Lebensmodell. Auffällig ist, dass zwischen den inzestuösen Akten und der jeweiligen Erkenntnis, durch den Gesetzesbruch in große Schwierigkeiten geraten zu sein, jedes Mal einige Zeit vergeht. Implizit begründet wird dies dadurch, dass diejenigen Personen, die das Gesetz in der erzählten Welt vertreten sollten, allesamt dabei versagen, es eindeutig, leicht verständlich und anwendbar zu formulieren. Gregorius’ Großvater handelt nach eigenem Bekunden unväterlich (G 242) an seiner Tochter, indem er nicht rechtzeitig für ihre Zukunft sorgt, und lässt seinen Sohn lediglich mit der vagen Anweisung zurück, sich bruoderlichen (G 262) um sie zu kümmern, ohne weiter auszuführen, was genau das beinhaltet – ganz sicher nicht den Beischlaf, möglicherweise aber ihre exogame Verheiratung, die er selbst versäumt hatte? Auch Gregorius’ Vater stirbt, bevor er seinem Kind irgendetwas hinterlassen kann, und sei es ein deutliches ‚Nein‘. Gregorius’ Mutter gibt ihrem Kind zwar die Tafel mit, auf der es von den Folgen ihres Gesetzesbruchs lesen kann; die Information wird auch, obgleich verschlüsselt gegeben, sogleich als gültig anerkannt, bleibt aber vorerst abstrakt. Der Abt wiederum äußert zwar viele Argumente, warum Gregorius besser auf der Klosterinsel bliebe, auf eine Gefahr jedoch weist er merkwürdigerweise nicht hin – dass der junge Mann als Ritter in der höfischen Welt durchaus und sogar mit einiger Wahrscheinlichkeit auf verwandte Frauen treffen könne, die als verwandt zu erkennen er aber nicht in der Lage sein werde. Und schließlich greift auch Gregorius selbst nach der entscheidenden Enthüllung zu Umschreibungen und Euphemismen, statt seinen Verstoß beim Namen zu nennen (G 2619 – 2622), und die Mutter tut dies ebenfalls, wenn sie nur von sämelich missetât (G 2687: so gearteter Missetat) spricht. Es ist, als handle es sich beim Inzest im Gregorius um eine ähnlich ‚stumme Sünde‘, wie es in anderen mittelalterlichen Texten die Sodomie ist.⁴⁵ Offenbar kann die Bedeutung dieses Vergehens gegen die Ordnung der Verwandtschaft, der Gemeinschaft und der Sprache selbst kaum in Worte gefasst werden, nicht mündlich und nicht einmal schriftlich aus einer räumlichen und zeitlichen Distanz heraus, wie es die Elfenbeintafel versucht. Um die wahre Bedeutung des Gesetzes zu verstehen, muss es erst übertreten werden. Die Transgression ist zugleich eine Gefährdung der symbolischen Ordnung und ihre Bedingung. Erst nachdem er das ganze Ausmaß seiner Übertretung erkannt hat, kann Gregorius sich dem non-du-père absolut unterwerfen. Indem er alles zurücklässt, was er zuvor so sehnsüchtig begehrt hatte und was ihn von anderen unterscheidet, gibt er willentlich seine Subjekthaftigkeit auf. Nach den 17 Jahren auf der Felseninsel ist er dementsprechend ein wahres ‚Nichts‘, die römischen Legaten finden nur noch etwas vor, was nicht mehr präsent ist (G 3379 – 3402). Durch diesen extremen Verzicht erlangt Gregorius die Möglichkeit, am Ende seinen Sub Vgl. Andreas Kraß: Sprechen von der stummen Sünde. Das Dispositiv der Sodomie in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts (Berthold von Regensburg / Der Stricker), in: ‚Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle‘. Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Lev Mordechai Thoma und Sven Limbeck. Ostfildern 2009, S. 123 – 136.

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jektstatus in gesteigerter Weise zurückzuerhalten. Die Krassheit der Transgression und die Maßlosigkeit des Eingeständnisses sowohl der Transgression als auch des Gesetzes, das sie verletzt hat, qualifiziert Gregorius in einem letzten Schritt dazu, selbst zur höchsten Autorität zu werden, die die von Gott sanktionierte symbolische Ordnung auslegt und gegenüber allen anderen Menschen vertritt. Nach Gregorius’ Erwählung zum Papst wird er selbst zum Verwalter von Recht und Gesetz, zum obersten Richter: Er kunde wol ze rehte leben, / wan im diu mâze was gegeben / von des heiligen geistes lêre. / des rehten huote er sêre (G 3793 – 3796). Er verstand es, auf rechte Weise zu leben, da die Lehre des Heiligen Geistes ihm das richtige Maß verliehen hatte. Er achtete sehr auf das Recht.

Die Elfenbeintafel seiner Mutter braucht Gregorius zum Ausüben seines Richteramts nicht mehr.

Medialität: Vermittlung zwischen Zeiten, Orten und Menschen Während Versuche, die Tafel als Verkörperung eines übergeordneten Gesetzes zu verstehen, eher auf ihre Funktion als das Verständnis erleichternder Schlüssel zur geschilderten Erzählung abheben, fokussieren andere Lesarten die Funktionen, die ihr innerhalb der erzählten Welt von den Figuren zugedacht werden. Eine dieser Funktionen ist die Vermittlung zwischen Gegenwart und Zukunft oder Gegenwart und Vergangenheit, zwischen voneinander entfernt liegenden Räumen oder zwischen verschiedenen Personen. Als Medium ist die Tafel des Gregorius eine Instanz, die sich als etwas ‚Mittleres‘ oder ‚Drittes‘ zwischen zwei voneinander unterschiedenen Momenten, Positionen, Personen oder Situationen befindet und diese miteinander verbindet, sie aber zugleich auch voneinander trennt.⁴⁶ Um den Gebrauchszusammenhang zu beschreiben, in den sie von seiner Urheberin wie auch von deren Adressat gestellt wird, vergleicht etwa Urban Küsters sie nicht nur mit den mosaischen Gesetzestafeln, sondern auch

 „Vermittlung […] hat ein Doppelgesicht, sie kann als sym-bolischer Akt (zusammen-werfend), aber auch als dia-bolischer Eingriff (auseinander-dividierend) auftreten.“ Sybille Krämer: Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht, in: Was ist ein Medium? Hg. von Stefan Münker und Alexander Roesler. Frankfurt a. M. 22012, S. 65 – 90, hier S. 73. Die Figur des Dritten nennt Dieter Mersch gleich zu Beginn der Einleitung zu dem Band Medientheorien zur Einführung: „Es gibt Medien, weil es Alterität gibt. Alterität meint ein ‚Anderes‘, das sich dem Zugriff zunächst verweigert, das eines Dritten bedarf, um seine Vermittlung, seine Symbolisierung, Aufbewahrung, Übertragung oder Kommunizierung zu garantieren.“ Dieter Mersch. Medientheorien zur Einführung. Hamburg 2006, S. 9.

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mit den Tafeln des Seth, die das europäische Mittelalter aus einer apokryphen Adamslegende kennt.⁴⁷ In der ursprünglich spätantiken lateinischen, später in eine Vielzahl von Volkssprachen übersetzten Vita Adae et Evae wird erzählt, dass die sterbende Eva darum bittet, man möge ihr und Adams Leben aufzeichnen: ‚Sed audite me, filii mei, facite ergo tabulas lapideas et alias tabulas luteas et scribite in his omnem vitam meam et patris vestri quae a nobis audistis et vidistis‘ (‚Hört mich aber an, meine Söhne, stellt also Tafeln aus Stein und andere aus Ton her und schreibt darauf mein und eures Vaters ganzes Leben, was ihr von uns gehört und gesehen habt‘).⁴⁸ Seth fertigt daraufhin steinerne Tafeln an, schreibt alles auf und bewahrt die Tafeln in Adams Gebetsraum im Haus seiner Eltern auf. Nach der Sintflut gelingt es nachfolgenden Generationen lange Zeit nicht, den Text auf diesen Schriftträgern zu entziffern. Erst König Salomo kann mit Gottes Hilfe lesen, was darauf geschrieben steht, und hebt die Tafeln weiter auf. Für Urban Küsters besteht eine wichtige Parallele zwischen der Adamslegende und Hartmanns Gregorius darin, dass in beiden Texten von beschrifteten Tafeln die Rede ist, die das Wissen über die Sünden der Elterngeneration für kommende Generationen konservieren sollen. Jedes dieser Schriftstücke vermittele zwischen den Lebenszeiten von zwei Generationen und zwischen Sündenfall und Heilsgeschichte: „Die steinernen wie die elfenbeinernen Tafeln sind feste Denkmäler, die das dauerhafte Vermächtnis der Mutter bergen, indem sie einerseits Sündengeschichte und Paradiesverlust, anderseits aber auch die Heilsmöglichkeiten von Buße und Erinnerung aufzeichnen.“⁴⁹ Ebenso wie die Tafeln des Seth stelle auch die Tafel des Gregorius ein Medium dar, das eine Brücke zwischen zwei Epochen schlägt. Küsters bezeichnet die Elfenbeintafel daher unter anderem als Monument, das an längst vergangene Zeiten erinnern soll. Zum Dokument, also zu einem Gegenstand, dessen Zeichenfunktion sich von den Absichten seines Urhebers löst, in den Augen eines Betrachters plötzlich praktischen statt nur erhebenden Informationswert besitzt und dadurch ‚Indizcharakter‘ erhält, werde die Tafel erst in dem Moment, als bei der Entdeckung durch die Mutter Vergangenheit und Gegenwart nahtlos nebeneinander zu stehen kommen und das Medium plötzlich als exzessiv determiniert erscheint.⁵⁰ Vermittelt wird mithilfe der Tafel jedoch nicht nur zwischen ‚jetzt‘ und ‚dann‘, sondern auch zwischen ‚hier‘ und ‚dort‘. Während sich die Mitglieder von Gregorius’

 Vgl. Küsters, Marken, S. 472– 474. Vgl. auch Brian Murdoch: The Apocryphal Adam and Eve in Medieval Europe: Vernacular Translations and Adaptations of the ‚Vita Adae et Evae‘. Oxford 2009; Brian Murdoch: Adam’s Grace. Fall and Redemption in Medieval Literature. Cambridge 2000, S. 50 – 75.  Eine lateinische Fassung der Adamslegende findet sich im Magnum Legendarium Austriacum. Eine Edition auf der Grundlage von zwei Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts präsentiert Gerhard Eis: Beiträge zur mittelhochdeutschen Legende und Mystik. Berlin 1935 (Nachdruck mit Genehmigung des Matthiesen Verlags, Lübeck; Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 241– 255, hier S. 254.  Küsters, Marken, S. 473.  Vgl. Küsters, Marken, S. 488.

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Familie immer wieder voneinander entfernen und aufeinander zubewegen, schafft die Tafel ein Kontinuum, das die räumlichen Abstände zugleich überbrückt und hervorhebt. Dadurch führt Hartmann eine Dimension von Medialität in seinen Text ein, die die Adamslegende zunächst nicht kennt. Dort sind die Tafeln, die die entscheidenden Informationen enthalten, lange Zeit über immobil.⁵¹ Gregorius hingegen nimmt seine Tafel bei all seinen Bewegungen im Raum der erzählten Welt mit sich, selbst dann, wenn er als Säugling nichts davon weiß. Nicht nur die Vergangenheit ist auf diese Weise bei ihm, auch Aquitanien ist es. Dies ändert sich erst bei seiner Überfahrt auf die zweite Insel, als er die Tafel auf dem Festland zurücklässt. Anders als auf der Klosterinsel, auf der der junge Gregorius von Kampf, Ehre und Ritterschaft geträumt hatte, ist er auf der Felseninsel zum ersten Mal in seinem Leben von dem Gegenstand getrennt, der ihn mit dem Ort seiner Geburt verbindet. Gregorius befindet sich an einem heterotopos, an einem Ort, der von allen anderen Orten abgeschnitten ist und von dem aus es ohne ein Wunder keine Rückkehr geben kann. Die Rückkehr ist auch eine Rückkehr zur Tafel – allerdings kann man sich fragen, ob das wunderbar unversehrte Artefakt als Medium nun möglicherweise eine neue Verbindung herstellt, nämlich eine zum Jenseits und damit zu einem Raum, der weder Hof noch Insel ist, weder weltlich noch abgeschieden von der Welt, nicht ausschließlich von Gregorius’ Vorfahren noch von ihm selbst bewohnt, sondern jetzt und künftig von allen, denen Gottes Gnade zuteilwird. Einen anderen Blick auf die Tafel als Medium werfen Edith und Horst Wenzel in ihrem Aufsatz zur „Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“.⁵² Auch sie argumentieren, dass die Tafel dazu diene, Vergangenes in fortgesetzten Akten des Gedenkens gegenwärtig zu machen.⁵³ Allerdings interessieren sie sich weniger für eine Vermittlung zwischen zwei Zeiten als vielmehr für eine zwischen zwei Menschen. Die Tafel sei ein Kommunikationsmittel, das eine Botschaft von einer Person an eine andere enthalte, nämlich von Gregorius’ Mutter an ihren Sohn. Sie konserviere Informationen, die von einem ihrer beiden Adressaten, dem Kind, erst in späterer Zeit abgerufen werden können. Indem die Mutter im Medium einer schriftlichen Nachricht zu ihrem Kind spreche, verdopple sie außerdem dieses Kind gewissermaßen.⁵⁴ Von nun an gebe es zwei Adressaten: den von der Mutter in ihrer Nach-

 Erst Salomo macht zwar Adams alten Gebetsraum zu einem Gottestempel, nimmt aber die Tafeln an sich und entfernt sie von dem Ort, an dem sie sich vorher so lange befunden haben (Vita S. 255).  Edith und Horst Wenzel: Die Tafel des Gregorius. Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg. München 1996, S. 99 – 114.  Vgl. auch Classen, Objects, S. 163 – 164. So auch Michael Ott: „Wenn die Tafel als Memorialobjekt zu bezeichnen ist, dann in diesem ganz speziellen Sinn, als Objekt, das einen Menschen dazu bringt, Memorialarbeit zu leisten.“ Ott, Tafel, S. 28.  Einen ähnlichen Gedanken verfolgt auch André Schnyder: „Eine der Antike und dem Mittelalter wohl vertraute Analogie sieht den Menschen, sein Gedächtnis, sein Bewusstsein, ja seine Person als Wachstafel. So betrachtet ritzt die Mutter ihre Vorstellungen vom künftigen Weg des Kindes also nicht bloss in die reale Wachstafel ein: christliche Taufe, Schulbildung (was nach Lage der Dinge wohl

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richt implizierten und intendierten und den tatsächlichen Leser, der ein reales Leben außerhalb des von ihr verfassten Textes führt. Die Tafel sei also als eine Art ‚zweiter Gregorius‘ aufzufassen: „Die Schrifttafel des Gregorius, der als Kind eines Geschwisterinzestes ausgesetzt wird und seinen angestammten sozialen Ort verliert, erscheint als Attribut des Helden und zugleich als Medium der Repräsentation, der Vergegenwärtigung eines ‚anderen‘ Gregorius.“⁵⁵ Die Person von edler Geburt und hohem Stand, die die Mutter in ihrem Text entwerfe, überlagere sich von Anfang an mit dem lebendigen Menschen. Noch bevor er die Tafel zum ersten Mal gesehen habe, könne Gregorius daher am eigenen Körper fühlen, wie sich Geburt und Stand Bahn brechen.⁵⁶ Sein weiterer Lebensweg sei von dem Bemühen geprägt, seine beiden ‚Persönlichkeiten‘, die schriftliche und die reale, die statische und die dynamische, das auf der Tafel geschilderte Vorleben und sein tatsächlich und sinnlich erfahrenes gegenwärtiges Leben miteinander in eins zu bringen.Vollständig gelinge ihm dies erst, nachdem er das Puzzlestück erhalten habe, das ihm zum Rätsel seines Daseins bisher gefehlt habe – das Wissen um die Identität seiner Mutter, die ihm beide ‚Körper‘ gegeben hat. Da er nun gänzlich über beide verfüge und sie miteinander integrieren könne, brauche er den unorganischen ‚Zweitkörper‘ nicht mehr und könne ihn daher auf dem Festland vor der Felseninsel vergessen.⁵⁷ Als die Tafel unzerstört wieder aufgefunden werde, repräsentiere sie erneut einen solchen Zweitkörper, nun allerdings einen anderen als zuvor. In ihr manifestiere sich nun nicht mehr Gregorius’ sündige Herkunft, sondern sein Körper und sein Leben in der Gegenwart und in der Zukunft nach dem irdischen Tod als Heiliger und von Gott Erwählter. In Abgrenzung zu Edith und Horst Wenzel versteht Michael Ott die Tafel nicht als Zweitkörper des Kindes, sondern als ‚Spur‘ seiner abwesenden Mutter.⁵⁸ Eine der Anweisungen der Mutter laute ja, dass man das Kind Lesen und Schreiben lehren möge, damit es, sobald es alt genug sei, selbst lesen könne, was auf der Tafel geschrieben sei. Auf diese Weise bereite die Mutter ein Gegenüber auf eine Kommunikationssituation vor, das im Augenblick des Beginns der schriftlichen Kommunikation noch nicht in der Lage sei, die Botschaft in Empfang zu nehmen, geschweige denn darauf zu reagieren.⁵⁹ Das Artefakt fungiert, so Ott, als Substitut der Person, die es

heissen dürfte: nicht-adlige, vielmehr klerikale Lebensform), Vermeidung der Superbia, Memoria für die Eltern. Die Mutter schreibt diesen sehr klaren Plan auch dem Leben ihres Kindes ein.“ Schnyder, Buch, S. 134.  Wenzel/Wenzel, Tafel, S. 104.  Vgl. Wenzel/Wenzel, Tafel, S. 108.  Vgl. Wenzel/Wenzel, Tafel, S. 112.  Vgl. Ott, Tafel, S. 27.  Dass dadurch in Michael Otts Lesart die Tafel „Handlungsgewalt“ erlangt und selbst zur Akteurin wird, ist wahrscheinlich vor allem dem Bestreben geschuldet, sie als Teil eines Akteur-NetzwerkModells zu betrachten. Vgl. Ott, Tafel, S. 27– 28. „Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie ist die Tafel also nicht einfach nur ein passives Objekt, das beschriftet wird, sondern ein Mensch-Artefakt-Hybrid“, und: „Nicht Gregorius geht mit der Tafel um, sondern die Tafel mit Gregorius.“ Ott, Tafel, S. 29 und S. 33.

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herstellt. Es stehe für die Person der Mutter ein, mache aber auch ihre Abwesenheit sichtbar. Betrachtet man die Tafel als Medium, d. h. als Instrument der Vermittlung zwischen Mutter und Sohn, dann lautet die entscheidende Frage nicht, ob sie nun aus der Perspektive der Absenderin den Empfänger oder aus der Perspektive des Empfängers die Absenderin verdoppelt. Die beiden Positionen schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Im Medium werden alle beiden abwesenden, voneinander getrennten Personen füreinander präsent. Dass das, was Absenderin und Empfänger sich mithilfe der Tafel jeweils vergegenwärtigen, weder mit den lebendigen Personen noch mit den Vorstellungen identisch ist oder sein kann, die der oder die andere im Sinn haben, ist ein ganz anderes Problem, von dem der Text dann auch ausführlich erzählt.

Materialität: Die Beschriftung, Zerstörung und Wiederherstellung des Schriftträgers Der materialen Beschaffenheit der Tafel hat die Forschung bis heute keine sehr große Aufmerksamkeit gewidmet. Die Szene, in der sie zum ersten Mal im Text erscheint, liefert nur wenige Details. Die Tafel besteht dem Erzähler zufolge aus Elfenbein und ist mit Gold und Edelsteinen geschmückt: ein tavel wart getragen dar / der vrouwen diu daz kint gebar, / diu vil guot helfenbein was, / gezieret wol als ich ez las, / von golde und von gesteine, / daz ich nie deheine / alsô guote gewan (G 719 – 725). Eine Tafel brachte man der Dame, die das Kind geboren hatte. Diese bestand aus kostbarem Elfenbein und war, wie ich gelesen habe, schön mit Gold und Edelsteinen verziert. Nie habe ich selbst es zu einer so kostbaren Tafel gebracht.

Aus dieser kurzen Passage versuchte man zu erschließen, was der Dichter in seiner Vorstellung vor Augen gehabt haben könnte. Edith und Horst Wenzel beispielsweise assoziieren die Tafel in ihrer Studie über die memoriale Funktion des Gegenstands mit Platons Ausführungen über das menschliche Gedächtnis. Dieses wird mit einer Wachstafel verglichen, in die der Mensch Wahrnehmungen eindrückt, um sie zu erhalten oder später wieder auszulöschen. Aus der häufigen Verwendung solcher Schriftträger nicht nur in der Antike, sondern auch im lateineuropäischen Mittelalter schließen sie, dass die Elfenbeintafel in Hartmanns Gregorius mit Wachs beschichtet sein müsse, in das die Schreiberin mit einem Griffel Buchstaben eindrückt. Dem schließt sich auch Volker Mertens in seinem Kommentar zum Gregorius an.⁶⁰ André

 „Es handelt sich um eine Wachstafel mit Elfenbeindeckel, die mit Gold und Edelsteinen verziert ist. Derartige kostbare Tafeln sind weitverbreitet.“ Volker Mertens: Stellenkommentar zu Hartmanns ‚Gregorius‘, in: Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2008, S. 826 – 877, hier S. 847.

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Schnyder wiederum hält es ebenfalls für plausibel, dass von einer Wachstafel die Rede ist, möchte aber nicht ausschließen, dass in der Vorstellung des mittelalterlichen Publikums „die junge Frau direkt mit Tinte auf das geglättete Elfenbein schrieb. Für beide Konkretisierungen bietet die Realiengeschichte eine Stütze“.⁶¹ Welche Schlüsse aber können aus der Tatsache gezogen werden, dass die Tafel (ob nun mit einer Wachsschicht versehen oder nicht) aus Elfenbein, Gold und Edelsteinen besteht? Man hat diese einzelnen Bestandteile in der Forschung stets summarisch als Ausdruck von ostentativ zur Schau gestellter Kostbarkeit betrachtet. Besonders kritisch sieht Ulrich Ernst den kostbaren Schmuck des Artefakts, das ja schließlich von einer unaussprechlichen Sünde berichtet. Er unterstellt den Figuren im ersten Teil des Gregorius, von einem verurteilungswürdigen „Verlangen nach materiellen Gütern und Statussymbolen“ getrieben zu sein – die Beigabe der prachtvollen und teuren Tafel durch die Mutter ist dafür in Ernsts Augen nur eines von vielen bedenklichen Symptomen fehlgeleiteter Lebensentwürfe.⁶² Dagegen erkennen Edith und Horst Wenzel in der Kostbarkeit der Tafel einen wertneutralen Hinweis auf die adlige Herkunft des Kindes, von der die Inschrift auf der Tafel spricht. Das Artefakt unterstreiche haptisch und visuell, was der Inhalt des Textes auf einer kognitiven, hermeneutisch arbeitenden Ebene des Verstehens vermittle.⁶³ Einen Schritt weiter geht Michael Ott mit der Feststellung, dass man es nicht einfach als selbstverständlich erachten solle, dass Gregorius’ Mutter ihren Bericht und Appell auf einer Tafel aus Elfenbein hinterlässt und nicht etwa auf einer Tafel aus Stein oder in einem Brief aus Pergament.⁶⁴ Alternativen sind, wie Brian Murdoch gezeigt hat, in der Vormoderne durchaus denkbar – in einer deutschen Prosafassung von 1464 etwa besteht die Tafel nicht aus Elfenbein, sondern aus Marmor, und in einer spanischen Prosafassung der Erzählung im Patroñuelo Juans de Timoneda von 1567 ist sie ganz aus Gold.⁶⁵ Das Argument, dass der Autor sich für eine Wachstafel entschieden haben könnte, weil die Aufsehen erregende Auslöschung der Schrift nach Gregorius’ Erwählung bei Stein als Beschreibstoff kaum möglich und bei Pergament „eher wenig plausibel“ sei, ist im Zusammenhang mit einem göttlichen Wunder nicht sehr stichhaltig, wie Michael Ott

 Schnyder, Buch, 132. Zur Wachstafel als Gebrauchsgegenstand vgl. Antjekathrin Graßmann: Das Wachstafel-Notizbuch des mittelalterlichen Menschen, in: Zur Lebensweise in der Stadt um 1200. Ergebnisse der Mittelalter-Archäologie. Hg. von Heiko Steuer. Köln 1986, S. 223 – 235.  Ernst, Antagonismus, S. 181. Milder argumentiert Andé Schnyder, wenn er feststellt, dass die auf der Tafel verzeichnete Aufforderung zur Bescheidenheit in einem gewissen Widerspruch zum Prunk des Schriftträgers steht. Vgl. Schnyder, Buch, S. 134.  „Schrift und Schriftträger ergänzen sich in der Weise, daß die Tafel sichtbar demonstriert, was die Schrift berichtet: die adlige Herkunft. Insofern ist die Tafel des Gregorius auch eine Schau-Tafel, ein Ostensorium, das auf den Status des Schriftkörpers verweist wie viele prachtvolle Codices dieser Zeit, deren kostbare materielle Ausstattung auf eine Wahrnehmung des logos durch Augen und Ohren (Sehen und Hören) angelegt ist.“ Wenzel/Wenzel, Tafel, S. 105.  Vgl. Ott, Tafel, S. 25 – 26.  Vgl. Murdoch, Gregorius, S. 117– 118 und 154– 155.

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selbst anmerkt.⁶⁶ Entscheidend ist hingegen der Hinweis, dass die Möglichkeit, die Tafel als Wachstafel zu imaginieren, die Rezeption des Textes entscheidend lenken könne. Folgt man diesem Gedanken, dann bringt das Medium, das die Botschaft der Mutter transportiert, einerseits eine gewisse Haltbarkeit mit sich, besonders angesichts einer Aussetzung auf dem Meer, andererseits aber auch die Möglichkeit eines leichten und mühelosen Auslöschens dieser Botschaft. Auf diese Weise wird von der ersten Erwähnung der Tafel an impliziert, dass die Schrift der Mutter auch wieder verschwinden kann und dass das, was sie so ‚eindrücklich‘ im Wachs festhält – nämlich nicht nur die Tatsache des ersten, sondern im übertragenen Sinn nach der Wiederentdeckung durch die Mutter auch die des zweiten Inzests –, nicht für immer zwischen Gregorius und seiner Errettung stehen muss. Die Frage nach der materialen Beschaffenheit der Tafel zu Beginn der Erzählung provoziert folglich die nach ihrem Zustand am Ende: Wie genau hat man sich das Objekt vorzustellen, wenn es nach 17 Jahren aus den Trümmern des niedergebrannten Schuppens geborgen wird? Ist die Schrift noch lesbar oder nicht? Im Text heißt es: nû erzeicte der dâ gnædic ist / an dem guoten Grêgôriô / ein vil grôzez zeichen dô, / wande er sîne tavel vant / als niuwe als si von sîner hant / vüere der si dâ worhte (G 3730 – 3735).⁶⁷ Da zeigte der Gnädige an dem guten Gregorius ein großes Wunderzeichen. Er fand nämlich seine Tafel so neu vor, wie sie war, als derjenige sie aus der Hand gab, der sie dort gemacht hatte.

Die Forschung ist geteilter Meinung darüber, was das zu bedeuten hat. Für Albrecht Classen etwa steht fest, dass die Tafel genauso aussieht wie in dem Moment, als die Mutter mit dem Beschreiben fertig ist und sie zu Gregorius ins Boot legt.⁶⁸ Auch Oliver Hallich zweifelt nicht daran, dass die „Inschrift ja dieselbe bleibt“⁶⁹ – sie könne ebenso wenig entfernt werden wie die Erbsünde, mit der alle Menschen geboren würden.⁷⁰ Demgegenüber geht Hermann Henne davon aus, dass die Schrift aufgrund von Gregorius’ neugewonnener „Sündenfreiheit und Heiligkeit“ verschwunden sei, woran man erkennen könne, dass Gregorius’ von Sünde geprägte Vergangenheit ausgelöscht

 Ott, Tafel, S. 33.  Handschrift G hat statt als niuwe als si von sîner hant vüere der si dâ worhte allerdings niuwe als ers (… Dar het gelait). Dies impliziert, anders als in den anderen Handschriften, dass die Tafel noch so aussieht wie zu dem Zeitpunkt, als Gregorius sie in dem Schuppen vergessen hat. Ähnlich sieht die Passage später in der Prosabearbeitung in Der Heiligen Leben aus.  Vgl. Classen, Objects, S. 167.  Hallich, Poetologisches, S. 164.  „Das Wiederfinden der Tafel ist dann als Erinnerung an die bleibende Erbsünde zu verstehen, analog der theologischen Vorstellung, daß auch nach Christus alle Menschen in der Erbsünde geboren werden, die erst durch die Taufe abgewaschen wird.“ Hallich, Poetologisches, S. 164.Warum die Schrift durch einen Gnadenakt Gottes nicht ebenso wie die Erbsünde ‚abgewaschen‘ oder auf andere Weise eliminiert werden kann, erklärt Hallich nicht.

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sei.⁷¹ Ähnlich liest Uwe Ruberg die Textstelle, wenn er auch einräumt, dass man aus Mangel an Indizien nicht entscheiden könne, „ob Hartmann einen Moment oder länger an die Tilgung der Tafelinschrift gedacht hat“.⁷² Michael Ott macht darauf aufmerksam, dass die Textstelle in dieser Frage mehr als nur eine Lesart zulasse, neigt aber in seiner Interpretation dazu, die Tilgung der Schrift von der Wachsoberfläche der Tafel anzunehmen.⁷³ Brian Murdoch schließlich verweigert eine solche Entscheidung,⁷⁴ ebenso wie André Schnyder, der die Uneindeutigkeit der Textstelle hervorhebt. Schnyder fragt danach, von wessen Hand in der oben zitierten Passage eigentlich die Rede sei – ist Gottes Hand gemeint oder die des menschlichen Handwerkers, der die Tafel hergestellt hat, bevor die Mutter sie beschriftet?⁷⁵ Für Schnyder ist diese Unschärfe „wohl nicht zufällig, sondern gewollt. Sie trifft sich mit dem Bemühen des Erzählers, das materiale Objekt ‚Tafel‘ verschwinden zu lassen: kein Wort der Beschreibung, kein Wort darüber, was aus der Schrift geworden ist“.⁷⁶ An die Stelle eines menschlichen Nutzgegenstandes trete ein Zeichen, das den gewohnten alltäglichen Gebrauchszusammenhängen so weit enthoben sei, dass seine irdischen Komponenten (und das ist neben der Beschaffenheit des Schriftträgers auch die Schrift selbst als Form menschlicher Rede) hinter seine Eigenschaften als Botschaft aus dem Jenseits zurückträten. Eine wichtige Erweiterung der Perspektive auf die Materialität der Tafel nimmt Sophie Marshall vor. Sie vergleicht die Passage, in der von der Aussetzung des Kindes erzählt wird, mit Gregorius’ ‚Selbstaussetzung‘ nach der Entdeckung des zweiten Inzests. In beiden Szenen präsentiere Hartmann seinem Publikum statische Bilder eines „Mensch-Ding-Arrangements“ in einer ähnlich strukturierten räumlichen Rahmung, die paradigmatisch zueinander in Beziehung gesetzt werden könnten.⁷⁷ Im ersten Fall

 Henne, Herrschaftsstruktur, S. 51 und S. 51 (FN 66).  Vgl. Uwe Ruberg: Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters. Mit kommentierter Erstedition spätmittelalterlicher Lehrtexte über das Schweigen. München 1978, S. 172.  „Mit der Tilgung der Inschrift ist Gregorius nicht mehr verpflichtet, die Schuld seiner Eltern zu tilgen und die Tafel wird im Folgenden nicht mehr erwähnt. Nachdem sie zum Zeichen der Vergebung wurde, hat sie als Artefakt keinen Einfluss mehr auf Gregorius.Weil die Tafel wieder unbeschrieben ist, ist auch er wieder vom Geschriebenen befreit.“ Ott, Tafel, 32.  „Whether it was restored or preserved is unclear.“ Murdoch, Gregorius, S. 88.  Vgl. Schnyder, Buch, S. 136.  Schnyder, Buch, S. 136.  Sophie Marshall: Fundsache Gregorius. Paradigmatisches Erzählen bei Hartmann, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hg. von Anna Mühlherr, Heike Sahm, Monika Schausten und Bruno Quast. Berlin, Boston 2016, S. 308 – 333, hier S. 313. Sophie Marshall verweist auf die „‚Dingwiederholungen‘, die [Michael] Stolz als Mittel eines Erzählens im Paradigma für den Parzival untersucht. Die beschriebene Äquivalenz stellt gegen die syntagmatisch-zeitliche Sukzessivität des Textes eine ‚unzeitliche Verknüpfung‘, eine Simultaneität syntagmatisch voneinander entfernter Elemente her […].“ Marshall, Fundsache, S. 313. Marshall bezieht sich hier auf Stolz, Dingwiederholungen.

2.1 Gregorius’ Tafel in der Forschung

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bestehe das Ensemble aus dem Säugling, den 20 Goldmark, dem Seidenstoff und der Tafel, die allesamt doppelt eingeschlossen seien, nämlich zum einen in einem vaz und zum anderen in einer barke. Im zweiten Fall sei Gregorius zusammen mit einem realen Metallobjekt (einer Eisenschelle), einer metaphorischen Bedeckung (straffer Haut, durch die sich Knochen drücken wie Dornen durch ein Tuch) und einem lediglich in Gedanken präsenten Erinnerungsstück (der Tafel, die er auf dem Festland vergessen hat) auf doppelte Weise an einen Ort gebunden, nämlich durch die Fessel sowie durch die Insellage seiner Bleibe. Auf der Felseninsel werde also das im ersten Bild aufgebaute Arrangement negiert. Dieses verweise in mehrfacher Hinsicht – und nicht etwa nur in Form der Elfenbeintafel – auf die Logik des Inzests, der das Kind Gregorius entzogen werden solle und von der es sich dennoch zunächst nicht befreien könne. Das Gold etwa werde beschrieben als Teil eines Schatzes oder Horts, also als Bestandteil einer Entität, die der gesellschaftlichen Zirkulation ebenso enthoben ist wie die Mutter des Gregorius, die nicht nach dem Prinzip des traffic in women an einen anderen Mann gegeben, sondern in der Familie behalten werde. Indem die Mutter das Gold des Schatzes zu Geld mache, mit dem das Aufziehen des Kindes bezahlt werden solle, dynamisiere sie es – allerdings nicht weitgehend genug, da es zum Großteil ja letztlich doch wieder in Gregorius’ Besitz gerate, der es mit nach Aquitanien nehme und damit abermals in den familiären Schatz einspeise.⁷⁸ Es sei daher nur folgerichtig, dass ausgerechnet das Geld, das doch eigentlich keiner einzelnen Person zugeordnet werden können solle, Fragen nach seiner Herkunft und damit auch nach der Herkunft des Kindes provoziere.⁷⁹ Indem Gregorius anerkenne, dass er selbst ein vollez vaz / süntlîcher schanden (G 3596 – 3597) sei, genau wie das vaz mit Kind, Gold, Stoff und Tafel, das vor vielen Jahren in der Nähe der Klosterinsel aufgefunden worden sei, und sich mit seinem Eremitendasein nun selbst freiwillig jeglicher Zirkulation entziehe, werde er selbst erst zu einem Schatz und daraufhin zu einer Gabe an alle Menschen. Dadurch mache Gregorius mehr als gut, was seine Eltern versäumt hatten. In dieser Lesart, die nach Analogien und Parallelen sucht, wird zum ersten Mal nicht schlicht wiederholt, in welches Arrangement die Mutter die Tafel zu Beginn einbaut, ohne daraus mehr abzuleiten als nur einen Verweis auf die adlige Abstammung des Kindes oder den Hochmut der Mutter. Vor allem das Gold kommt hier als zusätzlicher Schlüssel zum Verständnis des Textes zu seinem Recht. Im Folgenden wird es nun darum gehen, die in der Forschung bereits erzielten Erkenntnisse zu den allegorischen, medialen und materialen Dimensionen der Tafel aufzugreifen und zu vertiefen. Die Leitfrage wird dabei sein, inwiefern die Tafel von der Mutter dazu genutzt wird, Kontrolle über ihren sozialen Nahbereich auszuüben, und welche Erfolge und Misserfolge sie damit hat.

 Vgl. Marshall, Fundsache, S. 318.  Vgl. Marshall, Fundsache, S. 320 – 321.

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2.2 Selbstkontrolle und Kontrolle über das Kind Trotz der Tatsache, dass er zusammen mit einer Tafel aufgefunden wird, die Angaben über seine Herkunft macht, wächst Gregorius unter falschen Annahmen über ebendiese Herkunft auf. Das Schicksal, nicht besonders gut über seinen eigentlich ererbten Platz in der höfischen Welt Bescheid zu wissen, teilt er mit anderen Protagonisten höfischer Romane, um 1200 vor allem mit Parzival und Tristan.⁸⁰ Die Erzählungen über diese jungen Männer haben mehrere Einzslaspekte gemeinsam: Ein Kind wächst abseits eines größeren Hofes auf, ohne vollständig über seine Herkunft informiert zu sein. Für dieses Wissensdefizit sind seine Eltern, ein Elternteil oder seine Erzieher verantwortlich. Das Kind gerät in Kontakt zu einem Hof, gelangt dorthin und stellt in der Folge unter Beweis, dass alle höfischen Kompetenzen auf vollkommene Weise in ihm angelegt sind und nun nach außen drängen. Vergleicht man die drei Texte im Hinblick darauf, wer genau für diese spezielle Sozialisation des Kindes verantwortlich ist und wer wiederum dafür sorgt, dass das Kind sich ihr früher oder später entzieht, dann fällt auf, dass Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan mehr Ähnlichkeiten miteinander aufweisen als mit Hartmanns Gregorius. Besonders anschaulich machen lässt sich dies mit Algirdas Julien Greimas’ Aktantenmodell.⁸¹ Diesem Modell zufolge entsprechen den Figuren oder Akteuren einer Erzählung auf der Ebene des Wortlauts oder discours (‚Textoberfläche‘) die Aktanten auf der Ebene der histoire (‚Tiefenstruktur‘).⁸² Die Aktanten sind basale Handlungsprinzipien, die sich in semantisch stärker konkretisierten Handlungsrollen manifestieren. Diese werden von Figuren ausgefüllt, wobei in einer Figur mehrere Aktanten gebündelt sein können (im Nibelungenlied etwa übernimmt Brünhild sowohl die Rolle der zu erwerbenden Braut als auch die des gefährlichen Brautvaters) oder ein Aktant auf mehrere Figuren verteilt sein kann (ebenfalls im Nibelungenlied wird die Herrschaft der Wormser Könige zugleich vom König der Sachsen und vom König der Dänen bedroht). Wie lässt sich nun mit diesem Modell vergleichend die Art und Weise beschreiben, in der Parzival, Tristan und Gregorius aufwachsen? Im Parzival sind die beiden

 „Alle drei Figuren verlieren gleich zu Beginn ihre Eltern, d. h., sie werden in der Geschichte vom Stande Null an verfolgt. Die ererbten Tugenden müssen sich aus eigener Kraft entfalten, sie können nicht mehr vom Vater beeinflußt oder korrigiert werden. Dieses Faktum hat für den Verlauf der Handlung entscheidende Folgen: alle drei treten gewissermaßen von einem archimedischen Punkt her kommend in die Gesellschaft der Erzählung ein, in der sie sich dann trotz ihres Außenseitertums aufs vorzüglichste hervortun, weil die Gesellschaft einspringt […].“ Siegfried Grosse: ‚Vremdiu mære‘ – Tristans Herkunftsberichte, in: WW 20 (1970), S. 289 – 302, hier S. 291.  Vgl. Algirdas Julien Greimas: Éléments d’une grammaire narrative, in: L’Homme 9 (1969), S. 71– 92.  Zu diesem Modell und den narratologischen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, vgl. Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstruktion im höfischen Roman, in: Identität. Hg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle. München 1979, S. 553 – 589.Vgl. auch Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. 2., durchgesehene Auflage. Hg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. Berlin, Boston 2015, S. 16 – 17.

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Handlungsprinzipien, die diesen Teil der Handlung prägen, zwei Figuren zugeordnet: Parzivals Mutter Herzeloyde hält ihr Kind aus Sorge, dass es ein ähnliches Schicksal ereilen könnte wie ihren verstorbenen Ehemann Gahmuret, von jeglichem Hof fern. Einen ersten Kontakt zur Ritterschaft und zum Artushof stellt Parzival über den Ritter Karnahkarnanz her, dem er zufällig im Wald begegnet und der ihm von Artus erzählt, woraufhin Herzeloyde ihren Sohn zu ihrem großen Schmerz ziehen lassen muss. Die Rolle des ‚Dabehaltenden‘ und die Rolle des ‚Fortlockenden‘ werden von jeweils einer Figur verkörpert.⁸³ Im Tristan entfernen sich zuerst Tristans leibliche Eltern Riwalin und Blanscheflur mit dem ungeborenen Kind vom Markehof; nach der Geburt sind es mit Tristans Zieheltern Rual und seiner Frau zwei Figuren, die das Kind bei sich behalten und vor allen Gefahren behüten wollen, auch wenn sie es höfisch erziehen lassen. Später sind es ebenfalls mehrere Figuren, die den Kontakt zum Markehof herstellen – zuerst die norwegischen Kaufleute, die Tristan entführen, dann die Pilger und schließlich die Jagdgesellschaft, die ihn zu Marke bringt. Sowohl die Rolle des ‚Dabehaltenden‘ als auch die des ‚Fortlockenden‘ ist damit in diesem Roman, anders als im Parzival, auf mehrere Figuren verteilt. Eines jedoch haben die beiden Romane miteinander gemeinsam: Die Figuren, die das Kind dabehalten wollen, und die, die es (absichtlich oder unabsichtlich) dazu bringen, an den Hof zu gelangen, von dem es ursprünglich ferngehalten werden sollte, sind klar voneinander geschieden – die einen behüten das Kind, indem sie es an einer bestimmten Bewegung im Raum hindern, die anderen versetzen es in Bewegung. Auch in Hartmanns Gregorius manifestiert sich der Aktant, der das Kind vom elterlichen Hof fernhalten will, in zwei verschiedenen Figuren: in der Mutter, die Erziehungsanweisungen ausspricht, und in dem Abt, der die Anweisungen ausführt. Ein großer Unterschied zum Parzival und zum Tristan besteht darin, dass eine der beiden Erzieher- und Behüterfiguren im Gregorius, nämlich die Mutter, nicht nur diese eine thematische Rolle ausfüllt, sondern auch noch die entgegengesetzte. Sie hält ihren Sohn vom Hof fern, aber sie stellt mithilfe der Tafel auch eine Verbindung zum Hof von Aquitanien her. Auf paradoxe Weise werden in der Figur der Mutter zwei Aktanten gebündelt, die einander in der Logik der Handlung diametral gegenüberstehen. Es existieren also auf Figurenebene nicht zwei widerstreitende Parteien, sondern eine bedeutende Ambivalenz innerhalb ein und derselben Partei. Das heißt: Auch im Parzival und im Tristan gelingt es den für die jeweiligen Kinder verantwortlichen Personen nicht, diese von den Höfen fernzuhalten, an die es sie zieht. Die langfristigen Folgen dieses Prozesses können gut oder schlimm sein – die Position der ‚Erziehungsberechtigten‘ gegenüber dem Kind ist aber stets eindeutig. Im Gregorius ist das anders. Hier besetzt die Mutter widerstreitende thematische Rollen. Das, was sie und ihr Bruder mit der inzestuösen Beziehung und der Zeugung des  Karnahkarnanz tritt zwar zusammen mit zwei Gefährten auf. Das Gespräch aber, das Parzival dazu bringt, an den Artushof zu reiten, spielt sich allein zwischen ihm und dem jungen Mann ab. Vgl. P 120,24– 124,24. Man könnte aber überlegen, ob nicht auch Ither, dem Parzival auf dem Weg zum Artushof begegnet, dazu beiträgt, ihn dorthin zu locken.

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Kindes begonnen haben, setzt die Mutter auch nach dem Tod ihres Bruders und dem Aussetzen des Kindes fort: die Mehrfachbelegung von Rollen, die eigentlich streng voneinander getrennt sein sollten. Ihre eigene schillernde Ambivalenz in Bezug auf ihr Kind schreibt sie mithilfe der Tafel sogar der Zukunft des Kindes ein und provoziert damit die Fortsetzung einer fundamentalen Verwirrung der Kategorien. Um in der Gemeinschaft der adligen Elite lebensfähig und erfolgreich zu sein, das zeigt Hartmanns Gregorius, muss der Einzelne die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu seiner engsten Familie, zwischen Zugehörigkeit und Eigenständigkeit finden. Die höfischen Protagonisten der Geschichte definieren sich in ihrem Selbst über Bindung und Ablösung von den Personen, denen sie am nächsten stehen. Eine praktische Lösung für die Probleme, die diese Herausforderung verursacht, kann auch Hartmann nicht anbieten – schließlich ist es nicht jedem gegeben, Papst zu werden oder durch eine andere Art des Rückzugs in ein geistliches Leben (als Mönch oder als Eremit) allen Fallstricken übergroßer Nähe oder übergroßer Distanz auszuweichen, auch wenn diese Möglichkeit zumindest potenziell im Raum steht. Identitätsbildung ist im Parzival, im Tristan und im Gregorius grundsätzlich mit der Möglichkeit verbunden, Fehltritte zu begehen. Da das Selbst nur in Interaktion mit anderen Personen Gestalt gewinnt, hat es keinen Sinn, sich dieser Interaktion zu verweigern, und sei sie noch so riskant. Schriftliche Hinweise sind beim Vermeiden oder Heilen von Fehltritten zwar nicht überflüssig – glücken kann das Unterfangen jedoch erst, wenn die Schrift zu umfassender Erkenntnis führt. Und dies ist erst dann möglich, wenn theoretisches Wissen durch konkrete Erfahrung ersetzt oder zumindest ergänzt wird.

Das Geständnis der Mutter Wenn man der Paraphrase des Erzählers vertrauen kann, dann macht sich Gregorius’ Mutter im Text auf der Elfenbeintafel an keiner Stelle selbst als Urheberin kenntlich.⁸⁴ Wer den Text formuliert hat oder ihn auch nur verantwortet, geht nicht aus ihm hervor. Aus der Perspektive seiner Rezipienten könnte er theoretisch von jeder Person stammen, die über die Herkunft des Kindes informiert ist. Dass er von der Mutter eigenhändig auf die Tafel geschrieben wurde, weiß nur das Publikum. Durch diese Art der Anonymisierung schafft die Mutter Distanz zwischen sich und dem, worüber sie auf der Tafel spricht, aber auch Distanz zwischen sich und den potenziellen Empfängern der Nachricht. Zusätzlich erweckt die Art und Weise, wie der Erzähler seine Paraphrase rahmt und strukturiert, den Eindruck, dass die Mutter nur für ganz bestimmte Teile der In Die Aussage, dass die konkrete Abstammung und das Heimatland des Kindes auf der Tafel nicht genannt würden, weil es ihnen gut erschienen sei, das zu verheimlichen (G 766: daz was ouch in ze helne guot) impliziert sogar, dass mehr als eine Person am Formulieren des Wortlauts der Inschrift beteiligt ist, neben der Mutter also möglicherweise auch ihr treuer Gefolgsmann und vielleicht sogar dessen Frau.

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schrift tatsächlich die Verantwortung übernimmt. Gegliedert wird deren Inhalt durch abgewandelte Inquit-Formeln in drei Teile: ‒ Der erste Teil wird eingeleitet durch die Formulierung [d]ar an stuont geschriben sô (G 733: darauf stand Folgendes geschrieben). Geschrieben stünden auf der Tafel, so der Erzähler, drei Aussagen: dass das Kind von adliger Geburt sei, dass es aus einer inzestuösen Beziehung stamme und dass es auf dem Meer ausgesetzt worden sei, um diese Tatsache zu verbergen. ‒ Der zweite Teil wird eingeleitet durch die Bezeichnung einer Handlung: dannoch schreip si mê (G 740: Weiter schrieb sie Folgendes). Die Mutter gebe hier Anweisungen, was mit dem Kind geschehen solle: Man möge es taufen und mit dem beiliegenden Geld aufziehen und dieses vermehren, man möge es Lesen und Schreiben lehren, damit es eigenständig die Heilige Schrift und die Inschrift auf der Tafel rezipieren könne, nicht überheblich, sondern fromm werde, für die Vergehen seines Vaters Abbitte leiste und auch seiner Mutter gedenke, da beide dies nötig hätten. Die Anweisungen richten sich an zwei unterschiedliche Adressaten, nämlich den Finder des Kindes und das Kind selbst. ‒ Der dritte Teil wird durch eine Passivkonstruktion eingeleitet: im wart dâ niht benant (G 763: Nicht offenbart wurden ihm). Hier stellt der Erzähler fest, welche Informationen dem Kind vorenthalten werden, nämlich konkrete Angaben über seine Eltern und seine Heimat. Das heißt: Bei der Wiedergabe der beiden konstativen Teile der Inschrift (und zwar sowohl der tatsächlich niedergeschriebenen als auch der von der Schreiberin ausgesparten Worte, die über die Ausgangssituation informieren) wird die Mutter als Schreiberin völlig ausgeblendet. Lediglich den Mittelteil des Textes, der keine bloßen Assertionen oder Negativ-Assertionen, sondern Appelle enthält, rechnet ihr der Erzähler explizit zu. Mit diesem Kunstgriff bringt er die Mutter als agierende Figur – und als auctor von Worten und Ereignissen – nur dort ins Spiel, wo es nicht um ihre eigene problematische Vergangenheit und Gegenwart geht, sondern wo sie als wohlwollende Gestalterin der Zukunft einer anderen Person auftreten kann, nämlich der ihres Kindes. Nur eine einzige Aussage über sich selbst wird der Mutter auch vom Erzähler ausdrücklich zugeordnet, wenn sie nämlich schreibt, dass sowohl der Vater als auch die Mutter es gut brauchen könnten, dass das Kind später Fürbitte für sie einlege (G 759 – 762). Darüber, dass sie in Zukunft Unterstützung brauchen wird, wenn ihre Seele gerettet werden soll, ist sie sich also offenbar im Klaren. Vater und Mutter versuchen beide, auf ihre Weise das Beste aus der Situation zu machen – der eine, indem er sich auf eine Pilgerreise ins Heilige Land macht, die andere, indem sie weltliche Freuden ablehnt, Almosen gibt und fastet. Damit ist sie wohl auf einem guten Weg, denn immerhin heißt es: diu wâre riuwe was dâ bî, / diu aller sünden machet vrî (G 897– 898: Dabei übte sie vollkommene Reue, die von allen Sünden befreit). Auffällig ist aber, dass bei aller Bußfertigkeit weder die Mutter noch der Vater des Kindes auf direktem Weg geistliche Hilfe erbitten – auffällig ist das vor allem deshalb, weil diese Maß-

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nahme im Prolog als die einzig angemessene bezeichnet wird: daz ist diu wâre triuwe / die er ze gote solde hân: / buoze nâch bîhte bestân (G 76 – 78: Das ist die wahre Pflicht, die er [der Sünder, A.L.] Gott gegenüber erfüllen sollte – Buße leisten nach der Beichte). Warum also beichten die Geschwister ihren Inzest eigentlich nicht? Beide unternehmen zwar durchaus Bemühungen, ihre Missetat zu gestehen. Ihre Geständnisse aber sind jeweils ungenügend. Die erste Person, an die die beiden Geschwister sich auf den Rat des Bruders hin wenden, ist ein besonders treuer Gefolgsmann der Familie. Diesen Schritt begründet der Bruder dem Gefolgsmann gegenüber damit, dass er niemanden kenne, dem er größeres Vertrauen entgegenbringe (G 522– 524). Der Vasall hilft im Folgenden dabei, den Inzest und die Geburt des Kindes zu verheimlichen und auf diese Weise das Ansehen der Geschwister zu bewahren. Er rät ihnen außerdem dazu, sich durch gute Absichten und Taten auch um Gottes Wohlwollen zu bemühen. Aus der Perspektive adliger Herrschaftsansprüche sind dies alles hervorragende Ratschläge. Der Gefolgsmann tut letztlich genau das, was man von ihm erwartet: nämlich alles, um die durch das Vergehen des Herrschers gefährdete politische Stabilität des Reiches zu bewahren. Dazu gehört es, ein gravierendes Vergehen nicht öffentlich zu machen, sondern es zu vertuschen und vor den Untertanen zu verbergen. Es scheint, als teile der Lehnsmann ebenso wie sein Herr die Ansicht des Soziologen Alois Hahn, dass „[j]ede dramatische Enthüllung von Verbrechen und Übertretungen von Normen […] zunächst einmal zur Erschütterung des Glaubens an die Gültigkeit des Geltenden [führt]“. ⁸⁵ Indem die Geschwister und ihr Berater auf Heimlichkeit setzen, bewahren sie ihre Ehre, und das heißt: nicht allein ihr persönliches öffentliches Ansehen, sondern auch das der Herrschaftsinstitution, die sie repräsentieren.⁸⁶ Ein ähnliches Zusammenspiel von Bekenntnis und Geheimhaltung, von Enthüllung und Verhüllung oder von Diskursivität und Tabuisierung zeigt sich auch im Verhalten der Mutter nach der Niederkunft. Nachdem sie sich gemeinsam mit ihrem Bruder dem treuen Gefolgsmann anvertraut hat, gesteht sie ihre Tat nun ein weiteres Mal, indem sie das begangene Vergehen schriftlich benennt und solchermaßen das Wissen darum zusammen mit dem Kind in die Welt hinausschickt. In der Distanzierung vom Resultat ihrer Missetat handelt sie ähnlich wie viele Menschen in ganz unterschiedlichen Gesellschaften, die durch Bekenntnisrituale eine Reinigung und

 Alois Hahn: Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion, in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hg. von Peter von Moos. Köln 2001, S. 177– 202, hier S. 180.  Alois Hahn zufolge genießen Herrscher meist größere Freiheiten als ihre Untertanen. Sobald diesen aber bekannt wird, dass ihre Herrscher diese Freiheiten auch tatsächlich in Anspruch nehmen, kann das als Unsicherheit und Bedrohung wahrgenommen werden, was wiederum auf die Herrschenden zurückschlagen kann. Eingefangen werden kann die Angst der Untertanen vor den Normverletzungen der Herrscher durch den Glauben daran, dass zumindest Gott über die Taten der Mächtigen Bescheid weiß und sie bestrafen kann.Vgl. Hahn, Schuld, S. 184. Im Gregorius wird genau dies vorgeführt – dass Gott die Handlungen der Mächtigen wahrnimmt, bewertet und ‚Wiedergutmachungsbemühungen’ mit Gnade beantworten kann, wenn er will.

2.2 Selbstkontrolle und Kontrolle über das Kind

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Entlastung von ihrem Vergehen anstreben: „Die Worte des Bekenntnisses haben dieselbe Funktion wie das Erbrechen oder die Waschung: Sie eliminieren die im Körper materialisierte Sünde gleichsam physisch oder, besser gesagt, sie pressen es von innen nach außen.“⁸⁷ Im Gregorius nun presst die Mutter nicht allein Worte von innen nach außen. Das Vergehen hat sich schließlich nicht nur im übertragenen Sinn, sondern sehr real in ihrem Körper materialisiert und wird von ihr zuerst im Vorgang der Geburt aus dem Körper hervorgebracht und dann durch Aussetzen auf dem Meer möglichst weit entfernt. Das Kind und die Worte auf der Tafel ergänzen einander somit zu einem Dokument der begangenen Übertretung, zu der sich die Mutter bekennt und von der sie sich zugleich distanziert. Gott selbst (G 929 – 942) bringt dieses Bekenntnisdokument an eine gute Adresse, als er Kind und Tafel zu einem Kloster befördert, des ein geistlich abbet phlac (G 944): Wo besser könnte ein solches Geständnis aufgehoben sein? Mit der geglückten ‚Zustellung‘ an einen frommen Abt wird aus den Worten der Mutter eine Beichte – oder doch beinahe. Für eine regelrechte Beichte ist das Geständnis sowohl zu überschüssig als auch zu unvollständig, oder besser: Es stellt gleichzeitig zu wenig und zu viel Distanz her. Schon das Decretum Gratiani hält fest, dass Beichtende offen über sich sprechen können sollen, ohne fürchten zu müssen, dass das Gesagte durch denjenigen, der die Beichte abnimmt, nach außen gelangt. Zum einen sollen die Beichtenden sich darauf verlassen können, dass keine Sanktionen sie treffen werden; zum anderen soll ihr Geständnis keinen Einfluss nehmen können auf diejenigen, auf die das Gebeichtete sich bezieht. Dies aber funktioniert nur dann, wenn derjenige, vor dem man die Beichte ablegt, von ihrem Inhalt nicht unmittelbar selbst betroffen ist.⁸⁸ Die Vertrauensperson, der das Geständnis anvertraut wird, soll den Beichtenden also wohlwollend, aber zugleich möglichst neutral gegenüberstehen. Sie soll zwischen den sündigen Menschen und Gott vermitteln, ohne in die Handlungen der Beichtenden außerhalb der Beichtsituation verwickelt zu sein. Auf den Abt, der das Geständnis der Mutter als Erster rezipiert, treffen diese Bedingungen zweifellos zu. Zumindest kann er das Bekenntnis entgegennehmen, ohne dass dadurch der Mutter oder einer anderen Person irgendein Schaden entsteht. Problematisch ist aber erstens, dass die Mutter gar nicht kontrollieren kann, bei wem ihr Geständnis landet und was diese Person damit anfängt. Letztlich erfährt man auch nicht, ob sich der Abt für ihr Seelenheil einsetzt – und die Absolution kann er ihr aus der Ferne sowieso nicht erteilen. Zweitens adressiert sie ihr Geständnis nicht nur an den anonymen Finder des Kindes, sondern ausdrücklich auch an ihr Kind selbst. Das Kind soll die ‚Geschichte‘ der Mutter lesen und es soll darauf in ihrem Sinn (mit Buße und Gedenken) reagieren.⁸⁹ Damit markiert sie selbst, inwiefern sich ihr zweiter in Hahn, Schuld, S. 190.  Vgl. Hahn, Schuld, S. 191.  Es ist kein Widerspruch, dass die Mutter zuvor zu ihrem Bruder gesagt hatte, dass kein Kind je die Schuld seines Vaters auf sich nehmen müsse (G 475 – 482). Auch wenn eine Person selbst an einer Schuld seiner Eltern keinen Anteil hat, kann es sich bei Gott für sie verwenden.

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tendierter Leser von einem neutralen, ‚aus der normalen Interaktion ausgeblendeten‘ Priester unterscheidet: Gregorius ist direkt von dem betroffen, was da auf der Tafel ausgesagt wird, und das soll er nach dem Willen seiner Mutter auch sein. Indem sie die beiden Adressaten der Inschrift, den unbekannten und den mit ihr nah verwandten, so behandelt, als wären sie strukturell identisch, begeht sie einen Übergriff auf Kosten des Letzteren und nimmt in dieser Hinsicht den zweiten Inzest schon vorweg. Zu einer zu großen Nähe gesellt sich auf der anderen Seite im Bekenntnis der Mutter eine zu große Distanz. Eine Beichte erhält einen großen Teil ihrer Wirksamkeit dadurch, dass sie im Dialog abgelegt wird, also in einer interaktiven Kommunikationssituation. Sie erfordert ein Gegenüber, das sie anhört und direkt darauf reagiert. Indem die Mutter nicht mündlich und von Angesicht zu Angesicht, sondern schriftlich und aus der Ferne gesteht, entzieht sie sich der Möglichkeit, mit der Reaktion dessen konfrontiert zu werden, der ihr Geständnis hört. Die Schriftform erlaubt es ihr, die Situation viel stärker zu kontrollieren, als das in einem mündlichen Gespräch möglich wäre. Gerade dieses Beharren auf Kontrolle aber wäre, wenn die Mutter tatsächlich eine Art von Beichte beabsichtigte, problematisch. Um von der Last des Gebeichteten befreit zu werden, muss sich der oder die Beichtende schließlich ganz in die Hand Gottes begeben, und das heißt: zuerst einmal in die Hand des Stellvertreters Gottes, der zwischen den sündigen Menschen und Gott vermittelt. Indem die Mutter mit der beschrifteten Tafel eine zusätzliche Vermittlungsinstanz einschaltet, gelingt es ihr, ihr Vergehen zugleich preiszugeben und es von sich selbst als sündiger Person zu entkoppeln. Deshalb ist der Text auf der Tafel auch nicht in Ich-Form verfasst; zumindest impliziert die Erzählerparaphrase dies nicht. Auffällig ist jedenfalls, dass die Mutter ihren Namen nicht nennt – der Erzähler macht ausdrücklich auf diese Leerstelle aufmerksam (G 763 – 765) –, wobei die Tatsache, dass sie ihr Geständnis schriftlich übermittelt, natürlich jegliche Gelegenheit zur Nachfrage verhindert. Als Begründung führt die Mutter das Bestreben an, ihr Vergehen und das ihres Bruders zu verheimlichen (G 738). Sie tut mit dem Beschreiben der Tafel also etwas Widersprüchliches: Indem sie das Vergehen benennt, ohne es unter Gefahr des Ehrverlusts mit sich selbst in Verbindung zu bringen, gesteht sie und gesteht gleichzeitig nicht. Die auf der Tafel zu lesende geschiht bleibt vorerst unvollständig, und genau diese Lücke in der ‚Beichte‘ ist es, die Gregorius viele Jahre später seine Mutter suchen und sie auf die denkbar ungünstigste Art auch finden lässt.⁹⁰ Nun könnte man einwenden: Warum sollte man überhaupt das Versenden der Tafel mit einer Beichtsituation vergleichen und aus den Unterschieden irgendein Defizit konstruieren (nach dem Motto der älteren Forschung: die Mutter ist zu sehr auf

 So begründet jedenfalls Gregorius nach dem Lesen der Tafel gegenüber dem Abt seine Begierde, das Kloster zu verlassen: ‚Ouwê, lieber herre, / jâ ist mîn gir noch merre / zuo der verte dan ê. / ich engeruowe niemer mê / und wil iemer varnde sîn, / mir entuo noch gotes gnâde schîn / von wanne ich sî oder wer‘ (G 1799 – 1805: ‚O weh, lieber Herr, jetzt ist mein Verlangen danach, wegzuziehen, noch größer als vorher. Ich werde nicht ruhen und werde stets weiterziehen, bis Gottes Gnade mir offenbart, woher ich stamme und wer ich bin‘).

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ihr öffentliches Ansehen bedacht und beichtet nicht ‚ordentlich‘, daher ist sie schuldig am Inzest mit ihrem Sohn)? Dass Hartmann selbst im Gregorius einen solchen Vergleich nahelegt, wird deutlich, wenn man die Inschrift auf der Tafel und die daraus folgenden Lektüreerfahrungen des Gregorius mit der einzigen Stelle im Text vergleicht, an der tatsächlich jemand eine Beichte ablegt. Nachdem Gregorius Papst geworden ist und sein Ruhm sich weit verbreitet hat, sucht seine Mutter ihn auf, um Hilfe zu finden umbe ir houbetmissetât, / daz si der sünden bürde / von im entladen würde (G 3838 – 3840: wegen ihrer großen Missetat, auf dass er die Bürde der Sünde von ihr nehme). Als sie vor Gregorius steht, ohne zu wissen, dass es sich bei dem Papst um ihren Sohn handelt, und ir bîhte (G 3842) vor ihm ablegt, erkennt auch er sie zunächst nicht, da sie sich in der Zwischenzeit aufgrund von Reue und Mühsal äußerlich stark verändert hat. Das gegenseitige Verkennen dauert so lange, bis die Mutter zu sprechen beginnt. Gregorius weiß nur so lange nicht, wer vor ihm steht, unz si sich im nande / und daz lant Equitâniam. / dô er ir bîhte vernam, / dô enbejach si im anders niht / niuwan der selben geschiht / diu im ouch ê was kunt. / dô erkande er zestunt / daz si sîn muoter wære (G 3854– 3861). bis sie ihren Namen und den des Landes Aquitanien nannte. Als er ihre Beichte hörte, da teilte sie ihm nichts anderes mit als dieselbe Geschichte, die er schon vorher bereits gekannt hatte. Da erkannte er sogleich, dass sie seine Mutter war.

Jetzt erst, als die Mutter abermals die bereits bekannte geschiht erzählt, diese aber mit der Nennung ihres Namens und dem Namen ihres Landes einleitet und sie außerdem in direkter, unvermittelter Interaktion mit einem Gesprächspartner vorbringt, der aufgrund seines Amtes dazu qualifiziert ist, sie zu hören und angemessen damit umzugehen, ist diese Geschichte und damit auch das Geständnis der Mutter als wahre Beichte vollständig. Nicht nur der Sohn kann nun die Mutter, sondern auch der Papst kann die Sünderin erkennen und ihr den richtigen Weg zu einem glücklichen Ende weisen. Das Problem, das die Mutter zu Beginn der Erzählung hat und das sie an ihren Sohn weitergibt, besteht nicht darin, dass sie mithilfe der Tafel ‚nicht richtig‘ beichtet, sondern darin, dass sie sich in einer Lage befindet, in der sich weltliche Herrschaft und ein komplettes, personalisiertes Geständnis nicht miteinander verbinden lassen. Der Schlüssel zum erfolgreichen Umgang mit einem Vergehen, das auf der Herstellung von zu großer Nähe beruht, liegt in diesem Text nicht in künstlicher Distanzierung, sondern in einer willentlichen Hinwendung zu einem zur Reaktion fähigen Gegenüber und damit in der Anerkennung der eigenen Taten. Wer sich selbst nur ungenügend kontrollieren kann, der soll, so die Erzählung, nicht ausschließlich auf sich selbst vertrauen, sondern auf Gott und seine Stellvertreter. Das geeignete Mittel dazu wiederum ist nicht die Schrift, sondern das Gespräch.

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Die Identität des Sohnes Betrachtet man die Schrift auf der Elfenbeintafel als eine Art Beichte, in der die Mutter – wenn auch aus der Ferne, nicht rückverfolgbar und unvollständig – Rechenschaft ablegt über ihr Tun und seine Folgen, dann könnte man darüber nachdenken, inwiefern sie mit dem Beschreiben der Tafel einen (auto)biographischen Text produziert. Um nochmals Unterstützung bei Alois Hahn zu suchen: Es ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass Menschen über ihr Leben Rechenschaft ablegen. Sie tun dies für gewöhnlich dann, wenn ein allgemein anerkannter Konsens darüber besteht, dass es wichtig ist, einmal oder auch in regelmäßigen Abständen unter Anleitung von außen auf das eigene Leben zurückzublicken und die Ergebnisse dieses Rückblicks in Worte zu fassen, sei es nur für sich selbst oder gegenüber anderen.⁹¹ Im christlichen Europa des 12. und 13. Jahrhunderts ist eine der wichtigsten Institutionen, die zu Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung anhalten, die Beichte. Ziel der Introspektion und des Bekenntnisses vor einem Priester ist es, den Einzelnen immer wieder auf geltende religiöse und gesellschaftliche Regeln aufmerksam zu machen, ihn dazu anzuhalten, vergangenes Verhalten mit diesen Regeln abzugleichen, und auf diese Weise Einfluss auf zukünftige Handlungen (und ab dem 12. Jahrhundert auch auf Absichten) auszuüben. Die Beichte ist damit nicht nur ein Lebenserzählungs-, sondern auch ein Identitätsgenerator: Indem Menschen ihre Handlungen nicht nur erinnern und aufzählen, sondern die Erinnerungen im Hinblick auf die Erwartungen ihrer Umwelt zu mehr oder weniger kongruenten, sinnhaften Erzählungen verarbeiten, schaffen sie ein abstraktes Bild von sich selbst.⁹² Aus einem unreflektierten „implizite[n] Selbst“ als „Inbegriff von im Laufe des Lebens erworbenen Gewohnheiten, Dispositionen, Erfahrungen usw.“ oder als „Habitusensemble“ wird ein „explizites Selbst“ – d. h. „ein Ich, das seine Selbstheit ausdrücklich macht, sie als solche zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation erhebt“.⁹³ Das Bild, das das Ich von sich selbst in einer Erzählung über sich entwickelt, kann dabei nicht den ge-

 Vgl. Alois Hahn: Identität und Selbstthematisierung, in: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Hg. von Alois Hahn und Volker Kapp. Frankfurt a. M. 1987, S. 9 – 24, hier S. 18.  Die Beichte ist auch im Mittelalter nicht das einzige Instrument, das diese Funktion hat. Weitere ‚Biographiegeneratoren‘ sind beispielsweise Lebensbeschreibungen, die das Ziel haben, die eigenen Heldentaten zu verewigen oder nützliches Wissen für die Nachwelt aufzubewahren. Vgl. Hahn, Identität, S. 18 – 19. Die Nutzung solcher Biographiegeneratoren ist Hahn zufolge keine anthropologische Konstante: „In jeder Gesellschaft gibt es sozial geprägte Identität in der An-Sich-Form, auch rudimentäre situative Darstellungen des Selbst sind historisch universal. Das trifft aber nicht zu auf die biographische Selbstreflexion. Ob das Ich über Formen des Gedächtnisses verfügt, die symbolisch seine gesamte Vita thematisieren, das hängt vom Vorhandensein von sozialen Institutionen ab, die eine solche Rückbesinnung auf das eigene Dasein gestatten. […] Identität-An-Sich ist universell, aber nicht Identität-Für-Sich. Diese ist Korrelat von historisch keineswegs allgemein verbreiteten Biographiegeneratoren.“ Hahn, Identität, S. 12.  Hahn, Identität, S. 10.

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samten Menschen darstellen, sondern muss notwendigerweise selektiv bleiben, wobei der sich in der Erzählung manifestierende Auswahl- und Bewertungsprozess entscheidend durch die „Wertvorstellungen, Wirklichkeitsauffassungen, Richtigkeitsund Wichtigkeitskriterien der umgebenden Gesellschaft“ geprägt wird.⁹⁴ Selbstbeobachtung und die Beurteilung durch andere gehen Hand in Hand. Wenn der Erzähler behauptet, dass Gregorius’ Mutter auf der Tafel die Tatsache, dass die Mutter des Kindes gleichzeitig seine Tante sei, als mein (G 738: Frevel) bezeichne, dann lässt er an dieser Stelle offen, inwieweit es sich bei dieser Bewertung um die Meinung der Mutter oder um seine eigene handelt.Verwendet wird das Wort für den Geschwisterinzest in dieser wie auch in einer verwandten Form allerdings noch an drei anderen Stellen im Text – einmal in einer wörtlichen Rede der Mutter (G 442), ein weiteres Mal in einem Erzählerkommentar (G 811) und ein drittes Mal im Epilog, als der Erzähler die Worte eines hypothetischen Sünders wiedergibt, der die Geschichte rezipiert hat (G 3971: meintât).⁹⁵ Figur, Erzähler und imaginiertes Publikum benutzen damit nicht nur ein ähnliches Wort; ihnen allen wird dieselbe Schlussfolgerung zugeschrieben. An der Bedeutung der Norm, der sich die Figur der Mutter ebenso wie der Erzähler unterwirft und die dem Erzähler zufolge auch das Publikum selbstverständlich anerkennt, soll kein Zweifel bestehen.⁹⁶ Statt aber nun das mein – also die inzestuöse Beziehung zum eigenen Bruder – zum Anlass zu machen, aus einer Außenperspektive auf sich selbst zu sehen und das eigene Leben zu rekapitulieren, nutzt die Mutter die Tafel auf eine Weise als Biographiegenerator, die die Norm des Inzestverbots zwar anerkennt, sich einer schuldbewussten Selbsterniedrigung aber verweigert: Die Schreiberin entwirft mit der Inschrift nicht ihre eigene Vita, sondern die ihres Kindes. Mit diesem Trick nimmt sie sich aus der Position der zu beobachtenden Sünderin heraus und versetzt sich stattdessen selbst in die Rolle einer anweisenden, kontrollierenden und beurteilenden Instanz. Sie erschafft ihrem Sohn eine Biographie, bevor dieser selbst dazu in der Lage ist. Sein Leben beginnt in dieser ‚Vita‘ mit der Taufe, darauf folgt die Erziehung, im Speziellen die Unterweisung in der Heiligen Schrift und im Allgemeinen die im Lesen und Schreiben überhaupt. Diese Fähigkeit wiederum soll zum Lesen der Tafel und daraufhin zu einer demütigen, frommen und zu einem großen Teil den unbekannten Eltern gewidmeten Lebensweise führen. Diese Anweisungen in Verbindung mit dem Hinweis auf die Umstände der Geburt würden eigentlich genügen, um Rettung, Taufe und lebenslange Fürbitten zumindest wahrscheinlich zu machen. Zusätzlich aber gibt die Mutter ihrem Sohn ganz zu Beginn

 Hahn, Identität, S. 11.  Zwar ist an dieser Stelle im Epilog nicht deutlich, ob mit der meintât der Inzest der Geschwister oder der Inzest von Mutter und Sohn gemeint ist. Wahrscheinlich kennzeichnet der Terminus in dieser Passage, in der das glückliche Ende der Geschichte zusammengefasst wird, beide inzestuösen Beziehungen gleichermaßen als frevelhaft.  Der sündige Rezipient der Erzählung, den der Erzähler im Epilog heraufbeschwört, stellt nicht die Beurteilung der Tat in Frage, sondern nur die vom Erzähler postulierten Schlussfolgerungen daraus.

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ihrer Botschaft noch einen weiteren Anspruch mit: den Hinweis auf die hohe Geburt (G 734), der alle übrigen Aspekte des schriftlich avisierten Lebensmodells grundiert. 150 Jahre später wird der Spruchdichter Heinrich der Teichner behaupten, dass jeder Mensch bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt sei: der menſch der wirt geborn zwir, / von dem vater und von der můter. / ſo iſt di ander bůrt noch gůter, / daz er lert beſchaidenhait. / der anvanck iſt recht berait / alz ain ungeſchribens blat / daz man noch můt ze ſchriben haut, / dar uff man ſchribet, waz man wil (Teichner 503,112– 119).⁹⁷ Der Mensch wird zweimal geboren: Zum einen vom Vater und von der Mutter. Doch ist die zweite Geburt noch wichtiger, durch die er Verständigkeit lernt. Der Beginn ist gemacht wie ein unbeschriebenes Blatt, das man noch zu beschreiben gedenkt. Darauf schreibt man, was man will.

Diese Meinung teilt Gregorius’ Mutter zumindest in Bezug auf ihr Kind nicht. Indem sie ihm die Tafel mitsamt einer Anweisung zum Lesen (und zum Leben) mitgibt, sorgt sie dafür, dass Gregorius von Anfang an alles andere als ein unbeschriebenes Blatt ist.⁹⁸ Was aber auf diesem Blatt steht, wird immer wieder unterschiedlich wahrgenommen: Bei jeder Lektüre der Tafel wird der von der Mutter produzierte Text auf unterschiedliche Weise rezipiert. Jeder Leser und jede Leserin favorisiert manche Aspekte der komplexen Botschaft gegenüber anderen, verknüpft sie auf spezifische Weise und leitet jeweils andere Schlussfolgerungen aus der Lektüre ab. All diese Schlussfolgerungen betreffen in irgendeiner Weise die Identität des ‚beschriebenen‘ Kindes, die im Gregorius stets über die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder zu mehreren verschiedenen Gruppen hergestellt wird. Zur Klassifizierung der Lektüren und ihrer Resultate kann man sich neuerlich an der Raumstruktur der erzählten Welt orientieren. Gelesen wird die Tafel auf der Klosterinsel, in Aquitanien und auf dem Festland vor der Felseninsel. An diesen drei Orten werden Zugehörigkeiten durch die Lektüre (1) erst festgelegt und dann ersetzt, (2) akkumuliert und (3) transformiert.

 Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Bd. II (Gedicht 283 – 536). Hg.von Heinrich Niewöhner. Berlin 1954.  Das von seinen Eltern getrennte Kind macht eine ähnliche Erfahrung wie der Protagonist des Wolfdietrich A: Vom eigenen Vater dazu bestimmt, ermordet zu werden, wird Wolfdietrich von dem treuen Gefolgsmann Berchtung gerettet. Dieser lässt die Umstände der Rettung und den Namen des Kindes aufschreiben, um bei möglichen Nachfragen ein beweiskräftiges Dokument vorlegen zu können. Vgl. Otnit. Wolf Dietrich. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg. und übersetzt von Stephan Fuchs-Jolie, Victor Millet und Dietmar Peschel. Stuttgart 2013, Str. 138 – 139. Im Folgenden wird dieses Schriftstück erst an die Mutter übergeben (Wolfdietrich A 178,4– 179,2) und dann bei drei Gelegenheiten ge- oder verlesen: Bei der ersten Gelegenheit offenbart es das Mordvorhaben (199,4– 213,4), bei der zweiten belegt es die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Wolfdietrich und seiner leiblichen Mutter (Wolfdietrich A 304,1– 306,1) und bei der dritten dient es dem Helden zur Vergegenwärtigung seiner Herkunft, als er sich in einer Krisensituation befindet (Wolfdietrich A 477). Zu den verschiedenen Funktionen des Schriftstücks im Wolfdietrich A vgl. Lydia Miklautsch: Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen. Berlin, New York 2005, S. 234– 237.

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Festlegung und Ersetzung von Zugehörigkeit auf der Klosterinsel: Die erste Person, die nach der Mutter (und möglicherweise ihren Helfern) die Tafel zu Gesicht bekommt, ist der Abt auf der Klosterinsel, nachdem er das von den Fischern an Land gebrachte Kind entdeckt hat. Das Publikum erfährt vermittelt durch den Erzähler, was der Abt liest, nämlich wie daz kint geboren was, / daz manz noch toufen solde / und ziehen mit dem golde (G 1042– 1044: unter welchen Umständen das Kind geboren worden war und dass man es taufen und mithilfe des Goldes aufziehen solle). Aus den Informationen (Adel, Inzest) und den Anweisungen (Taufe, Erziehung) schließt der Abt, dass das Kind erst Mitglied einer Gemeinschaft von Fischern und Bauern und später, nach einer gemischt bäuerlich-mönchischen Übergangszeit, vollständiges Mitglied der Klostergemeinschaft werden soll. Beide Möglichkeiten implizieren in den Augen des Finders, dass das Kind dort bleiben soll, wo es aufgefunden wurde. Offengelegt wird dieser Gedankengang nicht; er lässt sich nur aus den weiteren Handlungen des Abtes rekonstruieren. Nachdem Gregorius durch einen Zufall erfahren hat, dass die Fischersleute nicht seine leiblichen Eltern sind, versucht der Abt mit allen ihm zu Gebote stehenden Argumenten, Gregorius im Kloster oder zumindest in seiner Nähe zu halten, statt sein Seelenheil als Ritter in der Welt zu gefährden: Er sei die Lebensweise von Geistlichen gewohnt (G 1463); es sei ihm bestimmt, ein Gelehrter zu werden (G 1465); er könne damit rechnen, dem Kloster bald selbst als Abt vorzustehen (G 1466 – 1473); er sei geradezu dafür geschaffen, im Chor zu singen, und nie habe jemandem die Mönchskutte besser gestanden (G 1554 – 1557); er möge also bitte bei dem Abt bleiben (G 1659). Die Vorstellung des Abtes davon, wie Gregorius ein gotes kin[t] (G 1527) sein oder werden könne, sieht ein Leben im Kloster vor. Die zweitbeste Alternative ist in seinen Augen ein weltliches Leben als reicher, verheirateter Mann, der allerdings in der bäuerlichen Gemeinschaft und im näheren Umkreis des Klosters verbleibt (G 1660 – 1664). Es scheint, als denke der Abt, dass die problematischen Umstände der Zeugung das Kind gewissermaßen besonders anfällig machten für weltliche Anfechtungen. Im Kloster kann das Kontagiöse der sexuellen Transgression (auf der Tafel: missetât, G 758) seiner Ansicht nach offenbar eingehegt und neutralisiert werden, draußen in der Welt jedoch sei ganz allgemein maneger missetât Tür und Tor geöffnet: ‚swer sich von phaffen bilde / gote machet wilde / unde ritterschaft begât, / der muoz mit maniger missetât / verwürken sêle unde lîp‘ (G 1517– 1521). ‚Wer sich von der geistlichen Lebensweise abwendet und sich damit Gott entfremdet und Rittertaten vollbringt, der wird zwangsläufig mit vielen Verbrechen Seele und Leib verwirken‘.

Das, was im Kloster gut aufgehoben ist, entfaltet außerhalb des Klosters zerstörerische Wirkung. Eine ähnliche Auffassung bestimmt etwa hundert Jahre nach Hartmanns Gregorius die Handlung in der Erzählung Des Mönchs Not. Auch hier wird davon erzählt, dass ein kleines Kind zum Aufziehen in ein Kloster gegeben wird und sich aus Wissbegier und zu seinem eigenen Schaden daraus entfernt. Der Anlass, aus dem der

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junge Mönch das Kloster verlässt, ist auch in dieser Geschichte ein einschneidendes Lektüreerlebnis: eines morgens nach metten / saz er vor sinem betten / und las, waz er geschriben vant. / do sach er ‚der minne bant‘ / geschriben an einem bletelin. / er daht waz ez mohte sin / oder waz ez mohte bediuten, / daz ez bunde die liute (Des Mönchs Not 23 – 30).⁹⁹ Eines Morgens nach der Frühmesse saß er vor seinem Bett und las in den Büchern, was er dort so geschrieben fand. Da sah er ‚die Fessel der Liebe‘, geschrieben auf einem kleinen Blatt. Er dachte darüber nach, was das sein mochte und was es bedeute, dass es die Menschen binde.

Statt sich an seinen Abt zu wenden, um diese Fragen zu beantworten, geht der junge Mann unter Anleitung eines Knechtes aus dem Kloster weg und erlebt allerhand traumatische Ereignisse. Am Ende weiß er zwar immer noch nicht, was die ‚Fessel der Liebe‘ ist, aber nachdem er endlich dem Abt alles gebeichtet hat, wird er wieder in die Gemeinschaft der Mönche aufgenommen und kann mit seinem gewohnten Leben fortfahren. Auf welchen Text er da zu Beginn gestoßen ist, erfahren wir nicht. Es ist aber nicht völlig unwahrscheinlich, dass Hartmanns Gregorius gemeint sein könnte – dessen Dichter im Prolog zum Armen Heinrich bekanntlich schreibt, dass Hartmann von Aue gern in Büchern lese, swaz er dar an geschriben vant (Der arme Heinrich 3)¹⁰⁰ und der im Gregorius erzählt, dass der Vater des Protagonisten nach der Trennung von seiner Schwester an der ‚Fessel der Liebe‘ gestorben sei: des twanc in der minne bant (G 834). Möglicherweise ist dieses Märe ein boshafter und auf komische Weise trivialisierender Kommentar zum Gregorius, der besagt: Mit erotischen Fehltritten beschäftigt man sich, wenn man keine Ahnung davon hat und nicht auf die Nase fallen will, besser theoretisch und im Schutz eines sicheren geistlichen Hafens, statt empirisch vorzugehen.¹⁰¹ Gregorius allerdings ist für einen solchen endgültigen Rückzug ins Bekannte nicht zu haben. Seine Reaktion auf die erste Lektüre der Tafel ist zunächst ambivalent: des wart er trûric unde vrô. ¹⁰² / sîn trûren schuof sich alsô / als ich iu hie künde: / er weinde von der sünde, / dâ er inne was geborn. / dâ wider hâte er im erkorn / guote vreude dar abe, / von hôher geburt, von rîcher habe, / der er ê niht enweste (G 1747– 1755).

 Der Zwickauer: Des Münches Not, in: Novellistik des Mittelalters. Hg., übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt a. M. 22014.  Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, in: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2008.  Zur Verwendung des Ausdrucks der minne bant in anderen Texten und zur möglichen Interpretation als Verweis auf geistliche Bande im Gregorius vgl. Susanne Reichlin: Gescheiterte Liebesbeziehung, gelungene Beschriftung: Sprache und Begehren im Märe ‚Des Mönchs Not‘, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hg. von Mireille Schnyder. Berlin, New York 2008, S. 221– 241, hier S. 236 – 237.  Die Handschriften A und B haben vnvro statt vrô, d. h. Gregorius wird darin sozusagen doppelt traurig. Angesichts der Tatsache allerdings, dass in den nächsten Versen von trûren und von vreude erzählt wird, ergibt das Gegensatzpaar mehr Sinn als die Doppelformel.

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Darüber war er traurig, aber auch froh. Seine Trauer hatte den Grund, den ich euch jetzt verrate: Er weinte wegen der Sünde, in der er geboren war. Auf der anderen Seite ergriff ihn große Freude darüber, dass er von edler Geburt und reich an Besitz war, wovon er zuvor nichts gewusst hatte.

Gregorius nimmt also zwei Informationen auf: diejenige, die die sündigen Umstände seiner Geburt, und diejenige, die seine adlige Abstammung und den damit zusammenhängenden Reichtum betrifft. Über die erste ist er betrübt, über die zweite freut er sich. Die Konsequenzen aus der ersten Information teilt die Tafel unmissverständlich im Inhalt des Textes mit, den sie übermittelt: Gregorius soll mit der Heiligen Schrift vertraut gemacht werden und er soll Lesen und Schreiben lernen, um daraufhin angemessen seinen Eltern zuliebe Buße zu tun und bei Gott für sie zu bitten. Den ersten Teil dieser Verpflichtung hat Gregorius mithilfe des Abtes bereits absolviert, dem zweiten wird er sich später widmen.¹⁰³ Während die Tafel in diesem Punkt sehr mitteilsam ist, kommentiert Gregorius nach seiner ersten Lektüre weder das Faktum des Inzests noch die konkreten Folgen für ihn selbst. Anders sieht es mit der zweiten Information aus. Die hohe Geburt des jungen Mannes wird im Inhalt des Tafeltextes nur in einem einzigen Vers sehr knapp vermerkt und es werden im Text keinerlei Handlungskonsequenzen vorgeschrieben (beispielsweise der kämpferische Einsatz für Witwen und Waisen o.Ä.). Während die Schlussfolgerung aus der Sünde der Eltern auf der Tafel explizit für Gregorius gezogen wird, muss er die Konsequenz aus der Zugehörigkeit zur Gruppe der Adligen selbst ziehen, und das tut er auch. Statt nunmehr als wissentlich adliger Mensch im Kloster zu leben, beschließt er endgültig, den Schreibgriffel gegen die Lanze und die Schreibfeder gegen das Schwert einzutauschen, was er sich schon lange gewünscht hatte (G 1589 – 1592). Während die Inschrift auf der Tafel zu möglichen Folgen seiner Abkunft schweigt, benennt Gregorius sie explizit: Er werde gotes gnâde und genauere Informationen über seine Herkunft von nun an als fahrender Ritter suchen (G 1802– 1805). Dafür, dass Gregorius bei seiner ersten Lektüre mit Wort und Tat zunächst stärker auf die zweite als auf die erste Information reagiert, ist möglicherweise das Überwältigungspotenzial der materialen Dimension verantwortlich. Denn die Vermittlung der beiden Informationen ‚Sünde‘ und ‚Adel‘ stützt sich in jeweils unterschiedlichem Ausmaß auf die Überzeugungskraft von Worten bzw. auf die Materialität der Schrift. Die Sünde der Eltern wird im Wort vermittelt; sie findet keinen Widerhall in der Tafel als Gegenstand oder in den übrigen Gaben, die der Abt für Gregorius aufbewahrt hat. Sie wird nicht sinnlich erfahrbar gemacht, sondern muss intellektuell in einem Prozess des Lesens und Verstehens erschlossen werden. Der Adel hingegen manifestiert sich nicht nur in einer knappen Bemerkung im Text auf der Tafel, sondern auch und

 Zumindest wird erst viele hundert Verse später davon erzählt, dass Gregorius wiederholt die Tafel zur Hand nimmt und Gott um Gnade für seine Eltern bittet.

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vor allem in den Dingen, die Gregorius zusammen mit der Botschaft erhält.¹⁰⁴ In dem schrifttragenden Artefakt aus Elfenbein und Edelsteinen, in den nunmehr 150 Goldstücken und in dem kostbaren Seidenstoff, in den der junge Mann mittlerweile gekleidet wurde, wird ‚Adel‘ im wörtlichen Sinn begreifbar. Die Pracht und der Glanz der Beigaben steuern die Rezeption der Botschaft auf der Tafel, indem sie die Wahrnehmung auf diejenige Information lenken, die mit einem Blick und einem Handgriff erfasst werden kann – und das ist eben nicht ‚Sünde‘, sondern ‚Adel‘. Der alte Abt Gregorius und sein gleichnamiger Schützling sprechen auf den Mechanismus zur Steuerung von Aufmerksamkeit, der in dem Schrift-Ding-Ensemble angelegt ist, unterschiedlich an. Beide gehen davon aus, dass dem jungen Gregorius eine Vorrangstellung gebührt, uneinig sind sie sich nur darüber, in welcher sozialen Gruppe diese Vorrangstellung verwirklicht werden soll. Der Abt, der aus der Botschaft die Anweisung herausgelesen hatte, das Kind von der Welt fernzuhalten, plädiert erst für eine Führungsposition in der Klostergemeinschaft und dann für eine ähnliche Stellung in der bäuerlichen Laiengemeinschaft auf der Klosterinsel. Gregorius aber sieht eine Korrespondenz zwischen der wörtlichen und der materialen Beteuerung seiner hohen Geburt, die er der Tafel und den begleitenden Gaben entnimmt, und seinem rätselhaften Wissen über ritterliche Fertigkeiten, das er besitzt, ohne es jemals aktiv erworben zu haben. Hartmann und seine Vorlage stützen sich hier auf die Vorstellung, dass die adlige art einem Menschen entweder angeboren ist oder nicht und dass sie, wenn ein Mensch sie besitzt, früher oder später auch zutage treten wird, wenn nötig sogar gegen die Widerstände der zuht. ¹⁰⁵ Gregorius ist sich sicher, dass er als Ritter erfolgreich sein wird. Diese Annahme wird schon vor seinen tatsächlichen Erfolgen durch die Ansicht der anderen Inselbewohner bestätigt, die sich darüber wundern, dass er ein Fischersohn sein soll, und es bedauern, dass man ihn nicht vornehmer Abstammung rühmen kann – selbst die Herrschaft über ein mächtiges Land traut man ihm zu (G 1273 – 1284). Es ist daher ganz folgerichtig, dass Gregorius seinen Anspruch auf Suprematie nicht unter Mönchen oder unter Bauern und Fischern, sondern unter anderen adligen Menschen durchsetzen will. Er ersetzt daher die Zukunftsvision des Abtes durch seine eigene. Dass er dazu berechtigt und fähig ist, leitet er unter anderem aus der Inschrift auf der Tafel und ihren materialen Komponenten ab.

 Zwar bedeutet Adel nicht automatisch Reichtum, wie Hartmanns Publikum zum Beispiel an Enite und ihrem verarmten Vater im Erec sehen kann. Nur Adlige jedoch (und vielleicht noch reiche Kaufleute), ganz sicher jedoch nicht Fischer, Bauern oder einfache Mönche sind in der Lage, ein Findelkind mit Gold, einem kostbaren Seidenstoff und einer beschrifteten und mit Edelsteinen besetzten Elfenbeintafel auszustatten.  Vgl. Müller, Kompromisse, S. 50 – 65. Entsprechend nennt Müller den Erzählkern, den Wolfram im Parzival verwendet und der auch Gregorius’ Jugendgeschichte zugrunde liegt: „Der Held wird, was er ist“. Müller, Kompromisse, S. 53.

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Akkumulation von Zugehörigkeiten in Aquitanien: Nach Gregorius’ Aufbruch von der Klosterinsel ist von der Tafel eine ganze Weile nicht mehr die Rede. Erst nachdem es dem jungen Mann gelungen ist, Herrscher von Aquitanien zu werden und diese Rolle auch vorbildlich auszufüllen, kommt der Gegenstand wieder ins Spiel. Gregorius hält ihn auf seiner Burg verborgen, beschäftigt sich aber regelmäßig mit ihm: an der er tägelichen las / sîn sündeclîche sache / den ougen ze ungemache, / wie er geborn würde / und die süntlîche bürde / sîner muoter und sînes vater. / unsern herren got bater / in beiden umbe hulde / und erkande niht der schulde / diu ûf sîn selbes rücke lac (G 2282– 2291). Auf ihr las er täglich mit betrübten Augen seine sündenvolle Geschichte: wie er nämlich geboren und zur Sündenlast seiner Mutter und seines Vaters wurde. Unseren Herrgott flehte er um Gnade für die beiden an, ohne die Schuld zu erkennen, die auf seinem eigenen Rücken lastete.

Gregorius setzt jetzt, da seine Zugehörigkeit zur adligen Elite für ihn außer Frage steht, bei der wiederholten Rezeption einen anderen Schwerpunkt.¹⁰⁶ Auf die weltliche folgt eine geistliche Lektürehaltung. Von nun an kommt Gregorius der expliziten Anweisung auf der Tafel nach und konzentriert sich auf die Sünden seiner Eltern, für die er Gottes Vergebung erbittet. Das ist zwar ganz richtig so, allerdings weist der Erzähler schon im selben Moment darauf hin, dass diese Lesehaltung eine defizitäre ist. Gregorius macht sich nicht klar, dass die angeborene Zugehörigkeit zum Adel automatisch mit der ebenfalls angeborenen Zugehörigkeit zu einer bestimmten adligen Familie einhergeht. Durch seine Heirat hat er ebendiese angeborene Zugehörigkeit durch eine zusätzliche Zugehörigkeit durch Affinalverwandtschaft auf unzulässige Weise verdoppelt. Gregorius liest auf der Tafel von den Problemen, die entstehen, wenn man so etwas tut, stellt aber keine Verbindung zwischen dem Gelesenen und seinen eigenen Handlungen her. Abstrakt bleibt das Gelesene so lange, wie Gregorius nicht dazu in der Lage ist, die verschiedenen Informationen und Ansprüche, die die Tafel übermittelt – Adel und Sünde, Ritterlichkeit und Buße – aufeinander zu beziehen und auf diese Weise Leben und Lesen miteinander in Einklang zu bringen. Um das zu erreichen, muss der Rückzug des Lesers in eine Situation, in der er mit dem Objekt seiner Aufmerksamkeit ganz allein ist, durch eine dritte Person unterbrochen werden. Herbeigeführt wird die Störung durch eine kluge Dienerin. Sie beobachtet Gregorius’ klägelîchen ungemach / und daz er an der tavel las, / alse sîn gewonheit was (G 2318 – 2320: seinen schmerzlichen Kummer, und dass er auf der Tafel las, wie es seine Gewohnheit war). Sie merkt sich, wo er die Tafel versteckt, unterrichtet ihre Herrin über Gregorius’ Kummer und insinuiert einen Zusammenhang zwischen Trauer und Tafel:

 Gregorius weiß allerdings, dass andere Menschen durchaus an seiner Herkunft zweifeln könnten. Als seine Mutter ihn nach ihrer Entdeckung der Tafel danach fragt, befürchtet er, dass man ihn verleumdet haben könnte (G 2575 – 2588).

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‚ich sach in grôzen ungemach / von unmanlîcher klage begân / unde vor ime hân / ein dinc dâ an geschriben was. / dô er daz sach unde las, / sô sluoc er sich zen brüsten ie […] / dâ bî erkande ich harte wol / daz sîn herze ist leides vol‘ (G 2386 – 2398). ‚Ich sah, wie er heftig und unmännlich über einen Kummer klagte, und ich sah, dass er ein Ding vor sich hielt, auf dem etwas geschrieben stand. Als er das ansah und las, schlug er an seine Brust. […] Daran erkannte ich ganz sicher, dass sein Herz voll von Leid ist.‘

Ob diese Dienerin lesen kann oder nicht, darüber sagt der Text nichts aus.¹⁰⁷ In jedem Fall nimmt sie die Tafel in ihrer Eigenschaft als Schriftträger wahr. Sie verknüpft Gregorius’ zweifachen Akt der Rezeption erstens des Gegenstands, den er ansieht, und zweitens der Schrift, die er liest (sach unde las), mit seinem Verhalten vor und nach der Lektüre und zieht ihre eigenen, zutreffenden Schlüsse daraus. Das heißt: Anders als der Abt oder Gregorius selbst stellt sie nicht ausschließlich einsame Vermutungen darüber an, welche Bedeutungen die Tafel transportiert und welche Folgen das nach sich ziehen sollte, sondern drängt durch direkte, unvermittelte Kommunikation darauf, diese Fragen in Interaktion mit den Betroffenen zu beantworten. Die Dienerin ist damit die erste Figur im Gregorius, die auf die Leerstellen, Rätsel und Geheimnisse, die die Herstellung der Tafel bedingen, die sie aber auch selbst sowohl enthält als auch produziert, nicht ihrerseits mit Geheimhaltung und Verschwiegenheit reagiert, sondern Erklärungen einfordert.¹⁰⁸ Ihre aktive Intervention sorgt dafür, dass endlich Licht in die unklaren Verhältnisse der aquitanischen Herrscherfamilie kommt. Entsprechend liest die Mutter, als sie in der Tafel den Gegenstand erkennt, den sie ihrem ausgesetzten Kind mitgegeben hat, nicht die Geschichte weit zurückliegender Ereignisse, sondern ein deutliches Anzeichen ihrer gegenwärtigen Verwicklung in sündhafte Zustände: als si dar an gelas / daz si aber versenket was / in den viel tiefen ünden / tœtlîcher sünden, / dô dûhte si sich unsælic genuoc (G 2481– 2485). Als sie darauf las, dass sie abermals in den tiefsten Fluten tödlicher Sünde untergegangen war, da sah sie sich von aller Gnade verlassen.

Hier bekennt sich die Mutter erstmals explizit dazu, dass die Tafel nicht nur Aussagen über die Identität des Kindes, sondern auch über ihre eigene macht. Eine kurze Zeit lang hofft sie noch, dass das Artefakt dennoch keine Bedeutung für sie und ihr Leben mit Gregorius hat, weil es sich bei diesem möglicherweise gar nicht um den von ihr selbst ursprünglich adressierten Sohn handelt. Diese Hoffnung wird aber zunichte-

 In der Forschung wurde zuweilen vermutet, dass die Dienerin Analphabetin ist, da sie die Tafel als ‚Ding‘ bezeichnet. Vgl. z. B. Ott, Tafel, S. 31. Immerhin allerdings erkennt die Dienerin dieses Ding aus einem Abstand, aus dem sie sich vor dem eigentlichen Leser verbergen kann, noch als Schriftträger. Dass sie das Schriftstück ihres Herrn nicht selbst liest, sondern sich mit der Mitteilung über seine Existenz gleich an ihre Herrin wendet, lässt keine Rückschlüsse auf ihre Lesefähigkeit zu.  In dieser Verhaltensweise ähnelt sie Gregorius’ Ziehmutter, die so lange nach der Herkunft der Goldmark fragt, die ihr Mann mit nach Hause gebracht hat, bis er es ihr endlich sagt.

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gemacht, sobald sie ihren Mann mit der Tafel konfrontiert. Gregorius erkennt, dass Gott seinen Wunsch auf unheilvolle Weise erfüllt und ihn zu seiner Mutter gebracht hat, die zugleich seine Ehefrau ist. Jetzt erst ist der Protagonist restlos aufgeklärt über die seit Verlassen der Klosterinsel akkumulierten, einander überlagernden Zugehörigkeiten zu einer sozialen Elite, zu einer Familie und zu einer Ehegemeinschaft. Seine Reaktion auf diese Erkenntnis besteht nun nicht darin, wieder zu dem Leben als Mönch oder als Fischer zurückzukehren, das der Abt für ihn vorgesehen hatte. Stattdessen verzichtet er darauf, überhaupt zu irgendeiner Gemeinschaft zu gehören.

Transformation von Zugehörigkeit in der Wildnis der Felseninsel: Auf die Festlegung von Zugehörigkeit und ihre Ersetzung durch eine andere sowie die Akkumulation von verschiedenen Zugehörigkeiten folgt die vollständige Negierung. Den römischen Gesandten sagt Gregorius später, dass er so unrein sei, dass er zu Recht vollständig abgesondert leben müsse (G 3513 – 3515). Und so, wie Gregorius als Eremit von allen anderen Menschen getrennt ist, ist er auch von seiner Tafel getrennt. Auf dem Felsen besitzt er keine Identität mehr. Daher kann auch von den 17 Jahren, die er dort verbringt, nichts erzählt werden: Wer nichts ist, der erlebt auch nichts. Die Zeit steht für ihn still. Als die Gesandten aus Rom zur Felseninsel kommen, treffen sie auf eine Person, die nur noch über eine Art Negativ-Abbild ihrer früheren Identität verfügt. Einen schönen Mann, geschmückt mit Edelsteinen und Gold, mit heiterer und freundlicher Miene, mit glänzendem Haupthaar, gepflegtem Bart und modischer Kleidung – den envunden si niender dâ (G 3401: den fanden sie dort nirgends). Was aber finden sie in dem schuldbewussten und körperlich heruntergekommenen Anachoreten? Den entscheidenden Hinweis gibt abermals die Tafel, die sie entgegen allen Erwartungen auf dem Festland unter den Trümmern des zusammengebrochenen und niedergebrannten Schuppens entdecken. Der Text lässt offen, ob sie noch beschriftet ist oder nicht. Im wörtlichen Sinn ‚gelesen‘ wird sie jedenfalls nicht – es genügt, dass die Anwesenden sie ‚sehen‘. Damit kommt eine Entwicklung zu ihrem Höhepunkt, die mit der Entdeckung durch die Dienerin begonnen hatte: Der Inhalt der Inschrift tritt ab diesem Moment bei jedem Rezeptionsakt (durch die Mutter, durch Gregorius und seine Mutter und schließlich durch Gregorius, den Fischer und die Gesandten aus Rom) immer weiter in den Hintergrund.Wahrgenommen wird in zunehmendem Ausmaß der Gegenstand in seiner alle erfassbaren Aspekte einschließenden Gesamtheit.¹⁰⁹ Die Szene, in der die Tafel zum letzten Mal angesehen wird, behauptet, dass sie nun

 Vorbereitet worden war diese Art der Wahrnehmung der Tafel, die eher die sinnlich erfassbare Gegenständlichkeit des Objekts als seine intellektuell verstehbare Dimension fokussiert, im kurzen Zögern der Mutter, als sie an ihrem potenziellen Retter denselben Stoff oder einen ähnlichen entdeckt, wie sie ihn ihrem Kind mitgegeben hatte (G 1939 – 1954). Zu diesem Zeitpunkt bleibt das Wiedererkennen eines Gegenstands noch folgenlos. Benötigt wird das Eingreifen eines außenstehenden Menschen, der auf die Bedeutung dieses Gegenstands als Zeichen für die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Mutter und Sohn aufmerksam macht.

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wirklich nur noch eine einzige Interpretation zulässt: Gregorius ist ein sælic man (G 3739). Ähnlich wie die Tafel ist auch der Mensch noch da, existiert noch und ist immer noch derselbe, paradoxerweise aber zugleich auch ganz anders als zuvor. Im letzten Teil der Handlung werden alle früheren Zugehörigkeiten, die Gregorius zwischenzeitlich abgelegt hatte, wiederaufgenommen, erneuert und dabei vollständig transformiert: Der Heilige dient Gott, wie es ein Mönch tut, aber nicht in einem abgeschlossenen und randständigen Bereich wie der Klosterinsel, sondern in der heiligen Stadt Rom, einem der bedeutendsten Orte der christlichen Welt, der jederzeit von vielen Pilgern besucht wird. Er ist noch immer ein Anführer anderer Menschen, nun allerdings als Papst kein weltlicher Herrscher, sondern ein geistliches Oberhaupt. Er gehört weiterhin zu einer Familie, ist nun aber der spirituelle Vater aller Christen. Und er lebt wieder in Gemeinschaft mit seiner Mutter, jetzt aber nicht mehr in einer Ehe, sondern ungescheiden (G 3940) in geistlicher Zweisamkeit. Betrachtet man die Tafel aus dieser Perspektive, dann enthält sie keine falschen Informationen und provoziert auch keine falschen Lektüren. Hartmanns Gregorius erzählt unter anderem davon, dass man eine Identität, die einen Menschen dazu befähigt, ein gottgefälliges Leben zu führen, nicht theoretisch vermitteln kann, sondern dass er sie unter Gefahr schlimmer Fehltritte selbst entwickeln muss. Gregorius besitzt die richtigen Anlagen und er erhält die richtigen Lehren. Er liest nicht falsch und er lebt nicht falsch – es gelingt ihm nur nicht auf Anhieb, Lesen und Leben in eins zu bringen. Wie dies funktioniert, findet er, wie jeder Leser, heraus, indem er eigenständig, gepeinigt von vielen Rückschlägen, aber im Vertrauen auf Gott Gelesenes in Leben verwandelt.

Gestörte Herrschaft Immer dann, wenn sich das Geschehen im Gregorius an einem der Höfe der erzählten Welt abspielt, wird die Gefährdung von Herrschaft thematisiert: (1) Als Gregorius’ Großvater stirbt, ist sein Sohn noch minderjährig; er setzt ihn dennoch als Nachfolger ein, stellt ihn aber unter die Aufsicht seiner Gefolgsleute. (2) Nachdem der Bruder den Liebestod stirbt, wird das Land von einer alleinstehenden Herrscherin regiert und dadurch anfällig für Usurpationsversuche. Diese Herrscherin kann ihre Herrschaft nur retten, indem sie sich einen passenden Helfer und Ehemann erwählt. (3) Als schließlich während Gregorius’ Zeit auf der Felseninsel in Rom der Papst stirbt, kommt es unter den adligen Römern zu Machtkämpfen um Petri Stuhl. Sie werden erst durch Gottes Eingreifen entschieden, der Gregorius als Nachfolger benennt. Für jede Regierungskrise werden unterschiedliche Lösungen gefunden: patrilineare Thronfolge, Heiratsallianz und Gnadenwahl.¹¹⁰ Der zweite der drei Fälle ist besonders kompliziert: Da Gregorius der einzige männliche Nachkomme seines Vaters

 Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 114.

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ist, überschneidet sich, wie die Figuren selbst im Gegensatz zum Publikum zunächst nicht erkennen, der Herrschaftserwerb durch Heiratsallianz mit dem Herrschaftserwerb durch patrilineare Thronfolge. Systematisieren kann man die drei Formen des Herrschaftserwerbs mithilfe von Max Webers Modell der ‚drei reinen Typen legitimer Herrschaft‘. Weber unterscheidet zwischen ‚rationaler‘, ‚traditionaler‘ und ‚charismatischer Herrschaft‘. In seinem Sinne lässt sich das aquitanische Modell von Herrschaft insofern als traditional beschreiben, als sich die Gefolgsleute des jeweiligen Herrschers, die diesem in einem gegenseitigen Treueverhältnis verbunden sind, darauf verlassen können, dass die Herrschaft nach festen und nachvollziehbaren Regeln weitergegeben wird (nämlich nach den Regeln der patrilinearen Thronfolge).¹¹¹ Diese Form von Herrschaft beruft sich auf eine überkommene, schon immer dagewesene Ordnung, deren Fortführung und andauernder Stabilisierung sie sich verschreibt und die zu garantieren sie verspricht, indem sie ihre Repräsentanten sozusagen automatisiert in einer im Idealfall ununterbrochenen und unendlichen Kette nacheinander austauscht. Das heißt etwa für Gregorius’ Großvater: In dem Moment, in dem er erkennt, dass er bald sterben wird, muss er schlicht darauf vertrauen, dass sein junger Sohn, dem nun Land und Ansehen zufallen (G 234– 235), sich – beraten von den Gefolgsleuten – den auf ihn zukommenden Herausforderungen gewachsen zeigen wird. Ein solches traditionales Modell steht den römischen Adligen nicht zur Verfügung, als der Papst stirbt. Aus ihrer Machtgier entsteht ein Streit, den sie allein nicht lösen können: alse schiere er starp, / ein ieglich Rômære warp / besunder sînem künne / durch des guotes wünne / umbe den selben gewalt. / ir strît wart sô manicvalt / daz si beide durch nît / unde durch der êren gît / bescheiden niene kunden / wem si des stuoles gunden (G 3145 – 3154). Sobald er gestorben war, bemühte sich jeder Römer im Sinne seiner eigenen Familie und um des materiellen Vorteils willen um die Macht. Ihre Streitigkeiten wurden so zahlreich, dass sie sowohl aus Neid als auch aus Ruhmsucht nicht mehr in der Lage waren zu sagen, wem sie den Heiligen Stuhl zuerkennen wollten.

Möglicherweise bezieht sich Hartmann mit dieser Passage auf die fortgesetzten Streitigkeiten um die Papstwürde, die im 12. Jahrhundert mehrere römische Familien

 Max Webers Definition lautet: „Traditional soll eine Herrschaft heißen, wenn ihre Legitimität sich stützt und geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit altüberkommener (‚von jeher bestehender‘) Ordnungen und Herrengewalten. Der Herr (oder: die mehreren Herren) sind kraft traditional überkommener Regel bestimmt. Gehorcht wird ihnen kraft der durch die Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde. […] Der Herrschende ist nicht ‚Vorgesetzter‘, sondern persönlicher Herr, sein Verwaltungsstab [besteht] primär nicht [aus] ‚Beamten‘, sondern persönlichen ‚Dienern‘ […]. Nicht sachliche Amtspflicht, sondern persönliche Dienertreue bestimmten die Beziehungen des Verwaltungsstabes zum Herrn.“ Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie. Zwei Teile in einem Band. Frankfurt a. M. 2010, S. 167.

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

(vor allem die Savelli, Caetani, Frangipani und Pierleoni) untereinander austrugen.¹¹² Jedenfalls wird im Gregorius eine Situation imaginiert, in der ein politisches Vakuum entsteht und in der das Verhalten der Mächtigen jegliches von der Tradition gedeckte Folgehandeln verunmöglicht, das dafür sorgen würde, dass die Leerstelle schnell gefüllt wird. Gelöst wird das Problem schließlich nicht dadurch, dass man sich auf überlieferte Strukturen stützt, sondern, im Gegenteil, durch einen Akt, der eine problematisch gewordene Tradition außer Kraft setzt und sie durch göttliche Erwählung substituiert. Die Erwählung ist, um abermals Max Weber zu bemühen, der Auftakt zur charismatischen Herrschaft. Der charismatische Herrscher legitimiert sich nicht durch das Eingebundensein in eine schon länger bestehende Ordnung, die er als letztlich austauschbarer Repräsentant perpetuiert, sondern durch seine außeralltäglichen Eigenschaften, die ihn als überlegenen Anführer qualifizieren und deren Besitz er immer wieder unter Beweis stellen kann (und muss), durch seine Fähigkeit, seinen Anhängern Heil zu bringen, und durch die Verehrung, die sie ihm erweisen.¹¹³ Ein solcher von Gott begnadeter Anführer ist Gregorius. Dies erfahren die Römer von zwei besonders vertrauenswürdigen Gewährsleuten, denen wiederum Gott selbst eine entsprechende Botschaft hat zukommen lassen. Die Vision setzt einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf das Stigma des sündhaften Inzests positiviert wird.¹¹⁴ Dass Gregorius tatsächlich der Richtige für das Amt ist, beweist er auf dem Weg von der Felseninsel nach Rom durch die Wunder, die an ihm geschehen oder die er an anderen wirkt: durch den Fund des Schlüssels, der seine Fessel aufschließt, durch das Wiederauffinden der Tafel, durch Speisewunder, durch das unerklärliche Läuten der Glocken in Rom und durch verschiedene Heilungswunder. Charisma muss sichtbar sein, um geglaubt werden zu können und wirksam zu werden, und das ist es in Gregorius’ Fall auch.¹¹⁵

 Vgl. George L. Williams: Papal Genealogy. The Families and Descendants of the Popes. Jefferson 1998, S. 20 – 25.  “,Charisma‘ soll eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“ Weber,Wirtschaft und Gesellschaft, S. 179.  Zu einem anderen Beispiel für ein Umschlagen von Stigma in Charisma in der höfischen Literatur vgl. Klaus Ridder: Stigma und Charisma: Lancelot als Leitfigur im mittelhochdeutschen Roman, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 19 (2009), S. 522– 539.  Ludger Lieb verweist mit Bezug auf neuere kultursoziologische Überlegungen zu Webers Charisma-Begriff darauf, dass zu einem charismatischen Anführer auch „der alternative Entwurf sozialer Beziehungen [gehört], die Vision einer anderen gesellschaftlichen Ordnung, die durchaus als revolutionär empfunden werden kann.“ Ludger Lieb: Erzähltes Charisma – Charisma des Erzählers. Zum ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg, in: Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville. Hg. von Franz Felten, Annette Kehnel und Stefan Weinfurter. Köln, Weimar, Wien 2009, S. 559 – 570. In der Tat stellt Gregorius die bestehende Ordnung territorialer adliger Herrschaft in Aquitanien nicht in Frage. Die der Papstkirche allerdings verändert er, wenn er mit einer bislang unerhörten starken lêre dafür sorgt, dass Gottes Ehre im römischen Reich merklich vermehrt wird (G 3827– 3830). Die Idee, dem

2.2 Selbstkontrolle und Kontrolle über das Kind

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Eine sichtbare, sinnlich erfahrbare Dimension besitzt aber auch die Macht der Tradition. Ähnlich wie in anderen hochmittelalterlichen höfischen Romanen hängen auch im Gregorius Abstammung und Idoneität eng miteinander zusammen. Gregorius ist der Sohn des rechtmäßigen Herrschers von Aquitanien und er ist ein hervorragender Ritter, obwohl er ritterliche Fertigkeiten zuvor nur in Gedanken geübt hat. Er ist qua Geburt der Beste von allen und zum Herrschen geeignet. Obgleich er nicht durch höfische Lehrer angeleitet wurde, ist er schön und stark, getriuwe und guot, gewinnt stets neue Freunde und verliert niemals welche, er ist milte und sanftmütig, mutig, aber auch vorsichtig, hält stets sein Wort und sucht immer Beistand und Hilfe bei Gott (G 1235 – 1262). Allerdings sind Abstammung und angeborene art zwar notwendig, reichen aber noch nicht aus, um einen Mann zum Herrschen zu befähigen. Um sich als traditionaler Herrscher zu qualifizieren, muss er nicht nur in eine dynastische Tradition eingebunden sein, sondern auch in ein Kontinuum des Wissens. Das heißt: Er muss wissen, woher er kommt und in welches Herrschaftssystem er durch seine Herkunft gehört. Er muss dieses System kennen und das System gewissermaßen auch ihn – seine Gefolgsleute, aber auch seine Vorfahren und seine Nachkommen müssen wissen, wer er ist. Sie müssen wenigstens ansatzweise über die Prinzipien seiner herrscherlichen Disposition (Abstammung, Kompetenz und Intention) unterrichtet sein und ihn bei der Verwirklichung dieser Prinzipien unterstützend begleiten, so dass sie auf dieser Grundlage idealerweise auch für die Zukunft darauf rechnen können, dass keine bösen Überraschungen eintreten, sondern die Tradition weitergeführt wird. Damit traditionale Herrschaft gelingt, muss sie unter kontrollierten Bedingungen ausgeübt werden. Diese Grundregel wird im Gregorius zweimal gebrochen. Der erste Bruch entsteht dadurch, dass Gregorius’ Großvater früh stirbt, ohne die Gelegenheit bekommen (oder wahrgenommen) zu haben, seine Nachkommen auf ihre Verpflichtungen im Mechanismus der sozialen Ersetzung vorzubereiten. Er versucht, dieses Versäumnis zu kompensieren, indem er zum einen die beiden Kinder der Fürsorge der Gefolgsleute anvertraut (G 221– 223) und zum anderen seinem Sohn auf dem Sterbebett eine Art Blitzanleitung erteilt: Er möge getriuwe und stæte sein, milte, diemüete und vrevele, er möge sich seine gute zuht bewahren, den Mächtigen gegenüber bestimmt und den Armen gegenüber freundlich auftreten, er möge die Seinen gut behandeln und Fremde für sich einnehmen, sich um Rat an weise Menschen wenden und sich von Törichten fernhalten, er möge Gott lieben, der Seele des Vaters gedenken und sich gut um seine Schwester kümmern (G 244– 265). Mit diesem knappen Fürstenspiegel deckt der Großvater die wichtigsten Haltungen und Handlungen ab, die ein guter, christlicher Herrscher kennen sollte. Warum aber gerät dann der solchermaßen belehrte Sohn

reuigen Sünder gegenüber Gnade vor Recht ergehen zu lassen (G 3822) ist vielleicht nicht revolutionär – dass aber Gregorius hier ein ganz besonderes, neues und erfolgreiches Konzept von clementia verfolgt, impliziert die Erzählung doch.

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

später trotzdem auf Abwege? Liegt es daran, dass die Lehre seines Vaters falsch oder unvollständig war? Oder erübrigt sich die Frage sowieso, weil auch die beste Lehre nichts auszurichten vermag, wenn der Teufel seine Finger im Spiel hat? Wenig später erzählt die Geschichte von einem weiteren – ebenfalls vom Teufel provozierten – Bruch im höfisch-herrscherlichen Wissenskontinuum, der gravierende Folgen hat.¹¹⁶ Indem sie daraus abermals eine Krise herrscherlicher Legitimität ableitet, thematisiert sie neben der Gefährdung aller Menschen durch die Mächte des Bösen auch die ganz spezifischen Eigenschaften und Erfordernisse traditionaler Herrschaft. Eine Voraussetzung für deren Gelingen wird im Gregorius ex negativo postuliert. Sie besteht darin, dass ein Minimum an direkter Interaktion zwischen einem Herrscher und seinen Gefolgsleuten wie auch zwischen einem Herrscher und seinem Nachfolger gegeben sein muss. Ist dies nicht der Fall, dann hat der Teufel leichtes Spiel. Das Defizit der Lehre des Großvaters besteht darin, dass derjenige, der sie vermittelt, sofort nach der Vermittlung als Lehrer nicht mehr zur Verfügung steht. Das Wissen um das richtige Verhalten als Herrscher kann aber nicht in einem einmaligen Kommunikationsakt weitergegeben werden. Es muss in einem längeren Lernprozess nachvollzogen, in eigene Handlung umgesetzt und dann eingeübt werden.¹¹⁷ Lernen durch Verstehen, Nachahmen und Wiederholen ist aber nur dann möglich, wenn für ausreichend lange Zeit der richtige Lehrer zur Verfügung steht, der die Herrschaftsprinzipien nicht nur von Angesicht zu Angesicht kommuniziert, sondern auch vorlebt. Dies jedoch ist zu Beginn der kurzen Herrscherlaufbahn von Gregorius’ Vater nicht der Fall. Da auch kein anderer Wissensvermittler die plötzlich entstandene Leerstelle füllt, ist der junge Mann sich selbst und den Einflüsterungen des bösen Feindes so lange überlassen, bis es für disziplinierende Anleitungen zu spät ist. In der Folge wird die Grundregel des Kontinuums traditionaler Herrschaft zum zweiten Mal gebrochen. Der erste Verstoß gegen das Inzestverbot erzeugt eine Situation, in der nun ein Thronfolger seinen Vater und Vorgänger auf dem Thron nicht nur für zu kurze Zeit, sondern überhaupt nicht kennt. Er darf ihn auch gar nicht kennen – die Tradition muss gezwungenermaßen unterbrochen werden, wenn das aktuelle Herrschaftsgefüge nicht öffentlich kollabieren soll. Trotzdem erscheint es Gregorius’ Mutter offenbar unumgänglich, das Kind mithilfe von Text und Objekt über die Tatsache zu informieren, dass es selbst Teil einer Traditionskette ist, deren Glieder durch Abstammung miteinander verbunden sind. Die Mutter versucht, den durch sie selbst und ihren Bruder verursachten Bruch zu heilen – allerdings nur teilweise. Sie löst das Kind des Herrschers, das nicht Thron-

 Zur Beteiligung des Teufels vgl. G 2244– 2246 sowie G 2488 – 2498 und 2602– 2603.  Helmut Brall-Tuchel und Alexandra Haussmann sprechen im Zusammenhang mit Parzivals Belehrung durch Gurnemanz von einem Erziehungsverhältnis, das „nicht in erster Linie die Vermittlung von Wissen [impliziert], sondern ein Training in Selbstwert und praktischem Können mit dem Ziel einer Generationen übergreifenden Einübung in höfisches Repräsentationshandeln“. Helmut Brall-Tuchel und Alexandra Haussmann: Erziehung und Selbstverwirklichung im höfischen Roman, in: Der Deutschunterricht 55 (2003), S. 18 – 29, hier S. 24.

2.2 Selbstkontrolle und Kontrolle über das Kind

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folger sein darf, aus dem bestehenden Kontinuum und bindet es gleichzeitig in dieses Kontinuum ein. Die beschriftete Elfenbeintafel wird damit zum Symptom einer weiteren Aussetzung des traditional-herrscherlichen Normalfalls. Sie wird eingesetzt, weil die Personen, die aufgrund ihres Verwandtschaftsverhältnisses eigentlich miteinander interagieren sollten, dies nicht dürfen. Damit repräsentiert sie sowohl die Tradition als auch den Traditionsbruch, die Notwendigkeit von Kommunikation und den Zwang zu schweigen, den Anspruch auf und die Verweigerung von Herrschaft. Zwar kann die Tafel, anders als die mündliche Rede des aquitanischen Herrschers zu Beginn der Handlung, das Vermittelte auf Dauer verfügbar und präsent halten. Zugleich aber enthält sie ihrem Adressaten den Anspruch auf Herrschaftsnachfolge, den sie ihm eröffnet, eben auch vor. Dem Sohn, den die Tafel und seine angeborenen Fähigkeiten davon überzeugt haben, dass er grundsätzlich das Recht hat, Herrschaft zu erwerben, bleibt letztlich nichts anderes übrig, als vom traditionalen auf das charismatische Modell von Herrschaftserwerb umzuschalten. Gregorius tut, was ein charismatischer Held tun muss: Er taucht aus dem Nichts auf, beweist seine kämpferische Überlegenheit und erobert auf diese Weise Land und Hand einer begehrenswerten Frau – die nun aber ausgerechnet die einzig Falsche für diesen Zweck ist. Das heißt: Man kann ein Reich entweder ererben oder es erobernd erheiraten. Beides gleichzeitig geht nicht. Das Fehlverhalten der Eltern, das die Tradition unterbrochen hat, ohne sie aber vollständig abzuschneiden, sorgt für eine unzulässige Kontamination der Herrschaftsmodelle, die die Zukunft des Geschlechts noch prekärer werden lässt. Die Tafel zeigt an, dass die Herrschaftsordnung fundamental gestört ist. Die ideale traditionale Herrschaft bedarf der Schrift nicht, da sie das Wissen, aus dem sie ihre Legitimität bezieht, direkt, unvermittelt, eindeutig und in ausreichendem Umfang weitergeben kann. Und auch der charismatische Herrscher benötigt keine schriftlichen Dokumente, um anerkannt zu werden, weshalb denn auch nach Gregorius’ Antritt der Reise nach Rom die Tafel nicht mehr gebraucht oder doch zumindest im Text nicht mehr erwähnt wird. Die Abkehr von der gefährlichen Vermischung der Konzepte wird im Gregorius dadurch erreicht, dass sich der Protagonist von jeglicher Herrschaft zurückzieht und sämtliche Ansprüche, ob traditional oder charismatisch legitimiert, aufgibt. Erst mit diesem radikalen Schnitt gelingt die Befreiung aus der Situation der Statik und der Entropie, die durch den ersten Inzest entstanden und durch den zweiten noch verschärft worden war. Dass es von nun an möglich ist, Mangel und Unordnung nicht nur zu vertuschen, sondern tatsächlich zu heilen und die vormaligen Unruhestifter in eine neue Ordnung zu überführen und zu integrieren, wird konsequenterweise am Umgang mit der Tafel sichtbar: Zuerst vergisst Gregorius sie, als er zu seiner Buße auf der Felseninsel aufbricht (G 3077– 3082). Im zweiten Schritt vergisst Gott Gregorius’ Schuld (G 3137– 3141). Zuletzt schließlich, nachdem die Zeugen des Tafelwunders darin einen Hinweis auf Gregorius’ Erwählung erkannt haben, kann der Gegenstand mit der Inschrift – das Symptom des regelverletzenden Bruchs, des Vergehens gegen die herrschaftliche wie gegen die soziale Ordnung schlechthin – auch vom Text selbst sozusagen ‚vergessen‘ werden. Die Herrschaft, die

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

nun anbricht, kann sich auf die Fortführung einer Tradition und auf das Charisma des Herrschers gleichermaßen berufen. Es ist eine Herrschaft der Präsenz, die zur Vermittlung zwischen Vergangenem und Künftigem, Sünde und Heil, Diesseits und Jenseits keine Hilfsmittel benötigt und daher auf Schriftdokumente voll und ganz verzichten kann.

2.3 Die Tafel in älteren und jüngeren Bearbeitungen des Stoffs Hartmann von Aue erzählt vom zentralen Schreibakt des Romans und von den verschiedenen Leseakten, die ihm folgen, solchermaßen, dass dadurch sowohl die Figuren der Mutter und des Protagonisten charakterisiert als auch eine wichtige Schwachstelle traditionaler Herrschaft thematisiert wird. Dabei geht er anders vor als die ältere Vie du Pape Saint Grégoire oder die jüngeren Bearbeitungen des Stoffs. Ein Vergleich der Texte mit besonderem Blick auf die Tafel zeigt, auf welch unterschiedliche Weisen das fiktive Schriftstück im Kontext der Gregoriuserzählung zur Profilierung von Figuren, von Herrschaftskonzepten und Vorstellungen vom Schreiben und Erzählen eingesetzt wird.

Gesteigerte Präsenz in der französischen Vorlage Welche konkrete Vorlage Hartmann von Aue für seinen Gregorius benutzt hat, ist nicht bekannt. Fest steht, dass er in irgendeiner Form auf die altfranzösische Vie du Pape Saint Grégoire zurückgegriffen haben muss, die in den Fassungen A und B in sechs vollständigen Handschriften und einem Fragment zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert überliefert ist.¹¹⁸ Datiert wird der französische Text ungefähr auf die Mitte des 12. Jahrhunderts. Die vorliegende Studie stützt sich grundsätzlich auf den Text der Fassung A, der ausführlicher erzählt, berücksichtigt aber stets Unterschiede in Fassung B.¹¹⁹

 „Die der ältesten noch erhaltenen Handschrift (B1, Anfang 13. Jhd.) vorausgehende Textgeschichte und die Entstehungszeit sind umstritten. Hartmann steht der Fassung B in Gestalt von B1 am nächsten, zeigt aber auch Züge der A-Version, doch keine der vorhandenen Handschriften kann ihrer Entstehungszeit nach seine Quelle gewesen sein. Ob er eine verlorene Handschrift der Gruppe B kannte, wie meist angenommen wurde, oder eine archetypische Textredaktion vor der Aufspaltung in zwei Fassungen […], ist angesichts der nur erschlossenen Geschichte des französischen Textes kaum endgültig zu entscheiden.“ Cormeau/Störmer, Hartmann, S. 123.  La Vie du Pape Saint Grégoire. Huit versions de la légende du bon pécheur. Hg. von Hendrik Bastiaan Sol. Amsterdam 1977. Ins Deutsche übersetzt wurde der Text von Ingrid Kasten: La vie du pape Saint Grégoire ou La légende du bon pécheur. Das Leben des heiligen Papstes Gregorius oder Die Legende vom guten Sünder. Text nach der Ausgabe von Hendrik Bastiaan Sol mit Übersetzung und Vorwort von Ingrid Kasten. München 1991.

2.3 Die Tafel in älteren und jüngeren Bearbeitungen des Stoffs

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Ähnlich wie bei Hartmann von Aue spielt auch im französischen Grégoire die Tafel, die der Protagonist von seiner Mutter erhält, eine wichtige Rolle. Man erfährt über sie, dass sie aus Elfenbein gefertigt ist (Grégoire A 510) und dass man sie öffnen und schließen kann (Grégoire A 555 bzw. 869). Sie besteht also aus zwei Hälften, die in der Mitte miteinander verbunden sind. Im französischen Text ist genau genommen nicht von ‚einer Tafel‘ die Rede, sondern von ‚Tafeln‘ im Plural (tables). Gemeint ist aber ein einziger Gegenstand.¹²⁰ Während im Gregorius nicht ganz deutlich wird, wie man sich den Gegenstand vorzustellen hat, legen die Beschreibungen im Grégoire nahe, dass eine Wachstafel gemeint ist, die aus zwei mit einem Scharnier verbundenen Hälften besteht. Solche Wachstafeln wurden in der Tat häufig im Schulbetrieb verwendet, wenn sie wohl auch meist nicht aus Elfenbein, sondern aus Holz bestanden, das mit Wachs beschichtet wurde.¹²¹ Und noch eine weitere Information liefert der französische Text, die Hartmann später nicht aufnimmt: Wenn sich die Mutter vor dem Aussetzen des Kindes ses tables (Grégoire A 509: ihre Tafel) bringen lässt, dann kann man daraus schließen, dass es sich nicht um irgendeine generische Tafel, sondern um ihren eigenen, persönlichen Besitzgegenstand handelt. In Fassung B erwähnt sie zudem im Gespräch mit ihrem Sohn, dass sie die Tafel von ihrem Lehrer erhalten habe.¹²²

Nebenfiguren als Rezipienten Diese Tafel kommt – wie später auch bei Hartmann – in drei der vier Teilräume der erzählten Welt zum Einsatz: zweimal in Aquitanien, einmal auf der Klosterinsel und ein weiteres Mal am Ufer vor der Felseninsel, die hier nicht in einem See, sondern – wie die Klosterinsel – im Meer liegt. Sieht man sich an, welche Figuren in den verschiedenen Teilräumen mit der Tafel zu tun haben und wie, dann stößt man rasch auf einen ersten wichtigen Unterschied zu Hartmanns Bearbeitung. Im deutschen Gregorius tritt neben dem Protagonisten und seiner Mutter in jedem Teilraum mindestens noch eine weitere Figur auf, die die Tafel rezipiert, und zwar stets auf ihre eigene spezifische Art und Weise. Der Abt auf der Klosterinsel nimmt andere Informationen wahr als die aquitanische Dienerin oder die römischen Gesandten. Was sie jeweils sehen, ist eine Verpflichtung, ein Geheimnis oder ein Wunder. Sie reagieren auch unterschiedlich auf das Rezipierte: Der Abt hält die Tafel zusammen mit dem Kind von der Welt fern, die Dienerin entreißt sie der Heimlichkeit und sorgt dafür, dass sie zurück zu ihrer Senderin gelangt, der Fischer und die Gesandten schließlich bezeugen ihre Existenz als erstes einer Reihe von Wundern, die eine immer größere Öffentlichkeit erreichen. Hartmann nutzt die Tatsache, dass seine Vorlage all diese Neben In diesem Kapitel werde ich daher weiterhin von ‚Tafel‘ (und nicht von ‚Tafeln‘ im Plural) sprechen.  Vgl. Graßmann, Wachstafel.  ‚Kar mis mestres les me dona / Ki de lettres m’endoctrina‘ (Grégoire B 1495 – 1496: ‚denn mein Lehrer gab sie mir, / der mich die Buchstaben lehrte‘).

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

figuren enthält, um implizit darüber zu reflektieren, wie unterschiedlich ein schriftlicher Text von verschiedenen Lesern rezipiert werden kann und dass sein Urheber keine Möglichkeit besitzt, den Modus oder die Folgen der Rezeption zu kontrollieren oder auch nur zu steuern. Im Grégoire haben die Nebenfiguren diese Funktion nicht. Man erfährt nicht, was genau der Abt auf der Tafel liest. Angedeutet wird nur, dass er sich zunächst ganz auf die materialen Beigaben konzentriert, die auf der Tafel erwähnt werden – jedenfalls gibt der Geistliche, nachdem er die Nachricht auf der Tafel gelesen hat, sogleich den Fischern den Auftrag, das Silber, den Seidenstoff und das Gold zu suchen (Grégoire A 867– 877). Irgendeine Reaktion auf die Nachricht über den von den Eltern begangenen Inzest wird nicht erwähnt. Die Dienerin wiederum, die befürchtet, dass es Unstimmigkeiten zwischen Grégoire und seiner Ehefrau geben könnte, bekommt die Tafel, anders als bei Hartmann, überhaupt nicht zu Gesicht. Sie bemerkt, dass Grégoire häufig Tränen in den Augen hat, unterlässt es jedoch, ihm weiter nachzuspionieren und wendet sich direkt an ihre Herrin, ohne Grégoires Trauer mit irgendeinem beschrifteten Gegenstand in Verbindung zu bringen (Grégoire A 1669 – 1682). Und als schließlich Grégoire nach seiner Rückkehr von der Felseninsel ans Festland nach seiner Tafel verlangt, bringt man sie ihm zwar sogleich, ohne dass aber die Umstehenden sich zu dem außergewöhnlichen Fund äußern: Tant ont le fumer reversé / Que les tables i ont trové, / Beles e blanches come flor, / Unques n’i murent color, / Sauvement ont esté gardees. / Ignelement les ont portees / E presentees a lur maistre: / Lors nel poüst nulz home irastre. / Graces a Damedeu rendi / Qui tot le sien li rent issi (Grégoire A 2565 – 2574). So lange haben sie den Mist umgegraben, bis sie die Tafel gefunden haben, schön und blütenweiß, ohne dass sie ihre Farbe verändert hatte; unversehrt ist sie bewahrt worden. Rasch haben sie sie ihrem Oberhaupt gebracht und vorgelegt; da hätte wahrlich kein Mensch zornig werden können. Er dankte dem Herrgott, dass er ihm so all das Seine zurückgibt.

Während bei Hartmann die Umstehenden Freude und Furcht aufgrund der Unversehrtheit der Tafel empfinden und unter Tränen bestätigen, dass Gregorius ein heiliger Mann sein müsse (G 3736 – 3739), reagiert im französischen Grégoire nur der Protagonist selbst auf die wunderbare Wiederauffindung des Gegenstands, indem er Gott dankt. Auch an dieser Stelle interessiert sich der französische Text schlicht nicht dafür, was Nebenfiguren über die Tafel denken.

Die Mutter als Schreiberin Dadurch konzentriert sich die gesamte Aufmerksamkeit auf Grégoire und seine Mutter und auf die Art und Weise, wie die Tafel von ihnen verwendet wird. Dies beginnt mit der Beschriftung des Gegenstands vor der Aussetzung des Kindes. In Hartmanns Bearbeitung wird das Beschreiben der Tafel eingebettet in einen längeren Vorbereitungsprozess, an dem neben der Mutter des Kindes auch ihr treuer Gefolgsmann und dessen Frau teilnehmen. Die Entscheidung zum Aussetzen des Kindes wird gemein-

2.3 Die Tafel in älteren und jüngeren Bearbeitungen des Stoffs

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schaftlich gefällt, das schützende Kästchen gemeinschaftlich gefüllt. Das Ehepaar ist möglicherweise sogar am Formulieren der Inschrift beteiligt (G 766). Beim Schreiben selbst distanziert sich die Frau deutlich von dem, was passiert ist, wie auch von dem, was in Zukunft passieren soll. An keiner Stelle stellt sie ausdrücklich fest, dass sie es ist, die als Mutter des Kindes dessen Aussetzung und die informierende Beschriftung der Tafel veranlasst. Auch ihre Gefühle fasst sie nicht in Worte. Verstärkt wird der Eindruck, dass die Mutter als handelnde Person beim Beschreiben der Tafel ganz in den Hintergrund des Geschehens rückt, dadurch, dass die Erzählung den genauen Wortlaut der Inschrift nicht wiedergibt. Das Publikum erfährt von ihrem Inhalt lediglich gefiltert durch die Paraphrase des Erzählers. Im französischen Grégoire hingegen setzt die Mutter in jeder Hinsicht ihren Willen gegen ihren Gefolgsmann und seine Frau durch (Grégoire A 460 – 486). Sie allein ist verantwortlich für das Befüllen des Gefäßes und für die Beschriftung der Tafel. Im Inhalt der Inschrift tritt die Frau deutlich als Verantwortliche und Urheberin hervor. Auch hier wird der Text durch Erzählereinschübe in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil geht es um die Herkunft des Kindes und den Grund für seine Aussetzung, im zweiten Teil werden Anweisungen ausgesprochen, was mit dem Kind geschehen soll, und im dritten Teil wird nochmals betont, dass das Kind seiner Mutter gedenken möge.¹²³ Anders als Hartmann, der den Inhalt der Inschrift vom Erzähler paraphrasieren lässt, präsentiert ihn der Grégoire nicht im narrativen, sondern im dramatischen Modus. Dies erzeugt einen gewissen Unmittelbarkeitseffekt. Im ersten Teil spricht die Mutter zunächst noch von sich selbst in der dritten Person: ‚E quant fu nés, en icel jor / Enelepas le fis geter / La mere es ondes de mer‘ (Grégoire A 516 – 518: ‚Und als es geboren war, am selben Tag noch, ließ die Mutter es gleich auf den Wellen des Meeres aussetzen‘).¹²⁴ Im zweiten Teil jedoch verwendet die Schreiberin dann auch die erste Person: ‚Si voil qu’il sache Deu prier, / Lire, chanter e verciller‘ (Grégoire A 531– 532: ‚Auch will ich, dass es lernt, zu Gott zu beten, zu lesen, zu singen und zu psalmodieren‘). Im dritten Teil schließlich spricht die Mutter ihren Sohn sogar direkt an: ‚Amis, beaus fis, se tu vis tant / Que puisses ceaus tables raveir / E que est ens escrit saveir, / Pri tei que les gardes sovent / E lises ententivement, / E si te remenbre de mei / Qui remaing dolente por tei‘ (Grégoire A 546 – 552).

 Die Lücke, die die konkrete Herkunft des Kindes ausspart, wird im Grégoire, anders als später im Gregorius, nicht vom Erzähler markiert, sondern von dem jungen Mann im Anschluss an seine erste Lektüre (vgl. Grégoire A 1189 – 1192).  In Fassung B findet sich an dieser Stelle sogar eine kurze Erzählerparaphrase, die genauso distanziert und distanzierend wirkt wie die bei Hartmann: Si escrist enz, par grant dolur, / Ke uns freres l’out de sa sorur, / E ke mult fu halt sis lignages. / Mais pur crieme ke li huntages / Ne fust par li depopliez, / En ert li emfes emveez (Grégoire B 429 – 434: Darauf schrieb sie in großem Kummer, dass ein Bruder es von seiner Schwester bekam und dass es von sehr hohem Adel sei. Aber aus Furcht, dass die Schande durch es bekannt würde, sei das Kind ausgesetzt worden).

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

‚Freund, schöner Sohn, wenn du so lange lebst, dass du diese Tafel erhältst und erfährst, was darauf geschrieben steht, dann bitte ich dich, sie oft zu betrachten und sie aufmerksam zu lesen und meiner zu gedenken, die in Trauer um dich zurückbleibt.‘

Fassung B gestaltet das Ende dieser Ansprache noch emphatischer.¹²⁵ Damit erhält die gesamte Inschrift eine andere Qualität als bei Hartmann. Dieser setzt an die Stelle des Appells eine ausdrücklich markierte Leerstelle.¹²⁶ Indem in den Fassungen des französischen Grégoire die Mutter am Ende der Schrift ihren Sohn anredet und dabei auch von ihren eigenen Gefühlen spricht, d. h. ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Trauer, gibt sie dem Text auf der Tafel weniger den Charakter einer sachlichen und pragmatischen Mitteilung über vergangene Ereignisse und zukünftige Erfordernisse als vielmehr den einer sehr persönlichen und emotional aufgeladenen Botschaft einer trauernden Mutter an ihren geliebten Sohn. Die Schreiberin strebt danach, für den einen ihrer beiden Adressaten im Medium der Schrift ihre eigene, mütterliche Stimme hörbar zu machen. Die Materialität ihrer Gaben wiederum verweist im Verbund mit dem auf der Tafel vermerkten Text nicht allein auf die adlige Abstammung und die damit verbundenen Ansprüche des Kindes auf angemessene Erziehung, sondern auch auf eine besondere Form der Zuneigung – schließlich gibt sie ihrem Sohn nicht nur eine Elfenbeintafel, Gold, Silber und ein Stück Seidenstoff mit, sondern auch eine letzte Portion Muttermilch (Grégoire A 557– 558). Zu bedenken ist außerdem, dass es sich bei der Elfenbeintafel nicht um einen beliebigen Gebrauchsgegenstand, sondern um ein Objekt handelt, das ganz allein der Mutter gehört und mit dem sie in Fassung B sogar persönliche Erinnerungen verbindet (Grégoire B 1495 – 1496). Man könnte daher mit Edith und Horst Wenzel für den Grégoire viel überzeugender als für Hartmanns Gregorius argumentieren, dass es sich bei der Tafel nicht um einen Gegenstand handelt, der einen von der Absenderin weitgehend entkoppelten Inhalt durch Raum und Zeit transportieren soll, sondern um ein Ding, mit dessen Hilfe sich die Absenderin gegenüber ihrem Kind verkörpern und vergegenwärtigen will. Zu dem Gegenstand, den ihr Kind erhält, versetzt sie sich in ein metonymisches Verhältnis. Mit anderen Worten: Die Tafel wird im französischen Text als Kommunikationsmedium mit einem anderen Schwerpunkt eingesetzt als im deutschen: Im Grégoire dient sie nicht dazu, einen von der Senderin hergestellten Abstand nochmals hervorzuheben. Sie simuliert stattdessen eine Kommunikationssituation, die diesen Abstand möglichst vergessen machen will.

 In B schreibt die Mutter an ihren Sohn: ‚Si te membre de mei, amis, / Ki si remain de tei iree / Ke mais un jor ne serai lee; / Ne ja veir, tant cum jo viverai, / Un jor sanz doel ne passerai‘ (Grégoire B 456 – 460: ‚Denke an mich, Freund, die ich hier voll Kummer um dich zurückbleibe und keinen Tag mehr froh sein werde, wahrhaftig, so lange ich lebe‘).  im wart dâ niht benant / weder liute noch lant, / geburt noch sîn heimuot: / daz was ouch in ze helne guot (G 763 – 766: Nicht offenbart wurden ihm Land oder Leute, weder Abstammung oder Heimat. Dies zu verheimlichen erschien ihnen gut).

2.3 Die Tafel in älteren und jüngeren Bearbeitungen des Stoffs

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Der Sohn als Leser Aber nicht nur die Mutter schreibt anders – ihr Sohn rezipiert auch anders. Grégoire geht mit der Tafel anders um als sein Pendant in der deutschen Bearbeitung, sowohl, was den Inhalt der Inschrift, als auch, was das gesamte Artefakt angeht. Bei Hartmann behält Gregorius nach seiner ersten Lektüre des Textes auf der Tafel für sich, was er gelesen hat. Nur der Erzähler informiert das Publikum darüber, dass der Protagonist über das Gelesene zugleich betrübt und froh sei. Im französischen Grégoire hingegen teilt der junge Mann dem Abt in direkter Rede mit, was auf der Tafel steht. In Fassung A gibt er eine knappe Zusammenfassung, in der er hauptsächlich über das Ereignis des Inzests und über die Umstände der Aussetzung spricht, während er auf die Appelle der Mutter nicht weiter eingeht. In Fassung B aber geht er viel weniger eklektisch vor. Er gibt den gesamten Inhalt der Inschrift wieder und bleibt dabei relativ nah an dem Text, den man aus der Aussetzungsepisode bereits kennt. Fast wörtlich zitiert er vor allem die Passage, in der sich die Mutter direkt an ihr Kind wendet, wodurch diese Stelle noch ein weiteres Mal hervorgehoben wird.¹²⁷ Das heißt: Im Grégoire bemüht sich der junge Mann darum, dass beim Lesen keine Reibungsverluste entstehen, noch bevor er weiß, dass es seine eigene Mutter ist, die da aus der Vergangenheit und aus der Ferne zu ihm spricht. Obgleich aber die französische Erzählung so viel Raum darauf verwendet, zu schildern, wie sorgfältig und umfassend Grégoire die Botschaft seiner Mutter aufnimmt, sät sie auch Zweifel, ob Grégoire wirklich alles verstanden hat, was er da so fehlerfrei wiederholen kann. Zum einen ist er nicht eigenständig in der Lage, zu erkennen, warum ihm der Abt die Tafel überhaupt gegeben hat.¹²⁸ Zum anderen ist seine Frage, aus welchem Geschlecht er stamme, zwar ganz berechtigt; die nach dem Grund seiner Aussetzung aber sollte er nach der Lektüre der Tafel eigentlich mühelos beantworten können, ohne dazu das Kloster verlassen zu müssen.¹²⁹ Der Vergegenwärtigungseffekt, den die Mutter mit der Formulierung des Textes auf der Tafel anstrebt, kann also offenbar nicht das Begehren nach mehr Information, nach unvermitteltem Austausch und damit nach wirklicher Nähe stillen. Die von der Mutter hergestellte Illusion einer Gemeinschaft zwischen Mutter und Sohn durch eine Form ‚erotischer Kommunikation‘, die so tut, als könne sie die Distanz überwinden, die die Mutter doch selbst zwischen sich und ihrem Sohn geschaffen

 Vgl. Grégoire B 931– 990, besonders 967– 974.  Um herauszufinden, von welchem Kind auf der Tafel die Rede ist, muss er den Abt um Hilfe bitten: ‚Mais ce ne sai je dire pas / De quel païs fu icil las, / Ne que aprés ce devint, / Ne quel veie des iluec tint. – / Sire, por Deu, car me mostrés / De qui ce fu, ce vos savés, / Qu’il fu, que devint, ou verti, / Se il fu mors ou il gari‘ (Grégoire A 1189 – 1196: ‚Aber ich kann weder sagen, aus welchem Land dieser Unglückliche kam, noch was dann aus ihm wurde und wie es ihm seither erging. Herr, bei Gott, so erklärt mir, um wen es ging, wenn Ihr wisst, wer er war, was aus ihm wurde und wo er hinging und ob er starb oder gerettet wurde‘).  Gregoire dist: ‚Repos n’avrai / Deci a tant que je savrai / De quel lignaje je fu nés / E por quei fu ici getés‘ (Grégoire A 1211– 1214: Grégoire sagte: ‚Ich werde nicht ruhen von jetzt an, bis ich weiß, aus welchem Geschlecht ich stamme und warum ich ausgesetzt wurde‘).

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

hat, verfängt bei Grégoire auf Dauer nicht.¹³⁰ Nachdem die Tafel in seinen Besitz übergegangen ist, sieht er zunehmend weniger die sprechende und liebende Mutter, sondern sich selbst in seiner ganzen Defizienz darin verkörpert. Statt an seine Mutter zu denken, denkt er an sich selbst. Zum Vergleich: Bei Hartmann wird das Schriftstück nach Gregorius’ erster Lektüre lange Zeit kein einziges Mal erwähnt. Als sich der Protagonist nach seiner Hochzeit wieder mit ihr beschäftigt, tut er es, um seinen in Sünde gefallenen Eltern etwas Gutes zu tun. Er liest zwar sîn sündeclîche sache / den ougen ze ungemache (G 2283 – 2284), ohne aber sich selbst als konkret sündigen Menschen zu betrachten. Etwas anderes war ihm von der Inschrift auf der Tafel auch nicht nahegelegt worden.¹³¹ Warum Gregorius die Tafel verbirgt, teilt Hartmann nicht mit. Um die Tatsache, dass sein Protagonist es tut, macht er aber auch kein großes Aufheben. Der französische Grégoire aber muss im Gegensatz zu Gregorius auf seiner Tafel nicht nur lesen, dass seine Eltern sündig geworden sind. In den Worten seiner Mutter werden die Sünden der Eltern und die des Kindes – also seine eigenen – gleichgesetzt. Beten soll er jedenfalls ‚[p]or ses mesfais e por les nos‘ (Grégoire A 543: ‚für seine Vergehen und für unsere‘).¹³² Im Folgenden behandelt Grégoire diesen Gegenstand, der auf seine eigene Schuldhaftigkeit hinweist (woraus auch immer diese resultieren soll), als wäre er ein schändlicher Teil seiner selbst, den er vor den Augen aller an-

 Setzt man zur Beschreibung ein Kommunikationsmodell an, das zwischen ‚postalischer‘ und ‚erotischer Kommunikation‘ unterscheidet, wie es etwa Sybille Krämer tut, dann handelt die Mutter mit der Übersendung der Tafel nach dem postalischen Prinzip: Sie überträgt Informationen, ohne einen Absender anzugeben, d. h. sie verunmöglicht jegliche Reziprozität der Kommunikation, jeglichen echten Dialog mit ihrem Adressaten. Durch die emotionale Ansprache und die Bitte (v. a. in Fassung B), dass das Kind genauso an sie denken möge, wie auch sie an es denke, gibt sie nur vor, im direkten Kontakt mit ihrem Empfänger zu stehen, und dringt auf eine „Vereinigung und eine Übereinstimmung […], deren Ziel es ist, Distanz und Differenz zu überwinden. Wo immer dialogische Kommunikation gelingt, sind diejenigen, die miteinander kommunizieren in einer gewissen Hinsicht ‚eins‘ geworden; sofern das Verständigungsziel erreicht ist, teilen sie etwas miteinander, sprechen sie wie mit einer Stimme“. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M. 2008, S. 14– 15.  Vor Gregorius’ Geburt verweist seine Mutter ihrem Bruder gegenüber zudem darauf, dass ein Kind niemals die Schuld seines Vaters tragen müsse (G 476 – 477: ‚daz ein kint niene treit / sînes vater schulde‘).  In HS A2: Por ses pechies et por les nos (499: Für seine Sünden und für unsere), in HS A3: Pour ses pechiez et pour les noz (571). Fassung B1 wird hier noch deutlicher: ‚Quant il duze anz de tens avrat, / Si letres set, si entendra / Quels hoem il est, e qu’il deit faire, / Si s’alme velt d’emfern retraire‘ (Grégoire B 447– 450: ‚Wenn er zwölf Jahre alt ist und lesen kann, wird er erfahren, was für ein Mensch er ist und was er tun muss, wenn er seine Seele aus der Hölle retten will‘). Natürlich könnte damit auch gemeint sein, dass jeder Mensch demütig sein und richtig handeln muss, wenn er nicht das ewige Leben verwirken will. In diesem Zusammenhang erscheint es allerdings als plausibel, dass sich die Mutter nicht allgemein auf die Situation jedes Menschen, sondern auf die spezielle ihres aus einem Inzest entstandenen Sohnes bezieht.

2.3 Die Tafel in älteren und jüngeren Bearbeitungen des Stoffs

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deren Menschen verbergen muss.¹³³ Damit liegt er ja auch nicht ganz falsch: Die Tafel ist ebenso Ausdruck des elterlichen Verbrechens wie das aus ihrer Verbindung entstandene Kind selbst. Wenn Grégoire die Tafel unbedingt verbergen will, dann tut er nichts anderes als die Mutter nach der Geburt, von der es heißt, dass sie ihn für nichtswürdig halte, weil er in Sünde gezeugt worden sei und nicht gezeigt werden dürfe (Grégoire A 456 – 458). Demselben Impuls folgt auch der Abt, der die Tafel zusammen mit dem Stoff und dem Gold versteckt, nachdem das Kind gefunden wurde (Grégoire A 910 – 914). Als Grégoire in Aquitanien ankommt und dort eine Herberge bezieht, sorgt er ebenfalls sogleich dafür, dass der Gegenstand auf keinen Fall in falsche Hände gelangen kann, indem er dem Wirt zusammen mit dem restlichen Gepäck auch eine Truhe übergibt, in die er die Tafel eingeschlossen hat. Den Schlüssel vertraut er dem Wirt wohlweislich nicht an, sondern nimmt ihn mit (Grégoire A 1297– 1298). Nach der Hochzeit holt er die Tafel aus seiner früheren Herberge und verbringt anschließend einige Zeit damit, nach einem geeigneten Versteck zu suchen, wovon dann auch 20 Verse lang denkbar ausführlich erzählt wird: Dem Erzähler zufolge sucht Grégoire überall im Saal nach einem Winkel, in dem er die Tafel verbergen kann, findet aber zunächst nichts, bis er eines Abends nach dem Essen eine chambre privee betritt und dort einen guten Ort für die Tafel entdeckt (Grégoire A 1641– 1657). Doch nicht nur das: E aprés ce acostuma / Que chascun jor alot veeir / C’eles i erent, e saveir / S’aucuns ne fust qui les remuast / Ne qui son secrei trovast (Grégoire A 1658 – 1662). Und darauf nahm er die Gewohnheit an, / jeden Tag nachzusehen, / ob sie noch da wäre, und zu erfahren, / ob einer sie angerührt / und sein Geheimnis entdeckt hätte.

Der Wille, die Tafel zu verbergen, nimmt bei diesem Protagonisten beinahe obsessive Züge an.¹³⁴ Immer wieder muss er sich vergewissern, ob der Gegenstand noch da und unberührt geblieben ist. Auch rezipiert er das Schriftstück anders als der deutsche Gregorius. Er weint nicht deshalb regelmäßig über der Tafel, weil er sich Sorgen um seine sündigen Eltern macht, sondern weil er dabei an sich selbst denkt: Tant com il puet, le tint en us / Que, tant com il les veeit, / Ploreit des oilz e duel faiseit / Por le peché e por la rage / Que nez esteit de tiel lignage (Grégoire A 1664– 1668).

 Die Tabuisierung geht so weit, dass Grégoire, selbst als er bereits weiß, dass seine Ehefrau das Schriftstück gesehen hat, sie noch anfleht, über das Gelesene nicht zu sprechen: ‚Por amor Deu, fait il, amie, / Ne recordez tiel felonie! / Ne la deit om surremenbrer / Ne de tiel merveile parler‘ (Grégoire A 1833 – 1836: ‚Bei Gottes Liebe‘, sagt er, ‚Geliebte, erinnert nicht an diese böse Tat! Man darf ihrer nicht gedenken und von etwas so Unerhörtem sprechen‘).  In Fassung B wird dieser Eindruck noch verstärkt. Dort mustert Grégoire im Hauptsaal alle Bögen und Wölbungen, findet aber keinen versteckten Winkel, der ihn zufriedenstellt. Eines Tages findet er schließlich une chambre mult privee (Grégoire B 1302) und entdeckt darin ein Loch in der Mauer, in das er die Tafel heimlich schiebt (Grégoire B 1283 – 1308).

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So sehr er kann, machte er es sich zur Gepflogenheit, dass er, so oft er sie sah, Tränen vergoss und klagte wegen der Sünde und aus Wut, dass er aus einem solchen Geschlecht geboren war.

Die Tafel verkörpert für Grégoire nicht die Mutter, sondern das Vergehen an sich. Sie ist der Gegenstand gewordene Inzest, genau wie Grégoire selbst. Indem er sie versteckt, versteckt er teilweise auch sich selbst. Wenn er vor rage weint, also vor Wut oder Kummer, dann weint er über seine eigene Mangelhaftigkeit, die er sich stets von Neuem in Erinnerung rufen muss, von der er aber niemandem erzählen darf. Dieses Problem, das er nicht mit der schwierigen Situation seiner Eltern hat, sondern mit sich selbst, und das in den französischen Texten ein viel persönlicheres ist als bei Hartmann, kann der Protagonist nicht allein bearbeiten oder gar lösen. Wagt man ein vom Text nicht gedecktes Gedankenspiel, dann könnte Hartmanns Gregorius theoretisch bis zum Ende seines Lebens für seine Eltern beten, ohne dass ihn die Trauer über ihre Sünde in seinem Eheleben oder in seiner Herrschaftsfähigkeit allzu sehr beeinträchtigen würde. In der deutschen Bearbeitung wird das Geheimnis des Protagonisten nicht aus Gründen der Kausalität aufgedeckt, weil er es nicht mehr für sich behalten kann, sondern weil das Ende der Geschichte verlangt, dass er büßt und schließlich von Gott gerettet und erhöht wird. Um die dazu notwendige, erst fatal erscheinende, schließlich aber rettende Kettenreaktion in Gang zu setzen, braucht es denn auch das von Gregorius kaum zu kalkulierende Eingreifen einer außergewöhnlichen klugen, neugierigen und wagemutigen Dienerin. Die finale Motivation dafür, dass Ehefrau und Ehemann einander als Mutter und Sohn erkennen, ist im französischen Grégoire genauso gegeben wie bei Hartmann. Sie wird allerdings durch die – wenn auch nur angedeutete – Möglichkeit einer kausalen Verknüpfung ergänzt. In den Worten des Erzählers geht Grégoire nämlich sehr oft dorthin, wo seine Tafel ist, und tut dies so lange, bis ein Fräulein ihn schließlich bemerkt (Grégoire A 1669 – 1671). In beiden französischen Fassungen kann man diese Passage so verstehen, dass Grégoire die Offenlegung seines Geheimnisses durch sein zwanghaftes Verhalten letztlich selbst herbeiführt. Er provoziert den Bruch des Redetabus, ohne es selbst aktiv brechen zu müssen. Erst nachdem mit der Tafel auch seine Identität vollständig offenbart ist, kann er damit beginnen, sein Problem zu lösen. Auf die plötzliche Offenlegung seines Geheimnisses reagiert Grégoire daher, anders als Gregorius, nicht mit zorn (G 2608) bzw. einer Fortsetzung seiner bisherigen rage (Grégoire A 1667). Das vollständige Wissen darum, welcher lignage er tatsächlich angehört – nämlich einer nicht nur einfach, sondern sogar doppelt durch Inzest kompromittierten –, sorgt nicht für Wutausbrüche, sondern dafür, dass er zum ersten Mal, seit er die Tafel auf der Klosterinsel gelesen hat, tatsächlich zur Ruhe kommt. Daher kann er sogleich seine Mutter trösten und zur Besonnenheit ermahnen (Grégoire A 1887– 1892). Als er das Land verlässt, um für seine Sünden zu büßen, nimmt er in Fassung B die Tafel, die seine Sünde verkörpert, aus ihrem Versteck, wo er sie zugleich bei sich und von sich getrennt gehalten hatte, und stellt nun die größtmögliche Nähe zwischen seinem Körper und dem Gegenstand her: Ses tables ad en ses mains prises / E en sun sein pres de lui mises (Grégoire B 1613 – 1614: Seine Tafel nahm er

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in die Hände und legte sie dicht an seine Brust). Jetzt erst sind Grégoire und die Tafel, also die beiden materialen Manifestationen des initialen Vergehens, in materialer Hinsicht wissentlich und willentlich miteinander vereint. Und erst jetzt, nachdem Grégoire das Vergehen als konstitutiv für sein eigenes Dasein anerkannt hat, kann er die Tafel und damit auch das Vergehen schrittweise hinter sich lassen. Sowohl im französischen Grégoire als auch in seiner deutschen Bearbeitung fungiert die Tafel ähnlich wie ein Brief. Sie dient als Kommunikationsmedium, das eine Reihe von Informationen von einer Senderin an zwei Empfänger übertragen soll, einen unbekannten und einen bekannten. Wie dies funktioniert und welche Nebeneffekte sich abseits der Vermittlung von Informationen über Adel, Sünde und Erziehung bei diesem Kommunikationsprozess ergeben, davon erzählen die beiden Texte jedoch auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen. Hartmann von Aue interessiert sich dafür, wie Texte auf verschiedene Rezipienten wirken: Wie kann sich ein Absender so ausdrücken, dass das, was er übermitteln will, störungsfrei ankommt, wie kann er dabei die Materialität des Mediums zum Bestandteil seiner Nachricht machen, was kann er verschweigen oder nicht? Und wie reagieren die Rezipienten auf die Botschaft, auf welche Weise können sie Einzelaspekte auswählen, gewichten oder neu anordnen, die Nachricht interpretieren und absichtlich oder unabsichtlich missverstehen, das heißt: wie können sich die Rezipienten im Modus ihrer Rezeption der Kontrolle des Absenders unterordnen oder sich ihr entziehen? All diese Fragen besitzen eine poetologische Relevanz – schließlich gilt das, was die Schreiberin und die verschiedenen Rezipienten in der erzählten Welt des Gregorius mit der Tafel anstellen, in ähnlicher Weise für jeden Autor, der einen Text einem wie auch immer gearteten Publikum zugänglich macht, und damit auch für Hartmann und seinen Gregorius. Im Grégoire erhält die Tafel eine zusätzliche Dimension. Sie wird in diesem Text behandelt, als sei sie mehr als ein menschengemachtes Schriftmedium, das verschiedenen hermeneutischen Operationen zugänglich und offen für verschiedene Interpretationen ist. Der Protagonist kann nämlich aus diesem Schriftstück eine Vielzahl von Informationen herauslesen, die gar nicht darin enthalten sind und es zum Teil auch nicht sein können: etwa über den genauen Rang von Grégoires Vater bzw. über die Vorbereitungen zur Aussetzung, nachdem die Beschriftung der Tafel abgeschlossen ist (Grégoire A 1175 und 1181– 1188). Grégoire erfährt hier aus der Inschrift etwas, was eigentlich nur das Publikum wissen kann, das ja nicht nur die Inschrift auf der Tafel, sondern die ganze Geschichte bis zu diesem Punkt kennt. Man könnte diese Inkonsistenz einfach als Nachlässigkeit des Autors betrachten, der sich nicht die Mühe gemacht hat, den Wissenshorizont seiner Figur gründlich von seinem eigenen und dem seiner Leserschaft zu unterscheiden.¹³⁵ In einer anderen Lesart je Mit Jan-Dirk Müller könnte man hier von einem exemplarischen Fall von ‚epischem Erzählen‘ sprechen. Ähnlich wie in Alexanders Brief an seinen Lehrer Aristoteles und an seine Mutter im Straßburger Alexander vermischen sich auch in dem Text auf Grégoires Tafel Figurenrede und Erzählerrede, Figurenwissen und Erzählerwissen – „von einer ‚Perspektivierung‘ der Erzählwelt kann keine

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doch gewinnt die Tafel durch diese Erzählweise fast orakelhaften Charakter: Der Gegenstand speichert mehr Informationen, als in ihn hineingelegt wurden, und er kann folglich Dinge mitteilen, die seine ursprüngliche Besitzerin nicht explizit zur Mitteilung vorgesehen hatte. Die Tafel erscheint damit als so etwas wie das Gedächtnis des gesamten Textes. Der Autor der französischen Erzählung macht damit – vielleicht unabsichtlich – auf ein Phänomen aufmerksam, das auch Hartmann mehrere Jahrzehnte später durch den Fokus auf die unterschiedlichen Rezeptionsakte im Text herauspräpariert: Schrift suggeriert Kontrolle nur. Wer einmal mit dem Schreiben anfängt, hat letztlich keine Chance, darüber zu bestimmen, in welcher Form das eigene Wissen und Wollen draußen in der Welt ankommt und was dann damit passiert.

Modifikationen in den Versbearbeitungen Arnold von Lübeck: Gesta Gregorii Peccatoris Mit der Vie du Pape Saint Grégoire kommt im 12. Jahrhundert ein Stoff in die Welt, der in der Folgezeit bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zunehmend breiter rezipiert wird, sowohl auf Lateinisch als auch auf Deutsch. Schon kurze Zeit nach der Entstehung von Hartmanns Version der Erzählung wird diese bereits von dem Benediktinerabt Arnold von Lübeck im Auftrag des Herzogs Wilhelm von Lüneburg bearbeitet.¹³⁶ Ungefähr 1202– 1213 überträgt er seine mittelhochdeutsche Vorlage ins Lateinische, behält dabei die gebundene Rede bei und orientiert sich sogar metrisch an seiner mittelhochdeutschen Vorlage. Arnold erweitert und kürzt in seinen Gesta Gregorii Peccatoris (im Folgenden: Gesta), vor allem aber baut er zusätzliche intertextuelle Verweise auf biblische Personen und Ereignisse sowie auf antike nicht-christliche literarische Traditionen in seinen Text ein.¹³⁷ In seinen Vorreden und Prologen in Vers und Prosa legt er dar, dass er nicht Wort für Wort übersetzen, sondern den geistigen Sinn der Erzählung wiedergeben wolle.¹³⁸ Zu diesem Zweck hält sich Arnold an die Abfolge der

Rede sein“. Jan-Dirk Müller: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachlicher Schriftlichkeit. Berlin 2017, S. 228.  Zu Arnolds von Lübeck Bearbeitung vgl. Markus Euringer: Der gute Sünder – Gregorius Peccator. Eine vergleichende Untersuchung zur lateinischen Übersetzung des ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue durch Arnold von Lübeck. Diss. masch. München 1987; Karoline Harthun: Die lateinische Übersetzung der Gregoriuslegende Hartmanns von Aue. Zur These ihrer Relegendarisierung durch Arnold von Lübeck, in: Mlat. Jb. 33 (1998), S. 85 – 104; Albert Leitzmann: Zum Gregorius peccator, in: ZfdA 67 (1930), S. 285 – 288; Bernward Plate: ‚Gregorius peccator‘. Hartmann von Aue und Arnold von Lübeck, in: Mlat. Jb. 28 (1993), S. 67– 90; Schröder, Gesta; Rainer Zäck: Der ‚guote sündaere‘ und der ‚Peccator Precipuus‘. Eine Untersuchung zu den Deutungsmodellen des ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue und der ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘ Arnolds von Lübeck, ausgehend von den Prologen. Göppingen 1989.  Sylvia Kohushölter: Die lateinische und deutsche Rezeption von Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘ im Mittelalter. Untersuchungen und Editionen. Tübingen 2006, S. 24– 29.  Arnold von Lübeck: Gesta Gregorii Peccatoris. Untersuchungen und Edition von Johannes Schilling. Mit einem Beiheft. Göttingen 1986, S. 67.

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Ereignisse, greift aber in den Wortlaut bearbeitend ein. Im Blick hat er wahrscheinlich ein heterogenes Publikum, das möglicherweise nur teilweise all seine gelehrten Zitate entschlüsseln kann, das aber zumindest ausreichend Latein beherrschen muss, um den Text überhaupt rezipieren zu können.¹³⁹ Da Arnold von Lübeck zuverlässig dem Gang der Ereignisse folgt, wie er ihn bei Hartmann vorfindet, hat jede einzelne Tafel-Episode ihre Entsprechung in der lateinischen Bearbeitung. Häufig wird auch inhaltlich nur sehr wenig verändert: Die Tafel besteht zwar nicht nur aus Elfenbein und Edelsteinen, sondern auch aus Gold, sie enthält aber einen sehr ähnlichen Text wie bei Hartmann, der ebenfalls nicht wörtlich wiedergegeben, sondern vom Erzähler paraphrasiert wird. Auch den Hinweis, dass die Erinnerung an die Verbrechen der Eltern das Kind mit Gottes Hilfe dazu bringen werde, sich besonders willfährig dem Willen Gottes zu unterwerfen, hat Arnold von Hartmann.¹⁴⁰ Aus dem Frevel zweier Menschen, so der lateinische Text, vermöge die Gottesfurcht eines Dritten hervorzugehen. Eine ähnliche Gedankenfigur, die nicht nur auf das Schlimme aufmerksam macht, sondern auch auf das Gute, das damit untrennbar verbunden ist, verfolgt der Abt bei der Entdeckung von Kind und Tafel. Er sieht nicht nur die Anweisungen, denen zufolge man auf das Vermögen des Kindes achtgeben und es Lesen lehren solle, sondern entnimmt dem Artefakt auch eine Überlegung zur Errettung jedes Menschen vor der Erbsünde durch die Macht der Taufe: Abbas respexit tabulas, / in quibus res non dubias / vidit de ortu pueri / et sacramento fidei, / Quod nasciturus denuo / sit babtismi remedio, / quo solvimur a vinculis / originalis criminis (Gesta Lib. II, Cap. iii, 62– 69). Der Abt sah die Tafeln wieder an, auf denen er Unbezweifelbares über die Abkunft des Knaben und das Sakrament der Treue sah – dass er nämlich neu geboren werde durch das Heilmittel der Taufe, durch die wir gelöst werden aus den Fesseln der Erbsünde.

In dieser Passage geht es abermals um die gleichzeitige Existenz und den Gegensatz von Schlechtem und Gutem. Die Lösung des Problems lautet hier nicht, dass aus etwas Schlechtem etwas Gutes erwachsen kann, sondern, dass etwas Schlechtes (die Erbsünde) durch etwas Gutes (das Sakrament der Taufe) geheilt und aufgehoben werden kann. Nach Gregorius’ Entschluss, das Kloster zu verlassen, halten sich das Gute und das Schlechte in seinem Leben eine Zeitlang die Waage. Das eine bedingt das andere,  Sylvia Kohushölter zufolge lassen „[d]ie lateinische Sprache, die Kenntnisse antiker und christlicher Literatur und die Beschreibung des heterogenen Rezipientenkreises als sapientes und insipientes […] eine monastische Zielgruppe der ‚Gesta‘ erwarten“. Kohushölter, Rezeption, S. 33.  Si timoris spiritus / impleverit hunc celitus, / forte matris sceleris / et paterni criminis / non erit totus immemor, / quo magis sit humilior. / Sicque fiat domino / totus suplex animo (Gesta Lib. I, Cap. xiiii, 35 – 42: Wenn der Geist der Gottesfurcht ihn vom Himmel her erfülle, werde er sich vielleicht an den Frevel der Mutter und das väterliche Vergehen erinnern, sodass er umso demütiger werde. Und so möge er dem Herrn gänzlich ergeben im Geiste werden). Vgl. G 749 – 760.

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ohne dass die negative Dimension überwunden werden kann. Als beispielsweise der Abt dem jungen Mann die Tafel gibt, sieht dieser, ähnlich wie bei Hartmann, Gutes und Schlechtes zugleich, er klagt und er ist fröhlich. Verbrechen reimt sich hier buchstäblich auf Freude.¹⁴¹ Beide Aspekte gleichermaßen werden sein Leben auch weiterhin bestimmen: Während der Protagonist in der deutschen Vorlage seiner Trauer über die Sünde der Eltern und dem Gebet für sie täglich einen festen Ort und eine feste Zeit gibt, scheint er in der lateinischen Bearbeitung sein gesamtes Leben nach der Hochzeit in einem quälenden Zwiespalt zu verbringen: Delicias extrinsecus, / miserias intrinsecus / exercebat Gregorius – / nunc gaudet, nunc est languidus. / Quis infelicem hominem / huic cognovit similem? / quem erigebant prospera / et artabant pericula (Gesta Lib. II, Cap. xxxiii, 7– 14). Nach außen hin zeigte er sich vergnüt, im Inneren empfand er Kummer. Mal freut er sich, mal ist er matt. Wer kennt einen anderen unglücklichen Menschen, ihm ähnlich, den die günstigen Umstände aufrichteten und den Gefahren bedrängten?

Gregorius schwankt fortwährend zwischen Vergnügtheit und Kummer, Freude und Mattigkeit, den günstigen Umständen und der drohenden Gefahr. Dieser Zustand der Unentschiedenheit und der Ambivalenz wird erst durch die Intervention der schlauen Dienerin beendet. Ob diese, als sie Gregorius beim wiederholten Lesen der Tafel nachstellt, negativer charakterisiert wird als in der mittelhochdeutschen Vorlage, ist nicht leicht zu entscheiden: die Adjektive astucia, versucia und callida können ebenso wie das deutsche Wort karc gleichermaßen Klugheit wie Hinterlistigkeit bezeichnen. Arnolds Gebrauch gleich mehrerer verschiedener Adjektive hebt diese ambivalente Eigenschaft der Dienerin im Vergleich besonders hervor.¹⁴² In jedem Fall führen ihre Handlungen dazu, dass sich von nun an tatsächlich Schlechtes in Gutes verwandelt, wie es die Mutter und der Abt gehofft hatten und wie der Erzähler sentenzhaft am Ende des Kapitels feststellt: Sed qui contritum respicit / cor et nequaquam despicit, / quod gerebatur clanculo / in lucem vertit subito, / ut prava deus destruat / et virtutes perficiat (Gesta Lib. III, Cap. i, 31– 36). Wer aber ein reuiges Herz sieht und nicht geringschätzt, was sich im Geheimen ereignete, bringt es plötzlich ans Licht, auf dass Gott das Schlimme zerstöre und den Tugenden zur Durchsetzung verhelfe.

In der letzten Tafel-Episode, nachdem Gregorius lange genug gebüßt hat und von den Gesandten aus Rom von seinem Felsen heruntergeholt worden ist, greift der Bearbeiter nochmals erheblich in den Text ein. Bei Arnold liegt die von Gregorius sehnlichst  Ut autem hec perspexerat, / tristem scriptura fecerat / et plangebat de scelere, / sed causa fit leticie / tantarum rerum copia / et nobilis prosapia (Gesta Lib. II, Cap. xix, 19 – 24: Als er sie aber gesehen hatte, machte ihn die Schrift traurig und er klagte über das Verbrechen, doch die Fülle so vieler Dinge verursacht Freude, auch das edle Geschlecht). Vgl. G 1747– 1755.  Vgl. Gesta Lib. III, Cap. i, V. 7, 8 und 21.

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vermisste Tafel nicht nur unter den Trümmern eines eingestürzten Schuppens – an der Stelle, an der er sie bei seinem hastigen Aufbruch vergessen hat, ist seitdem ein dichter Dornenstrauch gewachsen, dem die Suchenden zu Leibe rücken müssen, um endlich den Gegenstand intacte et tam splendide (Gesta Lib. IV, Cap. xxv, 48: unversehrt und so glänzend) aufzufinden. Wozu lässt Arnold hier einen Dornenstrauch wachsen, von dem bei Hartmann an der entsprechenden Stelle gar nicht die Rede ist? Ein gelehrter Rezipient von Arnolds Gesta Gregorii Peccatoris hatte sicherlich keine Mühe, eine ganze Reihe von Bezügen zu Dornensträuchern und Dornen in der Bibel herzustellen, wenn er das wollte. In Gen 3,18 beispielsweise ist das Wachsen von Dornen Teil der Strafe, die Gott nach dem Sündenfall über Adam verhängt: spinas et tribulos germinabit tibi (Dornen und Disteln soll [der Acker] dir tragen). Der erste Mensch muss im Schweiße seines Angesichts einen mit Dornen bewachsenen Boden bestellen, weil er gesündigt hat. Die Dornbuschepisode in den Gesta könnte man daher so verstehen, dass der Sünder Gregorius in der Nachfolge des Ursünders Adam in einem Dornengesträuch wühlen muss, um den Gegenstand wiederzuerlangen, der ihm Leben, Vergebung und Erlösung bedeutet. In Ex 3,2 wiederum erscheint Gott Moses in einem brennenden Dornbusch, der wunderbarerweise vom Feuer nicht verzehrt wird, um ihn als Anführer seines Volkes zu berufen. In vergleichbarer Weise könnte man auch Arnolds von Lübeck Dornbusch als eine Art Kommunikationsmedium betrachten, mit dessen Hilfe Gregorius’ Eignung als Papst offenbart wird. In Jesu Gleichnis vom Sämann schließlich (Mk 4,1– 20, Mt 13,1– 23 und Lk 8,4– 15), um eine letzte von vielen Möglichkeiten anzuführen, fällt ein Teil der ausgebrachten Saat in die Dornen, unter denen sie daraufhin erstickt. In der Auslegung wird die Saat mit dem Wort Gottes gleichgesetzt und die Dornen mit Reichtum und Gier nach weltlichen Gütern.¹⁴³ Zieht man diesen Intertext in Betracht, dann läuft auch Gregorius in den Gesta Gefahr, die wahre Gottesfurcht aufgrund seiner Zugewandtheit zu weltlichen Gütern und Tätigkeiten zu vernachlässigen. Seine Reue und Buße verschaffen ihm jedoch erneut die Möglichkeit, sich ganz Gott zuzuwenden und in der Folge sogar Gottes Wort in der Welt zu verbreiten. Keiner dieser möglichen Bezüge zu biblischen Dornbüschen wird vom Erzähler in irgendeiner Weise gestützt. Statt einen oder sogar alle der genannten biblischen Intertexte zur Interpretation der Episode heranzuziehen, könnte man auch versuchen, die Passage in ihrem unmittelbaren Kontext zu deuten. Denn was heißt es eigentlich, in ein dorniges Dickicht zu greifen? Noch deutlicher als bei Hartmann wird die Wiedergewinnung der Tafel durch eine solche die körperliche Unversehrtheit gefährdende

 Et alii sunt qui in spinis seminantur. hii sunt qui verbum audiunt. et aeumnae saeculi et deceptio divitiarum. et circa reliqua concupiscentiae introeuntes suffocant verbum. et sine fructu efficitur (Mk 4,18 – 19: Und andere sind die, bei denen unter die Dornen gesät ist: die hören das Wort, und die Sorgen der Welt und der betrügerische Reichtum und die Begierden nach allem andern dringen ein und ersticken das Wort, und es bleibt ohne Frucht).

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Handlung mit Gregorius’ Buße parallelisiert.¹⁴⁴ Die Mühe, die von allen Anwesenden aufgewendet werden muss, um gegen die Stacheln des Strauchs anzukommen und die Tafel daraus zu befreien, ist der letzte Schritt, den Gregorius auf seinem Weg zur Gnade gehen muss. Er muss sich dieser letzten schmerzhaften Mühe nicht allein unterziehen, sondern erhält dabei Hilfe von anderen. Aus den Dornen wird in vereinter Anstrengung die heile und strahlende Tafel geborgen, si fuissent subito / rapte de artifico (Gesta Lib. VI, Cap. xxx, V. xxv, 49 – 50: als wäre sie eben erst dem Künstler genommen worden). Gregorius’ fortdauernde Schmerzen und Anstrengungen und nun auch die seiner neuen Gefährten werden damit belohnt, dass dem Sünder von Gott ein neuer Anfang gewährt wird. Der zu Beginn von der Mutter schriftlich auf der Tafel übermittelte Appell, dass die Beschäftigung mit der Sünde der Eltern das Kind zur Gottesfurcht anhalten möge, stellt sich im Nachhinein als Prophezeiung heraus, die sich über Umwege in vorbildlicher Weise erfüllt. Diejenigen, die das Wunder bezeugen, reagieren bei Arnold von Lübeck nicht etwa mit einer Hinwendung zu dem offensichtlich von Gott gesegneten Mann, wie sie Hartmann schildert, sondern zu Gott selbst: Laudatur ergo dominus / a suis dilectoribus, / qui se timentes protegit, / se diligentes diligit (Gesta Lib. IV, Cap. xxv, 51– 54: Gelobt wird also der Herr von seinen Verehrern, er, der die beschützt, die ihn fürchten und die liebt, die ihn lieben). Damit belegt diese Erzählung nochmals, was seit der Beschriftung der Tafel immer wieder behauptet und als Hoffnung formuliert worden war, dass nämlich Schlechtes Gutes bergen, dass Schlechtes Gutes hervorbringen und dass Schlechtes sich in Gutes verwandeln kann.

Gregorius Peccator Rund hundert Jahre nach Arnolds Bearbeitung entsteht mit dem Gregorius Peccator eine weitere Adaption von Hartmanns Gregorius in lateinischen Versen. Es handelt sich bei diesem Werk in Hexametern offenbar um einen Schulbuchtext, an dem die Schüler lateinische Grammatik und Metrik üben können. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts greift man zu diesem Zweck nicht mehr ausschließlich auf christliche, d. h. biblische, sondern gern auch auf nicht-christliche antike Traditionen zurück. Der Prolog des Gregorius Peccator spricht denn auch vom Sündenfall, von dem Gott die Menschen erlöst hat, während der Beginn der Handlung um Gregorius’ Großeltern und Eltern ein

 In der deutschen Bearbeitung ist es nicht die Tafel, die unter Dornen verborgen wird, bis die Buße abgegolten ist, sondern – im übertragenen Sinn – Gregorius selbst, der sich in ein dürres Gestrüpp zu verwandeln oder sich in Missachtung seiner körperlichen Bedürfnisse in ein solches zurückzuziehen scheint: als der ein lîlachen / über dorne spreite, / man möhte im sam gereite / allez sîn gebeine / grôz unde kleine / haben gezalt durch sîne hût (G 3460 – 3465: Wie wenn jemand ein Leintuch über Dornen breitete, ebenso leicht hätte man bei ihm alle seine Knochen, die großen und die kleinen, durch die Haut hindurch zählen können).

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Ovid-Zitat enthält, in dem es heißt, dass der Ausgang die Tat und das glückliche Ende ein begangenes Übel rechtfertige.¹⁴⁵ Ähnlich wie Arnold von Lübeck orientiert sich auch der Autor des Gregorius Peccator weitestgehend an Hartmanns Vorlage, was die Thematisierung der Tafel im Text angeht. Dabei sind zwei bedeutende Unterschiede festzustellen: Zum einen fehlt die letzte Episode, denn Gregorius vergisst zwar seine Tafel bei Antritt seiner Bußzeit auf dem Festland, es wird aber nicht erzählt, dass er sie später wieder auffindet. Zum anderen wird in den meisten Fällen nichts darüber gesagt, wie die Tafel rezipiert wird. Dies gilt nicht nur, wie im französischen Grégoire, für Nebenfiguren wie den Abt, die Dienerin oder die römischen Gesandten: Der Abt entdeckt auf der Tafel singula signa (Gregorius Peccator 126), das Publikum erfährt aber nichts darüber, was genau das heißt, was er von der Botschaft auf dem Artefakt hält oder welche Schlüsse er aus ihr zieht; was die Dienerin sieht, wird nicht weiter ausgeführt; und die Gesandten können gar nichts sehen, da man die Tafel eben weder sucht noch findet. Doch auch der Protagonist zeigt sich, zumal bei seiner ersten Lektüre, wenig beeindruckt. Als der Abt ihm die Tafel aushändigt, [g]rates Grego multiplicauit (Gregorius Peccator 181: bedankt sich Grego[rius] vielfach) – und das ist alles. Immerhin wird später erläutert, dass er die Tafel aufgrund von Gewissensbissen regelmäßig zur Hand nehme (Gregorius Peccator 250), doch darüber hinaus werden seine Lektüren nicht weiter motiviert. Letztlich interessiert sich der Text vor allem dafür, wie Gregorius’ Mutter schreibt, wie sie liest und was ihre Handlungen auslösen. Als Figur wird sie überhaupt erst in dem Moment geringfügig profiliert, in dem sie die Tafel beschriftet – bis dahin waren sämtliche Ereignisse einzig und allein aus der Perspektive ihres Vaters, ihres Bruders und ihres treuen Gefolgsmannes geschildert worden, während sie selbst kaum erwähnt worden war und noch weniger Gelegenheit zu eigenständigen Handlungen erhalten hatte. Die Mutter handelt lange Zeit geradezu ausschließlich, indem sie schreibt.¹⁴⁶ Als sie die Tafel später in der Kammer ihres Sohnes wiederentdeckt, erkennt sie sie und liest sie dann selbst erneut, ähnlich wie bei Hartmann.Wo allerdings

 Der lateinische Text des Gregorius Peccator wurde ediert und mit einer Übersetzung ins Deutsche und einem Kommentar versehen von Sylvia Kohushölter in: Kohushölter, Rezeption, S. 69 – 97. Eine aktualisierte Edition hat Thomas Klein vorgelegt: Thomas Klein: Variationen über den sündigen Heiligen: Der lateinische ‚Gregorius‘ im Schulunterricht (mit Editio critica und Untersuchungen), in: Mlat. Jb. 47 (2012), S. 197– 244 hier V. 27– 29. Der lateinische Text des Gregorius Peccator wird in der vorliegenden Untersuchung nach Kleins Edition zitiert, die Übersetzung orientiert sich an der von Sylvia Kohushölter.  Der Inhalt der Botschaft wird äußerst knapp referiert: Superaddit / Viginti marcas auri tabulisque notauit, / Quod puer est gentilis adhuc, quoque rex pater eius, / mater regina. Celatum non negat ortum / Et rogat in tabulis, si forte pepercerit illi / Sors, si quis fuerit pueri tabuleque repertor, / Aurum tollat, alat puerum, baptizet eundem (Gregorius Peccator 77– 83: Sie gab zwanzig Goldmark hinzu und schrieb auf Tafeln, dass der Junge von hoher Abstammung sei, außerdem noch, dass sein Vater ein König und seine Mutter eine Königin sei. Sie leugnete nicht seinen Ursprung im Verborgenen und bat auf den Tafeln, dass, wenn das Schicksal jenen vielleicht schone, wenn irgendjemand den Jungen und die Tafel finde, dass er das Gold nehmen, den Jungen erziehen und denselben taufen solle).

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der Autor des deutschen Textes auf die Entdeckung einen relativ nüchternen Dialog folgen lässt, an dessen Ende die Mutter ihren Sohn mit der Erkenntnis konfrontiert, dass sie zugleich seine Mutter und seine Ehefrau sei (G 2604), da schiebt der Bearbeiter eine Passage ein, in der sich die Frau über 27 Verse hinweg über die verworrenen Verwandtschaftsverhältnisse auslässt, die sie mit ihrem Kind verbinden. Der Autor gibt sich an dieser Stelle alle Mühe, möglichst viele Verwandtschaftstermini zueinander in Beziehung zu setzen und außerdem die verschiedenen Konstellationen mit Anspielungen auf berühmte inzestuös Liebende aus der antiken biblischen und auch nicht-christlichen Literatur zu unterfüttern.¹⁴⁷ Zur Veranschaulichung seien einige wenige Verse aus dem Monolog der Mutter zitiert: ‚sum mater et uxor, / Sum nurus ac amita, sum neptis, filia, pelex. / Quo potius dicar? socer [et] est genitor mihi, patri / Sum nurus que filia sum, genitorque nepotem / Te meus appellans auus est tuus ipse. Sororem / Frater me dicit, pelex sum facta duorum. / Est tuus ipse pater tibi factus auunculus et me / Sic amitam facit esse tuam, que sum tua mater‘ (Gregorius Peccator 274– 281). ‚Ich bin Mutter und Ehefrau, ich bin Schwiegertochter und Tante, ich bin Enkelin, Tochter, Konkubine. Womit soll ich eher benannt werden? Ein Schwiegervater ist mir der Erzeuger, dem Vater bin ich Schwiegertochter und Tochter, mein Erzeuger nennt dich Enkel, er selbst ist dein Großvater. Schwester sagt der Bruder zu mir, zu einer Konkubine beider wurde ich gemacht. Dein Vater selbst ist dir zum Onkel geworden und macht mich so zu deiner Tante, die ich deine Mutter bin.‘

Die Mutter erreicht auf dieser Weise in ihrer Rede einen hohen Grad an Komplexität. Zudem spricht keine Figur in diesem Text zuvor oder danach so lange ununterbrochen wie die Mutter an dieser Stelle. Anders als bei Gregorius löst die Lektüre der Tafel bei seiner Mutter den Versuch aus, mit Worten das ganze Ausmaß des Chaos zu durchmessen und die durcheinandergeratenen Familienverhältnisse mittels Benennung und Systematisierung in den Griff zu bekommen. Der bisher vorherrschende Mangel an gelingender Kommunikation (auch an gelingender Telekommunikation) wird in diesem Moment ausgeglichen durch eine Rede, die keine Fragen mehr offenlässt. Das Vergehen, das sowohl in den Worten des Erzählers als auch in den schriftlichen Worten der Mutter auf der Tafel so umständlich und zaghaft umschrieben worden war, gewinnt in dieser neuerlichen Umschreibung, dieses Mal in Form einer mündlichen Ansprache, ein großes Maß an Detailschärfe. Im Gregorius Peccator sind es somit das Schreiben und die aktive Re-Kontextualisierung des Geschriebenen, die dazu führen, dass eine Figur, die ansonsten in diesem Text so gut wie keine Handlungsfähigkeit besitzt, die Gelegenheit zur Produktion komplexer Rede erhält. Während der Abt und der spätere Papst geistliche Gelehrsamkeit repräsentieren, verkörpert die schreibende,  ‚Numquid de stirpe sum Laii? Credo, quod alter / Edippus tu sis, ego sum Iocasta uel ipsa / Infelix Mirra uel Biblis adultera fratris / Vel, si uera loquor, possum Iunonia dici‘ (Gregorius Peccator 286 – 289: ‚Bin ich etwa aus der Wurzel des Laios? Ich glaube, dass du ein zweiter Ödipus bist, ich bin Iocaste oder sogar die unglückliche Myrra oder Byblis, die Ehebrecherin des Bruders, oder wenn ich es richtig ausdrücke, kann ich Juno genannt werden‘).

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lesende und monologisierende adlige Dame das weltliche, dichterisch gebildete Gegenstück dazu.

Reduktionen in den Prosabearbeitungen Ab dem 14. Jahrhundert wird der Gregoriusstoff nicht mehr nur in Versen, sondern auch in Prosa bearbeitet, und zwar sowohl in lateinischer Sprache als auch in verschiedenen europäischen Volkssprachen. Ins Zentrum des folgenden Unterkapitels werden exemplarisch einige dieser Prosabearbeitungen gestellt, um zu zeigen, was mit erzählten Texten in den jeweiligen Erzählungen geschieht, sobald diese in Gebrauchszusammenhänge eingepasst werden, die in größerem Ausmaß auf mündliche als auf schriftliche Verbreitung abzielen. Zu beobachten ist generell, dass „[h]öfische Elemente der Versquelle […] weitgehend beseitigt“ werden.¹⁴⁸ Jan-Dirk Müller spricht für noch jüngere Texte von einer „‚Generalisierung‘ der Gebrauchssituation“: Eine solche Bearbeitung höfischer Epik dient „nicht mehr der Verständigung über eine idealisierte ritterliche Lebensform und deren Nachvollzug in literarischen Ritualen. Die höfische Welt wird nicht als gegenwärtige imaginiert (die Illusion der Präsenz von Festen, Schlacht- und Turnierschilderungen!), sondern erscheint in einer Außenperspektive, die Teilhabe an jener Welt nicht ausschließt, aber auch nicht voraussetzt“.¹⁴⁹ Eine Legende oder ein Exempel muss sich im späten Mittelalter schließlich auch zur Rezeption durch Leser oder Hörer eignen, die sich nicht zwingend über den Inhalt oder die Umsetzung höfischer Ideale verständigen wollen. Feststellen lässt sich eine solche ‚Enthöfisierung‘ beispielsweise in der deutschen Prosabearbeitung von Hartmanns Vorlage, die in das dominikanische Legendar Der Heiligen Leben (um 1400) aufgenommen wird, wo sie zwischen den Legenden Von sant Cunrat und Von sant Saturninus steht.¹⁵⁰ Von allen Bearbeitungen des mittelhochdeutschen Gregorius erfährt diese im engeren Sinn legendarische Version die weiteste Verbreitung. In vielen Gesichtspunkten hält sie sich eng an ihre Vorlage.¹⁵¹ Dement-

 Kohushölter, Rezeption, S. 175. Silvia Kohushölter bezieht sich mit ihrer Aussage auf das Bamberger Legendar. Ihre Schlussfolgerung lässt sich aber auch auf andere spätmittelalterliche Fassungen der Geschichte übertragen.  Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung, in: IASL, Sonderheft Forschungsreferate 1 (1985), S. 1– 128, hier S. 56.  Zitiert wird dieser Text nach HS F in: Gregorius auf dem Stein. Frühneuhochdeutsche Prosa (15. Jh.) nach dem mittelhochdeutschen Versepos Hartmanns von Aue. Die Legende (Innsbruck UB Cod. 631), der Text aus dem ‚Heiligen Leben‘ und die sogenannte Redaktion. Hg. und kommentiert von Bernward Plate. Darmstadt 1983. Vgl. auch: Gregorius auf dem Stein, in: Der Heiligen Leben. Band II: Der Winterteil. Hg. von Margit Brand, Bettina Jung und Werner Williams-Krapp. Tübingen 2004, S. 234– 245.  Was allerdings die Heiligkeit des Protagonisten angeht, so hält sich die Legende in Der Heiligen Leben Fritz Peter Knapp zufolge auffällig zurück: „[I]n Der Heiligen Leben spricht nur der Titel Von Sant Gregorius auff dem Stain. Im übrigen liegt einfach eine stark verkürzende Prosaauflösung des Hart-

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sprechend kommt die Tafel überall dort vor, wo auch Hartmann von ihr spricht. Machart, Inhalt und Rezeptionsakte werden kürzend, aber in den meisten Fällen nicht erheblich bedeutungsverändernd geschildert. Der wichtigste Unterschied zu Hartmanns Gregorius besteht darin, dass die Gregoriuslegende (vielleicht) Klarheit darüber verschafft, in welchem Zustand die Tafel am Ende aufgefunden wird: Do pat der lieb herre Sant Gregorius vnsern hern, das er jm hulff, daz er sein tafeln fund. Do suchten sy dy tafeln. Do funden sisz also schone vnter neszeln vnd krawt ligen, als er sy dar gelegt het. Do wurden sy gar froge vnd sprachen: ‚Werlichen, er ist ain heiliger mensch.‘ ¹⁵²

Die Tafel sieht demnach ebenso schön aus wie damals, als Gregorius sie bei seinem Aufbruch zur Insel hatte liegen lassen. Heißt das, dass sie noch immer beschriftet ist, dass auf ihr also noch immer unter anderem zu lesen ist, das das kint edel wer von geslecht vnd wer geporn von zwaÿen geswistreten? ¹⁵³ Die Reaktion der römischen Gesandten ist jedenfalls die gleiche wie bei Hartmann, wenn sie froh verkünden, dass es sich bei Gregorius um einen heiligen Menschen handle. Legt der Bearbeiter also Wert darauf, dass die Informationen der Mutter über Gregorius’ edle und zugleich inzestuöse Abkunft erhalten bleiben? Oder darauf, dass Gregorius weniger trotz, sondern gerade aufgrund dieser besonderen Ausgangsposition dazu geeignet ist, von Gott über alle anderen Menschen erhöht zu werden? Die Manifestation der Sünde wird nicht so stark transformiert, dass dabei die Erinnerung an die Sünde ausgelöscht und aus der Welt geschafft wird, sondern sie wird unverändert in einen neuen Kontext gesetzt: In der Hand des reumütigen Geretteten ist die Tafel nicht mehr Mahnmal vergangener Verbrechen, aber auch nicht Denkmal der unermesslichen Gnade Gottes, die auch die schlimmsten Fehltritte ungeschehen machen kann.Vielmehr ist in der legendarischen Variante die schöne, unversehrte und gleichzeitig weiterhin beschriebene Tafel ein greifbarer Beleg dafür, dass Gott den Sünder mitsamt seiner Vergangenheit annimmt. Diese Vergangenheit kann nicht ungeschehen gemacht werden, muss es aber eben auch nicht. Was den Umgang mit der Tafel angeht, so sehen die verschiedenen spätmittelalterlichen Gregoriusexempel ganz anders aus als die Gregoriuslegende in Der Heiligen Leben. Für die Tafel als schrifttragendes Artefakt oder sogar als poetologisches Instrument interessieren sie sich nicht. Das Exempel De mirabili divina dispensatione et ortu beati Gregorii pape in den Gesta Romanorum (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts) beispielsweise, das nicht auf Hartmanns Gregorius, sondern auf den französischen Grégoire zurückgeht, enthält zwar in stark verkürzter Form noch die meisten TafelPassagen, die auch die Vorlage kennt. Ähnlich wie die lateinische Hexameterdichtung

mannschen Werkes vor, der jedoch sowohl Prolog als auch Epilog und somit auch die Fürsprecherfunktion des Heiligen fehlen.“ Knapp, Legenda, S. 147– 148.  Gregorius auf dem Stein S. 159. So lautet der Wortlaut zumindest in F, während M und I vage bleiben, was den Zustand des Gegenstands angeht.  Gregorius auf dem Stein S. 59.

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aber verzichtet sie auf die letzte: Die Tafel wird zwar von Gregorius verloren, aber später nicht mehr gesucht oder gefunden. Gebraucht wird sie nur bis zu dem Moment, in dem Gregorius erkennt, dass er vom Teufel umstrickt wurde, woraufhin er seine Buße antritt. Für seinen weiteren Lebensweg ist sie nicht mehr von Bedeutung und kann getrost vergessen werden.¹⁵⁴ Das lateinische Gregoriusexempel De Gregorio im Breslauer Codex (Breslau, UB, I.F. 115) aus dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts verkürzt und vereinfacht die Erzählung im Dienst größerer Eingängigkeit und guter Benutzbarkeit für die Vorbereitung von Predigten noch weiter.¹⁵⁵ Überliefert ist sie unter der Überschrift De Albano – ein Fehler, der vermutlich daher rührt, dass es sich beim heiligen Albanus um einen anderen berühmten ‚Inzest-Heiligen‘ handelt, der aus einer inzestuösen Beziehung hervorgeht und seine Mutter heiratet, überdies aber noch beide Eltern tötet, als er sie beim neuerlichen Inzest ertappt.¹⁵⁶ Von der Erzählung über die Elfenbeintafel und ihre vielfältigen Lektüren ist in diesem Gregoriusexempel nur noch ein dürres Skelett übrig geblieben. Nachdem die Mutter das Kind geboren hat, bestückt sie das Boot mit Silber, Gold, kostbaren Gewändern und einem Schriftstück, auf dem festgehalten ist, dass der Vater des Kindes sein Onkel und die Mutter seine Tante sei. Der Abt, der die Gegenstände bei dem Kind findet, liest noch etwas mehr, nämlich, dass der Knabe durch eine königliche Erziehung zu Höherem gebracht werden solle. Als er Gregorius die Tafeln später aushändigt, wird nichts über eine Reaktion des jungen Mannes erzählt. Und nachdem schließlich die Mutter herausgefunden hat, dass es sich bei ihrem Ehemann zugleich um ihren Sohn handelt, kommt es weder zu einer Konfrontation Gregorius’ mit dem Schriftstück noch dazu, dass er dieses irgendwo vergisst oder wiederfindet. Damit kommt fast das gesamte letzte Drittel des Textes ohne die Tafel aus. In einem niederdeutschen Gregoriusexempel im sogenannten Ersten Lübecker Mohnkopfplenar (gedruckt 1488) schließlich werden dem Kind ebenfalls kostbare Dinge und ein Schriftstück mitgegeben – Letzteres ist allerdings keine Tafel mehr, sondern ein ansonsten nicht näher charakterisierter breef:

 Vgl. Gesta Romanorum S. 399 – 409.  Zu den Quellen und möglichen Vorlagen vgl. Kohushölter, Rezeption, S. 201– 204. Der lateinische Text und eine Übersetzung ins Deutsche des Exempels De Gregorio finden sich ebenfalls in: Kohushölter, Rezeption, S. 215 – 219. Eingeführt wird das Exempel mit den etwas reißerischen Worten: soror concipit a fratre et parit et post contractauit matrimonium, pertinet hÿstoria rara, sed graciosa (Eine Schwester wird von ihrem Bruder schwanger und kommt nieder, und später ist sie eine Ehe eingegangen. Davon handelt die seltene, aber gefällige Geschichte). Zu dieser Einleitung bemerkt Volker Mertens: „Soll graciosa hier vielleicht doch ‚gnadenreich‘ bedeuten und nicht – wie sonst meist – ‚gefällig‘? Denn ‚gefällig‘ ist die Greuelgeschichte eigentlich nicht zu nennen, höchstens ‚eingängig‘ könnte man sie heißen.“ Mertens, Gregorius Eremita, S. 114.  Vgl. Christian Kiening: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens. Würzburg 2009, S. 69 – 72; Elizabeth Archibald: Incest and the Medieval Mind. Oxford 2001, S. 120 – 122; Knapp, Legenda, S. 149 – 150.

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Vnde de mome des kindes de | schreef eynen breef by dat kynt in | dat schryn. dar stod in gheschreuen | alsus. De broder is syn vader. vnde | de suster is syn moder. Vnde se ley=|de by dat kynt in dat schryn gulde|ne rynge vnde gelt. vnde sulueren kle|node. In meninge efte dat kynt wor|de gevunden dat de sulfte id dar me|de voeden scholde. ¹⁵⁷ Und die Mutter des Kindes schrieb einen Brief neben dem Kind in der Kiste. Darin stand: Der Bruder ist sein Vater und die Schwester seine Mutter. Und sie legte zu dem Kind in die Kiste goldene Ringe und Geld und andere solche Kleinodien, damit, wenn das Kind gefunden würde, es davon ernährt werden könnte.

Der Abt nimmt desse klenode vnde den bref ¹⁵⁸ an sich, man erfährt allerdings nicht einmal mehr, wann Gregorius diese Dinge überhaupt von ihm erhält. Später besitzt er sie einfach und zeigt sie seiner Mutter und Ehefrau aus freien Stücken, nachdem sie ihn um Auskunft über seine Herkunft gebeten hat. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass das Schriftstück nun gar nicht mehr als Träger eines irgendwie lesenswerten Textes angesehen wird, sondern ausschließlich als Gegenstand, den man aufgrund seiner Beschaffenheit und seiner Zugehörigkeit zu einer Zusammenstellung von Dingen, weniger aufgrund der in ihm enthaltenen Nachricht wiedererkennen kann: Alse se dyt horde vnde | ock sach se de klenode de se wol kan|de. vnde den breef den se suluen ghe| schreuen hadde vnde se vor nam vor|ware dat se syn naturlike moder was | Do wart se vthermaten sere vor=|schrecket. ¹⁵⁹ Als sie das hörte und auch die Kleinode sah, die sie kannte, und den Brief, den sie selbst geschrieben hatte, da erkannte sie die Wahrheit, dass sie seine natürliche Mutter war. Da erschreckte sie sich sehr.

Das schrifttragende Artefakt ist in diesem Exempel nur noch ein Objekt unter mehreren. Sobald die Mutter das Ensemble erkannt hat, verschwindet es auch hier vollständig aus der Handlung. Zusammenfassen lassen sich die an den Bearbeitungen des Grégoire und des Gregorius gemachten Beobachtungen vielleicht folgendermaßen: Während die beiden lateinischen Texte in Versen, die einen gewissen intellektuellen und ästhetischen Anspruch ausstellen, den fiktiven Gegenstand ‚beschriftete Tafel‘ als Mittel zur Strukturierung des Textes, zur Charakterisierung von Figuren oder als Anlass für gelehrte intertextuelle Verweise nutzen, zeigen die Prosabearbeitungen an solchen schriftliterarischen Spielereien kaum Interesse. Dies trifft vor allem auf die Exempel zu. Geschaffen und konserviert werden auch sie im Medium der Schrift. Da sie jedoch zumindest potenziell in mündlichen Kontexten weiterverwertbar und auch einem nicht-gelehrten Publikum schon beim ersten Hören verständlich sein müssen, be-

 Der Text von Gregorius de grote sunder findet sich in Kohushölter, Rezeption, S. 239 – 249, hier Z. 244– 249.  Gregorius de grote sunder Z. 286.  Gregorius de grote sunder Z. 322– 325.

2.4 Lebendige und verlebendigende Lektüren

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treffen die notwendigen Reduktionen und Verallgemeinerungen eben nicht nur Höfisches, sondern auch Schriftliches.

2.4 Lebendige und verlebendigende Lektüren Wie Prologe und Exkurse von höfischen Autoren dazu genutzt werden, das eigene dichterische Vorgehen oder die eigenen Ziele zu reflektieren, und dass sie dabei zuweilen ein hohes Maß an theoretischer Komplexität erreichen, hat Walter Haug in seiner Studie zur Literaturtheorie im deutschen Mittelalter systematisch vorgeführt. Wenn man nun versuchsweise annimmt, dass ein Autor wie Hartmann von Aue solche Überlegungen nicht nur in extradiegetischen Erzählerreden, sondern auch innerhalb der Handlung anstellt, dass er also an manchen Stellen der Erzählung eine Art von impliziter Theoriebildung vornimmt,¹⁶⁰ dann könnte man auch danach fragen, ob sich extra- und intradiegetische Aussagen über die Prozesse des Dichtens und des Rezipierens von Dichtung zueinander in Beziehung setzen lassen.

Der Prolog: Die Wegmetapher als Sinnbild des Lesens und Dichtens Nicht alle Handschriften, die Hartmanns Gregorius enthalten, überliefern auch den Prolog. In den ältesten Handschriften A (Vatikanstadt, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Regin. lat. 1354), B (Straßburg, Stadtbibl., Cod. A 100)¹⁶¹ und E (Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2881) fehlt er. Handschrift G (Cologny-Genf, Bibl. Bodmeriana, Cod. Bodm. 62) enthält eine verkürzte Fassung des Prologs. Vollständig enthalten ist dieser lediglich in den jüngeren Handschriften J (Berlin, Staatsbibl., mgq 979) und K (Konstanz, Stadtarchiv, Hs. A I 1).¹⁶² Die Tatsache, dass Arnold von Lübeck sich schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts in seiner Bearbeitung des deutschen Gregorius mit einem Prolog auseinandersetzt, wie man ihn später in J und K vorfindet, belegt, dass er spätestens zu dieser Zeit vorgelegen haben muss.¹⁶³ Volker Mertens zufolge kann es „Schreiberkonvention gewesen sein, den Prolog fortzulassen, da er stark situationsbezogen ist“.¹⁶⁴ Er bezieht sich damit auf die Behauptung des Erzählers ‚Hartmann‘,

 Vgl. Chinca/Young, Literary Theory, S. 614.  Dieser Kodex gilt als verloren.  Zur handschriftlichen Überlieferung des Gregorius vgl. Ernst, Theologische Grundlagen, S. 230 – 261, sowie Ernst, Spiegel.  Arnold ruft etwa zur Umkehr auf, bevor es zu spät ist, spricht vom Herabsteigen des prothoparens von Jerusalem nach Jericho und vom Verlassen der via regia, womit er Lk 10,30 aufruft und das nachfolgende Samaritergleichnis vorbereitet.Vgl. Arnold, Gesta, Prologus, S. 67– 68. Rezipiert wird der erste Teil von Hartmanns Prolog möglicherweise auch in der sog. Wallersteiner Margarethe (ebenfalls Beginn des 13. Jahrhunderts). Vgl. Mertens, Stellenkommentar, S. 826.  Mertens, Stellenkommentar, S. 826.

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sich wegen seiner Jugendsünden zu sorgen und daher als Autor nun andere Stoffe zu wählen als früher.¹⁶⁵ Selbst wenn man aber den Prolog nicht als autobiographische Aussage Hartmanns über sein eigenes Leben und Schaffen betrachtet und sich nicht darauf festlegen will, ob er nun von Hartmann selbst stammt oder nicht, kann man festhalten, dass er schon früh von einem mittelalterlichen Rezipienten wie Arnold von Lübeck als Bestandteil des Textes angesehen wird. Andere zeitgenössische Rezipientinnen und Rezipienten mussten diese Ansicht zwar nicht zwingend teilen, konnten es aber möglicherweise – je nachdem, auf welche Weise sie mit dem Text in Berührung kamen und ob ihnen der Prolog überhaupt bekannt war oder nicht. Wenn sie ihn kannten, dann konnte dies Einfluss darauf nehmen, wie sie die Erzählung und damit auch die zentrale Inschrift der Erzählung und ihren Schriftträger wahrnahmen. Gliedern kann man den Prolog wie folgt: (1) Selbstaussage des Erzählers und allgemeines Programm: Zunächst äußert der Erzähler mit Bezug auf seine eigenen Erfahrungen die Erkenntnis, dass man sich frühzeitig um sein Seelenheil kümmern und Buße tun müsse und dass eine Rettung durch Gott möglich sei, wenn man sich darum bemühe. Dies könne man an der Geschichte sehen, mit deren Hilfe er seine Lehre veranschaulichen werde. (2) Zweiwegegleichnis: Wer sich indes vom Zweifel überwältigen lasse, der gerate vom richtigen Weg auf einen bequemeren, aber falschen und gefährlichen. (3) Samaritergleichnis: So sei es auch einem Menschen ergangen, der von Räubern im Wald niedergeschlagen, seiner Kleider beraubt¹⁶⁶ und schwer verletzt worden sei. Gott habe Erbarmen mit ihm gehabt, ihm die Kleider Hoffnung und Furcht geschickt und seine Wunden mit Öl und Wein gewaschen, d. h. mit den Heilmitteln Gnade und Gesetz. (4) Selbstnennung des Autors: Im letzten Teil des Prologs, der auch in den anderen Handschriften enthalten ist, erfährt man etwas über die Identität des Autors und den Inhalt der Erzählung:

 „Da vor allem der Prologbeginn mit dem Topos von der weltlichen Literatur als Jugendsünde nur im Munde des Autors und mit dem vorangegangenen Klagebüchlein und Erec, wohl auch Minneliedern, einen biographischen Sinn ergibt, der als Beglaubigungstopos eingesetzt wird […], dürfte der Prolog ursprünglich sein und von Hartmann stammen.“ Mertens, Stellenkommentar, S. 827. Und: „Nur in einer bestimmten aktuellen Situation von Autor und Publikum hat diese Reaktion des Verfassers einen Sinn: er muß vorher mehrere weltliche Werke abgefaßt haben, das Publikum muß sie kennen und Entsprechendes von ihm erwarten.“ Mertens, Gregorius Eremita, S. 76. Kritisch zu einer solchen Lesart äußert sich Walter Haug. Nicht nur gerate man in Schwierigkeiten, was die Datierung des Iwein angehe – man vernachlässige auch den topischen Charakter des Prologs: „Das persönliche Sündenbekenntnis, die Ablehnung weltlicher Literatur, das geistliche Werk als Bußleistung oder als verdienstvolle religiöse Tat: all dies sind Motive, die dem Publikum von der geistlichen Prologtradition her durchaus geläufig sein mußten. Das scheinbar Persönliche – wie biographisch real die Daten auch immer sein mögen – dürfte deshalb in erster Linie als Gattungsindex fungiert haben: man kennt Hartmann als weltlichen Dichter; er wechselt – aus was für Gründen auch immer – zum geistlichen Typus über, und dabei bietet er im Prolog eine Reihe von Topoi, die den Hörern den Gattungswechsel signalisieren.“ Haug, Literaturtheorie, S. 134.  So in Handschrift J. In K heißt es, dass man ihm aller sîner sinne kleit (G 103) genommen habe, wodurch bereits an dieser Stelle auf eine Bedeutung jenseits des sensus litteralis hingewiesen wird.

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Der dise rede berihte, / in tiusche getihte, / daz was von Ouwe Hartman. / hie hebent sich von êrste an / diu seltsænen mære / von dem guoten sündære (G 171– 176). Der, der diese Erzählung gestaltet und auf Deutsch verfasst hat, das war Hartmann von Aue. Hier beginnt nun die ungewöhnliche Geschichte von dem guten Sünder.¹⁶⁷

Geprägt ist der Prolog, abgesehen von diesem allerletzten Teil, von binären Oppositionen: der Lohn der Welt und Gottes Wille; der richtige und der falsche Weg; böse Feinde und gnädiger Helfer; Schuld und Gnade. Zusammengehalten werden diese Gegensätze durch die erklärte Absicht des Erzählers, eine Geschichte zu erzählen, die nicht nur von all diesen guten oder schlechten Dingen, sondern schließlich auch von einem guoten sündære handelt – eine Geschichte also, in der als unvereinbar erscheinende Gegensätze aufeinanderprallen und letztlich miteinander vereint werden.¹⁶⁸ Vorbereitet wird diese Geschichte durch zwei Gleichnisse, die beide die Fähigkeit des Menschen zum Thema haben, sich frei in der Welt zu bewegen und dadurch nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele in Gefahr zu bringen. Wer sündigt, befindet sich auf dem wec der helle (G 59), wer umkehrt und sich zurück zu Gott wendet, kommt wieder auf die sælden strâze (G 63). Der bequeme Weg zur Hölle wird im Folgenden als einer beschrieben, auf dem man ohne körperliche Beschwerden vorankommt, während die Straße zum Heil das genaue Gegenteil davon ist. Sie ist beide rûch und enge. / die muoz man ir lenge / wallen unde klimmen, / waten unde swimmen / unz daz si hin leitet / dâ si sich wol breitet / ûz disem ellende / an ein vil süezez ende (G 89 – 96). sowohl rauh als auch schmal. Man muss sie der ganzen Länge nach mühsam gehen und erklimmen, man muss dabei durch Wasser waten und schwimmen, bis sie schließlich dorthin führt, wo sie schön breit wird und aus dieser Heimatlosigkeit herausführt zu einem süßen Ziel.¹⁶⁹

 Zu alternativen Gliederungen, die mögliche theologische Gedankenfiguren wie etwa die Gegenüberstellung von praesumptio (Vermessenheit) und desperatio (Verzweiflung) herausarbeiten, vgl. z. B. Grosse, Beginn und Ende, S. 139 – 144; Schieb, Schuld und Sühne.  Ulrich Ernst zufolge liegt dem Gregorius damit nicht die arthurische Struktur des Doppelwegs zugrunde, sondern die des Zweiwegs.Vgl. Ernst, Theologische Grundlagen, S. 249. Zu den zahlreichen, zum Teil sehr elaborierten Forschungsansätzen, die möglichen theologischen Hintergründen des Prologs nachspüren, vgl. beispielsweise Hinrich Siefken: ‚Der sælden strâze.‘ Zum Motiv der Zwei Wege bei Hartmann von Aue, in: Euphorion 61 (1967), S. 1– 21; Anke Bennholt-Thomsen: Die allegorischen ‚kleit‘ im ‚Gregorius‘-Prolog, in: Euphorion 56 (1962), S. 174– 184; Hans-Jörg Spitz: Zwischen Furcht und Hoffnung. Zum Samaritergleichnis in Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘-Prolog, in: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters. Hg. von Klaus Grubmüller, Ruth Schmidt-Wiegand und Klaus Speckenbach. München 1984, S. 171– 197. Zu einem Vergleich mit Arnolds von Lübeck Prolog vgl. Zäck, Untersuchung, S. 329 – 397.  Im Hintergrund steht das Matthäuszitat (Mt 7,13 – 14): Intrate per angustam portam. quia lata porta et spatiosa via quae ducit ad perditionem. et multi sunt qui intrant per eam. quam angusta porta et arta via quae ducit ad vitam. et pauci sunt qui inveniunt eam (Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn

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Das Samaritergleichnis wird nahtlos angeschlossen: Den selben wec geriet ein man: / zer rehten zît er entran / ûz der mordære gewalt (G 97– 99: Auf genau diesen Weg geriet einst ein Mann. Gerade noch rechtzeitig entkam er der Gewalt der Mörder). Dass mit diesem Mann im Allgemeinen zwar jeder einzelne Mensch, im Speziellen jedoch der Protagonist der folgenden Erzählung gemeint ist, kann das Publikum daraus schließen, dass der Erzähler in Aussicht stellt, als nächstes darüber zu berichten, von welchen Wunden, d. h. also von welcher Schuld, der Gemeinte befreit werden musste und wie genau dies gelingen konnte. Am Ende der Erzählung tut, wie im Prolog angekündigt, der Protagonist Gregorius genau das, was er tun soll: Angesichts der Schuld, die er auf sich geladen hat, eilt er ze gotes hulden (G 154), indem er ganz konkret einen unbequemen und schmalen Weg in die Wildnis wählt, Gewässer durchwatet und barfuß durch unebenes und unwirtliches Gelände zieht, bis das Ankommen auf der Felseninsel und das Fesseln mit der îsenhalte seiner Wanderung ein Ende setzen (G 2761– 2776). Zum ersten Mal, seit Gregorius von seiner Herkunft erfahren hat, bewegt er sich für längere Zeit nicht mehr – und zum ersten Mal liest er auch nicht mehr. Bis zu diesem Moment waren Bewegung und Lektüre stets miteinander verknüpft: Zum einen hat Gregorius die Tafel nach Auskunft des Erzählers alle wege (G 2277: immer) bei sich.¹⁷⁰ Zum anderen folgt jedes Mal, wenn er den Gegenstand im Beisein anderer Menschen zur Hand nimmt, auf diese Handlung ein entscheidender Aufbruch und Ortswechsel: (1) Nachdem ihm der Abt die Tafel gegeben hat, verlässt Gregorius die Klosterinsel; das hatte er vorher zwar auch schon vor, nun aber beabsichtigt er dezidiert, seine adligen Eltern zu suchen, und zu diesem Zweck muss er sich zwangsläufig in den Wirkungsbereich der höfischen Gesellschaft begeben. (2) Nachdem ihn seine Mutter mit der Tafel konfrontiert hat, verlässt er den Hof und macht sich auf in die Wildnis. (3) Und nachdem schließlich Gregorius, der Fischer und die Gesandten die Tafel zum letzten Mal angesehen haben, verlassen sie gemeinsam diese Wildnis und ziehen nach Rom. Lesen und das Beschreiten von Wegen oder allgemeiner: Bewegungen im Raum der erzählten Welt hängen eng miteinander zusammen. Bindet man diese Beobachtung an die Rede des Erzählers vom Weg zur Hölle und von der Straße zum Heil zurück, dann könnte man, wie man es in der Forschungsgeschichte bereits häufig getan hat, auf die Idee kommen, dass Gregorius eben zunächst ‚falsch liest‘ oder ‚das Falsche liest‘ und also mit dem Verlassen der Klosterinsel den ‚falschen Weg‘ wählt, was dann prompt den Beischlaf mit der eigenen Mutter zur Folge hat. Diese Interpretation

finden!). Zum Motiv der zwei Wege und der Wegscheide vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970. Oliver Hallich, der auf das Moment der Passivität in den Schuldmetaphern des Prologs aufmerksam macht, schlägt vor, zur Interpretation der Wegmetaphorik bei Hartmann ein anderes Bibelzitat heranzuziehen, das „gerade nicht die freie Wahl des Menschen zwischen zwei Wegen, sondern das Geleitetwerden des Menschen durch Gott beton[t]“: cor hominis disponet viam suam sed Domini est dirigere gressus eius (Prov 16,9: Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt). Hallich, Poetologisches, S. 57.  Vgl. engl. always.

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bringt das Problem mit sich, dass man voraussetzen muss, dass Gregorius’ ambivalente Reaktion auf die Lektüre (sowohl Trauer über die Sünde der Eltern als auch Freude über die eigene adlige Abkunft) seiner Situation nicht angemessen ist und dass er mit seiner Ausfahrt und seinem Kampf gegen einen feindlichen Usurpator den irgendwie bequemeren Weg wählte, als wenn er schlicht bliebe, wo er ist. Einen solchen Ansatz, der dann doch wieder die alte Schuldfrage zu beantworten sucht, lehnt Walter Haug zu Recht ab. Hartmann habe den Weg seines Helden „keineswegs als eine Zuwendung zum Bösen gezeichnet“. Damit erweise sich das Zweiwegegleichnis „als zu schematisch, als daß damit die Doppelschichtigkeit des Geschehens zureichend zu fassen wäre“.¹⁷¹ Haug vermutet, dass nicht nur die Selbstbeschuldigung des Erzählers im Prolog, sondern auch das Zweiwegegleichnis und das Samaritergleichnis als eine Art Gattungsindex fungieren, wenngleich als ein umgekehrter: Der Prolog bereitet durch seine einfachen binären Oppositionen auf ein Exempel (wie etwa die Gregoriuserzählung in den Gesta Romanorum) vor, konfrontiert seine Rezipienten dann aber mit einem Roman, der sich nicht auf eine einfache Handlungsanweisung reduzieren lässt.¹⁷² Folgt man Walter Haug in dieser Sichtweise auf den Text und gesteht man Hartmanns Erzählung eine Komplexität zu, die über die der späteren Bearbeitungen hinausreicht, dann könnte man auch sagen: Für einen solchen Helden erschöpft sich die Lebensaufgabe nicht darin, sich fortgesetzt – wenn auch unter sich verändernden Umständen – auf dem richtigen Weg zu bewegen, wie es der Gregorius der Gesta Romanorum tut, oder sogar von Beginn an darauf zu verzichten, sich überhaupt auf den Weg zu machen, wie es der Abt in Hartmanns Gregorius von seinem Zögling fordert. Dieser kann als der zweifelnde, irrende, suchende Romanheld, der er zu Beginn der Handlung ist, gar nicht anders, als seinen gewohnten Standpunkt zu verlassen, sich selbst in Bewegung zu versetzen und sich auf diese Weise dem Risiko auszusetzen, an einem oder an vielen verschiedenen Punkten die falsche Abzweigung zu nehmen. Der Aufbruch in die höfische Welt ist für Gregorius kein Irrweg und nicht einmal ein Umweg. Dass er schließlich an ein gutes Ziel gelangt, verdankt er seiner Fähigkeit, sich immer wieder neu zu orientieren und gegebenenfalls die Richtung zu ändern – und damit auch den Modus der Lektüre anzupassen, mit dem er auf die beschriftete Tafel sieht, die er mit sich führt und auf der er an jeder Station seines Wegs von Neuem liest, wer er ist und wie er sich verhalten darf, kann und muss. Die letzte, entscheidende Neuausrichtung erfolgt in einer Zeitspanne, in der keine Lektüre mehr stattfindet und an einem Ort, an dem keine Bewegung mehr möglich ist. Während der Buße auf der Felseninsel ist Gregorius’ gesamtes Leben für unabsehbare Zeit ausgesetzt. Er ist an einem Nullpunkt angekommen. Zu dem Zeitpunkt, an dem Gott verkündet, dass Gregorius der neue Papst werden soll, liegt die Tafel schon lange  Haug, Literaturtheorie, S. 141.  Walter Haug zufolge geht es im Gregorius um die Erfahrung des Protagonisten, unabsichtlich schuldig geworden zu sein, und um „die Gefahr, aufzubegehren gegen ein Verhängnis, das trotz seines guten Willens über ihn hereingebrochen ist“. Haug, Literaturtheorie, S. 145.

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unter den Trümmern eines niedergebrannten Schuppens begraben. Und selbst die schmalen Wege, auf denen der Sünder in die Einöde gelangt war, scheinen in der Zwischenzeit verschwunden zu sein, bis sie sich endlich von Neuem auftun: So werden die Römer, die Gregorius suchen, als wegelôse diet (G 3231) bezeichnet, die erst nach tagelanger Suche einen stîc âne huofslac (G 3234) finden, einen grasige[n] wec ungebert (G 3237), der sie zu dem Ort führt, an dem sich Gregorius aufhält. Damit kommt die Wende. Zwar teilt Gregorius noch mit, dass er sich auf seinem Felsen stets nach der Tafel gesehnt habe (G 3684– 3686); aus den Trümmern geborgen, wird sie aber weder gelesen noch später je wieder erwähnt. Gregorius braucht sie jetzt nicht mehr: Alles Wissen, das er je von worten und von buochen (G 3475) gewonnen hat, hat er mithilfe des Heiligen Geistes längst verinnerlicht. Seine adlige Herkunft ist zugleich selbstverständlich und unbedeutend geworden, seine Buße ist abgegolten. Eigentlich ist sein Weg mit der Rückkehr ans Festland bereits zu Ende. Er muss zwar noch einmal den Ort wechseln, der Weg nach Rom allerdings ist von solcher Bequemlichkeit und wird so mühelos und explizit ohne wegevreise (G 3748) gemeistert, dass sich offenbar schon hier, noch in der Welt, Gregorius’ sælden strâze […] breitet und aus dem ellende heraus an ein vil süezez ende führt (G 87– 96). Gregorius reist jetzt nicht mehr – er kommt an. Hartmanns Gregorius folgt den Bewegungen und den Lektüren seines Protagonisten im Raum der erzählten Welt und damit seinem ganzen Lebensweg in all seinen skandalösen, traurigen und hoffnungsvollen Stationen bis zum Ziel. Teilweise wird dieser Weg in der Inschrift auf der Tafel vorweggenommen, wenn sie von der Herkunft des Kindes, von seinem Aufwachsen und von der Rettung der Eltern spricht. Der Schriftträger nimmt in dieser Hinsicht gewissermaßen anweisend, wünschend und hoffend vorweg, was die Erzählung insgesamt dann im Großen entfaltet: die Entwicklung von den seltsaenen mære[n] (G 175) des Prologs über eine schreckliche Schuld zu den nun im Rückblick in einem ganz anderen Licht erscheinenden guoten mæren (G 3959) des Epilogs. Wer liest, so wie Gregorius, der bewegt sich. Und wer einen Text wie Hartmanns Gregorius liest, so das Versprechen des Textes, der bewegt sich, genau wie der Protagonist, auf ein gutes Ende zu.

Der Epilog: Die Geschichte vom Papier lösen Der Epilog zum Gregorius ist, ähnlich wie der Prolog, nicht in allen Handschriften enthalten. Handschrift A hat ihn nur bis Vers 3972, B bis Vers 3999. Vollständig enthalten ist er lediglich in E, J und K. Zunächst hält der Epilog fest, wie die soeben gehörte oder gelesene Erzählung rezipiert werden soll. Der Erzähler ruft das Publikum explizit dazu auf, sich ein Beispiel zu nehmen an den Menschen, deren Geschichte es gerade vernommen hat. Man möge sich aber bitte kein bœsez bilde [genemen] (G 3965), indem man die eigenen Sünden von nun an auf die leichte Schulter nehme, sondern vielmehr rechtzeitig bereuen und Buße tun. Im Anschluss an diese Empfehlung wird ein Zusammenhang zwischen der Erzählung und ihrem zentralen ‚Text

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im Text‘ hergestellt. Der Erzähler ‚Hartmann‘ nimmt nun nämlich nicht nur in vielen Wendungen nochmals Bezug auf das im Prolog Gesagte, sondern spricht auch davon, was er sich für sich selbst von seinem Werk erhofft: Hartman, der sîn arbeit / an diz buoch hât geleit / gote und iu ze minnen, / der gert dar an gewinnen / daz ir im lât gevallen / ze lône von in allen / die ez hœren oder lesen / daz si im bittende wesen / daz im diu sælde beschehe / daz er iuch noch gesehe / in dem himelrîche. (G 3989 – 3999). Hartmann, der seine Mühe auf diese Erzählung verwendet hat, aus Liebe zu Gott und zu euch, der möchte damit folgenden Lohn von euch allen gewinnen, wenn ihr diese Geschichte hört oder lest: dass ihr Fürbitte für ihn leistet, sodass ihm das Glück zuteilwird, euch im Himmelreich wiederzusehen.

Der Erzähler schreibt hier dem gesamten buoch eine ähnliche Funktion zu, wie die beschriftete Elfenbeintafel sie für Gregorius’ Mutter besitzt, wenn sie ihren Sohn darauf bittet, seiner Eltern zu gedenken und sich bei Gott für sie zu verwenden.¹⁷³ Innerhalb der Erzählung hat diese Textnachricht, wie die Hörer und Leser der Erzählung wissen, letztlich großen Erfolg: Erst bringt gerade die Tatsache, dass der Protagonist der schriftlichen Anweisung wiederholt folgt und um Gnade für seine Eltern bittet, den zweiten Inzest ans Licht, sodass Gregorius zu einem Virtuosen der Buße werden kann. Daraufhin von Gott zum Papst bestimmt, bringt er seine Fürbittfähigkeiten zur Vollkommenheit, indem er seine Mutter darin anleitet, ihr Leben ganz auf Gott auszurichten. Außerdem erwirkt er, mit seinem Vater im Himmel vereint zu werden (G 3955 – 3958). Hartmann formuliert hier eine Handlungsanweisung für sein Publikum. Erstens können seine Rezipienten etwas Gutes für den Erzähler tun, indem sie als Lohn für das, was sie gelesen oder gehört haben, bei Gott für ihn bitten. Und zweitens tun sie damit auch etwas für sich selbst, denn schließlich sollen ihre Fürbitten dazu führen, dass sie mit dem beistandsbedürftigen Erzähler im Himmel vereint werden, ebenso wie innerhalb der erzählten Welt der Fürbitten leistende Sohn mit seinen sündigen Eltern. Der Erzähler nimmt hier einen Gedanken auf, den zuvor in der Erzählung die Figur Gregorius formuliert hatte: wir haben von sînem gebote, / swer umbe den sündære bite, / dâ lœse er sich selben mite (G 3570 – 3572: Wir glauben seiner Lehre: Wer für einen Sünder bittet, der erlöst sich selbst damit). Außerdem sollen die Leser nicht lediglich eine Botschaft empfangen und darauf ähnlich reagieren wie der Protagonist der Erzählung. Auch sie selbst sollen ihrerseits eine Botschaft aussenden: des sendet alle gelîche / disen guoten sündære / ze boten um unser swære, / daz wir in disem ellende / ein alsô genislich ende / nemen als si dâ nâmen (G 4000 – 4005).

 Handschrift E spricht von getichte statt von buoch (G 3990). Sie betont damit noch stärker die inhaltliche Dimension des Geschriebenen als die materiale.

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Darum sendet alle gemeinsam diesen guten Sünder als Botschafter unserer schweren Last aus, damit wir in dieser Heimatlosigkeit am Ende solche Gnade finden, wie die beiden sie fanden.

Anders als Gregorius, der sich mit seiner Sünde ohne irdischen Beistand auseinandersetzen musste, können und sollen diejenigen, die seine Geschichte lesen oder hören, auf ihn als Vermittler zwischen sich selbst und Gott zurückgreifen. Wenn sie dies tun, dann bringt er ihre eigene Botschaft, nämlich das Eingeständnis ihrer swære, als zuverlässiger Bote an die richtige Stelle. Gregorius kann sich auf Dauer nicht damit begnügen, für diejenigen zu beten, die sich ihm schriftlich mitgeteilt haben, sondern muss, wie er unter Schmerzen erkennt, auch für sich selbst Gnade erbitten. Die einzig wahren Heilsmedien sind damit nicht Bücher oder andere Schriftstücke, die zur Fürbitte auffordern, sondern Menschen, die zu Fürsprechern für ihre Mitmenschen werden und sich gleichzeitig darüber im Klaren sind, dass auch sie selbst heilsbedürftig sind und ihrerseits Fürsprecher benötigen. Indem Hartmann seinen Gregorius zum Boten der Menschen erklärt, die von diesem ‚Papierheiligen‘ lesen,¹⁷⁴ behauptet er für ihn ein Eigenleben auch außerhalb der Geschichte, die er von ihm erzählt.¹⁷⁵ Am Ende werden die Rezipienten aufgefordert, dazu beizutragen, dass die Figur das Medium transzendiert, in dem sie geschaffen worden war. In der Imagination seines Publikums soll Gregorius damit sowohl als Figur in einem Text existieren als auch getrennt von diesem spezifischen Text – ähnlich wie das Kind, das in der Erzählung zusammen mit einer Elfenbeintafel ausgesetzt wird, auf dem bereits seine ganze Lebensgeschichte steht und auf die es sich dennoch nicht vollständig festlegen lässt.

Paratexte und Gattungsfragen: Wie lesen? Wie soll aber nun Hartmanns Gregorius tatsächlich rezipiert werden? Was fängt das Publikum mit diesem Text an? Ähnlich, wie die Tafel des Gregorius innerhalb der Erzählung in jeder Lektüresituation etwas anders gelesen wird, wurde auch die Erzählung insgesamt seit ihrer Entstehung immer wieder anders aufgenommen. Die Art

 Vgl. Konrad Kunze: Papierheilige. Zum Verhältnis von Heiligenkult und Legendenüberlieferung um 1400, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 4 (1986), S. 53 – 65.  Volker Mertens weist darauf hin, dass es keine Rolle spielt, „daß Gregor im heutigen Sinne kein ‚echter‘ Heiliger ist, denn Heiligkeit ist nach einem Wort von John von Salisbury nicht vom Papst in Rom abhängig […], sondern Verkörperung einer höheren theologischen Wahrheit, die auch Erfindung rechtfertigen würde“. Mertens, Gregorius Eremita, S. 97. Mertens bezieht sich hier auf Klaus Schreiner: Zum Wahrheitsverständnis im Heiligen- und Reliquienwesen des Mittelalters, in: Saeculum 17 (1966), S. 131– 169, hier S. 143. Schreiner stellt zu den Überlegungen Augustins und Petrus Damianis über nicht sicher bezeugte Geschehnisse und Wunder fest: „In all diesen Erzählungen kann das Historische gleichsam in der Schwebe bleiben. Seine Richtigkeit (und damit auch seine Wahrscheinlichkeit und Geschichtlichkeit) empfängt es daraus, daß es an der Wahrheit der göttlichen Offenbarung und kirchlichen Lehre teilhat.“ Schreiner, Wahrheitsverständnis, S. 145.

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und Weise, wie sie im Einzelfall überliefert und ihren Rezipienten zugänglich gemacht wurde, hatte möglicherweise Auswirkungen auf die Rezeption, das heißt darauf, welche Aspekte des Textes in den Augen der Leser stärker in den Vordergrund rückten als andere. Die Textzeugen, die die Erzählung enthalten, lassen – in begrenztem Maße – Schlussfolgerungen darüber zu, welche Aspekte das möglicherweise jeweils waren. Exemplarisch sei dies an den vier Handschriften verdeutlicht, die den Gregorius mit einer Überschrift versehen. In Handschrift A (Vatikanstadt, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Regin. lat. 1354, Entstehung im 2. Viertel des 13. Jahrhunderts) ist die Erzählung recht lapidar überschrieben mit den Worten: Hie hebet sich gregorius an. ¹⁷⁶ Überliefert ist in der Handschrift neben Hartmanns Gregorius ursprünglich nur der Karl des Strickers. Nun ist es nicht ganz leicht, aus nur zwei Texten eine Art Inhaltsprofil herauszulesen. Gemeinsam ist dem Karl und dem Gregorius, dass beide Texte von weltlichen Herrschern erzählen, die sich ganz in den Dienst Gottes stellen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Zudem gelten beide Männer als Sünder, denen eine schwere Sünde vergeben wird. Im Karl des Strickers wird die Natur dieser Sünde nicht weiter spezifiziert. Allerdings zirkulieren spätestens seit dem 12. Jahrhundert nicht nur im Lateinischen, sondern auch in verschiedenen europäischen Volkssprachen Erzählungen darüber, dass Karl seinen Neffen Roland auf inzestuöse Weise mit seiner Schwester gezeugt habe.¹⁷⁷ Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass dieser Hintergrund den Rezipienten der Karlserzählung des Strickers zumindest in Grundzügen bekannt war. Vergeben wird Karls unaussprechliches Vergehen, ähnlich wie die Sünde des Gregorius, durch ein Schriftwunder: des habe wir urkünde / an sante Giljen harte guot. / dem sagte Karl sinen muot, / im wære ein sünde geschehen, / dern getorste er niemer verjehen. / dô bat der herre lobesam / für Karlen, unze ein brief quam / ûf den alter dâ er sanc. / des sagte er gote grôzen danc. / den las der heilige man, / dô stuont dâ geschriben an, / daz Karl der rihtære / der sünde ledec wære (Karl 3544– 3556).¹⁷⁸ Wir haben ganz sicheres Zeugnis darüber von Sankt Ägidius. Dem sagte Karl, was ihm auf dem Herzen lag: Ihm sei eine Sünde widerfahren, über die er mit niemandem zu sprechen wage. Da bat der preisenswerte Herr so lange für Karl, bis ein Brief auf dem Altar erschien, an dem er die Messe sang. Dafür dankte er Gott sehr. Der heilige Mann las den Brief. Es stand darin, dass Karl, der Richter, von der Sünde befreit sei.

 Norbert Heinze: Hartmann von Aue, Gregorius. Die Überlieferung des Prologs, die VaticanaHandschrift A und eine Auswahl der übrigen Textzeugen. Göppingen 1974, S. 29.  Für die 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts etwa ist mit dem Trierer Ägidius eine deutsche Ägidiuslegende belegt.Vgl. Karl-Ernst Geith: Art. ‚Ägidius‘, in: VL Bd. 1, Sp. 75 – 76. Zu Bild- und Textzeugnissen, die sich mit Karls Inzest beschäftigen, vgl. Joseph J. Duggan: The Hero Roland and the Question of Intentionality, in: Electronic Antiquity 14 (2010), S. 97– 108 (URL: https://scholar.lib.vt.edu/ejournals/ ElAnt/V14N1/pdf/duggan.pdf, Zugriff am 07.03. 2020). Vgl. auch Ernst, Theologische Grundlagen, S. 238 – 239.  Karl der Große von dem Stricker. Hg. von Karl Bartsch. Mit einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Berlin 1965.

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Die Rezipienten der Handschrift können in ihr zwei Herrscherviten lesen, die beide von Schuld und Vergebung erzählen und dezidiert hagiographische Züge besitzen, ohne dass aber der Schreiber auf die Heiligmäßigkeit der Protagonisten von Anfang an in den Überschriften aufmerksam machen würde – auch Karl wird an dieser Stelle nicht als Heiliger bezeichnet, sondern lediglich als König.¹⁷⁹ Damit werden die geistlichen Implikationen des Erzählten nicht verleugnet, sie werden aber auch nicht besonders hervorgehoben. Dies scheint auf den ersten Blick auch in Handschrift B (Straßburg, Stadtbibl., Cod. A 100, Entstehung wahrscheinlich im 14. Jahrhundert) der Fall zu sein, die Hartmanns Erzählung mit der Überschrift Gregorius in dem steine versieht. Dieser Titel unterscheidet sich zwar kaum von der, die in einigen der etwas jüngeren Fassungen der Prosalegende in Der Heiligen Leben verwendet wird.¹⁸⁰ Im Kontext der Handschrift B allerdings, darauf weist Diana Müller hin, könnte sie als Hinweis auf Gregorius’ Abkehr von der Welt wahrgenommen worden sein. Der Straßburger Kodex enthält (bzw. enthielt) neben Hartmanns Gregorius und Konrads von Würzburg Alexius eine Vielzahl von weiteren Heiligenlegenden, deutschsprachige Predigten, ein Rätsel über die Errettung des Menschen, eine Marienklage sowie die Gründungserzählung des Johanniterordens (Das Spital von Jerusalem). Im Verbund dienen all diese Texte der Selbstinszenierung und Selbstvergewisserung einer Johannitergemeinschaft im Spätmittelalter: „Dem aristokratischen Lebensmodell wird jeweils ein monastisches Askeseideal entgegengesetzt und somit wird konsequent eine Abkehr von der Welt propagiert.“¹⁸¹ Las oder hörte ein Angehöriger des Ordens den Gregorius in diesem Zusammenhang und unter der Überschrift Gregorius in dem steine, dann nahm er vielleicht das herrscherliche und höfische Leben des Protagonisten im Licht der notwendigen Konsequenz dieses Lebens wahr, nämlich der Entsagung. Handschrift G (Cologny-Genf, Bibl. Bodmeriana, Cod. Bodm. 62, Entstehung im 14. Jahrhundert) und Handschrift J (Berlin, Staatsbibl., mgq 979, Entstehung im 15. Jahrhundert) schließlich erklären den Protagonisten des Textes in den Überschriften unumwunden zum Heiligen: Dicz pch ist von dem lieben sant gregorio / Den got mit freuden zv im zh (G) bzw. Dis ist die vorred von dem bůch dez gůten herren sant Gregorien alz hie nach staͮt (J).¹⁸² Beide Kodizes enthalten neben dem Gregorius kürzere religiöse Texte wie Gebete und Lieder.¹⁸³ Solche Sammlungen für den Gebrauch durch einzelne oder wenige Personen sind im Kontext der Laienfrömmigkeit des Spätmit-

 Der Wortlaut ist: Hie hebet sich daz bvch von chvnech Karl an. Karl der Große, Anmerkungen, S. 323.  So lautet die Überschrift in M: Von dem heiligen Sant Gregorio, der genant ist ‚auf dem steyne‘, in F: Von Sant Gregorius auff dem Stain, in V (B): Gregorius in dem steine. Plate, Gregorius auf dem Stein, S. 40 – 41.  Müller, Textgemeinschaften, S. 130.  Handschrift J enthält vor 177 noch eine weitere Überschrift: Hie nach staͮt geschriben von dem leben Sant gregorien wie do ze ziten ain froͮwe lebt die waz sin můter sin baz und oͮch sin wip.  Vgl. Müller, Textgemeinschaften, S. 73 – 74 und S. 81– 82.

2.4 Lebendige und verlebendigende Lektüren

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telalters nicht unüblich. In diesen Zusammenhängen erscheint die Geschichte über ‚Sankt Gregorius‘ als Heiligenlegende oder als Exempel, dessen Rezipientinnen und Rezipienten ihren erbaulichen Lesegewinn wahrscheinlich weniger aus den Kampfbeschreibungen als vielmehr aus der gnädigen Errettung des Protagonisten und seiner Mutter ziehen sollten. Darüber, wie der Text zu lesen sei, wurde auch in der modernen Forschung viel diskutiert. Meist ging es in diesen Debatten um die Frage, welcher Gattung oder auch welchen verschiedenen Gattungen der Gregorius eigentlich zuzurechnen ist. Handelt es sich bei Hartmanns Erzählung um eine Legende, um einen höfischen Roman, um eine Hybridform oder um etwas ganz anderes? Walter Haug etwa argumentiert, dass Hartmann zwar einen legendarischen Stoff bearbeite, ihn aber dabei in einen Roman transformiere, der im Prolog kontrastierend mit dem Typus des Exempels konfrontiert werde.¹⁸⁴ Fritz Peter Knapp hingegen, dem es „schein[t], als habe sich Hartmann selbst vergeblich an der französischen Vorlage abgearbeitet“,¹⁸⁵ möchte dem Autor lieber keinen „ganz freien, originellen, romanhaften Umgang mit der Quelle“ unterstellen und überlegt stattdessen (mit offenem Ergebnis), ob nicht der Terminus der Parabel auf den Gregorius besser anwendbar wäre als der der Legende.¹⁸⁶ Für Siegried Grosse ist klar, dass die Geschichte als Legende gelesen werden soll, ebenso für Brigitte Herlem-Prey.¹⁸⁷ In den Augen Ulrich Ernsts handelt es sich um eine Heiligenvita,¹⁸⁸ während beispielsweise Volker Schupp davon ausgeht, dass es sich um eine Mischform handelt. Er spricht von einem „Zwitter“, von einer „[h]öfische[n] Legende“.¹⁸⁹ Auch Rainer Warning verwehrt sich der Annahme, dass man die Erzählung nur einem Genre zuordnen könne: „Hartmann wollte weder eine Legende erzählen noch einen höfischen Roman, sondern beide Gattungsschemata engführen zu einer metanarrativen Reflexion hochhöfischer Lebensform.“¹⁹⁰ Welcher Gattung man den Gregorius zuordnet, übt bisweilen starken Einfluss auf die Interpretation des Textes aus.¹⁹¹ Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer demonstrieren dies, wenn sie vorführen, welch unterschiedliche Perspektiven sich auf-

 Walter Haug zufolge mangelt es zudem dem Gregorius-Prolog an typischen Formeln, wie sie in Prologen von Heiligenlegenden häufig verwendet werden, nämlich „die Invocatio, die Bitte um Hilfe beim Dichten, der Anruf des Heiligen, die Demutsformeln“. Haug, Literaturtheorie, S. 132. Zur Romanhaftigkeit des Gregorius vgl. auch Hirschberg, Struktur.  Knapp, Legenda, S. 145.  Knapp, Legenda, S. 153 – 154.  Vgl. Grosse, Beginn, S. 144; Brigitte Herlem-Prey: Der Dialog Abt – Gregorius in der Legende vom guten Sünder, in: La Littérature d’inspiration religieuse. Théâtre et vies de saints. Hg. von Danielle Buschinger. Göppingen 1988, S. 61– 80.  Vgl. Ernst, Theologische Grundlagen, S. 246.  Volker Schupp: Gregorius – der guote sündaere unter Rittern, Mönchen und Devoten, in: Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann zum 60. Geburtstag. Hg. von Günter Schnitzler u. a. München 1980, S. 165 – 186, hier S. 169.  Warning, Berufungserzählung, S. 304.  Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 108.

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2 Sich selbst und den Nahbereich kontrollieren: Hartmanns von Aue Gregorius

tun, je nachdem, ob man den „Kontext Legende“ oder den „Kontext Roman“ veranschlagt. Liest man die Erzählung als Legende, dann müssen die höfischen Episoden im Leben des Protagonisten zwangsläufig als „Irrweg in die Unheilswelt“ verstanden werden, „der in einer conversio abgebrochen und in heiligmäßiger Askese zurück zum Heil gewendet würde“.¹⁹² Selbst Rainer Warning, der davon ausgeht, dass der Gregorius ein Hybridtext ist, will zwischen der „christlichen“ und der „feudalen“ Norm unterschieden wissen und versteht die Erzählung als Mittel, eine grundlegende Spannung zwischen den beiden Komponenten einer nur scheinbar harmonischen „hochhöfische[n] Lebensform“ auszustellen.¹⁹³ In diesem Lektüremodell enthält der Text mit dem Legendenhaften und dem Romanhaften sowohl religiöse als auch adlige Entwürfe, ohne dass beide wirklich miteinander ein Einklang zu bringen sind. Wie könnte nun eine alternative Lektüre des Gregorius aussehen, wenn sie angeregt wird von der Vermutung, dass es sich bei der Tafel mit ihrer Inschrift und den vielfältigen Lektüreakten, die sie in der Erzählung provoziert, um ein Instrument poetologischer Reflexion handelt? Hartmann und seine französische Vorlage erzählen die Geschichte eines Mannes, der Papst wird, d. h. geistliches und weltliches Oberhaupt der gesamten Christenheit. Auf seinem Lebensweg rezipiert er immer wieder denselben Text, und jedes Mal rezipiert er ihn ein wenig anders – er liest, dass er adlig ist und dass er aus einer sündhaften Beziehung stammt, er liest, dass es um seine Eltern schlecht bestellt ist und dass er sich um ihr Seelenheil kümmern muss, er liest, dass er selbst ein Sünder ist und Buße tun muss, und er liest (oder vielmehr sieht am Zustand der Tafel), dass Gott ihm vergeben und ihn zum Papst ausersehen hat. Bei jeder Lektüre aktualisiert Gregorius eine andere Facette des Inhalts, ohne dass die anderen dadurch ungültig oder unwahr würden – selbst im letzten Leseakt wird zwar die Schuld ausgelöscht, nicht aber das Wissen darum, dass diese Schuld existiert hat. Gregorius akkumuliert mit seinen Lektüren Identitäten oder vielmehr Teilidentitäten. Manche würden wahrscheinlich sagen: Es sind fast bis zum Schluss die falschen! Liest man aber die Geschichte von ihrem Ende her, dann akkumuliert Gregorius im Verlauf seiner Lektüren genau die Kompetenzen, die er braucht, um am Ende ein guter Papst zu sein. Die verschiedenen Lebensmodelle werden nicht gegeneinander aufgerechnet, sondern miteinander addiert: Die inzestuöse Herkunft macht aus ihm einen Mönch und Gelehrten; das Wissen um die adlige Herkunft macht aus ihm einen Kämpfer und Herrscher; die Erkenntnis der eigenen Sünde macht aus ihm einen Büßer und Asketen, der sich vollständig Gott zuwendet. Als Papst schließlich ist er alles zusammen: Gelehrter, Herrscher und Gottesdiener.

 Cormeau/Störmer, Hartmann, S. 127. Dieser Lesart folgt etwa Karoline Harthun: „Erst die zweite Bußhandlung entspricht dem geistlichen Ideal. Allerdings kennzeichnet sie den ersten Versuch als gescheitert und verwirft somit die höfische Ethik in diesem Falle als unzureichend.“ Harthun entdeckt sogar Anzeichen „klerikaler Manipulation“ und unterstellt Hartmann Bestrebungen, gegen die „immer eigenständiger werdende[] Literatur und Epik“ anzuarbeiten. Harthun, Übersetzung, S. 101.  Warning, Berufungserzählung, S. 288.

2.4 Lebendige und verlebendigende Lektüren

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Fragt man, welcher Gattung denn die Tafel angehört oder was ihre Funktion ist, dann kann man nicht anders, als eine ganze Reihe von Begriffen aufzuzählen: Die Tafel ist ein Bekenntnis, ein Ratgeber, ein Brief, ein Vermächtnis, ein Fürstenspiegel, eine Vita, ein Handbuch und vieles mehr. Verschiedene Personen lesen aus ihr unterschiedliche Inhalte heraus, und auch ein und dieselbe Person liest sie in verschiedenen Situationen unterschiedlich. Keine dieser Lesarten ist falsch. Alle erscheinen mit Recht ihren Rezipienten in der jeweiligen Situation angemessen und nützlich. Den Überblick über die vielen möglichen Lesarten erhält keine der Figuren, sondern nur der Leser, der die verschiedenen Rezeptionsvorgänge verfolgen, miteinander vergleichen und dann vom Ende aus auf sein eigenes Leseverhalten zurückblicken kann. Er kann je nach Standpunkt und Interesse den Gregorius als Legende oder als Roman, als Parabel, als Exempel oder auch als Kombination aus verschiedenen Genres lesen, die unterschiedliche soziale, religiöse, politische oder emotionale Konflikte oder Herausforderungen thematisieren. Was das Publikum aus der Lektüre des Gregorius lernen kann, ist, dass die eigene Sicht und die eigenen Vorannahmen großen Einfluss darauf haben, wie und was man liest und welche Aspekte dabei in den Hintergrund treten oder auch gar nicht wahrgenommen werden. Die verschiedenen Rezeptionsweisen der Tafel innerhalb der Erzählung implizieren, dass ein einziger Rezeptionsakt eines komplexen Schriftstücks nicht genügt, um den Inhalt des Geschriebenen angemessen erfassen zu können – nützlich ist vielmehr eine Haltung, die darauf abzielt, wieder und wieder zu rezipieren und dabei die Perspektive zu verändern, um möglichst viele unterschiedliche Facetten des Dargebotenen wahrnehmen und begreifen zu können.

3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois Wirnts von Grafenberg Wigalois erzählt zunächst davon, wie der Ritter Gawein vom Hof des Königs Artus in ein fremdes Land entführt wird, dort heiratet und einen Sohn zeugt, seine Ehefrau Florie und ihr gemeinsames Kind allerdings schon bald wieder verlässt und für immer zu König Artus’ Tafelrunde zurückkehrt. Zu Beginn der Handlung um Gaweins Sohn Wigalois reitet dieser, als er herangewachsen ist, zum Artushof, da er dort nach seinem Vater suchen möchte. Schon bald übernimmt er seine erste ritterliche Aufgabe: Er meldet sich freiwillig, um der bedrängten Landesherrin Larie zu helfen. Auf dem Weg zu ihr besteht er in einer ersten Aventiurenkette eine Vielzahl von Zweikämpfen gegen Gegner, mit denen er aus unterschiedlichen Gründen in Konflikt gerät. Noch bevor Wigalois daraufhin zu einer zweiten Aventiurenkette aufbricht, in deren Verlauf er das Land seiner zukünftigen Frau Larie von dem Teufelsbündler Roaz befreit, kommt das erste schrifttragende Artefakt des Romans zum Einsatz: Ein Priester befestigt einen brief (W 4428) an Wigalois’ Schwert, der ihn vor jeglichem bösen Zauber schützen soll. Auf dem Höhepunkt der Handlung wird dieses Schriftstück ein zweites Mal erwähnt: Als Wigalois auf der Burg Glois gegen Roaz antritt, trägt er, der in der Zwischenzeit bereits einmal vollständig entkleidet und beraubt wurde, diesen schützenden brief erstaunlicherweise immer noch bei sich (W 7335). Der beschriftete Gegenstand dient nicht der Lektüre, der Inhalt bleibt unbekannt. In ihm manifestiert sich vor allem die besondere Verbindung zwischen Gott und dem frommen Protagonisten. Die zweimalige Nennung des Amuletts am Schwert dient aber auch als narrative Klammer: Sie markiert den Beginn von Wigalois’ descensus ad inferos sowie den Auftakt zum Höhepunkt seiner Bewährungsmission im ‚Jenseitsreich‘ von Korntin.¹ Nach der Tötung des ‚heidnischen‘ Usurpators Roaz und dem Liebestod von dessen Partnerin Japhite verwandelt sich Wigalois von einem passiven Nutznießer ungelesener Schrift in eine Person, die aktiv liest und schreibt oder schreiben lässt.²

 Zur Prägung der Gegenwelt im Wigalois durch christliche Vorstellungen vom Jenseits vgl. Armin Schulz: Das Nicht-Höfische als Dämonisches: Die Gegenwelt Korntin im ‚Wigalois‘, in: Artusroman und Mythos. Hg. von Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl und Matthias Däumer. Berlin, New York 2011, S. 391– 407; Claudia Brinker: ‚Hie ist diu aventiure geholt!‘ Die Jenseitsreise im ‚Wigalois‘ des Wirnt von Grafenberg: Kreuzzugspropaganda und unterhaltsame Glaubenslehre?, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Festschrift für Alois M. Haas zum 60. Geburtstag. Hg. von Claudia Brinker, Urs Herzog, Niklaus Largier und Paul Michel. Bern 1995, S. 87– 110.  Das von Autoren wie Wirnt von Grafenberg sogenannte ‚Heidentum‘ zeichnet häufig ein nicht nur negatives, sondern auch verzerrendes Bild des Islams. Ich möchte vermeiden, dieses Bild zu reproduzieren, indem ich die heiden des mittelhochdeutschen Textes mit Muslimen gleichsetze. Ebenfalls nicht zufriedenstellend erscheint mir die Möglichkeit, mich auf die Termini zurückzuziehen, die in den Texten selbst verwendet werden (heiden, heidenisch, heidenschaft etc.), und auf diese Weise zusammen mit den Begriffen auch die (nicht nur im 13. Jahrhundert, sondern noch heute) damit verbundenen https://doi.org/10.1515/9783110689693-004

3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

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Dies beginnt damit, dass der Ritter für die tote Japhite ein prächtiges Grabmal errichten lässt, das eine Inschrift trägt. Auf die Feststellung, dass man die tote Japhite aus der Burg Glois herausgetragen habe folgt eine erste detaillierte Beschreibung des vor der Burg befindlichen Sargs, in dem Japhite bestattet wird: dâ legt man die reinen vor / in einen rôten jâchant. / den sarc man dâ stênde vant / ûf zwein siulen êrin. / zwei glas gesetzet wâren dar în / zir vüezen und zir houbet, – ichn weiz ob irs geloubet – diu wârn gefult mit balsamô; / den zunde man, und brinnet alsô / noch hiute, als mir ist geseit. / ûf den sarc wart geleit / ein saphîr lâzûrvar. […] wart Gahmuret ze Baldac / von dem bâruc bestatet baz, / deiswâr, daz lâze ich âne haz, / wand er hêt grôze rîcheit. / umb disen sarc wart geleit / von golde ein grôzez vingerlîn: – / dar an was ir triuwe schîn – / zwô hende nâch der triuwe (W 8230 – 8251). Davor legte man die Schöne in einen roten Hyazinth. Diesen Sarg fand man dort auf zwei ehernen Säulen stehend. Zwei Glasgefäße waren dort hineingestellt zu ihren Füßen und bei ihrem Kopf – ich weiß nicht, ob ihr das glaubt –, die mit Balsam gefüllt waren. Den zündete man an, und genauso brennt er noch heute, wie man mir gesagt hat. Auf den Sarg wurde ein blauer Saphir gelegt. […] Falls Gahmuret in Baldac von dem Baruc besser bestattet wurde, dann habe ich wirklich nichts dagegen – schließlich war er ja sehr reich. Um diesen Sarg herum wurde ein großer Ring aus Gold gelegt. Daran zeigte sich ihre große Treue – er bestand aus zwei Händen als Zeichen der Treue.

Bevor der Erzähler im Wortlaut die auf dem Sarg angebrachte Grabinschrift wiedergibt, informiert er das Publikum durch diese Schilderung der materialen Beschaffenheit des Grabes darüber, was es wissen muss, um den folgenden ‚Text im Text‘ angemessen rezipieren und deuten zu können. Ausschlaggebend sind vier Eigenschaften der Ekphrase, nämlich (1) ihre Glaubwürdigkeit, (2) ihre Relationierbarkeit, (3) ihr Faszinationspotenzial und (4) ihre Interpretierbarkeit. Erstens steht nicht nur der Erzähler, der sich in dieser kurzen Passage dreimal als Sprechender offenbart (W 8236, 8239 und 8246) für die Richtigkeit des Erzählten gerade – er kann sich auch auf Informationsquellen berufen, mit denen er eigenen Angaben zufolge in direktem, unvermitteltem Kontakt steht oder stand. Mit der Berufung auf eine mündliche Informationsquelle (W 8239: als mir ist geseit) reiht sich der Erzähler in eine Tradition des Erzählens ein, die die Wahrheit des Erzählten beglaubigt und bekräftigt, so außerordentlich es im Einzelnen auch sein mag. Zweitens ermöglicht der Erzähler seinem Publikum, das von ihm entworfene Grab und die Grabinschrift mit einem anderen erzählten Grabmal und einem anderen darauf angebrachten Epitaph in Beziehung zu setzen und zu vergleichen, das einem belesenen Publikum aus Wolframs von Eschenbach Parzival vertraut ist (W 8244– 8245: wart Gahmuret ze Baldac / von dem bâruc bestatet baz etc.). Durch den intertextuellen Verweis wird das schrifttragende Artefakt mit den zusätzlichen Bedeutungsdimensionen aufgeladen, die ein vergleichbares Ensemble in Wolframs Roman besitzt. Drittens dient die UnWerturteile zu übernehmen. Im Folgenden wähle ich eine – zugegebenermaßen nicht sehr elegante – Notlösung, indem ich die jeweiligen Begriffe in Anführungszeichen setze. Vgl. zu diesem Thema z. B. Jerold C. Frakes: Vernacular and Latin Literary Discourses of the Muslim Other in Medieval Germany. New York 2011, S. 37– 40.lembke

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gewissheit des Erzählers, ob sein Publikum ihm wohl glauben wird, was er über die Balsamlichter berichtet (W 3236: ichn weiz ob irs geloubet), dazu, die Qualität des Beschriebenen als außerordentlich herauszustellen. Indem er anschließend behauptet, dass diese Lichter noch hiute (W 8239) brennen, und auf diese Weise erzählte Zeit und Erzählzeit ineinander übergehen lässt, steigert er die Merkwürdigkeit des Erzählten nochmals. Zugleich verlangt die Vorwegnahme möglichen Zweifels von der Leserin oder von dem Hörer, diesen Zweifel im Rezeptionsprozess auszusetzen und sich auf eine „willing suspension of disbelief“ einzulassen, die für eine möglichst umfassende Rezeption des Erzählten unabdingbar ist.³ Viertens kann das Publikum nur dann taugliche Erkenntnisse über die ‚wahren‘ (und das heißt nicht notwendigerweise die ‚historischen‘) Implikationen dessen gewinnen, was da erzählt wird, wenn es in der Lage ist, sich dem Gegenstand der Rezeption mit der Fähigkeit und dem Willen zu hermeneutischer Arbeit zu nähern und somit beispielsweise einen goldenen Ring als Zeichen der Treue zu deuten (W 8249 – 8250: von golde ein grôzez vingerlîn: / – dar an was ir triuwe schîn). Anders als der Text auf der Tafel des Gregorius wird die Schrift auf Japhites Sarg im Wortlaut wiedergegeben: ‚hie lît in disem steine / vrouwe Japhîte diu reine, / der ganzer tugent niht gebrast. / ir kiusche truoc der êren last. / an stæte gewancte nie ir muot; / si was gewizzen unde guot / und truoc die wâren minne. / mit zühticlîchem sinne / lebt si nâch wîplîchem sit; / dem volget ganze triuwe mit. / si was geborn von hôher art. / getriuwer wîp niene wart / geborn noch sô valschlôs. / ir schœnen lîp si verlôs / von herzenlîcher riuwe; / den tôt gap ir diu triuwe / die si Rôaz, dem heiden, truoc, / den Gwîgâlois, der kristen, sluoc. / diu vrouwe was ein heidenin; / von disem lîbe schiet si hin / leider ungetoufet. / im selben er sælde koufet / swer umb den andern vrumt gebet. / nu wünschet gnâden an dirre stet / der sêle, swer die schrift hie lese, / daz ir got genædic wese / durch sîne grôze erbarmicheit, / wan si den tôt von triuwen leit; / diu riuwe ir abe daz herze sneit‘ (W 8261– 8289). ‚In diesem Stein liegt die schöne Dame Japhite, der nichts an vollendeter Tugend mangelte. Ihre Sittsamkeit trug die Bürde der Ehre. Ihre beständige Gesinnung wankte nie. Sie war verständig und gut und trug die wahre Liebe in sich. Mit wohlerzogenem Sinn lebte sie nach Frauensitte. Daraus folgte vollkommene Treue. Sie war von hoher Geburt. Niemals wurde eine treuere oder arglosere Frau geboren. Sie verlor ihren schönen Leib aus Herzenskummer. Ihren Tod verursachte die Treue, die sie dem Heiden Roaz hielt, den wiederum Wigalois, der Christ, erschlug. Die Dame war eine Heidin. Leider starb sie ungetauft. Derjenige, der für eine andere Person betet, erwirbt für sich selbst Heil. Wer auch immer diese Schrift liest, soll hier und jetzt wünschen, dass der Seele Gnade zuteilwerde, damit ihr Gott aufgrund seiner großen Barmherzigkeit gnädig sei. Sie erlitt den Tod nämlich aus Treue. Die Trauer zerschnitt ihr das Herz.‘

Das Epitaph enthält deskriptive, narrative und appellative Elemente: Erstens wird Japhite als edle und schöne Dame und vor allem als treue Liebende beschrieben (W 8261– 8273). Zweitens wird erzählt, wie es zu ihrem Tod kam, dass sie nämlich aus Treue starb, nachdem der Christ Wigalois ihren ‚heidnischen‘ Mann erschlagen hatte

 Samuel Coleridge: Biographia Literaria (1817). Hg. von John Shawcross. Zwei Bde. Bd 2. Oxford 1979, S. 6.

3.1 Das letzte Wort

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(W 8274– 8281). Und drittens wird an die Lesenden die Aufforderung gerichtet, auch zu ihrem eigenen Nutzen Gottes Huld für Japhites Seele zu erbitten (W 8282– 8289). Das Epitaph schreibt ein Ideal weiblichen Wesens und Verhaltens fest, das ganz auf beständige Liebe und Treue fokussiert ist. Auch die Veränderung der Herrschaftsverhältnisse auf Glois wird thematisiert, vor allem aber der überlegene Status der christlichen Religion. Die zentralen Themen der Inschrift sind damit Liebe, Herrschaft und Glaube. Im Folgenden wird es zuerst um den Status der Grabinschrift als eine von vielen Stimmen gehen, die sich in der Glois-Episode dazu äußern, wie Liebe, Herrschaft und Glaube miteinander zusammenhängen, sodann um das semiotische Potenzial des aus vielen Materialien zusammengesetzten Grabmals, auf dem die Inschrift angebracht ist, drittens um seine Funktion als Handlungszäsur im Prozess der Selbstermächtigung des männlichen Protagonisten und schließlich um die Beziehung zwischen intradiegetischer Inschrift und Prolog.

3.1 Das letzte Wort In der Glois-Episode, in der Wigalois Roaz besiegt und Japhite bestattet, wird anhand der Ereignisse, die zwischen diesen beiden Vorgängen stattfinden, exemplarisch erläutert, wie sich Mitglieder der höfischen Gesellschaft in Liebes- und Glaubensfragen verhalten sollen, um sich als gute Herrscher zu qualifizieren. Entfaltet wird diese Diskussion nicht nur anhand der Handlungen der Figuren, sondern auch mithilfe der Aussagen, die sie selbst zu diesem Thema machen. Auch der Erzähler äußert sich mehrfach kommentierend. Die verschiedenen Standpunkte der Figuren und des Erzählers ergeben ein facettenreiches Bild davon, welche Verhaltensweisen und Ansichten denkbar, äußerbar und hörbar sind und wie sie bewertet werden können. Zusammengeführt werden die unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Positionen in den Aussagen einer dritten ‚Stimme‘, nämlich dem Epitaph auf Japhites Sarg. In Anlehnung an Michail Bachtin kann man daher die Glois-Episode als vorübergehend polyphon beschreiben – erst Japhites Grabinschrift macht der Vielstimmigkeit ein Ende. Bachtin zufolge ist ein narrativer Text dann polyphon, wenn unterschiedliche Stimmen nebeneinander koexistieren, ohne dass einer von ihnen eine herausragende Autorität zukommt, die die Autonomie der anderen Stimmen reduziert oder sie der Dominanz einer einzigen Stimme unterordnet. Bachtin entwickelt sein Modell von Polyphonie zuerst an den Romanen Fjodor Dostojewskijs, dem er die Konstruktion von Protagonisten mit außergewöhnlich eigenständigen Charakteren attestiert. Die Stimmen seiner Figuren hätten gar einen ähnlichen Stellenwert wie die Stimme des Er-

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3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

zählers in konventionelleren Romanen.⁴ Bachtin zufolge formulieren Figuren in polyphonen Romanen unterschiedliche Perspektiven auf die erzählte Welt, die sich nicht durch eine übergeordnete Instanz harmonisieren lassen. In solchen Texten existieren Figuren mit je eigenem Bewusstsein, die in einen Dialog miteinander treten und sich in der Wechselwirkung mit anderen Figuren verändern, ohne diese anderen zum Objekt zu machen, sie sich einzuverleiben und ihre Eigenständigkeit zu nivellieren.⁵ Gegensätze und Widersprüchlichkeiten sind in solchen vielstimmigen Texten allerdings nicht nur zwischen den Figuren gegeben, sondern auch innerhalb aller sprachlichen Äußerungen dieser Figuren: Jede einzelne Aussage ist insofern grundsätzlich polyphon, als sie andere, vorgängige Aussagen enthält und sich an ihnen abarbeitet. Die Figuren existieren in komplexen oder gar widersprüchlichen Selbstaussagen, durch die sie sich selbst nicht vollständig beschreiben können oder sollen. Aussagen anderer, die sie abschließen und festlegen wollen, treten sie mit ihrer eigenen Stimme, mit eigenen Worten und eigenen Reden entgegen. In monologischen Romanen hingegen wissen die Figuren „nichts voneinander und spiegeln einander nicht wider. Sie sind verschlossen und taub, hören und antworten einander nicht“.⁶ Inwiefern lässt sich nun Michail Bachtins Konzept der Polyphonie auf die GloisEpisode im Wigalois übertragen?⁷ Welche Figuren kommen hier zu Wort und von wem werden sie gehört? Wie verhält sich die Erzählerrede zu den Figurenreden? Und welchen Status schließlich besitzt die anonyme schriftliche Rede auf Japhites Grab gegenüber den mündlichen Reden der Figuren?

Dilemma und Hoffnung des Erzählers Nach Wigalois’ Sieg über Roaz äußert sich der Erzähler an zwei Stellen ausführlich über den Zusammenhang von Liebe und Glaube, indem er das Verhalten und den Charakter von Roaz’ Geliebter Japhite kommentiert. Dabei erweist er sich über längere Zeit als unschlüssig, was Japhites Schicksal angeht. Der Grund dafür liegt darin, dass die Dame bei aller Tugendhaftigkeit von einem gravierenden Defizit befleckt ist, wie der Erzähler schon vor dem entscheidenden Kampf feststellt:

 Vgl. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russischen von Adelheid Schramm nach der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage. München 1971 (erstmals Moskau 1963), S. 10 – 11.  Vgl. Bachtin, Poetik, S. 23.  Bachtin, Poetik, S. 79. Modelle von Polyphonie und Dialogizität existieren auch im lateinischen Mittelalter. Zu John of Salesbury beispielsweise, der sich in seinem Metalogicon (1159) über die Redeweisen unterschiedlicher Autoren äußert, vgl. Peter von Moos: Epilog. Zur Bedeutungslosigkeit fremder Sprachen im Mittelalter, in: Zwischen Babel und Pfingsten. Sprachdifferenzen und Gesprächsverständigung in der Vormoderne (8. – 16. Jh.). Hg. von Peter von Moos. Münster 2008, S. 687– 712, hier S. 698.  Zu Dialogizitätsphänomenen an anderen Stellen des Wigalois vgl. Matthias Standke: Der Held im Wald der Stimmen. Zur programmatischen Dialogizität des ‚Wigalois‘, in: ZfdPh 136 (2017), S. 343 – 362.

3.1 Das letzte Wort

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an ir was vrouwen êre / und ganziu triuwe veste. / deheiner slahte gebreste, / der ie an deheinem wîbe wart, / des was ir lîp vil wol bewart, / wan daz si ungetoufet was; / lûter als ein spiegelglas / was si vor anderm meine (W 7460 – 7467). Ihre weibliche Ehre und ihre vollkommene Treue waren nicht zu erschüttern. Von jeglichem Makel, den je eine Frau betraf, war sie ganz frei – nur ungetauft war sie. Rein wie ein Spiegel war sie von anderen Fehlern.

Zwar nimmt das Lob von Japhites Tugendhaftigkeit an dieser Stelle weitaus größeren Raum ein als der Einwand, dass sie nicht getauft sei. Ihr Makel (gebreste) und Fehler (mein) wiegt aber offenbar so schwer, dass das Defizit alle Tugenden überschattet. Nach ihrem Liebestod jedenfalls stellt der Erzähler bedauernd fest, dass Japhites Seele aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum falschen Glauben ebenso verloren sei wie die des Roaz. Er beginnt seine Aussage mit einer allgemeingültigen Sentenz: herzeliebe ist arbeit; / ir ende bringet herzeleit (W 7749 – 7750: Herzensliebe bedeutet Mühsal. Ihr Ende bringt Herzeleid). Dann bezieht er diese Aussage auf Japhites Schicksal: daz wart wol an der vrouwen schîn; / wær si niht ein heidenîn, / sô müese ich klagen ir jâmers nôt. / hie lâgen samet vieriu tôt: / zwô sêle und zwêne lîbe; / dem manne und sînem wîbe, / der sêle vor got sint erslagen; / solhen tôt sol man klagen (W 7751– 7758). Das erwies sich deutlich an der Dame. Wäre sie nicht eine Heidin, dann müsste ich ihr Leid beklagen. Hier lagen vier auf einmal erschlagen: zwei Seelen und zwei Körper, die des Mannes und die seiner Frau. Ihre Seelen gelten vor Gott als erschlagen. Solch einen Tod muss man beklagen.

All die Liebe, Treue und Beständigkeit, für die Japhite wiederholt gepriesen wird, und auch ihre große Trauer und ihr Kummer können sie, so bedauert der Erzähler an dieser Stelle, nicht davor bewahren, einen doppelten Tod zu sterben – den Tod des Körpers und den der Seele. Japhites rechte Liebe wiegt den Mangel an rechtem Glauben nicht auf. Wenig später allerdings, nachdem die dunkle Nacht auf Glois vollständig zu Ende gegangen und der Tag angebrochen ist, verändert sich der Standpunkt des Erzählers. Er beurteilt Japhites Schicksal nun bedeutend optimistischer als zuvor: ich geloube daz si sül genesen; / diu wâre riuwe ist gewesen / ir touf an ir ende. / herre got, nu sende / ze schirme ir dîne barmicheit, / diu manger sêle ist bereit. / herre, getürre es iemen gern, / sô soltu si genâden wern, / daz si genieze ir triuwe: / ir touf was diu riuwe / die si dolte umb ir liep (W 8022– 8032). Ich glaube, dass sie gerettet wird. Die aufrichtige Trauer ist an ihrem Ende ihre Taufe gewesen. Herrgott, sende ihr nun zum Schutz deine Barmherzigkeit, die vielen Seelen zuteilwird. Herr, wenn jemand darum zu bitten wagte, dann gewähre ihr die Gnade, dass sie von ihrer Treue den Nutzen hat. Ihre Taufe war die Trauer, die sie um ihren Geliebten erlitt.

Der Erzähler beendet schließlich seinen Kommentar mit der gleichen generalisierenden Sentenz, mit der er zuvor seine Aussage über Japhites vermuteten Seelentod eingeleitet hatte: herzeliebe ist arbeit; / ir ende bringet herzeleit (W 8037– 8038). Während der Satz also zunächst die Trauer darüber auf den Punkt bringt, dass es für

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3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

die liebende und leidende Japhite keine jenseitige Hoffnung gibt, erhält er in einem veränderten Kontext geradezu die entgegengesetzte Bedeutung: Betrachtet man die riuwe der Dame als eine Art Taufe, dann verweist das herzeleit nicht mehr auf ihre desolate Situation nach dem Tod, sondern auf ihre mögliche Erlösung. Nachdem der Erzähler im Selbstgespräch zu dieser Einsicht gelangt ist, fordert er implizit – ähnlich wie später auch die Grabinschrift – sogar das Publikum dazu auf, seine eigene Stimme zu verstärken und sich ebenfalls bei Gott für Japhite zu verwenden. Auf diese Weise wird eine zunächst ambivalente Haltung gegenüber dem Schicksal einer Figur im Verlauf der Episode vereindeutigt. Eine ähnliche Tendenz zur Festlegung zeigt sich auch in der Art und Weise, mit der im Wigalois das Konzept der ‚Selbsttaufe durch Kummer‘ präsentiert wird.⁸ Der zweite, optimistischere der beiden Erzählerkommentare spielt vermutlich auf eine Passage im 1. Buch des Parzival an, in der die ‚heidnische‘ Herrscherin Belakane dem christlichen Ritter Gahmuret vom Tod ihres Geliebten Isenhart und von ihrer übergroßen Trauer darüber erzählt. Gahmuret ist von ihrem Verhalten beeindruckt: Gahmureten dûhte sân, / swie si wære ein heidenin, / mit triwen wîplîcher sin / in wîbes herze nie geslouf. / ir kiusche was ein reiner touf, / und ouch der regen der si begôz, / der wâc der von ir ougen flôz / ûf ir zobel und an ir brust. / riwen phlege was ir gelust, / und rehtiu jâmers lêre (P 28,10 – 19). Da kam es Gahmuret so vor, als ob noch nie zuvor – obwohl sie doch eine Heidin war – ein so treuer weiblicher Sinn in das Herz einer Frau geschlüpft sei. Ihre Unschuld war eine reine Taufe und auch der Regen war ein Taufwasser, der sie begoss, jener Strom, der von ihren Augen auf ihren Zobelpelz und an ihre Brust floss. Kummer zu empfinden und die Lehre rechten Jammers zu empfangen, war ihre ganze Lust.

Belakane sei, so wird hier suggeriert, bei dem Gedanken an den toten Isenhart von so außerordentlichem Kummer erfasst worden, dass sie sich mit ihren Tränen, ohne es zu wissen, selbst getauft habe.⁹ Von wem aber stammt dieser Gedanke eigentlich? Vergleicht man die beiden Textstellen im Parzival und im Wigalois miteinander, dann fällt auf, dass Wolfram und Wirnt die entsprechende Szene auf unterschiedliche Weise präsentieren. Im Parzival wird von der Taufe selbst im Indikativ gesprochen (ir kiusche was ein reiner touf), ebenso von Belakanes Tränen, die über ihre Brustbekleidung

 James Brown liest die Stelle dahingehend, dass sich der Erzähler selbst als Priester imaginiert, der Japhite die Taufe verabreicht. Vgl. James H. Brown: Imagining the Text. Ekphrasis and Envisioning Courtly Identity in Wirnt von Gravenberg’s ‚Wigalois‘. Leiden 2016, S. 80 – 81. Diese Deutung kann ich am Text nicht recht nachvollziehen.  Louise Gnädinger zufolge bringt die Tränentaufe in einer solchen Vorstellung Heil, „denn die Tränen versetzen das Herz in Bewegung, erweichen es, befähigen so zu gutem Verlangen und wirken, analog zur ‚zweiten Planke des Heils‘ sündentilgend“. Louise Gnädinger: Wasser – Taufe – Tränen (Zu Parz. 817,4– 30), in: Wolfram-Studien 2 (1974), S. 53 – 71, hier S. 69. Auch Belakanes Sohn Feirefiz weint später aus Kummer über die Nachricht vom Tod seines Vaters Gahmuret so heftig, dass es scheint, als wolle er sich mit seinen Tränen selbst taufen: sîn heidenschiu ougen / begunden wazzer rêren / al nâch des toufes êren (P 752,24– 26: Aus seinen heidnischen Augen tropfte Wasser, ganz so, als strebten sie nach der Ehre der Taufe).

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fließen, und von ihrer Trauer. Die Rede von Taufe, Tränen und Trauer kann dadurch wie ein Erzählerkommentar wirken, der die Figur Belakanes in ein christliches Wertesystem einordnet. Allerdings ist auch eine zweite Lesart möglich: Die Worte, mit denen der Gedankengang eingeleitet wird, lassen darauf schließen, dass der Erzähler hier mittels erlebter Rede Einblick in Gahmurets Figurenbewusstsein gibt (Gahmureten dûhte sân…). Bezieht man die Inquit-Formel auf den gesamten Abschnitt, in dem von der Tränentaufe die Rede ist, dann erscheint die Rede von der Taufe durch Herzenstreue und Kummer als Gedankenspiel einer Figur, und zwar – bedenkt man Gahmurets vorherige und spätere Aktivitäten – als Gedankenspiel einer Figur, die in Fragen sowohl der Liebe als auch der Religion als notorisch unzuverlässig bekannt ist. Auf diese Weise werden in der Szene, in der Belakane und Gahmuret einander näherkommen, Zweifel daran geweckt, ob tatsächlich eine Taufe stattfindet. Zumindest lässt der Text die Möglichkeit zu, dass diese Vorstellung das Produkt des Begehrens des christlichen Mannes ist, der die schöne Weinende betrachtet.¹⁰ Diese selbst beginnt noch unter Seufzen und Klagen mit Gahmuret zu flirten, was die Rede von ihrer unstillbaren Trauer und großen Treue, die ja eigentlich als Voraussetzung der Tränentaufe angesehen werden, etwas relativiert (P 28,27– 29,8). Gahmuret wiederum lässt sich gern davon überzeugen, eine Liebesbeziehung mit Belakane einzugehen – nur um ihr später mit der Begründung, dass sie eine ‚Heidin‘ sei, genau die Treue zu brechen, die er zuvor so an ihr bewundert hatte. Indem Gahmuret sich vorstellt, dass Belakane getauft ist, wird es ihm möglich, vorübergehend die religiöse Differenz zwischen sich und ihr zu ignorieren. Im Geist macht er die ‚heidnische‘ Frau sich selbst ähnlich, damit sie als Geliebte akzeptabel wird.Wie der von Roland Barthes beschriebene moderne Kleinbürger ist Gahmuret nicht in der Lage, sinnvoll mit einer Person zu interagieren, die ganz anders ist als er selbst. Er verwandelt sich daher sein Gegenüber gedanklich so weit an, dass er die Differenz ausblenden kann.¹¹ Diese Operation kann auch wieder rückgängig gemacht werden, wenn es opportun ist: Sobald Gahmuret genug hat von seinem Landesherrscherdasein im Orient, re-aktualisiert er den Religionsunterschied. In seinem Abschiedsbrief an Belakane schreibt er so lapidar wie folgerichtig, dass er sich an ihrer Religion störe, dass sie ihn aber möglicherweise zurückgewinnen könne, wenn sie sich taufen lasse (P 55,21– 56,26). Zu einer Wiedervereinigung kommt es allerdings nicht mehr, obwohl Belakane tatsäch-

 „It may be true, as interpretations of this passage frequently assert, that Wolfram’s tolerance of heathens could consider Belacane’s tears as a baptismal Tränentaufe. However, the context is not an authorial statement of fact, but a representation of how Gahmuret’s train of thought rationalizes somatic alterity as a difference between religion and gender, transforming her from a black heathen into a proto-christian as he responds to her narrative of grief – and the alluring display of tears falling on her regal attire and her breasts.“ Arthur Groos: Orientalizing the Medieval Orient. The East in Wolfram von Eschenbach’s ,Parzival‘, in: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Hg. von Arthur Groos und Hans-Jochen Schwiewer. Göttingen 2004, S. 61– 86, hier S. 78.  Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 2010 (erstmals Paris 1957), S. 306 – 308.

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lich bereit wäre, den christlichen Glauben anzunehmen.¹² Gahmuret betrachtet Treue in der Liebe und die Ausübung des richtigen Glaubens gegenüber der Freiheit des fahrenden Ritters als eher untergeordnete Ideale, und dies ändert sich auch nicht bis zu seinem Tod. Als Landesherrscher kommt er daher letztlich nicht in Betracht – anders als seine Söhne Feirefiz und Parzival, an deren Treue und Beständigkeit gegenüber ihren Ehefrauen und gegenüber Gott am Ende der Geschichte kein Zweifel besteht und die gemeinsam mit Repanse de Schoye bzw. Condwiramurs über Indien und das Reich des Grals herrschen. Wolfram reflektiert daher in der Belakane-Episode weniger die Macht der Taufe als vielmehr die Macht der Suggestion, die es einem christlichen Ritter ermöglicht, sich eine ‚heidnische‘ Frau anzuverwandeln. Der Erzähler bewertet das Verhalten Gahmurets zwar nirgends explizit negativ. Allerdings führt der Parzival den Akt der Aneignung zwar vor, erhebt ihn aber keineswegs zu einem Ideal ritterlichen oder herrscherlichen Handelns. Im Wigalois hingegen wird der Gedanke einer möglichen Rettung der ‚heidnischen‘ Frau aufgrund ihrer Liebe und Treue eindeutig nicht als Standpunkt einer Figur geschildert, die ihre eigenen, persönlichen Ziele verfolgt. Stattdessen formuliert Wirnt ihn so, dass er explizit die Form eines Erzählerkommentars besitzt. Dieser Roman nimmt zu der Vorstellung einer unabsichtlichen Selbsteingliederung der ‚heidnischen‘ Frau in die Gemeinschaft der Christen keine Distanz ein, wie es der Parzival mit dem Mittel der implizierten internen Fokalisierung tut. Der Wigalois beschreibt vielmehr die Möglichkeit der Tränentaufe ganz ernsthaft als vollkommen legitim und begrüßenswert. Wenn sein Erzähler, der ja auch sonst stets zuverlässige Orientierung in religiösen und moralischen Fragen bietet, zu dem Schluss kommt, dass Japhite trotz mangelnder ‚echter‘ Taufe nicht nur gerettet werden kann, sondern auch noch kurz vor ihrem Tod quasi zur Christin geworden ist, dann, so suggeriert der Roman, stimmt das wahrscheinlich und Japhite hat großes Glück gehabt. Um sich für eine Position an der Spitze der Gesellschaft als würdig zu erweisen, das zeigen die Überlegungen des Erzählers zu Japhites Schicksal, muss eine Person sowohl in Liebes- als auch in Glaubensfragen zuverlässig sein. Japhite kommt diesem Ideal insofern nahe, als sie ihren Gefährten radikal und kompromisslos liebt. Und an den ‚richtigen‘ Glauben wird sie zumindest herangerückt – dies zwar nicht auf der Handlungsebene, aber doch in der Bewertung durch den Erzähler. Da Japhite aber auch in der Stunde ihres größten Schmerzes in ihrem aus christlicher Perspektive fehlgeleiteten Glauben verbleibt – obgleich sie, anders als Roaz, nicht aktiv mit dem Teufel paktiert hat und zuletzt gehörige Zweifel an ihrem Gott hegt –, muss oder kann sie dennoch begründet aus der Handlung entfernt werden. Anhand dieser Figur demonstriert der Text, dass beide Konzepte, die rechte Liebe und der richtige Glaube, für die Eignung zum Herrscher oder zur Herrscherin unverzichtbar sind. Der aufbewahrte  Sowohl Belakane als auch Japhite sterben aus triuwe an gebrochenem Herzen. Zu den Parallelen zwischen den Sterbeszenen Japhites und Belakanes vgl. Stephan Fuchs-Jolie: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997, S. 179.

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und ausgestellte Körper der toten Frau in dem kostbaren Grabmal fungiert zugleich als Denkmal eines Triumphs der Liebe und als Mahnmal fehlgeleiteter Frömmigkeit. Es erinnert daran, dass auch die wahre Liebe ohne den rechten Glauben nichts gilt. An die frei gewordene Stelle des ‚heidnischen‘ Herrscherpaares treten in der Folgehandlung die braven christlichen Eheleute Wigalois und Larie.

Männer verständigen sich Wie Wigalois einen eigenen Zugriff auf die Konzepte Liebe und Glaube entwickelt, der ihn zu einem legitimen Nachfolger der beiden Getöteten macht, wird an seinen Gesprächen mit dem Grafen Adan ersichtlich. Adan, den Wigalois vor dem Duell mit Roaz besiegt und der ihm daraufhin treue Gefolgschaft geschworen hat, ist die erste Person, die Wigalois als Roaz’ Nachfolger auf Glois benennt. Ohne Zögern begibt er sich in die Hand des Siegers, den er sogleich als seinen neuen Herrn anerkennt. In den Dienst Wigalois’ tritt er damit auf dieselbe Weise ein, in der er zuvor zu einem Gefolgsmann Roaz’ geworden war: Auch dieser hatte ihn einst besiegt und ihm das Leben geschenkt (W 7842– 7849). Indem Wigalois das Gleiche tut wie Roaz, tritt er in Adans Augen an Roaz’ Stelle (W 7980 – 7987). Der Unterschied zwischen der Selbstübereignung des Grafen an Roaz und der an Wigalois besteht darin, dass die erste unter Zwang geschah, die zweite aber aus freiem Willen vollzogen wird. Doch nicht nur den zuverlässigen Gefolgsmann, sondern auch seine Frau und sein Land gewinnt Wigalois auf (beinahe) die gleiche Art wie Roaz. Seine Ehefrau Larie erwirbt er durch ritterlichen Kampf, also so, wie Roaz Japhite erworben hatte (W 7801– 7810). Und auch die Landesherrschaft erstreitet sich Wigalois mit Waffengewalt, genau wie Roaz. Im Unterschied zu dem ‚Heiden‘ allerdings handelt Wigalois dabei nicht verräterisch, sondern im fairen Zweikampf.Wigalois, so Adan, habe damit das Unrecht gerächt, das Roaz Larie und ihrem Vater angetan habe, und sich damit Frau und Land zu Recht verdient (W 7968 – 7970). Aus all diesen Gründen kann Wigalois als der bessere Roaz gelten. Diesen assoziiert der Burggraf mit übermuot (W 7960), gewalt (W 7961) und leit (W 7968 und 7979), während er auf seinen neuen Herrn kein schlechtes Wort kommen lässt. Nachdem Wigalois’ Ansprüche geklärt sind, verhandeln die beiden Männer die Eckpunkte von Christentum und Höfischkeit. Ihre Gespräche sind zwar ausgesprochen knapp und werden stets nach kurzer Zeit abgebrochen. Beide Ritter aber nehmen darin zuvor geäußerte Reden ihres Gesprächspartners auf, paraphrasieren sie oder entwickeln sie weiter.¹³ Im Verlauf der Episode wird dadurch in den Reden der beiden  Adans Ermahnung etwa, von leidvollen Gedanken abzulassen, wird von Wigalois wenig später in der Versicherung aufgenommen, seinen Schmerz nun nicht länger zu beklagen, sondern stattdessen gemeinsam mit Adan Gott danken und sich an lieben Dingen erfreuen zu wollen (W 8131– 8133 bzw. W 8219 – 8222). Adan wiederum entfaltet aus Wigalois’ Hinweis auf die dreifache Benennung Gottes als vater, sun, hêrre geist (W 8159) eine beeindruckend gut informierte Definition der Trinität: er ist got

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Figuren in zunehmendem Maß nur noch eine einzige Haltung hörbar. Die beiden Themen, um die es dabei vorrangig geht, sind abermals Liebe und Glaube. Einigkeit entwickeln die Gesprächspartner darüber, dass in beiden Bereichen nicht übertriebener Eifer, sondern Mäßigkeit und Pragmatismus angebracht sind. In Liebesdingen verhält sich Wigalois – anders als die liebenden Damen des Romans, anders aber auch als Erec, Iwein und Anfortas oder gar Tristan und Isolde – zwar zuweilen passioniert, bei Bedarf jedoch sachlich und selbstbeherrscht. Als er nach dem Kampf gegen Roaz aus seiner Ohnmacht erwacht, wird er kurzzeitig von Liebesschmerz und großer Sehnsucht gepackt. Seine Sehnsucht und seine Leidenschaft nehmen schließlich solch extreme Formen an (W 8124– 8125),¹⁴ dass Adan sich zur Intervention genötigt sieht und Wigalois’ erregte Rede schließlich mit den Worten abbricht, dass man nun die Toten begraben und sich an den Weg der Freude halten solle (W 8128 – 8133). Dieser Einspruch wirkt, Wigalois besinnt sich. Damit macht der Erzähler deutlich: Auch Wigalois ist zu großer Liebesleidenschaft fähig. Dennoch ist es möglich, ihn selbst in solchen Zuständen durch gutes Zusprechen zu erreichen, ihn an seine Pflichten zu erinnern und zu nüchternem Handeln zu veranlassen.¹⁵ Wigalois kommt zur Besinnung und wird ins tätige Leben auf der Burg eingegliedert. Auch bei einer zweiten Gelegenheit kann Adan ihn von seiner Liebessehnsucht ablenken, dieses Mal, indem er ihm ein gut dressiertes Reitpferd zur Verfügung stellt. Nach einem gestreckten Galopp vor der Burg hat der Held seinen Kummer wieder gut im Griff, wobei zur Tröstung des Ritters sicherlich beiträgt, dass das Pferd sich ganz seinem Willen fügt (W 8474), genau so, wie es die Einwohner Korntins und später auch Larie tun.¹⁶ Während Japhite, die sich – ähnlich wie Mabonagrin und seine Geliebte in Hartmanns Erec – schon zu Lebzeiten gemeinsam mit Roaz von einer größeren Gemeinschaft abgewandt hatte, auch nach dem Tod des Geliebten nicht zur Besinnung kommt, sondern sich durch ihren Liebestod jeglicher

alters eine / und iedoch endriu genamt, / sîn gotheit diu ist ensamt / und immer ungescheiden (W 8195 – 8198: Er ist alleiniger Gott und dennoch dreifach benannt; sein göttliches Wesen ist eins und stets ungeschieden).  Möglicherweise modelliert Wirnt Wigalois’ Erwachen aus der Ohnmacht und den ersten Gedanken an die anwesend-abwesende Geliebte nach dem Vorbild der Blutstropfenszene in Wolframs Parzival (P 302,7– 18). Adan übernimmt in dieser Szene eine ähnliche Funktion wie Gawan. Allerdings beendet er nicht die geistige Abwesenheit des Helden, sondern nur dessen Klage.  Das Gleiche gilt für Wigalois’ spätere Ehefrau Larie. Adan sorgt sich zwar darum, dass Larie schlimmen Kummer über den Verlust des Geliebten empfinden werde, falls dieser auf Glois stürbe (W 7995 – 8000). Allerdings befürchtet er nur, Larie könne für immer unvrô werden, äußert aber nicht die Sorge, sie könne dem Geliebten in den Tod folgen, wie dies Japhite getan hatte. Die Option des Liebestodes zieht er für Larie gar nicht erst in Betracht.  Die Vorstellung von einer Ersetzung der begehrten Dame durch ein Reitpferd entbehrt nicht einer gewissen Drastik. Dass ein Pferd an die Stelle der Dame treten kann, wird schon in der Ruel-Episode angedeutet, wenn Wigalois’ Ross mit seinem Wiehern ausgerechnet in dem Moment rettend eingreift, in dem der Ritter an die ferne Geliebte denkt.

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Sozialkontrolle entzieht, bleibt Wigalois auch in schwierigen Situationen gefasst und nüchtern genug, um sich den anstehenden Aufgaben zu widmen. Zügeln oder anderweitig beeinflussen kann der Protagonist aber nicht nur seine eigenen Emotionen, sondern auch die von anderen Personen. Dies zeigt sich in dem Abschnitt, in dem Wigalois zu den ‚heidnischen‘ Bewohnerinnen von Glois spricht. Das übergreifende Thema seiner Ansprache ist nun nicht mehr die Liebe, sondern der Glaube. Wigalois argumentiert, dass das Vertrauen in den christlichen Gott vor dem Teufel schütze, offeriert einen knappen Katechismus mit den wichtigsten Glaubenswahrheiten und schließt mit einem Appell: ‚die an disem glouben sint / und behaltent kristen ê, / die sint ze gnâden immer mê. / nu schaffet daz ez iu alsam ergê!‘ (W 8162– 8165: ‚Diejenigen, die diesem Glauben anhängen und die Glaubensgrundsätze der Christen bewahren, die besitzen die ewige Gnade. Nun sorgt dafür, dass es euch genauso ergeht!‘). Die adressierten Hofdamen kommen daraufhin zwar nicht zu Wort, wenn sie ihn denn überhaupt verstehen; die Ansprache bewirkt jedoch, dass zumindest Graf Adan auf der Stelle zum christlichen Glauben übertreten will, um sich vor dem Teufel zu schützen. Stürmisch verlangt er nach der Taufe: ‚wâ nû der touf? ich bin bereit!‘ (W 8186: ‚Wo ist jetzt die Taufe? Ich bin bereit!‘) Da es jedoch vor Ort keinen Geistlichen gibt, der den Ritus vollziehen könnte, ist es nun Wigalois, der zur Geduld mahnen muss, wie es zuvor Adan getan hatte: ‚wir sulen bîten, grâve Adân‘ (W 8210: ‚Wir müssen warten, Graf Adan‘). Zur rechten Zeit werde er schon die Taufe empfangen, bis dahin sollten sie beide Gott danken und sich an dem erfreuen, was sie besäßen. Hatte zuvor Wigalois Adans Aufforderung zur Besonnenheit Folge geleistet, so richtet sich nun Adan nach den Worten Wigalois’. In ihren Reden und Gesprächen über Herrschaft, Liebe und Glaube nehmen Wigalois und Adan wechselseitig Einfluss aufeinander und handeln zunehmend kooperativ. Der neue Herr und sein Gefolgsmann stellen nach und nach gemeinsam einen Katalog von Idealen auf, anhand derer die Politik in Korntin in Zukunft neu zu gestalten ist. Thematisiert werden die Art und Weise, wie man als Ritter eine Frau, ein Land und Gefolgsleute gewinnt, wie man passioniert und dennoch vernünftig liebt und welchem Gott man sich bei alledem unterstellen soll. Am bedeutendsten erscheint die erst von Adan und später auch von Wigalois angemahnte Notwendigkeit, für Gefühle und Überzeugungen, Liebe und Glaube zwar einzustehen, dabei aber stets den Umständen gemäß passend zu handeln. Japhites überschießende, zum Tod führende Liebe und ihr starrsinniges Beharren auf ihrem Glauben werden von den männlichen Figuren in der Glois-Episode nicht explizit kommentiert. Implizit aber wird Japhites Verhalten in der gemeinsamen Verständigung über den Wert von Geduld, Ausdauer und Leidensfähigkeit abgelehnt. Ans Ziel kommt man, so Wigalois und Adan, mit Mäßigung, Pragmatismus und der Bereitschaft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Zusätzlich hilfreich ist offenbar eine harmonische homosoziale Beziehung unter Männern, selbst wenn diese in der sozialen Hierarchie unterschiedliche Positionen einnehmen. Da sich die männlichen Figuren letztlich einig sind, wie man lieben und herrschen soll und was man zu glauben hat, kann und muss es zwischen ihnen keine echte Auseinandersetzung geben. In den Gesprächen, in

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denen Wigalois und Adan ihre Haltungen voreinander und vor anderen entfalten, kommt daher keine Mehrstimmigkeit im Sinne Bachtins zum Vorschein. Die Einführung der Figur Adans und seine Gespräche mit Wigalois dienen letztlich nur der Diskursivierung einer einzigen Meinung – und zwar derjenigen, die der Protagonist vertritt und die am Ende der Episode auch in der Inschrift auf Japhites Grab festgeschrieben werden wird.

Die Widerständigkeit einer Frau und die Macht ihres Epitaphs Auch in der Glois-Episode werden jedoch autonome und widerständige Positionen formuliert. Schließlich äußern sich nicht nur der Erzähler, der Protgonist und dessen neuer Gefolgsmann zu Liebe und Glaube, sondern auch Japhite. Bevor sie tot über dem Leichnam Roaz’ zusammenbricht, beschwört sie die Intimität und Vertrautheit mit ihrem Geliebten, die die beiden aufs Engste miteinander verbindet: ‚du wære mîn herze und mîn lîp, / ich dîn herze und dîn wîp; / wir hêten beidiu einen muot: / swaz ich wolde, daz dûht dich guot; / swaz du woldest, daz wolde ouch ich‘ (W 7726 – 7730). ‚Du warst mein Herz und mein Leib, ich war dein Herz und deine Frau. Wir hatten beide einen einzigen Willen: Was ich wollte, das erschien dir gut, und was du wolltest, das wollte auch ich.‘

Das Resultat von Japhites und Roaz’ Liebe ist unbedingte Identität: Die beiden sind ein Herz, eine Person und ein Wille.¹⁷ Für Japhite ist diese Form der Liebe eine Angele-

 Die Vorstellung einer idealen Beziehung zwischen Gleichen findet sich schon in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und, darauf beruhend, in Ciceros Laelius de amicitia. In diesen beiden Werken wird eine durch Wesenseinheit und Seelenverwandtschaft gekennzeichnete Beziehung allerdings als homosoziale Konstellation unter männlichen Freunden beschrieben. Im lateineuropäischen Mittelalter wird dieses Modell sowohl auf geistlich-homosoziale Gemeinschaften als auch auf heterosoziale Liebesbeziehungen übertragen. Vgl. Andreas Kraß: Im Namen des Bruders: Fraternalität in Freundschaftsdiskursen der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Behemoth 4 (2011), S. 4– 22; Andreas Kraß: Ebenbildlichkeit. Symbolik der Freundschaft im ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg, in: Freundschaftszeichen. Gesten, Gaben und Symbole von Freundschaft im Mittelalter. Hg. von Marina Münkler, Antje Sablotny und Matthias Standke. Heidelberg 2015, S. 251– 269. Eventuell relativiert wird übrigens die Idealität von Japhites und Roaz’ Liebe im Nachhinein durch einen Erzählerkommentar, demzufolge Roaz Japhite nicht vollständig vertraut, sondern um ihre Treue gefürchtet hat (W 8045 – 8051). Damit wird allerdings nicht Japhites Hingabe infrage gestellt, an der der Erzähler nicht zweifelt, sondern nur die von Roaz. Mit diesem Trick erreicht Wirnt, dass aus einer Außenperspektive die eine Hälfte des Liebespaars in einer symbiotischen Beziehung zu leben scheint, die andere aber nicht. Eine wahre Einheit und Einmütigkeit von Liebenden wird hingegen später für Larie und Wigalois behauptet: ir zweier sinne / mit ganzen triuwen wurden einein / sô daz diu herze under in zwein / hêten beidiu einen muot; / swaz si wolde, daz dûhte in guot; ouch was sîn wille der vrouwen jâ. / sus versigelt diu minne dâ / mit herzeliebe ir herze einein / sô daz diu liebe under in zwein / eines willen pflâgen (W 9468 – 9477: Ihr jeweiliger Sinn wurde eins in vollkommener Treue, sodass ihre beiden Herzen dasselbe erstrebten.Was sie wollte, das erschien ihm gut und auch sein Wille fand ihre Zustimmung. So siegelte die Minne mit inniger Liebe ihre Herzen zusammen, sodass ihrer beider Zuneigung nur einen Willen besaß.)

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genheit von Leben und Tod. Roaz und sie, so die Fürstin, sollten nicht nur im Leben, sondern auch im Tod miteinander vereint sein: ‚sît dîn herze ie was mîn / und aller mîn wille dîn, / sô sol dîn tôt mîn tôt ouch sîn!‘ (W 7734– 7736: ‚Da dein Herz immer mir gehörte und dir mein ganzer Wille, so soll dein Tod auch mein Tod sein!‘). Japhite riskiert aber nicht nur einen körperlichen Tod, wenn sie Roaz nachfolgt, sondern auch, wie das Publikum aus dem Erzählerkommentar über die ‚vier Erschlagenen‘ auf Glois erfährt (W 7754– 7755), den ungleich schlimmeren Tod der Seele. Zwar klagt Japhite ihren vil süeze[n] got [Machmêt] (W 7717) an, sie im Stich gelassen zu haben. Sie zieht daraus aber nicht etwa die Konsequenz, sich von ihrem ‚heidnischen‘ Gott ab- und dem christlichen Gott zuzuwenden. Stattdessen macht sie deutlich, dass für sie ein mögliches Leben in Verdammung weniger schwer wiegt als die Aufhebung der Trennung von dem Geliebten und die Wiederherstellung der Liebeseinheit. Japhite würde für Roaz sogar in die Hölle gehen: ‚ouch sol ich mich niht sûmen mê / ichn werde dîn geselle / ze himel od zer helle, / swederhalp wir müezen sîn‘ (W 7705 – 7708: ‚Ich werde mich auch nicht länger säumen, mich zu dir zu gesellen, ob im Himmel oder in der Hölle, wo auch immer wir sein werden‘). Diese Liebe ist so radikal und absolut, dass sie sich um das Leben nach dem Tod nicht mehr schert.¹⁸ Von den anwesenden Figuren oder vom Erzähler wird diese blasphemische Haltung nicht kommentiert oder bewertet. Überhaupt steht Japhites Rede, in der sie sich erst an den toten Roaz, dann an den offensichtlich abwesenden Machmet und schließlich wieder zurück an den verstorbenen Geliebten wendet, völlig isoliert im Text. Von Roaz und Machmet sind keine Antworten zu erwarten, aber auch sonst scheint auf der Handlungsebene niemand Japhites Worte zu hören. Aufgenommen werden können diese allein vom Publikum des Romans, das an dieser Stelle zum ersten und zum letzten Mal einen Einblick in die Gedanken und Gefühle der toten ‚Heidin‘ erhält. Für Japhite gilt, was Albrecht Koschorke über Akteure in der ‚mittleren Zone‘ der Erzählung, d. h. im liminalen Bereich zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘, zwischen ‚uns‘ und den ‚anderen‘ feststellt: „Protagonisten, die in der mittleren Zone auftreten und es dabei zu einem gewissen Grad an Individualität bringen (Gesicht, Stimme, Name), haben zumeist immerhin das Anrecht auf eine eigene Episode, wenn sie zu Tode kommen.“¹⁹ Japhites ‚eigene Episode‘ zeichnet sich dadurch aus, dass die Frau ihren Standpunkt in Liebesund Glaubensdingen mitteilen darf. Erst nach ihrem erzählten Tod hört sie auf, eine Antagonistin zu sein, und kann – nun nicht mehr Gegnerin, sondern Opfer, nicht mehr

 Während Ingrid Hahn meint, dass der Autor sich der Brisanz dieser Aussage Japhites wohl nicht bewusst gewesen sei, nimmt Christoph Fasbender das Gegenteil an. In seiner Lesart qualifiziert Japhites Radikalität sie, wenn nicht für den christlichen, so doch auf jeden Fall für den höfischen Himmel. Vgl. Ingrid Hahn: Gott und Minne, Tod und ‚triuwe‘. Zur Konzeption des ‚Wigalois‘ des Wirnt von Grafenberg, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Helmut Brall, Barbara Haupt und Urban Küsters. Düsseldorf 1994, S. 37– 60, hier S. 57; Christoph Fasbender: Der ‚Wigalois‘ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung. Berlin, New York 2010, S. 178.  Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 22012, S. 92.

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selbst sprechend, sondern nur noch Gegenstand der Rede anderer – für die Seite des Siegers reklamiert werden. Japhites Vereinzelung, die in dem kurzen Zeitraum zwischen dem Tod ihres Geliebten und ihrem eigenen Tod ihren Höhepunkt erfährt, findet eine Entsprechung in der Art und Weise, mit der sie einsam und von allen anderen Menschen abgesondert zur letzten Ruhe gebettet wird. Ihrem Klagemonolog entspricht das Epitaph, das an ihrem Sarg angebracht wird und das unter den in der Glois-Episode geäußerten Ansichten über Liebe und Glaube das letzte Wort behält. Ebenso wie Japhites Monolog wird auch die Inschrift im Wortlaut wiedergegeben, ohne dass der Erzähler darüber informiert, wer diese Inschrift rezipiert oder ob sie überhaupt irgendjemand rezipiert. Und auch bei der Grabinschrift handelt es sich um Figurenrede, wobei allerdings das Publikum darüber im Unklaren gelassen wird, wer der Verursacher oder Verfasser dieser Rede ist, wer sie formuliert und wer sie autorisiert hat. War es Wigalois? War es Graf Adan? Waren es Personen, die im Auftrag von Wigalois oder Adan handelten? Das Verschleiern des Ursprungs, wie es bei Figurenreden sonst nur selten vorkommt,²⁰ verleiht der Inschrift besondere Geltung. Sie erhält ihre Autorität nicht durch die Verbindung zu einer bestimmten Person, die die Verantwortung für den Inhalt übernimmt, sondern gerade aufgrund ihrer Vermitteltheit und der Abwesenheit ihres Autors. Losgelöst von dem, der den Wortlaut zu verantworten hat, transportiert das Epitaph eine überpersönliche, universal gültige Aussage. In Japhites Epitaph werden das Äußere wie auch der Charakter der Toten beschrieben und damit aus der Sicht des Siegers festgeschrieben. Vom gleichen Standpunkt aus wird auch ihre Geschichte erzählt – allerdings nur die Teile davon, die Wigalois betreffen. Der Beginn von Japhites Liebesbeziehung zu Roaz hingegen und das gemeinsame Leben der beiden, aber auch Japhites Bereitschaft, nach dem Tod für Roaz sogar in die Hölle zu gehen, kommen nicht vor. Damit gibt die Inschrift Japhites Geschichte eine Wendung, die sie ganz und gar auf die kurze und tödliche Begegnung mit Wigalois hin perspektiviert. Die Pointe dieser Vereinnahmung besteht schließlich darin, dass die tote Frau trotz ihres Festhaltens am ‚heidnischen‘ Glauben in den Kreis derer aufgenommen wird, für deren Seele der christliche Gott zuständig ist. Die Inschrift instrumentalisiert sie zum Wohl derer, die durch ihre Fürbitten etwas für ihr eigenes Seelenheil bewirken sollen.²¹ Auch unter diesem Gesichtspunkt verwandelt sich Japhite von einem redenden, handelnden Subjekt in ein Objekt, an dem andere zu ihrem eigenen Nutzen handeln.

 Eine Ausnahme stellt im Wigalois die rätselhafte körperlose Stimme dar, die zuerst an Wigalois gerichtet Tod und Verderben verkündet, sich aber nach dem erfolgreichen Kampf des Ritters gegen Marrien offenbar eines Besseren besinnt und sich mit einer ähnlichen Unheilsbotschaft an Roaz wendet (W 6914– 6917 und 7029 – 7053).  Der Gedanke, dass das, was man für eine andere Person bei Gott erbittet, auch für den Bittenden Gutes bewirkt, findet sich an prominenter Stelle in Hartmanns von Aue Prolog zum Armen Heinrich: man giht, er sî sîn selbes bote / und erlœse sich dâ mite, / swer vür des andern schulde bite (Der arme Heinrich 26 – 28: Man sagt, jemand sei sein eigener Bote und erlöse sich selbst, wer für die Schuld des anderen bete); vgl. auch den Epilog des Gregorius (G 3989 – 3999).

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Die Inschrift ist das einzige Element an Japhites Mausoleum, das nicht von Roaz stammt, sondern dem Grabmal erst nach seinem und Japhites Tod hinzugefügt wird. Sie ist der Schlüssel, mit dessen Hilfe die prächtige ‚heidnische‘ Dingwelt, in die der Leichnam eingeschlossen ist, in einer christlichen Lesart entziffert werden kann. Mit Japhites Bestattung und Beschriftung wird zeichenhaft Wigalois’ Erfolg als christlicher Eroberer konserviert. Festgehalten wird auch die Überzeugung, dass die wahre Liebe ohne den wahren Glauben mangelhaft bleibt. Dass die bestattete Japhite Gegenstand der Trauer ist, wird in ihrem kostbaren Grabmal evident.²² Zugleich fungiert das Mausoleum aber auch als Erinnerungsmal und Zeugnis für ein vergangenes, überwundenes Herrschaftsmodell, in dem Liebe und Glaube noch nicht ideal miteinander verbunden waren. Mit dem Anbringen des Epitaphs wird das Stimmengewirr auf Glois zum Verstummen gebracht. Schon zuvor hatten nicht alle Stimmen den gleichen Status besessen: Während Adan und Wigalois zügig einen Einklang miteinander hergestellt hatten, verhallt Japhites Klagemonolog, ohne dass eine andere Figur auf ihre Worte reagiert. Immerhin aber kommt sie überhaupt zu Wort. Insofern eröffnet sich in der erzählten Welt auf Glois für einen kurzen Moment eine Ahnung von Pluralität und Polyphonie. Das Epitaph als zusammenfassender und abschließender Monolog begräbt diesen Pluralismus und setzt der Polyphonie ein Ende. Es wählt aus, was von dem zuvor Gesagten für die Zukunft aufbewahrt wird, ohne dabei wichtige Bestandteile von Japhites eigener Rede zu berücksichtigen. Dadurch, dass das Ergebnis dieses Selektionsakts nicht in flüchtigen mündlichen Reden mitgeteilt, sondern schriftlich fixiert wird, beansprucht es für sich, auch über den aktuellen Augenblick hinaus gültig zu sein. Die Inschrift impliziert allerdings nur auf den ersten Blick, eine abschließende, ‚korrekte‘ und eindeutige Sicht auf Japhites Leben und Tod zu repräsentieren. Schon der Erzähler hatte ja mit der Änderung seiner Meinung über das Schicksal von Japhites Seele vorgeführt, welche unterschiedlichen Schlüsse aus ein und demselben Ereignis gezogen werden können. Warum also sollte nicht auch die Grabinschrift, die aus Japhite ein Symbol für wahre Liebe, defizitären Glauben und eine gefährdete Nähe zu Gott macht, zum Gegenstand von Fragen und Deutungen werden? Der Erzähler lässt das Publikum mit der Inschrift allein, weist aber mit einer Bemerkung zur sprachlichen Beschaffenheit des Epitaphs darauf hin, dass es sich bei ihm um ein Ensemble von Zeichen handelt, das in sich potenziell doppeldeutig ist:

 Zum Unterschied zwischen betrauernswertem und nicht betrauernswertem Leben, zwischen als menschlich anerkannten Personen und dehumanisierten Anderen vgl. Judith Butler: Precarious life. The Powers of Mourning and Violence. New York 2004. Anders als Roaz, der aufgrund seiner Verwerflichkeit vom Teufel geholt wird und aus diesem Grund gar kein Grab erhalten kann, ist Japhite, obgleich sie eine ‚Heidin‘ ist, offenbar betrauernswert genug, um ehrenvoll bestattet zu werden.

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mit guldînen buochstaben / gesmelzet ûf den jâchant / ein êpitâfîum man vant / gebrievet von ir tôde hie, / heidenisch und franzois, wie / si starp von herzeleide. / die schrift sagten beide / ‚hie lît…‘ (W 8254– 8261). Aus goldenen Buchstaben auf den Hyzinth gegossen fand man dort ein Epitaph über ihren Tod geschrieben, auf Heidnisch und auf Französisch, wie sie aus Herzeleid starb. Beide Schriften besagten Folgendes: ‚Hier liegt…‘

Auf der Ebene der histoire soll die Inschrift sowohl von Französisch sprechenden Christen als auch von ‚Heidnisch‘ sprechenden ‚Heiden‘ verstanden werden. Die zweifache Ausführung behauptet die Möglichkeit, zwei Sprachen und die mit ihnen verbundenen Kulturen miteinander zu harmonisieren, indem man dieselbe Botschaft für beide verständlich macht.²³ Zu diesem Zweck muss aber gerade die sprachliche Heterogenität des Epitaphs thematisiert werden. Es ist eindeutig und uneindeutig zugleich. So beteuert der Erzähler zum einen, dass es möglich sei, ein und denselben Inhalt mithilfe unterschiedlicher Sprach- und möglicherweise auch Zeichensysteme (einem französischen und einem ‚heidnischen‘) auszudrücken. Eine Differenz zwischen den beiden Texten auf der Bedeutungsebene negiert er, indem er von einem einzigen Epitaphium spricht statt von zwei Epitaphien oder auch von einer Inschrift mit zwei verschiedenen Teilen. Von einem Übersetzungsakt vom Französischen ins ‚Heidnische‘, vom ‚Heidnischen‘ ins Französische oder von einer dritten Sprache ins ‚Heidnische‘ sowie ins Französische ist nicht die Rede. Beide Inschriften werden in einem Atemzug genannt, als wären sie simultan entstanden, zwei Seiten derselben Medaille, zwei Aspekte derselben Sache. Zugleich impliziert die zweifache Inschrift die Existenz zweier voneinander abgrenzbarer Rezipientengruppen, die in ihrer Unterschiedlichkeit auf unterschiedliche Sprachsysteme angewiesen sind, um Zugang zu einem spezifischen Inhalt zu erlangen. Der Heterogenität der Zielgruppe entspricht die sprachliche Heterogenität der Inschrift. Polyphon ist das doppelte Epitaph insofern, als die beiden in ihm enthaltenen Texte hinsichtlich ihrer sprachlichen Form nicht miteinander identisch sind. Ist aber die sprachliche Form des einen Textes mit der des anderen nicht identisch, dann kann man durchaus fragen, ob oder inwiefern sich die Nicht-Identität der Form auch auf den Inhalt überträgt, der in Japhites Mausoleum an Christen und ‚Heiden‘ kommuniziert werden soll. Die Frage, ob in Übersetzungsprozessen Informationen verlorengehen, hinzukommen oder verändert werden, wird in der mittelalterlichen Literatur erstaunlich selten gestellt. In zahlreichen Reiseberichten etwa wird die Existenz unterschiedlicher Sprachen entgegen modernen Erwartungen höchstens am Rande thematisiert oder gar problematisiert.²⁴ Auch die Autoren höfischer Romane inszenieren häufig sprachlich

 James Brown sieht hingegen in der Zweisprachigkeit der Inschrift einen Hinweis auf Wirnts Interesse an den Wundern des Ostens sowie auf eine versöhnliche Haltung gegenüber nicht-christlichen Religionen oder zumindest ihren Anhängern. Vgl. Brown, Imagining, S. 119 – 120.  Peter von Moos führt das mangelnde Interesse vieler Autoren mittelalterlicher Reiseberichte an der Fremdsprachenthematik auf die relativ langsame Mobilität von Reisenden sowie die Möglichkeit zur

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unkomplizierte Begegnungen zwischen Menschen aus entfernten Teilen der Welt, darunter auch zwischen Christen und ‚Heiden‘, die sich mühelos miteinander unterhalten können. Man muss den Dichtern deshalb kein fehlendes Bewusstsein für empirische Probleme unterstellen.²⁵ Ihnen liegt offenbar vor allem daran, einen imaginären höfischen Kosmos zu entwerfen, in dem sich selbstverständlich alle höfischen Menschen allein deswegen miteinander verständigen können, weil sie von gleicher, nämlich eben von höfischer Art sind. Jeder Ritter kann mit jeder Dame und mit jedem anderen Ritter kommunizieren, solange alle in irgendeiner Weise Anteil haben am Ideal der Höfischkeit. Alle Sprachen sind eins, wenn höfische Menschen auf höfische Weise miteinander sprechen. Der im Idealfall gegebene Zusammenhalt dieser gesellschaftlichen Elite macht nicht nur Sprachgrenzen vernachlässigbar, sondern überbrückt auch konfessionelle Barrieren. Wenn doch sprachliche Hindernisse geschildert werden, dann lassen sie sich meist dadurch umgehen, dass höfische Menschen für gewöhnlich das Französische beherrschen.²⁶ Im Wigalois allerdings ist das ein wenig anders. Hier sprechen und verstehen keineswegs alle ‚Heiden‘ die Sprache des christlichen Helden. Auf Glois spricht der Ritter zunächst nur mit dem Torhüter Adan. Dass dieser ihn versteht – im Gegensatz zu Japhites Jungfrauen, an die Wigalois nach seinem Sieg eine kleine Bekehrungsrede richtet –, wird erst später erklärt: Nach der Schilderung von Japhites Begräbnis trägt der Erzähler die Information nach, dass Adan sowohl die ‚heidnische‘ als auch die französische Sprache beherrsche und daher zwischen dem Sieger und den übrigen Bewohnern von Glois vermitteln könne. Nachdem etwa die Jungfrauen sich in Wigalois’ Gewalt begeben haben, heißt es: des antwurt in der grâve Adân / an der selben stunde, / wand er die sprâche kunde, / heidenisch und franzois (W 8337– 8340: Darauf antwortete ihnen Graf Adan sofort, da er beide Sprachen beherrschte, das Heidnische und das Französische). Anders als in vielen anderen höfischen Romanen wird im Wigalois also durchaus eine Verständigungsbarriere zwischen Christen und ‚Heiden‘ konstatiert. Damit gewinnt die Inschrift, die in ‚heidnischer‘ und französischer Sprache auf Japhites Sarg angebracht wird, eine gewisse Ähnlichkeit mit realhistorischen Dokumenten des hohen und späten Mittelalters, deren Handhabung von einem gesteigerten Interesse an der Problematik der Bedeutungsäquivalenz von Schriftstücken in un-

Verwendung volkssprachlicher ‚Kontaktsprachen‘, vor allem aber auch der lateinischen Sprache zurück. Von Moos, Epilog, S. 695 – 696.  Vgl. Daniel Rocher: Das Problem der sprachlichen Verständigung bei Auslandsreisen in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. von Dietrich Huschenbett und John Margetts. Würzburg 1991, S. 24– 34, hier S. 34.  Von der ‚Heidin‘ Janfuse beispielsweise wird in Wolframs Parzival mitgeteilt, dass sie Französisch spreche (P 329,11– 13). Das Gleiche gilt für Feirefiz (P 744,25 – 28). Immerhin wird eigens erwähnt, dass die ‚Heiden‘ die Sprache der Christen beherrschen, um eine Konversation plausibel zu machen. Als völlig selbstverständlich wird die Überwindung sprachlicher Barrieren in diesem Kontext also nicht angesehen.

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terschiedlichen Sprachen geprägt ist. Solche Dokumente und die dazugehörigen Metatexte, die sich mit ihrer Anfertigung und ihrem Gebrauch beschäftigen, finden sich beispielsweise im Bereich christlich-muslimischer Herrschafts- und Handelsbeziehungen.²⁷ Als Folge der christlichen Expansionsbemühungen im Mittelmeerraum kam es zu Begegnungen zwischen Vertretern verschiedener religiöser und politischer Gemeinschaften, mit denen nur dann erfolgreich kommuniziert werden konnte, wenn mündliche oder schriftliche Übersetzungsleistungen erbracht wurden. Daniel König nennt zahlreiche Beispiele für das Wirken von Übersetzern und Dolmetschern und für das Zusammenspiel verschiedensprachiger Schriftstücke zum Zweck der Regulierung politischer, wirtschaftlicher und religiöser Beziehungen zwischen Christen und Muslimen im europäischen Hochmittelalter. Die Angehörigen unterschiedlicher Sprachgruppen, die die jeweils andere Sprache nicht selbst beherrschten, mussten davon ausgehen können, dass in beiden Sprachen der gleiche Inhalt ausgedrückt wurde und sie sich also auf die inhaltlich exakt gleiche Absprache beziehen konnten.²⁸ Übersetzer, die zwischen Herrschern, Gesandten und Kaufleuten im multilingualen Mittelmeerraum verschiedensprachige Fassungen von schriftlichen Verträgen anfertigen, mussten als Ziel eine ähnliche Symmetrie ihrer Produkte ins Auge fassen, wie sie auch der fiktiven Grabinschrift im Wigalois zugeschrieben wird. Japhites zweisprachiges Epitaph ähnelt einem zweisprachigen, beispielsweise italienisch-arabischen Vertrag insofern, als zum einen kein übergeordnetes Original vorliegt und zum anderen in der Beschreibung anklingt, dass es theoretisch möglich wäre, eines der Schriftstücke in  Auch die streng vorlagenrelationalen Bibelübersetzungen des Mittelalters besitzen einen hohen Äquivalenzanspruch. Ihre lexikalische, syntaktische und exegetische Orientierung am lateinischen Ausgangstext wie auch an späteren exegetischen Traditionen speist sich aus der Forderung an den volkssprachlichen Text, möglichst effizient dem Verständnis des Originals zu dienen. Das Original bleibt bei aller Vorlagentreue der Übersetzung hinsichtlich des Bedeutungsgehalts überlegen. Darin unterscheidet sich das Verhältnis zwischen lateinischem Bibeltext und volkssprachlicher Übersetzung bedeutend von dem Verhältnis der beiden fiktiven Grabinschriften im Wigalois zueinander: Die beiden Epitaphien werden, anders als lateinischer Bibeltext und volkssprachliche Übersetzung, offenbar als gleichwertig angesehen, was die durch sie übermittelte Bedeutung betrifft. Keine von beiden Inschriften ist von der anderen abgeleitet. Sie unterscheiden sich nicht durch das Ausmaß der Möglichkeiten zur Erkenntnis, die sie bereitstellen, sondern lediglich darin, dass sie jeweils bestimmte Rezipientenkreise adressieren. Abhängig von den Fremdsprachenkenntnissen des Publikums kann nicht nur, sondern muss sogar jede der beiden Inschriften die andere nicht nur über-setzen, sondern auch er-setzen können. Zur mittelalterlichen Bibelübersetzung vgl. z. B. Carola Redzich: Mittelalterliche Bibelübersetzung und der Übersetzungsbegriff, in: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Britta Bußmann und Albrecht Hausmann. Berlin, New York 2005, S. 259 – 278, hier S. 264. Vgl. auch Dieter Kartschoke: Biblia Versificata. Bibeldichtung als Übersetzungsliteratur betrachtet, in: ‚Was Dolmetschen fur Kunst und Erbeit sey.‘ Beiträge zur Geschichte der deutschen Bibelübersetzung. Hg. von Heimo Reinitzer. Hamburg 1982, S. 23 – 41, hier S. 25.  Vgl. Daniel König: Übersetzungskontrolle. Regulierung von Übersetzungsvorgängen im lateinisch/ romanisch-arabischen Kontext (9.–15. Jahrhundert), in: Abrahams Erbe. Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter. Hg. von Ludger Lieb, Klaus Oschema und Johannes Heil. Berlin 2015, S. 470 – 485.

3.1 Das letzte Wort

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die jeweils andere Sprache und von dort aus wieder zurück in die Ursprungssprache zu übersetzen, ohne dass dabei Informationen verloren gehen oder hinzugefügt werden. Genau wie der von allen beteiligten Parteien beglaubigte Handels- oder Territorialvertrag behauptet die zweigeteilte, doppelte Inschrift auf Japhites Grab, mithilfe von zwei Sprachen einen einzigen Inhalt mit einer einzigen Bedeutung mitzuteilen und zu konservieren. Reale zweisprachige Verträge wurden allerdings nicht ohne Weiteres von beiden Parteien als gültig anerkannt. Um ihre Bedeutungsgleichheit abzusichern, wurden sie häufig in aufwändigen, streng formalisierten Prozessen überprüft. Man ging davon aus, dass Äquivalenz nur mit großer Mühe zu erreichen war. Dieses Bedürfnis, den Grad der Äquivalenz zweier Texte genauestens zu kontrollieren, zeigt, dass mittelalterliche christliche und muslimische Gelehrte es in der Interaktion keineswegs für selbstverständlich hielten, dass zwei Texte in unterschiedlichen Sprachen dieselbe Bedeutung transportierten, selbst wenn dieses Ziel angestrebt worden war. Der Erzähler besteht im Wigalois zwar ausdrücklich darauf, dass beide Inschriften dasselbe mitteilen (W 8260: die schrift sagten beide…) und daher von Christen und ‚Heiden‘ ein und dieselbe Botschaft rezipiert werden könne. Gerade indem er aber den Effekt der Zweistimmigkeit der Grabinschrift leugnet, hebt er hervor, dass eine solche Zweistimmigkeit faktisch besteht. Das Epitaph ist insofern polyphon, als es mit zwei Stimmen spricht, einer französischen und einer ‚heidnischen‘. Die Inschrift erweist sich allerdings nicht allein auf der Handlungsebene als mehrstimmig. Indem der Erzähler feststellt, dass sie auf heidenisch und franzois verfasst sei, also gerade nicht in der Sprache, derer sich der Wigalois selbst bedient, signalisiert er, dass die Zuhörerinnen und Leser des Romans gar nicht den genauen Wortlaut der Inschrift erfahren. Die Worte, die ihnen zur Kenntnis gebracht werden, sind, so behauptet der Erzähler, eine Übersetzung, deren Original, oder vielmehr: deren zwei Originale unbekannt bleiben. Auf diese Weise wird die Vermitteltheit dessen hervorgehoben, was das Publikum des deutschen Romans nur scheinbar unvermittelt in Form einer deutschen Grabinschrift vor sich hat. Der Roman führt vor, dass auch eine trügerisch eindeutige und vereindeutigende Schrift wie Japhites Epitaph eine Verschiebung enthält, die das von ihr Bezeichnete in ungreifbare Ferne rückt. Im übertragenen Sinn könnte man aus der Inszenierung der polyphonen und zugleich im Wortlaut unbekannten Grabinschrift schlussfolgern: Manipuliert und festgelegt werden kann nur Japhites toter Körper. Die vormals sprechende, liebende, herrschende und glaubende Person hingegen, von der in der Inschrift die Rede ist, ist jedem menschlichen – und das heißt: auch jedem schriftlichen – Zugriff und Übergriff ein für alle Mal entrückt. Und mehr noch: Das Epitaph behauptet nur auf den ersten Blick endgültige Antworten auf die Frage nach der Natur von abstrakten Konzepten wie Liebe, Glaube und Herrschaft zu geben. Wie diese Konzepte tatsächlich mit Leben zu füllen sind, muss letztlich jeder Leser innerhalb wie auch außerhalb der erzählten Welt selbst herausfinden.

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3.2 Finale Gegenständlichkeit Die Episode, in der von Japhites Bestattung die Rede ist, enthält in knapp einhundert Versen nicht nur den Text des Epitaphs, sondern auch eine ausführliche Beschreibung von Sarg und Raum. Die Schilderung des Mausoleums vermag in der Vorstellung eines Publikums, das sich darauf einlässt, ein komplexes Bild des Grabmals hervorzubringen. Mit Michel Beaujour und Haiko Wandhoff lassen sich Ekphrasen wie diese als ‚Mikro-‘ oder ‚Paranarrative‘ verstehen,²⁹ „die von der Rahmenerzählung sowohl getrennt sind, wie sie sich ihr auch einfügen, um sie mit zusätzlichen Registern und Bedeutungsdimensionen anzureichern“.³⁰ Die Beschreibung von Japhites Grabmal bildet solch eine Mikroerzählung in einer Makroerzählung. Mit der Inschrift auf dem Sarg enthält diese Mikroerzählung wiederum eine weitere Mikroerzählung. All diese Erzählungen halten auf unterschiedlichen Ebenen Interpretationsangebote zur Deutung der jeweiligen Rahmenerzählungen bereit, in die sie eingebettet sind. Das Mikronarrativ der Grabmalsbeschreibung fügt sich einerseits mittels seiner narrativen Elemente in das Makronarrativ der Glois-Episode und des gesamten Romans ein. Andererseits bildet es aufgrund seiner deskriptiven Elemente einen distinkten Fremdkörper im narrativen Gefüge. Narrativ und als Bestandteil der Handlung in die Textumgebung integriert ist die Szene insofern, als in ihr nicht lediglich das fertiggestellte Grabmal beschrieben, sondern die Bestattung Japhites als Vorgang geschildert wird: Man trägt die Frau im Sarg vor das Tor, zündet Balsamlichter an, umgibt den Sarg mit einem goldenen Ring und verschließt ihn mit einem Deckel. Deskriptiv wiederum ist die Szene, weil sie sich in mehreren Aspekten von der umgebenden Handlung abhebt, die sie in spezifischer Weise als herauslösbare Einheit erscheinen lassen, in der die Handlungsprogression insgesamt nur wenig vorangetrieben wird: Die erzählte Zeit nähert sich an die Erzählzeit an; die Handlung wird entschleunigt; auffällig viele deiktische Signale und Ortsadverbien werden eingesetzt, die eine Orientierung im Raum ermöglichen (vür, dâ, ûf, umb etc.); statt Figurenhandlungen oder Dialogen zwischen Figuren herrschen Ausführungen über leblose Objekte vor.³¹ Damit unterscheidet sich die Begräbnisszene merklich von der vorhergehenden wie auch von der nachfolgenden Szene, in der von Adans Bekehrung bzw. von der Unterwerfung der Edeldamen unter Wigalois’ Gewalt berichtet wird.

 Michel Beaujour spricht von „description’s seemingly uncheckable tendency to turn into micronarratives. The static scenes depicted are fictitiously and surreptitiously endowed with motion […]. Static ‚figures‘ spring into action“. Michel Beaujour: Some Paradoxes of Description, in: Yale French Studies 61 (1981), S. 27– 59, hier S. 33.  Wandhoff, Ekphrasis, S. 7.  Zu einigen dieser Aspekte sowie weiteren Möglichkeiten, Szenen als deskriptiv zu markieren, vgl. Christina Lechtermann: Hie saz ovch div. Evidenzstrategien der Dissimulation, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. Hg. von Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon und Martin H. Jones. Berlin 2011, S. 254– 271, hier S. 257– 258.

3.2 Finale Gegenständlichkeit

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Anders als ein reales Grabmal setzt sich das fiktive Grabmal der Japhite aus Textbestandteilen zusammen. Die Signale auf der Ebene des Erzählens, die die descriptio von der umgebenden Handlung abheben, sowie die Signale auf der Handlungsebene, die das Grab als vom umgebenden fiktiven Raum getrennt erscheinen lassen, markieren das Grabmal als Gegenstand mit besonderen semiotischen Qualitäten. Zum einen erscheint es innerhalb der erzählten Welt als Ort, an dem Aussagen über Handlungsfähigkeit und hegemoniale Strukturen gemacht werden und von dem aus der Protagonist zu einer neuen Station seines Wegs aufbricht. Zum anderen wird an Japhites Grabmal das Potenzial des Erzählens selbst vorgeführt. Dieses besteht darin, dass der Erzähler durch Beschreibung Dinge, Personen, Räume und also ganze Welten erschaffen und zugleich aufgrund seiner Kunstfertigkeit zu unwidersprochener Deutungshoheit über das Erschaffene gelangen kann. Die descriptio des Grabmals lenkt den imaginären Blick nacheinander und teilweise wiederholt auf einzelne Bausteine, aus denen Sarkophag und Raum gefertigt sind. Die Worte jâchant, sarc, balsamô, rinc und êpitâfîum rufen als sprachliche Ausdrücke oder Signifikanten den sprachlichen Inhalt oder die mentale Vorstellung der Substanzen und Artefakte ‚Hyazinth‘, ‚Sarg‘, ‚Balsam‘, ‚Ring‘ und ‚Grabinschrift‘ hervor. All diese Einzelzeichen gemeinsam wiederum ergeben in einem primären semiotischen System (der Objektsprache, die, so Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags, „die Dinge spricht“)³² das zusammengesetzte Zeichen ‚Grabmal‘. In einem auf dem semiotischen System erster Ordnung basierenden semiotischen System zweiter Ordnung aber (der Metasprache, die „von den Dingen spricht“),³³ wird das Zeichen ‚Grabmal‘ seinerseits zu einem Signifikanten, und zwar zu einem mythisch-metasprachlichen Signifikanten, der „die objektsprachlichen Zeichen als ‚Rohstoff‘ [benutzt], um sich von ihnen jene Anschaulichkeit zu erborgen, über die es selbst nicht verfügt“.³⁴ Roland Barthes bezeichnet diesen Mechanismus zunächst als parasitär und deformierend, da das metasprachliche Zeichen das objektsprachliche Zeichen usurpiere und absorbiere. Die Bedeutung der zweiten Ebene schaffe wirkmächtige Bilder, die enthistorisiert und auf diese Weise naturalisiert würden. Die dadurch gestifteten Mythen würden dazu benutzt, gesellschaftliche Phänomene und Zustände nicht nur zu erklären, sondern auch zu rechtfertigen. In einer späteren Arbeit gesteht Barthes diesem Mechanismus allerdings auch ein befreiendes Potenzial zu. Die denotative erste Ebene des Bezeichnungsprozesses suggeriere schließlich, dass einem Signifikanten ein und nur ein einziges Signifikat zugeordnet sei. Die konnotative zweite Ebene hingegen könne die Denotation des Textes unterlaufen.³⁵ Auf ihr würden Zeichen mehrdeutig, Bedeutungen würden hier nicht zwangsläufig fixiert, sondern vielmehr potenziell pluralisiert. Ob dieses Angebot zum Nachdenken über verschiedene Interpretationsmöglichkeiten angenommen wird, ist eine andere Frage. Mit    

Barthes, Mythen, S. 297. Barthes, Mythen, S. 297. Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen 2006, S. 9. Vgl. Roland Barthes: S/Z. Frankfurt a. M. 62012 (erstmals Paris 1970), S. 14.

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welchen Signifikaten etwa das Publikum des Wigalois das Zeichen ‚Grabmal‘ auf der konnotativen Ebene zu einem Zeichen zweiter Ordnung verbindet und welche Art von Mythos es auf diese Weise konsumiert und perpetuiert, hängt davon ab, in welches System aus kulturellen und literarischen Regeln und Codes es Japhites Grabmal als komplexes Zeichensystem einordnet. Je nachdem, ob das Publikum einen weltlichen oder einen geistlich gefärbten Code in Anschlag bringt oder ob es beide Codes als mögliche Entschlüsselungsprinzipien in Betracht zieht, kann es das Grabmal der Japhite als Träger unterschiedlicher Einzelbedeutungen wie auch Bedeutungskomplexe betrachten.

Einschlüsse und Ausschlüsse Während von dem getöteten Roaz keine Spur bleibt, fällt der tote Körper Japhites in die Obhut des Siegers, der ihn aufwändig bestatten lässt. Japhites Sarg ist aus kostbaren Materialien gefertigt: Der Sarkophag selbst besteht aus zwei zusammenpassenden Teilen, die aus Edelsteinen gemacht sind – einem Hyazinth, der den Körper aufnimmt, und einem Saphir, der den Körper im Hyazinth bedeckt. Zwei ewig brennende Balsamlichter im Inneren sowie ein großer goldener Ring in Form zweier Hände, die um die Steine herumgelegt sind, schmücken den Sarg. Diese Elemente – Edelstein, duftendes Licht, Goldring – werden nach der Paraphrase der Grabinschrift nochmals genannt: Beslozzen wart der edel stein. / an ietwederm orte schein / von golde ein rinc spanne wît; / dâ mit was zer selben zît / der saphir ûf den sarc gehaben. / von golde ein rouchvaz was ergraben / besigelt ûf den jâchant, / dar inne man zallen zîten vant / mit süezem smacke brinnen dâ / diu reinen thymîâmatâ (W 8290 – 8299). Der Edelstein wurde geschlossen. An beiden Enden glänzte ein Ring aus Gold, eine Spanne im Durchmesser. Damit wurde da der Saphir auf den Sarg gehoben. Ein Räucherfass aus Gold, das mit Eingravierungen versehen war, wurde auf dem Hyazinth versiegelt. Darin fand man stets mit süßem Duft edles Rauchwerk brennen.

Die gesamte Textstelle, in der von Japhites Sarg die Rede ist, steht im Zeichen des Einschließens, Absonderns und Hervorhebens. Im Mittelpunkt aller Umhüllungen befindet sich der Leichnam Japhites. Er wird durch die beiden ihn umschließenden Edelsteine von seiner Umgebung abgetrennt. Einen rahmenden Effekt haben auch die Balsamlichter, die im Inneren des Sargs zu Häupten und zu Füßen des Leichnams sowie außen auf der Oberfläche des Hyazinths brennen. Goldene Ringe dienen dazu, die äußeren Grenzen dieses Behältnisses zu markieren: Die beiden Enden des Sarges werden von zwei goldenen Ringen gekennzeichnet, während ein großer goldener Ring insgesamt den Sarg umklammert. Diese metallenen Requisiten umschließen die Tote und verweisen darauf, dass das kostbare Aufbewahrungsbehältnis für die Ewigkeit gemacht ist: Die Ringe haben keinen Anfang und kein Ende. Von dem Balsam im Inneren des Sargs erfährt man zudem, dass er noch heute genauso brenne wie damals,

3.2 Finale Gegenständlichkeit

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als man ihn erstmals angezündet habe. In Japhites Mausoleum ist somit der Verlauf der Zeit außer Kraft gesetzt. Auch der Sarg ist von seiner Umgebung abgesondert und eingehüllt. Vom Fußboden des Raums, in dem er sich befindet, wird er abgehoben, indem man ihn auf zwei ehernen Säulen platziert. Eingeschlossen wird er zudem nicht nur von allen Seiten durch die mit Balsamduft erfüllte Luft, sondern auch von einem eigenen Gebäude, von dessen Form und Ausstattung man im Anschluss an die Beschreibung des Sargs erfährt: sus wart der sarc gehêret, / grôz richeit dran gekêret, / under einem [ge]welbe märmelîn; / der gap wider ein ander schîn, / rôt, grüene, weitîn und gel. / daz gewelbe daz was sinwel, / mit gemælde wol gezieret, / von golde geparrieret. / ditz was der heiden bethûs. / der rîche künic Artûs / möhte mit aller sîner habe / die gezierde an dem grabe / niht hân erziuget und den stein, / dô er aller rîchest schein, / dar inne diu vrouwe bestatet was. / der estrich was als ein glas / lûter, grüene, spiegelvar (W 8300 – 8316). Auf diese Weise wurde der Sarg geschmückt und große Kostbarkeit aufgewandt unter einem marmornen Gewölbe. Der Marmor gab einen Widerschein, rot, grün, blau und gelb. Das Gewölbe war rund, mit Gemälden schön verziert und mit Gold verziert. Dies war das Gebetshaus der Heiden. Der reiche König Artus hätte mit all seinem Besitz den Zierrat an dem Grabmal und den Stein, in dem die Dame bestattet worden war, nicht anfertigen lassen können, nicht einmal auf dem Gipfel seines Reichtums. Der Fußboden war wie aus Glas, klar, grün und spiegelblank.

Der Sarg wird in einem Bauwerk aufgestellt, das der Erzähler als der heiden bethûs, also als Gebetshaus oder Tempel der ‚Heiden‘ bezeichnet. Dieses Gebäude aus buntem Marmor mit seinen Gemälden, seinem Goldschmuck und dem spiegelnden Fußboden ist ähnlich sorgfältig und aufwändig gefertigt wie der Sarg, der sich darin befindet. Es bildet nach dem Sarg eine weitere Hülle, die sich um die tote Frau schließt. Die beiden kostbaren Hüllen verweisen auf die Kostbarkeit dessen, was sie beinhalten. Zudem verbergen sie ihren Inhalt im selben Zug, in dem sie seinen Wert nach außen hin und für jedermann öffentlich sichtbar und sinnlich erfahrbar machen, und dienen damit mehreren Zwecken auf einmal: Sie bewahren Japhites Körper für die Ewigkeit auf, sie entrücken ihn der alltäglichen Erfahrungswelt und sie heben seine Aufbewahrungswürdigkeit, Besonderheit und Kostbarkeit preisend hervor. Gleichzeitig werden in und durch Japhites Mausoleum aber auch zwei Ausschlüsse praktiziert. Erstens schließen der Sarg und das Grabmal den Körper des toten Roaz aus. Sein Leichnam kann gar nicht bestattet werden, da rechtzeitig die Mächte des Bösen Anspruch auf ihn erhoben haben: Rôaz der wart verstolen dan / zehant von der tievel schar / daz sîn dâ niemen wart gewar / unz daz man in ûz solde tragen (W 8136 – 8139.). Roaz wurde gleich darauf von der Schar der Teufel heimlich mitgenommen, sodass niemand es bemerkte, bis es daran ging, ihn hinauszutragen.

Aus dem Verschwinden von Roaz’ Leichnam folgt, dass Japhite, die doch ihren eigenen Worten zufolge niemals von ihrem Geliebten getrennt werden wollte, allein in

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ihrem Sarg zu liegen kommt, obwohl sie kurz vor ihrem Tod noch bekräftigt hatte, um jeden Preis im Jenseits mit Roaz wiedervereint werden zu wollen. Da Roaz’ Körper buchstäblich vom Teufel geholt wurde und Wigalois sich um seine Beerdigung somit keine Gedanken zu machen braucht, signalisiert Japhites einsame letzte Ruhestätte die endgültige Trennung der Dame von ihrem Mann. Das Grabmal steht somit gleichermaßen für die christliche Vereinnahmung der ‚heidnischen‘ Frau, deren triuwe als höchste Tugend im Text mehr als ein Dutzend Mal beschworen wird,³⁶ und für den restlosen Exorzismus des ‚heidnischen‘ Mannes, der mehrmals als ungetriuwe oder âne triuwe bezeichnet wird.³⁷ Auffällig ist zweitens auch, dass nicht nur Japhites Grabmal explizit etwas ausschließt, sondern dass es auch selbst als Ganzes ausgeschlossen wird. Zu Beginn der Bestattungsepisode heißt es, dass man die Dame Japhite vor das Tor trägt (W 8228 – 8229). In der Folge lässt man zwar ihrem toten Körper durch Absonderung und Hervorhebung übergroße Ehren zuteilwerden. Die mehrfachen Einschließungen und Umhüllungen sind aber zugleich mit einer bedeutsamen Exklusion verbunden: Leichnam, Sarg und Tempel befinden sich nicht innerhalb der Burg Glois, sondern davor. Im Herrschaftssitz des christlichen Siegers Wigalois wird für den Leichnam der ‚heidnischen‘ Frau kein Platz geschaffen. Das bethûs der ‚Heiden‘ erweist sich zudem in dem christianisierten (oder präziser: in dem re-christianisierten) Territorium als eigenartiger Anachronismus. Indem Wigalois es vor den Toren der Burg stehenlässt und es von einer religiösen Kultstätte in ein Bauwerk verwandelt, das als Grablege für die verstorbene ‚Heidin‘ dient, verleiht er dem Ort erinnernden, beinahe musealen Charakter. Auf diese Weise wird einerseits die Kostbarkeit des toten Frauenkörpers inszeniert, indem man ihn wie ein Schmuckstück in einem aus wertvollen Materialien gefertigten Schmuckkästchen verwahrt. Andererseits wird der Leichnam durch diese Einschließung aber auch aus dem Zentrum des Geschehens und der Macht entfernt. Japhite ist von einer lebendigen Figur zu einem schmucken Fossil geworden, wie ein in einen Bernstein eingeschlossenes Insekt. Am Ende der Begräbnisszene heißt es, dass Japhites Damen und das übrige Gesinde sich zu Wigalois begeben (W 8325 – 8328). Damit verlagert sich der Fokus der Erzählung wieder vollständig auf Wigalois, von Japhite ist nun keine Rede mehr. Mit dem beschrifteten Grabmal wird ein Zeichenkomplex errichtet, der unter anderem zwei Dinge zum Ausdruck bringt: Erstens wird der männliche ‚heidnische‘ Kontrahent des Protagonisten restlos entfernt, die widerständige ‚Heidin‘ aber wird von der Hand des Siegers eingeschlossen, konserviert und in ein Schmuckstück verwandelt. Das heißt: Der ‚heidnische‘ Gegner wird exorziert, sein weibliches Gegenstück in eine vorzeigbare Trophäe transformiert. Zweitens kann die Frau in dieser Form dazu benutzt werden, zum Nutzen des Siegers zwischen geistlichen und welt-

 Vgl. W 7461, 7610, 7746, 7779, 7880, 7901, 8016, 8030, 8250, 8270, 8272, 8276, 8288. Zu Japhite als Vorbild der triuwe vgl. Hahn, Gott und Minne, S. 57.  Vgl. W 3673, 3679, 3683, 4719, 7625, 7542.

3.2 Finale Gegenständlichkeit

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lichen Idealen sowie zwischen Christen und ‚Heiden‘ zu vermitteln. Dies hat weitreichende Auswirkungen für die Folgehandlung. Japhite selbst gerät spätestens nach dem Besuch ihrer beiden Brüder, die ihren Körper eigentlich mit nach Hause nehmen wollen, ihn dann aber doch auf Glois zurücklassen, in Vergessenheit – keine Figur spricht mehr über Japhite, niemand gedenkt ihrer, niemand besucht ihr Grab oder liest die Inschrift auf dem Sarg. Damit ist die tote Liebende auch aus der Handlung ausgeschlossen.³⁸

Geistliche und weltliche Deutungsangebote Dass es sich bei Wigalois um einen höfischen Ritter mit Zügen eines christlichen Heilsbringers handelt, wurde in der Forschung schon häufig festgestellt. Klaus Grubmüller zufolge ist Wigalois ein „unerschrockener Kämpfer im Dienste Gottes, er ist eine Art Musterbild des im göttlichen Glauben kämpfenden Ritters, miles christianus im präzisesten Sinne und – auf das Ende gesehen: rex christianus. Der Kampf gegen das Böse ist im Wigalois immer zugleich Kampf gegen die Heiden, ist Kreuzzug in einem weiteren Begriff. […] Der Herrscher ist im Dienste Gottes immer auch Heilsbringer“.³⁹ Volker Mertens spricht von Wigalois als einem „weltliche[n] Legendenheiligen“,⁴⁰ Stephan Fuchs von einem hybriden „Minneritter, Artusmärchenheld[en] und Auserwählte[n] mit legendenhaften Zügen zugleich“,⁴¹ Claudia Brinker von „einem miles christianus mit direkter Verbindung zu Gott“:⁴² Wigalois „ist Instrument Gottes, entäußert sich stufenweise ganz seiner selbst, vertraut sich an Stelle der weltlichen (Nereja) und jenseitigen (Lar) der göttlichen Führung an, erkennt seine eigene Niedrigkeit, ‚ruht‘ im wahrsten Sinne des Wortes in Gott und führt seine Taten explizit in der Nachfolge Christi aus“⁴³. Wirnts Wigalois fügt sich damit mustergültig ein in den „weltgeschichtlich relevanten Wechsel des Diskurses von den Feinen zu den Frommen um 1220“, von dem Karl Bertau spricht.⁴⁴

 Es ergeht Japhite ähnlich wie Gahmuret im Parzival, dessen Körper ebenso wie der von Japhite unverweslich aufbewahrt wird, „während das in den beschrifteten Dingen materialisierte und so scheinbar gesicherte Andenken ‚versiegelt‘ wird und fast spurlos verschwindet“. Sophie Marshall: Körper – Ding – Schrift im ‚Parzival‘ und ‚Titurel‘, in: ZfdPh 137 (2018), S. 419 – 452, hier S. 429.  Klaus Grubmüller: Artusroman und Heilsbringerethos. Zum ‚Wigalois‘ des Wirnt von Gravenberg, in: PBB 107 (1985), S. 218 – 239, hier S. 236 – 237.  Volker Mertens: ‚gewisse lêre‘. Zum Verhältnis von Fiktion und Didaxe im späten deutschen Artusroman, in: Artusroman und Intertextualität. Hg. von Friedrich Wolfzettel. Gießen 1990, S. 85 – 106, hier S. 87.  Fuchs-Jolie, Hybride Helden, S. 218.  Brinker, Jenseitsreise, S. 108.  Brinker, Jenseitsreise, S. 105.  Karl Bertau: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200. München 1983, S. 107.

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Wigalois ist beides: ein höfischer Ritter, unterwegs im Auftrag der Schwachen und Gekränkten und mit dem Ziel, seine Minnedame Larie zu heiraten; und ein Krieger Gottes mit der Mission, das Böse zu bekämpfen und den christlichen Glauben zu verbreiten. Besonders deutlich wird dies beim Duell mit dem Teufelsbündler Roaz. Ihn besiegt Wigalois sowohl aus eigener Kampfkraft und mithilfe des Anblicks der anwesenden schönen Damen als auch mit der Unterstützung Gottes, der ihm dabei hilft, den Teufel mitsamt seiner Zauberwolke zu vertreiben. Hier wie im gesamten Text steht Wigalois sowohl für spirituell-christliche als auch für weltlich-höfische Werte ein. Zum Vergleich: Roaz wird zwar ebenfalls als edler Kämpfer und angemessener höfischer Gegner für Wigalois gekennzeichnet, hat sich aber durch seinen Pakt mit dem Teufel weitestgehend für Sympathiezuwendungen von Seiten des Erzählers disqualifiziert.⁴⁵ Zwar muss auch Roaz’ Geliebte Japhite sterben, weil die Absolutheit und Radikalität ihrer Liebe dies verlangt. Immerhin aber äußert der Erzähler sein Bedauern über ihren Tod. Zudem ermöglicht Wigalois den Gefolgsleuten der Verstorbenen, ihrer Trauer im Zuge der Bestattung Ausdruck zu verleihen. Obgleich die Dame als ‚Heidin‘ stirbt, hat sie aus der Perspektive dessen, der sie bestattet, und dessen, der davon erzählt, Teil an dem Wertekanon, den auch der Protagonist vertritt. Ein Hinweis hierauf sind die Materialien, aus denen Japhites Mausoleum besteht. Der Schmuck, mit dem Japhite im Tod geziert wird, besteht aus Gold und Erz, aus Hyazinth, Saphir und Marmor. Nun ist es so, dass etwas, das – wie Florian Kragl in Bezug auf das vergleichbar prächtige Grabmal in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur feststellt – „in der mittelalterlichen Literatur dermaßen strahlt und glänzt, […]schon alleine dadurch in den Geruch des Allegorischen [gerät]“.⁴⁶ Um was für eine Art von Allegorie aber handelt es sich bei Japhites Mausoleum? Wofür stehen die Zeichen, aus denen es zusammengesetzt ist, und wofür steht es zeichenhaft als Ganzes? Geht man grundsätzlich von einer möglichen allegorischen Dimension des Mausoleums aus, dann kann man etwa versuchen, Japhites edelsteinernen Sarkophag im Sinne der geistlichen Edelsteinallegorese zu deuten, die von manchen Autoren weltlich-höfischer Texte rezipiert und zuweilen weiterentwickelt und neu perspektiviert wurde. Aus der Sicht der christlichen Hermeneutik sind der Hyazinth und der Saphir, die das Gefäß und den Deckel des Sargs bilden, Bedeutungsträger, die über die innerweltliche Dimension des Begräbnisses einer adligen Dame hinausweisen. Beide Edelsteine werden in der Bibel im Zusammenhang mit der Beschreibung des himmlischen Jerusalem genannt: fundamenta muri civitatis omni lapide pretioso ornata.

 „Es hilft Roaz […] gar nichts, dass zuletzt der Teufel, dem er sich verschrieben hat, von ihm gewichen ist, dass er Wigalois einen fairen Kampf liefert und dass seine Liebe zu Japhite vom Erzähler in den höchsten Tönen gepriesen werden kann. Er muss letztlich eliminiert und getötet werden […].“Schulz, Das Nicht-Höfische, S. 404.  Florian Kragl: Bilder-Geschichten. Zur Interaktion von Erzähllogiken und Bildlogiken im mittelalterlichen Roman. Mit Beispielen aus ‚Flore und Blanscheflur‘ und ‚Parzival‘, in: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Florian Kragl und Christian Schneider. Heidelberg 2013, S. 119 – 151, hier S. 128 – 129.

3.2 Finale Gegenständlichkeit

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fundamentum primum jaspis. secundus sapphyrus. […] undecimus hyacinthus […] (Offb 21,19 – 20: Und die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren geschmückt mit allerlei Edelsteinen. Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir, […] der elfte ein Hyazinth […]). Da das ‚himmlische‘ oder das ‚neue Jerusalem‘ einen zentralen Gegenstand der christlichen Heilslehre bildete, war es für ein höfisches Publikum vermutlich nicht schwierig oder abwegig, einen Zusammenhang zwischen dem Saphir und dem Hyazinth einerseits und dem in der Bibel beschriebenen jenseitigen Ort andererseits herzustellen.⁴⁷ Zugegeben: Um die Textstelle zu deuten, in der von Japites Bestattung die Rede ist, muss man nicht unbedingt davon ausgehen, dass hier eine ‚implizite Allegorie‘ vorliegt, und folglich einen Bezug zwischen dem Sarg und dem himmlischen Jerusalem oder anderen biblischen Orten und Gegenständen herstellen.⁴⁸ Man kann die Nennung der Edelsteine auch schlicht als Hinweis auf die außerordentliche Pracht und Schönheit des dargestellten Grabmals und somit als Verweis auf große Wertschätzung für und tiefe Trauer um eine tugendreiche Dame betrachten. Darauf immerhin, dass eine Suche nach Bedeutungsaspekten, die über den sensus litteralis hinausgehen, im Zusammenhang mit Japhites Grabmal grundsätzlich angemessen sein könnte, gibt der Erzähler selbst einen Hinweis, wenn er den goldenen Ring, der den Sarg umschließt, als Symbol für eine abstrakte Tugend interpretiert: dar an was ir triuwe schîn – / zwô hende nâch der triuwe (W 8250 – 8251: Daran zeigte sich ihre große Treue – er bestand aus zwei Händen als Zeichen der Treue). Ob allerdings neben dem metallenen Schmuck auch die Edelsteine als Träger einer höheren Bedeutung betrachtet und interpretiert werden können und sollen, lässt der Text offen. Welche Möglichkeiten zur Allegorese sich dem Rezipienten beim Lesen oder Hören der Grabmalsekphrase erschließen, hängt letztlich davon ab, über welches biblische Vorwissen er verfügt, was er an weltlicher, höfischer Literatur kennt und wie es um seinen Willen zur Anwendung exegetisch-hermeneutischer Verfahren bestellt ist: Auf einer denotativen Ebene verweist das Grabmal mit den Bestandteilen Schrift, Objektgruppe und Raum schlicht auf eine Inschrift, auf ein kostbares Behältnis und auf einen prächtigen Tempel. Auf einer konnotativen Ebene jedoch hält die Beschreibung des Mausoleums eine weitere Anzahl von Interpretationsangeboten bereit, die das fiktive Ensemble zu einem weitaus komplexeren Zeichensystem machen. Aus  Zur Verwendung von Edelsteinen bei der Erbauung des Graltempels und zum Verweis auf das himmlische Jerusalem beispielsweise im Jüngeren Titurel vgl. JT Str. 348 – 367 und 517.  Für Hinweise zur älteren Forschungsdisskussion über die allegorische Dimension von Texten, die ihre eigene, explizite Auslegung nicht selbst mitliefern, vgl. Christel Meier: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 1– 69, hier S. 8, FN 30. Jüngere Vorschläge, wie man mittelalterliche Methoden der Dingallegoresen und moderne Methoden der Material Culture Studies zusammendenken könnte, finden sich bei Romana Kaske: Kreaturen und Artefakte in mittelhochdeutscher Literatur. Zum Verhältnis von Bedeutungskunde und Dingforschung, in: Das Verhältnis von ‚res‘ und ‚verba‘. Zu den Narrativen der Dinge. Hg. von Martina Wernli und Alexander Kling. Freiburg, Berlin, Wien 2018, S. 53 – 78.

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dieser Perspektive kann jedes Detail des fiktiven Ensembles sowohl einzeln als auch in Verbindung mit anderen Elementen als Zeichen gedeutet werden, und wie in jedem Text sind die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten gleichzeitig und nebeneinander präsent, ohne dass sie notwendigerweise von jedem Rezipienten erkannt und dechiffriert werden müssen. Der Saphir beispielsweise wird in lateinischen und deutschen exegetischen Texten aufgrund seiner leuchtend blauen Farbe häufig mit dem Himmel als Wohnsitz Gottes in Verbindung gebracht. Im St. Trudperter Hohenlied, in den Vorauer Büchern Mosis, im Rheinischen Marienlob und bei Heinrich von Mügeln verweist er zudem auf die Reinheit, Keuschheit und Friedfertigkeit Mariens.⁴⁹ Für jemanden, der mit diesen und ähnlichen Texten vertraut ist, kann es mithin so aussehen, als würde die von einem Saphir bedeckte Japhite symbolisch unter dem Himmel des christlichen Gottes zur Ruhe gebettet und mit einem marianischen Attribut bedacht. Unter einem künstlichen saphirblauen Himmel erhält die treue Tote auf diese Weise Anteil an der Lauterkeit und Beständigkeit der Gottesmutter. In Heinrichs von Kröllwitz VaterunserAuslegung aus der Mitte des 13. Jahrhunderts deutet das reine Blau des Steins zudem auf die reinigende Kraft der Beichte, die die dunkle Farbe menschlicher Missetaten entfernen soll.⁵⁰ Eine solche Interpretation würde die Überlegungen des Erzählers zu Japhites ‚Tränentaufe‘ stützen, von der er hofft, dass sie die Seele der Dame trotz ihres Festhaltens an der ‚heidnischen‘ Religion vor der ewigen Verdammnis retten möge. Schwieriger als die allegorischen Bedeutungen des Saphirs lassen sich die des Hyazinths fassen. Das liegt unter anderem daran, dass dieser in der mittelalterlichen Literatur eine Art „Doppelleben“ führt, wie Ulrich Engelen es ausdrückt:⁵¹ In geistlichen Diskursen gilt er als blau, in weltlichen als rot.⁵² In seiner Eigenschaft als blauer Edelstein wird der Hyazinth, ähnlich wie auch der Saphir, als Symbol des Himmels und jener Menschen gedeutet, die sich an allem Himmlischen orientieren. Manche geistliche Autoren sprechen auch davon, dass der Hyazinth ebenso wie der Himmel  Vgl. Ulrich Engelen: Die Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1978, S. 358 – 360.  Daz der stein ist ouch blâ, / daz bediutet uns dar nâ, / daz wir an riuwen mzen / vnser sunde bzen. / Swenne vns unser missetât / swarz unde horich gemachet hât, / wolle wir nâch dem steine / dan wider werden reine, / sô wir uns missehandelen, / sô sule wirz aber wandelen, / als uns der bîhtêre lêre saget (V. 1681– 1691: Dass der Stein also blau ist, bedeutet für uns folglich, dass wir unsere Sünde in Reue büßen müssen. Wenn uns unsere Missetat schwarz und schmutzig gemacht hat, dann wollen wir nach dem Vorbild des Steins wieder rein werden. In dem Maß, in dem wir übel handeln, müssen wir Wiedergutmachung leisten, wie uns die Lehre der Beichtiger sagt). Heinrich’s von Krolewiz ûz Missen: Vater Unser. Hg. von Georg Christian Friederich Lisch. Quedlinburg, Leipzig 1839.  Engelen, Edelsteine, S. 312.  Zu den beiden ‚Hyazinthfarben‘ innerhalb eines geistlichen Diskurses vgl. den Kommentar Haimos von Auxerre zum Hohelied, in dem er im Zusammenhang mit Versikel 92 (Testudo manuum tornatile talis ut aurum, utraque mirificis est palma repleta iacinthis) diskutiert, ob bei der Deutung an den blauen Stein oder an die purpurrote Pflanze zu denken sei. Williram von Ebersberg: Expositio in Cantica Canticorum und das ‚Commentarium in Cantica Canticorum‘ Haimos von Auxerre. Hg. und übersetzt von Henrike Lähnemann und Michael Rupp. Berlin, New York 2004, S. 168.

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seine Farbe ändere und zuweilen klar und zu anderen Zeiten trüb sei.⁵³ Eine Trübung des Steins korrespondiert mit der Notwendigkeit, sich als in einer fehlerhaften Welt lebender Mensch wechselhaften und manchmal widrigen Lebenslagen fügen zu müssen. Der Hyazinth ist damit unter anderem der Stein derer, die noch in der Welt leben und in ihr ‚trüb werden‘ können. Ganz unpassend wäre die Bestattung Japhites in einem solchen Stein nicht, da sich ja die edle ‚Heidin‘ unter anderem dadurch auszeichnet, dass sie sich zwar durch ihre Tugendhaftigkeit dem Himmel annähert, durch ihr Festhalten am falschen Glauben aber den Eintritt in das himmlische Reich Gottes eigentlich verwirkt. Zugleich ist es allerdings nicht sehr wahrscheinlich, dass beim Rezipieren des Wigalois, in dem explizit von einem rôten jâchant (W 8231) die Rede ist, die geistliche Deutung des farblich wandelbaren blauen Hyazinths aktualisiert werden soll. Für einen in der geistlichen Allegorese bewanderten Leser liegt eine andere Assoziation näher. Das Juwel, in dem Japhite bestattet wird, ist, ähnlich wie die Hyazinthsteine bei Heinrich von Veldeke, Wolfram von Eschenbach und Heinrich von dem Türlin, leuchtend rot. Rote Edelsteine aber werden in der geistlichen Literatur traditionell mit der Passion Christi am Kreuz und, daran anschließend, mit dem Blut der Märtyrer in Verbindung gebracht. Heinrich von Kröllwitz etwa vergleicht Menschen, die für Gott und das ewige Leben ihr Blut vergossen haben, mit dem blutroten Rubin (Vater unser 1653 – 1662). Auch die violetten oder rötlichen Steine Amethyst und Sarder werden als typischer Schmuck der Märtyrer betrachtet.⁵⁴ Von diesem Standpunkt aus kennzeichnet der Hyazinth, aus dem im Wigalois Japhites Sarg besteht und der nicht die blaue Farbe des Himmels, sondern die Purpur- und Blutfarbe der Hyazinthblume trägt, die in ihm aufbewahrte Tote als Märtyrerin, wenn auch als eine ganz besondere – ist sie doch ganz explizit nicht für den christlichen Glauben gestorben, sondern aufgrund ihrer Liebe zu dem Teufelsbündler Roaz. Japhite ist eine Märtyrerin der Liebe, und zwar nicht eine Märtyrerin der Liebe zu Gott, sondern eine der ganz und gar weltlichen Minne. Ihr Hyazinthsarg trägt auch deren Farbe, ohne dass jedoch der Text eindeutig zu verstehen gibt, ob die Materialität des Gegenstands tatsächlich in diesem Sinne oder in einem anderen auszulegen ist.⁵⁵ für die gesamte Episode trifft zu, was Michael Waltenberger in Bezug auf die Minnerede Der rote Mund zum Thema des

 Vgl. Engelen, Edelsteine, S. 313 – 315.  Zum Amethyst vgl. Engelen, Edelsteine, S. 277– 280. Zum Sarder vgl. Engelen, Edelsteine, S. 365 – 368.  Zur Farbe Rot als Farbe der brennenden Liebe und des Liebesschmerzes vgl. Christel Meier: The Colourful Middle Ages. Anthropological, Social, and Literary Dimensions of Colour Symbolism and Colour Hermeneutics, in: Tradition and Innovation in an Era of Change. Hg. von Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra. Frankfurt a. M. 2001, S. 227– 256, hier S. 242– 246. Vgl. auch Christel Meier und Rudolf Suntrup: Zum Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. Einführung zu Gegenstand und Methoden sowie Probeartikel aus dem Farbenbereich ‚Rot‘, in: Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 390 – 478.

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möglichen Nebeneinanders unterschiedlicher Bedeutungspotenziale ein und desselben Phänomens feststellt. Waltenberger argumentiert, dass die rote Farbe weniger so zu verstehen [ist], dass in ihr die Differenzen zwischen geistlichen und erotischen Bedeutungen transzendierend verschmolzen seien, sondern eher so, dass das sich ausbreitende Rot im Akt der Wahrnehmung einen Raum schafft, in dem konkurrierende Bedeutungen sich ‚gleich-gültig‘ überlagern können. Nicht die Vorstellbarkeit einer alle Differenzen übersteigenden Einheit wäre das Ziel der Textstrategie, sondern die ephemere Wahrnehmung einer ‚Eintönigkeit‘, in der die Signifikanz des Roten nicht mehr durch den bedeutungskonstitutiven Bezug der proprietas auf eine bestimmte res festgelegt ist, sondern die potentiell eine Vielfalt geistlicher wie profaner Bedeutungen der roten Farbe enthält.⁵⁶

Die Rezipientinnen und Rezipienten nicht nur der Minnerede, sondern auch des Wigalois müssen selbst entscheiden, welchen der ihnen bekannten Diskurse über die Farbe Rot sie ihrer Interpretation zugrunde legen oder ob sie weltliche und geistliche Diskurse gleichermaßen gelten lassen. Der Roman selbst macht keine Aussage darüber, wie Japhites in so vieler Hinsicht schillernder Hyazinth zu interpretieren ist. Verschiedene Sichtweisen sind möglich, ohne einander auszuschließen: Einerseits rückt die Zusammensetzung der Materialien des Grabmals die begrabene Frau in die Nähe Gottes, Marias und der christlichen Märtyrer. Dass der ‚Heide‘ und Teufelsbündler Roaz eine solche christlich-allegorische Deutung kaum beabsichtigt haben kann, heißt nicht, dass sie unmöglich oder ungültig ist. Es zeigt nur, dass der Erbauer des Grabmals keinen Einfluss darauf besitzt, wie das Bauwerk und sein Inhalt nach seinem eigenen Tod semantisiert werden. Auch und ausgerechnet mittels einer Inszenierung ‚heidnischen‘ Prunks sorgt der ‚Ungläubige‘ dafür, dass Japhite der christlichen Sphäre einverleibt werden kann. Andererseits deutet das Grabmal aber auch darauf hin, dass Japhite eine Protagonistin der höfischen Welt ist. Dazu passt, dass ihr roter Märtyrerinnensarkophag nicht nur von einem blauen Stein bedeckt wird, sondern auch auf einem grünen Fußboden steht. Japhites letzte Ruhestätte ist ein reduzierter, dafür aber auch unvergänglicher locus amoenus, in dem Wiese und Himmel aus kostbaren Mineralien gebildet werden.⁵⁷ Dieser liebliche Ort ähnelt der Liebesgrotte mit ihrem grasgrünen Fußboden aus Marmor, in der sich Tristan und Isolde nach ihrer Verbannung von Markes Hof aufhalten.⁵⁸ Wenn von dem Boden in Japhites Mausoleum gesagt wird,

 Michael Waltenberger: ‚Diß ist ein red als hundert‘. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede ‚Der rote Mund‘, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger. Berlin 2006, S. 248 – 274, hier S. 265.  Vgl. Dorothea Klein: Amoene Orte. Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung, in: Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hg. von Sonja Glauch, Susanne Köbele und Uta Störmer-Caysa. Berlin, New York 2011, S. 61– 84.  Über den Fußboden heißt es im Tristan: und unden was der esterîch / glat unde lûter unde rîch, / von grüenem marmel alse gras (Tristan 16717– 16719: Und unten der Boden war glatt, rein und kostbar, aus grünem Marmor, wie Gras). Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1: Text. Hg. von Karl Marold. Unver-

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dass er lûter, grüene, spiegelvar (W 8316: klar, grün, spiegelnd) ist, dann spiegelt sich in ihm nicht nur intratextuell alles, was sich physisch oberhalb von ihm befindet. Auf einer intertextuellen Ebene spiegelt sich in der Ekphrase auch der Liebesort des berühmten unglücklichen Liebespaares Tristan und Isolde. Durch die Wahl der Materialien kommt in Japhites Mausoleum somit auch die passionierte Liebe zur Anschauung, die sie das Leben gekostet hat.

Christliche und nicht-christliche Lesarten Dass es sich bei Japhites Grabmal um einen Zeichenkomplex handelt, der geistliche und weltliche, aber auch christliche und nicht-christliche Konnotationen bereithält, wird noch deutlicher, wenn man die intertextuellen Verweise mitliest, die Wirnt von Gafenberg in seine Beschreibung des Ensembles aus verschiedenen Materialien und Objekten, Schrift und Raum eingebaut hat. In die deutsche höfische Literatur eingeführt wurde die Vorstellung von Edelsteinsärgen durch Heinrich von Veldeke in seiner Bearbeitung des französischen Roman d’Eneas. ⁵⁹ Wirnt übernimmt viele Elemente aus Heinrichs Beschreibungen der Gräber Didos, Pallas’ und Camillas. Was die verwendeten Materialien, ihre Anordnung und die Raumgestaltung angeht, so finden sich im Wigalois vor allem Parallelen zu den Gräbern des Pallas und der Camilla, die beide im Krieg um Latium fallen – Pallas auf der Seite des Protagonisten Eneas, Camilla auf der Gegenseite. Haiko Wandhoff zeigt in seiner Studie zur Ekphrasis im Mittelalter, wie Heinrich von Veldeke den jungen Pallas im Medium seines Mausoleums „zumindest in Ansätzen als eine Art Märtyrer des römischen Reiches und somit auch der christlichen Heilsgeschichte“ zeichnet.⁶⁰ Heinrichs Hinweis, dass der Leichnam des ‚heidnischen‘ Kriegers bei der Öffnung seines Grabes zweitausend Jahre nach seinem Tod – also zur Zeit des Erzählers und damit in einem christlichen Zeitalter – wunderbarerweise unverwest und bei noch immer brennender Lampe vorgefunden worden sei, lässt Haiko Wandhoff zufolge an die Öffnung von Heiligengräbern denken.⁶¹ Das Grab der Amazone Camilla hingegen zeichne sich zwar durch eine nach dem Himmel strebende, vertikale Ausrichtung aus. Letztlich seien aber all seine Wunder nur als

änderter fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder. Berlin, New York 2004.  Dass Heinrichs Eneasroman in Wirnts Augen eine wichtige Referenz darstellt, zeigt sich daran, dass er dessen Plot in Form einer knappen Binnenerzählung wiedergibt. In der Episode um den Schönheitspreis trifft Wigalois die Tochter des persischen Königs in ihrem Zelt sitzend an, als ihr gerade eine Jungfrau die Geschichte von der Zerstörung Trojas und der Flucht des Eneas vorliest (W 2710 – 2722). Zu Heinrich von Veldeke als Pionier der deutschen Grabmalsekphrasis mit edelsteinernen Särgen vgl. Engelen, Edelsteine, S. 193 – 194.  Wandhoff, Ekphrasis, S. 99.  Vgl.Wandhoff, Ekphrasis, S. 98. Gegen diese Interpretation vgl. Hamm, Camillas Grabmal, S. 46 – 47 (FN 68).

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technische Findigkeiten von Menschenhand gezeichnet, die weniger die Nähe der Bestatteten zu Gott als vielmehr ihre ‚heidnische‘ Hybris zur Schau stellten.⁶² Das Grab der ‚Heidin‘ Camilla bilde demnach einen deutlichen Gegensatz zum Grab des ProtoHeiligen Pallas. Wirnt von Grafenberg erschafft für Japhite ein fiktives Grab, das Elemente der beiden Grabmäler des Pallas und der Camilla im Eneasroman enthält und sie variiert. Japhite wird in einem Sarg eingeschlossen, der aus einem Edelstein gefertigt ist und mit einem anderen Edelstein bedeckt wird, ebenso wie Pallas, dessen Sarg aus Prasius und Amethyst (Eneasroman 224,26 – 29 und 225,14– 15), und Camilla, deren Sarg aus Calzedon und Sardonyx besteht (Eneasroman 253,38 – 254,1). Der toten Japhite werden, ebenso wie Pallas und Camilla, zwei Gefäße mit duftenden Essenzen beigegeben (Eneasroman 224,30 – 36 und 254,2– 5). Und auch Japhites Sarg wird vom Erdboden abgehoben: In ihrem Fall geschieht das durch zwei eherne Säulen, bei Pallas im Eneasroman sind es vier Pfeiler aus Porphyr (Eneasroman 224,20 – 25), bei Camilla zwei Schwibbögen mit einem Schlussstein aus Porphyr und einer darauf fußenden, vierzig Fuß hohen Marmorsäule (Eneasroman 252,22 – 37). Alle drei Särge sind mit einem Epitaph versehen.⁶³ Eine Modifikation, die Wirnt gegenüber den Gräbern des Pallas und der Camilla einführt, ist der Umgang mit künstlicher Beleuchtung. Sowohl Pallas’ als auch Camillas Grab werden von ewig oder doch fast ewig brennenden Lampen aus Hyazinth erleuchtet, die beide so rot sind wie Blut.⁶⁴ In Japhites Mausoleum aber befindet sich keine solche Lampe. Hier ist es vielmehr der Sarg selbst, der aus einem roten Hyazinth besteht. Einem Publikum, das Heinrichs von Veldeke Eneasroman kennt und einen Bezug zwischen den Gräbern Pallas‘, Camillas und Ja-

 Vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 99 – 102. Wandhoff zufolge verkörpert das Grabmal mit seinen aus der Offenbarung bekannten Edelsteinkomponenten Camillas Wunsch, sich selbst einen eigenen Himmel zu schaffen. Joachim Hamm wendet dagegen ein, „daß in der mittelalterlichen Architekturbeschreibung – durchaus anknüpfend an das Himmlische Jerusalem – Edelsteinschmuck und Lichtfülle allgegenwärtig sind, aber nicht in jedem Fall eine sinnerschließende Assoziation zur Stadt der Offenbarung auslösen müssen“. Hamm, Camillas Grabmal, S. 41. In Hamms Lesart stehen die Edelsteine für Camillas „ganz im Irdischen verhaftete Lust an Kostbarkeit, Luxus und Reichtum“. Joachim Hamm, Camillas Grabmal, S. 42. Beide Interpretationen, die von Haiko Wandhoff und die von Joachim Hamm, sind plausibel. Ähnlich mehrdeutig ist auch das Grabmal der Japhite im Wigalois: Seine Kostbarkeit kann sowohl auf den Reichtum der ‚Heiden‘ und die Großzügigkeit des Siegers als auch auf Japhites Verbindung zu einem christlich konnotierten Jenseits hindeuten.  Vgl. Eneasroman 225,16 – 23 und 254,9 – 26.  Über die Lampe in Pallas’ Grab heißt es: ein lampade wart dô gehangen / uber Pallases grab, / diu liehtes genûch gab, / sint daz si wart entbrant. / diu lampade was ein jachant, / sie ne was niht glas. / daz ole daz dar inne was / daz was balsam vile gût, / der jachant rôt als ein blût (Eneasroman 225,34– 226,2: Es wurde eine Lampe über dem Grab des Pallas aufgehängt, die hell leuchtete, nachdem sie entzündet worden war. Die Lampe war aus Hyazinth und nicht aus Glas. Das Öl darin war sehr kostbarer Balsam, der Hyazinth rot wie Blut.) Über die Lampe in Camillas Grab wird unter anderem gesagt: ein edel jachant granât / was diu lampade vile gût, / dorchlûhtec rôt als ein blût, / als ich û wol gesagen kan (Eneasroman 255,14– 17: Aus einem Hyazinthgranaten war die überaus kostbare Lampe, blutrot durchscheinend, wie ich euch zu berichten weiß.)

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phites herstellen kann, mag dadurch Japhites Sarkophag selbst als leuchtende Lampe erscheinen. In dieser Vorstellung fungiert als Leuchtmittel weder Asbest noch Balsam,⁶⁵ sondern der Körper Japhites selbst. Im Wigalois wird damit der tote Körper nicht von außen illuminiert. Wenn in dem bethûs der ‚Heiden‘ etwas strahlt, dann ist es der Sarg im Herzen des Mausoleums, es ist also, zumindest im übertragenen Sinn, Japhite selbst. All diese Aspekte rücken Japhite in die Nähe einer christlichen Heiligengestalt: die Beisetzung inmitten von Steinen, die aus der biblischen Vision vom himmlischen Jerusalem bekannt sind und die auf Gott, Maria und Martyrium verweisen, eine Lichtregie, die den toten Körper Japhites selbst zum Strahlen bringt, und schließlich auch die Tatsache, dass die Bestattung von einem christlichen Heilsbringer ausgerichtet wird. Insofern klingt in diesem Begräbnis eher die Bestattung des tugendhaften Pallas an als die der vermessenen Camilla. Es fällt aber auch ein Schatten auf dieses Märtyrergrab der personifizierten triuwe im Wigalois. Angefertigt und errichtet werden Sarkophag und Raum eben ausdrücklich nicht von Wigalois. Sie sind Relikte seines Widersachers Roaz, die dieser selbst noch zu Lebzeiten hergestellt hatte (W 8242– 8243), und zwar aufgrund seiner edlen Gesinnung – oder auch seines Hochmuts (W 8317– 8318: daz gewelbe hêt gemeistert dar / Rôaz durch sînen hôhen muot). Roaz’ Besitz wird nämlich sogleich mit seiner Hoffart und seinem Tod in Verbindung gebracht: er hêt âne mâze guot; / daz schein an der gezierde wol. / nu was sîn hôchvart als ein kol / mit dem lîbe erloschen gar. / sus wârn verendet sîniu jâr, / als ich iu gesaget hân (W 8319 – 8324). Sein Besitz war unfassbar groß, das zeigte sich deutlich an dem Schmuck. Nun war seine Hoffart wie ein Stück Kohle mit dem Leben völlig erloschen. So endete seine Lebenszeit, wie ich euch erzählt habe.

All sein Reichtum hilft Roaz am Ende nicht. Während Japhite mit leuchtenden Steinen geschmückt und dadurch selbst zu einer Art Leuchtkörper wird, erlischt ihr Mann wie ein Stück kurzzeitig glühende Kohle. Damit erhält aber auch das Mausoleum, das Roaz geplant und errichtet hat, Ähnlichkeit mit dem der Camilla. Wie diese glaubt auch Roaz fälschlicherweise, sich mithilfe von Macht und Reichtum seinen eigenen ‚Himmel‘ (in einem nicht-christlichen und vielleicht auch nicht-geistlichen Sinn) erbauen zu können.⁶⁶ Roaz’ Mausoleumsanlage, aber auch sein ganzer Palast mit den Mauern aus Marmor und Gold und der rätselhaften ehernen Säule mit dem Rubin (W 7060 – 7089) zeugen von dem überbordenden Reichtum und der Pracht, die in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters dem ‚heidnischen Orient‘ zugeschrieben werden.⁶⁷ Die Überlegenheit der ‚Heiden‘ über die Christen, was materielle Reichtümer angeht, wird deutlich in der Aussage, dass selbst König Artus sich mit Roaz nicht

 Vgl. Eneasroman 226,6 – 15 und 254,32– 37.  Vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 101. Vgl. auch Engelen, Edelsteine, S. 193.  Zwei berühmte Beispiele sind die Candacis-Episode in den Alexanderromanen und die GrippiaEpisode im Herzog Ernst.

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messen könne (W 8309 – 8314). Allenfalls der ebenfalls ‚heidnische‘ Baruc von Baldac habe möglicherweise ein noch prächtigeres Grabmal errichten können (W 8244– 8247). Der Verweis auf Wolframs Parzival macht deutlich, dass auch ‚heidnische‘ Pracht christlich überformt und dadurch gewissermaßen legitimiert werden kann. Denn das Grab, das der Baruc von Baldac für Gahmuret stiftet und bei dessen Schilderung auch Wolfram sich an Heinrich von Veldeke orientiert,⁶⁸ zeichnet sich dadurch aus, dass es eine heterogene Konstruktion ist.⁶⁹ Einbalsamiert, also für die Ewigkeit konserviert, und mit einem Rubin bedeckt, durch den man den Leichnam hindurchschimmern sehen kann, legt man den Ritter mit dem ganzen ‚heidnischen‘ Pomp zur Ruhe, über den der Herrscher des ‚Orients‘ im Parzival verfügt. Prompt wird der Tote, wie Gahmurets Knappe Tampanis später zu Hause erzählt, von den ‚Heiden‘, die nichts von der Bedeutung des Kreuzes, der Taufe oder des Jüngsten Gerichts wissen, wie ein Gott angebetet (P 107,19 – 20). Gerade diese aus christlich-theologischer Perspektive problematische Verwechslung eines sterblichen Menschen mit einem Gott aber macht Gahmuret noch im Tod tauglich für eine Vermittlung zwischen ‚Heiden‘ und Christen: Die „heidnische Unwissenheit bewirkt – gerade durch die Blasphemie, die in der Deifikation Gahmurets liegt –, daß sie das christliche Heilsgut tangieren“.⁷⁰ Gahmuret hat seinen Verbündeten zwar nicht die Taufe gebracht. Seine ritterlichen Tugenden und Fähigkeiten aber verleihen ihm eine umfassende Glaubwürdigkeit, die in den Augen der ‚Heiden‘ auch auf seinen Glauben abfärbt. Die Grabinschrift auf dem Diamanthelm spricht denn auch nicht ausschließlich über Gahmurets Herkunft und Status, über seine Tugenden, Verdienste und ritterlichen Taten. Sie stellt darüber hinaus auch fest, dass unterschiedliche Religionszugehörigkeiten keine unüberwindbare Barriere sein müssen: ‚er truoc den touf und kristen ê: / sîn tôt tet Sarrazînen wê / sunder liegen, daz ist wâr‘ (P 108,21– 23: ‚Die Taufe hatte er und die Religion der Christen: Es weinten Sarazenen ohne Heuchelei, als er starb, ja, das ist wahr.‘) Aus diesem Grund gestatten die ‚Heiden‘, dass Gahmurets christliche Gefolgsleute ein Kreuz aus Smaragd am Kopfende des Grabes aufrichten, obwohl ihnen selbst dieses Zeichen in einem religiösen Sinn nichs bedeutet. Der Baruc bezahlt das Smaragdkreuz sogar (P 107,14). Gahmurets Grabmal wird von ‚Heiden‘ und Christen gemeinsam errichtet und provoziert sowohl spezifisch ‚heidnische‘ Reaktionen (Anbetung eines toten Menschen) als auch spezifisch christliche Handlungen

 Vgl. Wolfgang Haubrichs: Memoria und Transfiguration. Die Erzählung des Meisterknappen vom Tode Gahmurets (‚Parzival‘ 105,1– 108,30), in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg. München 1996, S. 125 – 154, hier S. 132.  Zu Gahmurets Epitaph vgl. Hartmann, Gahmurets Epitaph. Zu einem Vergleich der Grabmäler im Parzival, im Willehalm und im Wigalois vgl. Astrid Lembke: Die Toten im dritten Raum: Grabmäler als Orte der Begegnung zwischen Angehörigen verschiedener Religionen bei Wolfram von Eschenbach und Wirnt von Grafenberg, in: Seminar 53 (2017), S. 21– 42.  Christa Ortmann: Ritterschaft. Zur Frage nach der Bedeutung der Gahmuret-Geschichte im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, in: DVjs 47 (1973), S. 664– 710, hier S. 704.

3.2 Finale Gegenständlichkeit

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(die Erinnerung an Christi Kreuzestod und Fürbitten für den Verstorbenen). Das hybride Ensemble macht über den Tod des „‚Märtyrer[s]‘ der ritterschaft“⁷¹ hinaus anschaulich sichtbar, dass in Gahmuret die ‚heidnische‘ und die christliche Sphäre ohne Konflikt zusammenfinden.⁷² Der Wigalois hingegen erzählt von der Konfrontation eines christlichen Ritters mit Gegnern, die sowohl ‚heidnisch‘ als auch mit dem Teufel im Bunde sind und mit denen ein Zusammenleben nur dann möglich ist, wenn sie auf der Stelle zum Christentum konvertieren, wie es etwa Graf Adan nach Wigalois’ Sieg über Roaz tut. Wie Walter Haug allerdings festgestellt hat, werden die nicht konversionswilligen ‚Heiden‘ im Wigalois auch nicht als absolut böse und verwerflich charakterisiert: [D]ie Veränderung der âventiuren-Welt geht nicht in einer eigensinnigen Tendenz zur Dämonisierung auf, es kommt vielmehr zu einer merkwürdigen Ambivalenz der Erscheinungen. […] Die Gegensätze von Gut und Böse, von Hell und Dunkel beginnen eigentümlich zu schillern. Im Negativen scheint etwas Positives zu stecken, im Dämonisch-Gefährlichen gibt es etwas Lichthaftes.⁷³

Vor allem Roaz und Japhite sind ambivalente Figuren.Während Roaz aber durch seine Tötung aus der erzählten Welt entfernt wird, erfüllt Japhite auch nach ihrem Tod noch einen Zweck darin. Indem ihr Sarg so gestaltet wird, dass er gleichzeitig als Symbol christlicher Gottesnähe und ‚heidnischer‘ Prachtentfaltung gedeutet werden kann, wird Japhite im Tod zu einer Figur, die christliche und ‚heidnische‘ Eigenschaften verkörpert. Integriert werden diese auf den ersten Blick absolut widersprüchlichen Aspekte im Zeichen der höfischen Liebe. Dabei dürfen im Wigalois – anders als im Parzival – die ‚Heiden‘ nicht einmal vorübergehend in ihrem aus christlicher Sicht mangelhaften religiösen Zustand verbleiben. Wirnt von Grafenberg erzählt an dieser Stelle nicht von einer Verbrüderung im Zeichen der Trauer und der Ritterlichkeit, sondern von der Transformation und Anpassung des ‚Heidentums‘ durch das Christentum. Demonstriert wird dieser Akt der Appropriation exemplarisch am Körper der toten Fürstin. Das prächtige Monument der höfischen Liebe ist daher zugleich eine Trophäe des christlichen Sieges über die Religion der Unterlegenen.

 Haubrichs, Memoria, 152.  Vgl. Hartmann, Gahmurets Epitaph, S. 138. Zur Hybridität der Konstruktion, „die heidnische und christliche Elemente und Ansprüche im Zeichen höfischen Prunks zu vereinen sucht“ vgl. Beate Kellner: Wahrnehmung und Deutung des Heidnischen in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘, in: Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Teil 1: Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden). Hg. von Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel und Thomas Kaufmann. Berlin, New York 2009, S. 23 – 50, hier S. 33. In den Gahmuret-Büchern des Parzival wird weniger zwischen ‚Heiden‘ und Christen unterschieden als zwischen ‚Heiden‘, mit denen ein christlicher Ritter wie Gahmuret kooperieren kann (z. B. mit dem Baruc von Baldac), und solchen, die es zu bekämpfen gilt (z. B. den Herrscher von Babylon).  Haug, Literaturtheorie, S. 254– 255.

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3.3 Bestattungen und Beschriftungen auf dem Weg zur Herrschaft In der Handlung des Wigalois bildet die ausgedehnte Grabmalsekphrase eine Zäsur. Die Unterbrechung markiert auch ein Neueinsetzen des Erzählens, mit dem unter anderem die Neukonstituierung des männlichen Protagonisten als nunmehr vollendeter höfischer Mann, als Ritter und als Herrscher einhergeht.Vor dieser Zäsur, die den Endpunkt einer Entwicklung markiert, demonstriert Wigalois sowohl aktiv als auch passiv, dass er alle Eigenschaften eines hervorragenden Landesherrn besitzt. Gegenüber feindlich gesinnten Männern und männlichen Kreaturen demonstriert er aktiv seine kämpferische Überlegenheit. Den letzten und wichtigsten Beweis dafür, dass er in der erzählten Welt allen anderen Männern überlegen ist, erbringt er mit seinem Sieg über Roaz. Aber auch in der Begegnung mit feindseligen Frauen erweist sich Wigalois im Verlauf der Handlung als mit sämtlichen unverzichtbaren herrscherlichen Attributen ausgestattet. In diesem Aspekt allerdings demonstriert er seine Vorzüglichkeit nicht aktiv. Sie kommt vielmehr immer dann ans Licht, wenn sich der Held in Zuständen größter Passivität befindet. Nicht nur an Wigalois’ Handlungen offenbart sich also, dass es seine Bestimmung ist, Land und Leute zu regieren. Der Text führt vor, dass der junge Mann auch in Situationen, in denen er vollständig handlungsunfähig ist, seine Umgebung dahingehend zu beeinflussen vermag, dass er zum Erfolg gelangt. Ersichtlich wird dies an den drei Ohnmachten, die er zwischen seinem Eintritt in das Reich Korntin und dem Begräbnis der Japhite erleidet, sowie an der Art und Weise, wie er diese Ohnmachtszustände jeweils überwindet. Mit der Tötung Roaz’ und dem Begräbnis Japhites ist Wigalois auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Alles, was er jetzt noch tut, dient dazu, ihn in seiner Machtvollkommenheit zu bestätigen.⁷⁴ In Wigalois’ Erlebnissen auf Glois kommt zum letzten Mal eine Zweiteilung in Aktivität und Passivität zum Vorschein. Aktiv verursacht Wigalois direkt bzw. indirekt den Tod des ‚heidnischen‘ Herrscherpaars. Passiv steht er den unmittelbaren Folgen gegenüber – in Roaz’ Fall insofern, als dessen Leichnam aus Wigalois’ Zugriffsbereich verschwindet, und in Japhites Fall insofern, als er an ihrer Bestattung gar nicht teilnimmt.⁷⁵ Nach Roaz’ und Japhites Tod und der Entfernung ihrer Körper kollabiert die Dichotomie zwischen aktivem und passivem Verhalten.Wigalois verhält sich nach der Beendigung der ‚heidnischen‘ Herrschaft auf

 Die programmatischen Worte des Erzählers hie ist diu âventiure geholt (W 7904: Hier wurde die Aventiure erstritten) wurden schon häufiger als Markierung einer Handlungszäsur interpretiert: Die Betätigung Wigalois‘ als Ritter, der auf Aventiurefahrt auszieht, ist nun abgeschlossen. Später, in der Namur-Episode, bestätigt mit Lion eine Figur, dass sich die Situation grundlegend geändert hat: hie enist niht âventiure! (W 10182: Hier gibt es keine Aventiure!).Vgl. Hans-Jochen Schiewer: Prädestination und Fiktionalität in Wirnts ‚Wigalois‘, in: Fiktionalität im Artusroman. Hg. von Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel. Tübingen 1993, S. 146 – 159, hier S. 154.  Zumindest schließt der Erzähler, nachdem er von dem Begräbnis berichtet hat, die Information an, dass Japhites Frauen dort hingehen, wo sich Wigalois aufhält (W 8325 – 8328).

3.3 Bestattungen und Beschriftungen auf dem Weg zur Herrschaft

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Glois und seinem eigenen Herrschaftsantritt weder dezidiert aktiv noch passiv – von nun an delegiert er. Er kann andere für sich kämpfen lassen und wird auch nie wieder ohnmächtig. Jetzt ist er es, der andere dazu veranlasst, Zustände von Aktivität oder Passivität einzunehmen. Feindlichen, aggressiven oder zumindest widerständigen Frauen begegnet Wigalois bis zum Ende des Romans nicht mehr. Auffällig ist aber, dass Japhites Grabmal, obwohl es nie wieder erwähnt wird, auf andere Figuren auszustrahlen scheint, und zwar vor allem auf weibliche Figuren. Dies tut es insofern, als diese Frauen wiederholt mit kostbarem Schmuck, mit Schrift oder auch mit beidem in Verbindung gebracht werden. Dadurch erscheint die ekphrastische Beschreibung des Grabmals als Handlungseinschnitt, der nicht nur auf die Vollendung der Entwicklung des Helden zum Herrscher, sondern auch auf eine Veränderung im Verhältnis der Figuren zueinander und ganz besonders auf eine Veränderung hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse hinweist.

Ohnmacht und Ermächtigung Wigalois, der perfekte Artusritter, der nie mit grundlegenden Krisen zu kämpfen hat, aber mit großer Effizienz die Probleme anderer Menschen löst, ist ein Held, der zuweilen in Ohnmacht fällt.⁷⁶ In dieser Hinsicht ist er in der höfischen Literatur nicht allein. Ohnmächtig werden auch Gawan auf Schastel marveile, Erec nach dem Riesenkampf oder Wilhelm von Österreich beim Anblick eines Blumenstraußes. Verursacht werden diese Situationen auf jeweils unterschiedliche Weise. In allen Fällen aber resultieren aus ihnen Bewegungsunfähigkeit, Handlungsunfähigkeit und das Ausgeliefertsein an andere Personen. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Konzeption weiblicher Figuren hat man sich in der Forschung meist für die Begegnungen des Helden Wigalois mit den edlen und vor allem liebenden Damen des Romans interessiert. All diese Damen wurden als vorbildlich in ihrer triuwe und Loyalität gegenüber ihren Partnern beschrieben. Oft betrachtete man sie aber auch als in ihrer ganzen Idealität ein wenig blass und uninteressant.⁷⁷ Dies hängt sicher damit zusammen, dass viele der weib Zu einem Vergleich zwischen den Ohnmachten des Protagonisten im Wigalois und im altjiddischen Widuwilt vgl. Astrid Lembke: Ritter außer Gefecht. Konzepte passiver Bewährung im ‚Wigalois‘ und im ‚Widuwilt‘, in: Aschkenas 25 (2015), S. 63 – 82.  Vgl. z. B. Horst Brunner: ‚Hie ist diu aventiure geholt – / wa ist nu der minne solt?‘ Die Rolle der Frau des Helden in einigen nachklassischen Artusromanen, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens. Hg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 55 – 65, hier S. 59. Christoph Fasbender warnt zwar davor, die Liebesbeziehungen im Roman an modernen Vorstellungen zu messen, stellt aber fest, dass Wirnt an komplexen Frauengestalten wie etwa der Figur der Orgeluse im ‚Parzival‘ offenbar weniger interessiert gewesen sei „als an der einer liebreizend-blassen Larie“. Fasbender, Wigalois, S. 176. Einen Blick auf die weiblichen Figuren Florie, Nereja und Beleare wirft Carmen Stange: Florie und die anderen. Die

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3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

lichen Figuren im Roman als passiv und handlungsunfähig charakterisiert werden. Wigalois’ Mutter Florie etwa bewegt sich aus ihrem Land nicht fort und sieht hilflos dabei zu, wie erst ihr Mann und dann auch ihr Sohn sie dort zurücklassen. Die Königin Ginover hält sich ausschließlich am Artushof auf. Und Larie harrt auf der einzigen Burg aus, die ihr geblieben ist, und kann nur darauf warten, dass ein tapferer Ritter den Tyrannen Roaz für sie aus dem Weg räumt. Von weiblicher agency ist also im ersten Teil des Romans tatsächlich nicht viel zu bemerken. Eine Ausnahme bildet die widerspenstige und scharfzüngige Botin Nereja, die an den Artushof geritten kommt, um Hilfe für ihre Herrin Larie zu erbitten. Sie gibt dem Helden keinen Pardon und lässt sich nur unter Aufbietung großer Mühen davon überzeugen, dass Wigalois tatsächlich ein hervorragender Ritter ist. Eine Bedrohung stellt sie zwar für ihn nicht dar, außerdem ist er ihr gegenüber alles andere als ohnmächtig. Die Charakterisierung der Figur zeigt aber, dass es in diesem Text grundsätzlich nicht nur Männer, sondern auch Frauen gibt, die dem Helden Widerstand leisten können. Dies geschieht in zunehmendem Maß nicht nur mit Worten: Sobald Wigalois in das Reich Korntin eintritt, wird er zunehmend zum Objekt weiblicher Manipulationen. Zwar wird er auch von Männern und männlichen Wesen bedroht, beispielsweise von dem Zwerg Karrioz, von dem Zentauren Marrien oder von Roaz’ Torwächtern. In diesen Situationen ist Wigalois allerdings immer bei Sinnen und fähig zur Gegenwehr. Einigen der Frauen in Korntin hingegen ist er bei drei Gelegenheiten vollkommen hilflos preisgegeben. In der ersten Ohnmachtsepisode verliert Wigalois das Bewusstsein nach seinem erfolgreichen Kampf gegen den Drachen Phetan: âne maht und âne sin / belac der rîter mit dem rade / ûf des breiten sêwes stade (W 5131– 5133: Ohnmächtig und besinnungslos lag der Ritter mit dem Rad am Ufer des großen Sees). Die Szene, in der er von einer Dame entdeckt, geheilt und neu eingekleidet wird, ähnelt der Szene im Iwein, in der der wahnsinnige Held schlafend von der Dame von Narison angetroffen wird.⁷⁸ Anklänge finden sich auch an Gottfrieds Tristan und die Auffindung des bewusstlosen Drachentöters durch Isolde und ihre Mutter (Tristan 9373 – 9474). Anders als bei Hartmann oder Gottfried geht der Rettung des Helden bei Wirnt allerdings eine handfeste Bedrohung voraus. Zuerst entdeckt wird der Bewusstlose nämlich durch einen Fischer und seine Frau, die sich keineswegs zu seiner Rettung anschicken, sondern ihn ausziehen und seiner Rüstung berauben. Als die Fischersfrau bemerkt, dass Wigalois noch lebt, will sie ihn ertränken und hält nur ein, weil sie die beeindruckende Schönheit des nackten Mannes bemerkt und davon wie gebannt ist (W 5433 – 5455).

Frauenfiguren im ‚Wigalois‘ Wirnts von Grafenberg, in: Mertens lesen. Exemplarische Lektüren für Volker Mertens zum 75. Geburtstag. Hg. von Monika Costard, Jacob Klingner und Carmen Stange. Göttingen 2012, S. 127– 145.  Vgl. Hartmann von Aue: Iwein, in: Hartmann von Aue: Gegorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2008, V. 3359 – 3594.

3.3 Bestattungen und Beschriftungen auf dem Weg zur Herrschaft

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Zum Vergleich sei an die Szene erinnert, in der Parzival auf Gurnemanz’ Burg von jungen Frauen ausgezogen und gebadet wird (P 166,21– 167,30). Auch dort werden begehrliche Blicke auf einen nackten Männerkörper geworfen. Allerdings ist Parzival in diesem Moment bei Bewusstsein, wenn er auch nicht genau versteht, wie ihm geschieht. Im Kontext der Szene im Wigalois hingegen stellen nicht nur der Raub der Rüstung und der gerade noch abgewendete Mordversuch, sondern auch der Blick der Frau auf den nackten Körper des Mannes einen aggressiven und unerwiderbaren Übergriff dar. Gerettet wird Wigalois, weil die Fischersfrau sich gegen ihre ursprünglichen Absichten dazu entschließt, sein Leben zu schonen – daz machet sîn vil süezer lîp (W 5469: Dies bewirkte seine liebreizende Gestalt). Es ist also Wigalois’ strahlende Schönheit, die ihn rettet. Sie bewegt die Fischersfrau zur Minne und bringt sie dazu, den Ritter nicht zu töten, sondern ihm sogar zu helfen. In der zweiten Ohnmachtsepisode wird Wigalois von einer wilden, tierhaften Frau namens Ruel überwältigt, entwaffnet und gefesselt, sodass er ihr ohne jede Möglichkeit der Gegenwehr ausgeliefert ist. Hier ist der Protagonist zwar nicht bewusstlos – ohnmächtig ist er aber durchaus. Der Erzähler verwendet sogar eine ganz ähnliche Formulierung wie in der Drachenkampfszene, an deren Ende Wigalois âne maht und âne sin (W 5131) am Ufer des Sees liegen bleibt. Über die Auswirkungen der Gefangennahme durch Ruel heißt es entsprechend: dem jungen rîter si dô nam / die kraft und sîne sinne (W 6400 – 6401: Dem jungen Ritter nahm sie da die Kraft und auch seine Sinne).⁷⁹ Wie die Begegnung mit der Fischerin wird auch die mit Ruel erotisiert, allerdings mit anderen Mitteln. Eine sexuelle Annäherung komme, so der Erzähler, auf keinen Fall infrage, da sie dem Liebhaber mehr Schlechtes als Gutes zufügen werde und ihre Umarmungen mit der Liebe einer guten Frau nichts zu tun hätten.⁸⁰ Durch solche Abwehrgesten auf der Erzählerebene werden Vorstellungen von einer sexuellen Begegnung mit einer animalischen weiblichen Kreatur überhaupt erst provoziert.⁸¹ Gerettet wird der Gefangene aus dieser prekären Situation in zwei Schritten, zuerst durch weltlichen und dann durch übernatürlichen Beistand: Zunächst ergreift Ruel die Flucht, weil sie plötzlich Wigalois’ Pferd wiehern hört und glaubt, es sei der Drache Phetan, der sie angreife. Anschließend betet der Ritter zu Gott, woraufhin sich seine Fesseln lösen und er sein Pferd suchen und auf ihm nach Glois reiten kann. Das heißt: Aus seiner Notlage befreit wird Wigalois aufgrund seines Glaubens, Mittel zum Zweck ist dabei unter anderem eine unvorhergesehene Intervention seines Pferdes. Gott wendet also nicht nur wunderbare, unerklärliche Mittel an, um Wigalois zu helfen,

 Als Ruel Wigalois davonträgt, tut sie es so, dass er weder sprechen noch sich bewegen kann: si tet imz allez tiure / beidiu sprechen unde regen (W 6394– 6395: Sie machte es ihm unmöglich zu sprechen und sich zu regen).  Vgl. W 6323 – 6324 und 6402– 6403.  Zur Sexualisierung der Begegnung zwischen Wigalois und Ruel vgl. Cordula Böcking: ‚daz wær ouch noch guot wîbes sit, / daz si iht harte wider strit‘. Streitbare Frauen in Wirnts ‚Wigalois‘, in: Aktuelle Tendenzen der Artusforschung. Hg. von Brigitte Burrichter u. a. Berlin, Boston 2013, S. 363 – 380, hier S. 372– 373.

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sondern bedient sich dazu auch ausgerechnet des Pferdes, also des wichtigsten Attributs eines Ritters schlechthin. Wigalois kommen in dieser Ohnmachtsepisode sowohl die geistliche als auch die weltliche Ausrüstung eines ausgezeichneten Ritters zustatten. Auf diese Weise kann Wigalois nach Glois gelangen und dort den ‚heidnischen‘ Tyrannen Roaz herausfordern. Nach dem Duell gelangt er zum letzten Mal in einen Zustand größter Schwäche und Wehrlosigkeit. Dieses Mal wird er nicht von einer einzigen Frau, sondern gleich von einer ganzen Gruppe erst teilweise ausgezogen und dann beinahe umgebracht: Nachdem Wigalois Roaz in einem aufreibenden Kampf getötet hat, sinkt er erneut ermattet zu Boden. Die Jungfrauen der Herrin Japhite nehmen ihm den Helm ab und betrachten angespannt sein rotwangiges Gesicht, während er abermals daliegt, ohne über Kraft und Besinnung zu verfügen (âne kraft und âne sin): er lac dâ als ein tôter man / âne kraft und âne sin. / die juncvrouwen hêten in / von dem houbte entwâfent gar / und nâmen des vil rehte war / ob er lebte od wære tôt. / dô wâren im diu hiufel rôt / und allez lebelîch getân. / dô wolde in erslagen hân / vor leide diu vil süeze schar (W 7919 – 7928). Er lag da wie tot, kraftlos und besinnungslos. Die Jungfrauen hatten seinen Kopf entkleidet und sahen genau nach, ob er lebte oder tot war. Da waren seine Wangen rot und alles sah nach Leben aus. Da wollte ihn die liebliche Schar vor Kummer erschlagen.

Nur der Burgwächter Adan, der Wigalois schon vor dessen Kampf gegen Roaz Dienst und Treue gelobt hatte, kann die Damen in letzter Sekunde davon abhalten, dem Helden den Garaus zu machen, indem er an ihre guten Manieren und höfischen Sitten appelliert. In diesem Fall ist es also die Fähigkeit des Helden, zuverlässige Gefolgsleute für sich zu gewinnen, die ihm das Leben rettet. Die drei Begegnungen mit aggressiven und potenziell gewalttätigen Frauen im Wigalois zeichnen sich dadurch aus, dass der Held dabei unfähig ist, sich zu bewegen, zu denken oder zu sprechen. Seine Wehrlosigkeit wird dadurch angezeigt, dass er jedes Mal ganz oder teilweise seiner Rüstung entkleidet wird, wenn auch in abnehmendem Maße: Die Fischersleute entblößen ihn noch vollständig, das wilde wîp Ruel zieht ihm nur den Harnisch aus und die Jungfrauen auf Glois schließlich nehmen ihm lediglich den Helm ab. Er wird den Blicken der Frauen also in jeder Szene etwas weniger ausgesetzt. Immer aber ist Wigalois auf den guten Willen anderer angewiesen: den guten Willen der räuberischen Fischerin, den guten Willen Gottes oder den des Burggrafen Adan. In jeder Ohnmachtsszene ist Wigalois das Objekt der Handlungen anderer. Zudem ist er potenziell das Objekt des Begehrens anderer, und sei es das Begehren nach Rache. Die genannten Überwältigungsszenen sind zudem in doppelter Hinsicht gefährlich: Zum einen gefährden sie Wigalois’ Leben. Zum anderen gefährden sie ihn insofern, als in allen drei Szenen mit der Vorstellung einer auch sexuellen Überwältigung des Helden durch unpassende Frauen gespielt wird. Unpassend sind diese Frauen aus unterschiedlichen Gründen: Die Fischersfrau ist Wigalois ständisch un-

3.3 Bestattungen und Beschriftungen auf dem Weg zur Herrschaft

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terlegen, die wilde Frau wird als teilweise tierisch (und damit vermindert menschlich) gekennzeichnet und die Jungfrauen auf Glois treten als Gruppe auf, was dem Exklusivitätsanspruch des höfischen Liebesideals widerspricht. Was hier in Szene gesetzt wird, ist jeweils eine verbotene Erotik, für die der Held aber nicht verantwortlich gemacht werden kann, da er ja schließlich ohnmächtig ist und ihm niemand vorwerfen kann, das Begehren der Frauen absichtlich provoziert zu haben.⁸² Vorgeführt wird an den drei Ohnmachten des Helden, an seiner Bedrohung durch feindlich gesinnte Frauen sowie an der Art und Weise, in der er aus diesen gefährlichen Situationen gerettet wird, dass Wigalois nicht nur im Kampf, sondern auch in Zuständen höchster Passivität ein besonders Begünstigter ist. Mit Schönheit, weltlichem und geistlichem Rüstzeug und der Fähigkeit, Gefolgsleute für sich zu gewinnen, besitzt er alle Attribute eines höfischen Mannes, eines Ritters und eines Herrschers. Sogar in Momenten, in denen er nicht sprechen oder sich bewegen kann, erweist er sich als erotisch attraktiv, religiös gefestigt und sozial eingebunden und damit schließlich auch als herrschaftsfähig. Was Wigalois während seiner Ohnmachten beinahe automatisch zuteilwird, sind die Liebe einer Frau, die Begünstigung durch Gott (und vielleicht auch durch das Glück)⁸³ und die Loyalität eines Mannes. Von Mal zu Mal wächst der Held in seinem Wirkungsradius weiter über sich hinaus: Seine Schönheit muss noch aus nächster Nähe angesehen werden, das hörbar wiehernde Pferd kann ihm auch aus der Ferne zu Hilfe kommen, Gott wirkt aus der Transzendenz ins Diesseits hinein und der Burggraf Adan schließlich handelt sogar mit seiner mahnenden Ansprache vollständig an Wigalois’ Stelle. Stephan Fuchs hat gezeigt, dass Wigalois aufgrund seiner immer wieder vorgeführten Passivität Züge eines Legendenheiligen erhält.⁸⁴ Er beobachtet am Wigalois ein „gewaltsame[s] Zusammenzwingen disparat scheinender Heldentypen“:⁸⁵ Der Held sei aktiv kämpfender Artusritter, exorbitanter Epenheld und leidender Legend Zu einem ähnlichen Übergriffsszenario vgl. die Szene im Iwein, in der ein Fräulein einen ganzen Tiegel mit Zaubersalbe auf dem nackten Körper des schlafenden Ritters verteilt (Iwein 3467– 3504).  Ob Wigalois während seiner Gefangennahme durch Ruel auch eine Form des Glücks zu Hilfe kommt oder ausschließlich Gott, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Vom Erzähler wird ein unvermitteltes Eingreifen Gottes in das Geschehen erst nach dem Wiehern des Pferdes, Ruels Flucht und Wigalois’ Gebet explizit festgestellt. Grundsätzlich aber macht der Roman vor allem nach Wigalois’ Eintritt in das Jenseitsreich Korntin Gott für Wigalois’ Rettungen verantwortlich (vgl. z. B. W 6465 – 6468). Die Einschätzung, dass es sich beim Wiehern des Pferdes nicht um einen Zufall, sondern um eine göttliche Intervention handle, vertritt beispielsweise Klaus Grubmüller gegen Christoph Cormeau: „Der Zufall kann kein Zufall sein: Gott selbst hat eingegriffen und seine Gnade an ihm erwiesen.“ Grubmüller, Artusroman, S. 230. Man sollte jedoch nicht außer Acht lassen, dass Wigalois im Wappen ein Rad trägt, das er selbst mit dem Glücksradautomaten seines Onkels Joram (W 1036 – 1052) in Verbindung bringt (W 1864– 1869). Zu dem „im Erzählverlauf immer wieder forcierte[n] Dissens“, der sich daraus ergibt, dass Wigalois gerade kein „Glücksritter“ ist, „sondern ein auf eigene Kraft und Gottes Führung vertrauender, sein Glück beständig schmiedender Streiter“, vgl. Fasbender, Wigalois, S. 159.  Vgl. Fuchs, Hybride Helden, S. 85.  Fuchs, Hybride Helden, S. 163.

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enheld in einer Person.⁸⁶ Nimmt man diese These ernst, dann erweisen sich die wiederholten Ohnmachten keinesfalls als „blinde Motive“.⁸⁷ Sie werden vielmehr als erzählerisches Mittel gezielt eingesetzt, um die legendenhafte, passive Seite des ‚hybriden Helden‘ Wigalois zu veranschaulichen. Wie ein christlicher Märtyrer verkörpert Wigalois in seiner Handlungsunfähigkeit und Verwundbarkeit das paradoxe Prinzip einer in der Passion Christi vorgeführten Inversion von Schwäche in Stärke. Gerade im Zustand größter Schwäche erweist sich die Erwähltheit des Helden als Instrument höherer Mächte. Anders als die Heldinnen und Helden der Legende muss er sich allerdings vom weltlichen Leben nicht abwenden, sondern darf auch weltliche Erfolge erzielen. An Wigalois’ drei Ohnmachten wird vorgeführt und glaubhaft gemacht, dass der Ritter mit Gott in einem besonderen Einvernehmen steht, aber auch, dass er zusätzlich alles besitzt, was er braucht, um als höfischer, ritterlicher Landesherr zu reüssieren. Zugleich sind die Bedrohungen durch die Fischersfrau, die ‚wilde Frau‘ Ruel und Japhites Jungfrauen ernst und real. Die Bestattung und ‚Beschriftung‘ der toten Japhite auf Glois bringt schließlich den Wendepunkt: Der Protagonist vollführt an dieser Stelle einen performativen Akt, der seinen Status als Autor seines eigenen Geschicks festschreibt. Seine bisherige Gefährdung durch Ohnmacht und Objekthaftigkeit überträgt er nun zuerst exemplarisch auf Japhite und auf diese Weise für den weiteren Handlungsverlauf auch auf alle anderen Frauen, mit denen er es zu tun bekommt.

Gräber und Schriftstücke als Zeichen von Handlungsfähigkeit Wenn in der Inschrift, die an Japhites Sarg angebracht wird, die Bestattete durch beschreibende, bewertende und auffordernde Äußerungen auf die Rolle der schönen ‚Heidin‘, der tugendhaften Liebenden und der rettungsbedürftigen Edeldame festgelegt wird, dann impliziert dies, dass Japhite ab dem Moment der Beschriftung für alle Zeiten auf genau diese Weise erinnert werden wird oder zumindest erinnert werden soll. „Ein Name“, so Judith Butler, „tendiert dazu, das Benannte festzuschreiben, es erstarren zu lassen, zu umgrenzen und als substantiell darzustellen“,⁸⁸ und etwas ganz Ähnliches ist es, was die Inschrift tut: Der toten Frau wird eine Identität als wîp, als vrouwe und als heidenin zugeschrieben, die von nun an nicht mehr erweitert oder modifiziert wird. Die Materialien, aus denen die Inschrift besteht, auf denen sie angebracht und von denen sie umgeben ist, fügen diesen Aspekten der Benennung und

 Vgl. Fuchs, Hybride Helden, S. 163. „Die Vielfalt seiner Waffen […] spiegelt die Vielfalt und Gleichzeitigkeit seiner heldischen Existenz: er ist zugleich arthurischer Kampfeshelfer der gerechten Sache, Minneritter, endzeitlich-christlicher Erlöser und politischer Befreier und Kulturheros.“ Fuchs, Hybride Helden, S. 218.  Fuchs, Hybride Helden, S. 213.  Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Aus dem Englischen von Kathrina Menke und Markus Krist. Frankfurt a. M. 2006 (erstmals New York 1997), S. 61.

3.3 Bestattungen und Beschriftungen auf dem Weg zur Herrschaft

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Festschreibung noch weitere Dimensionen hinzu: Japhite wird von den kostbaren Metallen und Mineralien eingeschlossen und ausgeschlossen, sie wird ausgestellt und stillgestellt. Die Bezeichnung konstituiert sie als Objekt der Trauer und Verehrung, des Bedauerns und Begehrens. Japhite war im Leben ebenso passiv, wie sie es im Tod ist; so behauptet es zumindest das Epitaph. Schließlich erwähnt die Inschrift gerade nicht ihr Aufbegehren gegen ihren eigenen Gott oder ihre Bereitwilligkeit, ihrem Geliebten in den Tod und sogar in die Hölle zu folgen. Stattdessen wird sie als statisch Leidende gekennzeichnet: ‚si [leit] den tôt von triuwen; / diu riuwe ir abe daz herze sneit‘ (W 8288 – 8289: Sie erlitt den Tod aus Treue. Die Trauer zerschnitt ihr das Herz). Verantwortlich für Japhites Tod ist in dieser Formulierung weder der christliche Ritter, der ihr Leid verursacht hat, noch Japhite selbst, sondern das abstrakte Prinzip des Kummers. In dieser Konstellation gibt es keinen Täter, sondern lediglich ein Opfer, nämlich die verstorbene, begrabene und mit einer Grabinschrift gleichsam etikettierte Frau. Wenn der Autor Japhites Schicksal mithilfe einer Inschrift schildert, die die umfassende Bezogenheit der Frau auf einen geliebten Mann und ihre daraus resultierende Hilflosigkeit und Lebensunfähigkeit nach seinem Tod betont, dann ruft er damit literarische Präzedenzfälle auf. Parallelen können die Rezipienten etwa zu Sigune im Parzival oder zu Dido im Eneasroman feststellen, die beide an ihrer Sehnsucht nach dem verlorenen Geliebten sterben und daraufhin von ihren überlebenden Angehörigen bestattet werden. Im Wigalois nimmt die Bestattungsepisode aber nicht nur auf bekannte literarische Prätexte Bezug. Sie wirkt auch dadurch über sich selbst hinaus, dass sie in der Folgehandlung mehrfach auf unterschiedliche Weise zitiert wird.Wann immer von nun an eine Frau stirbt und begraben wird, nehmen die entsprechenden Szenen Elemente aus der ersten, detaillierten Grabmalsekphrase wieder auf und variieren sie mit unterschiedlichen Ergebnissen. Die Beschreibung des beschrifteten Grabmals der Japhite markiert im Roman einen Wendepunkt: Wigalois überwindet auf Glois einen Zustand, in dem er potenziell von Handlungsunfähigkeit bedroht ist. Von nun an werden ausschließlich weibliche Figuren objektifiziert und manipuliert. Wigalois zeigt sich damit als ein Held, der über andere Menschen zu bestimmen vermag. Sichtbar wird dies an drei Episoden, in denen nach Japhites Bestattung von weiteren Begräbnissen erzählt wird: Zuerst kommt die Erzählung ein weiteres Mal auf die Bestattung Japhites zurück; dann wird von der Bestattung der Fürstin Liamere berichtet; und schließlich erfahren Wigalois und Gawein von der Bestattung ihrer Mutter bzw. Ehefrau Florie. Alle im Zusammenhang mit diesen Beisetzungen beschriebenen Gräber und schließlich auch der Einschluss der quicklebendigen Larie in einen prunkvollen, tragbaren Turm enthalten Elemente, die im Text zuerst im Zusammenhang mit Japhites Grabmal begegneten. Sie alle beschreiben mögliche Formen von Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Darüber hinaus vermitteln sie in unterschiedlichen Facetten ein Bild davon, mit

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welchen Rechten und Pflichten ein Herrscher zu rechnen hat und welche Ideale er dabei verwirklichen muss.⁸⁹ Nach dem Abschluss der Bestattungszeremonie kommt Japhites Grabmal noch ein zweites Mal in den Fokus der Handlung. Unter den Gästen, die an Wigalois’ Krönungsfeierlichkeiten teilnehmmen, befinden sich nämlich Japhites Brüder Zaradech und Panschavar, die aus dem fernen Asien gekommen sind, um den Leichnam ihrer Schwester zu holen und mit sich nach Hause zu nehmen (W 9208 – 9228). Als sie sehen, wie aufwändig Japhite bestattet wurde, freuen sie sich und verzichten offenbar darauf, den Körper ihrer Schwester aus dem Mausoleum zu entfernen. Stattdessen lassen sie ihn im Reich des christlichen Herrschers Wigalois ruhen.⁹⁰ Anders als die getaufte Kriegerin Marine, die nach ihrem Tod von ihrem Großvater Adan in ihr Heimatland zurückbefördert wird (W 11268 – 11275), verbleibt die ungetaufte Japhite im christlichen Herrschaftsbereich. Durch die dauerhafte Einbettung des ‚heidnischen‘ Fremdkörpers verwandelt sich das christliche Territorium in einen hybriden Raum, in dem auch nicht-antagonistische Begegnungen zwischen Christen und ‚Heiden‘ möglich sind. Die Art und Weise, in der Japhite begraben wird, hat Folgen für das Verhältnis zwischen ihren ‚heidnischen‘ Brüdern und Wigalois. Nachdem bekannt geworden ist, dass Lion, der Herzog von Namur, den König Amire von Libyen getötet und sich dessen Ehefrau Liamere angeeignet hat, die daraufhin vor Kummer stirbt, schließen sich Zaradech und Panschavar Wigalois auf seinem Feldzug gegen Lion sofort an. Von einem Bedürfnis ihrerseits, den Tod ihrer Schwester an Wigalois zu rächen, ist nicht die Rede. Das Begehren, aggressiv gegen einen Mann vorzugehen, der einen anderen getötet und damit auch dessen Frau umgebracht hat, erscheint vielmehr verschoben auf den Herzog Lion. Die Errichtung von Japhites Grabmal bewirkt einen Zusammenschluss von ‚Heiden‘ und Christen unter dem Vorzeichen eines gerechten Krieges gegen eine dritte Partei, die die beiden anderen als Missetäter und somit als Feind betrachten. Es entsteht eine Allianz zwischen gleichrangigen Herrschern unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Glaubens. Geschlossen wird das Bündnis am Grab einer von beiden Parteien geehrten Frau, die als passive Mediatorin zwischen den männlichen Akteuren fungiert. Das Anbringen der zweisprachigen Grabinschrift hatte schon vorher darauf aufmerksam gemacht, dass Kommunikation zwischen Christen und ‚Heiden‘ grundsätzlich möglich ist. Während Wigalois’ Krö-

 Vgl. Volker Mertens: Iwein und Gwigalois – der Weg zur Landesherrschaft, in: GRM 31 (1981), S. 14– 31; Friedrich Michael Dimpel: Fort mit dem Zaubergürtel! Entzauberte Räume im ‚Wigalois‘ des Wirnt von Grafenberg, in: Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hg. von Sonja Glauch, Susanne Köbele und Uta Störmer-Caysa. Berlin, New York 2011, S. 13 – 37, hier S. 16. Gegen eine Lesart, die Wigalois’ Weg als den Weg eines Ritters zur Landesherrschaft sieht, wendet sich Klaus Grubmüller in Grubmüller, Artusroman, S. 238.  Jedenfalls sagt später, nachdem Zaradech im Kampf umgekommen ist, der Erzähler explizit nur über seinen Leichnam, dass der überlebende Panschavar ihn zurück nach Hause gebracht habe (W 11243 – 11245).

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nungsfest werden nun Japhite und ihr prächtiges, hybrides Grab zu einem Zeichen der Konfliktvermeidung und sogar der Verständigung zwischen mächtigen Herrschern, die jeweils große Teile der Welt regieren. Aus dieser Perspektive hat Wirnt mit Japhites Beisetzung nicht nur ehrenhaft gegenüber einer edlen Dame gehandelt, sondern auch erfolgreich den Grundstein für eine zukunftsweisende Außenpolitik gelegt. Die Annäherung zwischen Christen und ‚Heiden‘, die sich am Grab der von beiden geehrten Frau treffen, erfolgt in einer Kette von Austauschprozessen: der Tod der Fürstin wird in den Augen ihrer Brüder durch die Errichtung des kostbaren Grabmals kompensiert, die Errichtung des Grabmals durch militärische Unterstützung belohnt, die militärische Unterstützung durch das Angebot kostbarer Geschenke vergolten (W 11246 – 11248). Der Austausch von ideellen und materiellen Gütern zwischen den beiden Parteien resultiert daraus, dass sich die Männer darüber einigen, was mit einer toten Frau geschehen soll. Wirnt inszeniert hier einen traffic in women,⁹¹ bei dem eine Frau als Gegenstand und Schauplatz einer erfolgreichen und produktiven Verständigung unter Männern fungiert.⁹² Die zweite Bestattung nach Japhites Begräbnis ist ebenfalls ein politisches Statement. Wigalois und seine aus vielen unterschiedlichen Gruppen zusammengestellte Armee nehmen den Körper des von Lion erschlagenen Königs Amire, der zunächst tagelang am Ort seines Todes liegen geblieben war, an sich und führen ihn weithin sichtbar wie ein Heerzeichen mit sich in den Kampf vor der Stadt Namur. Zu diesem Zweck wird der Leichnam in einen Edelstein gelegt: den künic Âmîren brâhtens dar. / des rê wart, gebalsamt gar, / geleit in einen edeln stein / ûf eine sûl, dâ durch er schein / vor der stat über al daz her (W 10723 – 10726). Sie brachten den König Amire mit dorthin. Sein Leichnam wurde, ganz einbalsamiert, in einen Edelstein auf einer Säule gelegt. Dort hindurch war er vor der Stadt über das ganze Heer hinweg zu sehen.

Durch die ehrenvolle Behandlung wird der tote Körper zu einem unübersehbaren Signal, das auf die Gründe für den bevorstehenden Kampf verweist: die unrechtmäßige Tötung eines Königs durch einen ständisch Unterlegenen und das unrechte Handeln gegenüber der Königin. Endgültig bestattet werden kann Amire erst, nachdem dieses Unrecht gerächt und die Einheit der Liebenden wiederhergestellt ist, die Lion zuvor durch den Mord am König und den Raub der Königin zerstört hatte. Nach Lions Tod und dem Sieg über die feindliche Armee wird daher nicht nur Lion aufgrund seiner hôhe[n] art (W 11208) mit großen Ehren bestattet. Auch das Königspaar bettet man zur letzten Ruhe, und zwar so, dass die Körper von Amire und Liamere sich in nächster Nähe zueinander befinden. Liamere war schon zuvor von Lion bei-

 Vgl. Gayle Rubin: The Traffic in Women. Notes on the ,Political Economy‘ of Sex. Toward an Anthropology of Women, in: Toward an Anthropology of Women. Hg. von Rayna Reiter. New York 1975, S. 157– 210.  Vgl. Lembke, Die Toten, S. 38.

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gesetzt worden. Nun wird Amire an ihre Seite gelegt (W 11224– 11225). Der Zitatcharakter der Begräbnisszene besteht darin, dass wie bei der Errichtung von Japhites Mausoleum die Elemente Gold und Edelsteine sowie wohlriechende Substanzen verwendet werden.⁹³ Zudem wird auch in Namur der Sarkophag in einem sakral konnotierten Raum platziert.⁹⁴ Der größte Unterschied zwischen dem Grabmal Japhites und dem Grabmal Liameres und Amires besteht darin, dass in Letzterem zwei Liebende miteinander vereint werden, während Japhites und Roaz’ Körper im Tod getrennt bleiben. Liamere ist somit eine christliche Antwort auf Japhite: Sie stirbt aus den gleichen Gründen den gleichen Tod. Da aber Liamere und Amire als gute Christen sterben, müssen etwaige Gedanken an eine jenseitige Zukunft in der Hölle gar nicht erst formuliert werden. Gemeinsam ist den beiden Mausoleen, dass sie die Beseitigung einer Störung kennzeichnen. Auf Glois war es um das Ende einer Gewaltherrschaft und die Entfernung eines nicht tolerierbaren ‚heidnischen‘ und sogar teuflischen Elements in einem christlichen Herrschaftsbereich gegangen. Und auch das Grabmal Liameres und Amires, das in seiner Machart so deutlich auf das der Japhite verweist, fungiert als Symbol für die Bereinigung eines chaotischen Zustands innerhalb der christlichen Welt. Vor Namur wird zwar kein Glaubenskrieg ausgefochten, schließlich kämpfen auf beiden Seiten sowohl Christen als auch ‚Heiden‘. Dafür wird aber ein Verbrechen gegen den höfischen und feudalen Wertekanon gesühnt und ein Machtstreit mit einem aufstrebenden Fürsten zugunsten der herrschenden Hierarchie entschieden.⁹⁵ Unter Kontrolle gebracht wird nicht die gesamte – christliche und ‚heidnische‘ – Welt, sondern nur ein kleiner Ausschnitt daraus, der in Unordnung geraten war. Wigalois lässt die Einwohner von Namur Treue schwören, setzt den zuverlässigen Grafen Moral als Statthalter ein und sorgt dafür, dass in Zukunft von diesem Territorium keine Gefahr mehr ausgehen wird (W 11238 – 11261). Er befriedet ein unruhiges Gebiet, gliedert es in seinen Herrschaftsbereich ein und kann zu diesem Zweck so unterschiedliche Verbündete wie den König von Jeraphin, die Artusritter Erec, Lanzelot und Iwein, die ‚heidnischen‘ Brüder Japhites, die Cousine der Königin von Persien und sogar eine Truppe von frisch getauften Amazonen zu einer effizient kämpfenden Armee vereinen. Auf diese Weise betreibt er eine Politik, durch die er alte Bündnisse stärkt, neue Bündnispartner gewinnt und sich potenzieller Feinde entle-

 Der Sarg ist lieht alsam der tac / von golde und von gesteine (W 11214– 11215: leuchtend wie der Tag von Gold und Edelsteinen); ein guldîniu krône / was gehangen über den sarc, – / diu koste mêr den tûsent marc, – / durch daz si was ein künigîn (W 11220 – 11223: Eine goldene Krone, die mehr als tausend Mark wert war, wurde über dem Sarg aufgehängt, weil sie eine Königin war); an den selben stunden / satzte man darîn ein lûter glas; / mit balsam daz gevüllet was (W 11228 – 11230: Zur selben Zeit setzte man ein durchscheinendes Glas hinein, das mit Balsam gefüllt war).  Larie befiehlt den Einwohnern der Stadt, über dem Sarg eine Kapelle aus Marmor zu errichten (W 11234– 11237).  Lion stellt ausdrücklich fest, dass er selbst wirt sein wolle, statt einem anderen Mann zu dienen (W 10188 – 10191).

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digt. Dass sein Unternehmen von Erfolg gekrönt ist, das demonstriert Liameres ‚gekröntes‘ Grab.⁹⁶ Ein drittes Grabmal schließlich zeugt weder von einer erfolgreichen Verständigung zwischen unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften noch von der Bestätigung ständischer Ordnung und höfischer Liebesideale, sondern von einer Neuordnung der Familienverhältnisse des Helden. Diese Neuordnung beginnt damit, dass Wigalois seinen Vater Gawein schriftlich zu sich beordert. Er lädt ihn mittels eines Briefs zu sich ein, an dem er ein Siegel befestigt, das Gawein einst bei Florie zurückgelassen hatte (W 9615 – 9620). Dieses Mittel wirkt: Gawein macht sich sogleich auf den Weg und fragt, kaum bei seinem Sohn angekommen, sofort nach dessen Mutter. In einer längeren Klagerede bedauert er, nicht bei ihr sein zu können, schließt dann aber fröhlich mit den Worten: ‚nu solt ab dû mîn vreude sîn, / sît dich mir got hât gegeben‘ (W 9688 – 9689: ‚Nun sollst aber du meine Freude sein, da Gott dich mir geschenkt hat‘). Die verlorene Frau wird durch den gefundenen oder vielmehr wiedergefundenen Sohn ersetzt. Im Briefverkehr zwischen Wigalois und Gawein erhält Florie somit eine ähnliche Funktion wie Japhite bei der Begegnung zwischen Wigalois und Japhites Brüdern: Auch sie fungiert als Mittlerin, um die Verbindung zwischen zwei Männern zu stärken – hier nicht die zwischen potenziellen Gegnern, sondern die zwischen entfremdeten Mitgliedern einer Familie.⁹⁷ Auch der Handlungsstrang um Florie, der mit ihrem traurigen Zurückbleiben im Reich ihres Onkels unabgeschlossen geblieben war, wird gegen Ende des Romans eingeholt. Dies geschieht allerdings nicht, wie im Fall des Vaters, durch die Integration der Mutter in die Entourage des frischgebackenen Herrschers, sondern durch ihr Ableben. Nachdem Wigalois seine Armee aufgelöst und auf die Heimreise geschickt hat, muss er unerwartet einen Boten Flories empfangen, der ihm mitteilt, dass diese einen Monat zuvor gestorben sei, und zwar aus Kummer: ‚ir schœnen lîp hât si verlorn, / daz wizzet, von den beiden: / daz ein was daz scheiden / daz von ir tet ir lieber man, / nâch des minne ir herze bran; / daz ander daz si iuch verlôs. / von disem leide si erkôs / den tôt mit jæmerlîcher klage. / ez ist hiute an dem drîzigesten tage / daz bestatet wart diu reine / under einem edeln steine / in der stat ze Riodach‘ (W 11344– 11355). ‚Ihren schönen Leib hat sie aus zwei Gründen verloren, das sollt Ihr wissen: Der eine ist, dass ihr geliebter Mann sie verließ, nach dessen Liebe sich ihr Herz verzehrte. Der andere ist, dass sie Euch verlor. Aufgrund dieses Leids wählte sie mit jämmerlicher Klage den Tod. Heute ist es der dreißigste Tag, dass die Edle in der Stadt Riodach unter einem Edelstein bestattet wurde.‘

 Auch in dieser Episode ist eine Frau Schauplatz homosozial-männlicher Interaktionen. Dass Liamere im Vergleich zu Japhite noch weniger als eigenständige Figur wahrgenommen wird, zeigt ihr Name, der so klingt, als sei er aus einer Kombination der beiden Männernamen ‚Lion‘ und ‚Amire‘ entstanden.  Zusätzlich wird durch die Integration Gaweins indirekt auch der restliche Artushof stärker an Wigalois gebunden, als es zuvor schon der Fall war.

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Ebenso wie Japhite und Liamere ist also auch Florie aus Trauer um den Verlust geliebter Männer gestorben. Und ebenso wie die anderen Frauen wurde auch sie unter einem Edelstein begraben. Anders als Liamere wird Florie aber nicht einfach nur wortlos bestattet, und anders als Japhite wird sie auch nicht von anderen Personen mit einer Beschriftung versehen. Wigalois’ Mutter schreibt selbst über sich. Zugleich mit der mündlichen Nachricht überbringt der Bote nämlich einen Ring zum Gedenken an mütterliche triuwe und sehnsüchtige riuwe (W 11361– 11362), womit die Stichworte aufgenommen werden, die auch Japhites Leben und Sterben charakterisiert hatten. In den Ring ist eine schriftliche Botschaft von Florie eingraviert, mit dessen Hilfe sie in bildhafter Sprache ausdrückt, was der Bote bereits mitgeteilt hatte: ‚owê, geselle und ouch mîn kint! / von iu mîn varwe ist worden blint, / mîn rôtez golt gar überzint‘ (W 11365 – 11367: ‚Ach, Geliebter und ach, mein Kind! Euretwegen ist meine Farbe stumpf geworden und wurde mein rotes Gold mit Zinn überzogen‘). Hier äußert sich zugleich mit dem Ring, den die Dame sendet, auch sie selbst. In ihrer Inschrift imaginiert sich Florie als Schmuckstück, dessen Reiz und eigentlicher Wert nicht mehr erkennbar sind, da diejeningen, die es eigentlich mit Wohlgefallen betrachten sollten, es zu lange missachtet haben. Falls mit dieser Klage ein Vorwurf an Mann und Sohn übermittelt werden soll, so wird dieser nicht wahrgenommen. Wigalois und Gawein weinen zwar und beteuern ihren tiefempfundenen Schmerz. Ebenso aber wie die beiden auch zuvor nicht daran gedacht haben, Kontakt zu Mutter oder Ehefrau herzustellen oder es zumindest zu versuchen, vergessen sie auch all ihr Leid über Flories Tod sofort, sobald sie nach zwölftägigem Ritt am Artushof ankommen, wo schon das übliche Hoffest vorbereitet ist. Während Gawein immerhin behauptet, den Institutionen Ehe und Rittertum abschwören zu wollen (W 11384– 11386), und mit diesem Rückzug möglicherweise eine partielle Verantwortung für das Geschehen eingesteht, räumt Wigalois keinerlei Schuld ein und wird auch vom Erzähler nicht schuldig gesprochen.⁹⁸ Aber auch Florie hat keinen Fehler gemacht.⁹⁹ Mit ihrem Tod aus Liebe und Treue wertet sie sowohl sich selbst als auch indirekt jene Männer auf, die eine solche Liebe und Treue hervorzurufen vermocht haben. Sie stirbt nicht aufgrund eines Defizits, sondern weil sie die Ideale der höfischen Liebe und der Mutterliebe im höchsten Maß erfüllt. Wenn allerdings die Entscheidung für den eigenen Tod die einzig mögliche und darüber hinaus lobenswerte Reaktion einer Frau auf den Verlust der ihr zugeordneten männlichen Personen ist, dann sagt das viel über das Verständnis des Romans vom Verhältnis zwischen Männern und Frauen aus. Selbst Flories schriftliche Mitteilung, in der sie sich selbst zu Wort meldet und die sie persönlich autorisiert hat, ist letztlich ein Zeugnis radikaler Abhängigkeit. Materialität und Inhalt der Schrift wirken zusammen, um nicht nur das kostbare Grab oder den ehemals kostbaren Ring, sondern metonymisch auch Florie selbst als Schmuckstück erscheinen zu lassen, das von anderen genutzt oder eben nicht genutzt werden kann und dessen bloße Existenz, solange es

 Vgl. Fuchs, Hybride Helden, S. 120 – 122.  Vgl. Fasbender, Wigalois, S. 124.

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nicht benutzt wird, auch nicht als nützlich erachtet wird. Für die Bestattung Flories ist Wigalois nicht verantwortlich. Sie begräbt sich gewissermaßen selbst. In ihrem Grabmal, in der Grabinschrift, die sie gleichsam auf dem Ring für sich selbst verfasst hat, und in der Rede des Boten, der zwischen Grab und Schrift ebenso vermittelt wie zwischen der Senderin und den Empfängern, wird vorgeführt, welche Familienverhältnisse für einen jungen Herrscher am nützlichsten sind: Favorisiert wird eine Konstellation, in der die Mutter konstant absent ist, sobald der Held in die Welt hinausgeritten ist, ohne aber je von ihrer Liebe abzulassen, und in der der Vater eingeschränkt präsent ist und genau dann seine Auftritte hat, wenn er gebraucht wird. Wigalois muss beides bewerkstelligen: sich von seiner Herkunft lösen und sie integrieren. Die beiden Prozesse werden im Roman auf Mutter und Vater verteilt. Der Protagonist erhält in dieser Konstellation sowohl uneingeschränkte, aber nicht einschränkende Liebe als auch tatkräftige Hilfe. Zugleich ist und bleibt er, sobald er den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hat, völlig autonom und von seinen Eltern unabhängig. Im Gegensatz zu Japhite, Liamere und Florie stirbt Larie – Wigalois’ Ehefrau und zukünftige Mutter seines Sohnes – im Verlauf der Romanhandlung nicht und wird daher auch nicht begraben. Sie verwandelt sich auf andere Weise in ein Schmuckstück, in ein Kleinod, mit dem ihr Mann sich schmücken kann. Dies erreicht er zunächst durch einen Brief, den er Larie sendet. In diesem Brief spricht Wigalois davon, dass er Larie erwählt habe und dass sie von seiner Hand Krone und Land empfangen solle, dass er sie wahrhaftig liebe und dass er ihr Gefangener sei, den sie in Fesseln geschlagen habe (W 8759 – 8779). Der Brief wird unter einem Diamanten als zeichen […] sîner stæten minne verschlossen und an einem goldenen Ring befestigt (W 8700 – 8704). Nachdem Larie ihn gelesen hat, steckt sie ihn sich an die Hand (W 8781). Sodann nimmt sie öffentlich Wigalois’ Antrag an, verspricht, künftig all seinen Wünschen entgegenzukommen und bricht gemeinsam mit ihrer Mutter auf, um ihren Bräutigam zu treffen. In dieser kurzen Kommunikationsepisode finden zwei metonymische Verschiebungen statt: Der unter dem Edelstein eingekapselte Brief kann als Stellvertreter für den von der Liebe gefesselten Wigalois stehen, der die Nähe seiner Minnedame ersehnt. Man kann aber auch den gesamten Ring mitsamt Diamantstein und Liebesbrief als Sinnbild Laries betrachten. Indem diese sich den Ring ihres Geliebten an den Finger steckt, übereignet sie sich diesem symbolisch und macht sich dadurch selbst zu einem Stück Geschmeide, das Wigalois in Zukunft schmücken wird. Im Folgenden begleitet sie ihn sogar auf seinem Feldzug gegen Lion von Namur, um ihn mit ihrem Anblick zu erfreuen.¹⁰⁰ Larie wird dabei eingeschlossen in ein kostbares kastel, das auf dem Rücken eines Elefanten im Heereszug mitgeführt wird und das ein

 swar mîn her Gwîgâlois nu rit, / vrouwe Lârîe im volget mit, / wand er die schœnen gerne sach (W 10342– 10344: Wohin mein Herr Wigalois nun auch immer ritt, dahin folgte ihm Frau Larie, da er die Schöne gerne ansah).

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Gefäß aus Kristall und Rubin an einer goldenen Kette enthält, welches wiederum mit duftenden Essenzen gefüllt ist: mit golde was gehangen drîn / ein kristalle, lûterr danne ein glas, / daz vil wol gefüllet was / mit balsam der gap guoten smac. […] / besigelt in einem rubîn / was si; dâ von mans gesach. / der was der kristallen dach / und brehende als ein kerzen lieht / dâ man des nahtes bî gesiht (W 10361– 10379). An einer Goldkette war darin ein Kristall aufgehängt, klarer als Glas, der gut mit Balsam gefüllt war. Dieser verströmte einen angenehmen Geruch. […] Es [das Kristallgefäß, A.L.] war mit einem Rubin versiegelt, daher konnte man es überhaupt sehen. Dieser war der Deckel des Kristalls und leuchtete wie das Licht einer Kerze, von deren Schein man nachts sehen kann.

Der geschlossene Raum, in dem Wigalois seine Frau mit sich führt, zeichnet sich durch seine auffallend luxuriöse Ausstattung aus. Das Beförderungsmittel ist aber mehr als nur bequem – in mancher Hinsicht ähnelt es auf beunruhigende Weise dem Mausoleum, das Wigalois auf Glois zurückgelassen hatte. Lampen aus Rubin, die an goldenen Ketten hängen, mit Balsam gefüllt sind und einen Raum sowohl mit Licht als auch mit Wohlgeruch erfüllen, sind dem literarisch gebildeten Rezipienten aus dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke bekannt, wo sie Teil der Grabausstattungen des Pallas und der Camilla sind.¹⁰¹ In leicht abgewandelter Form (nämlich aus Glas oder aus Gold gefertigt) finden sie sich auch in der Bestattungsszene auf Glois. Der Turm auf dem Elefantenrücken ist zwar mit all seinen Decken, Betten und Fenstern ganz klar als Wohnraum und somit als Lebensraum gekennzeichnet. Was ihn aber mit Japhites Grab verbindet, ist die Tatsache, dass er die gleiche Wirkung erzielt wie eine Schmuckschatulle: Er weist im gleichen Moment auf die Kostbarkeit seines Inhalts hin, in dem er diesen Inhalt verwahrt, verschließt und von seiner Umgebung absondert. Mit dem Anstecken des Rings und mehr noch mit ihrem selbstgewählten Einzug in das Schatzkästchen auf dem Elefanten ist Larie zu einem Schmuckstück des siegreichen Ritters und Herrschers geworden. Sie ist nun eines der Attribute, die ihn auszeichnen, ähnlich wie sein Schwert und die noch vom Kampf gegen den Drachen blutige Lanze, die man vor der Braut herträgt, als sie bei der Hochzeitsfeier auf Wigalois zugeht (W 9369 – 9385). Wenn Larie von nun an handelt, dann handelt sie ausschließlich in Wigalois’ Sinn.¹⁰² In noch höherem Maß als Liamere und Florie stellt sie die Erfüllung dessen dar, was Japhite trotz ihrer großen Tugend nie sein konnte:

 Vgl. Eneasroman 225,38 – 227,10 und 254,27– 255,33.  Die eheliche Beziehung zwischen Wigalois und Larie ist nicht symmetrisch angelegt und soll es auch nicht sein, wie die Vermählungs- und Herrschereinsetzungshandlungen zeigen: vrouwe Lârîe satzte im dô / ûf sîn houbet schône / die guldînen krône / und bevalch in sîne hant / ir lîp, ir liute und ir lant / mit einem zepter guldîn. / dô kuste er die künigîn / und nam si in sînen gwalt (W 9433 – 9440: Da setzte ihm die Frau Larie anmutig die goldene Krone auf das Haupt und gab zusammen mit dem goldenen Zepter sich selbst, ihre Leute und ihr Land in seine Hand. Da küsste er die Königin und nahm sie in seine Vollmacht).

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Larie stirbt nicht für den falschen Mann, aber sie stirbt auch nicht für den richtigen oder für einen fernen Mann – Larie lebt mit dem richtigen Mann an ihrer Seite auf die einzig richtige Weise. Für den Protagonisten Wigalois heißt das, dass er mit seinem Vater Gawein und seiner Ehefrau Larie sowohl den Bereich der Blutsverwandtschaft als auch den der Affinalverwandtschaft emotional wie auch pragmatisch gesehen gut im Griff hat. Sieht man sich all die Szenen an, in denen im Anschluss an die Schilderung von Japhites Grabmal die Erinnerung an ebendieses Ensemble aus Materialien, Formen, Gefäßen und Schrift aktualisiert wird, dann stellt man fest, dass diese mehr oder weniger deutlich erkennbaren Zitate unter anderem dazu dienen, unterschiedliche Nuancen herrscherlicher Vervollkommnung auszuleuchten. Japhites Grab repräsentiert bei seiner zweiten Nennung die Möglichkeit der Konfliktvermeidung und der Koexistenz zwischen ‚Heiden‘ und Christen. Liameres Grab steht für die faktische Kooperation zwischen Christen und ‚Heiden‘ und für die Möglichkeit, gemeinsam einen höfischen Wertekanon zu vertreten und politische Ordnung herzustellen. Flories Grab schließlich ist ein Symbol für den Status des Helden als geliebter und seinerseits liebender, dabei aber doch selbständiger Nachkomme. Mit Wigalois’ Schreiben an Gawein hingegen werden der Vater und mit ihm auch der Artushof lose, aber dennoch verbindlich an den neuen Herrschaftsbereich angebunden; mit Wigalois’ Brief an Larie und ihrem Einschluss in den kostbaren Turm auf dem Elefanten wiederum wird eine eheliche Beziehung bezeichnet, die die Herrschaftsansprüche des Helden untermauert und ihm eine Partnerin an die Seite stellt, die ihn unterstützt, dabei aber fundamental von ihm abhängig ist. Jedes Mal, wenn die große Grabmalsekphrase zitiert wird, wird deutlich, wie sehr das Verständnis des Zitats vom jeweiligen Kontext abhängt, in den es eingebettet ist. Die Beziehungen des Protagonisten zu einer Reihe von tatsächlich oder metaphorisch begrabenen Frauen können in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich funktionalisiert werden, um etwas darüber auszusagen, wie die Figur des ‚hybriden‘ Helden verstanden werden soll: als miles christianus, aber auch als kooperationsbereiter Außenpolitiker; als Integrationsfigur und Verfechter höfischer Werte; als eigenständiger Nachfahr lobenswerter Eltern, der diese in seiner Tugend noch übertrifft; und als perfekter Ehemann. Von nun an handelt Wigalois oder lässt andere für sich handeln – von Ohnmacht oder Handlungsunfähigkeit ist nie wieder die Rede. Die eingeschlossene und beschriftete Japhite wird im Rückblick zu einem Sinnbild vollendeter herrscherlicher Macht, die sowohl direkt als auch indirekt in Form von Delegation ausgeübt wird. Ein solcher Herrscher wird durch Frauen nicht mehr bedroht. Die Transformation einer weiblichen Person in ein Zeichen, das in vielerlei Hinsicht über sich hinausdeutet, erweist sich vielmehr als sozusagen kontagiös: Sie überträgt sich auch auf andere Frauen, mit denen Wigalois im Folgenden zu tun hat. Ob tot oder lebendig – all diese Frauen verweisen in der Art und Weise, in der sie eingeschlossen, geschmückt, geschützt und aufbewahrt werden, auf die Tugenden und den Status des Protagonisten als Landesherrscher.

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3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

Schwache Helden und lebendige Tote in jüngeren Bearbeitungen des Stoffs Bei allen späteren Bearbeitungen des Wigalois handelt es sich, wie bei den Bearbeitungen von Hartmanns Gregorius, um ‚Texte auf zweiter Stufe‘. Die jüngeren Erzählungen variieren auf ihre Weise den Hypotext Wigalois, und sie variieren ihn in einer Weise, die man mit Gérard Genette als ‚Transposition‘ bezeichnen könnte, d. h. als Transformation des Vorlagentextes in einem ernsten Register.¹⁰³ Ihre Autoren erzählen mehr oder weniger die gleiche Geschichte wie Wirnt von Grafenberg, nur eben kürzer, in Strophen, in Prosa, unter Weglassung bestimmter narrativer Elemente, unter Zuhilfenahme von Holzschnitten anstelle von Handschriftenilluminationen etc. In den meisten dieser durch Transposition hergestellten Hypertexte werden weder die Inszenierung des Geschlechterverhältnisses noch die der Position des Protagonisten innerhalb seiner Gemeinschaft grundlegend angetastet.¹⁰⁴ Die früheste Bearbeitung von Wirnts von Grafenberg Wigalois ist Dietrichs von Hopfgarten Wigelis von 1455. In dem Fragment, das von diesem Text erhalten ist, fehlt leider die gesamte Glois-Episode und damit möglicherweise auch Grab und Inschrift.¹⁰⁵ Der Wigoleis wiederum, die Neuerzählung des Wigalois in Strophen, mit der der Landshuter Maler und Dichter Ulrich Füetrer den zweiten Teil seines Buches der Abenteuer aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts (1478 – 1483) begann, erzählt zwar von Wigalois’ Erlebnissen auf Glois, nicht aber vom Begräbnis Laueits, der Geliebten seines Hauptgegners Roas.¹⁰⁶ Im Widuwilt, einer jiddischen Adaption des Wigalois, die vermutlich im 15. Jahrhundert entstand,¹⁰⁷ werden Bestattung und Beschriftung nicht einfach nur ausgespart. In dieser Adaption wird vielmehr die Handlung ab der Begegnung des Protagonisten mit der ‚wilden Frau‘ (oder besser: mit vielen ‚wilden Frauen‘) bedeutend modifiziert, sodass für eine Inschrift am Ende gar kein Platz mehr ist: Widuwilt kämpft auf dem Höhepunkt der Handlung nicht gegen den Riesen, gegen den er ausgezogen war, sondern gegen dessen ebenfalls riesenhafte Mutter. Diese besiegt den Ritter und verwundet ihn schwer, verschont aber freiwillig sein Leben und gibt ihm genaue Anweisungen, wie er im Folgenden geheilt werden und die ihm bestimmte Frau erringen kann. An die Stelle von Sieg und Bestattung treten Verwundung und andau-

 Vgl. Genette, Palimpseste, S. 43 – 44.  Eine Ausnahme ist der jiddische Widuwilt. Zu einer Interpretation dieser Abweichung gegenüber der Vorlage vgl. Lembke, Ritter außer Gefecht.  Vgl. Christoph Fasbender: Der ‚Wigelis‘ Dietrichs von Hopfgarten und die erzählende Literatur des Spätmittelalters im mitteldeutschen Raum. Stuttgart 2010, S. 62.  Vgl. Ulrich Füetrer: Wigoleis. Hg. von Heribert A. Hilgers. Tübingen 1975, Str. 252– 282.  Vgl. Leo Landau: Arthurian Legends or the Hebrew-German Rhymed version of the Legend of King Arthur. Published for the first time from Manuscripts and the Parallel Text of Editio Wagenseil together with an Introduction, Notes, Two Appendices, and Four Fac-Similes. Leipzig 1912; Irving Linn: Widwilt Son of Gawain. PhD Thesis. New York University. Graduate School 1941; Achim Jaeger: Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen ‚Widuwilt‘ (‚Artushof‘) und zum ‚Wigalois‘ des Wirnt von Gravenberc. Tübingen 2000; Wulf-Otto Dreeßen: Art. ‚Widuwilt‘, in: VL Bd. 10, Sp. 1006 – 1008.

3.3 Bestattungen und Beschriftungen auf dem Weg zur Herrschaft

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ernde Ohnmacht.¹⁰⁸ Auch im Widuwilt kommt es somit zu einem Bezeichnungsakt – verantwortlich ist dafür allerdings nicht der Protagonist, sondern seine größte Widersacherin. Als logische Folge kann im Widuwilt gar nicht davon erzählt werden, wie sich der Held auf dem Territorium seiner Gegner durch das Anbringen einer Inschrift an einem Grabmal verewigen lässt. Aufgenommen wird hingegen zumindest das Element des prächtigen Mausoleums – wenn auch nicht das der Inschrift – im Wigoleis vom Rade, der Prosaauflösung des Romans. Die gar schone liepliche und kurtzweilige History von dem Edelen herren Wigoleis vom Rade wurde vermutlich schon 1483 abgeschlossen, aber erst zehn Jahre später in Augsburg von Johann Schönsperger dem Älteren erstmals gedruckt.¹⁰⁹ Ein Zweitdruck von 1519, der unmittelbar auf den Augsburger Druck zurückgeht und nur geringfügige Änderungen aufweist, stammt aus der Offizin des Johannes Knoblauch in Straßburg.¹¹⁰ In der Prosaauflösung wird vom Begräbnis Laneyts, der Geliebten Roas’ in denkbar lakonischer Knappheit erzählt: sy […] namen die frauen Laneÿt die durch groß lieb vnd stte treüe jr leben verloren het vnd brachten die z dem grabe. wlliches grab mit slicher grosser reycheyt von edlem gesteÿne vnd gold gezieret was daz wunder dauon zsagen wr. das laß ich durch kürcz vnderwegen. dann sllich groß kost vnnd reÿchtumb bey vns gancz vngeleüblich sind. auch an sllicher sag nit mehr vil ligt denn daz die hÿstori dardurch gelengert würde. Graff adam vnd die junckfrawen begiengen jren frawen die begrebtnuß nach site vnnd gewonheit jres gelaubens mit grosser klage vnd reicheyt als sich dann jrer gepurde vnd stand gebüret. ¹¹¹

Der Erzähler stellt nur summarisch fest, dass das Grabmal mit Edelsteinen und Gold verziert und außerordentlich prachtvoll sei und dass Graf Adam und die Jungfrauen der Verstorbenen diese standesgemäß und nach Art ihres Glaubens zu Grabe getragen hätten. Eine genaue Beschreibung des Grabmals hält der Erzähler für unnötig und sogar für störend und verzichtet deshalb darauf. Interessant ist an dieser Stelle allerdings, wie die Szene bebildert und wie die Bebilderung verbal eingeleitet wird. Die Überschrift zu einem Holzschnitt, der das Grab zeigt, lautet nämlich: Hie ligt die schn Larie begraben. ¹¹² Diese Beschriftung geht wahrscheinlich auf ein mangelndes Textverständnis des Redaktors oder des Setzers zurück. Denn Larie, die Wigoleis schon bald heiraten wird, stirbt weder an dieser noch an einer anderen Stelle der Roman Vgl. Lembke, Ritter außer Gefecht.  Vgl. Fasbender, Wigalois, S. 207– 208; Hans-Joachim Ziegeler: Art. ‚Wigoleis vom Rade‘, in: VL Bd. 10, Sp. 1067– 1070.  Vgl. Helmut Melzer: Einleitung, in: Wigalois. Hg. von Helmut Melzer. Hildesheim 1973, S. 1– 9, hier S. 2.  Wigoleis (Augsburg 1493, GW 12842). Ein Digitalisat des Drucks wird von der Bayerischen Staatsbibliothek zur Verfügung gestellt (URN: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00006620 – 6, letzter Zugriff am 23.04. 2020), hier Bildnr. 40. Eine Abschrift des Textes präsentiert Alois Brandstetter: Wigoleis vom Rade. Hg. von Alois Brandstetter, in: Alois Brandstetter: Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Frankfurt a. M. 1971.  Wigoleis (Augsburg 1493, GW 12842), Bildnr. 40.

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3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

handlung und wird auch nicht begraben. Seltsamerweise wird eine solche unpassende Betitelung eines Bildes noch ein zweites Mal vorgenommen. Nachdem der Erzähler von der Bestattung Lyamires durch den Fürsten Lyon berichtet hat, wird abermals der Holzschnitt mit dem Grab gezeigt. Dieses Mal lautet die Überschrift: Hie litg [sic] begraben herr Wigoleÿß haußfrawe. ¹¹³ Auch hier wird also konträr zur Romanhandlung behauptet, dass Larie begraben worden sei. Bilder und Erzähltext ergänzen einander zwar in beiden Fällen, ohne dass es zu irgendwelchen Brüchen kommt. Die Beschriftung der Bilder allerdings verhält sich völlig widersprüchlich zu dem, was im Text erzählt wird. Der Leser oder die Leserin muss selbst korrigierend tätig werden, um die verschiedenen Text- und Bildelemente in Einklang zu bringen. Er oder sie weiß, dass Larie, die Braut des Titelhelden, nach wie vor lebendig ist. Im Zusammenspiel von Bildüberschrift und Bild aber wird sie gleichsam ‚totgeschrieben‘. Laneyts Zustand fundamentaler Leblosigkeit und Objekthaftigkeit wird auf diese Weise nicht nur metaphorisch und nicht nur auf Lyamire übertragen. Auf der Ebene der Gemachtheit des Buchs wird auch Larie davon infiziert, und zwar sehr konkret. Das Versehen des Redaktors, das übrigens in die Straßburger Ausgabe von 1519 unverändert übernommen wird,¹¹⁴ kann vom Publikum leicht erkannt und im Rückgriff auf die eigenen Textkenntnisse korrigiert werden. Auffällig ist es dennoch. In Wirnts von Grafenberg Wigalois war Larie im übertragenen Sinn unter die Zahl der begrabenen Frauen eingereiht worden, indem bei der Sendung des Briefs im Ring und bei ihrer späteren Verwahrung in dem kostbaren Tragebehältnis das Grabmal der Japhite zitiert wurde. In der Prosaauflösung wird eine solche Sicht auf Wigalois’ Ehefrau und allgemein auf die weiblichen Figuren im letzten Teil des Romans stattdessen in den Fehlern sichtbar, die in den beiden Bildüberschriften gemacht werden. Dass es überhaupt möglich ist, Larie mit Laneyt und auch mit Lyamire zu verwechseln und diesen Fehler sogar in nachfolgenden Drucken nicht zu revidieren, zeigt, dass die drei Frauen als ähnlich angesehen werden. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen: In noch größerem Ausmaß als im Wigalois erhalten sie keine Charakterisierung, keine eigene Geschichte und keine andere Funktion als die, dem Protagonisten die Gelegenheit zu geben, sich als vortrefflicher Held und Herrscher zu erweisen. Die Vertauschung zeugt davon, dass sie letztlich genau das sind: austauschbar.

 Wigoleis (Augsburg 1493, GW 12842), Bildnr. 49.  Vgl. Wigoleis (Straßburg 1519, VD 16 ZV 6386). Ein Digitalisat des Drucks wird von der Österreichischen Nationalbibliothek zur Verfügung gestellt (URL: http://data.onb.ac.at/rep/10907232, letzter Zugriff am 23.04. 2020), hier Bildnr. 87– 88 sowie 104– 105. Auch im Frankfurter Druck von ca. 1560 findet sich der gleiche Fehler (VD 16 ZV 6380). Ein Digitalisat wird von der Bayerischen Staatsbibliothek zur Verfügung gestellt (URN: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00082878 – 4, letzter Zugriff am 23.04. 2020).

3.4 Die Auferweckung des Textes

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3.4 Die Auferweckung des Textes Im Wigalois erhält das Ensemble aus Schrift, Sarg und Mausoleum eine prominente Position am Wendepunkt der Handlung und kann als Angelpunkt einer Interpretation der Glois-Episode und darüber hinaus der gesamten Romanhandlung verwendet werden. Zuletzt kann man fragen, ob oder wie der Autor mittels Grab und Epitaph darüber reflektiert, wie der Roman gemacht ist und welche Ziele er verfolgt. Um diese Frage zu beantworten, kann man Schrift und Schriftträger zu demjenigen Paratext in Beziehung setzen, den Wirnt von Grafenberg – ebenso wie Hartmann von Aue und viele andere mittelalterliche Autoren auch – noch vor Handlungsbeginn dazu nutzt, ein Programm seines Werks zu entwerfen: den Prolog des Romans. Der Wigalois beginnt – zumindest in den zwei ältesten der überlieferten Handschriften A (Köln) und B (Leiden) – mit einer Frage: Das Buch selbst fragt, wer es denn aufgeschlagen habe, bittet darum, von seinen Rezipienten ob seiner Unvollkommenheit nachsichtig behandelt zu werden, und klagt darüber, dass es sich vor Verleumdungen schlechter Menschen nicht schützen könne. Auf diese Rede folgen einige allgemeine sentenzhafte Kommentare über richtiges Verhalten: wer nach triuwe und êre strebe (W 21), der bedürfe guter Lehre und nachahmenswerter Vorbilder. Das Ziel müsse ein doppeltes sein, nämlich sælde im Diesseits sowie êwiclîchez leben im Jenseits (W 30 – 31).¹¹⁵ Als Nächstes meldet sich der Erzähler zu Wort, sich selbst als Autor inszenierend, und spricht zuerst über seine eigene angebliche Unzulänglichkeit als der rede meister (W 38), dann über den richtigen Umgang eines Autors mit seinem Können, das er weder für sich behalten noch an Unwürdige verschwenden dürfe, und schließlich über lobenswerte und verurteilenswerte Rezeptionshaltungen. Schließlich informiert der Erzähler in der Rolle des Autors über das Ziel, das er mit seinem werc (W 140) verfolge: Er wolle seine Kunstfertigkeit offenbar machen, den Menschen in schweren Stunden Annehmlichkeiten verschaffen, der werlte ze minnen handeln und sich auf diese Weise ir gruoz verdienen (W 142– 144).¹¹⁶ Mithilfe der aus anderen Romanen bekannten Versatzstücke, die Wirnt in seinem Prolog verwendet – Bescheidenheitstopos, Exordialsentenz, Selbstnennung und Reflexion über die Zwecke und Problematiken der Produktion literarischer Texte –, reiht er sich in die deutschsprachige Prologtradition seiner Zeit ein. Originell und innovativ ist, dass der Roman in zwei Handschriften nicht mit einer Sentenz beginnt, sondern mit einer Ansprache des Buches als Gegenstand gewordene Dichtung. Die Exordialsentenz folgt erst anschließend. Michael Curschmann hat daraus einleuchtend geschlussfolgert, dass der Wigalois zweimal beginnt – einmal für ein Lesepublikum, das

 Zur Anspielung auf Hartmanns Iwein-Prolog (dort 1– 20) vgl. Fasbender, Wigalois, S. 49 und 51; Amelie Bendheim: Wechselrahmen. Medienhistorische Fallstudien zum Romananfang des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 2017, S. 212– 214.  Zur Anspielung auf Hartmanns Prolog zum Armen Heinrich (Der arme Heinrich 8 – 15) vgl. Fasbender, S. 49.

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3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

das Buch vor sich hat, und ein weiteres Mal für ein Publikum, dem der Text vorgetragen wird: Ich möchte das, was Vers 20 beginnt, einen öffentlichen Prolog nennen. Er ist am ehesten wirksam als Wortgeste eines Vortragenden im Kreis seines versammelten Publikums. Im Vergleich dazu klingen die vorausgehenden 19 Verse entschieden privat: das Buch spricht zu dem Einen, der es öffnet, dem Leser. Im öffentlichen Vortrag würden diese Verse geradezu deplatziert, fast sinnlos klingen, und ein berufsmäßiger Vortragender war wohl geschickt genug, sie überhaupt wegzulassen.¹¹⁷

In den neunzehn Versen, in denen das Buch zu sich selbst oder zu einem Leser spricht, hebt Wirnt deutlich die medialen Bedingungen hervor, unter denen er seinen Roman konzipiert. Sein Werk ist eines, das schriftlich fixiert ist und an dieser Stelle explizit als Resultat schriftliterarischen Schaffens verstanden werden will.¹¹⁸ Dass in den meisten Handschriften der Monolog des Buchs fehlt, lässt vermuten, dass ein solcher Gedanke nicht als selbstverständlich angesehen und vielleicht aus diesem Grund erst später hinzugefügt oder aber, wie Curschmann meint, in konkreten Vortragssituationen unterschlagen wurde.¹¹⁹ Inwiefern entwirft nun Wirnt von Grafenberg in seinem Prolog (oder auch: in den zwei Teilen seines Prologs) ein literaturtheoretisches Programm? Folgt man der bisherigen Forschung, dann muss man wohl zunächst zu folgendem Schluss kommen: Falls Wirnt überhaupt ein metanarratives Konzept im Sinn hatte, dann ist ihm dieses in der Ausführung nicht besonders gut gelungen. Walter Haug etwa vergleicht den Wigalois-Prolog mit den Prologen anderer zeitgenössischer oder wenig älterer Autoren und stellt fest: „[D]em ‚Wigalois‘-Prolog fehlt ein klar durchdachtes literaturtheoretisches Konzept. Wirnt hat einzelne Elemente aus den Prologen Gottfrieds, Hartmanns und Wolframs herausgelöst, sie auf Versatzstücke reduziert und mehr oder weniger geschickt zusammengebaut“, und weiter: „Von dem, was der Roman selbst an zukunftsträchtigen erzählerischen Möglichkeiten aufschließt, faßt der Prolog nichts, wenn man nicht die Ausrichtung auf das Lehrhafte mit der neuen, normenvermittelnden Heldenfigur in Verbindung bringen will.“¹²⁰ Etwas mehr als zehn Jahre später

 Curschmann, Hören, S. 226 – 227.  An anderen Stellen, etwa in W 11686 – 11690, beruft sich der Autor auf mündliche Überlieferung.  Vgl. Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach: Kommentar, in: Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. 2., überarbeitete Auflage. Berlin, Boston 2014, S. 301– 347, hier S. 301. Zu der These, dass Wirnt von Grafenberg sich an dieser Stelle an Ovids Tristien orientiert, in denen ebenfalls ein Buch zu Wort kommt, vgl. Sabine Seelbach: Buch im Exil. Zum mehrfachen Textanfang des ‚Wigalois‘ Wirnts von Grafenberg, in: Textanfänge. Konzepte und Analysen aus linguistischer, literaturwissenschaftlicher und didaktischer Perspektive. Hg. von Ulrike Krieg-Holz und Christian Schütte. Berlin 2019, S. 231– 250, hier S. 234– 235.  Haug, Literaturtheorie, S. 268 und S. 269. Zu der Annahme, dass Wirnts Roman als hauptsächlich didaktisch geprägtes Werk anzusehen sei, vgl. auch Mertens, lêre, S. 86 – 89, sowie Elisabeth Lienert: Zur Pragmatik höfischen Erzählens. Erzähler und Erzählerkommentare in Wirnts von Grafenberg

3.4 Die Auferweckung des Textes

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knüpft Stephan Fuchs in seiner Monographie zu den ‚hybriden Helden‘ Gwigalois und Willehalm an das Urteil Walter Haugs an, dass sich in Wirnts Prolog kaum eine Reflexion darüber finden lasse, was und wie der Autor im Folgenden zu erzählen plane und mit welcher Absicht. Wirnt erschaffe einen völlig neuen Romantyp, der mit dem Stichwort der Epigonalität nicht hinreichend gekennzeichnet werden könne. Die inhaltliche und strukturelle Entfernung zu seinen Vorbildern versuche Wirnt durch lediglich oberflächliche Orientierung an ebendiesen zu kaschieren. Die Etikettierung als ‚epigonal‘ hat somit laut Fuchs dennoch eine gewisse Berechtigung. Der Roman falle immer wieder dem Verdikt des Epigonalen deshalb anheim, weil kein poetologisches Konzept formuliert ist, das die poetisch-narrative Verfahrensweise der Gesamterzählung reflektierte in der Form einer Selbstauslegung.Wo dies zu suchen wäre, im Prolog, fehlt jeder Gedanke, der auch nur versuchshalber das überstiege, was Prologe vor Wirnt formuliert haben, ja an vielen Stellen bleibt er deutlich hinter den wiederum eifrig zitierten Vorbildern zurück.¹²¹

Aus der Sicht Walter Haugs und Stephan Fuchs’ borgt Wirnt einzelne Prologelemente von anderen Autoren, um an deren Geltung zu partizipieren, ohne aber daraus selbst ein eigenes Profil zu entwickeln. Zu überlegen ist aber, ob gerade in Wirnts Verfahrensweise einer Montage und Neuanordnung vorgefundener Traditionen eine Art literaturtheoretisches Programm sichtbar wird. Betrachtet man darüber hinaus nicht nur den handlungsexternen Prolog, sondern auch die handlungsinterne Inschriftenepisode als metanarrative Kommentare dazu, wie der Roman gemacht ist, dann lässt sich auch danach fragen, wie diese beiden Kommentare aufeinander bezogen werden können, um daraus ein dem gesamten Text zugrunde liegendes Programm abzuleiten. Eine mögliche Antwort lautet, dass der Autor seinen Text im Prolog und in der Grabmalsepisode vor allem unter drei eng miteinander zusammenhängenden Gesichtspunkten beleuchtet: Er reflektiert über den Roman als artifiziellen, menschengemachten und wertvollen Gegenstand, als Vehikel zur Vermittlung verschiedener Ideale und als heterogenes und hybrides Kunstprodukt.

Artifizialität und Geltung Ein Thema, das Wirnt in seinem Wigalois-Prolog immer wieder aufnimmt, ist das der unterschiedlichen Möglichkeiten, seinen Roman zu rezipieren. Ein Autor kann, so der Erzähler mit dem Namen Wirnt von Grâvenberc (W 141), nur sehr bedingt Einfluss darauf nehmen, ob das Publikum sich darum bemüht, das zu verstehen, was ihm dargeboten wird. Wenn schlechte Menschen die Erzählung hörten, dann sei nicht zu erwarten, dass sie etwas Anständiges damit anzufangen wüssten:

‚Wigalois‘, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 234 (1997), S. 263 – 275, hier S. 268.  Fuchs, Hybride Helden, S. 109 – 110.

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3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

si bietent lîhte d’ôren dar: / ir muot stêt aber anders war: / an valsch und an bôsheit. / swaz den von mir wirt geseit, / daz ruofte ich gerner in einen walt: / dâ vünde ich doch die tagalt / daz mir mîn ôre würde erschalt. / […] swaz dem von mir wirt geseit / êren oder vrümicheit, / des nimt er vil kleine war; / er lât ez durch diu ôren gar, / zem einen în, zem andern ûz. / ezn vrumt in niht umb ein grûz / swaz ich im [guotes] gesagen kan, / wand im sîn valschez herze erban / guotes unde êren (W 98 – 117). Sie halten vielleicht die Ohren hin, ihr Sinn ist aber auf anderes gerichtet, nämlich auf Unredlichkeit und Bosheit.Was auch immer ihnen von mir gesagt wird, das riefe ich lieber in einen Wald hinein. Davon hätte ich wenigstens den Spaß, dass der Schall an mein Ohr zurückgelangte. […] Was auch immer ihm [dem valschen, A.L.] von mir gesagt wird über Ehre und Anständigkeit, das nimmt er kaum wahr. Er lässt es sich durch die Ohren gehen, zum einen hinein, zum anderen hinaus. Es bringt ihm nicht das kleinste Bisschen, was ich ihm auch Gutes sagen kann, da ihm sein falsches Herz alles Gute und jede Ehre missgönnt.

Es genügt also nicht, lediglich die Ohren aufzusperren. Nur wer mit muot und herze bei der Sache ist (und die Rede wirklich versteht), für den ist der Vortrag kein bloßes Geräusch. Die Mahnung, dass nur ein Rezipient mit einer angemessenen Rezeptionsdisposition die Erzählung wirklich verstehen wird, findet sich auch in anderen Romanen, auf die sich Wirnt an dieser Stelle möglicherweise bezieht.¹²² Wirnt betont, dass der Zuhörer in der Vortragssituation eine aufmerksame Haltung einnehmen müsse, wenn er wirklich Zugang zu der Erzählung finden wolle. Dieses Problem greift er mehrmals auf. Gerahmt wird die Klage über die Ohren, die nur den Schall der Worte aufnehmen, ohne dass ihr Besitzer auch den Inhalt verarbeitet, von dem zweimaligen Vorwurf, dass der unverständige Rezipient mit einem Schwein zu vergleichen sei (W 75 – 81 und 120 – 121). Das rote Gold und die Edelsteine der Erzählung seien an eine solche Person völlig vergeudet. Doch nicht nur der Erzähler sorgt sich darum, was mit seiner Geschichte geschieht, wenn sie in fremde Hände gerät – in den Handschriften A und B tut es auch die Erzählung selbst. Der Roman beginnt dort mit dem Hinweis darauf, dass das Publikum mit ihm in Form eines Gegenstandes in Berührung komme, eines Objekts, das der Autor als reagierendes, denkendes, sprechendes Gegenüber inszeniert. Wer hât mich guoter ûf getân? (W 1: Welch guter Mensch hat mich aufgeschlagen?), so fragt das Buch im ersten Vers, scheinbar von der Annäherung eines Lesers überrascht und aufgestört, und fährt mit der dringenden Bitte fort, von Verleumdungen abzusehen:

 Zum Topos des missgünstigen Zuhörers in Gottfrieds Tristan vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 195 – 202. Auch bei Hartmann von Aue etwa wird das Thema angesprochen, wenn auch nicht vom übergeordneten Erzähler, sondern von der ihrerseits eine Geschichte erzählenden Figur Kalogreant: man verliuset michel sagen, / man enwellez merken unde dagen. / maniger biut die ôren dar: / ern nemes ouch mit dem herzen war, / sô ne wirt im niuwan der dôz, / unde ist der schade al ze grôz: / wan si verliesent beide ir arbeit, / der dâ hœret unde der dâ seit (Iwein 249 – 256: Viele Worte sind umsonst, wenn man nicht auf sie achtet und schweigt. Manch einer leiht zwar die Ohren hin, wenn er es aber nicht mit dem Herzen aufnimmt, dann hat er nichts als den leeren Schall und der Schaden ist allzu groß: Die Mühe beider ist vergebens, die des Zuhörers und die des Erzählers).

3.4 Die Auferweckung des Textes

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sî ez iemen der mich kan / beidiu lesen und verstên, / der sol genâde an mir begên, / ob iht wandels an mir sî, / daz er mich doch lâze vrî / valscher rede: daz êret in (W 2– 7). Wenn es jemand ist, der mich sowohl lesen als auch verstehen kann, dann soll er mir Gnade zuteilwerden lassen und mich, auch wenn es etwas an mir auszusetzen gibt, mit falscher Rede verschonen. Das ehrt ihn.

Der Sprecher, der sich hier an sein Publikum wendet,¹²³ ist nicht identisch mit dem Erzähler, der den Prolog zwanzig Verse später fortführt und Hörerinnen und Leser ab Vers 145 durch die Handlung geleitet. In den ersten Versen spricht vielmehr die Erzählung selbst – als Buch in objektifizierter und als sprechendes Buch in personifizierter Gestalt.¹²⁴ Zunächst äußert sich die Erzählung als gegenständliches Buch. Bereits ab der Mitte des zweiten Verses aber, wenn nicht mehr nur vom Lesen, sondern auch vom Verstehen die Rede ist, findet eine Verschiebung vom Buch zum Inhalt statt. In der Rede der Erzählung fallen somit nach und nach Materialität und Inhalt der Schrift zusammen. Die Erzählung inszeniert sich selbst sowohl als konkreter als auch als abstrakter Gegenstand. Sie erscheint einerseits in Gestalt eines Artefakts, also als Ding, das von einem Leser angefasst und gehandhabt werden kann, wenn er sich den Inhalt lesend und verstehend zugänglich machen will. Andererseits ist sie auch ein immaterieller Gegenstand, an dem nicht physisch, sondern gedanklich und verbal Wohltaten und Verbrechen verübt werden können. Stets aber ist die Erzählung ein Objekt der Handlungen anderer, deren Manipulationen sie ebenso hilflos ausgeliefert ist wie Wigalois den Annäherungen der Bewohnerinnen des Landes Korntin. Aus diesem Grund versucht die Erzählung, mit dem fiktiven Leser in Interaktion zu treten, indem sie einen Appell an ihn richtet und ihn in seiner Rezeptionshaltung zu beeinflussen sucht. Ihre Bitte um Gnade ist aber nur deshalb notwendig, weil sogar eine bessere Erzählung als sie selbst vor mutwilligen Verleumdungen niemals sicher sein kann (W 14– 15). Jede Erzählung, so behauptet es die Auftaktrede im Wigalois, ist ultimativer Gefährdung ausgesetzt, sobald ihr Autor sie aus seiner Obhut entlässt. Mit diesem ersten Prologteil geht Wirnt von Grafenberg einen Schritt weiter als Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach oder Gottfried von Straßburg. Auch diese Autoren thematisieren die problematische Situation, dass erstens ein ‚Werk‘

 Der empirische Leser hat es zunächst mit zwei Büchern zu tun, von denen im Prolog behauptet wird, dass sie identisch seien: erstens mit dem Gegenstand, den er während des Leseakts vor sich hat, und zweitens mit dem fiktiven Gegenstück zu diesem Buch, das im Prolog des Romans zu Wort kommt. Dazu kommen drittens die Bücher und anderen schrifttragenden Artefakte, von denen innerhalb der Handlung erzählt wird: beispielsweise das Buch, aus dem eine Jungfrau ihrer Herrin die Geschichte von Eneas’ Flucht aus Troja vorliest.  Die Erzählung tritt auch in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens als Sprecherin auf. Hier gibt sich die Sprechinstanz wohl in einer Anspielung auf Wirnts ‚Leseprolog‘ zu Beginn des zweiten Buchs als ‚Aventiure‘ zu erkennen. Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens. Hg. aus dem Wasserburger Codex der fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk. Mit 3 Tafeln im Lichtdruck. Berlin 1905. Dort heißt es: Wer hat mich gůter her gelesen? […] / Ich bin dú Aventúre (Rudolf, Willehalm 2143 – 2152).

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3 Den Herrschaftsbereich kontrollieren: Wirnts von Grafenberg Wigalois

existiert, für das ein Autor unter seinem eigenen Namen Verantwortung übernimmt, und dass das Werk zweitens von seinem Autor notwendigerweise abgetrennt ist und dieser daher keine Kontrolle darüber ausüben kann, was andere damit anfangen. Kein empirischer Dichter kann verlässlich darauf hinwirken, dass seine Rezipienten das Gedichtete und Aufgeschriebene überhaupt verstehen, ob sie es missverstehen oder ob sie es sogar böswillig schmähen. Indem Wirnt seine Befürchtungen nicht nur dem Erzähler als dem fiktiven Alter Ego des Autors, sondern auch der Erzählung in Buchgestalt in den Mund legt, macht er das Problem noch deutlicher als seine literarischen Vorbilder. Die schriftliche Fixierung kann nicht verhindern, dass sich jegliche Erzählung der Deutungshoheit ihres Urhebers entzieht, sobald das Publikum den Text, ob mündlich oder schriftlich, in Abwesenheit des Autors rezipiert. Erzählerfiguren sind, so Maria Selig, ein Mittel, um die Lücke zwischen Autor und Publikum zu verkleinern oder sie zumindest kleiner erscheinen zu lassen: Für die narrative Dichtung […] wissen wir, daß das Fehlen des direkten physischen Kontaktes zwischen Autor und Publikum durchaus als prekär und problematisch erlebt wurde. Die Verfasser der narrativen Texte reagieren auf die veränderte Situation [der zerdehnten Kommunikation, A.L.] dergestalt, daß sie der eigentlichen Erzählung fast immer einen ausgedehnten Metatext zur Seite stellen, der die Elemente der externen Kommunikationssituation, das heißt der Kommunikationssituation zwischen Autor und Publikum, explizit macht und auf diese Weise den Wegfall der Ko-Präsenz zu kompensieren sucht.¹²⁵

Deutlich konturierte Erzählinstanzen suggerieren, dass sich das Publikum nicht in einer einseitigen Rezeptionssituation befindet, sondern in einer potenziell dialogischen Kommunikationssituation. Je mehr es bereit ist, sich mit dem vom Erzähler im Text angesprochenen fiktiven Publikum zu identifizieren, desto leichter, so lautet möglicherweise das Kalkül, lässt es sich auch über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg ermahnen, aufrütteln, provozieren, kurz: in der Rezeption des Textes beeinflussen. Wirnt übertrifft Hartmann, Gottfried und Wolfram beim Aufbau einer solchen rezeptionssteuernden Anordnung insofern, als er in seinem Prolog mit der Erzählung zusätzlich zum Erzähler ‚Wirnt‘ noch eine weitere Erzählinstanz einführt, die für sich Geltung und Autorität beansprucht und die dem Erzähler übergeordnet ist: All das, was der Erzähler im Folgenden redet und spricht, ist schließlich in dem Buch enthalten, das im ersten Vers aufgeschlagen wurde. Die Erzählung als Erzählinstanz tritt wiederum in zwei unterschiedlichen Aggregatzuständen auf: als abstrakter und als konkreter Gegenstand. Im Wigalois spricht einerseits die immaterielle Erzählung, so

 Maria Selig: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Bereich der trobadoresken Lieddichtung, in: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Werner Röcke und Ursula Schaefer. Tübingen 1996, S. 9 – 37, hier S. 18. Kritisch gegenüber dieser Position verhält sich Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009, S. 38 – 40. Glauch zufolge ist gut vorstellbar, dass die Erzählerstimme die physische Autorität der Stimme des Vortragenden nicht ersetzt, sondern ergänzt. Glauch, Schwelle, S. 40.

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wie sie es etwa in Wolframs Parzival in Gestalt der personifizierten ‚Frau Aventiure‘ tut (P 433,7).¹²⁶ Andererseits wird im ersten Prologteil und nochmals am Ende des Romans, die Klammer schließend, darauf verwiesen, dass die Erzählung in Buchform vorliegt (W 11708: hie hât daz buoch ein ende). Die Geschichte bezieht gerade aus der Tatsache, dass sie sich im ersten Vers des Romans in einem Ding materialisiert, nicht nur Zugänglichkeit und damit Verletzlichkeit, sondern auch Präsenz und Dignität. In der physischen Gegenständlichkeit rückt der Charakter der Erzählung als menschengemachtes Artefakt so stark in den Vordergrund, dass mit der materialen, handwerklichen Gemachtheit des Buchs auch die menschliche Urheberschaft der Geschichte umso deutlicher hervortritt. Doch nicht nur im ersten Prologteil werden aus dem ‚Mund des Buchs‘ poetologische Reflexionen über die Machart des Romans laut, sondern auch im zweiten Prologteil aus dem Mund des Erzählers. Nicht umsonst benennt der Erzähler seinen Text im zweiten Prologteil sowie im Epilog als werc (W 140 und 11669), d. h. als Produkt einer handwerklichen und künstlerischen Arbeitsleistung. Was dies für den Roman insgesamt bedeutet, wird klar, wenn man sich ansieht, wie das Wort innerhalb der Handlung verwendet wird. An sieben Stellen bezeichnet es exquisite, kunstvoll hergestellte und wertvolle Objekte: Flories Gürtelschnalle (W 779) und ihre Spange (W 838), Jorams Radautomaten (W 1038), Elamies Papageienkäfig (W 2523), Roaz’ Brünne (W 7373 und 8372), Japhites Mantel (W 7441) und Laries Spange (W 10575). Bei dem erzählerischen werc handelt es sich ebenso um ein von einem bestimmten Menschen hergestelltes Objekt wie etwa bei diesem zuletzt genannten Artefakt, Laries Spange aus Smaragd, Saphir und Rubin. Während das Publikum bei den meisten anderen Gegenständen nicht erfährt, wer sie gemeistert hat,¹²⁷ meldet sich der Verfertiger von Laries Spange selbst zu Wort und informiert sogar mit einem Augenzwinkern über die Art und Weise der Fertigung: alsus hât gemeistert dar / nâch dem wunsche ditze werc / mit worten Wirnt von Grâvenberc (W 10574– 10576: Wirnt von Grafenberg hat dieses Werk so, wie man es sich nur wünschen kann, mit Worten hergestellt). Der Dichter wendet also das Verfahren der Ekphrasis nicht nur an, sondern stellt es auch als literarische Strategie aus. Damit durchbricht er die Illusion, Wirklichkeit abzubilden: Wenn Wirnt von Grâvenberc sagt, dass er Laries Spange mit Worten erzeugt habe, und

 Zum Verständnis von âventiure bei Hartmann, im Nibelungenlied und bei Wolfram vgl. z. B.Volker Mertens: Frau ‚Âventiure‘ klopft an die Tür…, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hg. von Gerd Dicke, Manfred Eickelmann und Burkhard Hasebrink. Berlin, New York 2006, S. 339 – 346.  Zur Benennung der Verfertigung von Kunstgegenständen werden meistens Wörter aus dem Wortfeld ‚meistern, meisterlich, meisterlîche, meisterschefte‘ benutzt. Nur zwei Figuren treten als Erschaffer von Kunstwerken hervor: ein unbekannter pfaffe, der Jorams Glücksradautomaten hergestellt hat (W 1048), und Roaz, der (komplementär dazu) das berüchtigte Schwertrad errichten ließ (W 6782). Umso auffälliger ist es, dass Roaz noch an zwei weiteren Stellen als meister in Erscheinung tritt: Von ihm stammen auch der Sarg, in dem Japhite bestattet wird, sowie das Gebäude, in dem dieser Sarg zu stehen kommt (W 8242– 8243 und W 8317– 8318). Ausgerechnet der ‚Heide‘ Roaz teilt also seine meisterschefte mit einem Geistlichen – und mit dem Erzähler ‚Wirnt‘.

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dabei noch das Wort werc auf seinen eigenen Namen reimt, dann offenbart er damit, dass der Autor selbst die dargestellte Wirklichkeit erzeugt.¹²⁸ Wirnt erschafft mit Worten fiktive Gegenstände. Er erschafft aber auch fiktive Worte, die innerhalb der erzählten Welt seines Romans geäußert werden. Zusammengeführt werden beide Verfahrensweisen in den verschiedenen Schriftstücken, die im Wigalois vorkommen, ganz besonders in dem Epitaph auf Japhites Sarg. Diese Inschrift als eine in goldenem Metall auf edelsteinernem Grund vergegenständlichte Rede repräsentiert den gesamten Roman in zweierlei Weise: Erstens entsprechen die Materialien (Gold und Edelsteine) denen, die der Erzähler im Prolog als Metapher für gute Literatur verwendet und von denen er sagt, man solle sie nicht an die Unwürdigen verschwenden (W75 – 80). Zweitens spiegelt sich die Platzierung der Erzählung zwischen zwei Buchdeckeln auf der Ebene des discours in der Positionierung der Inschrift zwischen den beiden Textteilen, die den Schriftträger schildern, ebenso wie auf der Ebene der histoire in der Positionierung von Japhites Körper zwischen dem Hyazinth und dem Saphir. Die tote Frau selbst wie auch die Rede über sie verweisen aus dem Herzen des Romans zurück auf seinen Beginn. Das heißt für den Leser: Zu einer verständigen Lektüre des Wigalois kann er gelangen, indem er das Mausoleum der Japhite im Nachvollzug der Beschreibung im Geist betritt und sich mithilfe der Kräfte der Imagination darin umsieht.¹²⁹ Um dies tun zu können, muss er zunächst in der Realität ein Buch aufklappen. Der Weg zum Wissen und Verstehen führt über reale Gegenständlichkeit zu einer Gegenständlichkeit zweiter Ordnung, nämlich von dem empirischen Buch, das Wigalois’ Geschichte enthält, zu dem Grabmal vor den Toren von Glois. Die virtuelle Rundschau in der Welt des Helden, getätigt von Japhites Mausoleum aus, vermag dem weisen Leser neue Ausblicke auf seine eigene Welt zu eröffnen und ihn mit guoter lêre (W 22) zu versorgen. Von dem beschrifteten Grabmal aus kann die gesamte erzählte Welt ebenso zum Sprechen gebracht werden wie das Buch, das sich im ersten Vers an sein Publikum wendet. Der Leser muss lediglich bedenken, dass der Inhalt eines jeden Buchs genauso tot ist wie die begrabene Fürstin, solange er ihn nicht selbst in einer der ‚guten Lehre‘ angemessenen ‚guten Lektüre‘ zum Leben erweckt, durch die er all den erzählten Gegenständen, Personen und Räumen des Romans Ehre erweist.

 Dies tut er auch an der Stelle, an der er von Flories kostbaren Kleidern spricht und beruhigend hinzufügt, dass der Neid missgünstiger Menschen ganz fehl am Platz sei, wand ez ist âne ir aller schaden / swaz ich ûf si mac geladen / von sîden und von borten / und von gezierde, mit worten (W 859 – 862: denn es schadet keinem von ihnen, was ich ihr an Seide und Bändern und Schmuck auflade – nämlich mit Worten).  Zum Zusammenhang von Ekphrasis und mittelalterlicher Imaginationslehre vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 20 – 30.

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Vielgestaltige Idealität Die Sentenz, mit der der zweite Teil des Prologs beginnt, enthält in kondensierter Form eine Lebens- und damit auch eine Leseanleitung. Sie lehnt sich an das Motto an, das Hartmann von Aue an den Beginn seines Iwein-Prologs stellt. Hartmann stellt fest, dass demjenigen Heil und Ehre zuteilwürden, der sich an wahrhaft Gutem orientiere. Der König Artus sei dafür ein vortreffliches Beispiel (Iwein 1– 20). Wirnt greift Hartmanns Reflexion über die Bedingungen des Erreichens höfischer Tugend auf, macht aber gegenüber Hartmann das Streben nach êre als Motivation stark und lässt zudem den arthurischen „Gattungsindex“ weg:¹³⁰ Swer nâch êren sinne, / triuwe und êre minne, / der volge guoter lêre (W 20 – 22: Wer nach Ehre trachtet, Treue und Ehre liebt, der möge guter Lehre folgen). Ansehen und Glück stellen sich für Wirnt nicht automatisch ein. Vielmehr soll der Mensch sein Handeln zielgerichtet auf triuwe und êre abstellen und zu diesem Zweck dem guten Beispiel derer folgen, die das Ziel bereits erreicht haben. Man möge sich darum bemühen, denjenigen nachzueifern, denen Gott diesseitiges Glück und jenseitiges Heil gewährt habe (W 25 – 32). Zu diesem Zweck soll jeder Mensch nach Ansehen streben und Gott dienen. Beide Verhaltensweisen und beide Resultate komplettieren einander im Idealfall, ohne Spannungen zu verursachen.¹³¹ Wer sich in der Welt für Gott einsetzt, gewinnt weltliches Ansehen, und wer auf diese Weise weltliches Ansehen gewonnen hat, erhält wiederum von Gott das ewige Leben. Innerhalb der Erzählung spiegelt sich diese Aussage in den Abschiedsworten Gaweins an seinen Sohn: swer herzelîche minnet got, / der ist behalten hie und dort (W 11529 – 11530: Wer Gott von Herzen liebt, der wird hier wie dort beschützt sein) – das heißt: im Diesseits ebenso wie im Jenseits. Weltliche Ziele wertet Wirnt keinesfalls ab. Den Prolog beschließt sein Erzähler mit den Worten: der werlte ze minnen / enblient erz sînen sinnen: / ir gruoz wil er gewinnen (W 142– 144: Um der Liebe der Welt Willen strengte er [Wirnt von Grafenberg, A.L.] die Kräfte seines Geistes an. Ihren Gruß will er gewinnen). Die häufige Berufung des Erzählers auf Gott und das Jenseits hindert ihn nicht daran, erst einmal einen Erfolg im Diesseits ins Auge zu fassen. Ingrid Hahn zufolge stellen sich somit bei Wirnt „Gott und Welt […] als widerspruchsfreie Größen dar, die […] fraglos addierbar sind“.¹³² Weltliche Güter, die nicht einem höheren Zweck dienen, werden zwar eindeutig verdammt.¹³³ Und an den beiden Stellen, an denen Wigalois und Larie sich jeweils in die Obhut des bzw. der anderen begeben, wird die Beziehung zum Ehepartner der Beziehung zu Gott nach-

 Haug, Literaturtheorie, S. 121.  Vielleicht war das Werk unter anderem aus diesem Grund dazu geeignet, ein monastisches ebenso wie ein weltliches Publikum anzusprechen. Zur Überlieferung vgl. Fasbender, Wigalois, S. 31– 38.  Hahn, Gott und Minne, S. 42.  So klagt der Erzähler: diu gîticheit hât uns betrogen / und werltlîcher rîchtuom. / owê dir, rîcheit unde ruom! (W 10300 – 10302: Der Geiz und weltlicher Reichtum haben uns verblendet. Weh euch, Reichtum und Ruhm!)

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geordnet.¹³⁴ Zugleich aber steht ein vorbildliches Leben im Diesseits mit einer wohlgesonnenen Aufnahme im Jenseits in direkter kausaler Verbindung.¹³⁵ Weltliches Leben und religiöse Vortrefflichkeit konkurrieren nicht miteinander, sondern bedingen einander wechselseitig. Mithilfe der erzählten Grabinschrift und ihrer Einbettung in die Materialität der erzählten Welt veranschaulicht Wirnt, was er im Prolog abstrakt dargelegt hat: dass es notwendig und möglich ist, aus weltlichen und geistlichen Idealen einen umfassenden Normkatalog höfisch-ritterlichen Handelns zu erstellen. Zunächst werden dessen Teilbereiche nacheinander abgeschritten: Bis Wigalois erstmals zur Larie gelangt, absolviert er eine Reihe weltlicher Zweikämpfe gegen ehrenhafte oder auch weniger ehrenhafte Gegner, wie man sie ähnlich auch aus anderen Romanen kennt. Er erweist sich dabei als mutig und hilfsbereit, als kampfkräftig und als gerecht. Mit Wigalois’ Ankunft bei Larie ändert sich der Schwerpunkt: Auf Roimunt verwandelt sich Wigalois erst in den Augen der Burgbewohner in einen Stellvertreter Gottes auf Erden (W 3982– 4004) und beweist später bei seinen Kämpfen gegen die grausamen und monströsen Einwohner des usurpierten Reichs, dass er diesem Bild auch gerecht wird. Bevor nun der Protagonist heiratet, seine Herrschaft antritt, sein Verhältnis zum Artushof, zu verbündeten und gegnerischen Fürsten sowie zu seinen Eltern klärt und schließlich vom Erzähler in die ruhmreiche Zukunft entlassen wird, versinnbildlicht Japhites Grabmal, dass Wigalois mit seinem Erfolg auf Glois beide Sphären, die weltliche und die religiöse, zu einer einzigen verschmolzen hat. Das Epitaph nennt zuerst weltliche Tugenden. Es spricht von ehelicher Liebe und Treue, von ritterlichem Kampf und hoher Abkunft. Es listet all diejenigen höfischen Ideale auf, die im Roman favorisiert werden: kiusche, êre, stæte, wîsheit, güete, wâre minne, zuht und vor allem und immer wieder triuwe (W 8264– 8276). Anschließend wird die religiöse Bedeutung der vorausgehenden Geschehnisse schriftlich festgehalten: der tödliche Konflikt zwischen Christen und ‚Heiden‘ und damit auch zwischen den beiden Religionen, die Gefährdung von Japhites Seele, das Heil, das dem Betenden durch Fürbitten selbst zuteilwird sowie die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Das Ende der Inschrift erklärt, dass Japhite trotz ihres Festhaltens am heidnischen Glauben Gottes Gnade erringen kann, da sie nämlich den Tod aufgrund von treuer Liebe erlitten habe (W 8286 – 8289). Das heißt: Wer in dieser Welt wahrhaft liebt und darin bedingungslos standhaft bleibt, der kann sich dadurch selbst im ungetauften Zustand zumindest die Möglichkeit verdienen, von Gott angenommen zu werden. Das Ziel sollte für alle Menschen die

 Wigalois sagt zu Larie: wand ich hân iuch mir nâch got / zeiner gebieterinne erkorn (W 8983 – 8984: Denn ich habe mir Euch nach Gott zu einer Herrin erwählt); Larie wiederum spricht zu Wigalois: herre, ich hân iuch mir nâch got / ze trôste mînem lîbe erkorn (W 9396 – 9397: Herr, ich habe mir euch nach Gott zu meinem Beschützer erwählt).  So drückt es der Erzähler am Ende des Epilogs aus: ir reinez leben verdiente hie / daz gotes gnâde si dort enpfie (W 11700 – 11701: Ihr vollkommenes Leben verdiente ihnen hier, dass Gottes Gnade sie dort empfing).

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Transzendenz sein. Der Weg dahin aber orientiert sich zu einem großen Teil an den Werten, die ein geordnetes Zusammenleben in der Welt regulieren. Ebenso wie der Prolog verweist die Grabinschrift auf die Möglichkeit höfischer Literatur, von diesseitiger Liebe und weltlichen Taten, aber auch von geistlicher Liebe und von Taten im Dienst Gottes zu erzählen. Die Beschreibung des Epitaphs als materiales Artefakt, das den verwerflichen, weltlichen Prunk ‚heidnischen‘ Reichtums repräsentiert, dabei aber auch Angebote zur Edelsteinallegorese macht, verstärkt diesen Effekt noch. Dazu kommt, dass das Epitaph – ebenso wie der gesamte Roman – nicht auf Latein verfasst ist, sondern in zwei ‚Volkssprachen‘ (nämlich der französischen und der ‚heidnischen‘). Mögen sich auch die Interpretationsangebote, die Roman und Inschrift enthalten, aus gelehrten Diskursen speisen und auf religiösen Lehren gründen – im volkssprachlichen Erzählwerk nehmen sie eine neue Form an. Hans-Jochen Schiewer zufolge besteht gerade darin die Radikalität von Wirnts eigenwilligem Modell höfischen Erzählens: Er stellt in den Mittelpunkt seines Romans einen Helden, der stets im Schutz der Vorsehung steht und dessen göttliche Erwähltheit niemals infrage gestellt wird, um dann um diesen Fixpunkt herum frei „über fiktionale, historische und moralisch-exemplarische Erzählmuster“ verfügen zu können und sich in ihrer Neukombination erzählerische Freiheiten zu schaffen.¹³⁶ In der Tat nutzt der Dichter, wie Schiewer es ausdrückt, die Gattung des Artusromans, „um zu predigen“.¹³⁷ Zugleich aber nutzt er auch das Muster der Predigt, um daraus einen Roman zu entwickeln, der sein Publikum durch ganz unterschiedliche erzählte Teilwelten führt und ihnen auf diesem Weg ein Spektrum von Möglichkeiten präsentiert, ein Leben in weltlichem Ansehen zu leben, das die Hoffnung auf die Erlösung nach dem Tod mit einschließt. Volker Mertens spricht bezüglich der didaktischen Tendenzen des Romans kritisch von einer „Zentrierung der Didaxe im Protagonisten“,¹³⁸ der, anders als Iwein oder Parzival, keine Krisen durchlaufe und von Anfang an durch seinen guten Kontakt zu Gott vor allen ernstzunehmenden Unbilden geschützt sei. Dies werde vor allem im Vergleich der Prologe deutlich: „Hartmanns differenzierte Position, daß nämlich die arthurische gewisse lêre in der mitvollziehenden Rezeption der Erzählung liegt, wird hier aufgegeben zugunsten platter Vorbildlichkeit der Hauptfigur.“¹³⁹ Mertens’ Gegenüberstellung von Hartmanns und Wirnts Prologen impliziert, dass didaktische Belehrung nur dann als wertvoll und Lektüre als anspruchsvoll gelten kann, wenn die zu vermittelnden Werte erst problematisiert und infrage gestellt und dann im Verlauf der Handlung ‚gefunden‘ werden. Wigalois’ schlichte Beispielhaftigkeit verleihe dem Roman eine vorwiegend didaktische Funktion, die alle bei Hartmann oder Wolfram mühevoll konstruierten, kostbaren Ambivalenzen beseitige.

   

Schiewer, Prädestination, S. 159. Schiewer, Prädestination, S. 156. Mertens, Fiktion und Didaxe, S. 87. Mertens, Fiktion und Didaxe, S. 87.

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Dem kann man, etwas weniger wertend, entgegenhalten, dass Ambivalenzen in Wirnts Wigalois möglicherweise einfach in einem anderen Licht erscheinen als in den Romanen Hartmanns und Wolframs. Es muss kein Zeichen von Einfallslosigkeit, literarischer Schwäche oder grundsätzlicher Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sein, wenn unterschiedliche Aspekte höfischer Idealität nicht miteinander in Spannung geraten, sondern in der Figur des Protagonisten relativ spannungslos addiert werden. Dass der Held nacheinander und abwechselnd mehrere verschiedene Rollen einnimmt – etwa die des Romanhelden, des Legendenhelden und des Epenhelden –, ohne dass die solchermaßen erzeugte Inkonsistenz in der Figurenzeichnung im Roman problematisiert würde, betont auch Stephan Fuchs, ohne mit diesem Befund dem Autor oder seiner Figur schmeicheln zu wollen. Die Hybridität der Figur sei Signum einer mehr als zweifelhaften Konstruktion, durch die herrscherliche Rechtmäßigkeit und Eignung behauptet würden, ohne plausibel erklärt werden zu können: „Der hybride Held ersetzt durch seine Exorbitanz die Legitimationslücke für Ideologie der Machtausübung. […] Die Welt dieses Romans wäre identifizierbar mit einer Welt, die Harmonisierung durch Hierarchisierung, kulturelle Normvermittlung durch Machtansprüche insgeheim ersetzt, eine Welt, die auf keinen verbindlichen Konsens mehr zurückgreifen kann.“¹⁴⁰ Der Protagonist lade nicht zur Identifikation ein und sei daher auch nicht als „didaktischer Fürstenspiegel ad usum Delphini“ zu verstehen.¹⁴¹ Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Inkonsistenz der Heldenfigur und die Situationsbezogenheit von Wigalois’ Handeln den Protagonisten als schon immer exorbitanten Helden charakterisieren, der außerhalb der Gesellschaft steht und der aufgrund seiner eigenen Wandlungs- und Entwicklungslosigkeit zu einer Plausibilisierung sozialer Normen und ethischer Regeln nicht taugt. Was aber, wenn es gar nicht das Ziel des Romans wäre, einen Helden zu präsentieren, der zu einer persönlichen Identifikation anregt? Was, wenn seine Vollkommenheit und Krisenlosigkeit stattdessen den Zweck erfüllten, Komplexität zu reduzieren, ohne dass man dies als ästhetischen oder intellektuellen Mangel betrachten müsste? Möglicherweise resultieren die kritischen Bemerkungen der modernen Rezipientinnen und Rezipienten zur Glattheit und ‚Langweiligkeit‘ des Protagonisten im Wigalois aus dem gleichen „unreflektiert-modernistische[n] Konzept vom Mehrwert der Komplexität […]“, das Christoph Fasbender bezüglich der For-

 Fuchs, Hybride Helden, S. 234– 235. Um Fuchs‘ Kritik zu folgen, muss man davon ausgehen, dass ‚kulturelle Normvermittlung‘ durch einen Nachvollzug der Krise des Helden und den dadurch ausgelösten Lernprozess nichts mit Machtausübung zu tun hat. Was aber sind die krisengeschüttelten Helden der frühen Artusromane anderes als fiktive Repräsentanten der Herrschaftsansprüche einer gesellschaftlichen Elite, die diese Ansprüche unter anderem im neuen Medium des höfischen Romans artikuliert? Wenn Fuchs der dargestellten Welt diagnostiziert, dass sie „auf keinen verbindlichen Konsens mehr zurückgreifen“ könne, dann ist auch danach zu fragen, ob es einen solchen Konsens eigentlich in irgendeiner Welt, fiktiv oder real, jemals gegeben hat oder geben kann.  Fuchs, Hybride Helden, S. 231.

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schung zu den Geschlechterverhältnissen im Roman moniert.¹⁴² Es werde „noch immer implizit das Aufweisen von Lösungsstrategien über die Darstellung der Lösung gehoben“.¹⁴³ Tatsächlich scheint die Darstellung von Lösungen im Wigalois mehr zu interessieren als mögliche Identitätskonflikte des Helden. Es handelt sich bei diesem ja wirklich um einen Protagonisten, der nur äußerliche, aber keine ‚psychologischen‘ Probleme hat. Alles Negative und Defizitäre wird aus ihm hinausverlagert, hinein in seine männlichen und weiblichen Gegenspieler und Gegenspielerinnen.¹⁴⁴ Entwicklungsbedürftig ist nicht der Held, sondern die Welt, durch die er sich bewegt. Die vielfältigen Ansprüche höfischen, minneritterlichen und herrscherlichen Daseins prallen in der Figur des Protagonisten nicht agonal aufeinander. Ebenso wie das Publikum, das die Artusromane Hartmanns und Wolframs bereits kennt, muss auch Wigalois nicht mehr lernen, welche Werte besonders wichtig sind und wie man sie sinnvoll zueinander in Beziehung setzt. Es ist durchaus möglich, dass die höfische Ideologie in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bereits als so stabil betrachtet wurde, dass zu diesem Zeitpunkt weniger darüber diskutiert werden musste, woraus sie bestehe und welche Probleme sich aus ihrer Vielgestaltigkeit ergäben, als vielmehr darüber, wie sie anzuwenden sei. Am Beispiel des Erec, des Iwein und des Parzival hat das Publikum erfahren, wie man aus Fehlern lernt. Am Wigalois hingegen kann es beobachten, wie jemand seine Sache von Anfang an gut macht. Aus dieser Perspektive kann der Roman sehr wohl als literarisierter Fürstenspiegel verstanden werden: als unterhaltsame Zurschaustellung vorbildlichen Verhaltens.¹⁴⁵ Der in der Forschung häufig geäußerte Vorwurf, dass der Wigalois um vieles ermüdender sei als die Romane Hartmanns, Gottfrieds und Wolframs, in seiner Handlung phantasieloser und weniger wagemutig auch als etwa der Prosa-Lancelot oder die Krone Heinrichs von dem Türlin, lässt sich mit dieser Erklärung kaum entkräften. Eine gewisse Statik, die die Handlung infolge des Verzichts auf grundlegende Entwicklungen des Helden trotz aller gefährlichen Abenteuer und schwierigen Aufgaben prägt, ist offenkundig. Genau diese Statik wird im Roman selbst reflektiert, am eindrücklichsten vielleicht in drei aussagekräftigen Bildern: dem Tugendstein, dem stillgestellten Rad und dem Grabmal der Japhite. Auf dem Tugendstein nimmt Wigalois bei seiner Ankunft am Artushof Platz und beweist damit seine moralische

 Fasbender, Wigalois, S. 176. Zur Rede vom „langweilig[en]“ oder vom „langweilig-vorbildlichen Helden“ vgl. Schiewer, Prädestination, S. 151, bzw. Mertens, Fiktion und Didaxe, S. 87.  Fasbender, Wigalois, S. 176.  Vgl. Haug, Literaturtheorie, S. 254.  Christoph Fasbender zufolge war es bei alledem wohl nicht die Absicht Wirnts, seinem höfischen Publikum mittels bestimmter, in der Alltagswelt wiederholbarer Situationen konkrete Problemlösungsstrategien zur Verfügung zu stellen. Die Aufforderung des Erzählers, sich ein Beispiel zu nehmen, kann auch als Aufforderung zu einer imitatio durch Nachfolge in einem weniger konkreten als vielmehr allgemeinen und umfassenden Sinn verstanden werden, d. h. nicht als Ermutigung, einen Drachen oder einen Teufelsbündler zu bekämpfen, sondern als Appell, ähnlich wie Wigalois gleichermaßen geistlichen und weltlichen Lohn anzustreben. Vgl. Fasbender, Wigalois, S. 51– 52.

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Vollkommenheit, ohne sonst noch irgendwie handeln zu müssen (W 1477– 1500).¹⁴⁶ Seine Überlegenheit über die anderen Artusritter, ausgenommen Artus selbst, dem er offensichtlich ebenbürtig ist, bringt Wigalois unbeweglich, im wahrsten Sinn des Wortes ‚im Sitzen‘ zum Ausdruck. Sein Wappen wiederum ist das Rad, das er selbst bei seiner Bewaffnung mit dem Rad der Fortuna im Hof seines Onkels in Verbindung bringt (W 1864 – 1869). Während dieses allerdings ûf und zetal geht (W 1041 und 1865) und sich also beständig weiterdreht, ist Wigalois vom Auf und Ab der Fortuna gerade nicht betroffen – für ihn steht das Glücksrad, genauso wie es auf Schild und Helmzier zu sehen ist, gänzlich still.¹⁴⁷ Das Grabmal der Japhite schließlich ist eine weitere Chiffre für Unbeweglichkeit und Stillstand. In ihm wird auf Dauer gestellt, was sowieso bereits ans Ende aller möglichen Transformationen gekommen ist. Die Einkastelungen Liameres, Flories und Laries im letzten Romandrittel führen nur fort, was mit Japhites Einschließung, Konservierung und Musealisierung begonnen worden war: die Zurschaustellung von Unveränderlichkeit. Unveränderlichkeit, oder, positiver ausgedrückt, Stabilität ist eines der beherrschenden Themen des Romans. Es bestimmt die Charakterisierung des Protagonisten und es bildet ein wichtiges Narrationsprinzip: eines, das eher auf ikonographische Effekte als auf Dynamik abzielt. Der Wigalois entwirft vielerorts keine dramatischen, dynamischen Szenen, sondern Tableaus. Von diesen ist das Grabmal der Japhite das elaborierteste. Seine Botschaften vermittelt der Roman an den entscheidenden Stellen, als sei er kein literarisches Werk, sondern ein Werk der bildenden Kunst, dessen Inhalt weniger sukzessive als vielmehr auf einen Blick erfasst werden soll. Diese Technik dient der memoria. ¹⁴⁸ Wenn sich auch ein Leser nicht an die einzelnen Begegnungen, Gespräche und Kämpfe des Protagonisten erinnern mag oder gar an ihre Abfolge im Roman – was ihm sicher in Erinnerung bleiben wird, sind der Stein, das Rad und das Grab und die persönliche und gesellschaftliche Stabilität, für die diese Gegenstände stehen.

Heterogenität und Hybridität Prolog und Epitaph sind nicht nur voller rezeptionssteuernder Hinweise darauf, dass der Roman Botschaften sowohl zur religiösen als auch zur feudaladligen Lebensführung enthält. Versteht man den Paratext und die fiktive Inschrift als Kommentare dazu, wie der Roman gemacht ist und wie er sich zur höfischen Literatur insgesamt verhält, dann gehen diese beiden Kommentare über eine Lektüreanweisung mit dem

 „Ohne sein Zutun tritt er in eine Siegerposition ein, in eine Stellung über allen Artusrittern und über seinem Vater allein durch die Besonderheit seiner Existenz.“ Fuchs, Hybride Helden, S. 123.  Zu diesen Bildern statischer Idealität vgl. Bendheim, Wechselrahmen, S. 273 – 286.  Vgl. Horst Wenzel: Imaginatio und Memoria. Medien der Erinnerung im höfischen Mittelalter, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt a. M. 1991, S. 57– 82, besonders S. 62.

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Ziel der moralisch-religiösen Belehrung weit hinaus. Hans-Jochen Schiewer stellt fest, dass Wirnt, dem daran gelegen ist, die „Immanenz und Transzendenz adligen Daseins“ sinnvoll zu vermitteln, in seinem Roman „um eine Synthese bemüht [ist], indem er unterschiedliche literarische Gattungen und Traditionen in einer Collage zusammenfügt. Daß er dazu als Rahmen den Artusroman auswählt, markiert das innovatorische Potential dieser Gattung“.¹⁴⁹ Es handelt sich bei Wirnts Wigalois um ein Werk, das als durch und durch zusammengesetzt erscheint, als Gattungshybrid, als Patchwork-Text, dessen Gewebe je nach Interpretationsstandpunkt unterschiedliche Bedeutungen freigibt. Diese Eigenschaft kann man kritisieren und schlussfolgern, dass sich darin vor allem die Unfähigkeit des Autors und die Orientierungslosigkeit seines Publikums spiegeln.¹⁵⁰ Man kann aber auch darüber nachdenken, ob Wirnt von Grafenberg hier nicht eine Erzählweise erprobt, durch die ein Text gerade dadurch interessant wird und zum wiederholten Lesen anregt, dass in ihm verbreitete Elemente modifiziert und auf neue Weise angeordnet werden und das Publikum je nach Interessenslage und literarischen Vorkenntnissen im intertextuellen Verweislabyrinth unterschiedliche Abzweigungen nehmen kann. Hybridität wäre dann keine notdürftige Kompensation einer grundlegenden Planlosigkeit, sondern die Entdeckung der Potenziale eines Pluralismus von Bedeutungen, die sich bei genauerem Hinsehen aus dem nur auf den ersten Blick Altbekannten extrahieren lassen. Bereits im Prolog bereitet Wirnt seine Leserinnen und Zuhörer darauf vor, dass sie es im Folgenden mit einem heterogenen Werk zu tun haben werden. Die Anspielungen, die einen Bezug zu zwei Werken Hartmanns von Aue herstellen und dabei erklären, wie die richtige Rezeption beim Rezipienten Gutes bewirken kann, wurden bereits erwähnt. Die Verweise auf den Iwein und den Armen Heinrich sind deshalb bemerkenswert, weil Wirnt damit zwei recht unterschiedliche Werke des berühmten Autors zitiert: einen Artusroman sowie einen Text, dessen Gattungszugehörigkeit gar nicht so leicht zu bestimmen ist.¹⁵¹ Die Zitate aus diesen beiden Texten bereiten das Publikum darauf vor, dass im Folgenden sowohl höfisch-weltliche als auch religiöse Inhalte und Muster zu entdecken und zu deuten sein werden. Geistliche Elemente werden zusätzlich in Form von Bibelzitaten in den Wigalois-Prolog integriert. Dies geschieht an den beiden Stellen, an denen unverständige Rezipienten mit Schweinen verglichen werden – zum einen mit Schweinen, an die Gold und Edelsteine ver-

 Schiewer, Prädestination, S. 152.  „Das Novum des hybriden Romans läßt unter der Hand nicht-arthurische Heldenrollen in den arthurischen Diskurs eindringen, die diesen Diskurs, an dem der Erzähler bemüht festhält, aushöhlen und destruieren. […] Der Erzähler und sein Held finden keine konsistente Rolle mehr und keine unter diesen Bedingungen ausfüllbare literarisch-traditionelle Form mehr.“ Fuchs, Hybride Helden, S. 234. Vgl. auch Werner Schröder: Der synkretistische Roman des Wirnt von Gravenberg. Unerledigte Fragen an den ‚Wigalois‘, in: Euphorion 80 (1986), S. 235 – 277, hier S. 272.  Zur Forschungsdiskussion um die Gattungszugehörigkeit von Hartmanns Armem Heinrich vgl. z. B. Hartmut Freytag: Ständisches, Theologisches, Poetologisches. Zu Hartmanns Konzeption des ‚Armen Heinrich‘, in: Euphorion 81 (1987), S. 240 – 261.

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schwendet seien, worin Mt 7,6 anklingt,¹⁵² und zum anderen mit Schweinen, die sich mit horwe (W 121: mit Schmutz) besudeln, was auf 2 Petr 2,22 verweist.¹⁵³ Diesen beiden biblischen Sprüchen werden im Prolog außerdem noch zwei weitere Sentenzen zur Seite gestellt, die ihre Grundlage nicht konkret in der Heiligen Schrift haben, sondern allgemeiner im Bereich der Gnomik zu verorten sind. Sie entstammen dem amorphen Korpus von Sprichwörtern, Sentenzen und Redensarten, die ihre Autorität weniger auf einen einzelnen Urheber oder ein bestimmtes Werk gründen, sondern kollektives und (zumindest vermeintlich) zeitloses Erfahrungswissen resümieren, komprimieren und tradieren. Gemeint ist zum einen die Aussage des Erzählers, er würde seine Rede, statt sie einem Nichtswürdigen mitzuteilen, lieber in einen Wald hineinrufen, da er von dort wenigstens ein Echo zu erwarten habe (W 101– 104). Damit wandelt er den Spruch ab, dass es aus dem Wald so herausschallt, wie man hineinruft.¹⁵⁴ Das zweite Sprichwort, das mit dem ersten thematisch und kausal zusammenhängt, besagt, dass dem unredlichen Rezipienten die Rede zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder herausgehe und somit jegliche förderliche Wirkung verfehle (W 109 – 113).¹⁵⁵ Mit seinen dreimal zwei Rückgriffen auf ganz unterschiedliche Traditionen (höfische Literatur, Bibel und Gnomik), belehrt der Autor sein Publikum darüber, an welche Rezipienten das Werk verschwendet ist (Bibel), wie falsche Rezeption abläuft (Gnomik) und was rechte Rezeption an Gutem bewirken kann (Roman). Religiöse und weltliche Weisheit dienen der Warnung und Ermahnung. Gerahmt werden die biblischen und gnomischen Belehrungen und Klagen über mögliche Fehladressierungen, Fehlinterpretationen, Missverständnisse oder Ignoranz von den beiden intertextuellen Anspielungen auf die positiven Wirkweisen höfischen Erzählens zu Beginn und am Ende des zweiten Prologteils. Höfisches Erzählen erscheint in diesem Licht sowohl im Bereich der Didaxe (‚guter Lehre folgen‘) als auch der Vergnügung (‚beschwerliche Stunden angenehm machen‘) als konstruktiv einsetzbares Mittel zur Gestaltung eines tadellosen, guten Lebens. Seine Legitimation erhält der höfische Roman dadurch, dass er Nützliches vermittelt und sich dabei in all seiner Weltlichkeit an den Maßstäben alltäglicher wie auch christlich-buchgelehrter Weisheit orientiert. Aus diesem Blickwinkel weicht die Hybridität des Textes, wie sie schon im Prolog vermittelt wird,

 Nolite dare sanctum canibus. neque mittatis margaritas vestras ante porcos. ne forte conculcent eas pedibus suis. et conversi disrumpant vos (Mt 7,6: Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen).  contigit enim eis illud veri proverbii. canis reversus ad suum vomitum. et sus lota in volutabro luti (2 Petr 2,22: An ihnen hat sich erwiesen die Wahrheit des Sprichworts: Der Hund frisst wieder, was er gespien hat; und: Die Sau wälzt sich nach der Schwemme wieder im Dreck).  In der Bescheidenheit des Spruchdichters Freidank nimmt das Sprichwort folgende Form an: Swie man ze walde rüefet, daz selbe er wider güefet (Bescheidenheit 124,3 – 4). Fridankes Bescheidenheit. Hg. von Heinrich Ernst Bezzenberger. Halle 1872. Bei Freidank impliziert die Sentenz, dass der Sprecher für die Reaktion der Angesprochenen selbst verantwortlich sei. Wirnt wandelt sie so ab, dass von den unverständigen Angesprochenen gar nichts zu erwarten ist.  Vgl. P 241,25 (zeinem ôren în, zem andern für).

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die von Chrétien de Troyes und seinen Nachfolgern geprägten Sinnstrukturen nicht auf, sondern fügt ihnen eine Ebene hinzu. Wie solch ein Projekt der Vermischung von unterschiedlichen Traditionen, Denkweisen und Sinnerzeugungsverfahren aussehen kann, hatte schon Hartmann in seinem Armen Heinrich und auch im Gregorius vorgemacht. Wirnt von Grafenberg schließt daran an und führt das Projekt weiter. Dem literarischen Verfahren der Zusammensetzung, Collagierung und Hybridisierung setzt er nicht nur in seinem Prolog, sondern auch in der ekphrastischen Beschreibung von Japhites Mausoleum ein Denkmal. In diesem fiktiven Artefakt spiegelt sich die Machart des gesamten Werks. Raum, Sarg und Schrift sind jeweils in sich so heterogen, dass das gesamte Ensemble in einem kaleidoskopartigen Effekt zu schillern scheint: Das bemalte und mit Gold abgesetzte Gewölbe, unter dem der Sarg aufgebaut ist, besteht aus Marmor in den Farben rôt, grüene, weitîn und gel (W 8304: rot, grün, blau und gelb). Die Kuppel reflektiert und verdoppelt sich in dem spiegelblanken grünen Fußboden. Der Sarg besteht aus blauem Saphir und rotem Hyazinth, er ruht auf Erz und ist geschmückt mit Gold, in goldenen und gläsernen Behältnissen brennen und duften Balsam und andere wohlriechende Substanzen. Selbst die goldene Inschrift, die auf dem Hyzinth angebracht ist, besteht nur im wörtlichen, nicht aber im übertragenen Sinn aus einem Guss, da sie ihre Botschaft in französischer, aber auch in ‚heidnischer‘ Sprache übermittelt. Raum, Sarg und Schrift sind insofern hybrid, als sie jeweils aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammengesetzt sind, die auch nach ihrer Zusammensetzung noch visuell und kognitiv auseinandergehalten werden können. Mit Rainer Warning, der hier an Michail Bachtins Hybriditätsbegriff anschließt, kann man postulieren, dass diese Art der Hybridisierung quer steht zu jedweder Form von Synthetisierung, d. h. die mit ihr bezeichneten Spannungen und Gegenstrebigkeiten bleiben erhalten und müssen als solche herausgestellt werden. Verfehlt wäre das Bestreben nach Harmonisierung, nach klassisch-klassizistischen Einheitsvorstellungen.¹⁵⁶

So, wie die Rede einer Figur einen einzigen Sprecher haben, aber dennoch zwei verschiedene und von einem idealen Publikum auch unterscheidbare Redeweisen beinhalten kann, bedient sich auch die Inschrift zur Vermittlung desselben Inhalts zweier verschiedener Sprachen. Analog dazu verweist der von Roaz gefertigte Raum zugleich auf ‚heidnischen‘ Kult und arthurische Pracht. Der ebenfalls von Roaz in Auftrag gegebene Sarkophag schließlich erinnert an das himmlische Jerusalem der geistlichen Literatur, aber auch an das Grab Gahmurets in Wolframs Parzival, das von ‚Heiden‘ und Christen mit jeweils anderen Augen angesehen wird. In Japhites Mausoleum kollabieren die binären Oppositionen von christlich und ‚heidnisch‘, ‚Orient‘ und ‚Okzident‘, weltlich und geistlich in der übergeordneten Kategorie des Höfischen.

 Rainer Warning: Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (‚Der arme Heinrich‘/‚Parzival‘), in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Udo Friedrich und Bruno Quast. Berlin, New York 2004, S. 19 – 33, hier S. 20.

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Diese vermag die Einzelbestandteile, wenn nicht zu harmonisieren, so doch integrativ nebeneinander anzuordnen und aus dem Nebeneinander der Einzelkategorien kreative Funken zu schlagen. In diesem Sinn ist das Grabmal auch aus der Sicht des Kulturwissenschaftlers Homi K. Bhabha hybrid. In Japhites Mausoleum bildet das Höfische einen ‚dritten Raum‘ aus, in dem alle anderen Bereiche, mit denen der Protagonist Wigalois zuvor in Berührung gekommen ist, einander tangieren und dabei auch durchdringen, befruchten und aufeinander einwirken. In diesem Raum ist das Beste aus allen Welten versammelt, endgültig vertrieben wurden nur der Teufel und sein Gehilfe Roaz. Alles andere aber, was das im Wigalois imaginierte ‚Heidentum‘ jenseits der Religion ausmacht, wird auf Glois zu einem integrativen Bestandteil des höfischen Universums. Das Grab der ‚Heidin‘, das auch nach dem Besuch von Japhites ‚heidnischen‘ Brüdern nicht aufgelöst, geleert oder zerstört, sondern mitsamt seinem kostbaren Inhalt vor den Toren der Burg Glois belassen wird, ist einerseits ein Fremdkörper im neu eroberten christlichen Territorium. Andererseits bildet es aber auch das Herzstück und Zentrum eines Typus von erzählter Welt, die nicht mehr allein arthurisch, aber auch nicht ausschließlich legendarisch, exempelhaft oder heldenepisch ist, sondern alles zugleich, und in der das ‚Heidnische‘ und dezidiert Nicht-Christliche in seinem Prunk, in seiner Schönheit und in seinem Einfallsreichtum das Element ist, das höfischem Erzählen erst den letzten und entscheidenden Schliff verleiht. Das beschriftete Grabmal ist damit auch eine Chiffre für die höfische Literatur zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Der ‚heidnische‘ Raum und der Sarg darin repräsentieren profane, von christlichen Idealen unberührte Geschichten, wie sie – mündlich oder schriftlich, im Französischen oder im Deutschen – vom Autor vorgefunden werden. In Chrétiens de Troyes berühmten Versen aus dem Erec-Prolog entsprechen diese Geschichten der avanture. ¹⁵⁷ Aus dem conte d’avanture oder vielmehr aus verschiedenen contes d’avantures macht der Autor eine molt bele conjointure, womit „die Organisation der Einzelelemente der Erzählung zu einem sinnvollen Ganzen, kurz: die sinnvermittelnde Struktur“ gemeint sein dürfte.¹⁵⁸ Wirnt von Grafenberg reflektiert anhand des Grabmals, wie ein Stoff in der Bearbeitung durch einen Autor transformiert und neu gedeutet wird: Indem Wigalois Roaz’ Begräbnisstätte mit einer Inschrift versieht oder versehen lässt, mit deren Hilfe er dem Bauwerk, seinem Inhalt und den vorhergegangenen Ereignissen seinen höchstpersönlichen Stempel aufdrückt, handelt er wie ein Autor, der eine bereits existierende avanture neu interpretiert. Die ‚heidnische‘, d. h. die profane, weltliche Literatur erscheint bei Wirnt als archaischer und exotischer Gegenstand, der durch eine religiös gefärbte Interpretation für ein frommes Publikum konsumierbar gemacht wird.

 Vgl. Chrétien de Troyes: Erec et Enide/Erec und Enide. Altfranzösisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Albert Gier. Stuttgart 1987, V. 13 – 14.  Haug, Literaturtheorie, S. 102.

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Interessant an diesem Verfahren der Grabmalsbeschreibung als poetologischer Reflexion über eine gottesfürchtige und moralisch einwandfreie Neuausrichtung der höfischen Literatur ist, dass der angeblich so fromme Wirnt seinem romanhungrigen Publikum ein recht offensichtlich synkretistisches Konstrukt unterschiebt. Das bethûs (W 8308) der ‚Heiden‘, von dem da erzählt wird, ähnelt in auffälliger Weise ausgerechnet dem Palast der Königin Ginover, der ebenfalls rund, marmorn und vierfarbig sowie für die Benutzung durch edle Frauen vorgesehen ist.¹⁵⁹ Der ‚heidnische‘ Tempel verweist damit zurück auf das Zentrum der arthurischen Welt, wo die Rezeption von Geschichten mindestens so wichtig ist wie die Stillung menschlicher Grundbedürfnisse. Mehr noch als der höfische Nutz- und Lebensraum repräsentiert das bethûs auf Glois als Ort der Andacht auch eine Art Tempel der höfischen Literatur, den Verehrungsort einer Entität, die bei jedem Rezeptionsvorgang von Neuem zum Leben erweckt wird, ebenso wie das Buch, das zu Beginn des Romans erwacht und daraufhin zu seinem Rezipienten spricht. Diejenigen, die in diesem Tempel zur Verehrung antreten, sind die Leserinnen und Leser, die bei allem Interesse an einer religiös und moralisch makellosen Lebensführung auch den recht weltlichen Juwelen der Romankunst ihre Reverenz erweisen.

 Ein palas hêt diu künigîn / daz was märmelsteinîn, / gezieret wol begarwe, / von vier hande varwe: / rôt, brûn, weitîn und gel; / daz hûs daz was sinwel, / beliewet umb und umbe wol. / rîcher vrouwen was ez vol (W 222– 229: Die Königin hatte einen ganz mit Marmor schön geschmückten Palast in vier verschiedenen Farben: rot, braun, blau und gelb. Das Haus war rund und ringsherum mit einem Laubengang versehen. Viele hohe Damen hielten sich darin auf).

4 Die ganze Welt kontrollieren: Reinfried von Braunschweig Im Reinfried von Braunschweig, einem von einem unbekannten Dichter verfassten und unikal sowie fragmentarisch überlieferten Roman aus der Zeit um 1300, wird vergleichsweise häufig geschrieben und gelesen. Der Text nähert sich dem Phänomen der Schriftlichkeit aus vielen verschiedenen Perspektiven. Während in Hartmanns Gregorius mit der Tafel ein einziges Schriftstück im Zentrum der Handlung steht und im Wigalois zwar verschiedene Schriftstücke erwähnt werden, aber vor allem einem – der Inschrift auf dem Grabmal der Japhite – im Handlungsverlauf besondere Bedeutung zukommt, wird im Reinfried von einer Vielzahl schrifttragender Artefakte erzählt. Im ersten Teil des Romans sind ‚Texte im Text‘ vor allem in Form von Briefen anzutreffen. Erzählt wird von Reinfried, dem untadeligen Herrn von Braunschweig, der einer Turniereinladung nach Dänemark folgt, sich in die Königstochter Yrkane verliebt und seinerseits ihre Liebe gewinnt. Zum Problem wird die Übereinkunft der Liebenden dadurch, dass ein dänischer Ritter sie bei einem Stelldichein beobachtet und daraufhin selbst in eifersüchtiger Liebe zu Yrkane entbrennt. Nach Reinfrieds Abreise vom Hof bedrängt der Ritter die Prinzessin und muss, von ihr abgewiesen, das Land verlassen. Von nun an treten die vier Handlungsträger des ersten Romanteils – Reinfried, Yrkane, der namenlose Ritter sowie Yrkanes Vater Fontanagris – in einen Austausch von schriftlichen Nachrichten ein, der schrittweise dafür sorgt, dass sich schließlich alle Beteiligten am selben Ort einfinden: Fontanagris beordert den Ritter brieflich zurück an seinen Hof, verfügt aber in einem zweiten Schritt, nachdem der Ritter abermals zudringlich geworden ist und wieder vom Hof verwiesen wurde, ebenfalls schriftlich, dass er niemals mehr zurückkommen dürfe. Dieses Mal antwortet der Ritter mit einem eigenen Brief, in dem er Yrkane fälschlich der Unkeuschheit beschuldigt und einen Gerichtskampf fordert, was ihm der König auch gewährt. Daraufhin schreibt Yrkane an Reinfried und bittet ihn um Beistand. Reinfried erscheint, ohne seine Identität preiszugeben, und übergibt dem König schweigend einen Brief, in dem er seinen Willen verkündet, die Herausforderung anzunehmen. Im Folgenden besiegt Reinfried den namenlosen Ritter, heiratet Yrkane und bringt sie nach Braunschweig, wo die beiden lange Zeit glücklich miteinander leben. Der erste Teil des Romans steht damit in weiten Teilen im Zeichen von Telekommunikation und Liebe. Die Thematisierung von Möglichkeiten und Grenzen der Selbstpositionierung mithilfe von Briefen wird im zweiten Teil wieder aufgenommen, wenn Yrkane an ihren im östlichen Teil der Welt umherreisenden Ehemann schreibt und ihn bittet, nach Braunschweig zurückzukehren. Insgesamt aber ist dieser zweite Handlungsteil mit erzählten Inschriften durchsetzt, deren Hauptfunktion darin besteht, eher zeitliche als räumliche Distanzen zu überwinden. Er setzt damit ein, dass die eheliche Gemeinschaft Yrkanes und Reinfrieds trotz aller Harmonie von einem Mangel gezeichnet ist, der zu einer neuerlichen Trennung der Liebenden führt: Die Ehe bleibt auch nach https://doi.org/10.1515/9783110689693-005

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vielen Jahren kinderlos. In einer Marienvision erfährt Reinfried, dass er erst dann einen Erben erhalten wird, wenn er ins Heilige Land reist und dieses von den ‚Heiden‘ befreit. Reinfried beschließt, der Aufforderung zu folgen und zeugt tatsächlich ein Kind mit Yrkane, bevor er abreist und mit großem Erfolg einen Kreuzzug durchführt. Nach seinem Sieg fährt er nicht etwa zurück nach Braunschweig, sondern reist mit dem von ihm zuvor besiegten Herrscher von Persien weiter nach Osten, um verschiedene Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Er erfährt, wie man im Kaukasus Gold gewinnt, rettet ein Volk von Zwergen vor den Riesen, die sie tyrannisieren, greift in den Krieg zwischen den Herrschern von Assyrien und Askalon ein, besucht den Magnetberg und lauscht dem Gesang einer Sirene, bevor er, von Yrkane und seinen heimischen Gefolgsleuten schriftlich dazu aufgefordert, die Rückreise antritt. In der einzigen überlieferten Handschrift endet die Handlung an der Stelle, an der Reinfried unabsichtlich auf einer unbekannten Insel zurückgelassen wird. Die weiteren Stationen seiner Heimkehr bleiben damit im Dunklen. Reinfrieds Reisen bieten dem Erzähler zahlreiche Anlässe, von Inschriften zu berichten, die die Zeit überdauern sollen. Diese Inschriften lassen sich aufgrund der Art und Weise, in der ihre Verfasser auf die sie umgebende Welt einwirken oder einwirken wollen, vier Typen zuordnen: Die Artefakte wirken als Prothesen, als Wissensspeicher und als Handlungsgeneratoren; und nicht zuletzt fungieren sie auch in diesem Roman als Sinnbilder höfischen Erzählens zwischen Lehre, Warnung und Versuchung. Der Ort in der erzählten Welt, an dem alle vier Funktionen von Inschriftlichkeit miteinander verknüpft werden, ist der Magnetberg. Ähnlich wie Japhites Grabmal im Wigalois bildet dieser Ort ein komplexes Zeichensystem, aus dem sich unterschiedliche und je nach Perspektive auch widersprüchliche Informationen über die Bedeutung von Schrift für die Positionierung des Einzelnen in der Welt und für die Gestaltung der Welt ablesen lassen. Zum ersten Mal erwähnt wird der Magnetberg als konkreter Ort ziemlich zu Beginn von Reinfrieds Reisen.¹ Nachdem der Ritter gemeinsam mit dem Herrscher von Persien das goldreiche Kaukasusgebirge besichtigt hat, erkundigt er sich bei seinem Reisegefährten, was denn auf der anderen Seite der Berge liege, und erfährt von dem wunderträchtigen agestein (R 18333). Auf dem Weg zu diesem Ort ficht Reinfried verschiedene Kämpfe aus und besiegt dabei unter anderem die Königin der Amazonen, die ihm wenig später dabei hilft, gefahrlos zum Magnetberg zu gelangen. Dort angekommen, werden Reinfried und seine Begleiter nicht allein mit einem denkwürdigen Naturphänomen konfrontiert, sondern auch mit einem Ort, an dem verschiedene Arten von Schriften zur Anschauung kommen. Als sie das von einer Mauer umgebene Innere des Berges betreten, erschrecken sie zunächst vor einer riesenhaften Figur, die sich aber rasch als eine von vier leblosen und ungefährlichen Wächtersta Als Sinnbild für besondere Anziehungskraft erscheint er schon lange zuvor im Text, wenn von der Wirkung Yrkanes auf Reinfried gesagt wird, dass ihre Schönheit sein Herz an sich ziehe wie der Magnetberg das Eisen: ich wæne ir schœne ez an sich züge / vaster denn der agestein / daz îsen tuot (R 1262– 1264).

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tuen entpuppt. In der Höhle im Bergesinneren finden sie ein Grab mit einem goldenen Epitaph und ein an das Grab gekettetes Buch. Beide Schriftstücke verschaffen den Lesenden wichtige Informationen über das Vorgefundene. Die Lesebewegung, die von den beiden in der Höhle aufbewahrten Artefakten provoziert wird, erfolgt ähnlich der zuvor vollzogenen Bewegung im Raum, nämlich von außen nach innen. In dem angebundenen Buch nämlich ist von weiteren Schriftstücken die Rede, die sich vor langer Zeit einmal in der Höhle befunden haben sollen. Berichtet wird auch von der Art und Weise, wie sie dorthin gekommen sind, von ihrer Funktion und von dem Grund, aus dem sie jetzt nicht mehr dort sind: 1200 Jahre vor Christi Geburt habe der von einem ‚heidnischen‘ Vater gezeugte, von einer jüdischen Mutter geborene und in Astronomie und Nekromantie (d. h. in ‚schwarzer Mantik‘ oder ‚schwarzer Kunst‘) bewanderte griechische Fürst Savilon in den Sternen gelesen, dass dereinst ein Kind geboren werden würde, das den Untergang des jüdischen Volkes herbeiführen werde. Um dies abzuwehren, müsse er ein kleinez brievel (R 21397) produzieren, das, solange es verborgen sei, die Geburt Christi verhindern werde. Daraufhin habe Savilon mithilfe böser Geister den Magnetberg in eine Festung verwandelt. Vier nekromantische Bücher habe er dazu verwendet, die Geister zu bannen. Drei der Bücher habe er schließlich gegen Ende seines gewöhnlichen Lebens in einer Wand verborgen, auf das vierte habe er seine Füße gestellt und auf diese Weise dafür gesorgt, dass er in einem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen, Leben und Tod lange Zeit habe verharren können. Den kleinen Zettel, der die Geburt Christ habe verhindern sollen, habe er in sein Ohr gesteckt und ihn dort aufbewahrt. Ein weiterer Zettel habe einen der assistierenden Teufel in ein Glas gebannt und ihn dort (außerhalb des Magnetbergs) festgehalten (R 21036 – 21041). Nach 1200 Jahren sei der mantuanische Edelmann Vergil in dem Bestreben, seine durch übergroße Freigebigkeit geleerten Kassen wieder zu füllen, zum Magnetberg gefahren, um sich Savilons Zauberbücher anzueignen. Unterstützt von dem kurzzeitig befreiten Teufel habe er die Bücher erlangt, Zugang zur Höhle im Magnetberg gewonnen und den Zettel aus Savilons Ohr entfernt, woraufhin prompt Christus geboren worden sei und zudem ein von dem untoten Savilon vorbereiteter Mechanismus den griechischen Magier endgültig ins Jenseits befördert habe. Vergil habe mithilfe seines neuen magischen Wissens ein Grab für Savilon errichtet. In dem vorliegenden, an das Grab angeketteten Buch könne man bis auf einige ausgesparte Details die gesamte Geschichte nachlesen. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich, was die Magnetbergepisode angeht, vor allem für die heilsgeschichtlichen Symmetrien und Verschränkungen interessiert, die an diesem Ort sichtbar werden.² Drei Zeitebenen,

 „Hier wird das zentrale Heilsereignis präsent gemacht. […] Gewiß, der theologische Aspekt wird nicht weiter vertieft. Dennoch verleiht der Verweis auf die Geburt Christi der Magnetberg-Episode eine heilsgeschichtliche Dimension, die über die Beschreibung des nur Wunderbaren hinausführt.“ Herfried Vögel: Naturkundliches im ‚Reinfried von Braunschweig‘. Zur Funktion naturkundlicher Kenntnisse in deutscher Erzähldichtung des Mittelalters. Frankfurt a. M. 1990, S. 95. Vgl. auch Otto Neudeck: Continuum historiale. Zur Synthese von tradierter Geschichtsauffassung und Gegenwartserfahrung im

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repräsentiert durch die Figuren Savilon, Vergil und Reinfried, gruppieren sich um das im theologischen Sinn alles bestimmende Zentrum der Geschichte: die Menschwerdung Gottes.³ Bei der Vermittlung des Zusammenspiels von Ereignissen, die dazu führen, dass der göttliche Heilsplan sich erfüllt, spielt Schrift eine herausragende Rolle. Matthias Meyer argumentiert, dass das Ensemble schrifttragender Artefakte auf dem Magnetberg von drei Instanzen erstellt wird, zwei intradiegetischen und einer extradiegetischen: Der Magnetberg ist ein Ort der Texte, er wird zur Bibliothek eines magischen und heilsgeschichtlichen Wissens, um das sich wie um eine Zeitachse die drei magischen Autorpersönlichkeiten drehen: Savilon, der erste Naturgelehrte,Virgilius, der christermöglichende Magier, und der Verfasser des Reinfrieds, der seinen Text eben nicht nur als Erzählung angelegt hat, sondern als Wissensspeicher, denn kaum ein erzählender Text des Mittelalters weist eine solche Masse an naturkundlichen und historischen Digressionen auf.⁴

Es ist zwar nicht ganz klar, ob das angekettete Buch tatsächlich von Vergil stammt. Der Erzähler weist darauf hin, dass Vergil mit seinen neu gewonnenen Künsten Savilons Grab erbaut habe, schweigt sich aber darüber aus, wer der Autor des daran befestigten Buchs (und auch des Epitaphs auf dem Grab) ist. Wer auch immer aber das Buch geschrieben hat: In dieser Episode wird von einer Schrift erzählt, die sich als ‚Meisterschrift‘ erweist, d. h. als Schrift, die andere Schriften inkorporieren kann. Es ist die Rede des Erzählers selbst, die alle anderen Reden in sich aufnimmt und somit auch kontrolliert. Im Reinfried von Braunschweig wird vorgeführt, wie ein Erzähler eine Vielzahl schriftlich fixierter Stimmen zu einem facettenreichen Schriftkonglomerat bündelt. Die Schriften auf dem Magnetberg, die der Erzähler präsentiert, formen in der Abfolge, in der sie in der Binnenerzählung des angeketteten Buchs erscheinen, so etwas wie eine Genealogie der Schriftlichkeit. An ihrem Beginn steht eine Schrift, die nicht von Menschen gemacht ist, jedoch von einem kundigen Menschen gelesen, verstanden und in menschliche Schrift transformiert werden kann: Savilon, der als erster Mensch Astronomie und Nekromantie betreibt (R 21328 – 21331), interessiert sich für die Konstellationen der Sterne und für ihre Bedeutungen. Hierin ähnelt er Flege-

‚Reinfried von Braunschweig‘. Frankfurt a. M. 1989, S. 168 – 178; Wolfgang Achnitz: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im ‚Reinfried von Braunschweig‘ und im ‚Apollonius von Tyrland‘ Heinrichs von Neustadt. Tübingen 2002, S. 184– 191; Mathias Herweg: Christi Geburt als Glücksspiel? Mittelalterliche Reisen zum Magnetberg und ihre heilsgeschichtliche Brisanz, in: Glück – Zufall – Vorsehung. Hg. von Simone Finkele und Burkhardt Krause. Karlsruhe 2010, S. 49 – 75.  Savilon und Reinfried beginnen sich für den Magnetberg im exakt gleichen zeitlichen Abstand zu Christi Geburt zu interessieren: 1200 Jahre. Zum zeitlichen Verlauf der Ereignisse auf dem Magnetberg vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 186 – 187.  Matthias Meyer: Von Briefen und Zauberbüchern. Schreiben und Lesen in ‚Mai und Beaflor‘ und im ‚Reinfried von Braunschweig‘, in: Sprache und Literatur durch das Prisma der Interkulturalität und Diachronizität. Festschrift für Anton Janko zum 70. Geburtstag. Hg. von Marija Javor Briški, Mira Miladinović Zalaznik und Stojan Bračič. Ljubljana 2009, S. 35 – 48, hier S. 45.

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tanis, der Figur in Wolframs Parzival, die von den Geheimnissen des Grals in den Sternen liest (P 454,17– 23). Savilon sieht zunächst Christi Geburt angekündigt und erfährt später, beim neuerlichen Beobachten des Saturns, wie er dieses Ereignis durch eine eigene Schrift verhindern kann. Der menschliche Schreibakt, der auf diesen ersten Leseakt folgt, ist magischer Natur. Es wird eine Schrift hergestellt, deren Potenzial sich aus ihrer materialen Existenz und aus Savilons Anwesenheit speist, ohne dass ihr Inhalt von einer anderen Person als von ihrem Autor rezipiert wird. Dieses Schriftstück ist eine physische Erweiterung des Autors, eine Prothese, durch die er seinen Handlungsbereich vergrößert. Auf einer zweiten Stufe produziert Savilon vier Bücher nekromantischen Inhalts, von denen mindestens eines eine dreifache Funktion besitzt: Unter Savilons Füße geschoben, wirkt es auf magische Weise lebenserhaltend. Gleichzeitig handelt es sich bei ihm aber auch um einen Aufbewahrungsort für nekromantisches Fachwissen, dessen Inhalte rezipiert und angeeignet werden können. Damit ist es, ähnlich wie das Epitaph auf Savilons Grab oder das angekettete Buch, unter anderem ein Informations- und Wissensspeicher.⁵ Drittens eignet Vergil sich das nekromantische Wissen, das in Savilons Schriften konserviert ist, nicht lediglich um seiner selbst Willen an, sondern mit dem Ziel, damit bestimmte Folgehandlungen auszulösen – also beispielsweise um Geister zu beschwören oder um Reichtum zu generieren. Es handelt sich bei diesen Schriftstücken somit auch um Handlungsermöglicher oder sogar Handlungsgeneratoren. Ein vierter Effekt von Schriftlichkeit zeigt sich auf dem Magnetberg darin, dass Schrift nicht nur Handlungen zu provozieren vermag, sondern auch die Produktion weiterer Schriften. Zeugnis darüber legt der Erzähler ab, der den Inhalt des von Reinfried vorgefundenen Berichts paraphrasiert und daraus einen eigenen, neuen Text schafft. Im Folgenden wird es darum gehen, auf welche Weise sowohl in der Magnetbergepisode als auch in der restlichen Handlung des Reinfried von Braunschweig von schrifttragenden Artefakten als Prothesen, als Wissensspeichern, als Handlungsgeneratoren und als Erzeugern von Metatexen erzählt wird.

4.1 Schriftprothesen Bislang hat sich die Forschung besonders für die magische Komponente von Schrift auf dem Magnetberg interessiert.⁶ Dies hängt damit zusammen, dass man mittelalterlicher Literatur lange eine Haltung gegenüber Geschriebenem attestiert hat, die aufgrund des geringen Alphabetisierungsgrads des größten Teils der Bevölkerung von

 Zur Doppelfunktion dieses vierten Buchs vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 44– 45.  Vgl. Christa Agnes Tuczay: The Book of Zabulon – A Quest for Hidden Secrets: Intertextuality and Magical Genealogy in Middle High German Literature, with an Emphasis on ,Reinfried von Braunschweig‘, in: Magic and Magicians in the Middle Ages and the Early Modern Time. The Occult in PreModern Sciences, Medicine, Literature, Religion, and Astrology. Hg. von Albrecht Classen. Berlin, Boston 2017, S. 397– 422.

4.1 Schriftprothesen

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Ehrfurcht vor der „magisch-religiösen Aura“ von Schreibhandlungen und geschriebenen Texten geprägt war.⁷ In der Magnetbergepisode im Reinfried allerdings werden nicht nur magische, sondern noch einige weitere Verwendungsweisen von Schrift vorgeführt. Gemeinsam ist ihnen allen ein Gedanke: dass die Welt sich unweigerlich verändert, sobald man damit beginnt, über sie oder auch nur in ihr zu schreiben. In oder nahe bei Savilons Festung befinden sich drei schrifttragende Artefakte, die auf magische Weise wirken: der Zettel in Savilons Ohr, der die Geburt Christi verhindern soll; das Buch unter seinen Füßen, das ihn am Leben erhält; und das Schriftstück, mit dem einer von Savilons helfenden Teufeln in einem Glas gefangen gehalten wird. Mithilfe dieser drei Gegenstände gelingt es Savilon, die Welt um ihn herum zu beeinflussen. Von anderen Schriften im Reinfried unterscheiden sie sich vor allem dadurch, dass sie ihre Wirkung auf die Welt entfalten, ohne dass zu diesem Zweck eine andere Person über ihren Inhalt oder auch nur über ihre Existenz informiert sein muss. Lediglich ihr Autor weiß von ihnen. Es handelt sich bei diesen Schriften um Prothesen, d. h. um künstliche, ablösbare Fortsätze seines Körpers, durch die er seinen Wirkungsbereich in zeitlicher und räumlicher Hinsicht erweitert.⁸ Nachdem Savilon sich in einen Zustand versetzt hat, in dem er weder ganz lebendig noch ganz tot ist, ersetzen sie ihren Meister beinahe vollständig. Das hat sowohl Vorteile als auch Nachteile: Einerseits bedürfen die Prothesen nach ihrer Installierung keiner weiteren Justierung und Steuerung mehr, um die gewünschten Resultate zu erzielen. Andererseits können sie aber auch mühelos entwendet und wirkungslos gemacht oder zu ursprünglich nicht vorgesehenen Zwecken verwendet werden, ohne dass Savilon etwas dagegen ausrichten kann. An der Schrift als Erweiterung ihres Autors wird deutlich, wie gefährlich ein Schriftstück sein kann, sobald es von seinem Autor getrennt wird und in einen neuen Kontext gerät.

Das Begehren dauerhafter Präsenz Auffällig ist an den drei magischen Artefakten auf dem Magnetberg, dass ihre materialen Eigenschaften in der Erzählung viel Raum einnehmen, während ihre diskursiven Eigenschaften vollständig ausgespart werden. Das Publikum erfährt nichts darüber, was auf dem Zettel in Savilons Ohr steht, wie genau das nekromantische Buch dafür sorgt, dass der Zauberer am Leben bleibt, oder mit welchen Worten er schriftlich den Teufel beschworen hat. Peter Strohschneider spricht in solchen Fällen von ‚blo-

 Wolfgang Hartung: Die Magie des Geschriebenen, in: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hg. von Ursula Schaefer. Tübingen 1993, S. 109 – 126, hier S. 113.  Zum Konzept der Prothese als technologische Extension des menschlichen Körpers, die nicht nur der Substitution fehlender oder in ihrer Funktion eingeschränkter Körperteile dient, sondern einen gesunden und unversehrten Körper verbessern und seine Leistung steigern soll, vgl. z. B. Dierk Spreen: Upgradekultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft. Bielefeld 2015, S. 52; Karin Harrasser: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld 2013, S. 95.

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ckierter Textualität‘: Der Inhalt des Textes werde eingekapselt in der Materialität seiner Speicher.⁹ Ob allerdings der Inhalt von Savilons Schriften für ihre Wirkung von Bedeutung ist oder nicht, lässt der Erzähler im Unklaren. Bei der Entdeckung des Zettels in Savilons Ohr durch Vergil heißt es nur, dass mit disem funde und dâ von / des brieves kraft vil balde brach, / dô man die karakter sach / und ouch der figûren schrift (R 21670 – 21673: Verursacht durch diesen Fund wurde die Macht des Zettels sofort gebrochen, als man nämlich die karakter und auch die Schrift der figûren sah).¹⁰ Bedeutet dies, dass der Zauber in dem Moment gebrochen wird, in dem jemand die magischen Schriftzeichen lediglich ‚sieht‘, ohne ihren Inhalt aufzunehmen? Peter Strohschneider argumentiert, dass Vergil die Schrift nicht lesen müsse, sondern dass „die Entdeckung des Schrift-Stücks selbst und das Sichtbarwerden verschiedener Grapheme allein, die Aufhebung seiner Verborgenheit schon als solche […] das magische Inkarnationshindernis aus der Welt“ schaffe.¹¹ Ein nicht-hermeneutischer Zugang wird allerdings an dieser Stelle zwar nicht nahegelegt, ebenso wenig aber auch ausgeschlossen. Savilons eigenen Worten zufolge solle man weder ‚des briefes schrift noch ouch den brief‘ (R 21435) jemals finden, also weder die Schrift noch den Schriftträger. Dies impliziert, dass sowohl der Inhalt als auch die Materialität des Schriftstücks zu dessen Wirkung beitragen. Indem Savilon es herstellt, vollzieht er eine besondere Art von sprachlicher Handlung: In Analogie zum Modell der Sprechakte kann man von einem Schreibakt sprechen, durch den der Schreibende die Worte, die er niederschreibt, unverzüglich Wirklichkeit werden lässt. Diese besondere schriftliche Rede vereint Eigenschaften der beiden Kommunikationssysteme Mündlichkeit und Schriftlichkeit in sich: Sie wirkt nicht nur dauerhaft, sondern auch unmittelbar auf die Welt ein. Damit widerspricht der Roman der verbreiteten Vorstellung, dass beim Schreiben ein doppelter Abstand zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem eingezogen wird. Schließlich gelten Schriftzeichen in der europäischen Geistesgeschichte für gewöhnlich als sekundär vom gesprochenen Wort abgeleitet.Während gesprochene Worte mit dem, was sie bezeichnen, direkt und unmittelbar verbunden sind, handelt es sich einer phonozentristischen Logik zufolge bei Schriftzeichen lediglich um Abbildungen von Abbildungen, um Zeichen, die auf andere Zeichen verweisen.¹² Der Reinfried aber ent-

 Vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 34.  karakter bedeutet hier wahrscheinlich ‚magisches Zeichen‘ oder ‚Zauberzeichen‘, vielleicht auch ‚Schriftzeichen mit magischen Kräften‘. Vgl. Eberhard Nellmann: Wolfram und Kyot als vindære wilder mære. Überlegungen zu ‚Tristan‘ 4619 – 88 und ‚Parzival‘ 453,1– 17, in: ZfdA 117 (1988), S. 31– 67, hier S. 58 – 64.  Strohschneider, Sternenschrift, S. 42– 43.  „Jedenfalls ist die Stimme dem Signifikat am nächsten, ob man es nun sehr genau als (gedachten oder gelebten) Sinn oder etwas weniger genau als Ding bestimmt. Jeder Signifikant, zumal der geschriebene, wäre bloßes Derivat, verglichen mit der von der Seele oder dem denkenden Erfassen des Sinns, ja sogar dem Ding selbst untrennbaren Stimme (gleichviel, ob man im Sinne des bereits angedeuteten aristotelischen Gestus oder im Sinne des Gestus mittelalterlicher Theologie verfährt, die die res von ihrem eidos, von ihrem im Logos oder im unendlichen Verstand Gottes gedachten Sinn aus als

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wirft mit dem Zettel in Savilons Ohr eine Schrift, in der Signifikant und Signifikat in eins fallen. Wer über die Schrift (d. h. über des briefes schrift wie auch über den brief bzw. über die schriftliche Rede wie auch über den Schriftträger) verfügt, der verfügt auch über das, von dem in dieser Schrift die Rede ist. In ihr schlägt Ko-Präsenz in Identität um. Sie repräsentiert das Bezeichnete nicht, oder sie tut es zumindest nicht ausschließlich, sondern beschwört und manipuliert es. Statt lediglich von Christus zu sprechen, bannt sie den göttlichen Logos selbst in ein menschliches Artefakt.¹³ Das Publikum soll zwar keinesfalls auf die Idee kommen, dass Savilons Plan tatsächlich auch hätte aufgehen können und dass dann die Geburt Jesu auf alle Zeiten verhindert worden wäre – diese Möglichkeit schließt der Erzähler ausdrücklich aus, indem er beruhigend feststellt, dass Gott schon wisse, wann für alles die rechte Zeit gekommen sei (R 21526 – 21528). Dass der Zauberer in seiner Absicht scheitert, ist Teil des göttlichen Heilsplans, in dem Savilon eher ein Instrument als ein ernstzunehmender Gegner Gottes ist, ähnlich wie seither alle ‚heidnischen‘ Tyrannen.¹⁴ Das bedeutet aber nicht, dass der Zauber nicht wirkt. Damit Christus in die Welt eintreten kann, muss der Zettel im richtigen Moment entdeckt und sozusagen ‚befreit‘ werden. Savilons Schrift bewerkstelligt damit etwas, was konventionelle Schriften nicht leisten können: Mit Gottes Erlaubnis gestattet sie es einem Menschen, Einfluss auf die körperliche Präsenz Gottes in der Welt zu nehmen. Savilons magischer Mechanismus hat allerdings einen Haken, und hier kommt eine weitere Bedingung für das Funktionieren des magischen Schriftstücks ins Spiel. Es genügt nicht, den Zettel einmal zu beschriften und ihn dann vor dem Entdeckt- und Befreitwerden zu beschützen, um den Verhinderungszauber aufrechtzuerhalten. Ansonsten wäre es nicht notwendig, dass Savilon auf dem Magnetberg bleibt – er hätte ja einfach das brievelîn schreiben und auf dem Magnetberg einmauern, selbst aber zurück nach Athen gehen können. Stattdessen verschanzt sich Savilon mitsamt seinen magischen Schriftstücken in einer eisernen Festung inmitten des Meeres, als er seinen Tod herannahen spürt (R 21456 – 21473). Offenbar ist die Wirkung der Schrift, die sowohl dem Brief in Savilons Ohr als auch dem Buch unter seinen Füßen ihre Wirkkraft

geschaffenes Ding bestimmte). Der Signifikant wäre immer schon ein technischer und repräsentierender, wäre nicht sinnbildend.“ Jacques Derrida: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1983 (erstmals Paris 1967), S. 25. Das Unmittelbarkeitsdefizit des geschriebenen Signifikanten wertet diesen gegenüber anderen Zeichen ab, von denen man annimmt, dass sie dem Signifikat näher sind: „Während […] der stimmliche Laut prinzipiell gleichzeitig ist mit dem seelischen Eindruck und sich notwendig in einer engen Entsprechung, wenn nicht gar Gleichartigkeit zu diesem verhält, ist das schriftliche Zeichen ein konventioneller Vertreter für den stimmlichen Laut. Das schriftliche Zeichen existiert noch dann, wenn der stimmliche Laut und die seelische Vorstellung bereits verschwunden sind, es verwandelt daher deren unmittelbare Wahrheit in eine mittelbare Unwahrheit.“ Oliver Kohns: Stimme – Präsenz – Medialität. Dekonstruktion und Medientheorie, in: Medien des Wissens. Interdisziplinäre Aspekte von Medialität. Hg. von Georg Mein und Heinz Sieburg. Bielefeld 2011, S. 187– 202, hier S. 191.  Vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 43 – 44.  Vgl. Herweg, Christi Geburt, S. 71.

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verleiht, an die Anwesenheit ihres Autors gebunden. Aus diesem Grund kann Savilon seine Schriften nicht allein lassen, sondern muss sie erstens physisch bei sich behalten und dabei zweitens, wenn er schon nicht sein natürliches Leben verlängern kann, doch wenigstens seinen Tod hinauszögern. Indem Savilon den Zettel nach dem Schreibvorgang nicht in einem produktiven Körperteil aufbewahrt (etwa im Mund, mit dem man spricht, oder in der Hand, mit der man schreibt), sondern in einem rezeptiven Organ (nämlich im Ohr, mit dem man hört) und sich selbst von allen anderen Menschen isoliert, will er sicherstellen, dass er, der Autor, zugleich auch der einzige Rezipient des Inhalts bleibt. Diese Einheit von Autor und Rezipient in einer Person bewirkt, solange kein Fremdkörper eindringt und sie spaltet, einen Zustand des Stillstands, der vom Magnetberg aus die gesamte Welt erfassen soll und es eine Zeitlang auch tut. Solange auf dem Magnetberg alles so bleibt, wie es ist, kann auch die Heilsgeschichte nicht voranschreiten. Allerdings kann Savilon die Zeit selbst nur in der Höhle auf dem Magnetberg stoppen. An anderen Orten auf der Welt vergeht sie weiterhin. Ein allumfassendes Anhalten der Geschichte ist nicht möglich. Savilon kann nicht für immer vermeiden, dass andere Personen Zutritt zu seiner Zeitkapsel erhalten und seine Schriften entwenden. Trotz aller Schriftmagie ist sein Plan daher zum Scheitern verurteilt. Die Magnetbergepisode führt damit ein grundlegendes Problem jeglicher Rede vor: Sobald ein Zeichen in die Welt gesetzt ist, besteht die Möglichkeit, dass es wahrgenommen und gedeutet wird. Ein ausgesprochenes oder geschriebenes Wort kommt nicht nur ohne die Anwesenheit eines Empfängers, sondern auch ohne die seines Senders aus. Dieser kann nicht kontrollieren, was damit geschieht. Jacques Derrida zufolge handelt jedes Schriftstück immer weiter von sich aus, ganz gleich, ob es nun von seinem Produzenten weiter autorisiert ist oder nicht: Schreiben ist das Produzieren eines Zeichens [marque], das eine Art Maschine darstellt, die ihrerseits produktiv ist und die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert werden wird, zu funktionieren und sich lesen und umschreiben zu lassen. […] Damit ein Schriftstück ein Schriftstück ist, muß es fortfahren zu ‚handeln‘ und selbst dann lesbar sein, wenn der sogenannte Autor des Schriftstücks nicht mehr für das, was er geschrieben und anscheinend unterschrieben hat, einsteht.¹⁵

Jedes Schriftstück (und auch jeder andere Zeichenkomplex) muss in Abwesenheit seines Autors lesbar sein, sein Inhalt muss iterierbar und rekontextualisierbar sein, aber niemand kann festlegen, auf welche Weise er wahrgenommen, interpretiert oder benutzt wird. Sobald das Zeichen in einen anderen Kontext gerät, können damit Dinge geschehen, die der ursprünglichen Absicht des Autors widersprechen. Im Fall des Zettels in Savilons Ohr besteht die Rekontextualisierbarkeit des Schriftstücks darin, dass es in die Hände einer zweiten Person gelangt, obwohl es von seinem Autor dafür

 Jacques Derrida: Limited Inc. Aus dem Französischen von Werner Rappl unter Mitarbeit von Dagmar Travner. Hg. von Peter Engelmann. Wien 2001 (erstmals Paris 1990), S. 25 – 26.

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niemals vorgesehen war. Vergil führt aus, was in jeder Schrift von Beginn an angelegt ist: die Trennung von ihrem Autor, ihre Lektüre oder Re-Lektüre und die damit einhergehende Zweckentfremdung. Vergil muss nicht wissen, was er tut, und er muss auch nicht verstehen, was er sieht (und vielleicht auch liest). Allein die endgültige Ablösung der Worte von ihrem Sender bewirkt, dass der Zauber erlischt. In der Magnetbergepisode wird erstens behauptet, dass man mittels geschriebener Worte das Bezeichnete erzwingen und beeinflussen kann, und zweitens, dass es möglich ist, unter bestimmten Umständen die Kontrolle über die eigenen Worte zu behalten. Die Möglichkeit, auf diese Weise Kontrolle auszuüben, ist allerdings stets hochgradig dadurch gefährdet, dass kein Mensch garantieren kann, auf Dauer mit seinen eigenen Worten allein zu bleiben. Savilon scheitert daran, dass sein Rückzug nur unvollkommen ist. Er muss mit seinen schriftlichen Erweiterungen in der Welt bleiben, um ihr Wirken steuern zu können, macht sich aber gerade dadurch angreifbar. So sicher kann er seine Festung gar nicht gestalten, dass nicht doch eines Tages jemand in sie eindringt und sich seiner Rede bemächtigt. Das Problem beim Schreiben ist, dass kein Autor Macht darüber besitzt, was mit seinen Worten geschieht: Sobald er sich ihrer entäußert, ist er seinen Mitmenschen ausgeliefert. Diese können entweder Dinge wahrnehmen, die nicht für sie bestimmt sind, oder sie können sie anders wahrnehmen, als der Autor dies geplant hatte.¹⁶ An dem angeketteten Buch, in dem die Ereignisse um Savilon und seine eigene Entdeckung niedergelegt sind, wird deutlich, in welchem Ausmaß jeder Rezipient im Rezeptionsvorgang auf sich gestellt ist. Von der Lektüre des Buches durch Reinfried und seine Gefährten heißt es: über daz buoch sî sâzen, / wan ez alsô geschriben was / daz ez menneclîch wol las / von aller sprâche zungen (R 21302– 21305: Sie saßen über dem Buch, denn es war solchermaßen geschrieben, dass ein jeder es gut in seiner eigenen Sprache lesen konnte). Peter Strohschneider zufolge wird hier ein Fall von Universalsprachlichkeit imaginiert.¹⁷ Man kann die Stelle aber auch so verstehen, dass jeder Leser auf dem Magnetberg das Buch nicht in der gleichen, universellen Sprache liest, sondern jeweils in seiner eigenen, individuellen.¹⁸ Wie Reinfried, der Fürst von

 Die zweite Möglichkeit betrifft etwa die singende Sirene, die an ihrem neugierigen, aber aus der Perspektive der Sirene allzu vorsichtigen ‚Rezipienten‘ Reinfried zugrunde geht.  Vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 46.  Die Wendung aller sprâche zungen begegnet im Roman (in leicht abgewandelter Form) noch an einer anderen Stelle: ie der man ungerne starp, / […] der keiser als der betteler, / der rîche als der blôze, / der kleine als der grôze, / der alte als der junge. / aller sprâche zunge, / juden kristen heiden, / ân allez underscheiden / müezen zinsen unser leben, / got würmen und der erde geben / daz sî uns verliuhen hânt (R 22204– 22217: Jedermann starb ungern, […] der Kaiser wie der Bettler, der Reiche wie der Bedürftige, der Kleine wie der Große, der Alte wie der Junge. Menschen jeglicher Sprache, Juden, Christen und Heiden – wir alle müssen ohne Unterschied unser Leben hingeben und Gott, den Würmern und der Erde das überlassen, was sie uns gegeben haben). In diesem Zusammenhang ist von einer Vielzahl unterschiedlicher Personen und Gruppen die Rede, von denen manche vermutlich unterschiedliche Sprachen sprechen. Von einem vielsprachlichen Potenzial des Buchs geht auch Christoph Huber aus. Vgl. Christoph Huber: Der ‚Apfel der Discordia‘. Funktion und Dinglichkeit in der Mythographie und im

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Persien und die anderen das Gelesene verstehen, erfährt das Publikum nicht.Wenn sie aber alle ihren jeweils eigenen Wortlaut des Buchs erhalten, dann kann von einer ‚originalen‘ Version dieses Buchs überhaupt keine Rede sein. Damit bringt die Episode in bemerkenswerter Weise zum Ausdruck, dass jeder Text so viele Gestalten annimmt, wie er Leser hat, und dass diese mit dem Gelesenen grundsätzlich allein sind und sich unkontrolliert ihren Teil dazu denken können.

Innenräume und Außenwirkung, Stillstand und Beweglichkeit Die Anlage auf dem Magnetberg soll Savilon dazu verhelfen, das aus den Sternen abgelesene und in Worte gefasste Wissen um die Bedingungen der Ankunft des Messias durch Verschriftlichung auf Dauer zu stellen und die andauernde Wirkung dieser Worte durch ihre anhaltende Verbindung mit Savilons untoter körperlicher Anwesenheit zu garantieren. Die materialen Eigenschaften der gesamten Anlage stehen ganz im Dienst dieser Absicht. Weil aber die Bewegungen, aus denen Wissen generiert wird, niemals vollständig stillgestellt werden können und weil kein Wissen jemals so tief eingeschlossen werden kann, dass es nicht doch irgendwann nach außen dringt, schlägt Savilons Plan nach 1200 Jahren fehl. Der Magnetberg ist in der europäischen und nahöstlichen literarischen Tradition ein Ort, der sich vor allem durch eines auszeichnet: seine ungeheuerliche Anziehungskraft. Mithilfe von eisernen Werkzeugen und Bestandteilen erbaute Schiffe, die in seine Nähe geraten, müssen unweigerlich auf ihn zufahren, bis sie an ihm zerschellen.Von ihm lösen können sie sich danach nicht mehr, was für die Besatzung, so es denn überhaupt Überlebende gibt, eine Herausforderung darstellt: von dem berge lûhte / manic wildez wunder, / wan an dem steine under / hât manic kiel genomen haft, / die von des magnêten kraft / alle wâren dar getriben. / liut und guot was dâ beliben / verdorben an des steines habe (R 21014– 21021). Von dem Berg leuchteten viele sonderbare Wunder her. Am Sockel des Steins klebten nämlich zahlreiche Schiffe, die alle aufgrund der Kraft des Magneten dorthin getrieben waren. Menschen und Güter waren dort geblieben und im Meer am Fuße des steinernen Bergs zugrunde gegangen.

Reinfried und seine Begleiter finden eine große Anzahl zerbrochener und unbelebter Wracks am Ufer des Berges vor, dazu übergroßen Reichtum in Form von silber und von golde, / von edelem gesteine, / purpur pfellel reine, / ciclâdê und samît (R 21098 – 21101: von Silber und Gold, von edlen Steinen, von leuchtend purpurnem Seidenstoff, von Siglat und Brokat), den das letzte Schiff offenbar mit sich geführt hat. Der Magnetberg ist reich geschmückt, aber es ist ein morbider Schmuck, der vor allem von der Eitelkeit

‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vordmoderne. Hg. von Anna Mühlherr, Heike Sahm, Monika Schausten und Bruno Quast. Berlin, Boston 2016, S. 110 – 126, hier S. 119 (FN 22).

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menschlicher Reichtümer und der Endlichkeit menschlichen Lebens kündet. Für die meisten Menschen, die ihm zu nahe gekommen sind, hat er sich als Endstation nicht nur jeglicher Bewegung im Raum, sondern des Lebens selbst erwiesen. Das Eiland ist kein Palast, sondern ein Grab, und dies im doppelten Sinn – auch Savilon hat sich schließlich nie wieder von ihm entfernt, sondern ist dort geblieben und wurde schließlich auch dort bestattet, in einer Festung aus Eisen, die niemand, auch ihr Bewohner nicht, jemals verlassen sollte. Wenn der geheime Inhalt von Savilons magischen Schriften dafür sorgen soll, dass Zustandsveränderungen verhindert werden (Christus kann nicht geboren werden, Savilon kann nicht sterben, der Teufel kann sich nicht bewegen), dann ist der Magnetberg, der allen Bewegungen ein Ende setzt, dafür der ideale Ort. Zunächst geht denn auch alles nach Plan und Savilon verschwindet mit seinen magischen Utensilien spurlos, wie der Erzähler feststellt: […] nie kein mensche moht für wâr / sprechen war er wære komen. / von im niemen hât vernomen / diz noch daz noch sus noch sô (R 21544– 21547). Kein Mensch konnte je wahrheitsgemäß sagen, wo er [Savilon, A.L.] hingegangen war. Niemand hörte das allerkleinste Bisschen von ihm.

Schon wenige Verse später allerdings wird mit größter Selbstverständlichkeit erzählt, wie der verarmte Vergil von Savilon und seinen Künsten erfährt: nu hôrt der werde fürste sagen / von der hôhen künste / die mit rîcher vernünste / Savilôn hât funden, / und wie vor mangen stunden / er verloren wære. / er hôrt ouch sagen mære / daz der meister læge / und hôher künste pflæge / dort ûf dem magnêten / […]. Diz wart im sicherlîch geseit (R 21582– 21595). Nun hörte der edle Fürst, was man über die hohe Kunst sagte, die Savilon mit großer Klugheit erfunden hatte, und wie er vor langer Zeit verschollen war. Er hörte auch Geschichten darüber, dass der Meister sich auf dem Magnetberg befinde und sich dort mit hoher Kunst beschäftige. […] All dies wurde ihm versichert.

Sehr weit kann es also mit der Eigenschaft des Magnetbergs, alles jemals Angezogene bei sich zu behalten und somit keine Informationen nach außen dringen zu lassen, nicht her sein.¹⁹ Der Berg ist offenbar nicht hermetisch abgeschlossen, die Grenzen, die ihn vom Rest der Welt trennen, können keineswegs nur in einer, sondern in beide Richtungen überwunden werden. Kein Wunder: Literarische Orte, die als besonders unzugänglich oder gefährlich gelten, haben es nun einmal an sich, dass man sie besucht und sie dann zu dem Zweck wieder verlässt, von dem Besuch erzählen zu können. So erwähnt der Erzähler des Reinfried beiläufig, dass nach Vergil auch Herzog Ernst und sein Gefolgsmann Wetzel den Magnetberg erreicht und lebendig verlassen hätten.²⁰ Zusammen mit Reinfried sind es also schon drei Gruppen von Seefahrern, die  Allerdings ist Vergil nicht ganz richtig (oder vollständig) informiert. Er geht offenbar davon aus, Savilon lebendig vorzufinden (R 21588 – 21594).  Der Erzähler spricht von Vergil und Herzog Ernst als den einzigen Überlebenden einer Fahrt zum Magnetberg in den Versen R 21022– 21063 und nochmals 21112– 21115. Zur Magnetbergepisode im

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nicht an dem unwirtlichen Ort ihr Leben beschließen müssen. Während Ernst und seine Leute in großer Not von Greifen weggetragen werden, kann der Fürst aus Braunschweig seine Reise komfortabler gestalten: Er verfügt über ein Schiff, bei dessen Anfertigung auf jeglichen Kontakt mit eisernen Gegenständen verzichtet wurde und das aus diesem Grund der Anziehungskraft des Magneten trotzt. Und schließlich muss sich sogar der Herr von Ejulat, der vor Reinfrieds Augen am Magnetberg strandet, nicht damit abfinden, den Rest seines Lebens auf der Insel zu verbringen. Nachdem Reinfried und seine Gefährten am Festland angekommen sind, schicken sie ihr Schiff zurück und lassen ihren neuen Bekannten nachholen (R 22778 – 22833). Der Magnetberg, der doch eigentlich Stillstand, Statik und Unveränderlichkeit gewährleisten soll, tut genau das Gegenteil. Ganz gleich, aus welchen Gründen man auf der Insel landet, ob mit einer ganz bestimmten Absicht (Vergil und Reinfried) oder zufällig und notgedrungen (Herzog Ernst und der Herr von Ejulat) – solange man nur über die richtigen Informationen, ausreichend Wagemut oder nützliche Freunde verfügt, erweist sich der Weg dorthin ebenso wie auch der Rückweg als gangbar. Es ist gerade die Anziehungskraft des Ortes im wörtlichen Sinn, die seine Attraktivität im übertragenen Sinn ausmacht. Savilons Scheitern zeigt: Auf jede Bewegung folgt eine Gegenbewegung, auf jede Aktion eine Reaktion und auf jeden Schreibakt, und sei er noch so heimlich ausgeführt, folgt früher oder später ein Leseakt. Zu den natürlichen Eigenschaften des Aufbewahrungsortes von Savilons magischen Schriften kommen die artifiziellen, die der Zauberer dem Ort selbst verliehen hat. Seine Zettel und Bücher hat er schließlich nicht einfach auf der Spitze des Berges oder in einem Gebäude auf seiner Oberfläche abgelegt, sondern in einer aufwändig ausgestalteten Höhle in seinem Inneren. Wer aber etwas versteckt, der muss damit rechnen, dass es entdeckt wird. Daher hilft es Savilon nicht, dass er etwa sein brievelîn nicht nur in der Höhle im Inneren des Berges einschließt, sondern zusätzlich auch in seiner Ohrhöhlung, d. h. innerhalb seines eigenen Körpers. Nur zeitweilig gelingt die Zurückhaltung des antizipierten Ereignisses durch die Einkapselung der Schrift, die das Antizipierte zugleich repräsentiert und mit ihm identisch ist. Da Savilon nur ein Mensch ist, kann er nicht die gesamte Welt durch Schriften bannen, sondern nur einen kleinen Teil davon. Die ausgeschlossenen Überreste aber bilden eine entscheidende Schwachstelle in seiner Verteidigungsanlage. Dies wird an der Art und Weise sichtbar, in der es Vergil gelingt, in den Berg einzudringen. Zunächst gelangen er und seine Gefährten zwar wohlbehalten zum Magnetberg, können sich aber keinen Zutritt verschaffen: sî sâhen und vernâmen / dâ wunderlîchiu wunder, / und konden doch hie under / niht komen dâ der alte saz (R 21618 – 21621: Sie sahen und vernahmen dort vielerlei wunderbare Dinge, konnten jedoch nicht dort hineingelangen, wo der Alte

Herzog Ernst vgl. Herzog Ernst. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. In der Fassung B mit den Fragmenten der Fassungen, A, B und Kl nach der Leithandschrift hg., übersetzt und kommentiert von Mathias Herweg. Mit Herzog Adelger (aus der ‚Kaiserchronik‘). Stuttgart 2019, V. 3920 – 4334.

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saß). Dann jedoch finden sie ein kleines Glas mit einem Teufel, den Savilon unter Verwendung eines weiteren magischen Schriftstücks dort eingesperrt hatte,²¹ wie das Publikum schon vorher erfahren hat: mit meisterlîchem prîse / hât er verslozzen in ein glas / einen geist und hatte daz / ouch mit grôzen sorgen / listeclîch verborgen / unden an des steines pfat (R 21532– 21537). Mit meisterhaftem Können sperrte er [Savilon, A.L.] einen Geist in ein Glas und verbarg dieses mit großer Sorgfalt listig unten an dem Weg, der auf den Berg führte.

Dieser Teufel, den Savilon außerhalb der Höhle und ausgerechnet am einzigen Zugangsweg dazu verwahrt hatte, sodass er zwar gefangen und verborgen ist, aber gleichzeitig leicht aufgefunden und befreit werden kann, verspricht, den Männern den Zugang zu Savilons Aufenthaltsort zu weisen und auch die nekromantischen Bücher zu besorgen, in denen Savilon alle Teufelsbannsprüche aufgeschrieben habe, wenn man ihn dafür im Gegenzug aus dem Glas lasse. ‚Jâ jâ,‘ sî riefen alle dô (R 21639), und so geschieht es: sus wîste er sî ûf den stein / dur tor für bilde, daz in kein / schade mit sache nie beschach (R 21653 – 21655: so wies er ihnen den Weg auf den Berg, durch das Tor und an den Figuren vorbei, sodass ihnen kein Schaden entstand). Der Verschlussmechanismus des Berges kann also nur deshalb durchbrochen werden, weil Savilon sich von einer seiner Prothesen – dem beschworenen Teufel – getrennt und sie nicht mit sich zusammen eingeschlossen hat. Aus diesem Grund kann nichts von dem, was der Zauberer eingesperrt hat, für immer weggeschlossen bleiben. Nicht nur der Teufel entkommt (wenn auch nur vorübergehend) seinem Gefängnis. Auch der Zettel im Ohr wird ans Licht geholt; die Zauberbücher werden aus der Wand befreit, aufgeschlossen und material und inhaltlich angeeignet; und nicht zuletzt sorgen all diese Akte des Öffnens, Eindringens und Hervorholens dafür, dass weit weg, an einem Ort fern des Magnetbergs, der Heiland in die Welt hineingeboren wird: diz was eben in der trift, / dô diz vant Virgilîus, / daz ouch Oktavîânus / ze Rôme lepte keiserlîch / und diu reine minnenclîch / Marîâ muoter magt gebar / got mensch ûf die erden har (R 21674– 21680). Es geschah genau in dem Moment, in dem Vergil dies fand, dass Oktavian in Rom Kaiser war und die reine, süße Mutter und Jungfrau Maria Gott als Menschen auf die Welt brachte.

Wenn der Zettel Christus verkörpert, dann usurpiert Savilon mit dem Einschließen des Zettels in seinem Körper zeitweilig auf perverse Weise die Stelle der Gottesmutter Maria, die in ihrem Körper den Heiland trägt.²² Vergil aber wird, ohne es zu wissen,

 daz glas mit einem brievelîn / verschoben was, hân ich gehôrt. / dar an hâte solhiu wort / mit künsten Savilôn geschriben, / daz der tiuvel was beliben / dar inne manic tûsent jâr (R 21036 – 21041: Das Glas war mit einem Zettel verschlossen, habe ich gehört. Darauf hatte Savilon kunstreich bestimmte Worte geschrieben, sodass der Teufel viele tausend Jahre darin geblieben war).  Die Aufbewahrung von Schriftträger und Schriftinhalt im Ohr und ihre erlösende Entfernung daraus spielt möglicherweise auf die seit der Spätantike verbreitete Vorstellung an, dass Jesu Emp-

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durch seinen Leseakt zum Geburtshelfer, zur Hebamme des christlichen Messias. Auf seine Intervention hin wird das Wort Fleisch (Joh 1,14). Lesern, die nach Vergil zum Magnetberg kommen, verhilft der Bericht über diese Ereignisse in dem angeketteten Buch dazu, Vergils alles entscheidenden Leseakt nachzuvollziehen. Reinfried von Braunschweig, der Herrscher von Persien und ihre Gefolgsleute sind insofern aktive Teilhaber an der Heilsgeschichte, als auch sie das Wissen um die genauen Umstände von Christi Geburt mit sich von der Insel und hinaus in die Welt nehmen.Was sie damit machen, erfährt das Publikum nicht. Mathias Herweg schließt aus dem Umstand, dass über Reinfrieds Rezeptionshaltung oder seine Reaktion auf das Gelesene nichts erzählt wird, dass sich Reinfried nicht engagiert genug mit der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Ereignisse beschäftigt und folglich als herrscherliches Negativ-Exempel anzusehen ist.²³ Möglicherweise geht es aber in der Magnetbergepisode vor allem darum, den Ort überhaupt zu begehen und die Geschichte zu rezipieren. Die Aufschließung des versperrten Raums und die Entdeckung der dort befindlichen antichristlichen Schrift werden jedes Mal, wenn eine Person die Höhle betritt, die Erzählung über das Ereignis liest und danach die Höhle wieder verlässt, von Neuem nachvollzogen und in ihrer Bedeutsamkeit bezeugt. In der Logik der erzählten Welt ist es wichtig, dass die Lektüre an diesem Ort stattfindet. Die Fixierung des Buchs durch eine Kette sorgt dafür, dass es bleibt, wo es ist.²⁴ Im Gegensatz zu dem angebundenen Kodex aber lässt sich dessen Inhalt eben nicht anketten. Was Reinfried und seine Kollegen damit machen, weiß niemand. Der Erzähler des Romans aber kann die Geschichte zitieren, sie sich aneignen, sie umformulieren und sie im Dienst der eigenen Erzählung aufbereiten, denn: Schrifttragende Artefakte sind oft beweglicher, als es ihren Produzenten gefällt. Und ihre Inhalte sind es erst recht.

Die Tode von Autor und Sängerin In der Magnetbergepisode im Reinfried von Braunschweig hängen Schreiben und Lesen auf der einen Seite sowie Leben und Tod auf der anderen eng miteinander zusammen. Ein Schriftstück (der Zettel im Ohr) verhindert, dass Christus geboren wird, ein anderes (das Buch unter den Füßen) sorgt dafür, dass Savilons Leben nicht endet. Die beiden Schriften sind nicht aneinander gekoppelt – theoretisch wäre es vorstellbar, dass Savilon sein untotes Dasein weiterführt, nachdem der Zettel aus seinem Ohr entfernt wurde und Gott als Mensch in die Welt geboren wird. Allerdings hat der

fängnis per aurem erfolgt sei, d. h. als Gegenstück zur Verführung Evas durch die Worte der Schlange im Paradies. Vgl. Miri Rubin: Mother of God. A History of the Virgin Mary. New Haven, CN 2009, S. 36 – 37. Überlagert wird dieses Modell der Empfängnis im Reinfried von der Vorstellung, dass die Inkarnation sich in einem „Akt der Inskription“ vollzogen habe. Kiening/Stercken, SchriftRäume, S. 27.  Vgl. Mathias Herweg: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300. Wiesbaden 2010, S. 308 – 309.  Vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 46.

4.1 Schriftprothesen

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Zauberer durch die Einrichtung eines rätselhaften Selbstzerstörungsmechanismus dafür gesorgt, dass er stirbt, sobald jemand das Buch zu seinen Füßen fortnimmt: ob im unhôhe swebte / ein frömdez wunder wilde. / ez was ein êrîn bilde / und hât ein hamer in der hant / erzogen, swenn im würd bekant, / daz iemen zuo im kæme / und von den füezen næme / daz buoch und dannen trüege, / daz ez denne slüege / sunder allez schônen / den selben Savilônen, / wan sîn geist der wære hin (R 21484– 21495). Nicht weit über ihm schwebte ein seltsames Wunderwerk. Es war eine eherne Figur, die in der Hand einen Hammer ausgestreckt hielt. Sobald ihr bekannt würde, dass jemand zu ihm käme, das Buch von den Füßen entfernte und hinwegtrüge, sollte es Savilon ohne jede Schonung erschlagen, da sein Geist dann verloren wäre.

Die Verbindung zwischen Schrift und Person ist, ähnlich wie im Fall des Zettels, der auf die Ankunft Christi einwirkt, eine weit mehr als repräsentative und daher auch eine unbedingt wechselseitige. In dem Zettel im Ohr wird das Beschriebene als präsent gedacht. Das Buch unter den Füßen hingegen ist ein Werkzeug, mit dessen Hilfe der Schreiber präsent gehalten wird. Diese zweite Präsenz ist notwendig, um die erste zu garantieren. In anderen Worten: Im Zettel bannt der Schreiber das Beschriebene, im Buch bannt er sich selbst. Savilon verleiht seiner eigenen Existenz Dauer, indem er seinen Körper und seinen Geist künstlich zusammenhält. Zu diesem Zweck konstruiert er eine Erweiterung sowohl seines Körpers als auch seines Geistes, die an beiden Elementen der Persönlichkeit des Zauberers Anteil hat und sie miteinander verknüpft.Wird die Verknüpfung gelöst, zerfällt die Einheit.Während der Geist von selbst hin ist (R 21495), sorgt Savilon für die Vernichtung seines offenbar weiterhin lebendigen, nun aber nicht mehr mit Geist begabten Körpers vor, indem er ihn durch einen Automaten erschlagen lässt. Ein Zeichen dafür, dass die vollständige Selbstvernichtung funktioniert hat, besteht darin, dass ein vor dem Untoten aufgestelltes Licht erlischt: er nam daz buoch ouch an der stunt / daz des vil wîsen füeze truoc. / daz bilde mit dem hamer sluoc, der alte starp, das lieht erlast (R 21682– 21685). Er [Vergil, A.L.] nahm damals auch das Buch, das die Füße des außerordentlich Weisen trug. Die Figur schlug mit dem Hammer zu, der Alte starb, das Licht erlosch.

Ein Teil der Person wird im Moment der Auflösung gezielt zerstört, ein weiterer Teil verflüchtigt sich. Was bleibt, sind ein Leichnam und ein Buch. Die Magie, mit der sich der Zauberer die Welt und die Naturgesetze untertan macht, wirkt nur so lange, wie er mit seinen Schriftstücken allein ist – das heißt, so lange, wie er selbst sowohl der Autor, der Besitzer und der einzige Leser des Textes ist, der ihn am Leben erhält. Mit seiner partiellen Entäußerung in Schriftform setzt sich Savilon der Gefahr aus, selbst zum Objekt der Manipulation durch eine andere Person zu werden, sobald diese Zugriff zu dem Aufbau im Magnetberg erhält. Und so kommt es ja auch: In dem Moment, in dem Vergil in die Höhle eindringt und auf den Mechanismus einwirkt, verwandelt sich Savilon von einem autonomen Autor und Nutzer von Schrift, der sich selbst

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schreibend zum geheimen Zentrum der Welt gemacht hatte, in ein Objekt der Betrachtung durch andere Personen. Die Insel, die auf ihr errichtete Festung, Savilons Körper und nicht zuletzt die Schriften, die um diesen Körper herum gruppiert sind, werden in den Augen der von außen kommenden Betrachter zu einem riesigen Ensemble von Zeichen (Naturzeichen, Körperzeichen und Schriftzeichen), die entziffert, interpretiert und ergänzt werden können. Savilon kann nicht kontrollieren, wie die Betrachter mit diesen Zeichen umgehen. Seine Schriften gehören ihm nicht mehr, sie werden entwendet und zweckentfremdet. Savilon beeinflusst den Verlauf der Geschichte nicht mehr, er ist nun selbst buchstäblich Geschichte. Die Schaffung einer Lektüresituation wird hier im wahrsten Sinn des Wortes mit dem Tod des Autors bezahlt. Savilon ist aber nicht das einzige Opfer begieriger Rezipienten. Anschließend an die Erzählung von Reinfrieds Besichtigung des Magnetbergs segnet noch eine weitere Autorpersönlichkeit das Zeitliche. Es lohnt sich daher, die Magnetberg- und die darauf folgende Sirenenepisode im Zusammenhang zu betrachten. Nachdem Reinfried und seine Gefährten die Sehenswürdigkeiten auf der Insel zur Genüge bestaunt haben, werden sie Zeugen, wie ein weiteres Schiff dort ankommt und nur dank Gottes Gnade nicht am Felsen zerschellt (R 21792– 21793). Der Schiffseigner, ein Herr von Ejulat, berichtet von allerlei fernen Wundern, darunter auch von einer Sirene, die ihm ein ganzes Schiff mitsamt Besatzung geraubt hat. Die Macht der Sirene liege, so der Unglückliche, in ihrem Gesang begründet: sus kann Sirêne ertrenken / swel ir stimme nement war. / die tœret sî biz daz sî gar / in voller lust ertrinkent / und willeclîch versinkent / nâ dem süezen dône. / sî singet alsô schône / daz swer ir stimme hœret / wirt alsô ertœret / daz er niemer dannen mac / komen weder naht noch tac / biz sî in ergrîfet (R 22026 – 22037). So vermag die Sirene diejenigen zu ertränken, die ihre Stimme hören. Diese betört sie, bis sie voller Lust ertrinken und willentlich gegen ihren süßen Klang hin versinken. Sie singt so schön, dass jeder, der ihre Stimme hört, so betört wird, dass er sich bei Nacht oder am Tag niemals mehr von dort entfernen kann, bis sie ihn ergreift.

Gegen den Willen seiner Gefolgsleute beschließt Reinfried, die Sirene aufzusuchen. Er wendet dabei die von Homer beschriebene List des Odysseus an, indem er sich an den Mast des Schiffs binden und seinen Begleitern die Ohren verstopfen lässt.²⁵ Als die Sirene bemerkt, dass sich ein Schiff nähert, beginnt sie so schön zu singen, dass weder menschliche noch tierische, weder schriftlich fixierte noch vergängliche Klänge sich mit ihrem Gesang messen können (R 22394– 22408). Auch auf den gefesselten Reinfried verfehlt er seine Wirkung nicht. Dieser möchte vor Sehnsucht lieber den Tod erleiden als sich zu entfernen (R 22448 – 22449), ergraut gar zur Hälfte (R 22462– 22463)  Vgl. den Verweis auf Statius’ Achilleis und die Behauptung, dass Ulixes seine List auf dem Weg zu Achilles angewandt habe und nicht etwa auf der Heimreise von Troja (R 22562– 22597). Zur christlichen Deutung des Mythologems durch Honorius Augustodunensis vgl. z. B. Vögel, Naturkundliches, S. 111– 112.

4.1 Schriftprothesen

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und muss nach seiner Rückkehr von seinem persischen Freund an seine Liebespflichten gegenüber der zu Hause wartenden Yrkane erinnert werden (R 22677– 22701). Genau wie Odysseus aber kann Reinfried der alle Vernunft überwältigenden Versuchung letztlich widerstehen, da er mit den Mitteln der Vernunft vorgesorgt hat. Wie Odysseus entspricht er dem Idealbild des sich allen mythischen, archaischen, ekstatischen und antiaufklärerischen Zumutungen widersetzenden bürgerlichen Subjekts, von dem Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1969 in ihrer ‚Dialektik der Aufklärung‘sprechen: Odysseus erkennt die archaische Übermacht des Liedes an, indem er, technisch aufgeklärt, sich fesseln läßt. Er neigt sich dem Liede der Lust und vereitelt sie wie den Tod. Der gefesselte Hörende will zu den Sirenen wie irgendein anderer. Nur eben hat er die Veranstaltung getroffen, daß er als Verfallener ihnen nicht verfällt. […] Die Sirenen haben das Ihre, aber es ist in der bürgerlichen Urgeschichte schon neutralisiert zur Sehnsucht dessen, der vorüberfährt.²⁶

Vom mythischen Wissen der Sirenen, das mit der Selbstaufgabe des lauschenden Subjekts erkauft wird, wendet sich Odysseus ab, und Reinfried tut es ihm nach. Ähnlich wie bei seinem sorgsam geplanten Aufbruch zum Magnetberg geht er nicht das Risiko ein, dem aufgesuchten Ziel so restlos zu verfallen, dass er es nicht mehr verlassen kann. Er will rezipieren, nicht teilhaben.²⁷ Reinfried lauscht, aber er bleibt an dem Platz, den er selber für sich vorgesehen hat.²⁸ Während sogar Orpheus, selbst begnadeter Sänger, aber widerständiger Liebender und Gegner der rasenden Mänaden, möglicherweise unterlegen und bei der Sirene geblieben wäre (R 22478 – 22491), lässt Reinfried sie noch mitten im ‚Konzert‘ hinter sich. Dank seiner klugen Vorkehrungen nämlich kehrt das Schiff bald um und fährt zum Magnetberg zurück. Mit dieser unvorhergesehenen Reaktion aber kann die Sirene nicht umgehen. Sie versucht, dem davonsegelnden Schiff zu folgen, und erhebt sich in ihrer Anstrengung sogar aus dem Wasser, sodass ihr schöner nackter Körper, halb Mensch und halb Fisch, zu sehen ist. Ihre Mühe, ihren Zuhörer auf die vorgesehene Weise mit ihrem Gesang zu erreichen, kostet sie schließlich das Leben: diu Sîrêne offenbar / fuor iemer mê dem schiffe nâch. / ir was ze singende sô gâch, / dô sî daz schif entrinnen sach, / daz ir in dem lîbe brach / von überdon daz herze (R 22608 – 22613)

 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 162006, S. 66 – 67.  „Die Bande, mit denen er sich unwiderruflich an die Praxis gefesselt hat, halten zugleich die Sirenen aus der Praxis fern: ihre Lockung wird zum bloßen Gegenstand der Kontemplation neutralisiert, zur Kunst. Der Gefesselte wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.“ Horkheimer/Adorno, Dialektik, S. 41.  Zur Figur des Odysseus und zur Sirene als Sinnbild der Literatur vgl. Andreas Kraß: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt a. M. 2010, S. 49 – 59.

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Die Sirene schwamm dem Schiff deutlich sichtbar immer weiter hinterher. Sie war so begierig darauf zu singen, als sie sah, dass das Schiff entkam, dass ihr von der übergroßen Anspannung das Herz im Leib brach.

Mit Reinfrieds Entkommen und dem Tod der Sirene wird im Reinfried von Braunschweig konkret vorgeführt, worüber Adorno und Horkheimer nur spekuliert hatten, dass nämlich Odysseus’ Widerstand das Ende der Sängerinnen gewesen sein müsse.²⁹ Reinfrieds Sirene geht an ihren eigenen Gesetzen zugrunde. Sie kann es nicht ertragen, dass ihr Gesang seine Wirkung verfehlt. Sie hatte darauf gesetzt, mit ihrem Lied Präsenzeffekte zu erzeugen, ähnlich wie Savilon es mit seinen Schriften versucht hatte. Nach der Begegnung mit dem ihrer Verlockung widerstehenden Reinfried aber muss sie an ihrem Potenzial zur Herstellung von Präsenz zweifeln. Die Sprache ihres Gesangs beginnt in Bezeichnung überzugehen. […] Der Vorstellungskreis, dem die von den mythischen Figuren unabänderlich vollstreckten Schicksalssprüche angehören, kennt noch nicht den Unterschied von Wort und Gegenstand. Das Wort soll unmittelbare Macht haben über die Sache, Ausdruck und Intention fließen ineinander. List jedoch besteht darin, den Unterschied auszunutzen.³⁰

Die Magie der Sängerin versagt in dem Moment, in dem sich ihr Zuhörer weigert, die Identität von Signifikant und Signifikat anzuerkennen, und stattdessen darauf besteht, dass es möglich ist, dem Gesang zu lauschen, ohne dem von seiner Urheberin beabsichtigten Effekt zu erliegen. Die ‚Stimme‘ verwandelt sich in ‚Schrift‘ im Sinne Jacques Derridas. Die Sängerin im offenen Meer hat, ebenso wie der Schreiber Savilon in seiner Höhle im Berg, keine Kontrolle darüber, auf welche Weise ihr ‚Werk‘ aufgenommen wird. So wie der Zauberer um sein Leben schreibt, singt die Sirene um das ihre, und genau wie Savilon müht sie sich vergeblich. Die Sängerin muss ihren Zuhörern nacheilen und kann sie doch nicht einholen. Nicht der Rezipient erliegt der Künstlerin – die Künstlerin stirbt an der Eigenwilligkeit ihres Rezipienten. Anders als die Sirenen in Franz Kafkas Erzählung Das Schweigen der Sirenen von 1917 scheint die Sirene im Reinfried ein Bewusstsein für das zu besitzen, was ihr geschieht.³¹ Sie wird vernichtet, ihre Stimme verstummt. Alles, was von ihr bleibt, ist eine am Strand angeschwemmte leblose Hülle, die mit der gleichen distanzierten Neugier betrachtet und dann zurückgelassen wird, mit der Reinfried und seine Gefährten auch Savilons Grab im Magnetberg bedacht hatten:

 Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik, S. 67.  Horkheimer/Adorno, Dialektik, S. 67.  „[S]ie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie solange als möglich erhaschen. Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden, so aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.“ Franz Kafka: Das Schweigen der Sirenen, in: Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II in der Fassung der Handschriften. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt a. M. 1992, S. 40 – 42.

4.1 Schriftprothesen

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die herren liefen alle / zuo der halben frouwen / und zuo dem visch dur schouwen, / daz sî diu wunder sæhen / diu got mit listen spæhen / an dise sache hât geleit. / reht als ich vor hân geseit, / was sî sunder hazzes kîp, / halber visch und halbez wîp, / schœne unde minnesan. / alsus die herren schieden dan / bî liehtem sunnen glaste (R 22766 – 22777). Die Herren liefen alle zu ihr, die halb Fisch und halb Frau war, um sie zu betrachten, damit sie die Wunder sähen, die Gott mit großer Weisheit darauf verwandt hatte. Ganz, wie ich es zuvor gesagt habe, war sie unzweifelhaft zur Hälfte Fisch und zur Hälfte Frau, schön und liebreich. Damit entfernten sich die Herren im hellen Sonnenschein von dort.

Auf die anatomisch-naturkundliche Neugier der Entdecker fällt kein Schatten. Obgleich die Männer feststellen, dass die Sirene zur Hälfte menschlich ist, kommt niemand auf die Idee, sie zu bestatten, so wie Vergil Savilon bestattet hatte. Unter dem voyeuristischen Blick auf den schönen und liebreichen weiblichen Körper transformiert sich dieser von einem Wunder Gottes in einen Kadaver, der ohne einen weiteren Gedanken zurückgelassen werden kann. Savilons Schrift und die Stimme der Sirene verhalten sich konträr und ergänzend zueinander. Beide ‚Sender‘ müssen sich darauf verlassen, dass mit ihren Botschaften etwas ganz Bestimmtes geschieht, und beide scheitern daran, dass sie darauf nur bedingt Einfluss nehmen können. Die Möglichkeit, Präsenz herzustellen, wird im Roman zugleich behauptet und infrage gestellt. Letzteres gelingt dadurch, dass die Präsenz klar definierten Rezeptionsbedingungen unterworfen wird, deren Erfüllung früher oder später misslingen muss, weil sich Rezeption auf Dauer nicht steuern lässt. Im ersten Fall besteht das Problem darin, dass der Autor von seinem Werk getrennt wird, im zweiten darin, dass sich der Rezipient von dem Werk trennt. Einmal soll Rezeption verhindert werden und wird doch erzwungen, ein andermal ist Rezeption beabsichtigt, wird aber (in ihrem vom Autor vorgesehenen vollen Ausmaß) verweigert. Bei beiden Gelegenheiten wird eine grundlegende Voraussetzung zum Funktionieren von Sprech- oder Schreibakten außer Kraft gesetzt und wird das Gebot gebrochen, dass das, was gesprochen oder geschrieben wird, das Bezeichnete nicht nur repräsentiert, sondern mit ihm identisch ist. Sprechende, Singende und Schreibende sind niemals vollständig Herren über ihre eigenen Worte. Jede Äußerung, sei sie schriftlicher oder mündlicher Art, existiert unabhängig von ihrem Urheber. Damit impliziert ihre Existenz von Beginn an den ‚Tod des Autors‘, von dem der Poststrukturalismus spricht. Aus dieser Perspektive erweist sich der Magnetberg mit dem Grab Savilons und dem Ort, an dem die tote Sirene angeschwemmt wird, zweifach als Friedhof. Welche Botschaften genau die Rezipienten von diesem Friedhof mitnehmen, ist nicht bekannt. Zurückgelassen werden jedenfalls diejenigen, die geglaubt hatten, sprechend und schreibend mithilfe ihres Körpers oder mithilfe von körpererweiternden Schriftprothesen die Welt kontrollieren zu können, und die durch die mutwilligen Rezeptionsakte ihrer Leser und Zuhörer eines Besseren belehrt wurden.

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4.2 Selbstbeschreibungen Im Reinfried von Braunschweig treten Schriftstücke nicht nur in Gestalt prothetischer Erweiterungen der Körper ihrer Produzenten auf, sondern auch als Instrumente, mit deren Hilfe die Schreibenden Wissen fixieren, speichern und aufbewahren. Während Savilons Schriften (zumindest der Zettel in seinem Ohr und das Buch unter seinen Füßen) die Wirklichkeit direkt beeinflussen, ohne dass ihr Autor einen Lektüreakt durch eine weitere Person gestatten will, sollen schriftliche Wissensspeicher grundsätzlich zugänglich sein, wenn auch möglicherweise in eingeschränkter Weise. Zu fragen ist in diesen Fällen, von wem sie produziert werden, für wen sie zugänglich sind, an welche Rezipienten ihre Produzenten bei der Erstellung gedacht haben und wer sich das gespeicherte Wissen tatsächlich zunutze macht und wie. Schrifttragende Wissensspeicher erscheinen im Roman besonders prominent in drei Formen, die sich in ihren Hauptfunktionen am Blick auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft ausrichten: Ein Speichermedium kann rückblickend der Erinnerung an Personen oder Geschehnisse dienen; es kann eine Behauptung enthalten, die eine für die Gegenwart maßgebliche Meinung oder Haltung zum Ausdruck bringt; und es kann Informationen bereitstellen, die einen Anspruch formulieren, der erst in der Zukunft eingelöst werden kann und soll. Im Folgenden soll exemplarisch für diese drei Kategorien der Fokus auf das an Savilons Grab gekettete Buch, auf die beschriftete Helmzier des Herrschers von Persien sowie auf Reinfrieds und Yrkanes ‚Zeugungsdokument‘ gerichtet werden.

Schreibende erfinden sich Die Höhle im Magnetberg enthält nicht nur magische Schriftstücke, sondern auch konventionellere. Vor allem das angekettete Buch dient hauptsächlich der Konservierung von Wissen, indem es in Gestalt der darin fixierten geschiht (R 21714) die Erinnerung an das bewahrt, was in Athen, in Italien und auf dem Magnetberg geschehen ist. Allerdings bleiben auffällig viele Details in Bezug auf dieses Buch ungeklärt. Das fängt bei der Sprache an, in der es verfasst ist und von der man nicht zweifelsfrei feststellen kann, ob es sich um eine Universalsprache handelt oder um eine Sprache, die sich in den Augen verschiedener Leser als jeweils verständliches Idiom darstellt.³² Zudem ist der Inhalt des Buchs nicht eindeutig von einer benachbarten Schrift, nämlich dem Epitaph auf Savilons Grab, getrennt. Aus der Szene, in der Reinfried und seine Gefährten die Höhle betreten und ihren Inhalt inspizieren, geht nicht hervor, wo die eine Schrift endet und die andere beginnt. Zuerst ist von Savilons herrscherlichem Grab und der goldenen Inschrift darauf die Rede, dann heißt es:

 Vgl. Strohschneider, Sternenschrift S.46.

4.2 Selbstbeschreibungen

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wer dar inne lac begraben / seit daz epitafîum, / den anevanc, des endes drum, / mit süezen worten schône: / wie von Savilône / der stein von êrst gebûwen wart, / wan er was, von weler art, / war umb ald wie er har bekan, / daz stuont allez sament an / einem buoche dâ geschriben (R 21286 – 21295). Das Epitaph verkündete mit schönen und angenehmen Worten, wer darin begraben war, vom Anfang bis zum Ende. Wie von Savilon der Berg zuerst bebaut worden war, woher er kam und aus welchem Geschlecht er stammte, warum und wie er herkam – all das stand dort in einem Buch geschrieben.

Auch wenn man den Text an dieser Stelle so versteht, dass das Epitaph lediglich Savilons Namen enthält, während das Buch seine Geschichte erzählt, kann man auf den Gedanken kommen, dass beide Schriften, die kurze und die lange, nicht nur material, sondern auch inhaltlich zusammengehören. Diese Verbindung rückt beide Schriftstücke in ein anderes Licht, als wenn sie ganz für sich ständen: Einerseits wird aus der Grabinschrift fast unmerklich eine ganze Geschichte. Andererseits erscheint die tatsächlich folgende Geschichte über Savilons Leben und Sterben im Rückblick als ein einziges langes, detailliertes Epitaph, wie man es in dieser Ausführlichkeit etwa aus Thürings von Ringoltingen spätmittelalterlichem Prosaroman über die Schlangenfrau Melusine kennt. Abgesehen von seiner mangelnden inhaltlichen Abgrenzung gegenüber der Grabinschrift gibt das Buch ebenfalls nicht preis, wer überhaupt verantwortlich ist für den erzählenden Nachruf, der auf dem Magnetberg von Reisenden wie Reinfried gelesen werden kann. Die nächstliegende Vermutung besteht darin, dass Vergil ihn verfasst und in der Höhle deponiert hat. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen wie selbstverständlich davon aus, dass es sich so verhält.³³ Für diese Lesart spricht, dass in der Handlung niemals von irgendeinem anderen möglichen Autor die Rede ist.³⁴ Zudem endet der in dem Buch niedergelegte Bericht an der Stelle, an der erzählt wird, dass Vergil Savilon bestattet habe. Der Erzähler fasst daraufhin zusammen: swaz ich dâ vor hân geseit, / daz stuont an disem buoche hie (R 21698 – 21699: Alles, was ich bisher erzählt habe, stand hier in diesem Buch). Sodann trägt der Erzähler in einer knappen Paraphrase nach, welche Auseinandersetzungen zwischen Vergil und dem aus dem Glas befreiten Teufel sich in der Zeit nach Savilons Begräbnis durch Vergil und vor dessen Rückkehr nach Hause zugetragen haben (R 21700 – 21712), und beendet seine Paraphrase mit den Worten: daz stuont an disem buoche niht (R 21713: Das stand nicht in diesem Buch). Vergil hätte dann also alles bis dahin Vorgefallene bis zu dem Moment aufgeschrieben, an dem die Errichtung von Savilons Grabmal abgeschlossen war und er seinen Bericht an der Wand neben dem Grab ankettete. Durch die Stimme des Erzählers hindurch, der den Inhalt des Buchs in seinen eigenen Worten wiedergibt, erklänge somit in vermittelter Weise die Stimme

 Vgl. z. B. Achnitz, Babylon, S. 185 – 186; Herweg, Christi Geburt, S. 63; Strohschneider, Sternenschrift, S. 39.  Man wird kaum Herzog Ernst verdächtigen, zwischen Schiffbruch, Hungersnot und der Bedrängnis durch gefährliche Greifen ein Buch über Savilon und Vergil verfasst zu haben.

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Vergils, der Zeugnis ablegt von seinen Erlebnissen und Taten. Mit Sonja Glauch könnte man sagen, dass hier mithilfe einer Rahmenstruktur die Erzählsituation verdoppelt wird: Vergil spricht zu seinen (später lebenden und lesenden) Rezipienten innerhalb der erzählten Welt, während zugleich der Erzähler sich an das Publikum außerhalb des Textes wendet.³⁵ Die Erzählung von Savilons Versuch, Christi Geburt zu verhindern, und von Vergils Reise zum Magnetberg erweist sich in den Augen oder Ohren eines solchen Publikums als Palimpsest im Sinne Genettes, in dem die Worte des Erzählers die Worte Vergils überlagern. Je nachdem, ob man hier eher die Figur Vergil oder eher den Erzähler des Reinfried sprechen hören will, eröffnen sich unterschiedliche Perspektiven auf das Erzählte. Geht man davon aus, dass Vergil der Autor des an der Wand neben Savilons Grab angeketteten Buchs ist, dann kann man fragen, inwiefern er sich mittels dieses Buchs in die Geschichte (nicht notwendigerweise die christliche Heilsgeschichte, von der er ja noch nichts wissen kann) einschreibt. Zur Verfügung stehen dem Dichter des Reinfried für eine solche Selbstcharakterisierung der Figur mehrere unterschiedliche mittelalterliche Traditionen. Diese sprechen von Vergil beispielsweise als von einem Dichter und Philosophen, von einem ‚heidnischen‘ Verkünder Christi sowie von einem Kenner der Wissenschaften und Zauberer.³⁶ Bekannt war Vergil als Autor der Bucolica, der Georgica und der Aeneis sowie als philosophische und rhetorische Autorität.Weite Beachtung fand in der christlichen Rezeption die 4. Ekloge, die oft als Ankündigung der Geburt Christi ausgelegt wurde.³⁷ Zwar unterschied „die theologische Tradition […] regelmäßig zwischen den Eklogenversen, die, Rede der cumäischen Sibylle, als inspiriert gelten durften, und dem heidnischen Dichter, dem der prophetische Gehalt seiner Verse gar nicht bewußt gewesen sei“.³⁸ Abseits theologischer Diskurse wurde aber auch der römische Autor selbst als Prophet Christi angesehen. Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nahm die Figur Vergils außerdem mehr und mehr die Züge eines mit geheimem Wissen ausgestatteten Zauberers an.³⁹ In dieser Gestalt wurde er für gewöhnlich nicht als Dichter angesehen.⁴⁰

 Vgl. Sonja Glauch: Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte, in: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer. Berlin, New York 2010, S. 149 – 185, hier S. 163.  Zur Figur Vergils im Mittelalter vgl. Otto Neudeck: Vergil in deutschsprachiger Literatur um 1300: Ein Zauberer und Magier in heilsgeschichtlicher Funktion, in: Germanica Wratislaviensia 85 (1989), S. 41– 49; Domenico Comparetti: Virgil im Mittelalter. Aus dem Italienischen übersetzt von Hans Dütschke. Leipzig 1875; John W. Spargo: Virgil the Necromancer. Studies in Virgilian Legends. Cambridge, Mass. 1934; Franz Josef Worstbrock: Art. ,Vergil (P. Vergilius Maro)‘, in: VL Bd. 10, Sp. 247– 284.  Vgl. Publius Vergilius Maro: Bucolica et Georgica. Hg. von Silvia Ottaviano und Gian Biagio Conte. Berlin, Boston 2013, Ecloga IV 7– 10. Die erste eschatologische Deutung stammt von Laktanz. Vgl. Worstbrock, Vergil, Sp. 254.  Worstbrock, Vergil, Sp. 259 – 260.  Vgl. Worstbrock, Vergil, Sp. 274.

4.2 Selbstbeschreibungen

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Wie geht nun der Autor des Reinfried mit diesen Traditionen um und auf welche Weise unterscheidet er sich hierin von anderen Bearbeitern des Stoffs von Savilon, seinem magischen Buch und Vergils Fahrt zum Magnetberg? Zum Vergleich bieten sich zwei andere deutsche Texte an, denen dieser Stoff zugrunde liegt: der Teil des Wartburgkriegs, der als Zabulons Buch bezeichnet und auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert wird, sowie ein anonymes Meisterlied aus dem 15. Jahrhundert.⁴¹ In Zabulons Buch fährt Vergil (hier: Filius) nicht aus eigenem Antrieb zum Magnetberg, sondern wird als Berater von einer verarmten römischen Familie angeheuert.⁴² Deren Angehörige begehren nicht etwa Savilons Wissen, sondern die Reichtümer, die sie auf den zerschellten Schiffen rund um die gefährliche Insel herum zu erlangen erhoffen.Vergil verspricht den fünfhundert Männern, die zum Magnetberg segeln, sie vor widrigen Winden und dem Gesang der Sirenen zu beschützen, kann jedoch nicht verhindern, dass nach und nach alle von ihnen ums Leben kommen. Er selbst eignet sich in großer Not mithilfe eines gefangenen Geistes Zabulons Buch an, das dieser geschrieben hatte, um den Juden ein Mittel an die Hand zu geben, mit dem sie zu gegebener Zeit die Menschwerdung Christi abwenden können.⁴³ Vergil lässt sich, eingenäht in eine Tierhaut, von Greifen zu einer anderen Insel tragen, auf der er den heiligen Brandan trifft. Gemeinsam mit ihm studiert er Zabulons Buch und macht

 „Wo immer in der Sangspruchdichtung und in der Epik des 13. bis 15. Jh.s der Name [Vergils, A.L.] fällt, ist mit nur wenigen Ausnahmen […] der V[ergil]/Filius der V[ergil]-Sage gemeint. […] Fälle von ‚Dichterstilisierung‘ (Neudeck, 1989) liegen somit gerade nicht vor.“ Worstbrock, Vergil, Sp. 276. Worstbrock wendet sich damit gegen Otto Neudeck, der selbst in einem späteren Aufsatz betont, dass Vergil in Zabulons Buch, im Reinfried von Braunschweig und in einem anonymen Meisterlied nicht als Dichter, sondern als sagenhafte Zaubererfigur auftritt. Vgl. Otto Neudeck: Möglichkeiten der DichterStilisierung in mittelhochdeutscher Literatur: Neidhart, Wolfram, Vergil, in: Euphorion 88 (1994), S. 339 – 355, hier S. 352.  Vgl. Worstbrock, Vergil, Sp. 277.  Vgl. Jan Hallmann: Studien zum mittelhochdeutschen ‚Wartburgkrieg‘. Literaturgeschichtliche Stellung – Überlieferung – Rezeptionsgeschichte. Mit einer Edition der ‚Wartburgkrieg‘-Texte. Berlin, Boston 2015, S. 554– 584. Zu Zabulons Buch, zur Magnetbergepisode des Reinfried von Braunschweig und zu dem Meisterlied im Langen Ton Heinrichs von Mügeln, das von Vergils Fahrt zum Magnetberg erzählt, vgl. Johannes Siebert: Virgils Fahrt zum Agetstein, in: PBB 74 (1952), S. 193 – 255. Ungeklärt bleibt, ob der Autor des Reinfried von Braunschweig auf Zabulons Buch als Quelle zurückgegriffen hat oder ob beide Texte „unabhängig voneinander auf gemeinsamen oder verwandten Quellen basieren“. Hallmann, Wartburgkrieg, S. 250 (FN 69). Deutlich positiver konnotiert ist die Figur Savilons oder Zabulons in den drei Handschriften der Erweiterten Christherre-Chronik und fünf Handschriften der Weltchronik Heinrichs von München. Er erscheint im Rahmen der Troja-Erzählung als Prophet Christi, nicht als Widersacher, und nimmt damit eine Rolle ein, die in anderen mittelalterlichen Texten von Vergil ausgefüllt wird. Dieser tritt in den genannten Texten nicht auf. Vgl. Sonja Kerth und Elisabeth Lienert: Die Sabilon-Erzählung der ‚Erweiterten Christherre-Chronik‘ und der ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München, in: Studien zur ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München. Bd. 1. Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte. Hg. von Horst Brunner. Wiesbaden 1998, S. 421– 475.  Dass mit dem Lösen des Zaubers und der Aneignung des Buchs „auch Christus geboren werden kann, wird nicht eigens festgestellt“. Burghart Wachinger: Art. ‚Der Wartburgkrieg‘, in: VL Bd. 10, Sp. 740 – 766, hier Sp. 755.

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4 Die ganze Welt kontrollieren: Reinfried von Braunschweig

sich auf den Heimweg nach Italien.⁴⁴ An der ihm zu Beginn zugewiesenen Aufgabe scheitert Vergil somit komplett. Die fünfhundert Männer, mit denen er zum Magnetberg fährt, kommen nicht zu Reichtum, sondern sterben samt und sonders. Auch sich selbst und das zufällig auf dem Magnetberg erworbene Buch kann Vergil nur knapp retten. Auch in dem im 15. Jahrhundert und damit nach dem Wartburgkrieg und dem Reinfried von Braunschweig verfassten anonymen Meisterlied im Langen Ton Heinrichs von Mügeln folgt Vergil der Aufforderung anderer Herren zu einer Fahrt zum Magnetberg und kommt zusammen mit ihnen aufgrund der örtlichen Gegebenheiten in Schwierigkeiten.⁴⁵ In diesem kurzen Text löst er jedoch die auftretenden Probleme, unterstützt durch einen eingesperrten Teufel, nicht nur für sich, sondern auch für seine Herren. Er besiegt ein um sich schlagendes Standbild, nimmt das von dieser Figur bewachte Buch an sich, beschwört die darin gefangenen Dämonen und sorgt für eine sichere Heimreise. Niemand stirbt in diesem Lied und alle werden reich. Sowohl in Zabulons Buch als auch in dem jüngeren Meisterlied handelt Vergil als Gefolgsmann anderer Herren. In beiden Fällen hat die Schiffsbesatzung ihre liebe Not mit der magnetischen Insel, die sie, einmal an ihrem Ufer angekommen, nicht mehr fortsegeln lassen will. In keinem der beiden Texte tritt Vergil als Autor auf und beide Texte erzählen nicht ausdrücklich davon, dass Vergil durch seine Intervention auf dem Magnetberg die Geburt Christi ermöglicht oder sogar verursacht.⁴⁶ Vergil erscheint als Zauberer, aber weder als Prophet Christi noch als Dichter. Im Reinfried von Braunschweig hingegen werden all diese literarischen Traditionen aufgegriffen und miteinander verschmolzen. Dabei macht Vergil eine vergleichsweise gute Figur: Er ist nicht nur ein ausnehmend tugendhafter Mann, sondern auch sein eigener Herr, als er aus Mantua zum Magnetberg aufbricht. Probleme ergeben sich weder bei der Landung noch später, keiner der Männer wird bedroht oder gar getötet, und die einzige Schwierigkeit besteht darin, in den Berg einzudringen, was mithilfe des Teufels im Glas aber mühelos gelingt. Vergil eignet sich das begehrte Wissen an, ohne einen einzigen Todesfall zu verursachen oder zuzulassen – vom endgültigen Ableben Savilons einmal abgesehen. In seiner Vortrefflichkeit wird Vergil ausgerechnet mit Savilon parallelisiert.Von diesem heißt es zu Beginn der Geschichte:

 Dass es sich um dasselbe Buch handelt, denkt auch Burghart Wachinger. Vgl. Wachinger, Wartburgkrieg, Sp. 755. Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit: „Der im betreffenden Abschnitt deutlich entstellte Text lässt alternativ auch die Lesart zu, dass Vergil und Brandan auf dem Felsen ein zweites Wissensbuch finden.“ Hallmann, Wartburgkrieg, S. 250 (FN 68).  Der Text findet sich bei Siebert, Virgils Fahrt, S. 212– 215; vgl. auch Frieder Schanze: Art. ,Virgils Fahrt zum Magnetberg‘, in: VL Bd. 10, Sp. 377– 379.  Vgl. Siebert zum Meisterlied: „[V]on der ursrünglichen Bestimmung von Zabulons Buch, Christi Geburt zu vereiteln, ist nicht mehr die Rede; dessen Name wird im Liede gar nicht genannt, nur einmal wird er kurz als toter Mann erwähnt.“ Siebert, Virgils Fahrt, S. 223.

4.2 Selbstbeschreibungen

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in Kriechen was von hôher art / ze Athênîs geborn / ein fürste edel ûz erkorn, / rîch geltes unde guotes, / frî lîbes unde muotes / für alle die dâ lebten. […] / über allez Kriechen lant / lebt niht ein jungelinc sô schôn. / er was geheizen Savilôn, / frî von geburtlîcher art (R 21314– 21327). In Athen in Griechenland war aus guter Familie ein edler, vornehmer Fürst geboren worden. Er war reich an Geld und Gut, frei an Körper und Geist, mehr als alle anderen, die dort lebten. […] Nirgendwo sonst in Griechenland lebte ein so schöner Jüngling. Er wurde Savilon genannt und war frei geboren.

Über Vergil wiederum sagt der Erzähler in anderen Worten etwas recht Ähnliches: nu lepte in den zîten dô / ein helt ze Lamparten / dem al diu welte zarten / muose umb sîn reine tugent. / an guot an gelt an lîb an jugent / lebte niender sîn genôz. / von gebürte was er grôz / an arteclîcher schouwe. / er was ze Mantouwe / gewaltic und ein herre (R 21548 – 21557). Nun lebte damals in der Lombardei ein Held, dem gegenüber alle Welt freundlich sein musste aufgrund seiner vollkommenen Tugend. Niemand kam ihm gleich an Gut und Geld, was seinen Körper und was seine Jugend anging. Von Geburt an war er groß und von edlem Aussehen. Er herrschte als mächtiger Herr in Mantua.

Sowohl Savilon als auch Vergil werden als edel, wohlhabend, mächtig und körperlich wie auch intellektuell begabt geschildert – und zwar, wenn man annimmt, dass der Verfasser der Geschichte in dem angeketteten Buch Vergil ist, von ebendiesem. Das heißt: Vergil stilisiert sich in seinem Bericht als Savilon ähnlich und ebenbürtig. Indem er beschreibt, wie er Savilon aufsucht und ihn dabei endgültig ins Jenseits befördert, rückt er seine Beziehung zu ihm in ein besonderes Licht: Es handelt sich nicht um eine Beziehung zwischen Kollegen oder Rivalen, sondern um eine Beziehung zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, wobei der Schüler den Lehrer im Moment ihrer ersten und einzigen Begegnung sofort ablöst und ersetzt. Vergil ist aus seiner eigenen Perspektive, wie er sie in seinem Buch offenlegt, der legitime Nachfolger Savilons. Gestützt wird diese Sichtweise von einer vielsagenden Uneindeutigkeit, die die Magnetbergepisode nicht auflöst: Handelt es sich bei dem angeketteten Buch sozusagen um ein ‚neues Buch‘, das erst auf dem Magnetberg produziert oder beschriftet wurde? Oder hat Vergil zur Niederschrift der vergangenen Ereignisse ein Buch benutzt, das er auf der Insel vorgefunden hat und das folglich von Savilon dort zurückgelassen wurde und nun von Vergil weiterverwendet wird? Die zweite Lesart ist möglich, weil man zwar weiß, dass es in der Höhle einmal vier nekromantische Bücher gegeben hat,⁴⁷ allerdings bis zum Schluss nicht geklärt wird, was genau aus einem dieser Bücher geworden ist, aus dem Buch nämlich, das unter Savilons Füßen gelegen hatte. Zunächst würde man vermutlich annehmen, dass Vergil es zusammen mit den

 In R 21464– 21477 liest Reinfried, dass Savilon drei nekromantische Bücher in einer Wand der Höhle im Magnetberg verborgen hat und dass das vierte dazu bestimmt war, seinen Geist an seinen Körper zu binden.

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drei anderen mit nach Hause genommen hat. Allerdings stellt der Erzähler schon im Zusammenhang mit Reinfrieds Ankunft auf dem Magnetberg fest, dass Vergil und seine Leute nur drei Bücher auf ihrer Heimfahrt dabei hatten.⁴⁸ Ist es denkbar, dass Vergil Savilons viertes nekromantisches Buch nach der Lektüre und der Aneignung des zauberkräftigen Inhalts dazu benutzt hat, seine eigene Geschichte aufzuschreiben? In dem Buch wären dann zwei Schriften von zwei Autoren (Savilon und Vergil) enthalten, entweder nacheinander oder auch, ein wirkliches Palimpsest bildend, übereinander. Aus der Perspektive des Erzählers, der um die christliche Heilsgeschichte weiß, ist Vergil Savilons Widersacher, der den Plan des jüdisch-‚heidnischen‘ Magiers zunichtemacht und daher den Beifall nachfolgender Generationen von Christen verdient hat. Vergil selbst hingegen beschreibt sich in seinem Buch als Nachfolger Savilons, der sich dessen Wissen zu eigen macht und es hinaus in die Welt jenseits des Magnetbergs trägt. Die Ermöglichung der Geburt Christi ist dabei für Vergil lediglich ein Nebeneffekt, für den er sich nicht interessieren muss und kann, da er vom christlichen Gott nichts weiß. Vergils Bericht über Savilons Plan und seine eigene Rolle bei der Verhinderung dieses Plans stellt somit sowohl einen Nachruf auf den berühmten Verstorbenen dar als auch eine Selbstbeschreibung als würdiger Nachfolger des Toten. Das verlängerte Epitaph dient dem Zweck der Memoria, zusätzlich aber auch der Ich-Konstitution des Autors. Auf diese Weise reicht die schriftlich fixierte Erinnerung an die Vergangenheit in die Gegenwart des Schreibenden wie auch in die Zukunft hinein, in der die Schrift rezipiert wird. Allerdings behauptet der Erzähler nicht,Vergils Worte wörtlich wiederzugeben. Er paraphrasiert sie und fügt damit dem Palimpsest eine weitere Schicht hinzu. Die Erzählung in der Erzählung ist folgerichtig keine Ich-Erzählung, sondern eine mit einem auktorialen Sprecher. Dass dieser Sprecher Vergils Worte gleichsam überschreibt, wird vor allem an den Stellen deutlich, an denen der Sprecher der Binnenerzählung Informationen weitergibt, die Vergil gar nicht besitzen kann. Von Savilons Sternenlektüre und den Folgen mag der Mantuaner noch vom Hörensagen wissen. Davon aber, dass Christus in dem Moment zur Welt kommt, in dem der Zettel aus Savilons Ohr entfernt wird, kann ihm zu der Zeit, als er das Buch an der Höhlenwand im Magnetberg befestigt, nichts bekannt sein.⁴⁹ Aus ähnlichen Gründen stammt die Wertung Savilons als künste rîche[r] tôre (R 21512), der trotz aller Weisheit die wichtigsten Wahrheiten leugnet, wohl vom Erzähler und nicht von Vergil.⁵⁰ Erst diese Akzentu-

 sî funden unde nâmen / hie mit hôhem muote schôn / diu driu buoch diu her Savilôn / von nigramancîe schreip (R 21026 – 21029: sie fanden und nahmen wohlgemut mit sich die drei Bücher, die Herr Savilon über die Nekromantie geschrieben hatte).  Zumindest wird nichts darüber gesagt, dass Vergil zu diesem Wissen über das Geschehen an weit entfernten Orten aufgrund seiner neu erworbenen Zauberkräfte gelangt ist.  Damit liegt auch hier – ähnlich wie im französischen Grégoire, wo der Text auf der Tafel Informationen enthält, die die Mutter dort gar nicht niedergeschrieben haben kann – ein Fall von ‚epischem Erzählen‘ vor, in dem nicht präzise zwischen der Perspektive einer Figur und der Perspektive des Erzählers unterschieden wird. Vgl. Müller, ‚Episches‘ Erzählen, S. 225 – 228.

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ierungen machen aus Vergil mehr als einen Propheten Christi, als der er etwa in der Christherre-Chronik gezeichnet wird. Im Reinfried wird er gar zum „unmittelbar handelnde[n] Werkzeug Gottes in der Heilsgeschichte“.⁵¹ Der Erzähler hebt in diesem Roman Vergils Beteiligung am Heilsgeschehen viel stärker hervor, als es in den beiden anderen deutschen Texten geschieht, in denen von Vergils Fahrt zum Magnetberg erzählt wird. Zusätzlich erscheint der Römer als Zauberer und nicht zuletzt auch als Autor, nur eben nicht als Autor der Aeneis, sondern als Verfasser seiner eigenen Geschichte.⁵² Führt man den Gedanken weiter, dass die mit eigentlicher Autorität sich äußernde Stimme in der Binnenerzählung über Savilons vergebliche Bemühungen nicht die der Figur Vergil, sondern die des Erzählers ist, dann lässt sich die Inschrift in Buchform auch als poetologisches Fundstück betrachten. Das Buch in der Höhle ähnelt dem Fenster, das Lunete in Hartmanns Iwein für den im Tordurchgang gefangenen Protagonisten öffnet: Reinfried findet es nicht deshalb, weil ein solcher Fund im Verlauf der Handlung wahrscheinlich ist – im Gegenteil. Er findet es, weil der Autor es so will. Welcher Effekt aber entsteht dadurch, dass die Binnenerzählung sowohl als Rede Vergils als auch als Rede des Erzählers verstanden werden kann? Schließlich flicht Letzterer an zahlreichen anderen Stellen der Romanhandlung Binnenerzählungen ein, ohne zu suggerieren, dass für deren Inhalt auch eine Figur verantwortlich sein könnte.⁵³ Erreicht wird durch die Mehrfachüberlagerung verschiedener Stimmen in einer Inschrift (der Stimme Vergils, der über Savilon und sich selbst spricht, und der Stimme des Erzählers, der als Dritter über beide spricht), dass der Erzähler sich mit dem Text, über den er herrscht, in die Tradition der mächtigen Zauberer einschreibt, die die Welt mithilfe geschriebener Worte verändern und beeinflussen. Damit erscheinen auch der Erzähler und mit ihm sein Autor als Schriftmagier und der höfische Roman nicht nur als Kompendium außergewöhnlichen Weltwissens, sondern als Produkt des Welten erschaffenden Potenzials des Autors selbst.

 Kerth/Lienert, Sabilon-Erzählung, S. 435.  Im Meisterlied hingegen tritt er als schreiber auf. Vgl. Siebert, Virgils Fahrt, S. 212 (Meisterlied im Langen Ton Heinrichs von Mügeln 5).  Vgl. z. B. die Erzählung über die Amazonen, über die Adamstöchter oder über Salomos Tempelbau. An anderer Stelle gehen jedoch ebenfalls Erzählerrede und Figurenrede ineinander über, beispielsweise im Bericht des Herrn von Ejulat direkt im Anschluss an die Magnetbergepisode und kurz vor Reinfrieds Sirenenabenteuer. Wenn Hercules Säulen aufstellt, als ich hân vernomen (R 21906), wer sagt dann an dieser Stelle ‚ich‘ – der Herr von Ejulat oder der Erzähler? Erst das Sirenenabenteuer des Gestrandeten ist eindeutig dieser Figur zuzuordnen, da es mit einer Inquit-Formel eingeleitet und in direkter wörtlicher Rede von dem Herrn von Ejulat erzählt wird (R 21990 – 22065).

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Pragmatische Liebe und Liebespassion Schreibend kann ein Autor, wie etwa Vergil auf dem Magnetberg, die eigene Vergangenheit modellieren. Dabei macht er zwangsläufig auch Aussagen über seine gegenwärtigen Standpunkte. Noch stärker auf den aktuellen Augenblick bezogen sind schriftlich festgehaltene Behauptungen, durch die die Person, die die Worte geschrieben hat oder sie zumindest als die ihren reklamiert, eine Ansicht oder Haltung kundtut und auf diese Weise sich selbst und die von ihr zu diesem Zeitpunkt gewünschte Position in der Gesellschaft oder in der Welt an sich beschreibt. Eine solche schriftliche Selbsteinordnung in ein bestimmtes, vom Autor oder der Autorin der Schrift akzeptiertes Regelsystem kann, wenn sie öffentlich erfolgt, die Form eines Bekenntnisses annehmen – sei es als Geständnis, als Maxime oder als Motto. Im Reinfried von Braunschweig wird nun nicht, wie im Gregorius, von einer schriftlichen Beichte erzählt, sondern von einer Devise, die ein ‚heidnischer‘ Ritter stolz zur Schau trägt – und von ihrer äußerst destruktiven ‚Rezeption‘ durch den Protagonisten, wenn man dessen Reaktion auf die Existenz der Schrift so nennen kann. Reinfried gewinnt letztlich das Heilige Land, das zurückzuerobern er von zu Hause ausgezogen ist, nicht in einer Reihe von offenen Feldschlachten, sondern im Zweikampf. Nachdem die ‚Heiden‘ ihre christlichen Gegner über längere Zeit in einer uneinnehmbaren Burg belagert haben, verliert der König von Persien, ein Angehöriger und Gefolgsmann des Baruc von Baldac, die Geduld und fordert den Anführer seiner Gegner zum entscheidenden Duell auf. Reinfried stimmt zu und die beiden Ritter treten, ausgestattet mit kostbarer Kleidung, guten Waffen und tüchtigen Pferden, gegeneinander an. Der König von Persien trägt dabei als besonders auffälliges Kennzeichen das Bild der Venus mit einer Fackel auf seinem Schild sowie auf seinem Helm eine Figur mit einem Schriftstück, dar an man geschriben vant / ‚amor vincit omnîâ,‘ / heidensch latîn, in tiutsch dâ nâ / was ez ûz gerihtet / und mit tiut geslihtet / ‚minne twinget alliu dinc‘ (R 17118 – 17123). darauf stand in heidnischem Latein geschrieben: ‚Amor vincit omnia‘. Darunter war es auf Deutsch ausgeführt und zur Erklärung übersetzt: ‚Die Liebe bezwingt alles.‘

Das lateinische Zitat stammt, leicht abgewandelt, ursprünglich aus Vergils zehnter Ekloge, wo es heißt: omnia uincit Amor: et nos cedamus Amori (Vergil, Ecloga X,69: Alles besiegt die Liebe, so wollen auch wir der Liebe nachgeben).⁵⁴ Die Helmzier wird im Reinfried vom Erzähler dahingehend ausgelegt, dass der Träger sich ganz der Liebe und dem Dienst an ihr verschrieben habe:

 Zu dem Vergil-Zitat im Reinfried vgl. Derk Ohlenroth: ‚Reinfried von Braunschweig‘. Vorüberlegungen zu einer Interpretation, in: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 67– 96, hier S. 79.

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hie bî wolt der jungelinc / die welte lâzen wizzen, / daz sîn lîp geflizzen / was mit allem sinne / ze dienst der reinen minne / und allen werden wîben (R 17124– 17129). Damit wollte der Jüngling die ganze Welt wissen lassen, dass er sich gänzlich dem Dienst an der vollkommenen Minne und allen edlen Frauen geweiht habe.

Nach Vergils Motto lebt er auch: Dem Erzähler zufolge lässt der junge König sich deshalb nicht davon abhalten, gegen Reinfried zu kämpfen, weil ihn die Liebe mit ihrer Kraft dazu zwingt (R 17038 – 17043). Der persische König vertritt somit das Ideal des Minnerittertums, ganz ähnlich wie sein Vorfahre Arofel, der in Wolframs Willehalm seinem christlichen Kontrahenten im Zweikampf unterlegen und daraufhin von ihm getötet worden war.⁵⁵ Reinfried hingegen trägt auf seinem Schild das Wappen Braunschweigs, dazu ein weißes Gewand mit rotem Kreuz (R 17180 – 17197). Seine Kleidung rückt ihn ikonographisch in die Nähe des Heiligen Georg⁵⁶ oder der Tempelritter⁵⁷ und kennzeichnet ihn somit im Gegensatz zu seinem Gegner nicht als Minneritter, sondern als Krieger Gottes.⁵⁸ Während sich der Perser der Liebesgöttin Venus unterordnet und weltlichen Minnedienst übt, unterstellt sich Reinfried dem christlichen Gott und widmet sich einem kriegerischen Gottesdienst.⁵⁹ Selbstverständlich ist das nicht – hatte er doch 13.000 Verse lang, im Verlauf seines Werbens

 Vgl.Wolfram von Eschenbach: Willehalm. 3., durchgesehene Auflage. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke. Berlin, New York 2003, V. 76,3 – 81,22. Ein weiterer intertextueller Verweis auf Wolframs Willehalm besteht darin, dass im Reinfried der Fürst Noupatris, der im Willehalm gegen Vivianz kämpft, den Gott Amor im Lanzenbanner führt (Willehalm 24,4– 7 und 25,14– 25).Vgl. Manfred Kern: Amors schneidende Lanze. Zur Bildallegorie in ‚Willehalm‘ 25,14 ff., ihrer Lesbarkeit und ihrer Rezeption im späthöfischen Roman, in: DVjs 73 (1999), S. 567– 591, hier S. 588 – 590. Zu den Willehalm-Verweisen im Reinfried vgl. Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ‚Reinfried von Braunschweig‘, ‚Wilhelm von Österreich‘, ‚Friedrich von Schwaben‘. Berlin, New York 1998, S. 81– 87. Zum Einsatz von intertextuellen Verweisen im Reinfried allgemein vgl. Wolfgang Harms: ‚Epigonisches‘ im ‚Reinfried von Braunschweig‘, in: ZfdA 94 (1965), S. 307– 316.  sînen schilt iesch er zehant: / der wart im in den rinc gesant. / der wart von im entecket / und harte gâhes enplecket. / der schilt der was tiuwer: / von zwein varwen niuwer / was er, rôt unde wîz; / […] / ein rôtez kriuz dâ für gie, / daz des schildes ort bevie (Georg 1669 – 1684: Sogleich verlangte er [Georg, A.L.] nach seinem Schild. Dieser wurde ihm in den Kreis gebracht. Der Schild wurde von Georg enthüllt und sehr behände präsentiert. Der Schild war kostbar. Genau zwei Farben zierten ihn: Rot und Weiß. […] Darauf befand sich ein rotes Kreuz, das sich über den gesamten Schild erstreckte). Der heilige Georg Reinbots von Durne. Nach sämtlichen Handschriften hg. von Carl von Kraus. Heidelberg 1907.  Vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 167.  „Das Kreuz aus Rubin bezeichnet Gottesminne, das Weiß der covertiure zeigt deren Reinheit an.“ Vögel, Naturkundliches, S. 135.  Anders argumentiert Mathias Herweg, der den Minnedienst als „verbindendes Lebensideal“ identifiziert. Mathias Herweg: Zwischen Handlungspragmatik, Gegenwartserfahrung und literarischer Tradition. Bilder der ‚nahen Heidenwelt‘ im späten deutschen Versroman, in: ‚kunst‘ und ‚saelde‘. Festschrift für Trude Ehlert. Hg. von Katharina Boll und Katrin Wenig. Würzburg 2011, S. 87– 113, hier S. 92.

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um Yrkane und ihrer Rettung vor bösen Verleumdungen, genau das getan, dessen sich der persische Herrscher mit seiner Helminschrift rühmt. Bei der Beteuerung seiner Liebe zu Yrkane hatte Reinfried sogar Venus als Königin bezeichnet und sie gepriesen (R 3578 – 3589).⁶⁰ In der Zweikampfepisode aber reagiert Reinfried auf die Behauptung des Persers, dass die Liebe alles bezwinge, mit einer gewalttätigen Geste. Als der persische König seine Götter anruft, zerstört Reinfried die Inschrift auf dem Helm des Gegners (17508 – 17509). Dann schlägt er dem Betäubten den Schild mit dem Venusbild aus der Hand (R 17518 – 17521). Damit erringt Reinfried den Sieg und kann – im Gegenzug für das Leben des Gegners – von den ‚Heiden‘ verlangen, das Heilige Land den Christen zu überlassen. Die Zweikampfepisode mit dem Bekenntnis zur höfischen Liebe durch Zurschaustellung von Minne-Schrift und Minne-Bild sowie die anschließende Zerstörung beider durch den zuvor selbst höfisch liebenden Protagonisten signalisiert, dass sich dessen Haltung in diesem Bereich geändert hat. Hatte er früher noch alles dafür getan, damit seine eigene Liebe ans Ziel gelangt, so wird ihm nun vom Erzähler als Unziemlichkeit angekreidet, dass er die Liebe vergisst: ein unfuoge im beschach / daz er der minn niht schônte / diu im wîlent lônte / an der wol getânen / minnenclîch Yrkânen. / Des hât er hie vergezzen. […] wart diu minne ie milte / gên im mit rehter meine, / des genôz hie kleine / daz bilde daz der Persân truoc / an dem schilte, / wan er sluoc / dar ûf grimmeclîche (R 17444– 17461). Ein Frevel unterlief ihm, da er die Minne nicht schonte, die ihm einst von der schönen, liebreichen Yrkane zuteilwurde. Das hatte er hier vergessen. […] War ihm die Minne je mit guten Absichten wohlgesonnen, dann hatte das Bild, das der Perser auf dem Schild trug, hier wenig davon, denn er schlug grimmig darauf ein.

Reinfried will sich nach Annahme der Herausforderung in der Öffentlichkeit in dienest unser frouwen, / gotes und der kristenheit sehen lassen (R 17176 – 17177), wobei mit ‚unserer Frau‘ in diesem Zusammenhang wohl eher die Gottesmutter als Yrkane gemeint ist. Auch wenn sein Schlachtruf ‚got Sahsen und Yrkâne‘ (R 17523) lautet, so wird doch die Letztgenannte ab dem Zweikampf ganze 5000 Verse lang kein einziges Mal mehr erwähnt.⁶¹ Die Frau, um derentwillen sich der Held so lange geplagt hat, sowie die Liebe zu ihr spielen nach seinem entscheidenden Sieg im Heiligen Land vorerst keine Rolle mehr. Die Fähigkeit, das lodernde Feuer der Venus ungefährlich zu machen, liegt Manfred Kern zufolge in der Werteskala Reinfrieds begründet: „Reinfried ruft nicht ‚Venus!‘ oder so wie Amfortas ‚Amor!‘, sondern klugerweise – und die Reihenfolge ist bezeichnend – ‚got, Sahsen und Yrkâne!‘ (17523): zuerst Gott, dann Land und erst an dritter Stelle die Minne in Gestalt der christlichen Ehefrau. So wird

 Es ist auch möglich, dass Reinfried hier Yrkane als Venus bezeichnet. Yrkane wiederum beruft sich in R 9228 und 9254 billigend auf Venus als Verkörperung der Liebe.  Yrkanes Name wird erst in der Sirenenepisode wieder genannt, in der sie mit der Sirene verglichen wird (R 22540).

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das Weltbild des Heiden sichtbar zurechtgerückt.“⁶² Indem Reinfried den selbsternannten Repräsentanten der höfischen Liebe bezwingt, wendet er sich – zumindest zeitweise – von dem hier in Form einer schriftlichen Behauptung und ihrer Bebilderung vertretenen Liebesideal ab. An die damit frei gewordene Stelle, die zuvor die Minne eingenommen hat, tritt zum einen die Freundschaft, genauer gesagt: die Männerfreundschaft zwischen Reinfried und dem König von Persien.⁶³ Nachdem Reinfried den Perser besiegt hat, verzichtet er darauf, ihn zu töten, so wie Willehalm Arofel getötet hatte. Zwar verlangt er zunächst, dass der persische König sich taufen lässt. Der Unterlegene allerdings bittet darum, ihm dies zu erlassen, und argumentiert, dass es niemandem zur Ehre gereiche, einen anderen durch Zwang zu bekehren. Man betrüge sich letztlich nur selbst; der Bekehrte vermittle zwar nach außen den Anschein, überzeugt zu sein, sei aber in Wahrheit mit dem Herzen nicht dabei (R 17838 – 17870). Reinfried stimmt nach kurzem Überlegen zu (R 17876 – 17891). Er rät dem anderen zwar, sich zum Christentum zu bekehren, überlässt die Entscheidung aber ihm.⁶⁴ Dadurch gewinnt er einen treuen Gefolgsmann, der ihm im Folgenden stets mit Rat und Tat zur Seite steht und sich, als Reinfried später vor Sehnsucht nach der Sirene fast vergeht, auch nicht davor scheut, ihn mit harschen, mahnenden Worten an seine Pflichten als Liebender und Ehemann zu erinnern. Im Gegenzug unterstützt Reinfried den persischen Herrscher, indem er seine Gefolgsleute, die Zwerge, gegen die Riesen verteidigt und schließlich einen dauerhaften Frieden zwischen den beiden Völkern erwirkt. Die Beziehung zwischen den beiden Männern ist mehrfach kodiert: Aus Gegnern werden Männer, die zueinander in einem Lehensverhältnis stehen, gleichzeitig aber auch Reisegefährten und sogar Freunde, die wiederum verwandtschaftliche, nämlich bruoderlîche triuwe verbindet (R 17630 und 17809). Was Reinfried fern von Braunschweig im östlichen Teil der Welt entdeckt, sind aber nicht nur Freundschaft und Bruderschaft im Geiste.⁶⁵ Er reist auch, gemeinsam mit dem neu gewonnenen Freund, einer für ihn neuen Art von Liebeserfahrung entgegen – und dies ausgerechnet, nachdem er die Devise des persischen Herrschers, dass die Liebe alles bezwinge, so überaus destruktiv erwidert hat. Walter Haug deutet die Zerstörung des Venusbildes und der Helminschrift so, dass Reinfried von nun an „in einen Bereich ein[trete], in dem das, was bisher für die Liebe galt, ihre Idealität,

 Kern, Amors schneidende Lanze, S. 588.  Vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 164.  Zu Reinfrieds großzügigem und rational begründetem Vorgehen vgl. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 168; Herweg, Handlungspragmatik, S. 92– 93.  Mit dem namenlos bleibenden Ritter, gegen den Reinfried im ersten Teil des Romans zum Zweikampf angetreten war, um Yrkanes Ruf zu retten, freundet sich Reinfried nicht an. In diesem Fall muss der Unterlegene das Land verlassen und verschwindet damit auch aus der Geschichte. Ein Bündnisschluss unter (nahezu) gleichwertigen Männern findet damit erst im zweiten Teil statt, fern von Reinfrieds Zuhause.

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ihre Unbedingtheit, ihre Unüberwindlichkeit in Frage gestellt wird“.⁶⁶ Als Beispiele für eine sozusagen ‚orientalische Erotik‘, mit der Reinfried stattdessen konfrontiert werde, nennt Haug die „verirrten Liebesphantasie[n]“, die zur Erzeugung der Wundervölker geführt hätten, sowie „die Amazonen mit ihrem unnatürlichen Verhältnis zum anderen Geschlecht“.⁶⁷ Haug bezieht sich damit auf den Erzählerexkurs, in dem davon berichtet wird, dass Frauen auf die Erzeugung ihrer Kinder entscheidenden Einfluss nehmen, während die Kindsväter an diesen Vorgängen nur passiv und machtlos beteiligt sind.⁶⁸ Allerdings geht es eben in beiden Fällen nicht in erster Linie, wie Walter Haug suggeriert, um Erotik oder gar um Liebesbeziehungen gleich welcher Art, sondern um Reproduktion. Mit einer besonders wirksamen Liebesverlockung kommt Reinfried nur an einer einzigen Station seiner Reise in Berührung, nämlich bei seiner Begegnung mit der Sirene.⁶⁹ Man kann nun deren Anziehungskraft mit Walter Haug als „tödliche Dämonie“ bezeichnen oder als „dämonisch-perverse Erotik“ des „Abgründigen […], für das der Orient steht“.⁷⁰ Schließlich beteiligt sich ja der Roman tatsächlich an einem orientalistischen Diskurs, indem er die Existenz einer Macht, die alle Männer, die in ihren Bannkreis geraten, unwiderstehlich und mit für gewöhnlich tödlichen Folgen an sich zieht, von Braunschweig und Dänemark wegverlagert und in einer fernen östlichen Weltgegend platziert. Auch Walter Haug spricht aber in diesem Zusammenhang von einer „dämonische[n] Rückseite der Liebe, die man im ersten Teil vermißt“,⁷¹ und somit von verwandten Phänomenen. Vielleicht nun ist diese ‚Rückseite‘ nichts Dämonisches, das im Gegensatz zur „hohen Idealität der Liebe“ steht,⁷² sondern nur eine andere Spielart der Liebe – oder sogar die reinste Form der Hohen Minne. Das, was der Protagonist zusammen mit Yrkane zu Hause zurückgelassen hat,

 Walter Haug: Von ‚aventiure‘ und ‚minne‘ zu Intrige und Treue: Die Subjektivierung des hochhöfischen Aventürenromans im ‚Reinfried von Braunschweig‘, in: Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Hg. von Paola Schulze-Belli und Michael Dallapiazza. Göppingen 1990, S. 7– 22, hier S. 18.  Haug, Aventiure, S. 18.  Als mögliche Ursachen für die Erzeugung von Monstren werden vom Erzähler Kräuterexperimente wissbegieriger Frauen, Einflüsse von Sternenkonstellationen und bestimmte Gedanken von Frauen während des Geschlechtsverkehrs genannt (R 19698 – 19919). Von den Amazonen wiederum wird erzählt, dass sie ohne Männer leben und nur zu bestimmten Zeiten mit Männern ihrer Wahl schlafen, um Kinder zu empfangen (R 19566 – 19610).  Der Erzähler deutet zwar im Zusammenhang mit der Reise zum Kaukasusgebirge an, dass Reinfried es mit ehelicher Treue nicht ganz so genau nimmt, wenn es um ‚heidnische‘ Frauen geht: von heidenischen frouwen / wart in kurzewîl gemaht / mangen tac und mange naht / mit minnenclîcher girde (R 18208 – 18211: Heidnische Damen vertrieben ihnen die Zeit während vieler Tage und Nächte mit Liebeslust). Emotional scheinen diese Vergnügungen Reinfried aber nicht anzugreifen.  Haug, Aventiure, S. 19.  Haug, Aventiure, S. 19. Der Verleumder, der im ersten Teil Yrkane erst an sich binden und dann, als er erfolglos bleibt, ihren Ruf zerstören will, hat nichts ‚Dämonisches‘ an sich. Es handelt sich bei ihm schlicht um einen fehlgeleiteten Liebenden, dessen Liebe schlimme Folgen für ihn und für die Geliebte hat.  Haug, Aventiure, S. 19.

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ist eine in der Institution der Ehe domestizierte Liebe, die Gesetz und Anstand Genüge tut und deren Qualität und Haltbarkeit davon abhängt, dass bestimmte Regeln befolgt werden.⁷³ Wie schon die Anbahnung der Ehe steht auch diese selbst im Zeichen von Selbstbeherrschung, vernunftgeleitetem Gefühl und guter Planung.⁷⁴ Reinfried hat von Anfang an vollendet höfisch geliebt, dabei aber stets alle Fäden in der Hand behalten. Als er die Inschrift Amor vincit omnia zerstört, zeigt er damit nicht nur seine Hingabe an den christlichen Glauben und an die christliche Politik im Heiligen Land, sondern auch, dass er der Liebe nicht zugesteht, alles und damit auch ihn zu besiegen. Aus dieser Perspektive ist seine ausgedehnte Reise in Gesellschaft des Königs von Persien keine Irrfahrt, sondern eine Bildungsreise: Den Rückweg tritt Reinfried genau an dem Punkt an, an dem er bei seiner Begegnung mit der Sirene erfährt, dass auch er von der Liebe bezwungen werden kann. Die Sirene ist die vollendete Minnedame des Hohen Minnesangs, die den liebenden Mann betört, ihm aber keine Erwiderung und Erfüllung seiner Liebe gewährt, sondern im Extremfall seinen Ruin herbeiführt. Dass Reinfried die Begegnung mit der Sirene überlebt und sich auf den Rückweg zu Yrkane, seinem inzwischen geborenen Sohn und seinem Herrschaftsbereich macht, ist zum einen der Männerfreundschaft mit dem Perser geschuldet, der ihn an seine Verpflichtungen erinnert, zum anderen aber auch seiner Vernunft und planenden Voraussicht, die ihn auch jenseits des Magnetbergs nicht verlassen haben. Fern von zu Hause lernt Reinfried eine alles überwindende, passionierte Begierde kennen, kann aber dennoch zurückkehren in den Hafen einer ordentlich geregelten und offiziell anerkannten Liebesbeziehung, die keine Selbstaufgabe fordert, sondern geeigneten Nachwuchs zum Erhalt von Gottesfurcht und Vaterland hervorbringt. Im zweiten Teil des Romans wird dem Publikum – ganz ähnlich wie dem Protagonisten – vorgeführt, wie ein alles bezwingendes Begehren aussehen kann, ohne dass man diesem zwangsläufig verfallen muss. Reinfried verfährt mit dem Gesang der Sirene wie ein Dichter mit der von ihm verehrten Minnedame und wie ein Zuhörer oder eine Leserin mit einem Gedicht: Indem er seinen Gefolgsleuten die Ohren verstopfen und sich selbst am Mast festbinden lässt, macht er selbst die Begehrte für sich unerreichbar. Er konsumiert ihre Reize nur, um danach in sein alltägliches, in geordneten Bahnen verlaufendes Leben zurückzukehren – ebenso wie das Publikum, das mit ihm fiebert, leidet und hofft, sich aber jederzeit vom Text abwenden kann, wenn es ihm zu viel wird. Ganz reibungslos verläuft Reinfrieds Abwendung von der passionierten, überwältigenden Minne allerdings nicht. Deutlich wird das daran, wie er seine endgültige Rückkehr nach Braunschweig wieder und wieder verzögert und aufschiebt. Und mag es auch nicht in der Absicht des Autors gelegen haben, dass der Roman endet, ohne dass auch die Geschichte bereits an ihr Ende gekommen ist – der Fragmentcharakter

 Vgl. beispielsweise den umfassenden Katalog von Verhaltensregeln, den der dänische König Fontanagris seiner Tochter Yrkane mit auf den Weg nach Braunschweig gibt (R 11618 – 11784).  Vgl. Haug, Aventiure, S. 19.

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des Textes suggeriert zumindest einem modernen Publikum, das nur diese eine Handschrift kennt, dass eine Rückkehr an den heimischen Herd, wenn man einmal von den verbotenen Früchten einer aufregenderen Liebeserfahrung gekostet hat, unter Umständen schwierig ist. Die Behauptung des Herrschers von Persien, dass die Liebe alles bezwinge, kann innerhalb der erzählten Welt in ihrer Materialität zwar ausgelöscht werden – inhaltlich jedoch wird sie im einzigen vollständig erhaltenen Exemplar des Reinfried von Braunschweig durchaus eingelöst.

Vorsorge für die Zukunft Wie Reinfried und Yrkane sich die eheliche Liebe vorstellen, auf die sie über 15.000 Verse lang hingearbeitet haben, wird an den Gegenständen sichtbar, die die beiden austauschen, als sie sich trennen müssen: zwei halbe Ringe und ein ganzer Ring sowie ein schriftliches Dokument. Mithilfe dieser Gegenstände werden in der erzählten Gegenwart Ansprüche formuliert, die in der Zukunft verwirklicht oder aufrechterhalten werden sollen. Die Grundlagen der Fürstenehe manifestieren sich in Artefakten, die dazu gemacht sind, die Zeit zu überdauern. Damit sagen die Objekte auch etwas über die Personen aus, die sie benutzen: Wenn Yrkane und Reinfried haltbare Symbole der Treue und der Fürsorge austauschen, dann versichern sie damit einander und vielleicht auch sich selbst, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in Zukunft treu und fürsorglich zu handeln. Anschließend an den Binnenepilog (oder -prolog) des Erzählers (R 12659 – 12918) wird berichtet, dass Reinfried und Yrkane zwar glücklich miteinander leben, jedoch darunter leiden, auch nach zehn Jahren noch keine Kinder zu haben. Die Liste von Vergleichen mit den biblischen kinderlosen Paaren Joachim und Anna, Elisabeth und Zacharias, Elkana und Hanna (R 13044 – 13101) bereitet auf das Register vor, in dem das Problem im Folgenden gelöst werden soll: Eines Nachts nämlich erscheint Reinfried im Halbschlaf gleich dreimal die Gottesmutter Maria, die ihm mitteilt, dass seine Bitte um einen Nachkommen erhört werde, wenn er über das Meer ins Heilige Land fahre und dort gegen die ‚Heiden‘ kämpfe. Nach kurzer Unschlüssigkeit darüber, ob er tatsächlich eine Vision gehabt hat, kommt Reinfried in Erinnerung an die Visionäre Ezechiel, Johannes und Paulus (R 13434– 13439) zu dem Schluss, dass er der Aufforderung Marias Folge leisten müsse. Zur selben Zeit hat Yrkane einen Alptraum von einem Falken, den sie aufgezogen hat und der von zwei großen Adlern angegriffen wird. Im Traum sieht sie nicht, dass der Falke entkommt, und wacht mit der Gewissheit auf, dass er getötet worden ist. Reinfried denkt, als er ihren Traum deutet, zwar nicht an Ute im Nibelungenlied, sondern an die biblischen Traumdeuter Josef und Daniel, kommt aber dennoch sogleich zu dem Ergebnis, dass mit dem Falken er gemeint sein müsse (R 13700 – 13703). Das unheilverkündende Ende von Yrkanes Traum allerdings wiegt für ihn weniger schwer als seine eigenen nächtlichen Erlebnisse, sodass er schon am nächsten Tag damit beginnt, seine Kreuzfahrt vorzubereiten.

4.2 Selbstbeschreibungen

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Sowohl Reinfried als auch Yrkane erhalten wichtige Informationen über ihre Zukunft vermittels ephemerer, vergänglicher Botschaften. Als Reaktion auf diese Botschaften beginnen die Protagonisten damit, untereinander haltbare Objekte auszutauschen. Darin materialisieren und perpetuieren sich die Ansprüche, die die beiden an ihre Ehe stellen und die über den Zeitraum der Trennung hinweg aufrechterhalten werden sollen. Eines dieser Objekte ist ein schrifttragendes Artefakt: Als Yrkane und Reinfried zum letzten Mal miteinander schlafen, zeugen sie tatsächlich einen Nachfolger und Erben (R 14840 – 14843).Yrkane vermutet sogleich, dass sie schwanger sein könnte, und beschließt, Reinfried auf der Stelle über ihre Vermutung zu unterrichten. Auf diese Weise will sie verhindern, dass er an seiner Vaterschaft und damit an der Legitimität des Kindes zweifelt, welches schließlich irgendwann seine Stelle als Landesherr einnehmen soll (R 14922– 14925).⁷⁵ Eingekleidet in einen weiteren Traumbericht über einen alten und einen jungen Löwen teilt Yrkane Reinfried mit, dass sie ein Kind erwarte, und bittet ihn darum, ein Dokument anfertigen zu lassen, das die Legitimität dieses Kindes bestätigt: sî sprach‚ fürste hêre, / sît du niht wilt belîben, / sô solt du heizen schrîben / die naht, den tac und dise stunt, / ob dir tuo kein bote kunt / mîne friuntlîche geburt, / daz diu zît geb antwurt / der fruht nâ ordenunge.‘ / des wolt diu süeze junge / umb keine sache nie enbern. / der fürste tet ez ungern, / doch muost ez sîn, wan ez beschach (R 14994– 15005). Sie sprach: ‚Edler Fürst, da du doch nicht hierbleiben wirst, sollst du die Nacht, den Tag und diesen Moment genau aufschreiben lassen, für den Fall, dass dir kein Bote davon berichtet, dass ich gut niedergekommen bin. Der Zeitpunkt soll bestätigen, dass das Kind legitim gezeugt wurde.‘ Darauf wollte die liebliche junge Frau auf keinen Fall verzichten. Der Fürst kam dem ungern nach. Da es aber sein musste, geschah es doch.

Yrkane zieht in Erwägung, dass ihr liebender Gatte daran zweifeln könnte, dass er der Vater des Kindes ist. Offenbar glaubt sie, sich gegen die Verdächtigungen ihres eigenen Ehemannes absichern zu müssen. Reinfried sträubt sich zwar und beteuert, dass er ganz bestimmt nicht an ihr zweifeln werde (R 15016 – 15019). Yrkane aber besteht darauf, die ordnungsgemäße Zeugung und damit auch die Legitimität des Kindes schriftlich zu bestätigen. Das schriftliche Dokument, das zu diesem Zweck angefertigt wird, stellt eine Material gewordene und somit dauerhafte Garantie dar. Es bekräftigt den Anspruch des Thronerben auf dynastische Legitimation ebenso wie Yrkanes Anspruch auf Anerkennung als Mutter dieses Thronerben. Gerichtet ist es weniger an die übrige Hofgesellschaft oder an Reinfrieds Gefolgsleute als vielmehr an Reinfried selbst – er wird sozusagen von seiner Frau dazu gezwungen, sich selbst eine Botschaft in die Zukunft schicken, um nicht zu einem späteren Zeitpunkt durch etwaige Zweifel das Bestehen seiner Familie und die Fortführung seiner eigenen Linie zu gefährden. Nach der Anfertigung des schriftlichen ‚Zeugungsbelegs‘ bricht Reinfried den Ring in zwei Hälften, den er von Yrkane auf dem Turnier in Dänemark erhalten hatte.

 Ähnliche Bedenken äußert Yrkane gegenüber Reinfried in R 15007– 15015.

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Schon zuvor hatte er vorgeschlagen, dass sowohl er als auch Yrkane jeweils eine Hälfte bei sich behalten sollten (R 14760 – 1473), und auch erklärt, wofür dieses Zeichen stehen solle: ‚ez sol sîn ein ingesigel / der triuwen sunder scheiden / iemer an uns beiden / âne jâmerlîche klage‘ (R 14774– 14777: ‚Dies soll uns beiden ein Zeichen der ungebrochenen und klaglosen Treue sein‘). Die beiden Hälften können, so Reinfried, nur in zwei möglichen Fällen wiedervereint werden: wenn Reinfried treu liebend zu Yrkane zurückkehrt – oder wenn er tot ist. Yrkane soll daher nur dann glauben, dass Reinfried tatsächlich nicht mehr lebt, wenn jemand als Nachweis Reinfrieds Hälfte des Rings vorzeigen kann. Andernfalls soll sie sich keine Sorgen machen und erst dann von seinem Tod ausgehen, wenn man ihr ‚mit des wortzeichens underscheit‘ (R 14816: ‚unterstützt durch dieses unverwechselbare Zeichen‘) davon berichtet. Der geteilte Ring symbolisiert sowohl die notwendige Trennung der Liebenden als auch ihre grundsätzliche Zusammengehörigkeit, die nur der Tod zerstören kann. Der Anspruch, der mit diesem Zeichen formuliert wird, ist der der unauflösbaren Einheit des konjugalen Paares im Zeichen unverbrüchlicher Treue – wobei das Zeichen zugleich offenbart, dass jede eheliche Beziehung eine Art Sollbruchstelle aufweist, die ihre Einheit gefährdet. Während Reinfried seiner Frau den Ring, den sie ihm zu Beginn ihrer Liebesbeziehung überreicht hatte, zur Hälfte zurückgibt und damit eine Symmetrie zwischen den Liebenden herstellt, von denen nun jeder einen gleich großen Teil eines gemeinsamen Ganzen besitzt, wiederholt Yrkane das von ihr zehn Jahre zuvor vollzogene Übereignen einer Liebesgabe noch einmal: Sie schenkt Reinfried einen weiteren Ring, den sie selbst von ihrer Mutter geerbt hat, damit der Gatte auf seiner Reise von den heilsamen Eigenschaften des Schmuckstücks profitieren kann. Bemerkenswert ist diese Gabe insofern, als der Ring Yrkanes Erzählung zufolge bislang meist von Frau zu Frau weitergegeben wurde: Der König von Schottland habe ihn seiner Tochter bei ihrer Verheiratung mit nach Norwegen gegeben. Von Norwegen sei der Ring zu Yrkanes Großmutter nach Irland, danach mit Yrkanes Mutter nach Dänemark und schließlich mit Yrkane selbst nach Braunschweig gelangt (R 15058 – 15109). Der Ring tritt in Yrkanes kurzer Binnenerzählung nicht nur konkret als medizinisch wirksamer Gegenstand hervor, der seine Trägerinnen und Träger vor extremen Temperaturen beschützen und ungewohnte Speisen verträglich machen kann. Er symbolisiert auch die Ausdehnung eines herrscherlichen Netzwerks von Bluts- und Heiratsverwandten über einen großen Teil von Nordeuropa und damit die politische Bedeutung, die Yrkanes und Reinfrieds Ehe über die unmittelbaren Bedürfnisse des Ehepaars hinaus besitzt. Genauso, wie der Ring von Frau zu Frau weitergegeben wird, werden die Frauen selbst von Mann zu Mann weitergegeben, um Bündnisse zwischen diesen männlichen Herrschern zu schließen oder zu stärken. Die Frauen sind selbst Gaben. Wenn sie sich die Freiheit nehmen, autonom zu handeln, dann besteht die einzig denkbare Form von

4.2 Selbstbeschreibungen

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agency darin, sich – wie Yrkane es mit der Übergabe ihres Rings an Reinfried tut – selbst zu verschenken, und zwar nicht zur Hälfte, sondern in Gänze.⁷⁶ Alle Objekte, die im Verlauf der Trennung gegeben und angenommen werden, sagen zusammen etwas über die Ehe Reinfrieds und Yrkanes aus: Sie beruht auf gegenseitiger Liebe und Treue, sie ist eingebunden in ein Geflecht überregional wirksamer politischer Interessen und sie soll früher oder später einen verbürgt legitimen Nachfolger hervorbringen. Die Gegenstände sind ebenso gegendert wie die Rollen von Ehemann und Ehefrau in der ehelichen Beziehung und wie die nächtlichen Erkenntnisse, die den beiden in Visionen bzw. Träumen übermittelt werden. Während Reinfried in seinen Marienvisionen eine Aufforderung zum Handeln erhält, wird Yrkane in ihren Träumen lediglich über das Handeln ihres Mannes informiert. Ihr selbst bleibt nichts anderes übrig, als die Schmerzen der Trennung zu ertragen, auf die gleiche Weise, in der sie im Traum den Verlust des von ihr aufgezogenen Falken erträgt. Ob es für die spätere Handlung von Bedeutung sein wird, dass Reinfried und Yrkane über ihr Schicksal mithilfe zweier unterschiedlicher narrativer Bausteine in Kenntnis gesetzt werden, die mit bestimmten literarischen Genres in Verbindung gebracht werden – Marienvisionen mit Mirakeldichtung, unheilverkündende Träume mit heldenepischer Dichtung –, geht aufgrund der fragmentarischen Überlieferung des Textes nicht aus der Geschichte hervor. Niemand weiß, ob Reinfried später noch zu einem passiven Instrument oder Zeugen von Gottes Wirken wird oder ob sich Yrkane zumindest vorübergehend in eine Kriemhild verwandelt, die ihr Schicksal lieber selbst in die Hand nimmt, als es anderen zu überlassen, bevor die beiden Protagonisten wieder zusammengeführt werden. Bekannt ist nur, dass beide Figuren Botschaften in Form von bloßen Gegenständen und von schrifttragenden Artefakten anfertigen, die nicht nur gegenwärtig gültige Ansprüche zum Ausdruck bringen, sondern in der Zukunft noch an Relevanz gewinnen sollen, wenn es darum geht, zwei voneinander getrennte Liebende erfolgreich in eine Kernfamilie zu überführen. Als Botschaften eignen sich besonders der geteilte Ring und das ‚Zeugungsdokument‘. Die Information, die Reinfrieds Hälfte des Rings übermittelt, kann potenziell missbraucht oder gefährdet werden, wenn jemand zu Yrkane kommt und ihr – absichtlich bzw. unabsichtlich – fälschlicherweise mitteilt, dass Reinfried tot sei und sie erneut heiraten könne. Möglich ist aber auch, dass Yrkane einer falschen Nachricht von Reinfrieds Tod nicht glaubt, da der materiale Beweis fehlt. Diese zweite Möglichkeit ist etwas wahrscheinlicher, da Reinfried den Ring explizit heimlich (R 14907: stil und tougenlîchen) zerbricht und niemanden in die Bedeutung des Zeichens einweiht, sodass es von anderen nicht genutzt werden kann. Das schriftliche Dokument wiederum, das Reinfried anfertigen lässt, um Zweifel an der Legitimität des kurz vor der räumlichen Trennung gezeugten Kindes gar nicht erst entstehen zu lassen, scheint seinen Zweck zu erfüllen: Als Reinfried später durch einen Boten erfährt, dass er einen

 Zum Ring als Sinnbild für die geliebte Frau und ihre Selbstübergabe in die Hände ihres Ehemannes vgl. die Gabe des Rings von Wigalois an Larie.

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Sohn hat, der seinen Namen trägt, ist an keiner Stelle die Rede von Erstaunen, Erschrecken, Zweifel oder Unmut. Das geschriebene Wort garantiert offensichtlich schon ab dem Augenblick seines Entstehens nicht nur Eindeutigkeit, sondern auch Autorität. Dies ist ein Hinweis darauf, in welchem Ausmaß die höfische Kultur um 1300 in Rechtszusammenhängen auf schriftliche Dokumente vertraut. Juristisch relevantes Wissen, das schriftlich niedergelegt wird, besitzt Geltung und verschafft Sicherheit.⁷⁷ Wenn aber auch Yrkane eine solche Sicherheit für sich und für ihr Kind sogar gegen den Willen ihres Mannes verlangen kann – selbst herstellen kann sie das Dokument nicht. Sie muss Reinfried bitten, die Niederschrift der Aussage über Yrkanes wahrscheinliche Schwangerschaft zu veranlassen. Das heißt: In dieser Situation vermag Yrkane lediglich mittels unbeschrifteter Gegenstände in eine ihr unbekannte Zukunft zu kommunizieren. Ihre Worte sind flüchtig, die von ihr verwendeten Objekte im schlimmsten Fall mehrdeutig. Yrkane ist an dieser Stelle nicht selbst Verfasserin von Schrift, sondern nur Gegenstand des Schreibens ihres Mannes.

4.3 Schrift als Handlungsgenerator Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Wissensspeicher Informationen selten nur aufbewahren, ohne dass der Gedanke an intendierte oder mögliche Rezeptionsvorgänge oder auch an konkrete Rezipienten eine Rolle spielt. Sobald Wissensbestände und Ansichten schriftlich konserviert werden, sind sie pozentiell zugänglich für Leserinnen und Leser. In dem Moment, in dem sie de facto rezipiert werden, verändert die rezipierte Information den Blick des Rezipienten auf die Welt – selbst dann, wenn er ihren Anspruch auf Wahrheit oder Gültigkeit verneint. Dabei kann die Lektüre in unterschiedlichem Ausmaß Aktivität hervorrufen: Von einer Reaktion Reinfrieds oder des Herrschers von Persien auf das Betrachten des Magnetbergs und vor allem auf die Lektüre des darin angeketteten Buchs erfährt das Publikum nichts, außer dass sich die Besucher damit erfolgreich die Zeit vertreiben (R 21718 – 21719). Das ‚Zeugungsdokument‘, das Reinfried auf Yrkanes Veranlassung kurz vor seinem Aufbruch ins Heilige Land anfertigen lässt, könnte im Handlungsverlauf durchaus noch irgendeine Rolle spielen, was sich allerdings nicht belegen lässt. Die Inschrift auf dem Helm des persischen Königs wiederum provoziert tatsächlich eine Reaktion, von der im Roman erzählt wird, wenn auch diese Reaktion hauptsächlich darin besteht, die Inschrift material auszulöschen und sich dadurch von ihrem Inhalt zu distanzieren.  Zur „Evidenz“ und „Sichtbarkeit der Recht bewirkenden craft der schriftlichen Dokumente“ in einer anderen Erzählung, nämlich in Konrads von Würzburg Schwanritter, vgl. Peter Strohschneider: Ur-Sprünge. Körper, Gewalt und Schrift im ‚Schwanritter‘ Konrads von Würzburg, in: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. von Horst Wenzel. Berlin 1997, S. 127– 153, hier S. 143.

4.3 Schrift als Handlungsgenerator

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Andere Inschriften im Reinfried von Braunschweig fungieren noch deutlicher nicht nur als Speicher von Informationen, sondern auch als Handlungsgeneratoren, die gezielt dazu eingesetzt werden, bestimmte Verhaltensweisen oder Taten zu veranlassen. Zuweilen erfüllen sie den beabsichtigten Zweck, in anderen Fällen verfehlen sie ihn aber auch oder erzielen sogar das Gegenteil. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen sollen weniger das Erstellen einer Inschrift als Handlung oder die Inschrift als Produkt von Handlungen stehen, sondern die Inschrift als Motor für neue (von den Erzeugerinnen und Erzeugern der jeweiligen schrifttragenden Artefakte beabsichtigte oder unbeabsichtigte) Handlungen.

Appelle im Briefverkehr Eine von verschiedenen Möglichkeiten, eine Person gezielt zu einer bestimmten Handlung zu veranlassen, besteht im Reinfried von Braunschweig darin, einen Brief an diese Person zu verfassen und darin einen Appell zu formulieren. Und tatsächlich enthält kein einziger der elf Briefe, die in diesem Roman geschrieben werden, lediglich Zustandsbeschreibungen oder dient allein dem Austausch von Informationen. Folgende Briefe werden im Reinfried von Braunschweig entweder erwähnt, paraphrasiert oder im Wortlaut wiedergegeben: (1) Der erste Brief des Fontanagris an den namenlosen Ritter (R 5803 – 5846) (2) Der zweite Brief des Fontanagris an diesen Ritter (R 6243 – 6277) (3) Der Brief des Ritters an Fontanagris (R 6404 – 6462) (4) Yrkanes erster Brief an Reinfried (R 7511– 7598) (5) Reinfrieds Brief an Fontanagris (R 8607– 8630) (6) Der Brief des Baruc von Baldac an seine Gefolgsleute (R 16522– 16525) (7) Der Brief der Herren der ehemals verfeindeten Heere von Assyrien und Ascalon an den Baruc von Baldac (R 24100 – 24173) (8) Yrkanes zweiter Brief an Reinfried (R 24523 – 24684) (9 – 11) Die Briefe der Gefolgsleute aus Sachsen, Westfalen und Braunschweig an Reinfried (R 24720 – 24815) All diese schriftlichen Botschaften tätigen neben assertiven auch deklarative Aussagen: Die Briefschreiber bemühen sich mit unterschiedlicher Vehemenz darum, ihre Empfänger dazu zu bewegen, Aufforderungen, Anweisungen oder Befehlen nachzukommen. Nicht immer erzielen sie die gewünschte Reaktion. Das Erzählen über die Bedingungen von brieflichen Kontakten zwischen verschiedenen Figuren ist damit im Reinfried ein Instrument, um vorzuführen, wo die Grenzen schriftlicher Kommunikation mit Appellfunktion liegen. Alle Absender zielen darauf ab, beim Empfänger bestimmte Reaktionen hervorzurufen. Dieses Ziel suchen sie dadurch zu erreichen, dass sie die Materialität der zu übermittelnden Briefe für sich nutzen: Das Verschließen eines Briefs stellt im Idealfall Exklusivität her; Siegel und ähnliche ‚Anhänge‘ beglaubigen die Identität des Ab-

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senders; eigenhändiges Schreiben und der Verzicht darauf signalisieren das Verständnis des Absenders von Hierarchie oder Intimität; der Bote, der den Brief überbringt, beglaubigt und verstärkt durch seine körperliche Präsenz und durch die Worte, mit denen er die Übermittlung des Briefs begleitet, dessen Aussage etc.⁷⁸ Fragen kann man unter anderem danach, inwiefern diese Strategien innerhalb der erzählten Welt funktionieren und unter welchen Umständen sie es möglicherweise nicht tun, aber auch danach, welche Rolle für die Rezeption das Geschlecht des Absenders oder der Absenderin eines Briefs spielt. Zu den relativ häufig erwähnten materialen Eigenschaften von Briefen, die im Reinfried von Braunschweig verschickt werden, zählen Verschließbarkeit und Besiegelung. Die Briefe beispielsweise, die Reinfrieds Gefolgsleute zu ihrem Herrn in die Ferne schicken, sind keiserlîch versigelt, / verslozzen und verrigelt / mit ingesigeln silberîn (R 24813 – 24815: herrschaftlich versiegelt und mit silbernen Siegeln verschlossen und versperrt). Und auch der Brief, den der dänische König Fontanagris an den namenlosen Ritter sendet, um ihn nach seinem ersten Streit mit Yrkane zurück an den Hof zu beordern, ist verschlossen und mit Siegeln versehen (R 5782– 5783). All diese Schriftstücke müssen zum einen aufgebrochen werden, womit impliziert wird, dass seit ihrer Abfassung niemand – auch der Überbringer nicht – auf ihren Inhalt Einfluss nehmen konnte und der enthaltene Text als authentische Botschaft der Absender angesehen werden kann.⁷⁹ Zum anderen tragen die Briefe die Siegel ihrer Absender und können dadurch eindeutig diesen und niemand anderem als Sender zugeordnet werden.⁸⁰ Die Identität des Schreibers oder der Schreiberin wiederum gibt Auskunft über die Position des Senders oder der Senderin im sozialen Gefüge: Der dänische König Fontanagris etwa schreibt nicht mit eigener Hand, sondern lässt andere für sich schreiben (R 6238 – 6241). Sein Adressat und Gefolgsmann hingegen, der namenlose Ritter, verfasst seine Antwort selbst (R 6478). In dieser Hinsicht ähnelt der Ritter dem Protagonisten Reinfried, der ebenfalls eigenhändig an Fontanagris schreibt und den Brief sogar persönlich überreicht (R 8124– 8127 und 8600 – 8605). Auch Yrkane wird selbst tätig, als sie Reinfried schriftlich darum bittet, zurück nach Braunschweig zu kommen (R 24440), so behauptet es jedenfalls ihr Bote. In diesem Fall jedoch deutet

 Zur Kommunikationssituation beim Schreiben von Briefen vgl. Martin Muschick: Minne in Briefen. Studien zur Poetik des Briefwechsels in der Erzählliteratur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2013, S. 26 – 35.  Von mehreren Briefen im Reinfried von Braunschweig wird festgestellt, dass sie verschlossen seien. Vgl. z. B. R 6282, 6480 – 6481, 24519 – 24520.  Horst Wenzel zufolge stehen „[d]ie Begriffe wortzeichen und wârzeichen […] nahe beieinander und können synonym verwendet werden. Die Abstraktheit des externalisierten ‚Wortes‘ wird durch sinnfällige ‚Wortzeichen‘ kompensiert, die häufig metonymisch auf ihre Kontexte zurückverweisen, bisweilen für eine mündliche Botschaft stehen, vielfach aber Briefe oder Boten über den Abstand von Raum und Zeit beglaubigen“. Horst Wenzel: Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger, in: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. von Horst Wenzel. Berlin 1997, S. 86 – 105, hier S. 98.

4.3 Schrift als Handlungsgenerator

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das eigenhändige Verfassen wohl eher auf ein besonders intimes Verhältnis zwischen Senderin und Empfänger als auf eine Differenz in der sozialen Hierarchie hin.⁸¹ Auch die Boten, die im Reinfried die verschiedenen Briefe überbringen, tragen dazu bei, dass deren Inhalt von den Empfängern für glaubwürdig gehalten wird. Zuweilen erfolgt dies ganz explizit. So fordert etwa der erste Bote, den Fontanagris zu dem namenlosen Ritter schickt, diesen auf, seiner mündlichen Botschaft Glauben zu schenken, da sie doch durch die schriftliche abgesichert sei: ‚ir hânt doch in den henden / den brief der mich hât har getriben. / dar an vindent ir geschriben / endehaftiu mære‘ (R 5794– 5797). ‚Ihr haltet doch in Euren Händen den Brief, der mich hergebracht hat. Darin findet Ihr eine wahrhaftige Botschaft geschrieben.‘⁸²

In Yrkanes Brief an Reinfried wiederum fordert die Verfasserin den Leser dazu auf, auch den Worten des Boten Glauben zu schenken (R 7588 – 7592). In vielen Fällen besteht die Funktion der Boten offenbar darin, die von ihnen überbrachte schriftliche Nachricht zu ergänzen, manchmal auch darin, sie geradezu zu verdoppeln. Auf diese letztere Eigenschaft spielt Fontanagris wohl an, wenn er, bevor er seinen zweiten, dieses Mal feindseligen Brief losschickt, verkündet: ich wil senden hin / boten die im widersagen (R 6228 – 6229: Ich werde ihm Boten schicken, die ihm Feindschaft verkünden).⁸³ Der Inhalt des Briefs vollzieht dieses widersagen in ähnlicher Weise performativ: ‚mîn widersagen iuch warnen / sol‘ (R 6254– 6255: ‚Die Ankündigung meiner Feindschaft soll Euch warnen‘). Sowohl der Brief als auch die Boten stehen damit metonymisch für den Sender ein, an dessen Stelle sie, eine räumliche und zeitliche Distanz überbrückend, sich an den Adressaten wenden. Wenn die königliche Sprechinstanz im Brief und die königlichen Boten dem Ritter widersagen, dann hat

 Beide Aspekte – ständische Distanz und persönliche Nähe – kommen gleichzeitig zum Ausdruck, wenn in Wolframs Parzival Gawan an den Artushof schreibt. Auch dieser Ritter produziert seinen Brief eigenhändig (P 625,14– 15). Das Schriftstück wird zwar ausdrücklich nicht mit Siegeln versehen, ist aber trotzdem unzweifelhaft seinem Absender zuzuordnen: der brief niht insigels truoc: / er schreib in sus erkant genuoc / mit wârzeichen ungelogen (P 626,9 – 11: Der Brief trug kein Siegel. Er schrieb ihn so, dass er erkannt werden konnte, mit untrüglichen Wahrzeichen). Zu Gawans Brief an den Artushof vgl. z. B. Sabine Chabr: Botenkommunikation und metonymisches Erzählen. Der ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Zürich 2013, S. 126 – 135.  Einen ähnlichen Hinweis auf die Wahrhaftigkeit seiner mündlichen Rede gibt der Bote, der Yrkanes zweiten Brief an Reinfried überbringt: ‚daz disiu mære sîgen wâr, / daz ziuget hie des brieves schrift. / den lesent, dâ stât al diu trift / an, wie ez dâ heime stât‘ (R 24434– 24437: ‚Dass diese Worte wahr sind, das zeigt die Schrift dieses Briefs hier. Lest ihn, darin steht alles darüber, wie die Dinge zu Hause stehen‘).  Zur Bedeutung des Begriffs widersagen (diffidatio) als Ausdruck einer „legal renunciation“ vgl. Peter Dreher: Letters as a structural element in ‚Reinfried von Braunschweig‘, in: Selecta. Journal of the Pacific Northwest Council on Foreign Languages 1 (1980), S. 45 – 48, hier S. 46.

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dies die gleiche Wirkung, wie wenn es der König in einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht täte.⁸⁴ Doch nicht nur die materialen Eigenschaften eines Briefs verleihen den darin geäußerten Appellen Nachdruck. Auch der spezifische Duktus, in dem der Inhalt verfasst wird, kann in gewissem Ausmaß steuern, wie dieser Inhalt aufgenommen wird. Der erste Brief beispielsweise, den König Fontanagris dem namenlosen Ritter überbringen lässt, ist eindeutig nach den Regeln der ars dictaminis verfasst.⁸⁵ Er beginnt mit salutatio und captatio benevolentiae (R 5803 – 5813). Anschließend legt Fontanagris in der narratio den Konflikt dar, wie er sich in seinen Augen darstellt, und erklärt ihn für beendet (R 5814– 5832). In der petitio fordert er den Ritter dazu auf, an den Hof zurückzukehren (R 5833), und endet zusammenfassend mit einer conclusio, die den Brief als Ausdruck der Zuverlässigkeit der zuvor gemachten Aussagen charakterisiert (R 5842– 5846). Angesichts der formvollendeten Höflichkeit dieses ersten Briefs fällt umso stärker die Schroffheit ins Auge, mit der Fontanagris in seinem zweiten Brief die endgültige Zurückweisung des Ritters ausdrückt: ‚Friuntlich gunst gruozes biet / sol ich heizen schrîben niet / dem der ûf mîn laster gât / und sich sô verschuldet hât / gên mir und mînem kinde‘ (R 6243 – 6247). ‚Eine freundliche und gunstreiche Grußentbietung befehle ich nicht zu schreiben an denjenigen, der mir Schmach antut und sich mir und meiner Tochter gegenüber so viel hat zuschulden kommen lassen.‘

Das heißt: Nicht nur der abstrakte Inhalt des Appells, sondern auch sein genauer Wortlaut und seine Ausrichtung oder explizite Nichtausrichtung an formalen Regeln der Briefkunst sagen viel darüber aus, wie sich der Sender dem Empfänger gegenüber positioniert. Im Reinfried finden alle Appelle, die in Briefform übermittelt werden, auf die eine oder andere Weise Beachtung. Anders als in manchen anderen Romanen, in denen Figuren schriftlich miteinander kommunizieren, treten keine Fälle von krassen Kommunikationsfehlern auf, die etwa aus der Unzuverlässigkeit der Boten, aus gewaltsamen Zwischenfällen bei der Überbringung der Briefe oder aus gezielten Manipulationen resultieren.⁸⁶ Nur einmal kommt es im Reinfried zu gravierenden Verzö-

 Vgl. Bernhard Siegert: Vögel, Engel und Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien, in: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. von Horst Wenzel. Berlin 1997, S. 45 – 62, hier S. 50. Vgl. auch Volker Scior: Stimme, Schrift, Performanz. ‚Übertragungen‘ und ‚Reproduktionen‘ durch frühmittelalterliche Boten, in: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Britta Bußmann und Albrecht Hausmann. Berlin, New York 2005, S. 77– 99.  Zum ‚Briefmuster‘ im höfischen Roman vgl. Helmut Brackert: ‚Da stuont daz minne wol gezam‘. Minnebriefe im späthöfischen Roman, in: ZfdPh 93 (1974), S. 1– 18, hier S. 3 – 4.  Zu misslingender Briefkommunikation in höfischen Erzählungen vgl. Wenzel, Boten und Briefe, sowie Hans-Jürgen Bachorski: Lügende Wörter, verstellte Körper, falsche Schrift. Miß/gelingende

4.3 Schrift als Handlungsgenerator

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gerungen aufgrund pragmatischer Schwierigkeiten, als nämlich der Bote, der im zweiten Romanteil Reinfried mit einem ganzen Bündel von Briefen zur Rückkehr nach Braunschweig bewegen soll, den Empfänger lange Zeit nicht antrifft, sondern ihm immer weiter hinterherreisen muss, bis er ihn endlich doch noch einholt. Hier wird vorgeführt, dass Kommunikation über große räumliche Distanzen grundsätzlich immer vom Scheitern bedroht ist. Auch Schwierigkeiten, die dem Empfänger beim Verstehen einer Nachricht aus dem Zusammenspiel von Schrift und Botenwort erwachsen können, werden thematisiert: Der erste Brief, den der König von Dänemark an seinen vom Hof verschwundenen Ritter schreibt und in dem er ihn zur Rückkehr auffordert, ist eindeutig von Fontanagris autorisiert. Dieser spricht zwar davon, dass seine Tochter ihren zorn […] stillen wolle (R 5826) – aus dem Kontext geht allerdings hervor, dass Yrkane dies nicht ganz freiwillig tut, sondern von ihrem Vater heftig zu einer Versöhnung gedrängt wird. Als der Ritter jedoch den Boten fragt, wer für die Aufforderung zur Rückkehr verantwortlich sei, stellt dieser die Situation etwas anders dar. Auf die Frage, wer ihn ausgesandt habe, antwortet der Bote: ‚der künic und diu schœniu magt.‘ / ‚seht daz ir die rihte sagt‘, / sprach der jâmers rîche. / ‚jô hiez diu minneclîche / selbe nâ iuch senden‘ (R 5789 – 5793). ‚Der König und die schöne Jungfrau.‘ ‚Seht zu, dass ihr die Wahrheit sprecht‘, sprach der Bekümmerte. ‚Ja doch, die Liebreiche selbst hat nach Euch zu senden befohlen.‘

Die Worte des Boten, so suggeriert diese Szene, tragen ihren Teil dazu bei, dass der Ritter sofort nach seiner Rückkehr abermals damit beginnt, Yrkane zu bedrängen. Sie verdoppeln oder verstärken den Inhalt des Briefs nicht einfach, sondern legen dem Empfänger eine bestimmte Deutung nahe. Damit macht der Autor des Romans auf ein spezifisches Problem mittelalterlicher Briefkommunikation aufmerksam, das nicht aus absichtlichen Verfälschungs- oder Irreführungsabsichten entsteht, sondern – viel subtiler – ganz einfach daraus, dass jedes Wort und jede Handlung auf unterschiedliche Weise interpretiert werden kann. Auch der zuverlässigste Bote ist nicht davor gefeit, den Empfänger bei dessen Lektüre mit seiner eigenen und möglicherweise eben falschen Interpretation zu beeinflussen. Wenn man wissen will, ob Inschriften im Reinfried sich danach unterscheiden, ob sie von Männern oder von Frauen verfasst wurden, dann steht man vor dem Problem, dass sowieso fast alle intradiegetischen schrifttragenden Artefakte von männlichen Figuren mit Schrift versehen werden. Sämtliche Kodizes, Gräber, Säulen, Helme, Urkunden und magischen Zettel werden – wenn man überhaupt etwas über die Urheber der jeweiligen Schrift erfährt – von Männern beschriftet. Frauen, sofern sie überhaupt mithilfe von Worten handeln, tun dies meistens, indem sie sprechen. Nur eine einzige Ausnahme gibt es: Zweimal schreibt Yrkane an Reinfried, um ihn dazu zu bewegen, zu

Kommunikation, in: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. von Horst Wenzel. Berlin 1997, S. 344– 364, hier S. 360 – 361.

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ihr zu kommen. Beide Male antwortet er nicht schriftlich, sondern bewegt sich stattdessen auf sie zu. Da es nicht zu einem Briefwechsel zwischen den beiden Liebenden kommt, ist es unmöglich, ihre jeweiligen Telekommunikationsgepflogenheiten miteinander zu vergleichen. Zu beobachten ist jedoch, dass die Briefe, die der dänische König Fontanagris, der namenlose Ritter oder auch Reinfried selbst schreiben oder schreiben lassen, sich ganz anderer Ausdrucksformen bedienen als die beiden Briefe Yrkanes. Die Briefe der Männer orientieren sich vor allem an pragmatischen Vorgaben. Sie sind vergleichsweise kurz und knapp, enthalten alle für das Verständnis relevanten Informationen, sind leicht verständlich und in ihren Appellen sehr deutlich auf ihr jeweiliges Ziel hin ausgerichtet. Yrkanes Briefe hingegen sind ästhetisch ansprechend und recht ausführlich, ohne jedoch stets auf den Punkt zu bringen, was genau die Schreiberin eigentlich beabsichtigt. Kurz vor dem Gerichtskampf etwa, zu dem der verzweifelten Yrkane noch ein Kämpfer fehlt, erklärt sie dem nach Braunschweig zurückkehrenden Boten zwar genau, dass Reinfried für sie zum Kampf antreten müsse, um ihre Ehre zu retten. In dem Brief allerdings (R 7511– 7598), den ihr Bote transportiert, steht davon kein Wort. Sie äußert sich darin in wohlgesetzten Formulierungen über ihre Liebe und Sehnsucht, über ihr Leid und ihren Jammer und deutet mehrmals an, dass sie Hilfe brauche (z. B. R 7552– 7553). Worin aber genau das Problem besteht, bei dessen Lösung Reinfried Yrkane so dringend helfen soll, erfährt der Adressat nicht aus Yrkanes Brief, sondern von dem Boten, der die entscheidenden Informationen nachliefert.⁸⁷ Der Brief selbst ist nach Mustern modelliert, die dem Minnesang oder, noch allgemeiner, höfisch-literarischen Liebesdiskursen entnommen sind. Noch deutlicher wird die Literarizität von Yrkanes Schriftsprache in ihrem zweiten Brief, der mit der Behauptung beginnt, dass sie leider nicht in der Lage sei, einen minnenclîchen brief zu verfassen: ‚Künd ich von hôhen sinnen, / von liebe und von minnen, / wol schrîben unde dihten, / sô wolt mîn herze rihten / sich ûf ein minnenclîchen brief‘ (R 24523 – 24527). ‚Könnte ich über erhabene Gesinnung, über Zuneigung und Liebe in angemessener Weise schreiben und dichten, dann würde sich mein Herz um einen liebevollen Brief bemühen.‘

Die Behauptung des eigenen dichterischen Unvermögens widerlegt Yrkane im Folgenden ausführlich, indem sie genau das tut, was nicht in der Lage zu sein sie zu Beginn ihres Briefs beklagt. Tatsächlich verfasst sie einen formvollendeten Liebesbrief, der zwar vorgibt, sich nicht mit Ovids Heroides messen zu können, dabei aber exakt dies tut.⁸⁸ Dihten erscheint an dieser Stelle nicht allein als Synonym zu schrîben, sondern als künstlerisches, literarisches Verfahren.

 Zu dieser Beobachtung vgl. Eugen Mayser: Briefe im mittelhochdeutschen Epos, in: ZfdPh 59 (1935), S. 136 – 147, hier S. 141.  Yrkane bezieht sich explizit auf die Briefe Penelopes an Odysseus, Didos an Äneas, Briseis’ an Achilles, Helenas an Paris und Medeas an Jason – also auf Erzählungen über Frauen, die Briefe an ihre

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Eine Schwierigkeit, die daraus resultiert, dass Yrkane eher literarische als pragmatische Briefe schreibt, besteht darin, dass ihre Botschaften zwar Emotionen freisetzen, aber nicht unbedingt zum direkten Handeln veranlassen. Die Intention des ersten Briefs muss der (männliche) Bote erklären, damit Reinfried überhaupt versteht, dass er sofort nach Dänemark zum Gerichtskampf reiten muss. Als wiederum Yrkanes zweiter Brief vor Reinfried und seinen ‚heidnischen‘ Freunden und Bekannten vorgelesen wird, loben ihn zwar alle und befinden, dass sie nie süezer wort gehört hätten (R 24693) und es sich bei alledem wirklich um eine ausnehmend schœniu âventiure handle (R 24697). Als sie hören, wie Reinfried Yrkane im Kampf errungen hat, sind sie sehr beeindruckt von seinen Fähigkeiten (R 24712– 24717). Ansonsten aber passiert zunächst: gar nichts. Erst die Briefe, die Reinfried von seinen männlichen Gefolgsleuten aus Westfalen, Sachsen und Braunschweig erhält und die ihm mit harten Worten bittere Vorwürfe ob seiner Pflichtvergessenheit als Landesherr, Ehemann und Vater machen, bringen Reinfried dazu, den Rat seiner Leute einzuholen und sich zur Heimfahrt zu entschließen.Während sich die Zuhörer auf Yrkanes Brief hin erst einmal nach ir lîp ir nam mir schœn ir art (R 24707: ihrem Leib, ihrem Ruf, ihrer Schönheit, ihrer Herkunft) erkundigt hatten, generieren die schriftlichen Appelle der männlichen Gefolgsleute sofort die von den Absendern erwünschte Reaktion. Im Reinfried von Braunschweig macht es also durchaus einen Unterschied, ob eine Frau oder ein Mann einen Brief schreibt: Briefe von Frauen sind schön und werden mit Vergnügen rezipiert. Botschaften aus der Feder oder aus dem Mund von Männern aber sind wichtig – wer sie erhält, genießt nicht, sondern handelt.

Verbote als Antrieb zum Wissenserwerb Schriftstücke wie Briefe, die Aufforderungen aussprechen, sollen dazu dienen, Handlungen zu veranlassen. Ihre Funktion als Handlungsgeneratoren ist klar definiert und wird im Reinfried auch stets mehr oder weniger erfolgreich erfüllt. Allerdings ist im Roman auch an mehreren Stellen von Inschriften die Rede, die von ihren Autoren in erster Linie als reine Wissensspeicher gedacht sind, die aber von ihren Rezipienten als Handlungsgeneratoren aufgefasst werden, obwohl sie explizit davor warnen, das in ihnen konservierte Wissen in Handlung umsetzen. Das bedeutet: Es kann geschehen, dass eine Inschrift Handlungen verhindern soll und sie genau dadurch generiert. Wie ein solcher Effekt zustande kommen kann, zeigt beispielsweise der Erzählerexkurs über die Entstehung der Wundervölker. Auf ihrer Reise durch ferne Länder treffen Reinfried und sein persischer Freund eines Tages auf einem Feld zwei schlachtbereite Heere an. Ohne lange danach zu fragen, warum die Könige von Assyrien und Ascalon überhaupt miteinander kämpfen wollen, bringen die Reisenden in

abwesenden Ehemänner oder Geliebten schreiben und darin ihre Sehnsucht und die Hoffnung auf Rückkehr des Ersehnten zum Ausdruck bringen.

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Erfahrung, welche Armee die kleinere ist, schließen sich ihr an, da ihnen dies mehr Ruhm einträgt (R 19986 – 19991), und entscheiden die Schlacht in ihrem Sinne. Auf beiden Seiten kämpfen nicht nur Menschen, die in den Augen der Europäer ungewöhnlich aussehen oder sich ungewöhnlich verhalten, wie beispielsweise schwarze Männer oder kämpfende Frauen, sondern auch Personen, deren Menschlichkeit vom Erzähler verneint wird. Für den König von Assyrien streiten etwa einbeinige Einäugige, Kopflose, Gehörnte und Hundeköpfige. Ihre Gegner sind Schattenfüßler, Kranichschnäbler und Ohrengeschöpfe.⁸⁹ Nach einem Exkurs über die Amazonen nennt der Erzähler auch noch Personen, die am ganzen Körper mit hörnerner Haut bedeckt sind, und imaginiert daraufhin eine Situation, in der sein Publikum nicht glauben mag, dass es solche Wesen überhaupt gibt. Diese Zweifel werden damit begründet, dass alle Menschen von Adam und Eva abstammen und es somit gar nicht möglich sei, dass es Menschen gebe, die so radikal anders aussehen als die beiden Stammeltern (R 19658 – 19663). Im Folgenden entkräftet der Erzähler dieses Argument, indem er drei verschiedene Erklärungen dafür anbietet, wie es zur Entstehung der Wundervölker habe kommen können. Eine besteht darin, dass die Position der Sterne während der Geburt zur Folge haben könne, dass ein Kind vihelîch sich halten müsse (R 19879: sich wie ein Tier verhalten müsse). Eine andere besagt, dass bestimmte Gedanken, die eine Frau während des Geschlechtsverkehrs habe, einen solchen Effekt zeitigen könnten (19880 – 19919). Die erste seiner drei Erklärungen aber legt der Erzähler am ausführlichsten dar: Gott habe Adam nicht nur die Aufgabe übertragen, alle Geschöpfe zu benennen, sondern ihm auch umfassendes Wissen über die Schöpfung verliehen. So habe Adam unter anderem auch von der Wirkung bestimmter Kräuter erfahren und daher gewusst, welche davon eine Schwangerschaft abbrechen oder erleichtern würden und welche dafür sorgen könnten, dass ein ungeborenes Kind in unmenschlicher Gestalt und somit als Tier auf die Welt kommen werde. Adam habe seine Nachkommen davor gewarnt, von diesen Kräutern Gebrauch zu machen. Da er außerdem vorausgesagt habe, dass Gott eines Tages alles Leben auf der Erde auslöschen werde, hätten sich kurz vor Einsetzen der Sintflut diejenigen Menschen zusammengetan, die dô in den jâren / bî in die besten wâren (R 19763 – 19764: die damals unter ihnen die Besten

 Allgemein zu den Wundervölkern oder Monstra in der mittelalterlichen Literatur vgl. Marina Münkler: Die Wörter und die Fremden. Die monströsen Völker und ihre Lesarten im Mittelalter, in: Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Hg. von Michael Borgolte, Juliane Schiel, Bernd Schneidmüller und Anette Seitz. Berlin 2010, S. 27– 49; Stephan Müller: Monstra oder Gotteskinder. Indienbilder des europäischen Früh- und Hochmittelalters, in: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 – 1850. Hg. von Charis Goer und Michael Hofmann. München 2008, S. 211– 222; Rudolf Simek: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln, Weimar, Wien 2015; John Block Friedman: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge, Mass., London 1981; Marina Münkler und Werner Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde im Mittelalter: Die Auseinandersetzung mit den monströsen Völkern des Erdrandes, in: Die Herausforderung durch das Fremde. Hg. von Herfried Münkler. Berlin 1998, S. 701– 766.

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waren), und beschlossen, Adams Wissen schriftlich so zu konservieren, dass die Überlebenden darauf zugreifen könnten. Da niemand gewusst habe, ob das Unheil in Form von Wasser oder von Feuer über die Schöpfung kommen werde, habe man sich darauf geeinigt, zwei Versionen des Wissensspeichers anzufertigen, die sich sozusagen gegenseitig als Sicherheitskopien dienen sollten: Man wolle zwei Säulen schaffen, von denen die eine aus wasserfestem Marmor, die andere aber aus feuerfestem gebranntem Ziegelstein gemacht sei.⁹⁰ Diese beiden Säulen sollten sodann beschriftet werden: ‚Und swenn wir diz gemachet haben, / sô muoz schôn dar în ergraben / mit hôher künste werden / swaz wir ûf al der erden / listeclîch hân funden, / sô nâ disen stunden / ein alter welt uns kome nâch, / daz in zuo den künsten gâch / sî ab der siule zeichen‘ (R 19789 – 19797). ‚Und sobald wir sie fertiggestellt haben, dann muss sorgfältig und mit großer Kunstfertigkeit alles darauf eingraviert werden, was wir auf der ganzen Welt mit unserer Klugheit erfahren haben, sodass man später, wenn nach dieser Zeit und nach uns ein neues Weltalter beginnt, begierig sei nach den Künsten durch die Zeichen auf den Säulen.‘

Das Konservierungsprojekt sei auch tatsächlich gelungen, wobei offenbar beide Säulen die Sintflut unbeschadet überstanden haben. Man habe darauf alles aufgeschrieben gefunden, was die Menschheit bis zu diesem einschneidenden Ereignis an Wissen gesammelt habe (R 19826 – 19829). Allerdings hätten die Frauen die bewahrten Informationen gerade nicht als Warnung verstanden oder aber sich nicht daran gehalten: und dô die frowen hôrten jehen / daz ouch stuont geschriben dô, / diu krût schatten sus und sô, / dô wâren sî sô niugern / daz ir sin niht wolt enbern, / sî wolten sîn geruochen / und endelîch versuochen / ob es alsô wære (R 19830 – 19837). Und als die Frauen sagen hörten, dass dort auch geschrieben stünde, wie die Kräuter auf diese oder jene Weise Schaden anrichteten, da waren sie so neugierig, dass sie nicht davon ablassen wollten. Sie wollten nach ihrem Begehren handeln und eifrig ausprobieren, ob es tatsächlich so sei.

Die Frauen hätten die Kräuter also eingenommen und daraufhin Kinder geboren, die so deformiert gewesen seien, dass man sie nicht für Menschen, sondern für Tiere halten müsse (R 19852– 19853).⁹¹ Ähnliche Erklärungen für die Existenz monströser Wesen finden sich auch in anderen volkssprachlichen mittelalterlichen Quellen. Das älteste Zeugnis für den sogenannten Adamstöchtermythos ist die Frühmittelhochdeutsche Genesis aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, wo es heißt:  Zur Strategie der Nachkommen Adams, überliefertes Wissen schriftlich auf zwei Säulen zu konservieren, vgl. auch Rudolfs von Ems Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift hg. von Gustav Ehrismann. Mit drei Tafeln im Lichtdruck. Berlin 1915, V. 682– 698.  Später bekräftigt der Erzähler diese Ansicht noch einmal (R 20574– 20581).

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Adam hiez si miden wurze, / daz si inen newurren an ir geburte. / sîn gebot si uerchurn, ir geburt si flurn. / dei chint si gebaren / dei unglich waren (Frühmittelhochdeutsche Genesis W 1288 – 1293).⁹² Adam befahl ihnen, bestimmte Wurzeln zu meiden, damit diese ihren ungeborenen Kindern keinen Schaden zufügten. Sie hielten sich nicht an sein Gebot. Sie verloren ihre ungeborenen Kinder. Die Kinder, die sie gebaren, die waren monströs.

Anders als im Reinfried experimentieren in diesem Text die neugierigen Frauen nicht erst nach der Sintflut mit verbotenen Pflanzen, sondern schon Adams direkte Nachfahrinnen tun es entgegen dem Verbot ihres Vaters. Im Lucidarius vom Ende des 12. Jahrhunderts gibt der Meister auf die Frage, wie es zur Entstehung der Wundervölker habe kommen können, eine ausführlichere, aber ähnliche Antwort.⁹³ In Wolframs nur wenig jüngerem Parzival, den der Autor des Reinfried kennt, erklärt Adam seinen Töchtern, dass sie nicht die menschliche Gestalt gefährden sollten, die von Gott selbst verliehen worden sei (P 518,18 – 24). Wolfram zufolge hätten sich die Frauen aber so verhalten, wie es von ihnen zu erwarten gewesen sei, und hätten aufgrund der Schwäche ihres Fleisches oder aus Herzensgier von den Wurzeln gegessen. Und siehe da: sus wart verkêrt diu mennischeit (P 518,29: So wurde die Menschlichkeit pervertiert). In diesen Texten entstehen aus dem Ungehorsam von Adams Töchtern und damit aus einem sozusagen zweiten Sündenfall ‚verwandelte‘, ‚verkehrte‘, monströse Menschen – nicht aber Tiere.⁹⁴ Der Autor des Reinfried spricht somit, wenn er die Möglichkeit der mutwilligen Zeugung tierischer Monstren durch menschliche Frauen referiert, von einer Verfehlung mit besonders schlimmen Folgen, nämlich von einer, die erstens Evas Sündenfall wiederholt und die zweitens die Grenze „zwischen Mensch und Tier [verwischt] und damit die Ordnungsschemata nicht nur der eigenen Kultur, sondern der Welt prinzipiell in Frage [stellt]“.⁹⁵ Die Frauen werden als niugern be-

 Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Synoptische Ausgabe nach der Wiener, Millstädter und Vorauer Handschrift von Akihiro Hamano. Berlin, Boston 2016.  Vgl. Der deutsche ‚Lucidarius‘. Bd. 1. Kritischer Text nach den Handschriften. Hg. von Dagmar Gottschall und Georg Steer. Tübingen 1994, I.55.  Im Lucidarius fragt der Schüler erst im Anschluss, welche Tiere denn in den Ländern lebten, in denen auch die monströsen Menschen anzutreffen seien (Lucidarius I.56). Im Parzival bezeichnen weder Figuren noch der Erzähler Cundrie oder ihren Bruder Malcreatiure (deren monströses Aussehen mit dem Exkurs über die Adamstöchter begründet wird) als Tiere. Konrad von Megenberg wiederum unterscheidet in seinem Buch der Natur zwischen beseelten und unbeseelten ‚Wundermenschen‘ und ordnet Angehörige beider Gruppen weiteren Unterkategorien zu. Dabei stellt er fest, dass es auch unbeseelte Wundermenschen gebe, die nicht von Adam abstammen, sondern beſunderev tier sind, di got beſchaffen hat, on dez menſchen werch. Konrad von Megenberg: Das ‚Buch der Natur‘. Bd. II. Kritischer Text nach den Handschriften. Hg. von Robert Luff und Georg Steer. Tübingen 2003, Buch VIII.2 (Von den wunder menſchen), S. 522– 525, hier S. 525. Zu den Diskussionen mittelalterlicher Gelehrter darüber, ob die Monstren den Menschen oder den Tieren zuzurechnen seien, vgl. auch Vögel, Continuum historiale, S. 79 – 86.  Münkler, Wörter, S. 45.

4.3 Schrift als Handlungsgenerator

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zeichnet (R 19833). Wolfgang Achnitz zufolge signalisiert das Adjektiv in diesem Zusammenhang nicht die Absicht, etwas Neues kennenzulernen, denn was nach dem Genuß der Kräuter geschieht, kann man ja auf den Säulen nachlesen […], es bezeichnet vielmehr das Verlangen, das Vorgegebene selbst zu erfahren, indem man das von anderen bereits Erfahrene und schriftliche Fixierte noch einmal (‚neuerlich‘) nachvollzieht. Nicht Begierde nach Unbekanntem führt zu einer Gefährdung der göttlichen Schöpfung, sondern der Zweifel gegenüber tradiertem Wissen sowie der Wunsch nach ‚Selbsterfahrung‘.⁹⁶

Kein Wunder also, dass der Erzähler am Ende seines Berichts über die Schlacht zwischen den Heeren von Assyrien und Ascalon mit einer gewissen Befriedigung feststellt, dass von der ‚Teufelsbrut‘ niemand überlebt habe (R 20566 – 205569). Im Reinfried wird mit den beschrifteten Säulen ein Motiv in den Bericht über die Entstehung der Wundervölker eingefügt, das im Lucidarius oder im Parzival nicht vorkommt. Die Frauen zeigen ihre fatale Neigung zu Neugier und Ungehorsam nicht gegenüber gesprochenen, sondern gegenüber geschriebenen Worten – letztlich werden die Monstren mithilfe von schriftlich festgehaltenem Wissen erzeugt. Der Roman zeigt damit in diesem Erzählerexkurs eine ambivalente Haltung gegenüber Schriftstücken als Wissensspeichern und Instrumenten zur Verhinderung unangemessener Handlungen. Einerseits lobt der Erzähler die Tatsache, dass sich die Menschen vor der Sintflut – anders als viele seiner Zeitgenossen – offensichtlich darum bemüht hätten, ihr Wissen zu bewahren und Überlieferungsbrüche zu vermeiden.⁹⁷ Andererseits legt er ausführlich dar, welche Probleme aus einer solchen Tradition erwachsen können: Schriftlich fixiertes Wissen kann missbraucht werden. Es ist immer möglich, die Funktion von Schrift als Wissensspeicher, der Informationen aufbewahrt, Handlungen unterbindet und dadurch Gefahren abwendet, zu missachten oder sogar in ihr Gegenteil zu verkehren. Doch nicht nur die Risiken schriftlicher Überlieferung werden kritisiert. In den Diskurs über den richtigen und falschen Umgang mit Schrift gerät überdies ein entschieden misogyner Ton, wie Werner Röcke feststellt – schließlich sind es explizit und ausschließlich Frauen, „die sich ein wissenschaftliches Interesse anmaßen, das ihnen nicht zusteht und die deshalb den Säulentext falsch lesen müssen“.⁹⁸ An der Episode über die Frauen, die absichtlich und leichtsinnig monströse Wesen in die Welt setzen, wird abermals sichtbar, was für ein Faszinosum das Thema

 Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 144– 145.  hiut und iemer man in sol / dar umbe sagen lobes danc / daz sî unser sinne kranc / mit irre kunst bedâhten (R 19816 – 19819: Heute und immerdar soll man sie dafür loben, dass sie unserem schwachen Verstand ihr Wissen schenkten).  Werner Röcke: Lektüren des Wunderbaren. Die Verschriftlichung fremder Welten und abenthewer im ‚Reinfried von Braunschweig‘, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg. München 1996, S. 285 – 301, hier S. 297.

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der Reproduktion in diesem Roman darstellt. Adams weibliche Nachkommenschaft tut etwas Ähnliches wie die Amazonen, wie die Frauen, die eine bestimmte Sternenkonstellation auf sich einwirken lassen, oder wie die Frauen, die beim Geschlechtsverkehr unpassende Gedanken hegen – sie alle reproduzieren sich unter Mitwirkung von Männern, ohne dass diese Männer irgendeinen Einfluss auf das konkrete Ergebnis haben. Adams weibliche Nachkommen erzeugen aus Schrift Monstren, aus Worten Fleisch. Hier eröffnet der Exkurs die Möglichkeit einer poetologischen Lesart: So wie die Frauen nach der Sintflut lebendige, aber deformierte Wesen hervorbringen, kann auch ein Dichter ‚monströse Dichtung‘ produzieren. So versteht jedenfalls der römische Dichter Horaz in seiner Ars Poetica das hybride, zusammengesetzte Kunstwerk als grundlegend missraten: Humano capiti cervicem pictor equinam / iungere si velit et varias inducere plumas / undique collatis membris, ut turpiter atrum / desinat in piscem mulier formosa superne / spectatum admissi risum teneatis, amici? (Epistularum Liber II,3 [De arte poetica] 1– 5) Wenn ein Maler mit dem Kopf eines Menschen den Hals eines Pferdes verbinden wollte und buntes Gefieder an Gliedmaßen anlegen, die von überallher zusammengetragen sind, so dass in einen schwarzen Fisch eine oben schöne Frau scheußlich ausliefe, könntet ihr, sobald man euch zum Anschauen zugelassen hätte, das Lachen zurückhalten, Freunde?⁹⁹

Ein dichterisches Werk wiederum, dessen einzelne Teile sich nicht zu einem harmonischen Ganzen fügten, sei dem Fiebertraum eines Kranken zu vergleichen, so Horaz. Dabei betont er, dass originelle Kombinationen durchaus nicht zu beanstanden seien, solange sie nur die Grundsätze der poetischen Einheit und der Einfachheit nicht verletzten.¹⁰⁰ Sicher würde der Autor des Reinfried über seinen Roman nicht sagen, dass er der horazischen Regel zuwiderhandle und daher zu spöttischem Lachen reize. Er bewegt sich allerdings auf einem schmalen Grat. Denn schließlich zeichnet sich der Reinfried unter anderem dadurch aus, dass er besonders im zweiten Teil eine Vielzahl von literarischen, theologischen, historiographischen und naturkundlichen Diskursen zu einem Ganzen zusammenfügt, und dies zum Teil nur recht lose. Bei der Beschreibung der Amazonen und ihrer Herrscherin etwa stehen Versatzstücke aus der hochmittelalterlichen arthurischen Romanliteratur, der griechischen Mythologie und der christlichen Eschatologie recht unvermittelt nebeneinander und ergeben gemeinsam ein schillerndes Bild, das sich allen einfachen Systematisierungsversuchen entzieht. Man könnte das Argument daher versuchsweise umdrehen: Möglicherweise handelt es sich bei der Verurteilung von zusammengesetzten Monstren aus Fleisch und Blut durch den Erzähler um eine Strategie, die Zusammengesetztheit des Textes selbst der Kritik zu entziehen. Während die Figuren innerhalb der Handlung Schrift in ver-

 Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch-deutsch. Hg. und übersetzt von Niklas Holzberg. Berlin, Boston 2018.  Vgl. Kraß, Meerjungfrauen, S. 38 – 42.

4.3 Schrift als Handlungsgenerator

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gängliches, korrumpierbares und korrumpiertes Leben verwandeln, produziert der Autor aus schriftlich fixiertem Wissen neues schriftlich fixiertes Wissen, das das Publikum sich zu seinem Nutzen lesend erschließen kann. Und anders als die von verantwortungslosen Frauen erzeugten Schattenfüßler, Kranichschnäbler und Hundeköpfigen, die nach der Schlacht tot in ihrem Blut liegen, schafft der Autor mit seinem Roman ein zwar auf andere Weise ebenso heterogenes, aber eben auch unvergängliches Werk der Belehrung und Unterhaltung. Es liegt in der Ironie der Geschichte, dass diese neue Schrift in ihrer Gegenständlichkeit nur bruchstückhaft überliefert ist und damit – wenn auch nur in den Augen eines modernen Publikums – dem Ideal von Ordnung, Zusammenhang und Vollständigkeit widerspricht.

Räumliche Einschränkungen und narrative Grenzenlosigkeit Die vorsintflutlichen Artefakte der Nachkommen Adams sind nicht die einzigen beschrifteten Säulen, von denen im Reinfried von Braunschweig erzählt wird. Der Herr von Ejulat, der mit dem einzigen ihm verbliebenen Schiff am Magnetberg strandet und dort auf Reinfried und seine Gefährten trifft, berichtet zunächst, dass er auf seinen Reisen in den Osten bis zur Mauer des Paradieses gelangt sei. Dort sei schon Alexander der Große an die Grenzen der Welt und auch an die seiner Macht geraten. Die Paradiessteinepisode entlarvt Alexanders superbia und zugleich auch seine Hilflosigkeit: alsus moht ouch den künic weder / vervâhen guot lîp noch gewalt, / dô erde wart ûf in gevalt, / sîn kraft diu wær gescheiden / von guot von lîbe beiden (R 21870 – 21874). So nützten dem König weder sein Besitz noch seine Körperkraft noch seine Macht, als man ihn mit Erde bedeckte. Weder über Besitz noch über Körperkraft konnte er da noch verfügen.

Alexander macht die bittere Erfahrung, dass früheren Erfolge ihm nichts nützen, wenn Gott selbst ihm eine Grenze setzt.¹⁰¹ Auf eine weitere topographische Grenze, so der Herr von Ejulat im Bericht über seine eigene Reise, sei er nicht im Osten, sondern im äußersten Westen gestoßen – in einem Gebiet auf dem Meer, wo weder Tag noch Nacht herrsche, sondern die Luft von einem dunklen Nebel erfüllt und auch das Wasser trübe sei. Hier habe er die berühmten beschrifteten Säulen des Herkules gesehen, mit denen schon in alten Zeiten das Ende der Welt bezeichnet worden sei: daz tet ein künc, hiez Hercules, / der hât vor langen stunden / sich des underwunden, / er wolte ân aller slahte sparn / iemer mê daz wazzer varn, / biz daz er bekæme / dâ ez ende næme. / nu kam sîn

 Die beiden Szenen aus der Alexandervita, die kurz danach anzitiert werden und in denen Alexander das Meer und die Luft erkundet, sind Herfried Vögel zufolge gezielt ausgewählt, um die entscheidende Schwachstelle des Helden offenzulegen, seine curiositas. Vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 108.

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verriu reise har. / er sach daz wol und wart gewar / daz er niht fürbaz mohte komen. / dô maht er, als ich hân vernomen, / erlîn siul mit schrifte har, / daz man dâ bî næme war / daz nie kein mensche fürbaz / mohte komen, und dur daz / maht er diz mit schrifte schîn (R 21896 – 21911). Dies tat ein König, der Hercules hieß. Der nahm es vor langer Zeit auf sich, ohne irgendwelche Abstriche so lange das Meer zu befahren, bis er dorthin gelange, wo es ein Ende nehme. Irgendwann erreichte er mit seiner weiten Reise diesen Ort. Er sah und erkannte gut, dass er nicht weiterfahren konnte. Da stellte er, wie ich gehört habe, beschriftete Säulen aus Erlenholz dort auf, damit man daran erkennen möge, dass kein Mensch von hier aus weiterreisen könne. Aus diesem Grund verkündete er dies schriftlich.¹⁰²

Herkules gilt hier als besonders weitgereister Mann, der genaue Kenntnisse darüber besitzt, wo sich die Grenzen des befahrbaren Meeres befinden.Von den Motiven, die in der Antike und im Mittelalter mit Herkules und den von ihm errichteten Säulen in Verbindung gebracht werden, wählt der Autor das der räumlichen Begrenzung und des Verbots der Grenzüberschreitung.¹⁰³ Geäußert wird das Verbot im Medium der Schrift, wobei der genaue Inhalt der Inschrift, wie so häufig im Reinfried, nicht wörtlich, sondern umschreibend wiedergegeben wird, und hier sogar doppelt: Der Erzähler paraphrasiert, was der Herr von Ejulat erzählt. Reinfried und – in gesteigerter Form – das Publikum des Romans erfahren nur vermittelt vom Inhalt der Schrift auf den Säulen des Herkules und damit auch von deren Bedeutung. Ebenso vermittelt wie zum Wortlaut des Verbots der Grenzüberschreitung gelangt Reinfried auch zu den solchermaßen bezeichneten Grenzen selbst. Weder die Meerenge von Gibraltar noch das irdische Paradies, das Alexander aufgesucht hat, sieht er mit eigenen Augen. Die Erzählung des Herrn von Ejulat integriert mithilfe der wiederum in ihr enthaltenen Erzählungen über Herkules und Alexander Weltwissen auf einer zweiten oder sogar dritten Ebene in den Roman. Für den Fortgang der Handlung spielt es eigentlich keine große Rolle, an welche Orte der Herr von Ejulat gereist ist und was er dabei erlebt hat. Stattdessen fungiert die mehrfach metaleptische Struktur als erzählerischer Kunstgriff, durch den sich für das Romanpublikum nochmals der Horizont der Erzählung und der Umfang des vermittelten Wissens erweitert, ohne dass

 Möglicherweise sind statt ‚Säulen aus Erlenholz‘ eigentlich ‚eherne Säulen‘ gemeint. So versteht auch Werner Röcke die Stelle. Vgl. Röcke, Lektüren, S. 290.  Zu den Säulen des Herkules in der Antike vgl. z. B. Strabons Diskussion verschiedener Lokalisierungsversuche. Strabon spricht in seiner Geographie auch von verschiedenen anderen Grenzmarken, von denen beispielsweise die auf der korinthischen Landenge ein schrifttragendes Artefakt gewesen sei, eine Tafel nämlich, auf der man schriftlich die Grenze zwischen Peloponnes und Ionien benannt habe (Geographica 3,5,5).Vgl. Strabons Geographika. Mit Übersetzung und Kommentar hg. von Stefan Radt. Bd. 1 Prolegomena. Buch I–IV: Text und Übersetzung. Göttingen 2002. Vgl. auch den 26. Gesang des Inferno von Dantes Divina Commedia, in dem Odysseus von den Säulen des Hercules spricht: Dante Alighieri: La Divina Commedia. Inferno. Commento a cura di Giuseppe Villaroel. Revisione del commento di Guido Davico Bonino e Carla Poma con uno scritto di Eugenio Montale. Mailand 1985, 26,106 – 109 bzw. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Übersetzt von Hermann Gmelin. Anmerkungen von Rudolf Baehr. Nachwort von Manfred Hardt. Stuttgart 2001, 26,106 – 109. Vgl. Neudeck, Continuum Historiale, S. 180 – 181.

4.3 Schrift als Handlungsgenerator

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sich der Protagonist auch nur einen Schritt weit bewegen muss.¹⁰⁴ Werner Röcke nennt daher die Binnenerzählung des schiffbrüchigen Reisenden aus gutem Grund einen „Thesaurus des enzyklopädischen und literarischen Wissens von der Fremde“.¹⁰⁵ In der Forschung wurde die Geschichte des Herrn von Ejulat im Zusammenhang mit Reinfrieds gesamter Expedition in den Osten häufig zum Ausgangspunkt einer Diskussion über Reinfrieds curiositas und deren Folgen für seinen Status als idealer oder eben ab einem bestimmten Punkt nicht mehr idealer Held gemacht.¹⁰⁶ Derk Ohlenroth etwa gründet seine These, dass Reinfried, ähnlich wie Hartmanns Iwein, in eine Krise gerate, auf die Schwierigkeiten, die aus Reinfrieds „Wundersucht“ entstehen.¹⁰⁷ In der Begegnung mit der Sirene und der Tatsache, dass Reinfried sich kurzzeitig nach dem Tod sehnt und von seinem persischen Freund erst wieder an Yrkane erinnert werden muss, sieht Ohlenroth ein Schuldigwerden Reinfrieds sowie das Aufbrechen einer „tiefgreifende[n] Krise“.¹⁰⁸ Allerdings wird eine solche Krise weder vom Erzähler noch von einer der Figuren benannt oder auch nur erkannt. Ohlenroth zufolge ist sie auch tatsächlich nicht innerhalb der erzählten Welt wahrzunehmen, auch nicht vom Protagonisten des Romans, sondern lediglich vom Publikum: „Was ich als innere Krise bezeichnet habe, spielt sich eher auf der Ebene des Leserbewußtseins ab.“¹⁰⁹ Ähnlich wie mit der Krise verhält es sich mit der Schuld: Der Erzähler äußert sich dazu nicht. Die fortgesetzte Reise des Protagonisten, so Wolfgang Achnitz, werde nicht explizit kritisiert – „[a]llein die Deutungsleistung des Rezipienten ist Ausgangspunkt für die negative Beurteilung des niugernen Reinfried“.¹¹⁰ Kritik an dem Protagonisten

 „Durch die Erzählungen des Reisenden aus Ejulat wird dem Romanhelden ein Bild der erfahrbaren Welt, vor allem aber ihre räumliche Ausdehnung mit den bekannten Endpunkten vermittelt. Demzufolge entfällt für Reinfried die Notwendigkeit, aber auch der Anstoß zur weiteren wunder-Suche, da der Reiz des Neuen durch ‚stellvertretende‘ Informationen vermindert wird oder gar verloren geht.“ Neudeck, Continuum Historiale, S. 181.  Röcke, Lektüren des Wunderbaren, S. 289.  Zur Bezeichnung Reinfrieds als ‚nicht mehr idealer Held‘ vgl. Neudeck, Continuum Historiale, S. 188.  Ohlenroth, Reinfried, S. 80. Reinfrieds Erlebnisse in den Gebieten jenseits des Heiligen Landes beschreibt Derk Ohlenroth als in vielen Fällen negativ konnotiert. Einige der Beispiele, die er nennt, leuchten allerdings nicht ein – so wird etwa nirgendwo im Text explizit festgestellt, dass die Zwerge und Riesen „christenfeindlich“ seien (ebd.). Ihre Religionszugehörigkeit wird schlicht nicht thematisiert und taugt daher kaum zu einer religiös-moralischen Abwertung. Auch eine drohende Verführung Reinfrieds durch die Zwergenkönigin ist m. E. am Text nicht zu belegen und kann auch durch einen Verweis auf einen anderen Roman, in dem von einer solchen Konstellation erzählt wird (Friedrich von Schwaben), nicht plausibel begründet werden.  Ohlenroth, Reinfried, S. 82.  Ohlenroth, Reinfried, S. 83. Von einer „unbewußte[n] Krise“ spricht auch Mathias Herweg. Herweg, Verbindlichkeit, S. 309.  Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 145.

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4 Die ganze Welt kontrollieren: Reinfried von Braunschweig

äußert der Erzähler höchstens implizit.¹¹¹ Immerhin wird aber von Figurenseite ausdrücklich auf ein Fehlverhalten Reinfrieds hingewiesen: In ihren Briefen erinnern Reinfrieds Gefolgsleute und seine Frau ihn mit deutlichen Worten an seine Pflichten, die er in ihren Augen auf seiner ausgedehnten Reise gravierend vernachlässigt. Es besteht also aus Figurenperspektive durchaus ein Interessenkonflikt, und Reinfrieds Fernbleiben von seinem Herrschaftsbereich stellt zumindest für die Daheimgebliebenen tatsächlich ein Problem dar. Diese Tatsache wurde in der Forschung schon häufiger zum Ausgangspunkt einer Lektüre gemacht, die in Reinfrieds gesamter Fernreise einen Ausdruck von Schuldhaftigkeit, Krisenhaftigkeit und moralischer Verirrung erkennen will.¹¹² Otto Neudeck führt das Problem des wissbegierigen Helden auf einen Konflikt zwischen seiner Wissbegier und der „limitierenden Ordnung des mittelalterlichen Welt- und Geschichtsbildes“ zurück.¹¹³ Dabei gibt es im lateineuropäischen Mittelalter unterschiedliche Auffassungen von curiositas. ¹¹⁴ Der Kirchenvater Augustinus mit seiner harschen Kritik an der concupiscentia oculorum (‚Augenlust‘) etwa verwendet den curiositas-Begriff nicht ausschließlich negativ. Die pia curiositas, die Erkenntnis Gottes auf dem Weg der Welterkenntnis, erachtet er – im Gegensatz zu anderen Formen der Neugier – durchaus als nützlich. „Es ist nicht das Wissensstreben an sich, das Augustinus verwirft, sondern die Wissensgier, die dem Laster der superbia entspringt, weil ihr wahres Ziel nicht in der Erkenntnis der Schöpfung, sondern in der Selbstüberhebung des Menschen besteht.“¹¹⁵ Im Reinfried von Baunschweig wird nie bestätigt, aber eben auch nie verneint, dass der Protagonist nach dem Verlassen des Heiligen Landes weniger auf der Suche nach göttlichen Wahrheiten als vielmehr aus reiner ‚Augenlust‘ unterwegs ist. Auch ohne explizite Erzählerkommentare könnte ein mittelalterliches Publikum daher auf den Gedanken kommen, dass Reinfried sich der vana curiositas und damit einer Sünde hingibt – auch wenn ihm selbst dies (zumindest in dem überlieferten Textfragment) nicht klar wird.¹¹⁶  Vgl. Achnitz’ Deutung des Erzählerexkurses über die Methoden, mit der man Elefanten und Feuersalamander fängt, in: Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 145 – 149.  Walter Haug etwa spricht von „Verführbarkeit“, „Schwäche“ und „Untreue“. Haug, Aventiure, S. 21.  Neudeck, Continuum Historiale, S. 194. Otto Neudeck bescheinigt dem Protagonisten immerhin eine auf das Sirenenabenteuer folgende conversio. Vgl. Neudeck, Continuum Historiale, S. 185.  Vgl. z. B. Barbara Schlieben: Neugier im Mittelalter, in: HZ 296 (2013), S. 330 – 353. Einen differenzierten Blick auf den Themenkomplex Neugier, Wissbegier und die Lust am Wunder im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst und in der Reise-Fassung des Brandan ermöglicht Falk Quenstedt: Mirabiles Wissen. Deutschsprachige Reiseerzählungen um 1200 im transkulturellen Kontext arabischer Literatur. Diss. masch. Berlin 2019.  Marina Münkler: Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts. Berlin 2000, S. 232.  Vgl. auch Christian Kiening: ‚Wer aigen mein die welt …‘. Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Hg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993, S. 474– 494, hier S. 490. Wolfgang Achnitz sieht Reinfrieds Wunsch nach kurzwîle und sein fortgesetztes wunder schouwen als Ausdruck von

4.3 Schrift als Handlungsgenerator

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Schwieriger ist es, bei Reinfried auch „Zweifel an der von Gott geschaffenen Ordnung der Welt“ zu erkennen.¹¹⁷ Ganz in Abrede stellt eine etwaige Schuldhaftigkeit des Protagonisten Christine Wand-Wittkowski. Aus ihrer Sicht hat der Autor zugleich mit seinem Helden auch eine neue Art von Heldentypus geschaffen, der nicht an den Maßstäben der sogenannten klassischen Artusromane gemessen werden kann. Entgegen der oben skizzierten verbreiteten Forschungsmeinung entdeckt sie im Reinfried ein Romankonzept, „das im Gegensatz zur Zielgerichtetheit traditioneller Modelle auf dem Prinzip der Vielfalt des Erlebens beruht“.¹¹⁸ Wand-Wittkowski sieht es auch als problematisch an, dass eine etwaige Schuld und eine daraus resultierende Krise nur zwischen den Zeilen gelesen werden kann – wenn überhaupt: „In der Tat wäre eine auf Krisen eingestellte Überempfindlichkeit des Lesers erforderlich, um in Reinfrids Reise ein Problem zu sehen. Nicht nur Reinfrid selbst, sondern auch die anderen Romanfiguren und der Erzähler merken nichts von einer Krise.“¹¹⁹ Man könnte auch sagen: Die Frage nach Reinfrieds Schuld hilft bei der Interpretation des Romans noch weniger weiter als die nach der Schuld im Gregorius oder im Parzival. Die Frage, ob der Protagonist für seine Reiselust indirekt getadelt wird oder nicht, lässt sich letztlich nicht entscheiden, da es für beide Lesarten gute Argumente gibt. Die Lösung des Problems besteht darin, die Frage anders zu formulieren. Was wäre, wenn der zweite Teil des Romans nicht von Schuld und vom Schuldigwerden handelte, sondern von den komplexen Schwierigkeiten, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, einen angemessenen Ausgleich zwischen der nützlichen Erweiterung des Horizonts und der Einsicht in unerlässliche Einschränkungen zu erzielen? Auf welch unterschiedliche Arten man mit diesen Schwierigkeiten umgehen kann, reflektiert der Roman zu Beginn der Erzählung des Herrn von Ejulat, wenn der Paradiesmauer im Osten die beschrifteten Säulen des Herkules im Westen gegenübergestellt werden. Die Erfahrung, an einem Endpunkt angelangt zu sein, hat für Alexander und für Herkules ganz unterschiedliche Folgen. In Alexanders Fall dient circumspectio und vana curiositas. Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 175 – 184. Entsprechend attestiert Mathias Herweg dem Protagonisten nicht nur Pflicht-, sondern auch Heilsvergessenheit. Vgl. Mathias Herweg: Herkommen und Herrschaft: Zur Signatur der Spätausläufer des deutschen Versromans um 1300, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 241 (2004), S. 241– 287, hier S. 258. Reinfrieds angeblich massives Versagen im zweiten Teil des Romans steht auch im Zentrum des Reinfried-Kapitels in Mathias Herwegs Monographie.Vgl. Herweg,Verbindlichkeit, S. 279 – 327.  Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 220.  Christine Wand-Wittkowski: Der vergnügte Reisende als Romanheld. ‚Reinfrid von Braunschweig‘ und der Bruch mit der Tradition, in: Poetica 32 (2000), S. 327– 349, hier S. 334.  Wand-Wittkowsk, Der vergnügte Reisende, S. 330. Ähnlich argumentieren auch Werner Röcke und Martin Baisch. Vgl. Röcke, Lektüren, S. 288; Martin Baisch: ‚durchgründen.‘ Subjektivierung und Objektivierung von Wissen im ‚Reinfried von Braunschweig‘, in: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hg. von Martin Baisch, Jutta Eming, Hendrikje Haufe und Andrea Sieber. Königstein 2005, S. 186 – 199, besonders S. 194– 195. Martin Baisch weist auch darauf hin, dass der Erzähler sein potenziell misstrauisches Publikum dazu auffordert, sich selbst auf die Reise zu machen (R 22506 – 22509). Vgl. Baisch, Subjektivierung, S. 195.

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die Schwächeerfahrung des Herrschers und Eroberers seiner Nachwelt zur Belehrung, ohne dass Alexander nach seiner Meinung gefragt wird. Er scheitert und hinterlässt die Geschichte dieses Scheiterns. Die Mauer markiert gegen seinen Willen das Ende seines Weges. Herkules hingegen erkennt von sich aus, dass er nicht weiterkommen wird. Anders als Alexander lässt er ein Zeichen seiner Erkenntnis sowie eine schriftliche Erklärung zurück, die es der Nachwelt erlaubt, das Zeichen so zu deuten, wie er es verstanden haben will. Die Säulen, zwischen denen man hindurchfahren könnte, wenn man es nur wagte, bezeichnen eine Grenze, die prinzipiell durchlässig ist. Herkules verzichtet aus freiem Willen darauf, diese Grenze zu überschreiten. Aus diesem Grund kann er, anders als Alexander, nach dem Errichten des Wahrzeichens den Rückweg als weiterhin erfolgreicher Reisender antreten. Die beiden Binnenerzählungen innerhalb der Binnenerzählung – d. h. die Geschichten von Alexander und von Herkules – präsentieren somit zwei Präzedenzfälle, wie man mit Grenzen umgehen kann. Alexanders Modell spricht von der erzwungenen Erkenntnis der eigenen Grenzen. Herkules’ Modell steht demgegenüber für Offenheit, Aufmerksamkeit und Demut sowie für das Bestreben, die eigene Erkenntnis auch anderen Menschen zugänglich zu machen und sie an diesem Heil teilhaben zu lassen. Reinfried von Braunschweig folgt der Botschaft des Herkules. Da das Ende des Romans nicht erhalten ist, wissen wir nicht, wie die Geschichte ausgeht.¹²⁰ Falls Reinfried aber glücklich nach Hause gelangt, hätte auch er sich nach vielen Gefahren von Zwielicht und trübem Wasser abgewandt und könnte nun theoretisch seinerseits von den Wundern und Gefahren künden, die in der Fremde auf jeden lernfreudigen Reisenden warten. Die Säulen des Herkules ähneln den Säulen der Nachkommen Adams insofern, als auch sie schriftlich eine Warnung für die Nachwelt bewahren, auf die man auf zweierlei Weise reagieren kann: Man kann sie ignorieren oder man kann sie beherzigen. Der Autor erhebt den Anspruch, diese aus anderen Texten bekannten Warnungen vor Grenzüberschreitungen zu reproduzieren. Tatsächlich aber verleitet er selbst sein Publikum zu genau dem, was an Reinfrieds Verhalten tadelnswert sein könnte – wer den Roman mit Vergnügen rezipiert, der läuft Gefahr, der eigenen Wissbegier und der Freude an Unbekanntem, Aufregendem, Unterhaltsamem, an wundern und an kurzwîle nachzugeben. Die Geschichte ist wie das beschriftete Säulenpaar eine Warnung vor der Transgression, wirkt aber zugleich wie der Gesang der Sirene, die jeden Hörer zu entgrenzenden Erfahrungen verlocken will. Reinfried, der sich immer weiter ins Unbekannte hinauswagt, dabei stets erfolgreich und geachtet, aber auch zuweilen auf interessante Weise gefährdet ist, ist der vollkommene Stellvertreter, eine ideale Projektionsfläche. Gerade dadurch, dass so häufig offen bleibt,  Verloren geht der Protagonist ja ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als er ernsthaft die Rückreise angetreten hat und damit alles richtig macht. Allerdings wird auch erzählt, dass seine Leute ihn auf einer Insel vergessen, als er diese erkunden will und dabei sîn selbes (R 27602) vergisst. Vielleicht ist seine Entscheidung für das Umkehr-Modell doch nicht so endgültig, wie es zwischendurch ausgesehen hat. Vgl. Baisch, Subjektivierung, S. 196.

4.4 Orientierung im Archiv

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was Reinfried beim Anblick der vielen fremdartigen und spektakulären mirabilia denkt oder fühlt, erhalten die realen Leserinnen und Hörer einen relativ großen Freiraum, in dem sich die Imagination entfalten kann. Wolfgang Achnitz vertritt die These, dass der Rezipient dazu angehalten sei, „sich – wie der Held – von der Darstellung und Beschreibung des wunderbaren Orients [zu] lösen und die mit der vana curiositas verbundene Gefährdung des Seelenheils [zu] erkennen, der nicht nur die Romanfigur, sondern potentiell auch er selbst ausgesetzt ist“.¹²¹ Zu bedenken ist jedoch, dass es sich beim Reinfried von Braunschweig nicht um eine Predigt oder um einen religiösen Traktat handelt, sondern um einen Roman, der belehren, aber auch unterhalten will. Das Publikum darf dem Helden folgen und durch seine Augen blicken, ohne selbst nach Osten reisen zu müssen. Wenn dabei überhaupt irgendjemandes Seelenheil gefährdet wird, dann ist es das der Figur und nicht das des Rezipienten, der alle Warnungen erkennt und sie zu deuten weiß und sich dennoch an den vorgeführten Abenteuern, an den Irrtümern und den Erfolgen des Protagonisten gleichermaßen erfreuen kann. Wie die Säulen des Herkules ist der Roman keine Mauer, sondern ein Portal und damit eine Öffnung in eine andere Welt. Wenn man auch die andere Seite nicht betreten kann und darf, gewährt doch das Portal aus dem sicheren heimischen Gewässer heraus ungewohnte und erregende Blicke auf eine alternative Realität, in der ein Ritter erfolgreich gegen erschreckende Monstren kämpft, in die geheimnisvollen Umstände der Geburt Christi eingeweiht wird und einer Sirene das Herz bricht. Lesen bildet und macht Freude, so behauptet es dieser Roman, ohne dass man sich vor dem eigenen Wissenshunger und Vergnügen fürchten muss.

4.4 Orientierung im Archiv Ähnlich wie im Fall von Wirnts Wigalois nahm man in der Forschung lange Zeit an, dass es sich beim Reinfried von Braunschweig um ein ‚nachklassisches‘ Werk von minderer Qualität handle. Schon im Jahr 1965 hatte zwar Wolfgang Harms gezeigt, dass der polemisch eingesetzte Vorwurf der Epigonalität den Blick auf die künstlerische Leistung des Autors verstellt, wie sie etwa in gezielt eingesetzten intertextuellen Verweisen zum Vorschein kommt.¹²² Bestimmend war dennoch häufig die Ansicht, der Roman sei Ausdruck eines misslungenen Versuchs des Autors, es anerkannten Literaten wie Wolfram oder Hartmann gleichzutun. Derk Ohlenroth beispielsweise betrachtet den Reinfried als Spiegelung von Hartmanns Iwein mit seiner Doppelwegstruktur, wobei allerdings der Erzähler – und mit ihm wohl auch sein Autor – mit einer „Dissoziation von Fiktionalität und Gesellschaft“ zu kämpfen habe.¹²³ Den vorge-

 Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 190.  Vgl. Harms, Epigonisches.  Ohlenroth, Reinfried, S. 96.

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4 Die ganze Welt kontrollieren: Reinfried von Braunschweig

fundenen Erzählstil bezeichnet Ohlenroth als „weithin unerträglich blaß“.¹²⁴ Eine stärker wertschätzende Perspektive nimmt 1990 Walter Haug ein, wenn er feststellt, die Forschung habe den Reinfried kaum wahrgenommen, „obschon er seiner Konzeption nach eine der wirklich großen, d. h. eine der wenigen originären Leistungen der späteren mittelhochdeutschen Literatur darstellt“.¹²⁵ Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu modernen Lektüren des Romans, die dem Text unter anderem zutrauen, selbstreflexive Elemente zu enthalten. Christian Kiening schränkt zwar „[a]n– gesichts der […] Komplexität der Weltentwürfe und Deutungsmuster“ der deutschen Minne- und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts ein, dass man von ihnen „keine alle Aspekte der Narration umgreifende ‚literaturtheoretische‘ Programmatik erwarten“ dürfe.¹²⁶ Dass es aber deutliche Ansätze zu literaturtheoretischen Programmen gibt, stellt insbesondere Klaus Ridder fest, der bei seiner Analyse der literarischen Selbstreflexion im Reinfried vor allem die verschiedenen Erzählerreden (Prolog, Binnenprolog/-epilog, Kommentare etc.) in den Blick nimmt.¹²⁷ Wie aber sieht es mit poetologischen Überlegungen innerhalb der Handlung oder in den Erzählerexkursen aus? Ähnlich wie Hartmanns Gregorius und Wirnts Wigalois reflektiert auch der Reinfried von Braunschweig die Bedingungen dichterischen Schaffens im Medium der Schrift in besonderem Ausmaß an den Stellen, an denen er von der Produktion und Rezeption schrifttragender Artefakte erzählt. In der Magnetbergepisode wird der Kontrollverlust eines jeden Autors über seinen eigenen Text thematisiert, die Unmöglichkeit, die ganze Welt in einen Text zu bannen, sowie die Eigendynamik von Rezeptionsvorgängen, die kein Autor steuern kann. Anhand von Schriftstücken, die in erster Linie als Wissensspeicher dienen, werden die intertextuelle und palimpsestartige Natur erzählender Texte, mögliche Rezeptionshaltungen zwischen Rausch und Distanzierung sowie die bindende Kraft von rechtlich relevanten Dokumenten vorgeführt. Um die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Schreiben, um Möglichkeiten des Missbrauchs von Schrift, um die Zusammengesetztheit von literarischen Kunstwerken und schließlich um die vielfältigen Ziele des höfischen Romans, der zugleich belehren und unterhalten, Neugier kitzeln und vor ihr warnen soll, geht es im Zusammenhang mit schrifttragenden Artefakten, die bestimmte Handlungen bewirken oder verhindern sollen. Zu prüfen ist zuletzt, inwiefern der Magnetberg (d. h. der vieldeutigste und bedeutungsvollste Ort zur Aufbewahrung von Inschriften im ganzen Roman) als Sinnbild der Erzählung gedeutet werden kann, in welchem Ausmaß der Roman insgesamt als Kompendium verfügbaren literarischen, höfischen Wissens erscheint und wie sich

 Ohlenroth, Reinfried, S. 96.  Haug, Aventiure, S. 11.  Kiening, Weltentwürfe, S. 491.  Zur Bescheidenheitstopik in der Erzählerrede und zur Emanzipation von den hochhöfischen Vorbildern vgl. Ridder, Aventiureromane, S. 324– 328. Zur Unterscheidung zwischen Autorfiktion und Erzählerfiktion (nicht nur im Reinfried) vgl. Ridder, Aventiureromane, S. 251– 354.

4.4 Orientierung im Archiv

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die Prologe und Erzählerkommentare zum implicit theorizing innerhalb der Diegese verhalten.

Räume begehen und Geschichten verstehen Der Magnetberg, den der Protagonist gemeinsam mit seinen Reisegefährten besucht, wird in all seinen topographischen und architektonischen Eigenheiten ausführlich beschrieben. Die Rahmenhandlung kommt hier für kurze Zeit zum Stehen. An ihre Stelle treten eine ausführliche descriptio des Ortes sowie eine Binnenerzählung, die die Besucher im Inneren des Berges vorfinden und rezipieren, bevor sie den Ort wieder verlassen. Ähnlich wie den Palast der Natura bei Alanus ab Insulis, die Grabmäler des Pallas und der Camilla in Heinrichs von Veldeke Eneasroman, den Graltempel im Jüngeren Titurel oder das bethûs, in dem Wirnts Japhite bestattet wird, kann man auch Savilons Festung auf dem Magnetberg als imaginären Raum betrachten. In ihm orientieren sich mit den eintretenden Figuren auch die Rezipienten des Romans und erhalten dabei die Möglichkeit, mithilfe einer ebenso kognitiven wie auch ‚leibbezogenen‘ Erfassung des intradiegetischen Ortes das in der Episode dargebotene Wissen mental zu organisieren und zur späteren Abrufung im Gedächtnis abzuspeichern. Mit der „mentale[n] Navigation durch erdichtete Architekturen“ hat sich unter anderen Haiko Wandhoff in mehreren Studien beschäftigt.¹²⁸ Ihn interessiert dabei die Tendenz mittelalterlicher Literatur, ihre poetischen Architekturen als ‚enzyklopädische Fiktionen‘ anzulegen, als virtuelle Datenräume, in denen sich der lesende Besucher eine Fülle enzyklopädischen Welt-Wissens aneignen kann. Dieser Umbau der antiken Gedächtniskunst zu einer Technik der schriftgestützten memoria hat zur Folge, daß die Lektüre als ein mentales ‚Eintreten‘ in den ‚Raum des Textes‘ gedacht wird, bei dem die Bewegungen des Geistes den kinästhetischen Bewegungen des Leibes in realen Räumen nachempfunden sind.¹²⁹

In der christlichen Spätantike und im Mittelalter erhalten solche literarische Verfahren eine heilsgeschichtliche Dimension. Als Vorbilder für mittelalterliche religiöse Architekturbeschreibungen dienen häufig nicht reale, ‚historische‘ Bauwerke, sondern ihrerseits literarische Gebäude wie etwa der Tempel Salomos oder das himmlische Jerusalem. Bei Autoren wie Prudentius, Alkuin, Hermann von Sachsenheim oder Christine de Pizan werde, so Haiko Wandhoff, aus der vorchristlichen Gedächtniskunst ein Instrument, das dem Gläubigen dazu diene, die in der Schrift vor Augen gestellten mentalen Räume nicht nur zu vergegenwärtigen, sondern sie sozusagen im eigenen Inneren nachzubauen: „Sind sie dort einmal implementiert, so lassen sie sich  Haiko Wandhoff: Von der antiken Gedächtniskunst zum mittelalterlichen Seelentempel. Literarische Expeditionen durch die Bauwerke des Geistes, in: Sprache und Literatur 94 (2004), S. 9 – 28, hier S. 10.  Wandhoff, Gedächtniskunst, S. 10.

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4 Die ganze Welt kontrollieren: Reinfried von Braunschweig

immer wieder aufsuchen, um darin über die Dimensionen der christlichen Heilsgeschichte zu meditieren.“¹³⁰ Ziel dieser Implementierung virtueller Räume im Inneren der Lesenden ist die zu wiederholende religiöse Erbauung in einem ganz wörtlichen Sinn.¹³¹ An Textstellen, die von Architekturbeschreibungen dominiert werden, kommt gewöhnlich die Handlung eine Zeitlang zum Stillstand. Dadurch erhält der Leser die Möglichkeit, sich den mehr oder weniger heftigen Bewegungsabläufen und Kursänderungen der Handlung zu entziehen und in dem durch die Ekphrase geschaffenen virtuellen Raum zur Ruhe zu kommen.¹³² Meditierend kann er sich von diesem Punkt aus Orientierung über die gesamte Handlung des Textes verschaffen, seine Konstruktionsmechanismen durchschauen und nachvollziehen und dabei verborgene Bedeutungsebenen ergründen. Der Magnetberg im Reinfried von Braunschweig ist ein solcher Raum, den die Leser gemeinsam mit dem Protagonisten im Geiste abschreiten können: Vom Ufer des Bergs, das von kostbaren, gestrandeten Schiffen umgeben ist, geht es über einen engen smalen stîc (R 21131) in Serpentinen hoch empor (R 21144– 21147). Schließlich gelangen sie zu einem von vier ehernen Toren in einer ehernen Mauer, die den Berg umgibt, und erschrecken zunächst vor einer von vier ebenfalls ehernen Wächterstatuen, die die Tore dieser Festungsanlage bewachen. Später berichtet der Erzähler, dass man vom Gipfel des Magnetbergs eine besonders gute Aussicht habe: wol fünf hundert mîle / in dem agestein man sach / swaz iender ûf dem mêr beschach (R 21720 – 21722: Wohl fünfhundert Meilen weit konnte man vom Magnetberg aus sehen, was auf dem Meer vor sich ging). Von großer Höhe geht es, man weiß nicht genau wie, sodann in große Tiefen: die herren giengen lange / ûf dem steine hin und har. / manger grôzer wunder war / sî ûf dem berge nâmen. / ze jungest ie sî kâmen / an ein hüle diu was tief (R 21264– 21269: Die Herren gingen lange auf dem Berg umher. Sie sahen dort vielerlei Wundersames. Zuletzt gelangten sie in eine tiefe Höhle). In der Höhle finden sie Savilons Grabmal und das vielsprachige angekettete Buch, aus dem sie die Geschichte Savilons und Vergils erfahren. Der Magnetberg erweist sich damit in zweifacher Hinsicht als Aussichtspunkt: Von ihm aus kann man – je nachdem, ob man sich außen auf seinem Gipfel oder in seinem Inneren befindet – räumlich weit übers Meer sehen oder auch zeitlich weit zurück in die Vergangenheit. Die Erde sieht man von oben, die Geschichte von innen. Der Ort gewährt somit wie kein anderer einen mehrere Dimensionen umfassenden Überblick über die Welt.¹³³ Um diesen Überblick allerdings nutzen zu können, müssen die Besucher zuerst eine Interpretationsleistung erbringen. Beim Durchschreiten des Festungstors nämlich – und damit beim Überqueren der topologischen Grenze zwischen unten und oben, innen und außen – macht sich eine auffällige Diskrepanz zwischen dem Wissen  Wandhoff, Gedächtniskunst, S. 10.  Vgl. Wandhoff, Gedächtniskunst, S. 10.  Vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 114.  Der Magnetberg ähnelt, was die von ihm aus gewährte Fernsicht angeht, der wunderbaren Televisionssäule im Parzival, im Presbyterbrief oder im Jüngeren Titurel.

4.4 Orientierung im Archiv

241

des Erzählers und dem der Figuren bemerkbar: Der Erzähler stellt fest, dass es sich bei dem Wächter um eine leblose Skulptur handle. Da die Reisenden davon aber nichts wissen, wundern sie sich über die Bewegungslosigkeit des vermeintlich lebendigen Mannes und wagen es nicht, an ihm vorbeizugehen (R 21176 – 21213). Reinfried löst das Problem, indem er nicht nur weitere Informationen sammelt, sondern ausdrücklich den Willen formuliert, eine Deutung dieser Informationen zu erhalten: ‚sît wir har sîn komen, / sô wirt ouch vol von uns vernomen / waz diz dinc betiute‘ (R 21215 – 21217: ‚Da wir nun einmal hierhergekommen sind, so werden wir auch gänzlich erfahren, was diese Sache zu bedeuten hat‘). Ebenso, wie Reinfried das Gesehene interpretiert (und zu dem Schluss kommt, dass die Figur am Tor leblos und daher ungefährlich ist), muss auch der Rezipient das, was er im nachvollziehenden imaginären Hinauf- und Hinabsteigen erfährt, richtig deuten. Man hat dem Protagonisten des Romans zuweilen vorgeworfen, dass er sich über den geistlichen Gehalt des von ihm Gesehenen keinerlei Gedanken mache.¹³⁴ Die kurze Szene vor dem Tor aber zeigt: Erkenntnisse ergeben sich nicht einfach von selbst; man muss sie sich durch genaues Hinsehen erst erarbeiten. Dies gilt für Reinfried, von dem man nicht erfährt, was er mit seinem neu gewonnenen Wissen über Savilon, Vergil und die Umstände der Geburt Christi anfängt. Es gilt aber auch für das Publikum, das offenbar ebenfalls ohne Hilfe und Anleitung seinen eigenen Interpretationsweg durch den Text finden und beschreiten muss. In der Forschung wurde der imaginäre Raum des Magnetbergs häufig mit Bauwerken verglichen, die der Speicherung von Wissen dienen. So bezeichnet ihn Mathias Herweg eher allgemein als „Verwahrort […] heilsfeindlichen Wissens“,¹³⁵ wobei allerdings spätestens nach Vergils Ankunft und der Geburt Christi das Wissen, das in der Höhle aufbewahrt wird, kaum mehr als heilsfeindlich bezeichnet werden kann. Otto Neudeck sieht in den Baulichkeiten auf dem Magnetberg eine Art Museum.¹³⁶ Für Matthias Meyer wiederum ist der Berg „ein Ort der Texte“, genauer: Er ist die „Bibliothek eines magischen und heilsgeschichtlichen Wissens“.¹³⁷ Der Magnetberg erscheint im Reinfried somit als Bibliothek und als Museum, vielleicht auch als Archiv oder sogar als Wunderkammer – als einen Ort der Wunder jedenfalls nehmen Reinfried und seine Gefährten die Insel wahr.

 „Ein Schauder angesichts der riesigen ehernen Wächter an den vier Toren zum Totenreich Savilons unterbricht nur kurz die andachtslose Aufdeckung der von ihnen gehüteten Geheimnisse; er schlägt bei Reinfrit nach genauerer Betrachtung der tiuvelîch [!] gemacheten krêâtiure pikanterweise in übermütiges Gelächter um, das Erleichterung darüber markiert, daß die Statuen so gefahrlos zu passieren sind, aber keinerlei Reflexion und Gottesdank impliziert (21236 ff.). Auch hier also das längst vertraute Bild: Man labt sich an den Sensationen, statt die von ihnen ausgehenden Signale zu würdigen. Symbolträchtig auf dem Gipfel des Berges erreicht Reinfrits ihm unbewußte Krise ihren ersten Höhepunkt.“ Herweg, Verbindlichkeit, S. 308 – 309.  Herweg, Verbindlichkeit, S. 148.  Vgl. Neudeck, Continuum, S. 176. In Anlehnung an Otto Neudeck bezeichnet Mathias Herweg Reinfried und seine Gefährten denn auch als „Museumsbesucher“. Herweg, Christi Geburt, S. 73.  Meyer, Von Briefen, S. 45.

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4 Die ganze Welt kontrollieren: Reinfried von Braunschweig

Der Magnetberg ist aber mehr als nur ein imaginärer Raum, der unter anderem Bücher enthält. Es handelt sich bei ihm nicht nur um einen Ort, der sinnlich erkundet, sondern auch, zumindest für Reinfried, im übertragenen Sinn selbst um ein Buch, das gelesen werden will.¹³⁸ Die Mauer, die den Magnetberg umgibt, gleicht dem Einband eines Kodex, die ehernen Tore seinen Schließen, die Skulpturen Illuminationen. Das Betreten der Höhle im Inneren des Magnetbergs wird als Leseakt inszeniert: Um Erkenntnisse zu erlangen, ist Vertiefung nötig. Die Wächterstatuen am Eingang, die den Anschein erwecken, am Leben zu sein, signalisieren, dass dieses metaphorische Buch sich zur Wirklichkeit mimetisch verhält. Wahrheiten vermittelt es, indem es lebensechte Täuschungen präsentiert. Darüber hinaus kann man den Eintritt in die Höhle als Allegorie nicht nur der Lektüre, sondern auch des Dichtens betrachten. Reinfried nimmt bei seinem Besuch zusätzlich zur Stelle des Lesers auch die des Dichters ein, der sich mit einer Anzahl von ungeordneten Stoffelementen konfrontiert sieht. Er sichtet das Vorhandene, rekonstruiert das, was verloren gegangen ist, ordnet alles und bringt es in einen zeitlichen und kausalen Zusammenhang, sodass am Ende aus seiner Perspektive (und aus der des Publikums) eine zusammenhängende, sinnvolle Erzählung entsteht. Wenn man aber den Magnetberg metaphorisch als Buch und Erzählung betrachtet – welche Art von Geschichte ist es dann, die der Protagonist an diesem Ort findet oder konstruiert? Zunächst könnte man vermuten, dass der Magnetberg insgesamt als typologische Konstruktion angelegt ist, in der aber nicht alttestamentliche auf neutestamentliche Begebenheiten verweisen, sondern vorchristliche auf christliche. Die vier Tore in der Festungsmauer mit ihren vier ehernen Wächtern, mehr noch aber die vier nekromantischen Bücher Savilons, die die Geburt Christi und damit die Erfüllung des göttlichen Heilsplans verhindern sollen, verweisen aus dieser Perspektive auf die vier Evangelienbücher, in denen von der Menschwerdung Gottes berichtet wird. Sieht man sich allerdings die Schriftstücke genauer an, die nacheinander in der Höhle im Magnetberg verwahrt werden, dann wird deutlich: An diesem Ort präfigurieren die vorchristlichen, ‚heidnischen‘ Schriften Savilons und Vergils nicht im engeren Sinn christliche, sondern profane Werke. Als Profanierung sakralen Wissens erweist sich auch der Zettel in Savilons Ohr, bei dem es sich um das von einem Menschen zugunsten anderer Menschen angefertigte Resultat einer Lektüre in den Sternen handelt. Ihren Weg auf die Erde findet die Sternenschrift auf ähnliche Weise wie die den Gral benennende Sternenschrift im Parzival. Hier wie dort wird sie von

 Auf die beiden Möglichkeiten der handelnden und der lesenden Rezeption weist etwa Werner Röcke hin: „Der Berg ist Ort und modus procedendi des Verstehens und Nachvollzugs von Geschichte, da erst der faktische Vollzug des Wegs in den Berg dessen Geheimnis lüftet. Diese performative Dimension ihrer Reise in den Magnetberg wird von Virgilius handelnd, von Reinfried lesend realisiert.“ Werner Röcke: Die Historisierung des Berges. Perspektiven der Welt- und Heilsgeschichte aus der Innenwelt des Magnetbergs (‚Reinfried von Braunschweig‘), in: Über Berge. Topographien der Überschreitung. Hg. von Susanne Goumegou, Brigitte Heymann, Dagmar Stöferle und Cornelia Wild. Berlin 2012, S. 56 – 62, hier S. 62.

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einem ‚Heiden‘ gelesen und in ‚heidnischer‘ Schrift aufgeschrieben, später von einem Gelehrten entdeckt und schließlich einem christlich-höfischen Publikum nicht in Form religiöser Lehrwerke, sondern weltlicher Romane zur Verfügung gestellt. In dieser Genealogie der Schriftlichkeit erzeugen Sternenschriften zuerst ‚heidnische‘ Schriften. Aus diesen wiederum geht weltliche Dichtung hervor. Das übermittelte Wissen bewegt sich dabei jeweils vom Arkanen zum Zugänglicheren, vom exklusiven Zugriff durch einzelne Gelehrte zur potenziellen Rezeption durch die Gruppe all jener, die höfische Literatur zu lesen, zu verstehen und zu deuten wissen. Interpretiert man die in der Magnetbergepisode immer wieder aufgenommene Vierzahl im Hinblick auf mögliche Rezeptionsweisen, so werden geistliche hermeneutische Zugänge mithilfe des vierfachen Schriftsinns um zahlreiche säkulare Möglichkeiten der Interpretation ergänzt. Der Magnetberg als Palast, Museum, Wunderkammer oder Bibliothek ist, anders als etwa der Graltempel im Jüngeren Titurel, nicht nach dem Modell eines geistlichen Bauwerks konstruiert. Es handelt sich bei ihm um ein reines Menschenwerk mit weltlicher Verwendbarkeit: von einem gottesfeindlichen ‚heidnischen‘ Gelehrten erbaut und benutzt, von einem zwar nicht gottesfeindlichen, aber immer noch ‚heidnischen‘ Gelehrten modifiziert und umfunktioniert, von einem christlichen Ritter schließlich besucht und besichtigt. Im Berg als Sinnbild des Romans wie auch der höfischen Dichtung generell werden ursprünglich ‚heidnische‘ Schriften und Artefakte einer christlichen, vor allem aber einer christlich-höfischen Rezeption zugeführt. Was aus einer theologischen Perspektive als Relikt und Mahnmal einer glücklicherweise überstandenen Epoche angesehen wird, dient in den Augen eines höfischen Autors und seines Publikums als nützliches Konstrukt, aus dem man für die Zukunft Belehrung und kurzewîle (R 21719) zugleich beziehen kann.

Geschriebenes sammeln, ordnen und darstellen Wie andere Werke des 13. Jahrhunderts auch, weist der Reinfried von Braunschweig eine Tendenz zur Sammlung und Kompilierung antiken und zeitgenössischen Wissens auf. In seiner Studie zur Verarbeitung von naturkundlichem Wissen im Reinfried untersucht etwa Herfried Vögel, wie der Autor eine Vielzahl von Informationen, Erzählungen und Diskursen in den Roman integriert. Manche davon baut er in die Handlung ein, um den Protagonisten zu charakterisieren, die meisten aber zitiert er nur knapp an und lässt sie unverbunden nebeneinander stehen. Vögel beobachtet, dass der Autor sich besonders für literarische Topoi zu interessieren scheint. Das Wissen, das der poeta colligens in seinem Roman zusammenträgt, ist damit ein textuell beglaubigtes: „Die Welt, die der Erzähler beschreibt, ist eine Welt aus dem Buch.“¹³⁹ In vielen Fällen legt der Dichter seine Quellen nicht offen. Die Tatsache, dass

 Vögel, Naturkundliches, S. 155 – 156.

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die zitierten Fakten und Erzählungen überhaupt irgendwo aufgeschrieben sind, genügt, um ihnen Gewicht zu verleihen. Dabei ist die Geltung, die sich der Roman von den Werken leiht, auf die er sich beruft, eine abgestufte. Vor allem im zweiten Teil partizipiert die weltliche Literatur in ihrem Glaubwürdigkeits- und Geltungsanspruch vor allem an der Autorität geistlichen Schrifttums. Die ultimative Autorinstanz ist natürlich, wie der Erzähler immer wieder betont, Gott. Eindrücklich sichtbar wird dies daran, dass Gott die Tafel mit den zehn Geboten mit eigener Hand beschriftet (R 13110 – 13113). Zudem tritt er nicht nur als Gesetzgeber, sondern auch als Richter auf, indem er schreibt: Dem Erzähler zufolge sei dem König Nabuchodonosor (Nebukadnezar) sein Sohn Balthasar (Belsazar) auf dem Thron nachgefolgt, habe allerdings schon nach kurzer Zeit aus einem schriftlichen Wunderzeichen erfahren, dass ihn bald sein Verhängnis ereilen werde (Dan 5,1– 30): manes thechel phares im schreip / unsihteclîche an eine want / in sîner hôchgezît ein hant / die Daniêl im mahte kunt / von angenge biz ûf den grunt, / wie er umb wol verschulten haz / von sîme rîch gescheiden was / und von der küneclîchen maht. / dâ von in der selben naht / kam Darîus von Persîâ / und sluog in tôt (R 26760 – 26770). ‚Manes thechel phares‘ schrieb ihm während seines Festes eine Hand in unsichtbarer Weise an eine Wand. Daniel verkündete ihm die Bedeutung vom Anfang bis zum Ende: Wie er nämlich durch wohlverdiente Feindschaft sein Reich und seine königliche Herrschaft verloren habe. Daraufhin kam noch in derselben Nacht Darius von Persien und erschlug ihn.

Das in der Rezeption des Danielbuchs sprichwörtlich gewordene ‚Menetekel‘ wird von Gott (oder zumindest im Auftrag Gottes) geschrieben. Was aber Gott schreibt, das besitzt größtmögliches Gewicht – seine Aussagen müssen beachtet und seine Gebote befolgt werden, seine Urteile werden unabwendbar vollstreckt. Diese unhintergehbare Autorität von Worten, die explizit von Gott persönlich schriftlich geäußert werden, imprägniert letztlich alle Worte der Heiligen Schrift. Auf sie und auf das in ihnen niedergelegte göttliche Gesetz beruft sich der Autor des Reinfried wiederholt, um den Wahrheitsanspruch seiner Aussagen zu untermauern. Die Worte geschriben und gesetzet werden dabei synonym und einander gegenseitig verstärkend verwendet: got der hât zeichenlîch getân / vil dur die gotelîchen ê. / hie und dort daz êwic wê / muoz in sîn verschalten / den die die ê eht halten / went als sî geschriben stât / und als sî got gesetzet hât (R 10894– 10900). Gott hat um des göttlichen Gesetzes willen viele bedeutsame Dinge getan. Überall wird all jenen die ewige Verdammnis erspart werden, die sich eben an dieses Gesetz halten wollen, so wie es geschrieben steht und wie Gott es errichtet hat.

Was geschrieben steht, das ist Gesetz, und umgekehrt. Doch nicht nur Gebote und Verbote, sondern auch Ereignisse, von denen in der Bibel erzählt wird, partizipieren am Geltungs- und Wahrheitsanspruch des göttlichen Worts. Zuverlässige schriftliche Informationen finde man in der Heiligen Schrift etwa über die Herrschaft des Ahasver, über Holofernes’ Ermordung durch Judith oder über den Sieg der Makkabäer über den

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hellenistischen Herrscher Antiochus (R 26718 – 26837). Was in alten Zeiten geschehen sei, habe er, so der Erzähler, aufgeschrieben gefunden und zwar nicht irgendwo, sondern in dem wâren buoche (15905). Alles habe sich genau so zugetragen, als diu biblîâ noch seit: / dâ vint man sunder valschen wân / alliu dinc geschriben an (R 15916 – 15918: wie es die Bibel noch immer sagt. Darin findet man gänzlich wahrheitsgemäß alles aufgeschrieben). Die Heilige Schrift lüge nämlich nicht (R 15895 – 15897). Daher kann sich der Erzähler auch gegen den möglichen Vorwurf wehren, selbst Lügengeschichten zu verbreiten, indem er auf die Wahrhaftigkeit seiner göttlich autorisierten Quelle verweist: nein nein, wan ich bewære / mit der wâren schrifte (R 20858 – 20859: Nein, nein, ich beweise es mithilfe der wahren Schrift).¹⁴⁰ Die Kette der in der Bibel schriftlich niedergelegten und dadurch beglaubigten Ereignisse reicht von der Schöpfung bis in die Zeit des Neuen Testaments, in der von Jesu Kindheit und seinem späteren Wirken erzählt wird.¹⁴¹ Sie endet aber nicht mit dem Neuen Testament. Eine nicht näher spezifizierte ‚wahre Chronik‘ (R 18143) sagt dem Erzähler zufolge aus, dass Titus und Vespasian Jerusalem zerstört hätten, um gotes marter zu rächen (R 18141). Ebenfalls aus einer nicht-biblischen, aber dennoch zuverlässigen crônik sei zu erfahren, wie das Heilige Land nach langen Jahren christlicher Herrschaft in ‚heidnische‘ Hand zurückgefallen sei (R 17974– 17980). Geschrieben stehe zudem, wie Alexander die ‚roten Juden‘ eingeschlossen habe (R 19546 – 19555), und auch im Zusammenhang mit der Geschichte Achills kann sich der Erzähler auf eine schriftliche Quelle berufen. Er teilt mit, wie Achill erst von dem Kentauren Chiron aufgezogen worden sei und dann in Frauenkleidern unter Frauen gelebt habe, und wie Odysseus ihn aufgesucht habe, um ihn für den Trojanischen Krieg zu gewinnen. Am Ende dieser knappen Aufzählung von Ereignissen macht der Erzähler schließlich lapidar darauf aufmerksam, wo man die Geschichte nachlesen könne, nämlich bei Statius: swer ûf ein ort wil wizzen daz / von anevanc unz an daz drum, / der sol lesen Statîum / Achillêides, dâ er / hie von vint sînes herzen ger (R 22590 – 22594). Wer dies alles zur Gänze erfahren möchte, vom Anfang bis zum Ende, der soll die Achilleis des Statius lesen. Davon wird ihm sein Herzenswunsch erfüllt werden.

So, wie man in der Bibel lesen kann, wie die Welt begann, kann man auch die Lebensgeschichten berühmter nicht-biblischer Persönlichkeiten von ihrem Anfang an nachverfolgen, wenn man sich an die richtigen Bücher hält. Interessantes und nützliches Wissen lässt sich aber auch aus Werken gewinnen, die weniger alt sind und deren Anspruch, die Wahrheit über historische Ereignisse zu vermitteln, von Fall zu Fall variiert. Nicht nur von Herzog Ernst und dem Grafen Wetzel hat der Erzähler

 Ein ähnlicher Verweis auf die ‚wahre Schrift‘ findet sich in R 20960 – 20961.  Auch diese Passage wird mit einem Verweis auf schriftliche Quellen eingeleitet, wenn der Erzähler von den Wundern spricht, diu in dem buoch der kintheit von gote noch schône stânt geschriben (R 18018 – 18019: die im Buch von der Kindheit Gottes schön aufgeschrieben sind).

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seinen eigenen Worten zufolge gelesen (R 21056 – 21063). Ausdrücklich bezieht er sich auch auf Wolfram von Eschenbach (R 16584– 16585), wenn er vom Baruc und von Gahmuret erzählt, von Orgeluse, Anfortas, Parzival und dem Gral, und mit den Worten schließt: als ich in sîme buoche vant / von dem von Eschibach geschriben (R 16680 – 16681: wie ich es in seinem Buch fand, geschrieben von dem von Eschenbach). Auch diese Art von Quellenberufung verleiht den eigenen Worten Gewicht und Geltung. Eine Vorlage oder mehrere Vorlagen für sein Werk als Ganzes gibt der Erzähler nicht an, behauptet aber an mehreren Stellen, dass er auch von den Ereignissen um Reinfried, Yrkane und den König von Persien selbst an anderer Stelle gelesen habe.¹⁴² Als wâr bezeichnet er diese Quellen nicht. Sie partizipieren demnach nur lose an der Autorität der biblischen und, in geminderter Form, der verschiedenen nicht-biblischen Schriften, auf die er sich beruft. Allein dadurch aber, dass all diese Schriften, die biblischen und die nicht-biblischen, die christlichen und die nicht-christlichen, die weltlichen und die geistlichen, so unvermittelt nebeneinander stehen, werden sie zusammen Teil eines narrativen Kontinuums, das der Roman als Sammlung und virtuelle Bibliothek religiösen, naturkundlichen, historischen und literarischen Wissens bildet und in dem die Geschichten über Herzog Ernst auf dem Magnetberg und Gahmuret beim Baruc von Baldac als kaum weniger informativ und nützlich bewertet werden als die über den Propheten Daniel im Feuerofen. Der Erzähler des Reinfried charakterisiert aber nicht nur sich selbst als Leser, der das Gelesene für sein gleichfalls lesendes Publikum zusammenstellt und aufbereitet (R 22816),¹⁴³ sondern auch seine Protagonisten: Reinfried liest gemeinsam mit seinen Gefährten auf dem Magnetberg das an der Höhlenwand angekettete Buch (R 21302– 21715). Und Yrkane weiß sich die Wartezeit mit allerlei Beschäftigungen zu vertreiben, von denen die Handarbeit sie mitunter nicht recht befriedigt, sodass sie zu unterhaltsamen Büchern greift: sô sî vil lîhte des verdrôz, / sô tet sî aber etewaz, / wan sî vil dicke an buochen las / von hôher âventiure (R 23280 – 23283: Wenn sie davon genug hatte, dann tat sie etwas anderes. Sie las oft in Büchern von edler Aventiure).¹⁴⁴ Im Bild Yrkanes, die von Abenteuern liest, spiegelt sich die Situation, in der sich das Publikum des Reinfried befindet. Niemand weiß, welche Bücher mit welchen Geschichten Yrkane in der Hand hält. Ganz sicher allerdings beschäftigt sie sich in ihrer Lektüre mit genau demselben Thema, das auch die Leser des Reinfried fesseln soll: mit hôher âventiure. In dieser angedeuteten mise en abyme wird nochmals deutlich, dass aus der Sicht des Autors kein einzelnes Buch und kein einzelnes Werk den Anforderungen eines wissbegierigen und lesefreudigen Publikums Genüge tun kann – gefragt ist innerhalb der Diegese ebenso wie jenseits davon eine Pluralität des Lesestoffs, sei es in Form einer Sammlung von Büchern, sei es in Form eines einzigen Buchs, in dem

 Vgl. R 16765, 20978 und 22312.  An anderer Stelle ist hingegen vom Hören die Rede (vgl. z. B. R 18310).  Zu Reinfried und Yrkane als Leser und Leserin vgl. Vögel, Naturkundliches, S. 160.

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vielfältige Wissensbestände und Erzählungen gesammelt, kunstfertig angeordnet und zur weiteren Lektüre aufbereitet sind.

Textarbeit In den Exkursen und Kommentaren, in denen der Erzähler im Reinfried die Bedingungen dichterischen Schaffens reflektiert, erscheint der Autor stets als Arbeiter, der seinen Text unter Mühen und gegen große Widerstände hervorbringt. Am deutlichsten wird dies in einer explizit selbstreflexiven Passage des Binnenprologs (oder, je nach Perspektive, des Binnenepilogs), in der sich der Erzähler auf zweierlei Weise als Dichter charakterisiert, der auf den ersten Blick in den Augen der Welt unbedeutend wirkt, für seine Bemühungen aber durchaus Anerkennung fordern darf. Zuerst klagt er darüber, dass Gott ihn leider nicht in ausreichendem Maß mit seiner Gunst bedacht habe, damit er der welte künde geben rât (12881: jedermann gut raten könne). Angesichts des Mangels an Begabung aber, an dem er unschuldig sei, dürfe man die harte Arbeit nicht vergessen, die er leiste. Schließlich müsse man auch bei der Betrachtung einer kleinen Ameise deren Erfolge zu ihrer geringen Körpergröße in Beziehung setzen: ez treit ein klein ameizelîn / nâch sîner mâze, ist mir bekant, / swærer denn ein helfant / und seit man ims dâ kleinen danc. / daz ist unreht, wan ez ist kranc. / im tuot diu bürde deste wirs (R 12886 – 12891) Eine kleine Ameise trägt, wie ich weiß, gemessen an ihrer Körpergröße schwerere Lasten als ein Elefant. Man dankt es ihr aber nicht. Das ist nicht recht, denn sie ist schwach – die Last wiegt für sie umso schwerer.

Was wirklich zählt, so der Erzähler, sei nicht der äußere Anschein, sondern das, was im Herzen eines jeden Menschen vor sich gehe (R 12900 – 12902). Die sich abmühende kleine Ameise solle daher angesichts des großen Elefanten kein geringeres Ansehen genießen. Herfried Vögel macht in diesem Zusammenhang auf eine Deutungsdimension aufmerksam, die auf den kompilatorischen Charakter des Romans abzielt. Die Ameise sei in der mittelalterlichen Literatur dafür bekannt, dass sie im Sommer Nahrung sammle, um auf diese Weise gut für den Winter vorzusorgen. Vögel schließt daraus, dass der Dichter seine Leistung vor allem „im Sammeln und Bewahren vorhandener Stoffe und Kenntnisse“ sehe.¹⁴⁵ Wie die Ameise erfindet der Dichter nichts, sondern trägt zusammen, was bereits vorhanden ist.¹⁴⁶ In diesem Bild widersetzt sich

 Vögel, Naturkundliches, S. 157.  Eine Interpretation, die eher von einer geistlichen Lesart ausgeht, schlägt Wolfgang Achnitz vor: „Das Erzählen der zweiten Romanhälfte will der Erzähler demnach nicht mehr als Frauendienst, sondern als Gottesdienst verstanden wissen.“ Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 125.

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der Autor, so Klaus Ridder, dem ästhetischen Anspruch der höfischen Literatur um 1200: Dichterische Leistung sei nicht am ästhetischen Ideal der hochhöfischen Leitbilder, sondern an der Relation von individuellem – begrenztem – künstlerischen Vermögen und absolutem – nicht nachlassendem – ethischen Wollen zu messen. Der starren Idealität ist ein subjektiver Standpunkt entgegengesetzt. Die Subjektivierung der dichterischen Leistung schafft erst die Möglichkeit zu einer objektiven Beurteilung des Werkes: Das unerreichbare Kunstideal wird ausgeblendet, dadurch nicht ausdrücklich angetastet, aber dennoch in seiner universellen Gültigkeit deutlich eingeschränkt.¹⁴⁷

Der Autor des Reinfried von Braunschweig orientiert sich an Wolfram, Hartmann und Gottfried, ohne vorzugeben, sich mit ihnen messen zu können oder zu wollen. Sich selbst beschreibt er als fleißigen Arbeiter am Text, als Handwerker, der vorhandene Materialien zusammenbringt und neu anordnet. Die zweite, an das Bild von der Ameise anschließende Parallele zieht der Erzähler zwischen sich und einem armen Mann, der ebenso das Himmelreich gewinnen will wie ein Reicher, ohne sich jedoch durch spektakuläre Taten auszeichnen zu können. Ein König etwa könne durch große Freigiebigkeit glänzen, was einem Armen verwehrt sei. Ausgleichen könne ein armer Mann seinen Mangel an Handlungsmöglichkeiten durch Willensstärke: der wille in sînem muote / fürtrift des rîchen milten tât (R 12912– 12913: Seine Willenskraft übertrifft die Tat des reichen, freigebigen Mannes). Aus dieser Beobachtung zieht der Erzähler Schlüsse für sein eigenes Tun: ob ouch mîn sin niht künste hât, / sô vollefüert mîn wille doch / den sin mit girde (R 12914– 12916: Wenn auch mein Verstand nicht über Kunstfertigkeit verfügt, so vollzieht doch mein Wille, was der Verstand begehrt). Mit diesen Sätzen endet der Binnenprolog. Anschließend fährt der Erzähler mit der Handlung um Reinfried und Yrkane fort und führt damit praktisch aus, was er zuvor theoretisch erläutert hatte: Entschlossenheit und die rechte Absicht rechtfertigen eine Tat auch dann, wenn sie von einem wenig privilegierten Ausgangspunkt aus erfolgt. Nur handeln muss man eben, so beschwerlich es sich auch anlässt. Das Erzählen eines Romans ist aus dieser Sicht ähnlich mühsam, aber auch ähnlich verdienstvoll wie ein Ameisenleben oder gar wie die Anstrengungen, die erforderlich sind, um in den Himmel zu kommen. Dass es dem Autor des Reinfried trotz all dieser zur Schau getragenen Bescheidenheit und Demut keineswegs an dichterischem Selbstbewusstsein mangelt, wird an zwei Exkursen deutlich, in denen von der Gewinnung wertvoller Materialien die Rede ist. Einer dieser beiden Exkurse stellt möglicherweise ähnlich wie die Bilder von der Ameise und dem Elefanten sowie von dem reichen und dem armen Mann eine Allegorie auf das mühevolle, aber mit begehrenswerten Ergebnissen belohnte dichterische Schaffen dar. Der Exkurs handelt von einer bewährten Methode der Jagd auf den Feuersalamander und von der Art und Weise, sich die von Feuersalamandern er-

 Ridder, Aventiureromane, S. 326.

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zeugten Stoffe anzueignen. Erzählt wird davon im Zusammenhang mit Reinfrieds Besuch am Hof des Königs von Ascalon. Hier erhält der Protagonist als Geschenk unter anderem ein Kleidungsstück aus Feuersalamanderstoff. Der Erzähler erklärt, wie man solch eines Salamanders habhaft wird: Man errichtet nahe des feurigen Bergs, in dem die Salamander leben, eine Reihe von Scheiterhaufen, von denen man zunächst nur den entzündet, der dem Berg am nächsten ist. Sobald dies ein Salamander wahrnimmt, zieht es ihn mit Macht zu diesem neuen, heißen Feuer: daz fiur brinnet sô helle / heiz und in gar schœner pfliht. / als daz der salamander siht, / sô ziuht er dur die hitze dar, / wan daz helle fiur in gar / tuot an allem lîbe frisch. / als ein gevangen wîgervisch, / sô der kunt in frischen fluz, / ze glîcher wîse reht alsus / tuot hie der salamander (R 26482– 26491). Das Feuer brennt sehr hell, heiß und schön. Wenn der Salamander das sieht, dann bewegt er sich aufgrund der Hitze dorthin, da das helle Feuer ihn am ganzen Körper erfrischt.Wie ein gefangener Weiherfisch, der in einen kühlen Fluss gelangt – genau so verhält sich hier der Salamander.

Sobald das erste Feuer erlischt, entfacht man ein zweites, weiter entferntes, das das Tier abermals anlockt, daraufhin ein drittes, viertes und fünftes. Nachdem der letzte Holzhaufen erloschen ist, versucht der Salamander, von hier aus zu seinem Berg zurückzukehren, vermag es aber nicht, da er nur im Feuer am Leben bleiben kann. Auf diese Weise kann man die von ihm in den verschiedenen Scheiterhaufen gesponnene Salamanderseide ‚ernten‘ und den Salamander selbst fangen und töten. Man hat die Stelle meistens so gedeutet, dass der Erzähler hier implizit Kritik am Verhalten Reinfrieds übt, der im zweiten Teil des Romans, ähnlich wie der Feuersalamander, von einer Attraktion zur nächsten eilt und dabei Gefahr läuft, den Rückweg in seine Heimat nicht mehr zu finden.¹⁴⁸ Man könnte aber auch behaupten, dass dieser Exkurs ein (vielleicht ernsthaftes, vielleicht aber auch selbstironisches) Bekenntnis zum eigenen dichterischen Werk darstellt, das zu großen Teilen aus Exkursen und Abschweifungen besteht. Wer aber wäre in diesem Bild der Autor? Ist es der Salamander, der seine Texturen nicht in einem unzugänglichen Vulkan, sondern draußen in der Welt hervorbringt? Dann wäre der Exkurs eine besondere Variante des Bescheidenheitstopos – oder das genaue Gegenteil davon: Statt vollkommene Kunstwerke zu schaffen, die nur ihn und seinesgleichen erfreuen, spinnt der Autor seine schillernden, vielfarbigen Stoffe draußen in der Welt, wo sie für all diejenigen zugänglich sind, die sich an ihrer Kostbarkeit und dem von ihnen ausgehenden wandellîchen schîn (R 26380) erfreuen. Der Autor selbst hat davon keinen Vorteil, er wird ausgebeutet, beraubt und sogar zugrunde gerichtet. Ebenso, wie der Stoff des Feuersalamanders in Kleidungsstücke verwandelt wird, werden die Werke des Autors in Nutzgegenstände transformiert. Es ist aber auch möglich, den Autor nicht im Salamander, sondern im Salamanderjäger zu sehen, dem es mit List und pragmatischem Sachverstand gelingt, einen kostbaren ‚Roh-Stoff‘ zu fördern und daraus ein noch

 Vgl. Ohlenroth, Reinfried, S. 80 – 82; Vögel, Naturkundliches, S. 118 – 132; Achnitz, Babylon und Jerusalem, S. 147– 149 und 208.

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kostbareres Artefakt anzufertigen. Die Dichtung würde dann durch die Hand des Autors vom ungeformten Material zum Kleidungsstück, das den höfischen Menschen schmückt und auszeichnet. Die Haltung des Autors gegenüber dem eigenen Schaffen wird noch an einem zweiten Erzählerexkurs deutlich, der Kollektion und Lektüre miteinander in einen Zusammenhang bringt. Im Kaukasus-Exkurs leitet der Dichter aus der Doppelbedeutung des Wortes lesen implizit eine Aussage über den Wert seines Werks ab. Das Kaukasusgebirge, so wird anlässlich von Reinfrieds Reise dorthin erzählt, ist voller Gold. Dieses lässt sich allerdings nur unter schwierigen Umständen gewinnen, da Hitze, Kälte und vor allem die Anwesenheit gefährlicher Greifenvögel die Bewohner des Gebirges daran hindert, es abzubauen. Die Greifen hüten das Gold eifersüchtig, wie der Erzähler gelesen hat: wan der grîfe brüetet / sîn eiger nienâ sicherlîch / wan in golde, daz hân ich / von im eigenlîch gelesen (R 18256 – 18259: Der Greif brütet seine Eier nämlich gewiss ausschließlich im Gold aus, wie ich ausdrücklich von ihm gelesen habe). An das Edelmetall kommen die Menschen, indem sie spitze Steine in Ochsenhäute einnähen und diese den Greifen überlassen. Sobald die Vögel bemerken, dass sie den Inhalt nicht fressen können, lassen sie die Pakete fallen. Durch den Aufprall der Steine löst sich das Gold in Klumpen von den Bergwänden und kann nachts von den Menschen aufgesammelt werden: sô kument denn die wîsen / und lesent ez bî nahte dan (R 18302– 18303: Dann kommen die Klugen und lesen es nachts auf). Durch die Nachbarschaft der beiden Textstellen wird ein Zusammenhang zwischen den Bedeutungen des Wortes lesen im Sinne von ‚rezipieren‘ und von ‚einsammeln‘ hergestellt. So, wie die Menschen im Kaukasus unter großen Mühen die von ihnen geschürften Kostbarkeiten sammeln, so sammelt der Dichter lesend nützliche Stoffe, Daten und Motive. Auch er kann identifizieren, was kostbar ist, und auch er trennt wertlose Steine von wertvollem Gold und macht sich Letzteres zu eigen, um es auch anderen Menschen zugänglich zu machen. Wenn der Reinfried von Braunschweig im übertragenen Sinn eine Bibliothek ist, dann handelt es sich dabei um eine Bibliothek, deren Zusammenstellung planvoll, nach Augenmaß und mit der Hingabe des Sammlers erfolgt, der weiß, welche Elemente es wert sind, von ihm aufgenommen zu werden. Eine enzyklopädische Anlage, so behauptet es der Roman in der Kaukasus-Episode, bedeutet keineswegs, dass keine Auswahl erfolgt. Sowohl die geistlichen als auch die weltlichen Verweise, mit denen der Dichter seinen Roman anreichert, unterliegen, das suggeriert der Exkurs, strengen Auswahlkriterien. Die Zitate und Anspielungen, die tatsächlich in den Text aufgenommen werden, sind im wahrsten Sinn des Wortes Gold wert.

5 Kontrolliert werden: Wolframs von Eschenbach Parzival, Albrechts Jüngerer Titurel, der Lohengrin Die drei Texte, die hier bisher mit einem Fokus auf schrifttragende Artefakte untersucht wurden, erzählen von diesen Gegenständen auf unterschiedliche Weise: Hartmanns Gregorius kennt mit der Elfenbeintafel der Mutter ein zentrales Schriftstück, das über den gesamten Verlauf der Handlung hinweg immer wieder in verschiedenen Rezeptionssituationen gezeigt wird. Mithilfe der beschrifteten Tafel will die Schreiberin eine Aussage über das eigene Leben machen und das ihres nächsten Verwandten kontrollieren – die Umsetzung gelingt allerdings nur bedingt, da sie ebenso wenig wie jeder andere Schreibende die Lektüreerfahrungen ihrer Leser vollständig antizipieren und steuern kann. In Wirnts Wigalois hingegen kommt erst nach zwei Dritteln der Handlung eine besonders elaborierte Inschrift ins Spiel, deren Eigenschaften sich im Folgenden an einer ganzen Reihe von anderen Gegenständen und Personen wiederfinden. Indem der Protagonist des Romans seinen Hauptgegner tötet und dessen Geliebte bestattet und beschriftet, beweist er, dass er alles und jeden in seinem Herrschaftsbereich und darüber hinaus kontrollieren kann. Dies geschieht um den Preis der Verdinglichung und Stillstellung mancher der Personen, die er kontrolliert. Im Reinfried von Braunschweig schließlich sind Schriftstücke verschiedenster Machart und Wirkweise über die gesamte Handlung verstreut. Der Autor demonstriert damit ein ganzes Spektrum an Funktionen schrifttragender Artefakte. Auf dem oder im Magnetberg, wo besonders viele verschiedene Schriftstücke versammelt sind, soll Schrift der Ausübung von Kontrolle über die ganze Welt dienen. Auch dieses Projekt scheitert daran, dass die Rezeption von Worten weder verhindert noch gelenkt werden kann, sobald sie sich einmal schriftlich in der Welt materialisiert haben. Zuletzt soll nun die Vorstellung betrachtet werden, dass es nicht zwingend menschliche Akteure sein müssen, die sich selbst, ihren verwandtschaftlichen Nahbereich, ihren Herrschaftsbereich oder die ganze Welt zu kontrollieren versuchen, indem sie über sich und andere schreiben. Auch schreibende und lesende Menschen sind nämlich zuweilen ihrerseits Objekte von Schreibakten, die von außen und oben dekretieren, wer sie sind, wie sie sich verhalten sollen und was aus ihnen werden wird. Im Folgenden wird zudem nicht ein weiterer Einzeltext untersucht, zum Beispiel Wolframs Titurel mit seinem berühmten Brackenseil, Konrads von Würzburg Trojanerkrieg mit dem Apfel der Discordia oder der Prosa-Lancelot mit seiner Vielzahl wahrhaftiger und lügnerischer Grabinschriften – zumal über diese Romane und die in ihnen enthaltenen Inschriften schon längst zahlreiche Erkenntnisse gewonnen wurden.¹ Im Folgenden werde ich vielmehr gleich drei Romane des 13. Jahrhunderts be Zum Brackenseil vgl. z. B. Karl Bertau: Poetische Spiegelreflexe. Zum deutenden Erzählen des Erzählers, in: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hg. von Johannes Keller und Florian Kragl. Göttingen, Wien 2009, S. 25 – 40; Siegfried Christoph: Authority and Text in Wolfram’s ‚Titurel‘ and ‚Parzival‘, in: DVjs 73 (1999), S. 211– 227; Schmid, Brackenseilepisode; Helmut https://doi.org/10.1515/9783110689693-006

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

trachten, die insofern an einer gemeinsamen erzählten Welt partizipieren, als sie einen Schriftträger mit einem hohen Wiedererkennungswert in ihr Gegenstandsinventar aufnehmen. Es handelt sich dabei um den Gral, der zwar nicht in allen, aber doch in einigen Gralromanen als Übermittler von schriftlichen Botschaften inszeniert wird. Am Beispiel von Wolframs von Eschenbach Parzival, Albrechts Jüngerem Titurel und dem anonym überlieferten Lohengrin soll gezeigt werden, auf welch unterschiedliche Weisen drei höfische Dichter von einem Schriftträger erzählen können, der für ihr Publikum über die Grenzen eines einzigen Textes hinweg allein durch seinen Namen eindeutig identifizierbar und unverwechselbar ist. Wolfram hat den Gral nicht erfunden – doch er hat ihm zu Beginn des 13. Jahrhunderts Eigenschaften verliehen, durch die er sich von seinem etwas älteren Pendant bei Chrétien de Troyes deutlich unterscheidet. Aufgenommen und modifiziert wurde Wolframs Darstellung um 1270 im Jüngeren Titurel, einer strophischen Bearbeitung von Wolframs Parzival und Titurel durch einen Dichter, der sich gegen Ende seines Romans selbst als Albreht bezeichnet.² Im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, wahrscheinlich zwischen 1283 und 1289, entstand schließlich mit dem Lohengrin ein dritter Text, in dem sich Gott mithilfe von Inschriften auf dem Gral mitteilt und der sowohl von Wolfram als auch von Albrecht beeinflusst ist.³ Alle drei Texte enthalten neben Passagen, in denen von Gralinschriften die Rede ist, noch andere Lese-, Schreib- und Schriftszenen – Wolframs Parzival schildert sogar so viele, dass allein dieser Umstand bereits das Interesse der Forschung erregt hat. Albrechts Jüngerer Titurel steht ihm darin kaum nach und erzählt überdies ausführlich von einer der heute vielleicht bekanntesten fiktiven Inschriften der höfischen Lite-

Brackert: Sinnspuren. Die Brackenseilinschrift in Wolframs von Eschenbach ‚Titurel‘, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg. München 1996, S. 155 – 175; Haug, Literaturtheorie, S. 355 – 366; Sidney M. Johnson: Das Brackenseil des Gardeviaz zwischen Wirklichkeit und Phantasie, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Hg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S. 513 – 519. Zum Apfel der Discordia vgl. besonders Huber, Apfel. Zu den Grabinschriften im Prosa-Lancelot vgl. besonders Witthöft, Finalität.  Allgemein zum Jüngeren Titurel vgl. Dietrich Huschenbett: Art. ,Albrecht, Dichter des „Jüngeren Titurel“‘, in: VL Bd. 1, Sp. 158 – 173.  Vgl. Thomas Cramer: Art. ‚Lohengrin‘, in: VL Bd. 5, Sp. 899 – 904. Zur Frage der Datierung vor oder nach 1300 vgl. Heinz Thomas: Der Lohengrin, eine politische Dichtung der Zeit Ludwigs des Bayern, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 37 (1973), S. 152– 190; Heinz Thomas: Weitere Überlegungen zur Datierung des ‚Lohengrin‘, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 42 (1978), S. 455 – 467; Heinz Thomas: Paläographische Tücken: Zur Datierung des ‚Lohengrin‘, in: ZfdPh 114 (1995), S. 110 – 116; dagegen Christa Bertelsmeier-Kierst und Joachim Heinzle: Zur Datierung des ‚Lohengrin‘. Das Zeugnis der Koblenzer (Berliner) Fragmente Cf, in: ZfdA 122 (1993), S. 418 – 424 sowie Christa Bertelsmeier-Kierst und Joachim Heinzle: Paläographische Tücken! Noch einmal zur Datierung des ‚Lohengrin‘, in: ZfdPh 115 (1996), S. 42– 54. Eine künftige Untersuchung wert wäre auch die Neukontextualisierung von Gral und Gralinschrift im Lorengel, einer Bearbeitung des Lohengrinstoffs aus dem 15. Jahrhundert mit engen Beziehungen zum Lohengrin. Vgl. Lorengel. Édité avec introduction et index par Danielle Buschinger. Mélodie éditée par Horst Brunner. Göppingen 1979.

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ratur, nämlich von dem ursprünglich wolframschen Brackenseil.⁴ Was allerdings alle drei Texte über ein allgemeines Interesse an Schrift und Schriftlichkeit hinaus miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass in jedem von ihnen der Gral zuweilen Inschriften trägt und dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Gralwelt gewisse Bemühungen unternehmen müssen, um diese Inschriften zu deuten, zu verstehen und in von Gott sanktionierte Handlungen umzusetzen. In Wolframs Parzival wird der Gral erstmals namentlich benannt und eingeführt, nachdem bereits mehr als ein Drittel der Handlung verstrichen ist. Als ein bedeutendes Zentrum der erzählten Welt tritt er an drei Stellen besonders prominent hervor: beim ersten Mal als physisch präsenter Gegenstand, mit dem Parzival auf der Gralburg konfrontiert wird, den der junge Mann aber nicht kennt und dessen Bedeutung er nicht versteht; beim zweiten Mal als physisch abwesender, aber durch Rede vergegenwärtigter Gegenstand von Trevrizents Erklärungen; und beim dritten Mal als erneut physisch anwesender Gegenstand, mit dessen Eigenschaften der neue Gralkönig nun vertraut ist. Parzival begegnet dem Gral also in einem Dreischritt von unwissender Konfrontation, vermittelter Konfrontation durch Erläuterung und wissender Konfrontation.⁵ Zugleich strukturieren seine Begegnungen mit dem Gegenstand zwar seinen Weg zum Gralkönigtum, keineswegs aber sein ganzes Leben und schon gar nicht die gesamte Handlung des Romans. Parzivals Vater Gahmuret etwa hat mit dem Gral nichts zu tun, Parzivals Freund Gawan hat seine eigenen Probleme und muss sich um den Gral nicht sorgen und sogar der künftige Gralkönig Parzival selbst hat ein Leben, bevor er zur Gralburg kommt: Immerhin wächst er zu einem jungen Mann heran, verlässt seine Mutter, tötet einen Verwandten, erhält eine Schnellausbildung zum Ritter, heiratet und wird Landesherrscher – und all dies, bevor er auch nur weiß, dass der Gral überhaupt existiert. Allerdings steht der Gral am Ende seiner Geschichte, und dies, strenggenommen, sogar doppelt: In der Haupthandlung wird Parzival zuletzt Gralkönig; und die zweite der beiden ‚Nachgeschichten‘ über Feirefiz und Loherangrin endet damit, dass Loherangrin nach dem Scheitern seiner Ehe zum Gral zurückkehrt. Das heißt: Der Parzival beginnt zwar nicht mit dem Gral, aber er endet mit ihm. Albrecht hingegen nutzt den Gral als Klammer, die die Gesamtheit seines monumentalen Werks umfasst. Eine stark raffende Vorgeschichte um Titurels Herkunft, Geburt und Erziehung hält er relativ kurz (JT Str. 90 – 270). Die eigentliche Handlung beginnt damit, dass Titurel zum Gral geführt wird, ihm einen Tempel erbaut und für den Rest seines mehrhundertjährigen Lebens auf ihn achtgibt, bis er das Gralkönig-

 Zu Schriftlichkeit im Jüngeren Titurel allgemein vgl. Volfing, Medieval Literacy. Zum Brackenseil im Jüngeren Titurel vgl. besonders Katharina Philipowski: ‚We, daz ie man die strangen sach geschribene!‘ Gehörte und gelesene Schrift in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘, in: IASL 34 (2009), S. 49 – 74.  Zwischen der ersten Begegnung und Parzivals endgültigem Ankommen auf der Gralburg wird die Existenz des Grals stets im Gedächtnis des Publikums wachgehalten, indem Parzival in regelmäßigen Abständen immer wieder äußert, wie sehr es ihn nach dem Gral (und seiner Frau Condwiramurs) verlangt (z. B. in P 296,5 – 7, 389,8 – 11 oder 467,26 – 30).

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tum an seinen Sohn Frimutel weitergibt. Nach der Geburt Sigunes (JT Str. 669) folgt die Handlung dann lange Zeit ihr, Tschinotulander und den endlosen Streitereien um das begehrte Brackenseil. Erst ab Str. 5236 rückt der Gral mit der Parzivalerzählung wieder näher und ab Str. 6046 wird erzählt, wie er für immer aus Europa abtransportiert und nach Indien gebracht wird. Das heißt: Albrecht beginnt seine Erzählung mit dem Gral und er beendet sie mit ihm. Am Anfang wird der Gegenstand im Westen der bekannten Welt offenbart, am Ende bewegt er sich in den entfernten Osten. Alles, was dazwischen geschieht – und das ist nicht gerade wenig –, wird durch diesen Rahmen perspektiviert: Die Menschen haben, vom Ende her gesehen, eine unvergleichliche Chance erhalten, haben sie aber nicht angemessen genutzt und müssen sich ihr Unglück daher selbst zuschreiben. An die Stelle des doppelten Freudenfestes bei Wolfram tritt der Abgesang auf alles, was die dem Untergang geweihte westliche Welt zu bieten hat. Da ist es nur konsequent, dass Lohrangrin nicht nur eine schwierige Ehe hinter sich lässt, sondern von den Verwandten seiner zweiten Ehefrau regelrecht zerstückelt wird. In einer solchen Welt kann der Gral nicht bleiben. So, wie er den Menschen gegeben wurde, wird er ihnen auch wieder genommen. Der Lohengrin, der, im Gegensatz zu Albrechts Jüngerem Titurel, Wolframs zweite ‚Nachgeschichte‘ ausführlich erzählt, ist durch die Gralepisoden nochmals anders strukturiert:⁶ Hier beginnt die Geschichte damit, dass die bedrängte Landesherrin Elsam dringend Hilfe benötigt, man im Gralreich davon erfährt und ihr einen Helfer schickt, der nicht nur Elsams lästigen Werber besiegt, sondern auch lange Zeit standhaft an der Seite des späteren Kaisers Heinrich kämpft. Gegen Ende der Erzählung ist dann noch einmal vom Gral und seinen Inschriften die Rede, nachdem nämlich Elsam die verbotene Frage gestellt hat und Lohengrin ihr erklärt, wer er ist und woher er kommt, bevor er wieder verschwindet. Im Lohengrin ist es nicht der Gral, der eine die Erzählung umschließende Klammer bildet, sondern die Geschicke weltlicher Persönlichkeiten und Territorien: Am Anfang und am Ende der eigentlichen Geschichte steht die einsame Fürstin von Brabant. Nach dem Abschluss der narrativen Teile des Textes schließt sich zudem noch ein chronikartiger Überblick über einen Teil der deutschen Kaisergeschichte an. Während also bei Wolfram am Ende sowohl das Gralkönigtum als auch die arthurische Tafelrunde ihre Daseinsberechtigung besitzen und während bei Albrecht der Gral jeglichem allzu weltlichen Treiben eine klare Absage erteilt, stellt sich der Gegenstand im Lohengrin letztlich ganz in den Dienst weltlicher, kaiserlicher Herrschaftsansprüche.

 Albrecht verzichtet darauf, die Geschichte von Lohrangrins erster Ehe zu erzählen. Er deutet sie lediglich an (vgl. JT 5999,1– 4).

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5.1 Briefe vom Himmel Der Gral ist ein Medium, mit dessen Hilfe Gott sich den Menschen mitteilt. Die Kommunikation verläuft asymmetrisch: In keinem Gralroman kommt jemand auf die Idee, den umgekehrten Weg zu gehen und sich Gott mitzuteilen, indem er eine Inschrift auf dem Gral anbringt. Das ist insofern keine Selbstverständlichkeit, als es durchaus mittelalterliche Erzählungen gibt, in denen Menschen sich schriftlich an Gott oder an im Jenseits befindliche heilige Persönlichkeiten wenden. In der Magdalenenlegende der Legenda Aurea beispielsweise wird davon berichtet, dass ein sündiger Mann seine Sünden auf einen Zettel schreibt und ihn der ehemaligen Sünderin anvertraut, woraufhin die Sünden offenbar gleichzeitig von seiner Seele und von dem Schriftstück getilgt werden: Quidam dum peccata sua in quadam schedula scrpsisset [sic], eam sub palla altaris beatae Mariae Magdalenae posuit rogans eam, ut sibi indulgentiam impetraret. Qui post modicum schedulam accipiens peccata sua de ipsa schedula omnino deleta invenit. ⁷ Ein Mann schrieb seine Sünden auf einen Zettel und legte ihn unter das Altartuch der heiligen Maria Magdalena mit der Bitte, für ihn Verzeihung zu erlangen. Als er wenig später den Zettel wieder an sich nahm, fand er seine Sünden auf dem Zettel vollständig getilgt.

In den Gralromanen hingegen ähnelt die Kommunikationssituation eher der in der Ägidiuslegende: Menschen teilen sich Gott mündlich mit, Gott schreibt. Da sich die Rollen nicht umkehren können, die Menschen sich also stets am empfangenden Ende des Kommunikationskanals befinden, ist diese Art der Kommunikation grundsätzlich einseitig. Auf das Kommunikationsmedium, den Gral, greifen die beiden Parteien folglich in unterschiedlicher und von vornherein festgelegter Weise zu. Was die Übermittlung von Botschaften angeht, ist der Gral für Gott eine Art Sender und für die Menschen ein Empfangsgerät. Was genau aber empfangen die adressierten Menschen da eigentlich? Was hat es zu bedeuten, dass die Inschriften auf dem Gral auch wieder

 Jacobus de Voragine: Legenda Aurea/Goldene Legende. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Bd. 2. Freiburg, Basel, Wien 2014, S. 1256/1257. Das Motiv des ‚geleerten Sündenzettels‘ findet sich auch in anderen Legenden, zum Beispiel in einer Jacobuslegende (de Jacobo apostolo): Quidam, ut ait Beda, cum enorme unicum peccatum commisisset et episcopus confitentem absolvere timuisset, hominem illum cum schedula, in qua illud peccatum scriptum erat, ad sanctum Iacobum misit. Cum ergo in festo eiusdem schedulam super altare posuisset et sanctum Iacobum, ut illud peccatum deleret suis meritis, exoraret, schedulam postmodum aperuit et penitus deletum inveniens deo et sancto Iacobo gratias reddidit et factum omnibus publicavit (Legenda Aurea S. 1282/ 1283: Als ein Mann, wie Beda berichtet, eine ungeheure Sünde beging und der Bischof ihm in der Beichte nicht zu vergeben wagte, schickte er den Mann mit einem Zettel, auf dem jene Sünde stand, zum heiligen Jakobus. Als er nun den Zettel an dessen Festtag auf den Altar legte und den heiligen Jakobus bat, jene Sünde durch seine Verdienste zu tilgen, öffnete er später den Zettel, fand die Sünde völlig getilgt, stattete Gott und dem heiligen Jakobus seinen Dank ab und teilte allen den Vorfall mit).

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verschwinden? Und in welcher Weise integrieren die Gralromane die Inhalte der göttlichen Botschaften in die Erzählung?

Ephemere Schriftlichkeit Dass Gott manchmal schreibt, um sich den Menschen mitzuteilen, weiß man im Mittelalter zum Beispiel aus dem Buch Exodus. In Ex 24,12 kündigt Gott an, dass er Mose Steintafeln übergeben werde, auf die er seine an die Israeliten adressierten Weisungen und Gebote geschrieben habe. In Ex 31,18 ist es so weit: dedit quoque Mosi conpletis huiuscemodi sermonibus in monte Sinai. duas tabulas testimonii lapideas scriptas digito Dei (Und als der HERR mit Mose zu Ende gesprochen hatte auf dem Berge Sinai, gab er ihm die beiden Tafeln des Gesetzes; die waren aus Stein und beschrieben von dem Finger Gottes). Nachdem Mose vor Zorn über die Anbetung des goldenen Kalbes die Gesetzestafeln zertrümmert hat, muss der Vorgang wiederholt werden. Gott weist Mose an, neue Steintafeln zu machen, die er beschriften werde (Ex 34,1). Wer am Ende schreibt, geht aus dem Wortlaut nicht eindeutig hervor: fecit ergo ibi cum Domino quadraginta dies et quadraginta noctes. panem non comedit et aquam non bibit. et scripsit in tabulis verba foederis decem (Ex 34,28: Und er war allda bei dem HERRN vierzig Tage und vierzig Nächte und aß kein Brot und trank kein Wasser. Und er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die Zehn Worte). Deutlich wird am doppelten göttlichen Schreibakt der Sinai-Episode sowie an zwei Hinweisen davor und danach (Ex 25,21 bzw. Ex 40,20), dass die von Gott beschriebenen Gesetzestafeln dazu gedacht sind, die Gebote nicht lediglich für eine einmalige Lektüre von Gott zu Mose und vom Berg Horeb zu den wartenden Israeliten zu bringen, sondern sie als wichtiges Dokument des Bundes zwischen Gott und den Menschen aufzubewahren.⁸  In 1 Könige 8,1– 13 wird konkretisiert, dass Salomo die Bundeslade mitsamt den Gesetzestafeln in den Jerusalemer Tempel überführt habe. Zur Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit beim Übermitteln der göttlichen Gebote vgl. Joachim Schaper: Anthropologie des Schreibens als Theologie des Schreibens. Ein medienarchäologischer Gang durch das Buch Exodus, in: Metatexte. Erzählungen von schrifttragenden Artefakten in der alttestamentlichen und mittelalterlichen Literatur. Hg. von Friedrich-Emanuel Focken und Michael R. Ott. Berlin, Boston 2016, S. 281– 296; Jan Christian Gertz: Mose zerbricht die Tafeln des Bundes am Sinai – Literarhistorisch ausgereizt, aber praxeologisch unterschätzt?, in: Metatexte. Erzählungen von schrifttragenden Artefakten in der alttestamentlichen und mittelalterlichen Literatur. Hg. von Friedrich-Emanuel Focken und Michael R. Ott. Berlin, Boston 2016, S. 177– 201. Zu Vorstellungen von Gott als Schreiber im Mittelalter bzw. in der Frühen Neuzeit vgl. Andreas Kraß: Der Finger Gottes. Die Spürbarkeit der Zeichen bei Hugo von St. Viktor und Johannes Bissel, in: Zeitsprünge 16 (2012), S. 301– 319. Linda Simonis spricht für die Sinai-Episode von einem „Nebeneinander von Stimme und Schrift in der Übertragung und Verbreitung der göttlichen Botschaft“, in dem, mit dem Medienhistoriker Harold Innis gesprochen, „die Differenz von leichten und schweren Medien zum Tragen“ komme, wobei das leichte Medium der Stimme den Raum und das schwere Medium der Schrift die Zeit überwinden solle. Vgl. Linda Simonis: Göttliche Worte – göttliche Inschriften. Kosmische Übertragungsmedien in Religion und moderner Literatur, in: Religion und Literatur. Konvergenzen und Divergenzen. Hg.von Richard Faber und Almut-Barbara Renger.Würzburg

5.1 Briefe vom Himmel

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Diese Funktion verlieren die Gesetzestafeln auch in der Rezeption des Motivs durch mittelalterliche Dichter nicht.⁹ Viele andere schriftliche Botschaften von Gott allerdings sind in erzählenden Texten keineswegs in vergleichbarer Weise stabil und auf Haltbarkeit angelegt. Oft wird über ein eventuelles ‚Nachleben‘ gar nichts verlautbart. Ob die Botschaften nach der Lektüre weiterhin existieren, scheint in den meisten Fällen nicht weiter zu interessieren. Sobald die Nachrichten bei ihren Rezipienten angekommen sind, verschwinden sie aus der Handlung. Einer der entscheidenden Vorteile von Schrift gegenüber mündlicher Rede, dass nämlich ein schriftlicher Text von derselben Person, aber auch von verschiedenen Personen wieder und wieder rezipiert werden kann und dabei zuverlässig den ursprünglichen Wortlaut bewahrt, wird in vielen Erzählungen über die Zusendung von Himmelsbriefen überhaupt nicht thematisiert.¹⁰ Deutlich wird dieses Desinteresse an der Rezeption der Erzählung vom ‚Menetekel‘ durch Reinbot von Durne in seinem Georgsroman. In der biblischen Vorlage (Dan 5,1– 30) wird erzählt, wie König Belsazar bei einem Fest die jüdischen Tempelgefäße entweiht, woraufhin an der Wand eine Schrift erscheint. Als es keinem von Belsazars Weisen gelingt, die Schrift zu lesen und zu interpretieren, wird Daniel gerufen, der nun erklärt, was sie bedeutet – dass nämlich die Tage von Belsazars Herrschaft gezählt seien, er gewogen und für zu leicht befunden worden sei und sein Reich geteilt werden würde. Noch in derselben Nacht wird der König getötet. In der biblischen Erzählung ist es sinnvoll, dass Gott schreibt, statt zu sprechen. Indem er nacheinander erst den König mitsamt seiner Festgesellschaft, dann die Gelehrten, die Königin und schließlich den Propheten Daniel mit den geheimnisvollen Worten an der Wand konfrontiert, baut er eine gewisse Spannung auf: Alle sehen dasselbe, aber erst der Letzte, der die Schrift ansieht, versteht sie auch. Reinbot hingegen kassiert die Zerdehnung der Kommunikationssituation ganz einfach. Balthazar, wie der König hier heißt, äußert, dass ihm in seinem Leben alles so gut von der Hand gehe, dass niemand sich mit ihm messen könne. Da erscheint an der Wand das Menetekel:

2017, S. 63 – 82, hier S. 66 – 67. Simonis bezieht sich hier auf Harold Atkins Innis: Empire and Communications. Victoria 1986, S. 7.  Auch in Albrechts Jüngerem Titurel ist von den mosaischen Gesetzestafeln die Rede, wenn auch nicht von ihrer Aufbewahrung (JT 350,1– 4). Im Reinfried von Braunschweig wiederum heißt es über die Bundeslade: dâ lac ouch inn mit huote / diu steinîn tâvel sunder spot / dar an diu zehen gebot / got mit sînem vinger schreip (R 13110 – 13113: Darin lag auch tatsächlich wohl behütet die steinerne Tafel, auf die Gott mit seinem Finger die zehn Gebote schrieb).  Gegenbeispiele gibt es ebenfalls, besonders in Texten, die in einem geistlichen Zusammenhang entstehen und rezipiert werden. In der Thomaslegende der Legenda Aurea etwa dient ein von Jesus persönlich geschriebener Brief dazu, Angriffe auf eine Stadt abzuwehren – und dies offenbar nicht nur einmalig, sondern bei Bedarf immer wieder. Vgl. Klaus Schreiner: ‚Göttliche Schreib-Kunst‘. Eigenhändige Aufzeichnungen Gottes, Jesu und Mariä. Schriftlichkeit in heilsgeschichtlichen Kontexten, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 95 – 132, hier S. 113.

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Als er gesprach disiu wort, / dô schreip sich an die mûre dort / ‚ez ist geteilt, gewegen, gezalt.‘ / dô wart sîn nôt sô manicvalt, / als der sich an im ræche / und im driu mezzer stæche / enmitten in sîn herze. / noch wirs tet im der smerze / daz er die schrift ane sach (Georg 5269 – 5277). Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da schrieb sich Folgendes dort an die Mauer: ‚Es wurde geteilt, gewogen und gezählt.‘ Da litt er so sehr, als täte ihm einer etwas Böses an und stäche ihm drei Messer mitten in sein Herz. Noch schlimmer wurde sein Schmerz dadurch, dass er die Schrift ansah.

Auch Reinbot unterscheidet zwischen dem Anblick der Buchstaben und dem Verstehen des Inhalts. Anders als im Danielbuch aber fallen Erzählzeit und erzählte Zeit in seiner Bearbeitung beinahe zusammen. Das Geschehen ist auf eine kurze Zeitspanne komprimiert, in der in rascher Abfolge der König spricht, die Schrift erscheint und der König zu leiden beginnt.¹¹ Auch hier löst die sich selbst erzeugende Schrift durch ihre Außergewöhnlichkeit Schrecken aus. Für eine Perpetuierung der Botschaft über den Moment ihres Erscheinens hinaus nutzt Reinbot sie jedoch nicht. Während in der historischen Realität schriftliche, gegenständliche Botschaften von Gott als machtvolle, heiltragende Gegenstände gelten, deren Kraft sich sogar auf Abschriften überträgt,¹² werden solche Vorstellungen in erzählenden Texten kaum je für die Entwicklung der Handlung genutzt. Man meditiert dort für gewöhnlich nicht über den Schriftstücken, man hebt sie nicht auf, gibt sie nicht weiter, sie werden nicht zerstört und auch nicht gerettet. Trotz ihrer besonderen medialen Eigenschaften werden die göttlichen Mitteilungen sowohl von den Figuren innerhalb der erzählten Welt als auch vom Erzähler so behandelt, als würden sie mündlich getätigt. Ein Beispiel hierfür ist der briefliche Sündenerlass in der bereits erwähnten lateinischen Ägidiuslegende und ihrer Bearbeitung im Karl des Strickers.¹³ Ein anderes ist eine Botschaft, die Gott im Lohengrin mithilfe eines Briefes an den Papst schickt. Mit goldenen Buchstaben steht darin geschrieben, dass die toten Christen als Zeichen ihrer Errettung farblich von den ‚Heiden‘ unterschieden seien (L 5929 – 5943). Nach der Schlacht sendet also Gott gewissermaßen zwei Botschaften, von denen die schriftliche dazu dient, die Bedeutung der nicht-schriftlichen zu erklären. Ab dem Moment, in dem der Papst den Inhalt des Briefs mündlich kundtut und die Nachricht damit entmaterialisiert, verschwindet der Brief als materialer Gegenstand aus der Handlung.

 Ähnlich komprimiert wird die Erzählung im Reinfried von Braunschweig (R 26758 – 26770).  Von religionswissenschaftlichem Interesse ist etwa der sogenannte Himmelsbrief oder Sonntagsbrief, der seit der Spätantike in verschiedenen Fassungen und Sprachen in ganz Europa kursiert. Er gilt als von Christus selbst verfasst und soll die Gläubigen mit Drohungen und Verheißungen dazu anhalten, den Sonntag zu heiligen. Vgl. Bernhard Schnell: Art. ‚Himmelsbrief‘, in: VL Bd. 4, Sp. 28 – 33.  Aufgenommen wird dieser Stoff mitsamt dem Himmelsbrief auch in der Kaiserchronik und in Jans Enikels Weltchronik. Ein weiteres Beispiel für eine Botschaft von Gott findet sich in der Merlinsvita Roberts de Boron. Hier sieht man auf dem Griff des Schwerts im Amboss goldene Buchstaben, die davon künden, dass der, der das Schwert entfernen könne, mit Zustimmung Jesu Christi König sein solle. Diese und weitere Fälle sind aufgeführt bei Ernst, Facetten, S. 115 – 119.

5.1 Briefe vom Himmel

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Dass die Materialität von göttlichen Schriften sehr wohl auch über einen längeren erzählten Zeitraum hinweg eine Rolle spielen kann, ist an Ottes Eraclius aus dem 13. Jahrhundert zu beobachten. Als der Protagonist noch sehr jung ist, sendet Gott ihm einen Brief, der explizit aufbewahrt werden soll: Dô daz kint den kristentuom enphienc / dar nâch unlanc ergienc, / daz ez zeinen zîten lac / ze nône umb einen mitten tac / in sîner wiegen unde slief. / dô viel ein versigelter brief / ûf daz kint, dâ ez lac: / daz ersach diu muoter und erschrac. / den brief nam sie in die hant: / ûzen sie dar an vant / geschriben von liehten buochstaben, / sie solde in grôzer huote haben / daz kint und wol beruochen: / und saztez zuo den buochen, / daz sie ez lêren lieze / und den brief behalden hieze, / unz ez quæme zuo der stunde / daz ez selbe lesen kunde / wol vernemen unde lesen. / disiu rede solde wesen / gar verborgen und verholn. / dô tet sie, als ir was bevoln, / Cassîniâ diu guote. / mit triuwen in ir huote / behielt sie brief unde kint (Eraclius 367– 391).¹⁴ Bald, nachdem das Kind getauft worden war, begab es sich, dass es einmal um die None zur Mittagszeit schlafend in seiner Wiege lag. Da fiel ein versiegelter Brief auf das Kind herab, wie es da so lag. Die Mutter sah das und erschrak. Sie nahm den Brief in die Hand. Auf seiner Außenseite fand sie mit leuchtenden Buchstaben geschrieben, dass sie gut auf das Kind achtgeben und sich seiner sorgsam annehmen solle. Sie möge es auch an die Bücher setzen und es unterrichten lassen. Den Brief möge sie aufbewahren, sodass es, sobald es selbst lesen könne, ihn wahrnehmen und lesen möge. Diese Rede solle [bis dahin, A.L.] gut verborgen und verheimlicht werden. Die gute Cassinia tat, wie ihr befohlen worden war. Zuverlässig behütete sie sowohl den Brief als auch das Kind.

Diese himmlische Botschaft erinnert in mehrerlei Hinsicht an die Tafel des Gregorius – nur sozusagen unter umgekehrten Vorzeichen: Einem Kind wird im wahrsten Sinn des Wortes eine doppelte Nachricht in die Wiege gelegt, die zum Teil einen Erziehungsberechtigten und zum Teil das Kind selbst anspricht. Die Mutter soll dafür sorgen, dass das Kind lesen lernt, damit es die Nachricht später selbst lesen kann. Bis dahin soll die Existenz des Briefes verborgen werden. So geschieht es auch. Allerdings erweist sich das Kind im Eraclius nicht nur als wahres Wunderkind; es ist auch ein Wunschkind seiner Eltern. Zudem stammt die Botschaft nicht von einer sündigen Mutter, sondern von Gott, und der Brief informiert das Kind, nachdem die Mutter ihn übergeben hat, nicht über eine schwere Bürde, die der Sohn trägt, sondern über besondere Fähigkeiten, die sein Leben auf positive Weise beeinflussen werden.¹⁵ Kein Wunder, dass der junge Eraclius nach der Lektüre gerade nicht trûric unde vrô ist wie Gregorius (G 1747), sondern stolz unde frô (Eraclius 462). Bei Otte erfährt man, wie haltbar eine Nachricht von Gott potenziell sein kann. Der himmlische Brief wird in einer Form übermittelt, die eine doppelte und stark zeitversetzte Rezeption überhaupt erst möglich macht. Er soll von der Mutter ausdrücklich aufbewahrt werden, damit das Kind viele Jahre nach der Zustellung über seine besondere Begabung informiert werden kann. Diese himmlische Botschaft überdauert

 Eraclius. Deutsches Gedicht des dreizehnten Jahrhunderts. Hg. von Harald Graef. Straßburg 1883.  Der Brief informiert Eraclius darüber, dass ihm von Gott die Fähigkeit verliehen wurde, sich besonders gut mit der Natur von Steinen, Pferden und Frauen auszukennen.

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

erfolgreich die Zeit und konserviert die göttlichen Worte.¹⁶ Sie ist nicht vergänglich und flüchtig, sondern außerordentlich stabil. Zugegebenermaßen ist aber auch sie wieder nur so lange von Bedeutung, bis der Protagonist sie zur Kenntnis genommen hat – letztlich hätte auch diese Nachricht, sobald Eraclius dafür alt genug ist, genauso gut mündlich überbracht werden können. Dies schließlich ist die andere Möglichkeit, von der Gott in vielen mittelalterlichen Erzählungen Gebrauch macht, wenn er mit Menschen kommunizieren will: Entweder spricht er selbst zu den Menschen, etwa zum heiligen Georg im Kerker.¹⁷ Bei anderen Gelegenheiten schickt er die Gottesmutter, Heilige oder Engel, die diese Aufgabe übernehmen.¹⁸ Zuweilen kommen auch Bilder, Träume oder Visionen zum Einsatz. Wenn Gott sich in mittelalterlichen erzählenden Texten durch Theophanien oder Epiphanien mitteilt, dann tut er dies meist in einem zeitlich eng begrenzten Augenblick und nur für diesen Augenblick. Als fundamental abwesendes und zugleich allgegenwärtiges Gegenüber setzt er auf größtmögliche Präsenz, verbunden mit einer Suggestion der Einmaligkeit des Kommunikationsakts. Selbst wenn Gott schreibt, ist es daher, als würde er sprechen, als wäre er als Urheber seiner Worte mit diesen Worten aufs Engste verbunden und als wäre ein Leseakt auf die gleiche Weise von der Anwesenheit des Autors abhängig, wie ein Akt des Zuhörens von der Anwesenheit des Sprechers abhängig ist. Schrift ist in solchen Zusammenhängen nicht dazu da, den Lesern eine (potenziell wiederholbare) Vergegenwärtigung Gottes zu ermöglichen. Sie dient vielmehr Gott dazu, sich selbst aktiv seinen Lesern zu vergegenwärtigen. Wolfram, Albrecht und der Dichter des Lohengrin charakterisieren die Himmelsbriefe in ihren Romanen als physisch präsent. Zugleich eignet den göttlichen Botschaften aber auch stets eine Dimension von Mündlichkeit und Flüchtigkeit. Um ihre Doppelnatur anschaulich zu machen, nutzen die drei Dichter verschiedene Möglichkeiten. Bei Wolfram erklärt Trevrizent, wie die Schrift auf dem Gral erscheint und was mit ihr geschieht: ‚[D]ie aber zem grâle sint benant, / hœrt wie die werdent bekant. / zende an des steines drum / von karacten ein epitafum / sagt sînen namen und sînen art, / swer dar tuon sol die sælden vart. / ez sî von meiden ode von knaben, / die schrift darf niemen danne schaben: / sô man den namen gelesen hât, / vor ir ougen si zergât‘ (P 470,21– 30). ‚Hört aber nun, wie es bekannt gemacht wird, wer zum Gral berufen ist. Das geschieht durch ein Epitaph aus Buchstaben am Rand des Steins, das den Namen und die Herkunft desjenigen sagt, der die glückliche Reise antreten soll. Das gilt für Mädchen genauso wie für Knaben. Niemand

 Auch in dieser Hinsicht ähnelt Gottes Brief an Eraclius der Tafel des Gregorius, die nach der Bußzeit des Protagonisten auf der Felseninsel durch ein göttliches Wunder aussieht wie neu – dass der eigentlich zu erwartende Zustand sich irgendwann doch noch oder erneut einstellen könnte, wird nicht impliziert.  Vgl. Georg 1783 – 1800.  Vgl. z. B. die Szenen, in denen der heilige Georg von Engeln ermutigt, getröstet und unterstützt wird, z. B. in den Versen 3747– 3785.

5.1 Briefe vom Himmel

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muss die Schrift wieder abschaben: Sobald man den Namen gelesen hat, zergeht sie vor aller Augen‘.

Diese Schrift ist ephemer: Sie erscheint und wird wieder unsichtbar. Statt für immer für die Lektüre verfügbar zu sein, weicht sienach der Lektüre, um der nächsten Inschrift Platz zu machen.¹⁹ Während in anderen Erzählungen göttliche Schriftbotschaften einfach nicht mehr erwähnt werden, sobald sie von ihrem designierten Empfänger zur Kenntnis genommen wurden, macht Wolfram deutlich, dass das Verschwinden der Schrift nichts ist, was den Figuren (also Gott und den Mitgliedern der Gralgesellschaft) oder auch dem Erzähler unterläuft, sondern dass es von Seiten ihres Urhebers beabsichtigt ist: Indem die Schrift verschwindet, nachdem sie gelesen wurde, und nicht etwa schon zuvor oder erst lange Zeit später, reagiert sie geradezu auf das Lektüreverhalten ihrer Rezipienten, ganz so, als wäre ihr Autor im gleichen Raum und würde die Lesenden beobachten – was in der Vorstellung des Publikums wahrscheinlich auch der Fall ist. Man muss Trevrizents Formulierung, dass das Epitaph den Namen und die Herkunft der Erwählten ‚sage‘, gewiss nicht unbedingt wörtlich verstehen – gemeint ist wohl zuerst einmal allgemein, dass die Inschrift Namen und Herkunft benennt, mitteilt oder ausdrückt. Im Kontext der geschilderten Szene kann die Wortwahl jedoch implizieren, dass die Kommunikation mit dem und durch den Gral große Ähnlichkeit hat mit einem mündlichen Gespräch (wenn auch, da nur eine Partei etwas ‚sagt‘, nicht mit einem Dialog). Was in diesem Gespräch gesagt wurde, kann später zwar in einer neuerlichen Rede weitergegeben werden. Spuren hinterlässt die Schrift auf dem Gral allerdings nur im Gedächtnis Trevrizents und der anderen Leser, nicht auf dem materialen Schriftträger. Im Hinblick auf seine Botschaften lässt sich Gott im Parzival nicht dingfest machen. In Albrechts Jüngerem Titurel wird die Flüchtigkeit der Gralinschriften nicht explizit thematisiert. Aber auch hier kommuniziert Gott in einer Kombination aus mündlicher und schriftlicher Mitteilung – allerdings nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz buchstäblich, und nicht im selben Moment, sondern abwechselnd. Zu Beginn der Handlung teilt er sich den Menschen eher mündlich als schriftlich mit. Gleich nach Titurels Geburt etwa erscheint ein Engel, der die glücklichen Eltern darüber informiert, wie sie ihr Kind aufziehen sollten und dass dieses ein gottgefälliges Leben führen und ins Paradies gelangen werde (JT 162,1– 164,2). Dass aber nicht nur mündliche Rede, sondern auch Schrift in Titurels Leben eine bestimmende Rolle spielt, zeigt sich an dem kuriosen Streit, der zwischen seiner Mutter Elizabel und seinem Vater Titurison um den Namen des Kindes entbrennt: Weise Meister beschließen, dass das Kind zu zwei oder mehr Teilen den Namen des Vaters tragen solle, da es dem Vater durch Geburt in höherem Maß angehöre als der Mutter (JT 172,1– 4). Daher wird aus zwei Teilen ‚Titurison‘ und einem Teil ‚Elizabel‘ der Name ‚Titurel‘,

 Zu möglichen mythischen Dimensionen dieses Phänomens vgl. Larissa Schuler-Lang: Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. ‚Parzival‘, ‚Busant‘ und ‚Wolfdietrich D‘. Berlin 2014, S. 242– 243.

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worüber die Mutter allerdings alles andere als glücklich ist. Man beruhigt sie mit einem Trick: ‚vrowe, iwer litter viere / hat sin nam. daz mugt ir selbe mezzen, / di ersten zwen, die letzten‘ (JT 174,2 – 4: ‚Herrin, sein Name hat vier Buchstaben von eurem Namen. Das könnt Ihr selbst nachzählen: die beiden ersten und auch die beiden letzten‘). Zwar sind in Elizabels Namen die beiden ersten und die beiden letzten Buchstaben, ‚e‘ und ‚l‘, die die letzte Silbe des Namens ‚Titurel‘ bilden, identisch, was diesen Akt der Buchstabenarithmetik als nicht ganz seriös erscheinen lässt. Elizabel gibt sich aber trotzdem damit zufrieden. Zum ersten Hüter des Grals wird der solchermaßen quasi buchstabenweise benannte und damit ‚lesbare‘ Titurel dann aber nicht durch eine schriftliche, sondern durch eine vielleicht nicht mündlich-verbale, sicher aber klangliche Botschaft bestimmt: Nach vielen Jahren erscheint abermals ein Engel, der Titurel aufgrund seiner vielen Tugenden im Auftrag Gottes den Gral überträgt (JT 271,2).²⁰ Der junge Mann verabschiedet sich daraufhin von seinen Eltern und bricht von zu Hause auf. Engel führen ihn unter herrlichem Gesang zum Munt Salvasch im Foreist Salvasch, wo Titurel den Gral vorfindet. Er wird also zuerst durch himmlischen Gesang angeleitet und erst später durch himmlische Schriften. Den Übergang vom einen zum anderen Medium schildert er im Rückblick mit folgenden Worten: ‚Wan ich den gral enphie von gote mit siner hohen krefte. / der tugende engel was des bote. (der si gebenedit der boteschefte!) / der tugend ler was dran geschriben und orden. / di gab mir wart durch tugende und was vor mir nie menschen hende worden‘ (JT 512,1– 4). ‚Ich empfing nämlich den mächtigen Gral von Gott. Der Engel der Tugend war sein Bote. Er sei gebenedeit für diese Botschaft! Die Lehre und die Regel der Tugend waren darauf geschrieben. Diese Gabe erhielt ich aufgrund meiner Tugend. Nie zuvor war sie irgendeinem Menschen zuteilgeworden.‘

Zuerst hört der tugendhafte Titurel also (und vielleicht sieht er auch) den Engel der Tugend. Nach seiner Ankunft auf dem Gralberg aber liest er auf dem Gral schriftliche Tugendlehren.²¹ Titurels Beschreibung der Übergabe des Grals impliziert eine Abfolge der Medien, durch die Gott sich ihm mitteilt. Zu Beginn seiner Zeit als Erwählter vernimmt er mündliche Engelsbotschaften; später vervollkommnet er sich weiter mithilfe schriftlicher Gralbotschaften. An anderen Stellen wiederum sieht es so aus, als würden Engel und Gral fortdauernd eine mediale Gemeinschaft bilden. In einer Aussage Sigunes beispielsweise ist es nicht etwa der Gral allein, der wichtige Informationen von Gott übermittelt, sondern entweder ein Engel, der von dem grale spricht  Zuvor ist die erste Schrift, mit der er in Berührung kommt, weltlichen Inhalts. Er liest im Ovidium puellere von der Liebe, die er, der von seiner Mutter im Auftrag des Engels streng keusch erzogen worden ist, prompt für einen schrat und einen geist von helle hält (JT 190,3). Sein Meister erklärt ihm zwar, dass man zwischen richtiger Liebe zu Gott und unminne (JT 196,1) unterscheiden müsse – Titurel aber ist mit dem Lesen vorerst fertig und wendet sich dem unerbittlichen Kampf gegen die ‚Heiden‘ zu.  An anderer Stelle heißt es explizit, dass der Gral seine Botschaften mit der schrifte sunder stimme (JT 579,4: schriftlich, ohne Stimme) mitteile.

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(JT 2544,2), oder ein Engel, der zem grale schreibt (JT 2546,1). Die Engel besitzen zudem ein Mitspracherecht, was den Aufenthaltsort des Grals angeht.²² Und kurz vor seinem Tod schließlich wird Titurel, wenn er von der Herkunft des Gegenstands spricht, verkünden, dass dieser sogar von Engeln benannt worden sei (6296,4: ‚benennet „gral“ in engelischem done‘).²³ Das Schriftmedium und die Medien mündlicher Rede sind einander bei Albrecht mindestens ebenbürtig: Gott äußert sich sowohl sprechend (oder ‚tönend‘) als auch schreibend. Wieder anders werden im Lohengrin die schriftlichen Botschaften auf dem Gral mit Merkmalen von Mündlichkeit und Flüchtigkeit ausgestattet. Hier wird die Gralgemeinschaft sowohl durch Schrift als auch durch Klang und außerdem aus zwei Richtungen, nämlich sowohl aus der göttlichen als auch aus der menschlichen Sphäre darüber unterrichtet, dass man eine bestimmte Aktion erwartet: Die Herzogin Elsam von Brabant, die den von ihrem Vater gewünschten Bräutigam Friedrich von Telramunt nicht heiraten möchte, wird von ihrem Kaplan dazu angehalten, sich mit ihrer Klage und Sorge an Gott zu wenden. Ein goldenes Glöckchen, das sie einem verletzten Falken abgenommen hat und nun an ihrem Paternoster trägt (L 315), erzeugt, noch bevor Elsam ihr Gebet ausspricht, einen Klang, der wie ein Donnerschlag durch die Wolken bricht (L 373) und bis an die Ohren der Artus- und Gralgesellschaft dringt (L 377– 379).²⁴ Ein Problem ist allerdings, dass man beim Gral die durch den Glockenklang kommunizierte vremde maere (L 377) zunächst überhaupt nicht versteht. Man vermutet, Gott erzürnt und damit das alle Freude abtötende Geräusch auf sich gezogen zu haben (L 405 – 406). Die Herren und nach ihnen die Damen veranstalten folglich Prozessionen zum und vor dem Gral, aber erst, als Key mit lauter Stimme das Getöse übertönt und vorschlägt, dass die Gralkinder Falken vor den Gral tragen sollen, erfahren schließlich alle, was zu tun ist. Eine Schrift auf dem Gral trägt Artus auf, einen

 Der Gral lässt sich auch nach der Erbauung des Graltempels von Titurel nicht berühren. Bewegt wird er von Engeln (JT 441,2– 4).  Zum Vergleich: In Wolframs Parzival steht der Name des Grals in den Sternen geschrieben (P 454,21– 23). Die Vorstellung, dass Gott nicht nur schriftliche Nachrichten über den relativ immobilen, auf der Gralburg befindlichen Gral schickt, sondern auch nicht-schriftliche Nachrichten über die beweglicheren Engel, hat Albrecht vielleicht von Wolfram. Dieser lässt Trevrizent an einer Stelle sagen, dass der Gral auf der Erde von den Engeln begleitet werde, die beim Kampf Gottes gegen Luzifer neutral geblieben seien (P 471,26 – 28). Abgesehen von dieser Stelle ist im Parzival von Interventionen durch engelhafte Botschafter nicht die Rede. Zudem ist auch hier nicht ganz eindeutig, worin Trevrizent zufolge die Aufgabe der Engel besteht: Sind sie es, die neue Mitglieder der Gralgesellschaft oder neue Gralkönige auf die Gralburg bestellen? Wird dies nicht aber zumindest in der erzählten Gegenwart von Cundrie erledigt, die ja auch Parzival am Ende bei Artus abholt, nachdem eine Inschrift auf dem Gral ihn zum Gralkönig bestimmt hat? Möglicherweise hat Albrecht die Passage so verstanden, dass die Berufungen stets auf zweierlei Weise erfolgen, durch Gralinschriften wie auch durch Engelsbotschaften.  Bereits vor Beginn der eigentlichen Handlung ist die Rede von der Glockenbotschaft. Vgl. L 253 – 260. In Brabant kann offenbar nur der Kaplan der Herzogin das Läuten der Schelle hören. Vgl. L 371– 373 und 675 – 680.

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Ritter nach Brabant zu schicken, damit dieser dort für die bedrängte Jungfrau kämpfe; sobald das geschehe, werde die Glocke schweigen. Die Erzählung führt vor, dass es ganz von Gott abhängt, ob, wann und wie die Kommunikation zwischen ihm und den Menschen gelingt. Die Gralgesellschaft erkennt zwar das Läuten der Schelle sofort als himmlische Botschaft. Es ist ihren Mitgliedern aber über längere Zeit hinweg völlig unmöglich, den Inhalt dieser Botschaft zu erfassen. Die Verzögerung sorgt für größtmögliche Irritation, das Läuten hallt in den Ohren der Gralritter (L 259), sodass sie ganz betäubt sind (L 307) und ihre Gehirne zu zerfließen drohen (L 7156). Interpretiert man diesen unangenehmen Zustand nicht als Folge eines Missgeschicks auf Seiten Gottes, kann man fragen, welches Ziel damit verfolgt wird. Offenbar ist das fortdauernde laute Geklingel ein geplant zeitversetzt verabreichter Teil einer komplexen Botschaft mit nonverbalen und verbalen Aspekten. Indem Gott die Gralritter durch das Getöse mürbe macht, unterstreicht er die Dringlichkeit von Elsams Hilferuf. Er steigert nicht nur die Erwartung der Gralgesellschaft auf Auflösung des Rätsels, sondern betont auch die Notwendigkeit, der endlich schriftlich erteilten verbalen Anweisung so schnell wie möglich Folge zu leisten. Die Komponente des ephemeren Klangs bereitet den Effekt vor, den die Schrift auf dem Gral auf ihre Empfängerinnen und Empfänger hat, und steigert ihn. Indem Gott es den gehorsamen Gralhütern schwer macht, seinen Anweisungen zu folgen, bringt er sie in eine Situation der Unsicherheit und Bedrängnis, die gewährleistet, dass am Ende genau das geschieht, was er will. In allen drei Texten kommuniziert Gott schriftlich mit ausgewählten Menschen, und stets tut er es so, dass seinen Inschriften ein Moment von ‚Stimmenhaftigkeit‘ eignet: Wolfram betont die Vergänglichkeit der Inschriften, Albrecht stellt dem schrifttragenden Gral eine ganze Schar von sprechenden und singenden Engeln an die Seite und der Dichter des Lohengrin erzählt davon, wie die Lektüre der Inschriften von einem durchdringenden Klang vorbereitet und begleitet wird. Im Zusammenhang mit all diesen Gralinschriften mischen sich Aspekte von Stimme und Schrift, Flüchtigkeit und Haltbarkeit, Körperlosigkeit und Materialität auf eine Weise, die in den jeweiligen erzählten Welten Gottes Schreibakte von denen der Menschen unterscheidet. Sie macht plausibel, dass Gott die Schwelle zwischen Transzendenz und Immanenz mit ganz anderen Mitteln durchbrechen kann, als menschliche Rede und gewöhnliche Schrift es vermögen.

Rätselhafte Inhalte Wie sieht nun der Inhalt der Botschaften aus, die Gott mithilfe des Grals an die Menschen sendet? Was genau steht da in jeweils wechselnden Inschriften auf dem Gegenstand geschrieben, wie werden diese Inhalte präsentiert und welche Antworten lassen sich daraus auf die Frage nach Schrift als Kontrollinstrument und als Risikofaktor für den Verlust von Kontrolle ableiten?

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Im Parzival wird der Inhalt der Gralinschriften stets vermittelt wiedergegeben. In den meisten Fällen paraphrasiert ihn entweder eine Figur oder der Erzähler. Wenn etwa Cundrie Parzival abholt, um ihn zur Gralburg zu bringen, und dabei zu ihm sagt: ‚daz epitafjum ist gelesen: / du solt des grâles hêrre wesen‘ (P 781,15 – 16: ‚Das Epitaph wurde gelesen: Du sollst der Herr des Grals sein‘), so ergibt die Formulierung nur dann Sinn, wenn es sich hierbei um Cundries Worte handelt und nicht um die des Grals, der zuvor auf der Gralburg – d. h. in Parzivals Abwesenheit – vermutlich über Parzival gesprochen hat und nicht zu ihm (‚du sollst‘). Was aber hat tatsächlich auf dem Gral gestanden, bevor die Schrift nach der Lektüre wieder erloschen ist? War es schlicht Parzivals name und art (P 470,25)? Oder ein vollständiger Satz, zum Beispiel ‚Parzival soll von jetzt an der neue Herr des Grals sein‘, oder eine verkürzte Form dieser Aussage? Darüber kann man nur mutmaßen.²⁵ Ähnlich verhält es sich mit der Paraphrase, in der der Erzähler erklärt, dass man sich bei der Königswahl nach der von Cundrie erwähnten Gralinschrift gerichtet habe: da ergienc dô dehein ander wal, / wan die diu schrift ame grâl / hete ze hêrren in benant: / Parzivâl wart schiere bekant / ze künige unt ze hêrren dâ (P 796,17– 21: Man wählte da keinen anderen als den, den die Schrift auf dem Gral als Herrn bestimmt hatte: Ohne Zögern wurde dort Parzival als König und Herr anerkannt). Wie genau die Inschrift gelautet hat, erfährt man auch an dieser Stelle nicht. Nur bei einer einzigen Gelegenheit wird eine der Botschaften des Grals von einer Figur im Wortlaut präsentiert, als nämlich Trevrizent seinem Neffen Parzival erzählt, wie der Gral die Gralgesellschaft über seine bevorstehende Ankunft informiert habe. Auch hier wird, wie die Verwendung des Konjunktivs nahelegt, der Inhalt der Inschrift zunächst paraphrasiert: ‚unser venje viel wir für den grâl. / dar an gesâh wir zeinem mâl / geschriben, dar solde ein rîter komn: / wurd des frâge aldâ vernomn, / sô solde der kumber ende hân‘ (P 483,19 – 23: ‚Wir sind niedergekniet vor dem Gral. Da sahen wir einmal eine Schrift darauf geschrieben: Es werde ein Ritter kommen. Sobald man ihn fragen gehört habe, werde der Kummer ein Ende haben‘). Nachdem Trevrizent von der Anweisung des Grals gesprochen hat, dass man dem genannten Ritter keinerlei Hinweise zur Natur der Frage geben dürfe, leitet er den zweiten Teil der Inschrift mit der Inquit-Formel diu schrift sprach (P 483,29) ein und geht mit einer rhetorischen Frage zum Indikativ über: ‚„habt ir daz vernomn? / iwer warnen mac ze schaden komn. / Frâgt er niht bî der êrsten naht, / sô zergêt sîner frâge maht. / wirt sîn frâge an rehter zît getân, / sô sol erz künecrîche hân, / unt hât der kumber ende / von der hôhsten hende. / dâ mit ist Anfortas genesen, / ern sol ab niemer künec wesen.“‘ (P 483,29 – 484,8) ‚„Habt ihr das vernommen? Wenn ihr ihn warnt, verursacht ihr damit Schaden. Fragt er nicht am ersten Abend, dann löst sich die Macht auf, die seine Frage besitzt. Fragt er aber zur rechten Zeit,

 Vgl. Joachim Bumke: Parzival und Feirefiz – Priester Johannes – Loherangrin. Der offene Schluß des ‚Parzival‘ von Wolfram von Eschenbach, in: DVjs 65 (1991), S. 236 – 264, hier S. 237– 238.

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dann soll er das Königreich haben und das Leiden wird von der höchsten Hand beendet. Dann ist Anfortas geheilt. Er darf aber nie mehr König sein“‘.

Dass Trevrizent sich später als nicht ganz aufrichtig erweist, was den Wahrheitsgehalt mancher seiner Aussagen über den Gral angeht (P 798,6 – 7), heißt nicht zwingend, dass er an dieser Stelle lügt. Sehr wohl könnte aber das Wissen um seine punktuelle Unzuverlässigkeit dem Publikum des Romans im Rückblick nahelegen, die Akkuratesse seines Berichts zu bezweifeln. Man kann sich nämlich durchaus fragen, ob tatsächlich genau diese Worte auf dem Gral gestanden haben. Falls ja, falls sich also Trevrizent richtig erinnert und richtig berichtet, dann steht die Gralinschrift im Widerspruch zu der Tatsache, dass Parzival Anfortas bekanntlich nicht an seinem ersten Abend auf der Gralburg heilt, sondern zu einem anderen Zeitpunkt. Eine weitere Erzähltechnik, die darauf abzielt, den Inhalt der Inschriften vermeintlich offenzulegen, sie dem Publikum aber faktisch vorzuenthalten, kommt in einigen Parzival-Handschriften bei der Wiedergabe der letzten Gralinschrift zum Einsatz, die vom erwünschten zukünftigen Verhalten der Gralritter handelt. In Karl Lachmanns Ausgabe werden sowohl der Inhalt der Inschrift als auch die daraus resultierenden Folgen vom Erzähler mitgeteilt, und zwar in deutlich voneinander unterschiedenen Reden. Zunächst paraphrasiert der Erzähler die Inschrift in indirekter Rede im Konjunktiv, wie er es auf ähnliche Weise auch zuvor schon getan hat: ame grâle man geschriben vant, / swelhen templeis diu gotes hant / gæb ze hêrren vremder diete, / daz er vrâgen widerriete / sînes namen od sîns geslehtes, / unt daz er in hulfe rehtes (P 818,25 – 30). Man fand auf dem Gral Folgendes geschrieben: Wenn die Hand Gottes einen Tempelritter fremden Leuten zum Herrn gebe, dann solle er ihnen davon abraten, nach seinem Namen oder seinem Geschlecht zu fragen, und er solle jedem zu seinem Recht verhelfen.

Anschließend erklärt der Erzähler im Indikativ, wie die Gralritter auf eine Übertretung des Frageverbots reagieren und was der Grund dafür ist: Sô diu vrâge wirt gein im getân, / sô mugen sis niht langer hân. / durch daz der süeze Anfortas / sô lange in sûren pînen was / und in diu vrâge lange meit, / in ist immer mêr nu vrâgen leit. / al des grâles pflihtgesellen / von in vrâgens niht enwellen (P 819,1– 8). Sobald ihn jemand fragt, können sie ihn nicht länger bei sich haben. Weil der süße Anfortas so lange saures Leid ertragen musste und die Frage ihn lange Zeit mied, sind ihnen von nun an alle Fragen zuwider. All die Gralritter wollen keine Fragen mehr hören.

Rätselhaft ist zum einen, warum das Frageverbot überhaupt begründet wird, und zwar ausgerechnet mit der psychischen Verfassung der Gralhüter und nicht etwa allgemein mit dem Willen Gottes oder auch spezifischer mit der Notwendigkeit, die Sphäre des Grals von der restlichen Welt strikt getrennt zu halten.²⁶ Zum anderen suggeriert

 Die Gralgesellschaft darf zwar auf andere Menschen einwirken, sie selbst aber schützt sich vor

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Wolfram dadurch, dass er den Erzähler anschließend an die Zusammenfassung der Gralinschrift in einem anderen Modus über das Verhalten der Gralritter sinnieren lässt, dass diese die schriftliche Anweisung auf dem Gral viel strenger auslegen, als es deren Wortlaut nach nötig wäre.²⁷ Ihre radikale Reaktion auf eine Frage nach ihrer Herkunft, von der die Gralritter anderen Menschen laut Inschrift abraten (widerrâten) sollen, gründet sich aus dieser Perspektive nicht auf eine explizite, auf dem Gral schriftlich vermerkte Anweisung Gottes. Vielmehr nutzen die templeisen das göttliche Gebot, Fragen abzuwehren, als Legitimation dafür, sich schon beim geringsten Übergriff wieder aus der Welt zurückzuziehen und in ihre exklusive Gemeinschaft zurückzukehren. In dieser Lesart erscheint die Gemeinschaft der Gralhüter auch nach Parzivals Ernennung zum Gralkönig als in ihrer fundamentalistischen Strenge anhaltend dysfunktional.²⁸

Übergriffen. Die Menschen außerhalb des Gralbereichs können entweder einen Gralritter bei sich haben oder das Wissen um den Gral besitzen, nie jedoch beides gleichzeitig. Jenseits der Gralburg muss man entweder auf Erkenntnis oder auf Präsenz verzichten.  Die deutliche Unterscheidung zwischen Inschriftenparaphrase und Erzählerkommentar, wie sie in Handschrift D (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857) vorliegt, ist nicht in allen Handschriften des Parzival gegeben. In Handschrift G (München, BSB, cgm 19) ist weitaus weniger eindeutig, was auf dem Gral geschrieben steht, da der Erzähler auf Bl. 70r die gesamte Passage im Indikativ formuliert: an dem grale man gescriben vant / swelhen templeis div gotes hant / ze herren gap frómder diet / daz der fragen wider riet / sins namen vnde sins gesláhtes / vnde daz er in hvlfe rehtes / Wirt div frage da von in getan / sone múgen sin niht lenger han / dvrh daz der svoze anfortas / so lange in svren pine was / vnde in div frage nv lange meit / in ist imir me nv frage leit / al die grals phliht gesellen / gein in fragens niene wellen. Die Inschrift hat hier keine deutlich markierte Grenze, die fehlende Modusmarkierung macht es unmöglich, zu entscheiden, an welchem Punkt die Gralinschrift in kommentierende Erzählerrede übergeht – und damit auch, welche Informationen denn nun genau auf dem Gral geschrieben stehen. Zu der Frage, wie die letzte Gralinschrift lautet, vgl. Astrid Lembke, Stephan Müller und Lena Zudrell: Trojanisches Erzählen. Narrationseffekte an den Grenzen der Diegese und einige Überlegungen zu den Regeln der Erzählkultur des Mittelalters, in: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 64– 85 (URL: http://ojs.uni-oldenburg.de/ojs-3.1.0/index.php/bme/article/view/3; Zugriff am 03.02. 2020). Auf eine weitere Inschrift im Parzival, bei der nicht eindeutig zu erkennen ist, welche Worte der intradiegetischen ‚Rede‘ der Inschrift zuzurechnen sind und welche dem Erzähler, weist Thomas Bein hin. Es handelt sich dabei um Gahmurets Epitaph.Vgl. Thomas Bein: Autor, Erzähler, Rhapsode, Figur: Zum ‚Ich‘ in Wolframs ‚Parzival‘ 108,17, in: ZfdPh 115 (1996), S. 433 – 436.  Eine indirekte Kritik an dieser Praxis gestattet sich Konrad von Würzburg in seiner Bearbeitung des Schwanritterstoffs, der mit dem Lohengrinstoff eng verwandt ist und ebenfalls von den Folgen des Frageverbots erzählt. Konrad parallelisiert die Schwanritter-Episode, in der das Frageverbot überschritten wird, mit der Episode im Gregorius, in der die Protagonistin erfährt, dass sie mit ihrem engsten noch lebenden Verwandten verheiratet ist: In beiden Erzählungen kehrt der Protagonist von der Jagd zu seiner aufgelösten Gattin heim, wird von ihr mit der Frage nach seiner Herkunft konfrontiert, reagiert darauf mit dem Vorwurf, man unterstelle ihm, von niederer Herkunft zu sein, und trennt sich anschließend von seiner Frau. Durch die intertextuelle Engführung der beiden Enthüllungsszenen führt Konrad vor, wie absurd das Verbot einer Frage nach der Herkunft des Ehegatten den Angehörigen einer sozialen Elite erscheinen muss, die fortgesetzt darum bemüht ist, das Gleichgewicht zwischen dem Anspruch auf Exklusivität und der Vermeidung inzestuöser Beziehungen zu wahren. Vgl. Konrad von Würzburg: Das Herzmære und andere Verserzählungen. Mittelhochdeutsch/Neu-

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Was den Inhalt der Gralinschriften angeht, so setzen sowohl Albrecht als auch der Dichter des Lohengrin stärker auf Vereindeutigung als Wolfram. Zwar präsentieren auch sie die auf dem Gral erscheinenden Schriften meist paraphrasierend vermittelt durch eine Figur oder durch den Erzähler. Im Lohengrin findet sogar an einer Stelle eine mehrfache Vermittlung statt, wenn nämlich der Protagonist seiner Frau davon erzählt, was eine andere Figur – seine Schwester – auf dem Gral gelesen habe (L 7161– 7167). Die Dichter beider Texte lassen es sich allerdings, anders als Wolfram, nicht nehmen, manche Gralinschriften auch wörtlich und unvermittelt in die Erzählerrede zu integrieren. Als etwa im Jüngeren Titurel der erste Gralhüter erfährt, dass er endlich heiraten darf, liefert der Erzähler zwar zunächst noch eine Paraphrase: im gap der gral di schrift alda zu lesende: / im wer ein wip erloubet in Spangen lant. mit der wer er wol wesende (JT 442,3 – 4: Der Gral gab ihm da folgende Schrift zu lesen: Ihm sei eine Ehefrau aus Spanien gestattet. Mit dieser werde es ihm wohlergehen). Anschließend aber wechselt der Modus zum Indikativ. Geredet wird nun nicht mehr über Titurel; vielmehr wird dieser in der Schrift von einem ich angesprochen, wobei der Sprecher (bzw. Schreiber) folgerichtig die zweite Person Singular bzw. Plural verwendet: ‚Si ist ein maget reine, di soltu nemen zu wibe, / an der geburt nicht cleine. iwer zweier geburt ich also schribe, / daz ir ein ander sit mit rehte nemende (JT 443,1– 3: Sie ist eine vortreffliche Jungfrau, von nicht geringer Abstammung. Sie sollst du zur Frau nehmen. Über eure jeweilige Abstammung schreibe ich, da ihr einander ihretwegen mit gutem Recht heiraten könnt).²⁹ Ähnlich geht der Dichter des Lohengrin vor, als der Gral seinen Hütern endlich mitteilt, was es mit dem enervierenden Glockengeläut auf sich hat.³⁰ Die Leser des Jüngeren Titurel und des Lohengrin wissen in solchen Fällen ganz genau, welche Worte in den jeweiligen erzählten Welten auf dem Gral erscheinen. Wolfram hingegen lässt sein Publikum stets rätseln, was auf dem Gral geschrieben steht und in welchem Verhältnis es sich zur erzählten Wirklichkeit befindet. Bei ihm genießt das Publikum gegenüber den Figuren keinen Wissensvorsprung – im Ge-

hochdeutsch. Nach den Textausgaben von Eduard Schröder übersetzt und kommentiert von Lydia Miklautsch. Stuttgart 2016, V. 1373 – 1471.  Es ist nicht ganz richtig, dass, wie Annette Volfing behauptet, die Inschriften nie ‚direkt’ zitiert würden: „[T]he mystique and privacy of the communications are respected, the essence of the Grail teaching being reflected, not through direct quotation, but rather in the speeches of Titurel and through the narratorial commentary and exegesis.“ Volfing, Medieval Literacy, S. 69.  Zunächst ist im Konjunktiv von Elsam die Rede (L 501– 503). An die Paraphrase des Erzählers schließt sodann der Wortlaut der Inschrift im Indikativ an: ‚Die hât ein herre, irs vater rât, / vór geríhte kémpflîchen brâht in sórgen wât. / Artûs der sol ir einen kempfen gewinnen, / Daz er und alle die vürsten sîn begriffen mit den eiden, / si habent niendert werdern degen. / swenn daz geschiht, sô ist der glocken dôn gelegen. / bî disem tage sol er von hinnen scheiden‘ (L 504– 510: ‚Ein Herr, der Berater ihres Vaters, hat sie kampfeslustig im Trauergewand vor Gericht gebracht. Artus soll einen Streiter für sie gewinnen, von dem er und alle anderen Fürsten beeiden müssen, dass sie keinen würdigeren Helden haben.Wenn dies geschieht, dann wird der Glockenklang stillschweigen. Noch heute soll er sich von hier auf den Weg machen‘).

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genteil. Dass das so ist, liegt nicht nur daran, dass die beiden jüngeren Texte Geschichten erzählen, deren ungefähren Verlauf ein belesenes und interessiertes Publikum schon von Wolfram kennt, sondern auch daran, dass die Dichter bei der Schilderung der Gralinschriften unterschiedliche Ziele verfolgen: Wolfram verfährt mit dem Publikum des Romans so ähnlich, wie Gott es innerhalb der Geschichte mit den Figuren tut. Beide geben ihren Leserinnen und Lesern Lese- und Interpretationsaufgaben, die sie bewältigen müssen. Wolfram aktiviert sein Publikum stärker als die Dichter der beiden jüngeren Gralromane, indem er sein Publikum dazu provoziert, darüber nachzudenken, welche Worte mit welcher Bedeutung bei bestimmten Gelegenheiten auf dem Gral stehen oder gestanden haben könnten. Im Jüngeren Titurel und im Lohengrin hingegen werden die von Wolfram platzierten Leerstellen zumindest teilweise gefüllt. Das Publikum wundert sich an diesen Stellen nicht mehr selbst, sondern verfolgt nun mit, wie die ahnungslosen Figuren innerhalb der Erzählung sich wundern.

Steuerung durch Sendschreiben Was hat Gott den Menschen zu sagen, mit denen er mittels Gralinschriften kommuniziert? Denkbar wäre ja vieles: Im Parzival etwa könnte er dem leidenden Anfortas Trost spenden oder ihm mitteilen, wie er seine Schmerzen dauerhaft lindern kann, bis der neue Gralkönig eingesetzt ist. Auf solche unmittelbar nützlichen Nachrichten aber können die Gralritter lange warten, und das müssen sie auch, denn: Man kann dem Gral nicht einfach Fragen stellen und erwarten, sofort Antworten zu erhalten. Die Kommunikationssituation ist davon geprägt, dass eine Partei sendet und eine Partei empfängt, wobei die Empfänger auf den Sendevorgang keinerlei Einfluss nehmen können.³¹ In allen drei Texten nutzt Gott den Gral dazu, Einfluss auf die Welt zu nehmen. In den meisten Fällen betrifft die Einflussnahme sowohl die Gralgesellschaft, die die Botschaften zuerst liest, als auch weitere Figuren, die durch die Einflussnahme in irgendein Verhältnis zum Gral und zur Gralgesellschaft gesetzt werden. Klassifizieren lassen sich die Anweisungen auf dem Gral danach, ob der Gral sich (1) über vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Gegebenheiten äußert, (2) Aussagen über das von ihm gewünschte Verhalten der Figuren macht oder (3) deren Position, ihr Wesen oder ihre Bestimmung beschreibend festlegt. In der Terminologie von John Searle vollzieht Gott im ersten Fall einen assertiven Sprechakt (oder besser: Schreibakt), mit dem er Aussagen über die Wirklichkeit macht, so wie sie war, ist oder sein wird; im zweiten tätigt er einen direktiven Schreibakt, durch den er Handlungen oder Prozesse anstößt;

 Überlegen könnte man höchstens, ob das Bittgebet, das die Gralritter Trevrizent zufolge nach Anfortas‘ Verwundung in höchster Not vor dem Gral verrichten, bewirkt, dass auf dem Gral die Schrift erscheint, die die Ankunft eines Erlösers ankündigt (P 483,19 – 21).

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und im dritten vollbringt er einen deklarativen Schreibakt, mit dessen Hilfe ein Zustand dadurch hergestellt wird, dass Gott ihn benennt – so, wie er es etwa bei der Erschaffung der Welt durch das Aussprechen deklarativer Sätze wie ‚es werde Licht‘ (Gen 1,3) tut.³²

(1) Die Assertiva des Grals: Was war, was ist, was wird sein? Rein assertive Schreibakte Gottes werden explizit vor allem im Jüngeren Titurel beschrieben, wenn etwa der titelgebende Protagonist davon berichtet, dass er auf dem Gral über Frimutels und Anfortas‘ künftiges Leiden gelesen habe (JT 600,1– 4 und 637,3 – 638,1). Häufig allerdings bleiben solche Asservativa oder Repräsentativa nicht allein für sich stehen, sondern werden mit dem zweiten Typus von Sprechakt verknüpft, dem direktiven: So lässt der Gral eines Tages den seit mehreren hundert Jahren unverheirateten Titurel lesen, dass es ihm nun erlaubt sei, eine Ehefrau zu nehmen (JT 442,3 – 4). Schon im nächsten Vers schlägt diese Feststellung in eine Anweisung um: ‚di soltu nemen zu wibe‘ (JT 443,1). Dieses Muster der Assertion, die eine Direktive nach sich zieht, kommt auch im Parzival und im Lohengrin häufig zum Einsatz. Im ersten Teil jener Inschrift im Parzival zum Beispiel, in der Gott über das Kommen des Erlösers informiert, kündigt der Gral zunächst an, dass ein Ritter kommen werde, dessen Frage dem Kummer auf der Gralburg ein Ende machen werde. Gleich im Anschluss an diese Verheißung und eine rhetorische Frage folgt ein Direktivum, das eine Handlung verbietet: Man dürfe diesem Ritter keinen Hinweis darauf geben, wie er sich verhalten solle. Und auch die Gralinschrift im Lohengrin klärt ihre Leserinnen und Leser zunächst über Elsams Notlage auf und schreibt ihnen dann buchstäblich vor, wie sie darauf reagieren sollen.³³ Nur selten wird also der Gral in allen drei Texten dazu genutzt, ausschließlich Informationen zu übermitteln, aus denen die Lesenden dann ihre eigenen Schlüsse ziehen können. Meistens folgt auf eine Assertion (sei es in Form eines Berichts über Vergangenes, einer Information über Gegenwärtiges oder einer Ankündigung von Zukünftigem) eine Direktive, also ein Handlungsgebot oder -verbot. Der Gral erweist sich in einer Formulierung Christian Kienings „als eine Umschaltstelle, die Dinge eher in Bewegung versetzt als festschreibt“.³⁴ Das heißt: Wenn Gott Schriften auf dem Gral erscheinen lässt, dann informiert er für gewöhnlich nicht, sondern stellt Forderungen.

(2) Die Direktiva des Grals: Was soll man tun? Diese göttlichen Forderungen können positiver oder negativer Natur sein, das heißt, Gott kann zu Handlungen auffordern und Handlungen untersagen. Ulrich Ernst zu Vgl. John R. Searle: Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge 1979, S. 12– 20.  Vgl. L 502– 505 bzw. 506 – 508.  Kiening, Medialität, S. 339.

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folge erscheinen die Gralinschriften „als Machtinstrument in der Hand Gottes, der fast wie ein irdischer Potentat Dekrete erlässt bzw. administrative Maßnahmen mittels Erlass oder Verfügung trifft“.³⁵ Wie genau sehen nun die göttlichen Direktiven aus, welche Maßnahmen und Handlungen fordern oder verwehren sie? Im Lohengrin werden in der Schrift auf dem Gral ausschließlich aktive Handlungen verlangt.³⁶ Im Parzival nutzt der Gral (oder sein göttlicher Benutzer) zudem die Möglichkeit, Gebote und Verbote zu kombinieren, indem er beispielsweise in seiner Anweisung zur Aussendung von Gralrittern in herrenlose Territorien in einer bemerkenswerten Priorisierung zuerst die Frage nach dem Namen und der Herkunft der Gralritter verbietet und dann erst ihre eigentliche Aufgabe benennt (P 818,25 – 30). Im Jüngeren Titurel wiederum gibt der Gral eine große Vielzahl von positiven Anweisungen, die nicht nur isolierte Handlungen, sondern das gesamte Leben seiner Leser betreffen. So teilt er etwa mit, dass Titurel Richaude heiraten soll, aber auch, wie er seinen Tempel gebaut haben will (JT 339,1– 4); er impliziert, dass Titurel zwei seiner Kinder nach dem Vater und der Mutter der Ehefrau benennen möge (JT 444,1– 4), und erklärt, zumindest in den Worten Kundries, sogar höchste Freude zu einer Art Aufgabe, zu deren fleißiger Erledigung geraten wird: uns riet des grales heilic art mit schrift, wir solten uns noch vreuden nieten (JT 5270,2). Die Umfassendheit, Entschiedenheit und Unhinterfragbarkeit der Aufforderungen und Befehle, die der Gral in allen drei Texten und vor allem im Jüngeren Titurel an seine Leserinnen und Leser richtet, macht deutlich, in welch hohem Maß deren gesamte Existenz nicht von ihnen selbst, sondern von Gott gesteuert und kontrolliert wird.

(3) Die Deklarativa des Grals: Was oder wer wird man sein? Noch deutlicher sichtbar wird diese Form der durch Schrift organisierten Fremdbestimmtheit der Gralgesellschaft in jenen göttlichen Schreibakten, die nicht so sehr Zustände beschreiben oder bestimmte Handlungen der Lesenden nach sich ziehen sollen, sondern selbst schon im Moment ihrer Übermittlung und Rezeption Handlungen konstituieren, die den Zustand und die Ordnung der erzählten Welt verändern. Anders als der Protagonist des Jüngeren Titurel kann Wolframs Parzival keine Direktive über die Wahl seiner Ehefrau erhalten, da er ja bereits ohne Erlaubnis des Grals geheiratet hat, bevor er von diesem auch nur wusste. Condwiramurs wird Parzival daher nicht vom Gral als Ehefrau angetragen; wohl aber wird sie zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam mit ihrem Mann und einem ihrer Söhne zum Gral

 Ulrich Ernst: Wolframs Gral und der Schatz der Templer. Theokratie, Heterotopie und Imagologie im ‚Parzival‘, in: Artushof und Artusliteratur. Hg. von Matthias Däumer, Cora Dietl und Friedrich Wolfzettel. Berlin, Boston 2010, S. 191– 213, hier S. 199. In der Tatsache, dass Gott seine Erlasse und Verfügungen den Adressaten schriftlich zukommen lässt, sieht Ernst einen „Reflex auf Tendenzen zur Skripturalisierung von Herrschaft im Hochmittelalter“.  Das mit der Heirat von Elsam und Lohengrin verbundene Frageverbot wird erst relativ spät benannt, und auch dann nur in Anspielungen (L 2268 – 2306).

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benant (P 781,19). Die Benennung oder Berufung zum Gral ist kein Befehl, keine Anweisung zum Handeln – sobald die Benennung mittels epitafjum erfolgt ist, hat sich die Position der oder des Benannten in der erzählten Welt bereits grundlegend verändert, ganz gleich, wie lange diese Personen nun noch brauchen, bis sie auf der Gralburg ankommen. Dass eine solche Berufung exklusiv ist und nicht automatisch vererbt wird, zeigt die Ungleichbehandlung der beiden Söhne Parzivals. Die Gralbotin drückt es so aus: ‚Condwîr âmûrs daz wîp dîn / und dîn sun Loherangrîn / sint beidiu mit dir dar benant. / dô du rûmdes Brôbarz daz lant, / zwên süne si lebendec dô truoc. / Kardeiz hât och dort genuoc‘ (P 781,17– 22). ‚Condwiramurs, deine Frau, und dein Sohn Loherangrin sind beide mit dir zusammen dorthin berufen. Als du das Land Brobarz verließest, trug sie in ihrem Leib zwei lebendige Söhne. Kardeiz wird ebenfalls dort genug haben.‘

Die Gralburg kann mit „dort“ nicht gemeint sein. Dem Jungen Kardeiz werden die Erbgüter seines Vaters zugesprochen (P 803,1– 23), die er sodann seinen Gefolgsleuten zu Lehen gibt. Der Hinweis, dass die Schar danach mit dem jungen König heimzieht, während Loherangrin und seine Mutter mit Parzival zur Gralburg reiten (P 803,30 – 804,7), lässt den Schluss zu, dass Kardeiz, der von nun an von Herzog Kyot erzogen wird, im Gegensatz zu seinem Bruder eben nicht zum Gral berufen ist. Das heißt: Die himmlischen Benennungen oder Berufungen sind für Interpretationen nicht offen. Zudem sind sie auch ex negativo verständlich.Wer benannt wird, ist ein Berufener oder eine Berufene, wessen Name hingegen nicht auf dem Gral erscheint, ist es nicht. Dies gilt nicht nur für Funktionsträger wie Könige oder Gralträgerinnen, sondern auch für Mitglieder der Gralgemeinschaft ohne besondere Funktion (P 470,21– 30). Auf die gleiche Weise funktionieren die göttlichen Schreibakte auch bei Albrecht, weshalb Richaude im Jüngeren Titurel nur einen genau definierten Teil ihres Gefolges nach Munt Salvasch mitbringen darf (JT 448,1– 3). Ähnlich wichtig wie die Benennung derjenigen, die willkommen sind, ist Albrecht zufolge auch das Verschweigen derer, die nicht zum Gral kommen dürfen: Und all die dar genennet wurden mit der schrifte, / di warn also bekennet, daz ir deheinez ot nimmer mein gestifte. / und die man in der luter nicht bekande, / der nam da wart verborgen, daz si zem gral mit schrifte nieman nande (JT 520,1– 4). Und alle, die namentlich dorthin berufen wurden durch die Schrift, die wurden als Menschen erkannt, die niemals Böses taten. Die aber, die man nicht als rein erkannte, deren Namen blieben verborgen, da sie niemand durch Schrift zum Gral berief.³⁷

 Herbert Guggenberger argumentiert, dass nicht der Gral, sondern die Gralgemeinschaft schriftlich Berufungen ausspreche, und bezieht sich dabei auf einen Erzählerkommentar, der erklärt, wie man die gefallenen Gralritter ersetze: Do was man ander welende von landen wit mit schrifte (JT 476,1: Da wählte man schriftlich andere aus fernen Ländern aus). „Das Subjekt (man) kann kaum den Gral meinen, da sich ein unbestimmtes Personalpronomen nur auf eine nicht näher definierte Gruppe von Personen

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Ebenso wählerisch ist der Gral bzw. ist Gott, als der Gral lange Zeit nach dieser Formierungsphase nach Indien umzieht – es sind nicht einmal alle Seeleute dazu geeignet, an der Überführung mitzuwirken (JT 6067,2– 6068,4). Wolfram und Albrecht lassen jeweils nur an einer einzigen Stelle eine Figur über eine Ausnahme von der Berufungsregel sprechen. Im Parzival sagt Trevrizent, dass Parzival unbenennet (P 473,12), und im Jüngeren Titurel sagt Kundrie, dass er ungewiset (JT 5270,3) auf die Gralburg gekommen sei. In beiden Fällen wurde Parzival zwar vor seinem ersten Besuch auf der Gralburg vom Gral angekündigt, er wurde aber eben nicht benennet, d. h. beim Namen genannt und solchermaßen berufen.³⁸ Dies ist erst vor seinem zweiten Besuch der Fall, und erst jetzt wird er ja auch wirklich zum Gralkönig gekrönt.³⁹ Anders gesagt: Es handelt sich nur bei dem zweiten Schreibakt um ein Deklarativum, dessen volle Wirkung sich im Geschrieben- und Rezipiertwerden der Gralinschrift entfaltet. Die erste Schrift hatte keinen neuen Gralkönig eingesetzt, sondern nur die Möglichkeit einer Einsetzung in Aussicht gestellt und ansonsten den Mitgliedern der Gralgesellschaft ausführlich vorgeschrieben, was sie alles nicht tun dürften, um aus der Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. In dieser Lesart formuliert die Inschrift keinen Test, den der mit den Regeln der Gralsphäre nicht vertraute Parzival bestehen muss, sondern vielmehr eine Prüfung, die für die Gralgesellschaft bestimmt ist. Die Gralhüter sind es, an die sich die göttliche Anweisung richtet. Diese sollen sie befolgen, obwohl sie ihnen Qualen verursacht und ihnen keinerlei Gründe dafür genannt werden. Erprobt werden unbedingter Gehorsam und die Bereitschaft, absolut passiv zu bleiben. Beides sind Tugenden, an denen der aktuelle Gralkönig Anfortas gescheitert war und deren Missachtung zu seiner grausamen Bestrafung und damit auch zur Bestrafung seiner Untertanen geführt hatte.Von einem Scheitern Parzivals kann man daher bei seinem ersten Besuch eigentlich nicht sprechen: Wie falsch er sich mit seinem fehlgeleiteten Schweigen in den Augen Sigunes, Trevrizents oder Cundries auch verhalten haben mag – zum Gral berufen war er zu beziehen kann. […] Als Beurteilungsinstanz scheint gewissermaßen die ‚Öffentlichkeit‘ (gemeine) zu fungieren, die unter Anwendung bestimmter Regeln eine Entscheidung trifft.“ Herbert Guggenberger: Albrechts Jüngerer Titurel. Studien zur Minnethematik und zur Werkkonzeption. Göppingen 1992, S. 89. Von der Hand zu weisen ist das Argument nicht. Da aber im Jüngeren Titurel an vielen Stellen davon gesprochen wird, dass auf dem Gral zu lesen sei, wer zur Gralgemeinschaft gehören soll und wer nicht, jedoch nie explizit davon die Rede ist, dass die Gralgemeinschaft schreibt, überzeugt es mich nicht vollständig.  Trevrizent erklärt im Parzival entsprechend, dass man den Gral nicht erjagen könne: ‚jane mac den grâl nieman bejagn, / wan der ze himel ist sô bekant / daz er zem grâle sî benant‘ (P 468,12– 14: ‚Niemand kann den Gral erjagen, außer, er ist im Himmel bekannt, sodass er zum Gral namentlich berufen wird‘). Diese Aussage wiederholt Parzival später gegenüber den Artusrittern (P 786,3 – 7). Zu der Frage, ob Trevrizent nun wirklich gelogen hat vome grâl, wiez umb in stüende (P 798,7) und worin diese Lüge bestanden haben soll, vgl. z. B. Martin Schuhmann: Reden und Erzählen. Figurenrede in Wolframs ‚Parzival‘ und ‚Titurel‘. Heidelberg 2008, S. 176 – 191; Cornelia Herberichs: Erzählen von den Engeln in Wolframs ‚Parzival‘. Eine poetologische Lektüre von Trevrizents ‚Lüge‘, in: PBB 134 (2012), S. 39 – 72.  Im Jüngeren Titurel verwischt Sigune den Unterschied, wenn sie die Worte ‚Erwählung‘, ‚Nennung‘, ‚Bekanntmachung‘ und ‚Beschreibung‘ beinahe synonym benutzt (JT 5455,1– 5456,2).

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diesem Zeitpunkt sowieso noch nicht. Gefordert ist in dieser Situation weniger der zukünftige Gralkönig als vielmehr die Gralgesellschaft. Indem die Ritter und Damen während Parzivals Zeit auf der Gralburg und darüber hinaus gehorsam und passiv bleiben, obwohl in der Situation selbst alles dagegenspricht, stellen sie unter Beweis, dass zwar einzelne Mitglieder wie Anfortas oder Trevrizent sich dem Willen Gottes widersetzt haben mögen, dass aber die Gralgemeinschaft als Institution noch immer so funktioniert, wie Gott es will. Seine Gnade kann er verdient oder unverdient gewähren – ob und wann Anfortas endlich geheilt wird, liegt allein in seinem Ermessen. Die maßgebliche Herausforderung besteht daher nicht nur für Parzival, sondern auch für die Gralgesellschaft darin, gehorsam zu sein, ohne sich bestimmte Konsequenzen zu erhoffen. Was auf dem Gral geschrieben steht, daran muss man sich orientieren: Feststellungen müssen geglaubt, Deklarationen müssen akzeptiert, Aufforderungen müssen umgesetzt werden. Im Parzival, im Jüngeren Titurel und im Lohengrin kontrolliert Gott die erzählte Welt, indem er eine kleine Gruppe an einem bestimmten Ort schriftlich anspricht und mitteilt, was die Mitglieder dieser Gruppe zu glauben, zu akzeptieren und zu tun haben. Er bestimmt, was an diesem Ort geschieht, wer dorthin kommen darf und wer von dort weggeht, um göttliche Missionen andernorts zu erfüllen. Die göttlichen Botschaften machen die Gralburg zum Mittelpunkt dieser Welt, auch wenn es ein Mittelpunkt ist, von dessen ganzer Bedeutung nur Gott und die Gralgesellschaft wissen.

5.2 Die Materialität der Gralinschriften Die Dichter des Gregorius, des Wigalois und des Reinfried von Braunschweig legen Wert darauf, sich über die Materialität der Objekte zu äußern, auf denen Geschriebenes zu lesen ist: Die Tafel des Gregorius ist aus Elfenbein gemacht und nicht aus Holz, Japhites Sarg besteht aus strahlenden Edelsteinen und nicht aus stumpfem Granit, Savilon wirkt seinen Zauber mithilfe eines kleinen Zettels und nicht mit haushohen Metallplatten. In allen drei Fällen kommen zu den Beschreibungen der Schriftträger noch mehr oder weniger ausführliche Beschreibungen der sie umgebenden Räume: Das Versteck für die Tafel befindet sich in einem Raum des aquitanischen Herrschaftssitzes, das Mausoleum Japhites auf der Burg Glois im Land Korntin, Savilons Festung innerhalb des Magnetbergs im Lebermeer. In den Gralromanen hat man es nun nicht nur mit vergleichsweise außergewöhnlichen, da ephemeren und zum Teil rätselhaften Inschriften zu tun, sondern auch mit außergewöhnlichen Schriftträgern. Was die Gegenständlichkeit und die Funktionalität dieser Objekte angeht, so spielen Wolfram, Albrecht und der Dichter des Lohengrin mehrfach mit den Erwartungen und imaginativen Bedürfnissen ihres jeweiligen Publikums. Dies tun sie, indem sie ihre Leser über die materialen Eigenschaften des Grals im Unklaren lassen, unverständliche oder nur schwer miteinander vereinbare Informationen liefern oder auch entweder stückweise und zeitversetzt oder erst sehr spät über die Materialität des

5.2 Die Materialität der Gralinschriften

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Schriftträgers aufklären. Die umgebenden Gebäude finden entweder kaum Beachtung oder sie werden in exzessiven Ekphrasen geschildert, die das Objekt in ihrem Zentrum beinahe zum Verschwinden bringen. Und schließlich erscheint der Gral als eine Art eigensinniges Ding, in dem sich Gott den Figuren in der erzählten Welt darbietet oder verweigert und das in vergleichbarer Weise auch für das Publikum der Texte nie vollständig greifbar wird.

Die Gegenständlichkeit des Grals Viele himmlische Botschaften werden auf Schriftträgern übermittelt, die entweder irdischer Herkunft sind oder deren ebenfalls himmlische Herkunft man ihnen nicht oder kaum ansehen kann. Belsazars Menetekel etwa erscheint an einer ganz diesseitigen Palastmauer. Diese trägt zum Verständnis der Botschaft nur insofern bei, als die göttliche Drohung den Herrscher im räumlichen Herzen seiner Macht trifft. Es macht aber offenbar keinen Unterschied, ob es sich dabei um eine Vorder- oder um eine Rückwand handelt, wichtig ist nur, dass die Schrift von allen Anwesenden gesehen und als nicht menschengemacht interpretiert werden kann. Auch der versiegelte Brief, der dem kleinen Eraclius bei Otte in die Wiege gelegt wird, ist zwar mit liehten buochstaben beschrieben (Eraclius 377). Abgesehen davon ist aber an dem Schriftstück als physischem Gegenstand nichts Besonderes, das die beiden in der Erzählung geschilderten Lektüreakte beeinflussen könnte. Aufmerksamkeit und Reaktionen lösen letztlich nur die ungewöhnliche Art der Zustellung aus (die Mutter erschrickt) sowie der Inhalt des Briefs (die Mutter fügt sich, der Sohn freut sich). In den Gralromanen hingegen ist der Schriftträger als Kommunikationsmedium nicht von der übermittelten Nachricht zu lösen. Gott benutzt, wenn er im Parzival, im Jüngeren Titurel oder im Lohengrin mit der Gralgesellschaft kommuniziert, stets diesen einen Gegenstand, von dem die Mitglieder der Gralgesellschaft wissen, dass er ihre wichtigste Verbindung zwischen der himmlischen und der irdischen Sphäre bildet.⁴⁰ Bevor die regelmäßige Übermittlung von schriftlichen Botschaften Gottes an die Gralgesellschaft beginnen konnte, so erzählen es die Texte implizit oder explizit, musste zunächst der Gral selbst von Gott an die Menschen übermittelt werden, die daraufhin damit begannen, eine neue, geistlich-elitäre Gemeinschaft zu bilden. Von diesem Moment an ist der Gral als Gegenstand immer und grundsätzlich konstitutiver Bestandteil jeder nachfolgenden Botschaft, die auf ihm erscheint und die an diesen ersten, sich physisch in der erzählten Welt manifestierenden kommunikativen Akt erinnert. Die Gralromane des 12. und 13. Jahrhunderts evozieren unterschiedliche Vorstellungen davon, was für eine Art von Gegenstand der Gral eigentlich ist. Manche Dichter

 Dass Gott beispielsweise im Lohengrin grundsätzlich auch andere Mittel zur Verfügung stehen, zeigt der Himmelsbrief, den der Papst während der Messe erhält (L 5924– 5936).

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charakterisieren ihn als weltliches Gebrauchsobjekt, andere als sakrales, manche als Artefakt, andere als nicht menschengemacht, manche geben ihm eine Geschichte, andere belassen seine Herkunft im Dunklen. Man kann sich also durchaus fragen, inwiefern es für das Verständnis des jeweiligen Textes einen Unterschied macht, ob eine göttliche Inschrift auf einem Stein, einem Kelch oder einem steinernen Kelch erscheint und ob das Ding menschlichen oder göttlichen Ursprungs ist. Chrétien de Troyes, dessen Perceval ou li contes dou graal Wolfram später bearbeiten, erweitern und zu Ende erzählen wird, umgibt den Gral bei der merkwürdigen Prozession, deren Zeuge Perceval bei seinem ersten Besuch auf der Gralburg wird, mit allerlei anderen Gegenständen: Diener bringen ein Tischgestell und Waschutensilien; andere Personen tragen eine blutende oder blutige Lanze, goldene Kerzenleuchter und eine silberne Platte an dem staunenden jungen Mann vorbei; und eine schöne und anmutige Dame hält in ihren Händen einen Gral (Perceval 3220: [u]n graal), d. h. eine Servier- oder Vorlegeschüssel.⁴¹ Von dieser Schüssel, die mehrmals an Perceval vorbeizieht, geht ein heller Lichtschein aus, sie ist aus Gold gefertigt und mit Edelsteinen besetzt (Perceval 3224– 3239). Außerdem ist sie ist zwar offenbar groß genug, um größere Fische darin zu servieren, tatsächlich aber trägt man eine Hostie darin (Perceval 6422– 6423). Möglicherweise wird dadurch angedeutet, dass der Gral eine sakrale, vielleicht sogar sakramentale Funktion besitzt. Auf jeden Fall ist die Schüssel, das zeigt die sorgsame Inszenierung vor dem schweigenden Perceval, kein Geschirr für den Alltagsgebrauch. Eine Vorstellung vom Aussehen des Objekts kann das Publikum sehr wohl entwickeln. Ähnlich geht auch Robert de Boron in der Estoire dou Graal vor, die etwa zeitgleich mit Chrétiens Perceval oder wenig später entstand – auch in diesem Text hat der Gral eine klar definierte Form, wenn auch eine andere als bei Chrétien und mit verstärkt eucharistischen Implikationen. Die „eher assoziative ‚Heiligkeit‘“⁴² des Grals im Perceval konkretisiert Robert, indem er ihn erstens zu dem Kelch erklärt, den Jesus beim letzten Abendmahl benutzt hat, und zweitens zu dem Gefäß, mit dem Joseph von Arimathia bei der Kreuzabnahme Jesu Blut aufgefangen hat (Estoire 395 – 400 und 555 – 574).⁴³ Mit der Ikonographie des Kelchs sind bei Robert de Boron nicht nur die

 Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 1991. „Ein Gral ist ein höfisches Tafelgeschirr; die gut bezeugte Wortform stammt von lateinisch gradale und bezeichnet eine flache große Schüssel, in der man Speisen stufenförmig anordnet; in der Kirche kommt so etwas nicht vor.“ Volker Mertens: ‚Parzival‘/Der Stoff: Vorgaben und Fortschreibungen, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. Hg. von Joachim Heinzle. Bd. 1. Autor, Werk,Wirkung. Berlin, Boston 2011, S. 264– 307, hier S. 266. Zum Terminus graal bzw. Nominativ graaus im Altfranzösischen und zum Bedeutungsfeld vgl. auch Christa-Maria Kordt: Parzival in Munsalvaesche. Kommentar zu Buch V/1 von Wolframs ‚Parzival‘ (224,1– 248,30). Herne 1997, S. 111– 114.  Mertens, Stoff, S. 276.  Robert de Boron: Le Roman du Saint-Graal. Übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer. München 1981. Abgeleitet wird das Wort graal bei Robert von dem Verb agreer (‚angenehm sein‘, ‚erfreuen‘). Petrus respont: ‚N’ou quier celer, / Qui à droit le vourra nummer, / Par droit Graal l’apelera; /

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Einordnung des Grals in die zentralen Vorgänge der Heilsgeschichte, sondern auch seine Beschaffenheit und sein Aussehen eindeutig festgelegt.⁴⁴ In Wolframs Parzival ist das anders. Auch hier wird der Gral, wie in Chrétiens Perceval, als Teil eines Ensembles von Gegenständen eingeführt: Parzival sieht – abgesehen von dem kostbaren Tisch, den man vor ihm und dem Hausherrn aufbaut – eine blutige Lanze, goldene Kerzenständer, zwei scharfe silberne Messer, Gläser mit brennendem Balsam, goldene Waschbecken und allerlei Schüsseln. Der Gral aber, den die Gralträgerin vor Anfortas absetzt, wird nicht als Schüssel, Schale oder als eine andere Art von Behältnis, sondern überhaupt nicht als irgendwie identifizierbarer Gegenstand gekennzeichnet. Die Bezeichnung ‚Gral‘ ist hier kein Appelativum, wie bei Chrétien, sondern ein Eigenname, aber was genau es ist, was da vom Erzähler benannt und von der Figur Repanse de Schoye herbeigebracht wird, bleibt vorerst nicht nur für den überwältigten Gast Parzival, sondern auch für das Publikum ein Rätsel: ûf einem grüenen achmardî / truoc si den wunsch von pardîs, / bêde wurzeln unde rîs. / daz was ein dinc, daz hiez der Grâl, / erden wunsches überwal (P 235,20 – 24). Auf grünem Achmardi trug sie das Paradiesischste, was man sich vorstellen kann, Wurzel und Spross zugleich. Das war ein Ding, das hieß ‚Der Gral‘. Alles Glück, das man auf Erden wünschen kann, vermag ihn nicht zu fassen.

Trevrizent präzisiert später diese Angabe des Erzählers ein wenig, wenn er Parzival gegenüber vom Gral als von einem steine spricht (P 469,3). Gleich darauf aber erzeugt er schon die nächste Unklarheit, indem er den Namen dieses Steins nennt: er heizet lapsit exillîs (P 469,7). In der Forschung hat man eine ganze Reihe von Mutmaßungen darüber angestellt, was das heißen soll – meint Wolfram hier eigentlich lapis electrix (Bernstein) oder lapis textilis (Asbeststein), lapis exilis (kleiner, unscheinbarer Stein), lapis ex celis (Stein aus dem Himmel) oder lapis exsulis (Stein der Verbannten)?⁴⁵ Ist möglicherweise überhaupt kein Stein indiziert, sondern ein Lapsus, ein Fall? Oder ist der Ausdruck gar nur „a case of hocus-pocus on Wolfram’s part, something that sounds like Latin to impress a gullible audience and to amuse the savants among his

Car nus le Graal ne verra, / Ce croi-je, qu’il ne li agrée‘ (Estoire 2657– 2661: Petrus antwortet: ‚Ich will es nicht verheimlichen, wer es richtig bezeichnen will, wird es von rechtswegen Gral nennen; denn niemand wird den Gral sehen, wie ich glaube, dem er nicht gefällt‘).  Zum Gral bei Chrétien de Troyes und Robert de Boron, vor allem aber in zwei jüngeren Texten, der Queste del Saint Graal und dem Haut livre dou Graal, vgl. Brigitte Burrichter: Mythos und Heilsgeschichte in den französischen Gralsromanen, in: Artusroman und Mythos. Hg.von Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl und Matthias Däumer. Berlin, Boston 2011, S. 409 – 425.  Zu den Mutmaßungen über den Ursprung des Ausdrucks vgl. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar 2004, S. 139 – 140. Zur These einer absichtlichen Verrätselung vgl. Susanne Knaeble: Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs ‚Parzival‘. Berlin 2011, S. 179. Vgl. auch Robert Schöller: Die Fassung *T des ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil. Berlin, New York 2009, S. 364– 373.

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listeners“?⁴⁶ Und weiter: Hat das Ding nun also zwei Namen, nämlich sowohl ‚Gral‘ als auch ‚Lapsit Exillis‘? Oder ist ‚Gral‘ doch eine Gattungsbezeichnung und ‚Lapsit Exillis‘ eine Beschreibung, entweder der Materialität oder der Herkunft des Gegenstands – oder beides?⁴⁷ Was das Aussehen und die Beschaffenheit des Grals angeht, so tragen auch Trevrizents Erläuterungen zum Erscheinen der Gralinschriften nur vermeintlich zur Klärung bei. Das Epitaph erscheine zende an des steines drum (P 470,23), also an seinem Ende oder an seinem Rand. Was soll das bedeuten? Muss man um den Stein herumgehen oder ihn drehen, um die Inschrift lesen zu können? Kann ein unbehauener Stein einen Rand haben? Falls aber der Stein behauen oder geschliffen ist, wer hat dies dann bewirkt? Um was für eine Art von Stein handelt es sich überhaupt, soll man sich einen Felsbrocken oder einen edlen Stein vorstellen, und wenn es ein Edelstein ist (P 469,4: des geslähtes ist vil reine), welche Farbe hat er dann eigentlich?⁴⁸ Wie groß ist er?⁴⁹ Vergleichen kann man die (ausbleibende) Beschreibung des Grals mit der eines anderen bemerkenswerten stein[s] (P 592,1) im selben Roman, nämlich der Wundersäule auf Schastel marveile (P 589,1– 592,20).⁵⁰ Auch dieses technische Meisterwerk mit Teleskop-Funktion ist alles andere als leicht zu imaginieren, obwohl der Erzähler einige Anhaltspunkte gibt, wie man sich zumindest einzelne Teile davon vorzustellen hat: Die Säule befindet sich hoch über dem Palas inmitten eines zeltförmigen Bauwerks mit Dach, Fenstern und Fensterbögen, und entweder besteht das ganze Gebäude oder nur die Säule aus verschiedenen Edelsteinen (P 589,1– 30). Dass der Dichter hier durchaus eine kunstvolle Ekphrase einfügen könnte, wenn er nur wollte, suggeriert der Verweis auf das Grabmal der Camilla, auf dessen Beschreibung Heinrich von Veldeke im Eneasroman, wie Wolfram wohl weiß, einige Mühe verwendet.⁵¹

 Sidney M. Johnson: Doing his own Thing: Wolfram’s Grail, in: A Companion to Wolfram’s Parzival. Hg. von Will Hasty. Columbia, S.C. 1999, S. 77– 95, hier S. 83.  Zu den verschiedenen Schreibweisen in den Handschriften vgl. Eberhard Nellmann: Lapsit exillis? jaspis exillix? Die Lesarten der Handschriften, in: ZfdPh 119 (2000), S. 416 – 420.  „[Wolfram, A.L.] hat jedenfalls den Stein in seinem Aussehen nicht näher beschrieben. Bei ihm wird die Unbestimmtheit des Gegenstandes zu dessen wesentlichstem Merkmal, und darin entfaltet sich die poetische Kraft des Symbols.“ Kordt, Parzival, S. 113.  „Die Länge der Inschrift zeigt […], daß Wolfram sich den Gralstein groß vorstellt.“ Eberhard Nellmann: Kommentar, in: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Bd. II. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns, revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn. Frankfurt a. M. 1994, S. 411– 790, hier S. 691. Eindeutig ist das allerdings nicht – die Buchstaben der Inschrift könnten auch vergleichsweise klein sein, sodass man nahe an den Gral herantreten muss, um sie lesen zu können.  Zu den Parallelen zwischen Gral und Wundersäule vgl.Werner Wolf: Die Wundersäule in Wolframs Schastel Marveile, in: Annales Academiæ Scientiarum Fennicæ B 84 (1954), S. 275 – 314, hier S. 296.  Im Parzival heißt es über die Wundersäule auf Schastel marveile: si was lieht unde starc, / sô grôz, froun Camillen sarc / wær drûffe wol gestanden (P 589,7– 9: Sie war hell und stark und so groß, dass der Sarg der Dame Camilla gut darauf hätte stehen können). Hinzu kommt, dass auch an Camillas Grabmal im Eneasroman ein Instrument angebracht ist, mit dessen Hilfe man in die Ferne sehen kann: der besten spiegel einen, / danen abe ich ie gehôrde, / der stunt an einem orde / oben an dem gewerke / mit

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Auch die Wundersäule aber bleibt, ganz ähnlich wie der Gral, in ihrer Dinghaftigkeit letztlich relativ unanschaulich. Definiert werden beide Gegenstände weniger über das, was sie sind, als über das, was sie tun oder zu tun ermöglichen. Während Wolfram gegenüber seiner Vorlage gezielt verrätselt, woraus der Gral besteht und wie er aussieht, indem er Hinweise über den Text verteilt, die weite Assoziations- und Interpretationsspielräume eröffnen, scheint sich der Dichter des Lohengrin für das Thema kaum zu interessieren. Er übernimmt schlicht – wahrscheinlich von Wolfram – den Hinweis, dass es sich beim Gral um einen Stein handelt (L 489). Noch weniger hat der Jüngere Titurel zur Materialität des Grals zu sagen, zumindest bis kurz vor Ende der Geschichte. Anders als Chrétien und Robert, Wolfram und der Dichter des Lohengrin gibt Albrecht lange Zeit überhaupt keine Anhaltspunkte in der Frage, wie man sich den Gral vorstellen soll. Dass es sich um einen physisch begreifbaren Gegenstand handelt, kann man nur über das erschließen, was man mit dem Gral bis Strophe 605 gerade nicht machen kann, obwohl es kaum etwas gibt, was Titurel sich mehr wünscht: den Gral berühren. Erst ganz zum Schluss rückt Titurel dann doch noch mit weiteren Informationen heraus – und mit was für welchen! ‚Ein schar den gral uf erde bi alten ziten brahte, / ein stein in hohem werde. man eine schuzzel druz da wurken dahte. / jaspis und silix ist er genennet, / von dem der fenix lebende wirt, / swenn er sich selben zeaschen brennet. / Diu selbe schuzzel gehiure was Jesu Krist gebære. […] Joseph von Aromate bekande wol die rehten, / der minnet vrů und spate Jesum Krist mit warheit gar der slehten. / der behielt die schuzzel tougen schone, / untz mirs der engel brahte, benennet „gral“ in engelischem done‘ (JT 6292,1– 6296,4). ‚Eine Schar brachte in alten Zeiten den Gral auf die Erde, einen sehr edlen Stein. Man fasste damals den Plan, eine Schale daraus zu machen. ‚Jaspis‘ und ‚Silix‘ nennt man ihn. Der Phönix erhält von ihm das Leben, wenn er sich selbst zu Asche verbrannt hat. Diese schöne Schale ziemte Jesus Christus wohl. […] Joseph von Aromate kannte die richtige [Schale, A.L.]. Er liebte Jesus Christus von früh bis spät mit wahrer Aufrichtigkeit und er bewahrte die Schale schön heimlich auf, bis ein Engel sie mir brachte, die im Engelsgesang „Gral“ genannt wird.‘

Nachdem Albrecht so lange darüber geschwiegen hat, was der Gral eigentlich ist, schließt er mit einem wahren Exzess an Konkretisierung:Von Wolfram übernimmt er die Vorstellung, dass der Gral ein Stein ist, der ursprünglich vom Himmel kommt, wie auch den Namen. An der Version Roberts de Boron gefällt ihm offensichtlich die Idee, dass Jesus den Gral benutzte (hier für die Fußwaschung) und dass das Gefäß dann an Joseph von Arimathia zur Aufbewahrung weitergegeben wurde. Albrecht verschmilzt diese beiden Konzepte miteinander und setzt seinen Zuhörern und Leserinnen als Resultat ein steinernes Gefäß vor, auf dem manchmal Inschriften zu sehen sind.

solhem gemerke, / swenne lieht was der tach, / daz man den spiegel gesach, / alsô man iht war nam, / swer dô dar zû quam / inwendich einer mîle nâ (Eneasroman 255,38 – 256,7: Einer der besten Spiegel, von denen ich je gehört habe, befand sich an einer Stelle oben in dem Bauwerk zu dem Zweck, dass man, wenn es heller Tag war und man den Spiegel ansah, auf diese Weise sehen konnte, wer immer sich auch näherte im Umkreis von einer Meile).

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

Die variierenden Grade, in denen der Gral im Parzival, im Lohengrin und im Jüngeren Titurel konkrete Formen annimmt oder sich dem Annehmen solcher Formen verweigert, korrespondiert mit dem Wesen der Beziehung zwischen dem Sender der Gralinschriften und ihren Empfängern. Im Parzival und im Lohengrin, deren Erzähler nicht preisgeben, wie der Gral aussieht oder um was für eine Art von ‚Ding‘ es sich bei ihm handelt, ist Gott distanziert, sein Wille ist oft schwer verständlich, seine möglichen Handlungen und Reaktionen für die Menschen nur sehr eingeschränkt einschätzbar. Im Jüngeren Titurel hingegen, der den Gral – wenn auch erst ganz am Ende – mit einer leicht einzuordnenden, wiedererkennbaren Form ausstattet, kommuniziert Gott mit großer Verständlichkeit und Eindeutigkeit. In diesem Text ist er weniger ein deus absconditus als vielmehr eine beinahe gewöhnliche Figur. Von anderen Figuren unterscheidet sich Gott bei Albrecht vor allem dadurch, dass man sich nicht von Angesicht zu Angesicht mit ihm unterhalten kann, dass man aber bei ihm – anders als bei nachlässigen Verwandten oder Freunden – nie befürchten muss, dass er sich einmal längere Zeit nicht melden könnte.

Sakrale Eigenmächtigkeiten Indem der Gral Botschaften sichtbar werden lässt, die Gott der Gralgesellschaft schicken will, fungiert er als Medium, durch das Gott für die Leserinnen und Leser sichtbar in die Welt hineinwirkt. Im Lohengrin scheint dies die einzige Funktion des Grals zu sein. Im Parzival und im Jüngeren Titurel aber nutzt Gott den Gegenstand nicht nur als Kommunikationskanal, über den er Worte an die Menschen sendet. Neben den Inschriften lässt er ihnen, nachdem er ihnen den Gral selbst anvertraut hat, durch Vermittlung des Grals auch noch andere sinnlich erfahrbare Gaben zukommen, vor allem Nahrung und Lebenskraft:⁵² Der Gral spendet die schmackhaftesten und aufregendsten Speisen.⁵³ Wer ihn sieht, bleibt jung und schön und kann eine Woche lang nicht sterben, ganz gleich, wie es um sein Alter oder um seine Gesundheit bestellt ist.⁵⁴ Der Gral hat zudem noch weitere bemerkenswerte Eigenschaften: Seine Macht bewirkt, dass der Phönix zu Asche verbrennt und dann neu geboren wird,⁵⁵ außerdem

 Eine Zusammenfassung der Eigenschaften des Grals im Parzival findet sich z. B. bei Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 136. Zu den Eigenschaften des Grals im Jüngeren Titurel vgl. z. B. Sandra Illibauer-Aichinger: Totgesagte leben länger. Auf der Suche nach dem Mythos im ‚Jüngeren Titurel‘, in: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hg. von Johannes Keller und Florian Kragl. Göttingen 2009, S. 145 – 160, hier S. 157– 160.  Vgl. P 238,8 – 239,7 und 809,25 – 810,5; vgl. auch JT 313,3 – 4 und 6306,1– 3 (nach der Ankunft in Indien speist der Gral niemanden mehr, da dies nun offenbar nicht mehr nötig ist).  Vgl. P 469,14– 27 und 787,4– 7; vgl. auch JT 606,1– 4.  Vgl. P 469,8 – 13 und JT 6292,4.

5.2 Die Materialität der Gralinschriften

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kann er von den falschen Menschen nicht von der Stelle bewegt werden.⁵⁶ Er ist nur für getaufte Menschen sichtbar.⁵⁷ Der Gral ist also in mehrerlei Hinsicht kein gewöhnlicher Gegenstand. Das, was er allein durch seine Anwesenheit bewirken kann, ist in den erzählten Welten der Gralromane weder von anderen Dingen noch von Menschen zu erwarten. Er bildet eine Schnittstelle zwischen Transzendenz und Immanenz, an der Überirdisches einseitig kontrolliert ins Irdische gelangt und sich in irdischen Phänomenen (Nahrung, Körperkraft, Gewicht) manifestiert.⁵⁸ Des grâles kraft, von der bei Wolfram so oft die Rede ist,⁵⁹ wird von der Gralgemeinschaft nicht nur bezeugt, sondern kann von diesen Menschen auch für die eigenen Zwecke nutzbar gemacht werden. In dieser Hinsicht spielt der Gral für die Gralgemeinschaft von Anfang an die Rolle eines sakralen Gegenstandes, dessen kraft daraus resultiert, dass er nicht lediglich auf Gott als einen Abwesenden verweist, sondern Gott selbst in sich vergegenwärtigt. Das Ding, um das sich die Gralgemeinschaft schart, wird als unmittelbar machtvoll inszeniert. Darin gleicht es den Artefakt- oder Körperreliquien, deren Verehrung seit der Spätantike einen zunehmend wichtigen Teil des christlichen Kultes ausmacht. Christliche Gelehrte unterscheiden zwar zwischen der erlaubten und gottgefälligen veneratio von sakralen Körperteilen oder Dingen, die die Gläubigen näher zu Gott führt, und der verbotenen adoratio (Anbetung), die in ihren Augen den Gottesdienst durch Götzendienst ersetzt. In der religiösen Praxis jedoch richtet sich der Kult oft auf die Dinge selbst, von denen man glaubt, dass sie „keine Repräsentanten eines Transzendenten, sondern selbstwirksame, machtgeladene Gegenstände“ sind.⁶⁰ Zur Beschreibung des fiktiven Gralkults bietet sich daher ein Terminus an, der nicht erst in der Moderne im Zusammenhang mit dem christlichen Reliquienkult verwendet wird: der Fetischismus. Geprägt von portugiesischen Seeleuten, die im 15. und 16. Jahrhundert sakrale Gegenstände in westafrikanischen Gesellschaften als fetisso oder feitiço (von lateinisch factitius) bezeichneten und damit menschengemachte Objekte der Verehrung meinten, wurde der Begriff bald von europäischen Gelehrten aufgenommen, die in den fetischistischen Praktiken nichteuropäischer Menschen ein Symptom für deren Degeneration und generelle Inferiorität zu erkennen meinten.⁶¹ Bereits ab dem

 Vgl. P. 477,15 – 18, JT 312,1– 3 und 591,1.  Vgl. P 810,3 – 11 und JT 527,1– 4.  Fragen kann man sich im Zusammenhang mit diesen Phänomenen, ob sie eher als miracula oder als mirabilia zu betrachten sind, d. h. als erstaunliche und unverständliche, aber natürliche Vorkommnisse oder als göttliches Außerkraftsetzen der Naturgesetze. Zu dieser Unterscheidung vgl. Münkler/Röcke, ordo-Gedanke, S. 729 – 730.  So z. B. in P 239,5; 470,20; 479,22; 737,27; 814,21.  Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München 2003, S. 51– 52.  Da der Terminus in der Geschichte der Ethnologie und der Religionswissenschaft lange Zeit eine unzulässig pauschalisierende und kolonialistisch verzerrende Perspektive auf außereuropäische oder hybride religiöse Phänomene nahelegte, wurde er bis vor wenigen Jahrzehnten zur Beschreibung historischer Gegebenheiten verworfen. Auch bei Karl Marx und Sigmund Freud, die den Terminus in

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

17. Jahrhundert jedoch begann man, die keineswegs rein außereuropäischen Praktiken und Phänomene, die wahrscheinlich ohnehin zu einem großen Teil erst im Kontakt mit den europäischen Kolonisatoren hervorgebracht wurden, mit denen des Katholizismus zu vergleichen. Die Parallelen lagen sowohl für protestantische als auch für katholische Beobachter auf der Hand, wenn sich auch die jeweiligen Schlussfolgerungen voneinander unterschieden.⁶² Das Skandalon, als das fetischistische Praktiken in der Frühen Neuzeit betrachtet wurden, bestand darin, dass in ihnen nicht ein immaterieller, abwesender Gott, sondern ein material anwesender, in vielen Fällen sogar von Menschen selbst hergestellter Gegenstand verehrt wurde. Ist also der Gral, vor dem die Menschen auf die Knie fallen und Bittprozessionen abhalten, der sie mit Anweisungen und Nahrung versorgt und seinen Verehrern ewiges Leben schenkt, für diese Menschen ein ‚Fetisch‘ im frühneuzeitlichen und im modernen religionswissenschaftlichen Sinn? Statt sich von der starken Aufladung des Terminus vorschnell zur Bejahung dieser Frage verführen zu lassen oder aber den Fetischbegriff sofort als anachronistisch abzulehnen, kann er heuristisch nutzbar gemacht werden. Fragen kann man zum Beispiel danach, welchen Status der Gral als eigenmächtiges Ding jeweils in den Texten erhält, und zwar sowohl aus der Sicht der Figuren (also der Mitglieder der Gralgesellschaft und Gottes) als auch von Seiten des jeweiligen Erzählers. Wann wird betont, dass sich die Gralhüter mithilfe des Grals an Gott wenden und umgekehrt, dass also die Verbindung zwischen den Verehrenden und dem Verehrten eine vermittelte ist, sich das ganze Sinnen und Streben der Gläubigen auf den nicht material anwesenden Gott richtet und der Gral hierbei nur als Medium dient? Wann richtet sich hingegen die Aufmerksamkeit in einem solchen Ausmaß auf das vermittelnde Instrument, dass Gott als dessen Benutzer beinahe in den Hintergrund gerät? Und welche Effekte hat dies auf den Status der Gralinschriften? Im Lohengrin entsteht der Eindruck, dass sich die Lebensweise der Artus- und Gralgesellschaft ganz an Gott orientiert und nicht etwa an der Sorge um den Gegenstand, den sie mit so großer Aufmerksamkeit bedenkt, dadurch, dass der Gral hier vor allem als Kommunikationsinstrument in Erscheinung tritt. Dass die Gralgesellschaft weiß, es beim Umgang mit dem Gral letztlich stets mit Gott zu tun zu haben, wird an den Worten deutlich, mit denen Artus seine Hoffnung ausdrückt, vom Gral Aufschluss über den Willen Gottes zu erhalten: ‚hân wir iht saelden, zwâr er sagt uns sunder twâl, / waz got ze bezzerunge von uns welle‘ (L 409 – 410: ‚Wenn uns das Heil zuteilwird, sagt

die Bereiche der Wirtschaftsphilosophie bzw. der Psychoanalyse überführten, ist fetischistisches Handeln stets Symptom eines Defizits, einer Aberration, eines Problems, das es zu lösen gilt. Zum Begriff des Fetischismus in vormodernen und modernen wissenschaftlichen Diskursen vgl. z. B. Kohl, Macht, S. 69 – 115; Christina Antenhofer: ‚Fetisch‘ als heuristische Kategorie, in: Fetisch als heuristische Kategorie. Geschichte – Rezeption – Interpretation. Bielefeld 2011, S. 9 – 38; Stefan Eisenhofer: Art. ,Fetisch‘ (Kap. IV,12), in: Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Hg. von Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert und Hans Peter Hahn. Stuttgart, Weimar 2014, S. 206 – 209.  Vgl. Kohl, Dinge, S. 28 – 29.

5.2 Die Materialität der Gralinschriften

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er [der Gral, A.L.] uns gewiss unverzüglich, was Gott als Wiedergutmachung von uns will). Das heißt: Artus erwartet zwar, dass es der Gral ist, der ihn informieren wird. Den dahinterstehenden Willen aber erkennt er zweifelsfrei als den göttlichen an. Der Gral wird im Lohengrin in ein Geflecht aus Artefakten und nichtmenschlichen Lebewesen eingebunden, in dem die Grenzen zwischen Zeichen und Bezeichnetem ebenso wie zwischen Dingen und Personen verschwimmen: Als etwa auf dem Gral trotz dringlicher Bitten keine Informationen erscheinen, begeben sich die Damen der Gralgesellschaft [v]ür daz bilde daz nach gotes muoter ist getihtet‘ (L 427: ‚vor das Bild, das der Muttergottes nachempfunden ist‘). Mithilfe des unbelebten Mediums ‚Marienbild‘ soll die Dargestellte aktiviert werden. Von dieser wiederum erhofft man sich, dass sie ihrerseits als mediatrix etwas bewirkt, allerdings nicht bei Gott, sondern beim Gral (L 470: ‚durch die der grâl muoz tuon szwaz sie gebiutet‘), wodurch dieser zumindest momenthaft eine eigentümliche agency erhält. Bevor die ersehnte Schrift erscheint, zieht man zudem noch vor gotes bilde (L 500) und muss auf Taube und Hostie warten (L 488 – 490). Letztere symboliseren Gott nicht lediglich, sondern verkörpern ihn geradezu. Der Schwan schließlich, der Lohengrin nach der Lesung der Gralinschrift nach Brabant begleitet, erweist sich als Abgesandter Gottes, der den reisenden Ritter unterstützt und ihm den Leib Christi in Hostienform zugänglich macht. In diesem Komplex aus verschiedenen Symbolen, Medien, Mediatoren, Repräsentanten und Manifestationen Gottes vereint der Gral in sich Eigenschaften aus mehreren der genannten Kategorien: Ohne selbst eine Verkörperung Gottes zu sein, verweist er auf Gott, stellt eine Verbindung zu ihm her, gehorcht ihm und handelt an seiner Stelle. Als einen eigenständig machtvollen Fetisch im engeren Sinn inszeniert der Text den Gegenstand nicht. Konsequenterweise sagt Lohengrin später, dass es Gott gewesen sei, der ihn aus dem Bereich des Grals nach Brabant gesandt habe (L 7119), und nicht etwa der Gral. Was der Lohengrin unter anderem mit dem Bild der von einer Taube zum Gral gebrachten Hostie andeutet, dass nämlich der Gral seine Macht von Gott erhält, führt Wolfram im Parzival weiter aus. Jeden Karfreitag, so Trevrizent, schwinge sich eine Taube vom Himmel herab und bringe eine Oblate mit, die sie auf dem Stein ablege. Davon empfange der Stein alles, was an Essen und Trinken auf Erden ganz paradiesisch dufte (P 470,11– 14: ‚dâ von der stein enpfæhet / swaz guots ûf erden dræhet / von trinken unt von spîse, / als den wunsch von pardîse‘). Der Gral muss also regelmäßig sozusagen mit Macht ‚aufgeladen‘ werden, damit er wunderbare Speisen spenden kann. Alle Anwesenden können sehen, woher die Aufladung erfolgt, nämlich vom Himmel her durch zwei Manifestationen Gottes in der Welt – durch den Heiligen Geist in Taubengestalt und durch den Leib Christi in Gestalt einer Hostie. Dazu kommen weitere Hinweise darauf, dass der Gral ein Instrument Gottes und damit in seiner Macht von ihm abhängig ist: Die Gralritter tragen den verwundeten Anfortas vor den Gral, weil sie auf die gotes helfe hoffen (P 480,26); Gott selbst hat festgelegt, dass unverheiratete junge Frauen den Gral umsorgen (P 493,19 – 21); Kindern, die zur Gralgesellschaft berufen sind, gibt Gott Bescheid (P. 495,4– 6); und als Parzival zum zweiten Mal auf die Gralburg kommt, fällt er zwar dreimal in Richtung des Grals auf

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

die Knie, tut dies aber ausdrücklich zêrn der Trinitât (P 795,25). Dass der Erzähler des Parzival grundsätzlich einen Sinn für die Problematik des Götzendienstes hat, zeigt er an der Stelle, an der er den halb jüdischen, halb ‚heidnischen‘ Gelehrten Flegetanis, der vom Gral in den Sternen gelesen hat, anklagt, ein Kalb angebetet zu haben, als sei es sein Gott (P 454,1– 3: Er was ein heiden vaterhalp, / Flegetânîs, der an ein kalp / bette als ob ez wær sîn got). Der Dienst am Gral aber gerät nie in den Verdacht, einer unzulässigen Glaubenspraxis Vorschub zu leisten. Ähnlich wie im Lohengrin ist der Gral auch im Parzival ein Werkzeug Gottes, kein Fetisch. Auch Albrecht betont an mehreren Stellen, dass der Gral von Gott kommt (JT 512,1) und dass es ganz allein Gott ist, der darüber bestimmt, wer zum Gral berufen wird (JT 5507,4). Andernorts erscheint der Gral implizit als irdisches Sinnbild Gottes.⁶³ Sehr häufig jedoch nennen Figuren oder der Erzähler Gott und den Gral im selben Atemzug, als wären sie zwei voneinander unterschiedene Entitäten, denen im gleichen Maß Ehrerbietung zukommt: Man handelt got und dem gral zu wirde (JT 327,4), got und dem gral zu eren (JT 356,4), got und dem gral zu minne (JT 383,2).⁶⁴ Mitunter wird der Gral sogar als eigenständig handelnd geschildert und dabei weitgehend anthropomorphisiert. Eine Anregung zu einer solchen Darstellungsweise entnahm der Dichter möglicherweise der Episode im Parzival, in der von Feirefiz’ Taufe erzählt wird: Als man das Taufbecken aus Rubin und Jaspis zum Gral neigt, füllt es sich mit angenehm temperiertem Wasser (P 817,4– 7: der toufnapf wart geneiget / ein wênec geinme grâle. / vol wazzers an dem mâle / wart er, ze warm noch ze kalt). Eine explizite Aussage darüber, wer oder was für die Füllung des Taufbeckens verantwortlich ist, wird durch die Formulierung vermieden. Nicht mit Mitteln der Logik, sondern mit solchen der Rhetorik – die Schilderung einer räumlichen Annäherung des einen Gegenstandes an den anderen sowie das direkte Aufeinanderfolgen der Handlungen ‚geneigt werden‘ und ‚sich füllen‘ – suggeriert der Erzähler, dass es der Gral ist, der auf wundersame Weise das Wasser in das Taufbecken befördert. Eine solche Handlungsfähigkeit des Gegenstands, wie Wolfram sie nur andeutet, macht Albrecht an vielen Stellen explizit. Während im Parzival ein Taufbecken dem Gral zugeneigt wird, neigt sich der Gral im Jüngeren Titurel selbst und ganz ohne menschliches Einwirken: ‚Der gral dem ritter zeiget, sol er hie tragen orden. / gen wem er sich ie neiget, der ist mit eren samenunge worden‘ […] (JT 648,1– 2: ‚Der Gral zeigt es dem Ritter, wenn er hier dieser Gemeinschaft angehören soll. Wem er sich zuneigt, der wurde damit ehrenvoll in die Gruppe aufgenommen‘). Ob hier nur im übertragenen Sinn von einer Geste die Rede ist oder wie man sich das sonst vorzustellen hat, wenn

 In JT Str. 524 wird beispielsweise der Anblick des Grals mit dem Anblick Gottes parallelisiert, in Str. 545 die Anwesenheit des Grals im Innersten des Tempels mit Gottes Anwesenheit in der Seele des Gläubigen. Vgl. Klaus Zatloukal: Salvaterre. Studien zu Sinn und Funktion des Gralsbereiches im ‚Jüngeren Titurel‘. Wien 1978, S. 235 – 236.  Kaylet de Kastel schafft sich sogar eine Art eigene ‚ritterliche Trinität‘: zu dienste got und wiben und durch den gral so leid er mange pine (JT 464,4: Im Dienste Gottes und der Damen und um des Grals willen litt er viele Schmerzen).

5.2 Die Materialität der Gralinschriften

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der Gral sich jemandem zuneigt, bleibt der Phantasie des Publikums überlassen. Der Gral neigt sich aber nicht nur, er bewegt sich auch (JT 312,4), entschädigt (JT 604,1) und rät, und zwar so, wie auch die wisen raten (JT 5270,1– 2), also genauso wie menschliche Ratgeber. Im Jüngeren Titurel werden dem Gegenstand sogar Emotionen und Intentionen zugeschrieben: Die innerste Kapelle seines Tempels etwa, so Titurel, liebt der Gral: ‚Di inner sacristene, so luter klar gereinet, / dem gral gevellet so bene, daz er si zu wesene minnet unde meinet‘ (JT 545,1– 2: ‚Die innerste Sakristei, so rein und strahlend, gefällt dem Gral so gut, dass er sie als Aufenthaltsort liebt und schätzt‘). Und gegen Ende der Erzählung wird noch einmal berichtet, dass der Gral etwas ganz Bestimmtes will und dies auch durchsetzt: doch wolt er langer stunde beliben niht. gen orient er kerte. / hie von der enge wolt er an die witen, / da sich die cristen merten (JT 6052,2 – 4: Er [der Gral, A.L.] wollte aber nicht mehr lange bleiben. Nach Osten wandte er sich. Er wollte hier aus der Enge hinaus und davon in die Weite, dorthin, wo die Zahl der Christen zunahm). Es ist hier eindeutig der Gral, der nach Osten will, und nicht etwa Gott, der eine solche Ortsveränderung für den Gral wünscht. Gott und der Gral sind im Jüngeren Titurel zwei voneinander getrennte denkende, belohnende, strafende und ihren Willen mitteilende Wesenheiten, von denen diejenige, die sich in der Welt bei den Menschen befindet, in den Augen dieser Menschen durchaus eigene Ansprüche anmelden kann. Dadurch erhält der Gral ein nicht nur metaphorisches, sondern ganz konkretes ‚Eigenleben‘, soweit man diesen Begriff auf einen unbelebten Gegenstand anwenden kann. Der Gral wird vom Objekt zum Subjekt, von einem Ding zu einer Figur, die sich in der ersten Person Singular schriftlich an ihre Leser wenden kann.⁶⁵ Im Jüngeren Titurel ist er nicht mehr nur ein Instrument und Symbol, sondern ein Akteur mit einem eigenen Bewusstsein. Albrecht nimmt damit das Konzept eines von Gott beschrifteten Objekts auf, wie es im Parzival angelegt ist, und verändert es, um eine Aussage nicht nur über Schrift, sondern sehr viel allgemeiner über menschliches Verhalten an sich zu machen. Dies tut er, indem er den Gral mit einem weiteren außergewöhnlichen Schriftträger kontrastiert, nämlich mit dem Brackenseil. In Wolframs Parzival und Titurel werden der Gral und das Brackenseil von Figuren (d. h. von Gott bzw. von Clauditte) als Medien eingesetzt, um einen Kontakt zu anderen Figuren (d. h. zu den Mitgliedern der Gralgesellschaft bzw. zu Ekunat) herzustellen. Beide Dinge entwickeln, sobald sie von ihren Absendern losgelöst sind, ein Faszinationspotenzial, das sich rational nicht ausreichend erklären lässt: Zum Gral wollen auch solche Menschen gelangen, die Gott nicht berufen hat; das Brackenseil wollen auch Menschen besitzen, die mit Clauditte

 So auch Annette Volfing: „Although its textual function is to reveal the will of God in a series of written messages, it often comes across as an autonomous, anthropomorphic being, addressing a core audience that it has selected for itself. This impression of animation on the part of the Grail is brought about in a number of ways. For example, the fact that the written messages, which are not fixed, but change as the Grail apparently reacts to what is going on in the world, are sometimes formulated in the first person singular creates the impression that the Grail has a personal identity.“ Volfing, Medieval Literacy, S. 6.

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

und Ekunat bislang nichts zu tun hatten. Dieses Potenzial, auf Personen faszinierend zu wirken, die weder am Nutzen des Dings als Medium noch am Inhalt der Nachrichten interessiert sind, sondern deren ganzes Begehren sich auf das Ding selbst richtet, steigert Albrecht in seiner Erzählung enorm. Sigune will nicht nur die Geschichte auf der Hundeleine lesen, sie will die Hundeleine haben. Ähnlich geht es Jescute und Clauditte. Ganz ungefährlich ist dieser Wunsch allerdings nicht. Solange man nur den Inhalt der Schrift auf dem Ding rezipiert, ohne dabei das Ding selbst in den Händen zu halten, ist zwar alles in Ordnung. Jeder, der bei der Verlesung durch einen Kleriker anwesend ist, des herze wart gevriet / vor leid, und sich enborte sin gemte wol raste hoch gedriet. / sicheit, wunden, dar zů ander smerzen / wart im da von geringet, so daz er sin vergaz gar an dem herzen (JT 1517,1– 4). dessen Herz wurde vom Leid befreit und seine Stimmung hob sich dreifach. Krankheit, Wunden und andere Schmerzen wurden ihm davon so sehr verringert, dass er in seinem Herzen gar nicht mehr daran dachte.

Es sind aber nicht allein die Worte der Tugendlehre auf der Leine, die auf die Zuhörenden eine heilsame Wirkung entfalten. Ihre Macht beziehen die Worte aus der Materialität des Schriftträgers: Von edelkeit der steine was disiu kraft der worte (JT 1507,1: Die Macht der Worte entsprang der Edelkeit der Steine).⁶⁶ Jeder, der mit diesem Schriftträger direkt in physischen Kontakt kommt, wird in seinen Bann gezogen. Seine ursprüngliche Besitzerin Clauditte wünscht sich explizit, in den Edelsteinen Sirenen stimme (JT 1875,4) einschließen zu können, und in gewisser Weise scheint ihr so etwas auch zu gelingen: Die Leine übt im Zusammenspiel aus Worten und Material bis zu ihrer Zerstörung eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf alle Menschen aus, die sie jemals in ihren Besitz bringen – oft mit verheerenden Folgen. Katharina Philipowski zufolge besteht die Problematik des Brackenseils unter anderem darin, dass sich in diesem Gegenstand Schrift physisch manifestiert, während Gottes Worte auf dem Gral keinerlei materiale Dimension besitzen.⁶⁷ Schrift habe, so Albrecht, in den Händen von Laien nichts zu suchen. Ihre Inhalte sollten, so versteht Philipowski den Jüngeren Titurel, am besten von ausgebildeten Geistlichen in positiv belehrender Weise an ein Laienpublikum vermittelt werden. Eine etwas andere Lesart fragt weniger nach den Differenzen zwischen Brackenseil und Gral als nach den

 Nochmals betont wird die Bedeutung der materialen Beschaffenheit des Schriftträgers bei der zweiten Verlesung der Schrift auf der Leine: die vreude der schrifte gie von der steine krefte, / dar uz di bůchstab waren (JT 1930,3 – 4: Die Freude, die die Schrift verursachte, ging von der Macht der Steine aus, aus denen die Buchstaben bestanden). Katharina Philipowskis Lesart, in der der Erzähler „die magische Wirkung, die es [das Seil, A.L.] in der histoire entfaltet, negiert“, leuchtet mir daher nicht ganz ein. Philipowski, Schrift, S. 64.  Laut Katharina Philipowski besitzt die Gralinschrift „keine Materialität“, sondern ist vielmehr „vollkommene Klarschrift“, die „keiner Störung durch Gegenständlichkeit“ unterliegt. Philipowski, Schrift, S. 70.

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Unterschieden zwischen den jeweiligen Lektüre- oder Rezeptionshaltungen der Figuren, die es mit den beiden Schriftträgern zu tun bekommen. Die Figuren, die fortgesetzt dem Brackenseil nachjagen, selbst nachdem der Text darauf bereits öffentlich verlesen wurde, behandeln die Hundeleine wie einen Fetisch im frühneuzeitlichen, negativ besetzten Sinn: Sie erkennen die dem Gegenstand innewohnende Macht an, der sie sich aber nicht unterwerfen, sondern die sie in ihren Besitz bringen wollen. Statt beispielsweise das Ding zum Mittelpunkt einer Erneuerungsbewegung der höfischen Gesellschaft zu machen, wollen Sigune und Tschinotulander, Clauditte und Ekunat, Jescute und Orilus es jeweils ganz für sich allein haben und damit einer gemeinsamen Nutzung zum allseitigen Gedeihen entziehen. Nun steht auch der Gral keineswegs allen Menschen zur Verfügung – ganz im Gegenteil. Die Gralhüter allerdings wollen, anders als ‚schlechte Christen‘ und ‚Heiden‘, die zu Unrecht und gewaltsam versuchen, den Gral in ihren Besitz zu bringen, diesen gerade nicht besitzen, sondern ihm (und damit Gott) dienen.⁶⁸ Das ganze Streben der Gralgesellschaft richtet sich nicht auf die eigennützige Erweiterung von Macht und Besitz, sondern auf Unterordnung und Gehorsam, und dies ist genau die Tugend, die den um das Brackenseil streitenden Rittern und Damen fehlt. Aus dieser Perspektive warnt der Jüngere Titurel nicht pauschal vor Schrift und ihren materialen Konkretisierungen, sondern offeriert eine Anleitung zum Umgang mit mächtigen Gegenständen, deren besondere Materialität die Gültigkeit der darauf zu lesenden Anweisungen zu richtigem Verhalten belegt. Eine solche Anleitung kann Albrecht zufolge, und hier ist Katharina Philipowski unbedingt zuzustimmen, am besten ein Kleriker geben, also ein Experte nicht nur im Bereich geschriebener Texte, sondern auch sakraler Gegenstände. Elitenbewusstsein und Demut schließen einander in Albrechts Modell nicht aus – sich Gott zu unterwerfen heißt nicht, dass man nicht selbst Kontrolle über andere Menschen ausüben kann und soll.

Verortungen und Einhüllungen der göttlichen Schrift In keinem der drei hier untersuchten Gralromane ist es gleichgültig, wo der Gral sich befindet oder aufbewahrt wird oder ob es überhaupt bestimmte Länder, Landschaften oder Gebäude gibt, die ihn umgeben, aufbewahren, schützen etc. Stets besitzt das Ding seine eigenen Gegenden und seine eigenen Bauwerke, die Einfluss darauf ausüben, unter welchen Umständen, von wem und wie die auf ihm erscheinenden Schriften rezipiert werden. Eine wichtige Gemeinsamkeit besteht darin, dass der Gral dem Zugriff der meisten Menschen räumlich entzogen ist, wenn auch auf jeweils  Nu waren ouch di cristen eins herzen da unlange, / wan si mit valschen listen wurben wider di gebot so strange, / daz si den gral zunrechte wolden erstriten. / daz můsten die templeise in wern, sam vor den heiden zallen ziten (JT 499,1– 4: Auch die Christen waren sich dort nicht lange einig. Mit großer Falschheit widersetzten sie sich heftig dem Gebot, sodass sie sich den Gral unrechtmäßig erkämpfen wollten. Das mussten die Tempelritter ihnen verweigern, so wie zuvor stets den Heiden).

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

unterschiedliche Weise.⁶⁹ Blickt man sozusagen von weitem auf die Topographie der drei erzählten Welten, dann sieht man, dass der Raum, in dem sich der Gral befindet, bei Wolfram nicht genau lokalisiert werden kann. Um in die weithin unbewohnte Terre de Salvæsche und zur Burg Munsalvæsche zu gelangen, muss man keine Schiffe besteigen und keine Gebirge überqueren. Wer dorthin kommen soll, der tut es mühelos; wer hingegen nicht willkommen ist, der findet den Weg nicht. Anfortas warnt Parzival zwar bei ihrer ersten Begegnung, dass er auf den Weg achtgeben solle, da man sich leicht verirren könne; Parzival reitet jedoch einfach los und kommt noch im selben Satz an der Zugbrücke zur Gralburg an (P 226,6 – 12). Als er hingegen später der Spur von Cundries Maultier zur Gralburg folgen will, verliert er sie fast sofort (P 442,24– 30). Das heißt: Anders als der Artushof hat die Gralgesellschaft zwar einen festen Ort im Raum, der angesteuert und gegebenenfalls auch erreicht werden kann, wenn dies gewünscht ist. Wo sich dieser Ort in Bezug auf andere Städte oder Landmarken befindet, bleibt jedoch rätselhaft. Die Entfernungen scheinen nicht übermäßig groß zu sein, immerhin kann man an einem Tag von Pelrapeire nach Munsalvæsche reiten (P 224,19 – 225,2) oder von dort aus nach Schastel marveile.⁷⁰ Die Gralburg befindet sich also trotz ihrer splendid isolation nicht in einem ganz anderen topographischen Raum als der umherziehende Artushof.⁷¹ Sie ist sozusagen immer gleich nebenan, von der Artuswelt nicht durch natürliche Barrieren, sondern durch einen wundersamen, nur von der Innenseite aus durchdringbaren Schutzmechanismus der Gralwelt getrennt. Dies hat zur Folge, dass überall und jederzeit die Chance besteht, Vertretern der Gralgesellschaft zu begegnen, etwa der Gralbotin Cundrie oder einem der kampfbegierigen Gralritter. Die Gralsphäre und die Artussphäre existieren parallel nebeneinander im gleichen Raum oder doch zumindest in sehr eng beieinanderliegenden Räumen. Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht: Sowohl im Jüngeren Titurel als auch im Lohengrin befindet sich der Gral zunächst in Gegenden, die mit denen, in denen sich die übrige Handlung abspielt, nicht identisch sind (nämlich in Spanien bzw. Frankreich).⁷² Von dort aus wird er weiter nach Indien entfernt, sodass nun tatsächlich große räumliche Distanzen zwischen der Gralwelt und dem christlichen Europa liegen.⁷³ Hinzu kommt im Lohengrin, dass weitere natürliche Barrieren in Gestalt hoher

 Vgl. Matthias Däumer: Art. ,Gralsburg, Gralsbezirk‘, in: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Hg. von Tilo Renz, Monika Hanauska und Mathias Herweg. Berlin, Boston 2018, S. 209 – 224.  Am selben Tag, an dem Parzival von der Gralburg wegreitet und zum Artushof gelangt, kommt auch Cundrie dorthin und kündigt an, am selben Abend noch nach Schastel marveile reiten zu wollen (P 318,23 – 24).  Dass solche von der christlich-höfischen Welt weit entfernten Räume existieren, weiß das Publikum beispielsweise aus den Erzählungen über die Taten Gahmurets oder Feirefiz’.  Zur Lokalisierung des Graltempels in Galizien (und zur Benennung des Gralraumes nach Gott) im Jüngeren Titurel vgl. JT 324,4: swer in Galitz ist varnde, der weiz Sanct Salvator und Salvaterre.  Im Lohengrin wird allerdings, anders als im Jüngeren Titurel, von einer Überführung des Grals nach Indien nichts erzählt. Zu Beginn dringt der Klang des Glöckchens nach Fránkriche (L 374), Lohengrin

5.2 Die Materialität der Gralinschriften

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Berge das Reich des Grals von jeglichem anderen Raum abtrennen, wie Lohengrin berichtet: ‚hôch ein gebirge lît / in der innern Indîâ, daz ist niht wît. / den grâl mit all den helden ez besliuzet, / Díe Artûs brâht mit im dar‘ (L 7141– 7144: ‚Im innersten Indien liegt ein hohes, aber nicht sehr ausgedehntes Gebirge. Es umschließt den Gral mitsamt all den Helden, die Artus mit sich dorthin gebracht hat‘).⁷⁴ In beiden Fällen rationalisieren die Bearbeiter das merkwürdige Nebeneinander der verschiedenen Räume und Sphären, das sie im Parzival vorfinden, indem sie es in topographische Entfernung und Separation übersetzen. Die drei Texte führen verschiedene Konzepte der Aufbewahrung und gleichzeitigen räumlichen Entziehung des Grals vor, die Auswirkungen darauf haben, wie die Inschriften auf dem Gral das Geschehen in der restlichen Welt beeinflussen und ob oder wie die jeweilige Erzählung weitergedacht werden kann: Im Parzival bleibt der Gral am Ende der Erzählung da, wo er sich die ganze Zeit schon befunden hat – auf der Gralburg in Terre de Salvæsche, wo er weiterhin schriftliche Anweisungen von Gott zustellen und solchermaßen das Leben aller Christen in Frankreich und darüber hinaus beeinflussen wird. Das offene Ende mit dem Ausblick auf die Loherangrin- und die Feirefizgeschichte ist Programm: Ebenso, wie Gott immer weitere Inschriften auf dem Gral erscheinen lassen kann, können auch weitere Geschichten über Begegnungen und Interaktionen zwischen der Gralgesellschaft und der Artusgesellschaft oder auch anderen Gruppierungen der höfischen Welt erzählt werden. Ebendieses Angebot nehmen der Dichter des Lohengrin und der des Jüngeren Titurel wahr – der eine, indem er von Lohengrin in Brabant, und der andere, indem er von Feirefiz in Indien erzählt. Beide entscheiden sich zugleich dafür, den Gral aus dem erzählten Europa zu entfernen. Im Lohengrin scheint danach trotzdem noch eine

erzählt später, dass das Gralreich in Indîâ liege (L 7142). Ob zwischen Lohengrins Auszug und seiner Heimkehr eine Bewegung des Grals im Raum der erzählten Welt stattfindet, darüber lässt der Text nichts verlauten. Möglich ist auch, dass die Aussage, dass man die Schelle noch in Frankreich hören könne, nur die große Reichweite des Klangs illustrieren soll (obwohl natürlich Frankreich nicht so weit von Brabant entfernt liegt wie Indien). In diesem Fall würde der einzige Aufenthaltsort des Königs Artus und des Grals so lange vom Erzähler verschwiegen, bis Lohengrin am Ende der Erzählung von seiner Frau dazu gedrängt wird, von seiner Herkunft zu berichten. Dass sich allerdings der Gral irgendwann einmal von einem Ort an einen anderen bewegt hat, wird durch Lohengrins Hinweis impliziert, dass das aktuelle Gralgebäude viel prächtiger sei als Muntsalvaetsch, wenn es auch denselben Namen trage: ‚Ich sage, daz Muntsalvaetsch was blint / mit gebû gein disen bûwen die dâ sint, / und ist doch Muntsalvaetsch nâch iem genennet‘ (L 7151– 7153: ‚Ich sage, das Muntsalvaetsch als Gebäude trüb war im Vergleich zu den Bauwerken, die dort sind, obwohl sie doch nach Muntsalvaetsch benannt sind‘).  Erstmals erwähnt wird der Wohnort des Königs Artus in einem Berg oder Gebirge in der Rahmenerzählung durch Clingsor (L 232 und 247), die der Dichter dem Rätselspiel des Wartburgkriegs entnommen hat. Möglicherweise wird hier auf eine Erzähltradition angespielt, der zufolge sich Artus in den Ätna zurückgezogen hat. Zum ersten Mal greifbar wird diese Tradition bei Gervasius von Tilbury in den Otia Imperialia (abgeschlossen um 1215).Vgl. Matthias Egeler: Avalon, 66° Nord. Zu Frühgeschichte und Rezeption eines Mythos. Berlin, Boston 2015, S. 247– 248.Vgl. auch Antonio Pioletti: Artù, Avallon, l’Etna, in: Quaderni medievali 28 (1989), S. 6 – 35.

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

Verbindung dorthin möglich, im Jüngeren Titurel wendet sich der Gral ganz von der westlichen Welt ab. Es sind weiterhin Inschriften auf ihm zu lesen, diese betreffen aber nun nicht mehr die westliche Christenheit, sondern ausschließlich die Zustände im Osten der erzählten Welt (JT 6321,4– 6322,1). Im Überlieferungszweig II findet sich der Hinweis, dass der Gral noch immer schriftlich bestimme, wer das Amt des Priesters Johan bekleiden solle: swer do prister Iohan wesen solde, / daz vindet men noch hvte an dem grale geschriben da mit golde (JT Zusatzstrophe C: Wer da Priester Johan sein solle, diese Information findet man heute noch mit Gold auf dem Gral geschrieben). Gott hört also nicht auf, mithilfe des Grals zu kommunizieren, wendet sich nun aber aber an andere Adressaten als zuvor. Damit verändert Albrecht das Spiel mit dem Stoff, das Chrétien begonnen und das Wolfram weitergeführt hatte. Er erzählt nicht, dass der Gral entrückt und den Menschen damit vollständig entzogen wird, wie es beispielsweise im Prosa-Lancelot geschieht. Aber er bestimmt die Regeln des Erzählens neu, indem er das zentrale Ding der erzählten Welt in einen neuen Raum dieser erzählten Welt versetzt: Jeder Dichter, der an den Jüngeren Titurel anschließen und weiter vom Gral erzählen wollte, müsste entweder die Handlung in Indien ansiedeln oder den Gegenstand aus Indien nach Westen zurückkehren lassen. Die intradiegetisch vorgeführte Rezeption der Inschriften auf dem Gral wird allerdings nicht nur durch die geographischen Räume näher bestimmt, in denen er sich befindet, sondern auch durch die Räume, die ihn unmittelbar umgeben. In keinem der Gralromane nämlich steht das Ding, um das herum sich die Gralgesellschaft konstituiert, einfach im Wald oder auf einem Marktplatz. Stets wird es von menschlichen, irdischen Gebäuden umgeben und so zum einen in besonderer Weise geschmückt und geehrt und zum anderen vor der restlichen Welt geschützt und von ihr abgeschlossen. Im Parzival etwa wird der Gral von einem menschengemachten Bauwerk umschlossen, und zwar nicht von einem gewöhnlichen Wohnhaus oder von einer Kapelle, sondern ganz explizit von einer uneinnehmbaren Festung, wie Parzival bemerkt, als er zum ersten Mal auf Munsalvæsche zureitet: dâ was diu brükke ûf gezogen, / diu burc an veste niht betrogen. / si stuont reht als sie wære gedræt. / ez enflüge od hete der wint gewæt, / mit sturme ir niht geschadet was. / vil türne, manec palas / dâ stuont mit wunderlîcher wer. / op si suochten elliu her, / sine gæben für die selben nôt / ze drîzec jâren niht ein brôt (P 226,13 – 22). Da war die Brücke hochgezogen. Die Burg war wahrhaftig eine Festung. Sie stand da, als wäre sie gedrechselt worden. Mit Sturm konnte man ihr nicht schaden, wenn man nicht fliegen konnte oder einen der Wind hineingeweht hätte. Viele Türme und so mancher Palas standen dort mit wundersamer Widerstandskraft. Und wenn alle möglichen Armeen sie auf einmal aufgesucht hätten – selbst in einer solchen Notlage hätte man noch in dreißig Jahren kein einziges Brot hergegeben.

Das Bauwerk ist in seiner ganzen Pracht vor allem auf Verteidigung und Abwehr angelegt. Das Leben, das man dort führt, ist kriegerisch und sehr ernsthaft: Turniere zum Vergnügen finden nicht statt, wie auf den ersten Blick festzustellen ist (P 227,7– 12). Wie man an der Bauweise und den Einrichtungsgegenständen erkennen

5.2 Die Materialität der Gralinschriften

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kann, ist der Herr der Gralburg reich und mächtig.⁷⁵ Ob er jedoch auch fromm ist, erfährt Parzival bei dieser Gelegenheit nicht. Die Prozession beim Abendessen weckt zwar Assoziationen an liturgische Vorgänge. Sie ist aber weder Teil eines Gottesdienstes im herkömmlichen Sinn noch ist der Raum, in dem sie stattfindet, eine Kirche oder ein sonstwie religiös konnotiertes Gebäude. Bedenkt man, wie häufig im Parzival zu verschiedenen Anlässen die Messe gefeiert wird,⁷⁶ fällt auf, dass die Gralgesellschaft beim ersten Auftritt des von ihr erhofften Erlösers kein eindeutig für die Anbetung Gottes bestimmtes Haus benutzt und auch kein Kaplan oder anderer Geistlicher erwähnt wird. Erst ganz am Ende der Erzählung ist die Rede davon, dass es auf der Gralburg einen tempel (P 816,15) gibt, in dem ein alter Priester Feirefiz tauft. Die Wahl des Wortes tempel statt kirche oder münster (als Doppelformel verwendet in P 196,13 und 461,4) verweist wohl nicht auf einen ‚heidnischen‘ oder häretischen Kult. Sie suggeriert aber, dass die gottesdienstlichen Praktiken, die man auf der Gralburg pflegt, nicht ganz dem entsprechen, was die Gläubigen in der erzählten Welt des Parzival in anderen, gewöhnlicheren Gotteshäusern vorfinden.⁷⁷ Wie genau die templeisen auf der Gralburg Gott verehren und welche Rolle dabei der Gral spielt, lässt der Text offen. Mit dieser Offenheit gehen Wolframs Nachfolger unterschiedlich um. Der Dichter des Lohengrin gibt dem Aufbewahrungsort des Grals einen entschieden christlichen Anstrich. Auf die anstehende Aufgabe aufmerksam gemacht wird die Gralgesellschaft durch ein individuelles Bittgebet zu Gott (L 370). Anstelle eines einsamen alten Priesters hat der Gralkönig gleich zwanzig Priester bei sich, die er in einer Prozession betend vor den Gral ziehen lassen kann (L 407– 408). Der Gral befindet sich hier nicht in einem tempel, sondern gemeinsam mit einem Bild der Muttergottes und einem Gottesbild im münster der Gralburg (L 424, 484– 490 und 500). Als die Gralgesellschaft wissen will, was es mit dem störenden Glockengeläut auf sich hat, lässt man einen Priester vor dem Gral eine Messe singen (L 487). Damit wird die religiöse Funktion des Ortes, an dem der Gral aufbewahrt wird, stärker formalisiert als bei Wolfram. Ganz alltäglich sind die religiösen Praktiken der Gralhüter jedoch auch an diesem Ort

 Dass es sich um eine herrliche Burg handelt, berichtet Parzival auch Sigune (P 250,13 – 16), die ihm in dieser Einschätzung zustimmt (P 250,25). Ansonsten gibt der Text weder an dieser noch an anderer Stelle sonderlich viele Informationen über den Aufbau und das Aussehen der Gralburg preis, weshalb die Frage nach dem Status der Gralburg im Parzival als ‚Gedächtnispalast‘ sich als nicht sehr ergiebig erweist.Vgl. Gesine Mierke: Architektur im Buch. Die Gralsburg in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘: Schauplatz oder Gedächtnispalast?, in: Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien. Hg. von Martin Huber, Christine Lubkoll, Steffen Martus und Yvonne Wübben. Berlin 2012, S. 75 – 91.  Vgl. Bernd Schirok: ‚Parzival‘/IV. Themen und Motive, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. Hg.von Joachim Heinzle. Bd. 1. Autor,Werk,Wirkung. Berlin, Boston 2011, S. 366 – 410, hier S. 389 – 390.  „Wer leugnet, daß im Gral christliche Kult- und Sakrament-Analogien sprechen, wer leugnet, daß die christliche Seelsorge Trevrezents in Buch IX den Wendepunkt bezeichnet, muß die Augen zumachen. Aber wer beides direkt christlich, kirchlich, theologisch interpretiert, tut es auch.“ Hugo Kuhn: Parzival. Ein Versuch über Mythos, Glaube und Dichtung im Mittelalter, in: Hugo Kuhn: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 1959, S. 151– 180, hier S. 174.

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

nicht – jedenfalls bleibt es etwas rätselhaft, warum die zwanzig Priester, die mit Artus vor den Gral ziehen, nicht nur mit Fahnen, sondern auch mit Kronen ausgestattet sind (L 407) oder warum die Kinder, die nach den Frauen zum Gral gehen, wilde Falken tragen, die sie vor dem Gral auffliegen lassen (L 497– 500). Deutlich wird aber, dass man an diesem Ort über einen repräsentativen christlichen Sakralbau und über genügend klerikales Personal verfügt. In den Verdacht, einer allzu unorthodoxen Sonderreligion zu huldigen, sollen die Gralhüter im Lohengrin offenbar nicht geraten. Über diese Form der ‚Christianisierung‘ des Ortes, an dem sich der Gral befindet, geht der Dichter des Jüngeren Titurel noch weit hinaus, indem er in einer weit ausholenden Ekphrase ein fiktives Gebäude konstruiert, das in der mittelalterlichen deutschen Literatur seinesgleichen sucht. Der Tempel, der im Parzival nur einmal erwähnt wird und der nur einen Teil des Gebäudekomplexes auf Munsalvæsche bildet, wird bei Albrecht zum dominanten Zentrum der Gralwelt. In 110 Strophen (ohne die allegorische Auslegung durch Titurel) versammelt Albrecht alles an Motiven und Techniken, womit die höfische ekphrastische Literatur aufzuwarten hat: Der Tempel steht auf einem Sockel aus Onyx, er besteht aus einer Vielzahl von Edelsteinen, aus Gold und lignum aloe, besitzt einen dem Tempel angelagerten Palas und Schlaftrakt, enthält Säulen, Pfeiler, Fenster, Chöre, Portale und Gewölbe, Plastiken, Glocken, Bilder, Altäre und Reliquienbehälter, es gibt darin Automaten und Musikinstrumente zu bestaunen, Ornamente, Balsamgefäße und Inschriften, als Fußboden dient ein künstliches Meer mit künstlichen Fischen und im Innersten des Tempels befindet sich nochmals ein kleinerer Tempelbau, der dem Gral vorbehalten ist.⁷⁸ Dass der Gral einer schützenden Hülle bedarf, kann Titurel schon beim ersten Kontakt daran erkennen, dass er eine solche in Gestalt einer prächtigen cyborje mit sich führt, sodass kein Schmutz ihn berühren kann (JT 312,4– 313,2). Der Gral selbst stellt zuvorkommend den gewünschten Grundriss des Tempels zur Verfügung (JT 339,1– 340,2) und Titurel überschlägt sich im Folgenden förmlich, um ihm eine angemessene Behausung zu verschaffen, in der er ihn sodann doppelt einschließt (JT 383,1– 385,4).

 Von den vielen Studien zum Graltempel im Jüngeren Titurel seien hier exemplarisch folgende genannt: Steffen Brokmann: Die Beschreibung des Graltempels in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘. Diss. phil. Bochum 1999 (online zugänglich unter: https://d-nb.info/978070062/34, letzter Zugriff am 24.04. 2020); Britta Bußmann: Wiedererzählen, Weitererzählen und Beschreiben. Der ‚Jüngere Titurel‘ als ekphrastischer Roman. Heidelberg 2011; Britta Bußmann: ‚Mit tugent‘ und ‚kunst‘ – Wiedererzählen, Weitererzählen und Beschreiben in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘, in: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Britta Bußmann, Albrecht Hausmann, Annelie Kreft und Cornelia Logemann. Berlin, New York 2005, S. 437– 461; Achim Timmermann: Architectural Vision in Albrecht von Scharfenberg’s ‚Jüngerer Titurel‘ – A Vision of Architecture?, in: Architecture and Language. Constructing Identity in European Architecture. C. 1000 – 1650. Hg. von Georgia Clarke und Paul Crossley. Cambridge 2000, S. 58 – 72 und 181– 184; Wandhoff, Ekphrasis, S. 259 – 269; Katharina Mertens-Fleury: Allegorische Vermittlungen. Zugänge zum Gralstempel in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘, in: ZfdPh 134 (2015), S. 47– 76; Gundula Trendelenburg: Studien zum Gralraum im ‚Jüngeren Titurel‘. Göppingen 1972.

5.2 Die Materialität der Gralinschriften

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Die Prächtigkeit des Tempels soll sicherlich die Macht Gottes und des Grals wie auch die Bedeutsamkeit der durch den Gral übermittelten göttlichen Botschaften unterstreichen. In gewisser Weise verselbständigen sich Albrechts Tempelbeschreibung und der darauf folgende Tempelauslegungsdiskurs allerdings auch gegenüber dem Gral. Der Tempel erhält eine Bedeutung, die der des in ihm aufbewahrten Gegenstands ähnelt. Dieser wird schon zu Beginn als einzigartig charakterisiert. Dass man den Gral nicht kopieren oder gar durch ein Duplikat ersetzen kann, leuchtet aufgrund seiner besonderen Herkunft und der ihm innewohnenden Kräfte unmittelbar ein, wenn auch der Erzähler später von Betrugsversuchen zu berichten weiß: ‚Ein ander schuzzel riche, vil edel und vil tiure, / worht man dirr geliche. diu hat an heilikeit deheine stiure. / die průften Kunstenopeler zir landen, / und richer an der zierde, wan si si fur den rehten gral erkanden‘ (JT 6295,1– 4). ‚Eine weitere prachtvolle, edle und kostbare Schale stellte man her, die dem Gral ähnelte. Am göttlichen Heil hatte sie aber keinen Anteil. Die Menschen von Konstantinopel sahen sie bei sich in ihrem Land, befanden sie als vergleichsweise schöner geschmückt und hielten sie für den wahren Gral.‘

Alle Eingeweihten wissen, dass es in Wahrheit nur den einen Gral gibt. Möglich, sinnvoll und lobenswert ist eine Verdoppelung des Grals nicht im konkreten, sondern allein im übertragenen Sinn, nämlich durch Umbenennung und Signalisierung von Zugehörigkeit: Nachdem die Gralgesellschaft auf dem Weg nach Indien in der Stadt Pitimont haltgemacht und deren Bewohnern viel Gutes getan hat, benennen diese ihre Stadt in Grals um (JT 6090,1– 6091,4).⁷⁹ Nicht der Gral, wohl aber der Graltempel darf dort ganz konkret dupliziert werden, indem die Stadtbewohner in ihrer neu benannten Heimat einen – wenn auch schlichten – Tempel erbauen. Obwohl man also, wie diese Episode zeigt, im Jüngeren Titurel ungetadelt einen Graltempel aufstellen darf, der den Gral nicht enthält, ist das Originalbauwerk letztlich genauso unersetzlich wie der Gral selbst. Nach der Überführung des Gefäßes nach Indien vermissen die Gralhüter ihr schönes Gebäude schmerzlich (JT 6137,4), obwohl der auf Gottes Befehl hin erbaute Palast des Priesters Johan beinahe ebenso prächtig ist (JT 6268,2 – 4). Sie beten auf Knien zu Gott, und da dieser den Graltempel nicht der in Salvaterre zurückgebliebenen argen diete (JT 6282,3) überlassen will, versetzt er ihn kurzerhand nach Indien, wohin von nun an täglich viele Menschen kommen, um Gral, Graltempel und Gralgesellschaft gleichermaßen zu bestaunen: Gen Rom, gen Ache den verten wart nie dem geliche, / sam si di straze perten gen India alumbe tægeliche / durch den gral und durch den tempel beiden / und durch die liehten klaren, die sich von missewende kunden scheiden (JT 6285,1– 4).

 In Handschrift E heißt die Stadt nach der Umbenennung Zum grale.

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

Nach Rom und auch nach Aachen reisten nie Menschen in gleicher Weise, wie sie nun täglich von überall her nach Indien kamen, sowohl des Grals als auch des Tempels wegen, und auch wegen der Strahlenden und Reinen, die sich von jedem Makel fernzuhalten wussten.

Die architektonische Hülle des Grals ist in diesem Roman beinahe ebenso bedeutsam wie der Gral selbst, oder, anders formuliert: Sie bildet zusammen mit dem Gral, der in ihrem Innersten aufbewahrt wird, eine Kontaktzone, in der göttliches und menschliches Wirken als aufeinander in idealer Weise bezogen sichtbar werden. Der Gral, der zugleich himmlischer Stein und weltliche Schale ist, wird aufbewahrt in einem Tempel, der von Gott gewünscht und geplant wurde und den Menschen erbaut haben und seither nutzen. Auch diese Menschen bilden anschließend einen Teil des sakralen Ensembles. Aus den unterschiedlichen architektonischen Umhüllungen des Grals im Parzival, im Lohengrin und im Jüngeren Titurel lassen sich einige Schlussfolgerungen darüber ableiten, wie in den Texten jeweils das Wesen der Gemeinschaft imaginiert wird, die auf den Gral achtgibt: Wolfram modelliert die Gralgesellschaft teilweise nach dem Vorbild eines der Askese verpflichteten Ritterordens und betont dabei vor allem den Aspekt der kriegerischen Wehrhaftigkeit, ohne sich mit christlichem Dogma und klerikaler Doktrin lange aufzuhalten. Die templeisen dienen im Parzival Gott als milites christiani, und sie tun es in größtmöglicher Unauffälligkeit. Ihre Festung dient nicht zur Verherrlichung der Allmacht Gottes, sondern recht pragmatisch dem Abschluss von der Außenwelt. Der Gral ist ebenso wie die ihn umgebende Burg vor allem Mittel zu dem Zweck, ungestört Anweisungen von Gott zu erhalten, die dann unverzüglich ausgeführt werden können. Der Lohengrin führt auf der Gralburg ein Münster ein, in dem Priester vor dem Gral die Messe zelebrieren. Indem dieser Text von hergebrachten und anerkannten Formen christlicher Gottesverehrung spricht, erweitert er die liturgisch-religiöse Komponente, die bei Wolfram nur in Spuren vorhanden ist. Dadurch wird es leichter, die räumliche Schnittstelle zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre weniger als Heterotopie denn als Utopie zu verstehen, das heißt als Ort, an dem die Kommunikation zwischen Gott und den Menschen nicht nur mittels unkalkulierbarer, inkommensurabler Erscheinungen (Taube mit Hostie, Gralinschriften), sondern auch aufgrund von vertrauten Handlungen (Liturgie, persönliches Gebet) gelingen kann. Albrecht schließlich ergänzt das himmlische Ding zuerst um ein hybrides, himmlisch-irdisches Bauwerk, bei dessen Herstellung Gott, Gral und Gralgesellschaft zusammenwirken, und erklärt implizit (aus der Perspektive der zahlreichen Pilger) auch die Gralhüter zu einem Teil der Manifestation göttlicher Macht auf Erden. Am Ende des Jüngeren Titurel sind die Gralhüter nicht mehr nur Bedienstete des Grals, sondern Mitarbeiter, die beinahe auf Augenhöhe agieren. Aus der Aufwertung des Tempels und damit auch der Gralgesellschaft spricht vielleicht das Selbstbewusstsein nicht unbedingt des klerikalen Dichters, sicher aber der Institution, die sich als Stellvertreterin Gottes auf Erden mit eigenen Befugnissen begreift. Je bedeutender und mächtiger der von Gott gesandte Gral, desto bedeutender und mächtiger sind auch die, die in der Lage sind, ihm einen angemessenen Tempel zu bauen. Damit sind die

5.3 Was tun, wenn Gott schreibt?

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Gralhüter nicht mehr nur diejenigen, die Gottes schriftliche Botschaften empfangen und auslegen und seine Anweisungen ausführen oder an andere weitervermitteln. Analog zu gewöhnlicheren christlichen Geistlichen sind die Gralhüter im Jüngeren Titurel, ebenso wie der sie beherbergende Tempel in seiner überbordenden Allegorizität, selbst Bestandteil des göttlichen Medienapparats – und in dieser Funktion unbedingt mit größtmöglichem Respekt zu betrachten.

5.3 Was tun, wenn Gott schreibt? Gralinschriften richten sich weder an individuelle Empfängerinnen oder Empfänger (wie sich etwa die Tafel des Gregorius an den unbekannten Finder und an das ausgesetzte Kind wendet oder Yrkanes Hilferuf an Reinfried), an überhaupt niemanden (wie etwa der Zettel in Savilons Ohr) oder an alle, die sich dafür interessieren (wie etwa das zweisprachige Epitaph auf dem Grabmal der Japhite oder die Inschriften auf den Säulen des Herkules) – im Gegensatz zu diesen Inschriften sind die Worte auf dem Gral zur Rezeption durch eine Gruppe ausgewählter Menschen gedacht, die den Zugang zu dem Schriftträger in Abstimmung mit dem Absender regulieren. Das Medium als relativ kleiner, aber nicht grenzenlos lokomobiler Gegenstand wird dazu eingesetzt, eine enge, da vergleichsweise exklusive Verbindung zwischen dem Sender und den Empfängern herzustellen und zudem aus der Gruppe der Empfänger eine Gemeinschaft zu formen, deren Zusammenhalt ganz vom gemeinsamen Dienst an dem sakralen schrifttragenden Artefakt im Zentrum ihres Handlungsbereichs bestimmt wird. Diese Konstellation hat zur Folge, dass die Mitglieder der Gralgesellschaft Experten im Empfangen von Gralinschriften sind, oder, besser gesagt: Experten sein müssen. Dass die Gralhüter Hilfe von außen in Anspruch nehmen, so wie etwa Belsazar sich nach dem Erscheinen des Menetekels an den Propheten Daniel wendet, ist nicht vorgesehen. Man kann sich daher beim vergleichenden Blick auf Wolframs Parzival, den Lohengrin und Albrechts Jüngeren Titurel genauer ansehen, wie die Gralgesellschaft in den drei Romanen mit dieser besonderen Herausforderung zurechtkommt, mit welchen Mitteln der Gral die göttlichen Anforderungen an die von ihm erwählte Elite durchsetzt und welche Arten von Gemeinschaften jeweils als Konsequenz imaginiert werden.

Expertise, Verständnis und Ratlosigkeit auf der Gralburg Die Art und Weise, wie die Gralhüter nach den Anweisungen auf dem Gral ihr Leben führen, betrifft nicht nur sie selbst, sondern auch solche Menschen, die selbst nicht der Gralgemeinschaft angehören, jedoch mit ihr in Berührung kommen – etwa die Herrscherin von Brabant, für die die verständliche Frage nach der Herkunft ihres Ehemannes dazu führt, dass sie von diesem verlassen wird, oder auch die glücklosen Ritter, die in einen Kampf mit einem der templeisen geraten und eine Niederlage nicht

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

mit ihrer Ehre, sondern mit dem Leben bezahlen, da die Gralritter keine Sicherheit nehmen. Die Erwartungen Gottes und des Grals an die Gralgesellschaft sind hoch. Dies resultiert aus der besonderen Position im göttlich-menschlichen Kommunikationszusammenhang, an der sich die Gralhüter befinden. Beschreibt man den Gral als Gerät, das Gottes Botschaften aufnimmt, sichtbar und lesbar macht und auf diese Weise an die Menschen weitergibt, ohne dass diese dazu angehalten sind, ihrerseits mithilfe des Grals an Gott zurückzuschreiben, dann könnte man von einem modernen Standpunkt aus den Gral mit einer „Transmitterstation“⁸⁰, einem Fernseh- oder Radiogerät oder mit einer Nachrichtenseite im Internet (ohne Kommentarfunktion) vergleichen. Auch diese Vorrichtungen dienen dazu, Inhalte an eine größere Zahl von Empfängern zu vermitteln, ohne die Möglichkeit einer Rückübermittlung von Antworten durch das gleiche Medium zur Verfügung zu stellen. Bei einem solchen Vergleich verlöre man allerdings eine wichtige Dimension des Mediums Gral aus den Augen: Anders als ein TV-Gerät oder die Homepage einer Tageszeitung ist der Gral in zweierlei Hinsicht kein Medium zur massenhaften Verbreitung von Informationen: Zum einen gibt es ihn nur ein einziges Mal, zum anderen richtet er sich an eine sehr exklusive Gruppe von Empfängern. Während im 21. Jahrhundert alle möglichen Menschen den päpstlichen Ostersegen oder die Verlautbarung einer Bundestagsabgeordneten entgegennehmen und gegebenenfalls auch etwas damit anfangen können, wenn sie zur richtigen Zeit Zugang zu einem von vielen Empfangsgeräten haben, werden die göttlichen Botschaften in den Gralromanen ausschließlich an eine kleine Elite vermittelt. Indem die Mitglieder dieser Elite die göttlichen Anweisungen in der Welt umsetzen, greifen sie nicht nur auf ein Medium zu, das sie am göttlichen Heil partizipieren lässt, sondern werden ihrerseits zu Medien dieses Heils, die aus der Menge aller anderen Menschen herausgehoben sind. Gott teilt sich der Welt in einer medialen Kaskade mit, in der die vermittelnden Instanzen Gral und Gralgesellschaft weit mehr sind als nur ‚mittlere Institutionen‘, oder, um es mit den Worten Christian Kienings auszudrücken: Das Medium kann […] als Teilhabe an seiner eigenen Möglichkeitsbedingung gedacht werden. Es kann nicht nur als Träger von Signifikanten gelten, sondern in die Position des Signifikats treten […]. Was Augustinus theologisch unter Rückgang auf den 2. Korintherbrief bezüglich Christus formuliert, dieser sei ein wahrer Mittler, aber nichts Mittleres, läßt sich auch von all dem sagen, an dem Unverfügbares sichtbar wird oder sich vollzieht.⁸¹

Für die Wahrnehmung nicht nur des Grals, sondern auch der Gralgesellschaft hat es Folgen, dass Gott durch sie hindurch wirkt und damit Unverfügbares an ihnen sichtbar werden lässt. Sowohl der Gegenstand als auch die ihn behütenden Menschen repräsentieren und vergegenwärtigen die höhere Macht, deren Willen sie weitergeben.  Zatloukal, Salvaterre, S. 235.  Kiening, Medialität, S. 332– 333. Christian Kiening zitiert in FN 166 aus Augustinus’ Confessiones: In quantum enim homo, in tantum mediator, in quantum autem verbum, non medius, quia aequalis deo et deus apud deum et simul unus deus (Confessiones X, 43,68; Hervorhebung von Ch. K.).

5.3 Was tun, wenn Gott schreibt?

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Daraus erwächst ein hoher Anspruch an die Gralgesellschaft. Dass sich Gott auch über und durch sie in der Welt offenbart, legitimiert die Hüter in ihrer Bedeutung. Umso wichtiger ist es allerdings auch, dass sie die göttlichen Botschaften richtig verstehen und Gottes Anweisungen anschließend auf die richtige Weise in die Tat umsetzen. Da es für die göttlich-menschliche Kommunikation mittels Gralinschrift in den erzählten Welten des Grals keine Präzedenzfälle und folglich auch keine Erfahrungen aus erster oder auch nur aus zweiter Hand gibt, müssen die Mitglieder der Gralgesellschaft eine Technik anwenden, die man mit zwei Anglizismen beschreiben kann: learning by doing nach dem Prinzip von trial and error. Dies gilt im Parzival zunächst ganz allgemein für die wunderbaren Funktionen des Grals. Dass etwa ungetaufte Menschen ihn nicht sehen können, findet Anfortas heraus, indem er Feirefiz dabei beobachtet, wie dieser Repanse de Schoye beobachtet. Der alte Titurel weiß zwar über den Zusammenhang Bescheid, hat sein Wissen aber offenbar nie weitergegeben, sodass der Zusammenhang von Taufe und Sichtbarkeit des Grals von Anfortas empirisch erschlossen werden muss. Immerhin funktioniert das aber. Weitaus rat- und hilfloser zeigt sich die gesamte Gralgesellschaft lange Zeit vorher, als Anfortas schwer verwundet zur Gralburg zurückkehrt. Seinen Untertanen stellt sich in diesem Moment eine dringende Frage, die sie allein nicht beantworten können und bei deren Beantwortung auch Titurel offenbar nicht helfen kann: ‚„wer sol schirmer sîn / über des grâles tougen?“‘ (P 480,22– 23: ‚„Wer wird jetzt die Geheimnisse des Grals behüten?“‘) Sie weinen und bringen Anfortas in die Nähe des Grals: si truogenn künec sunder twâl / durch die gotes helfe für den grâl (P 480,25 – 26: Unverzüglich trugen sie den König vor den Gral, um Gottes Hilfe zu erhalten). Man kann diesen Satz so interpretieren, wie Peter Knecht es in seiner Übersetzung tut, dass nämlich die Gralritter Anfortas vor den Gral tragen, damit Gott dem Leidenden hilft.⁸² Es ist aber auch möglich, die Stelle so zu verstehen, dass die Gralhüter sich Gottes Hilfe bei der Beantwortung der zuvor gestellten Frage erhoffen. Was auch immer aber mit der gotes helfe gemeint ist – das Resultat der Annäherung von König und Gefolgsleuten an den Gral ist nicht sehr befriedigend. Anfortas wird zwar am Sterben gehindert, geheilt wird seine Wunde jedoch nicht.Was aber bedeutet das für die Frage nach dem schirmer über des grâles tougen? Gibt es von nun an keinen obersten Gralhüter mehr? Oder soll Anfortas diese Funktion weiterhin ausfüllen, bis sein Nachfolger ihn ersetzt, und wird Anfortas deshalb am Leben erhalten? Was aber taugt ein oberster Gralhüter, der nicht reiten oder gehen, sitzen, liegen oder stehen kann (P 491,1– 4)? Die Gralritter geben so lange nicht auf, vergeblich nach Heilmitteln für ihren Herrscher zu suchen, bis eine Inschrift mit Instruktionen auf dem Gral erscheint. Mit einem Mal sieht es nun so aus, als hätten sich alle weiteren Fragen erübrigt. Ein wenig seltsam ist das schon – Bernd Schirok weist darauf hin, dass die Inschrift, die Parzivals Ankunft voraussagt und die zugleich die Gralgemeinschaft davor warnt, Par-

 „Sie überlegten nicht lange und trugen den König zum Grâl: Gott sollte ihm helfen.“ Wolfram von Eschenbach, Parzival, S. 484.

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zival irgendwelche Hinweise auf die Notwendigkeit der erlösenden Frage zu geben, alles andere als eindeutig und leicht verständlich formuliert ist. Eigentlich legt sie sogar eine ganze Reihe von Rückfragen nahe: Sicher dürfen sie den Ritter nicht direkt auffordern, Anfortas nach seinem Leid·zu fragen. Aber ist damit auch jegliche Form von Beeinflussung untersagt? Darf man die Aufmerksamkeit des Gastes wenigstens vorsichtig und indirekt auf den Zustand des Burgherrn lenken? Darf man zumindest eine fragefreundliche Atmosphäre schaffen? Oder muss man sich verhalten wie vor der Ankunft des Ritters? Vielleicht könnte aber schon ein solches normales Verhalten als Frageprovokation gewertet werden, soweit es etwa darauf abzielt, dem kranken König sein Los zu erleichtern.⁸³

Thematisiert wird die Vagheit der Anweisung im Text allerdings nicht. Sogar der redselige Trevrizent äußert sich später nicht darüber, ob man auf der Gralburg darüber nachgedacht habe, wie die Botschaft en detail in Handlung umzusetzen sei. Wolframs Gralgesellschaft weiß offenbar, wie sie die himmlischen Botschaften auf dem Gral zu deuten hat – oder glaubt es zumindest zu wissen, ohne dass sie von Gott korrigiert wird. Auch im Jüngeren Titurel spielt das Thema des rechten Verständnisses der Inschriften allenfalls marginal eine Rolle. Bevor Titurel dazu ansetzt, seinen Zuhörern des tempels zeichenunge (JT 516,4) – also die verschiedenen Bedeutungsebenen des Graltempels – darzulegen und zu erklären, spricht er über die Unmöglichkeit, entsprechend auch [d]es grales zeichenunge zu deuten (JT 516,1). Während nämlich der Graltempel zu rechter lere merke (JT 516,3) erbaut wurde und von werden christen luͤten (JT 516,2) betrachtet und interpretiert werden soll und kann, sperrt sich der Gral gegen solche Interpretationen – allerdings wohl eher in seiner Gesamtheit als wunderbarer und geheimnisvoller göttlicher Gegenstand und weniger als Schriftträger. Jedenfalls haben Titurel und seine Nachfolger keine Schwierigkeiten damit, die Inschriften auf dem Gral zu lesen und zu verstehen. Ihre Expertise auf diesem Gebiet wird im Jüngeren Titurel ebenso wenig infrage gestellt wie im Parzival. ⁸⁴ Ganz anders ist das im Lohengrin. Hier wird die Möglichkeit, dass eine göttliche Botschaft auf dem Gral für ihre Adressaten nicht ohne weiteres verständlich ist, explizit angesprochen. Als das enervierende Glockengeläut einsetzt, das die Artus- und Gralgesellschaft aufschreckt, sieht diese zunächst keine Möglichkeit, das Klangzei Bernd Schirok: Die Inszenierung von Munsalvaesche: Parzivals erster Besuch auf der Gralburg, in: LwJb 46 (2005), S. 39 – 78, hier S. 40.  Es gibt zwar einen Moment, in dem die Mitglieder der Gralgesellschaft ins Zweifeln geraten, als nämlich etwas, von dem sie auf dem Gral gelesen haben, nicht eintritt. Der Gral habe, so Kundrie, schriftlich mitgeteilt, dass man sich dereinst doch noch freuen könne, wenn nämlich ein Ritter komme und uninstruiert eine Frage stelle. Es sei auch tatsächlich einer gekommen, habe aber nicht gefragt – ‚daz hat ouch uns in zwifel so gesetzet, / wan wir furhten sere, daz wir beliben immer unergetzet‘ (JT 5271,3 – 4: ‚Dies hat uns in Zweifel versetzt. Wir fürchteten nämlich sehr, dass wir immer weiter leiden müssten‘). Der Zweifel der Gralgesellschaft bezieht sich hier wohl weder auf die Wahrheit dessen, was der Gral mitgeteilt hat, noch auf das korrekte Verständnis der Botschaft, sondern auf die ungewisse Zukunft, der man auf der Gralburg nun entgegensehen muss, da die Chance vertan ist.

5.3 Was tun, wenn Gott schreibt?

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chen zu deuten. Und selbst als endlich eine Inschrift auf dem Gral erscheint, lässt sie ihre intradiegetischen Leserinnen und Leser zunächst debattierend und uneins zurück, statt für Klarheit zu sorgen. Denn die Nachricht teilt zwar mit, dass ein Kämpfer nach Brabant geschickt werden solle. Sie nennt aber keinen Namen, sondern trägt dem Gralkönig Artus und seinen Leuten auf, gemeinsam jemanden auszuwählen (L 506 – 508 und 569 – 570). Daraufhin wollen sowohl Artus als auch Parzival die Aufgabe übernehmen und auch Gawein, Walban, Lanzulet und Iorant streiten sich um den Vorrang. Erst das Mädchen Elyze spricht endlich ein Machtwort, indem sie zu ihrem Bruder Lohengrin sagt: ‚dû bist der kempfe und sagt der grâl diu maere‘ (L 590: ‚Du bist der Streiter, so sagt es der Gral‘).⁸⁵ Warum ausgerechnet diese Person die Kompetenz besitzt, aus der Gralinschrift die richtigen Schlüsse zu ziehen, wird nicht erläutert. Man kann zum Verständnis der Passage lediglich mutmaßen, dass in der Zwischenzeit Lohengrins Name auf dem Gral erschienen ist.⁸⁶ Jedenfalls wird Elyzes Aussage, sei sie nun durch eine zusätzliche Inschrift gestützt oder nicht, von niemandem bezweifelt. Lohengrins Erwählung erfolgt somit nicht, wie eigentlich auf dem Gral verlangt, durch einen einstimmigen Beschluss der Gralgesellschaft, sondern ist das Ergebnis eines göttlichen Gnadenerweises. Indem Elyze ein Urteil ausspricht, das nicht begründet werden muss und das zudem durch ihre Trauerbekundungen als das genaue Gegenteil einer Gefälligkeit gekennzeichnet ist, wird Lohengrins Erwählung als Ergebnis weniger einer menschlichen als vielmehr einer göttlichen Entscheidung sanktioniert. Gott bedient sich in dieser Episode für die vollständige Übermittlung seines Auftrags sowohl einer Inschrift auf dem Gral als auch der Stimme eines Menschen. Dadurch hebt der Lohengrin noch deutlicher als die beiden anderen Gralromane hervor, dass der Gral nur eines von mehreren Medien ist, durch die Gott sich mitteilen kann, und wertet dadurch den ‚menschlichen Faktor‘ in der göttlich-menschlichen Kommunikation auf. Zugleich betont er, dass hoher sozialer Status oder früheres Expertentum in dieser erzählten Welt nichts sind, worauf man sich verlassen kann. Den sinnvollsten Vorschlag, wie man Gott zum Kommunizieren bewegen kann, machen nicht Artus, Parzival oder die gekrönten Priester, sondern Key, der in anderen Erzählzusammmenhängen nicht vorwiegend für seine guten Ideen bekannt ist. Und die korrekte Interpretation der Gralinschrift wird nicht etwa von einem der prominenten Männer geliefert, die das Publikum aus anderen arthurischen Erzählungen kennt, sondern von einer randständigen weiblichen Figur.

 In M heißt es etwas besser verständlich: ‚uns sagt der grâl diu maere‘ (L: ‚so sagt es uns der Gral‘).  Diese Interpretation erklärt aber nicht, warum Lohengrins Schwester ihren Bruder erst in dem Moment als erwählt bezeichnet, als er vor die übrigen Versammelten tritt. Auch in der späteren Erzählung Lohengrins über die Geschehnisse auf der Gralburg ist nicht erkennbar, ob Elyzes Aussage sich auf eine konkrete Inschrift, auf ihre Deutung der vom Erzähler paraphrasierten Inschrift oder auf eine davon völlig unabhängige Inspiration bezieht: ‚ieglîcher wolt dô kempfe sîn. / diu magt sprach: „ez ist mîn bruoder Lohengrîn, / diu schrift daz sagt.“ und gewan unmaht vor leide‘ (L 7168 – 7170: ‚Jeder wollte dort gern dieser Kämpfer sein. Die Jungfrau sagte: „Es ist mein Bruder Lohengrin, das sagt die Schrift.“ Und sie wurde ohnmächtig vor Kummer‘).

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Das heißt: Während es im Parzival und im Jüngeren Titurel unbestrittene Experten gibt, auf deren Kompetenz im Lesen, Verstehen und Umsetzen von Gralinschriften man grundsätzlich bauen kann, kommuniziert Gott im Lohengrin erstens zuweilen so enigmatisch, dass man ihn auf der Gralburg nicht versteht. Zweitens macht er zumindest in diesem einen Fall neben dem Gral auch eine Person zu einem Medium, mit deren Wahl er signalisiert, dass berühmte Männer nicht automatisch als bevorzugt gelten können. Und drittens wendet er sich nicht nur zu Beginn der Handlung, sondern auch später nicht nur an die Gralgesellschaft, sondern auch an andere Menschen, vor allem an Geistliche: Den wundersamen Klang der Glocke vernimmt auch Elsams Kaplan (L 371– 373), dass Lohengrins Schwan eigentlich ein Engel ist, kann auch ein Abt an Elsams Hof sehen (L 771– 776), und wundersame himmlische Schriften und andere Wunderzeichen erhält auch der Papst (L 5929 – 5936). Diese dreifache Reduktion von Exklusivität relativiert den herausgehobenen Status der Gralgesellschaft im Lohengrin beträchtlich. Der Roman inszeniert nicht die berechtigte Dominanz einer kleinen, eng abgegrenzten Gruppe von Experten in Sachen göttlichmenschlicher Kommunikation, sondern die Möglichkeit eines engen und heilsamen Kontakts zwischen Gott und ganz unterschiedlichen Menschen. Was dieser Roman feiert, ist die stets gewinnbringende Kommunikation zwischen Gott und seinen Gläubigen, aber auch die vielfältige Kooperation unter geistlichen und weltlichen Personen und Gruppen fast aller Art, die zum erfolgreichen Widerstand gegenüber Feinden des bestehenden Systems von innen (nämlich gegenüber dem lügnerischen Friedrich von Telramunt) und von außen (nämlich gegenüber den aggressiven ‚Heiden‘) führt. Die Gralgesellschaft kann im Lohengrin kein Anrecht auf eine besondere oder sogar exklusive Nähe zu Gott geltend machen. Der Gral und seine Inschriften sind für sie nicht Ausweis eines Privilegs, sondern eine schwierige Herausforderung, die es zu meistern gilt – und damit den vom Himmel gesandten Zumutungen gar nicht so unähnlich, mit denen sich in der Logik des Textes alle gottesgläubigen Menschen zu jeder Zeit konfrontiert sehen.

Die totalitären Systeme des Grals An der Erzählung über das Fragetabu, das es verbietet, sich nach der Herkunft eines Gralritters zu erkundigen, wird deutlich, in welchem Ausmaß das Leben im Umkreis des Grals von Zwängen, Verboten und Strafen geprägt ist. Im Lohengrin muss Elsam ihrem künftigen Ehemann sogar versprechen, seinem Gebot Folge zu leisten, bevor sie überhaupt erfährt, worauf sie sich einlässt: er sprach: ‚iuncvrouwe, mac iuwer munt / vérmîdén des ich iuch wîse hie ze stunt, / sô mugt ir mich mit vreuden haben lange. / Tuot ir des niht, ir vlieset mich!‘ / díu iuncvrouwe sprach: ‚bî got ich iu vergich / dáz ich iuwer heiz wil dulden und lîden‘ (L 2268 – 2273).

5.3 Was tun, wenn Gott schreibt?

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Er sagte: ‚Jungfrau, wenn es Euch gelingt, über das zu schweigen, was ich Euch gleich sage, dann könnt Ihr lange eure Freude an mir haben. Tut Ihr das aber nicht, dann verliert Ihr mich!‘ Die Jungfrau sagte: ‚Bei Gott verspreche ich, dass ich Euer Gebot erdulden und erleiden will.‘

Erst knapp 5000 Verse später wird das Tabu wieder virulent. Elsam fragt nach Lohengrins Herkunft, woraufhin dieser sie verlässt, zuvor aber noch ausführlich und öffentlich erklärt, wer er ist und woher er kommt und dass er Elsam verboten habe, nach genau diesen Dingen zu fragen (L 7083 – 7220). Ob das Frageverbot auf eine Gralinschrift zurückgeht oder ob sich die Gralgemeinschaft diese Regel selbst gegeben hat, führt der Roman nicht aus (L 7121– 7140). Das Resultat ist jedenfalls eine grundlegende Asymmetrie in den Beziehungen zwischen der Gralgesellschaft und den übrigen Menschen. Bei Elsams und Lohengrins Abschied zeigt sich, dass der Gralritter ähnlich unkontrollierbar und flüchtig ist wie die Schriften auf dem Gral. Elsam sollte das eigentlich wissen, hatte sie doch nach dem Gerichtskampf angesichts von Lohengrins Sieghaftigkeit und Schönheit festgestellt: ‚herre er ist mîn‘ (L 2251: ‚Herr, er gehört mir‘), worauf Lohengrin geantwortet hatte: ‚niht, ich sol weder iuwer noch niemans sîn‘ (L 2252: ‚Nein, ich werde weder Euch noch sonst jemandem gehören‘). Das heißt: Alles, was vom Gral und damit von Gott kommt, ist und bleibt letztlich unverfügbar. Kontrolle geht von Gott und vom Gral aus und kann sich über die Gralritter auf andere Menschen erstrecken – umgekehrt aber funktioniert dies nicht. Für Wolframs Parzival spricht Bernd Schirok die Vermutung aus, dass die templeisen auf die Verkündung des Frageverbots möglicherweise deshalb so freudig reagieren, weil sie „das zölibatäre Leben auf der Gralburg höher schätzten als Ehe und Familie in der Welt“ und weil „sie das Frageverbot als ersehnte[n] Frageauslöser“ verstehen, der „ihnen die Chance der Rückkehr“ in Aussicht stellt.⁸⁷ Folgt man diesem Gedankenspiel auch für den Lohengrin, dann kann man das explizite Beharren des Gralritters auf seiner Unabhängigkeit mit einer Haltung erklären, die ein dauerhaftes Leben in ehelichen oder anderen Bindungen abseits der Sphäre des Grals als wenig erstrebenswert erachtet. Aus dieser Perspektive macht der Gral seine Hüter für alle anderen Lebensmodelle untauglich. Sie können sich nicht nur aus dem System seiner Regeln nicht befreien – sie wollen es auch gar nicht. Im Parzival erscheint die Inschrift, die das Verhältnis zwischen Gralrittern und Außenstehenden regelt, im Kontext einer ganzen Reihe von weiteren Vorschriften, die auf dem Gral zu lesen sind. Dazu gehört etwa das Mitteilungsverbot, das es den Gralhütern untersagt, Parzival über die Aufgabe zu informieren, die er erfüllen soll (P 483,19 – 484,8). Ein Handlungsverbot verwehrt es dem Gralkönig, eine Frau seiner Wahl zu heiraten, wie Trevrizent erklärt: ‚swelch grâles hêrre ab minne gert / anders dan diu schrift in wert, / der muoz es komen ze arbeit / und in siufzebæriu herzeleit‘ (P 478,13 – 15: ‚Wenn aber ein Herr des Grals Verlangen hat nach Liebe und sich dabei nicht an das hält, was ihm die Schrift gewährt, dann muss ihm das Kummer bringen, Seufzen und schlimme Schmerzen‘). Anfortas habe sich um eine Frau bemüht, ohne  Schirok, Inszenierung, S. 76.

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die Erlaubnis des Grals erhalten zu haben, und damit gegen dessen Ordnung verstoßen: ‚Der site ist niht dem grâle reht‘ (P 473,1: ‚Wer so tut, bricht dem Gral sein Recht‘). Der Ungehorsam des Gralkönigs wird hart bestraft: Der Gral heilt die Wunde nicht, die ihm ein anderer um den Gral kämpfender Ritter zugefügt hat, sodass Anfortas seine Tage in unvorstellbaren Schmerzen zubringen muss. Die Therapieversuche seiner Untertanen können ihn davon nicht befreien. Er darf aber auch nicht sterben, obwohl er das will: der künec sich dicke des bewac, / daz er blinzender ougen pflac / etswenne gein vier tagn. / sô wart er zuome grâle getragn, / ez wære im lieb ode leit: / sô twang in des diu siechheit, / daz er d’ougen ûf swanc: / sô muoser âne sînen danc / lebn und niht ersterben (P 788,21– 29). Der König nahm sich oft vor, ganz fest die Augen blind zu machen, einmal sogar vier Tage lang. So trug man ihn zum Gral hin, ob er wollte oder nicht. Da zwang ihn die Krankheit dazu, die Augen aufzuschlagen. So musste er wider Willen am Leben bleiben, statt zu sterben.

An der Krankheit, die Anfortas dazu zwingt, die Augen zu öffnen, könnte der Kranke nur dann sterben, wenn man ihn nicht immer wieder vor den Gral trüge.⁸⁸ Als Schriftstück wie auch als mächtiger Gegenstand ist dieser ein Instrument, mit dessen Hilfe ‚Bio-Macht‘ im Sinne Michel Foucaults ausgeübt wird: Er ernährt die Bewohner der Gralburg, er reguliert ihre Sexualität, er bestimmt, wer unter welchen Umständen auf der Gralburg und außerhalb mit wem Kinder bekommen darf, er ahndet die Rebellion des Königs mit der verweigerten Heilung einer Verwundung am Hoden, d. h. mit Schmerz und Unfruchtbarkeit, er hält einen Uralten (Titurel) und einen Todkranken (Anfortas) am Leben und vermag Letzterem die verlorene Gesundheit zurückzugeben.⁸⁹ Die Macht des Grals über seine Hüter durchdringt alle wichtigen Bereiche ihres individuellen Lebens und Sterbens wie auch des Fortdauerns der Gemeinschaft als Ganzes. Freiräume für eigenmächtige Entscheidungen sind nicht vorgesehen: „[D]ie Schrift am Rand des Grals [schreibt] jedes entscheidungsbedürftige Handeln vor. Ein Spielraum für selbstbezogenes Verhalten der Mitglieder dieser geselleschaft bleibt nicht.“⁹⁰ Bei Wolfram ist die Gralgesellschaft eine totale Institution. Die Radikalität, mit der die ‚Insassen‘ der Gralburg mithilfe des Grals kontrolliert und beherrscht werden, wenden sie auch selbst in ihrer Interaktion mit der Außenwelt an. Loherangrin beispielsweise besteht seiner Frau gegenüber, genau wie auch sein Pendant im jüngeren Lohengrin-Roman, auf absolutem Gehorsam. Die weniger prominenten Gralritter diskutieren nicht lange, wenn sie einem Menschen begegnen, den sie als Gegner identifizieren, sie lassen keine Aushandlungsprozesse zustande kom „Anfortas wird von den Gralrittern zwar als König respektiert, aber als Patient behandelt: man kümmert sich nicht um seine Wünsche und geht mit ihm um wie mit einer Marionette.“ Bumke, Schluß, S. 239.  Zu den Begriffen der Bio-Macht und der Bio-Politik vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt a. M. 2004 (zugleich Paris 2004).  Harald Haferland: Parzivals Pfingsten. Heilsgeschichte im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, in: Euphorion 88 (1994), S. 263 – 301, hier S. 296.

5.3 Was tun, wenn Gott schreibt?

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men und geben keine zweite Chance. Wann immer jemand in ihren Augen einen Fehltritt begeht, töten sie gnadenlos.⁹¹ Mehrfach wurde in der Forschung angemerkt, dass das System des Grals bei Wolfram von Eschenbach ganz offensichtlich seine Schattenseiten hat.⁹² Dies wird besonders im Vergleich zwischen der Gralburg und Schastel marveile deutlich: Hier wie dort leben Männer und Frauen auf engem Raum zusammen, regiert von einem unfruchtbaren Herrscher, abgeschlossen von der Außenwelt und ohne dass sie Liebesbeziehungen miteinander eingehen dürfen.⁹³ Während diese Art zu leben auf Munsalvæsche von Gott mittels Gral diktiert ist, wird sie auf Schastel marveile durch einen bösen, durch Hass begründeten Zauber verursacht.⁹⁴ Was aber lässt sich aus dieser Beobachtung schlussfolgern? Joachim Bumke zufolge ist [d]ie Parallele […] vom Erzähler deutlich genug gemacht worden. Aber er hat seinem Publikum auch nicht den kleinsten Hinweis gegeben, wie die Wiederholung des Motivs verstanden werden soll. Soll man zu der Einsicht geführt werden, daß für die Gralgesellschaft ein Segen ist, was für die Artusgesellschaft als eine unheilvolle Störung wirkt? Oder soll der Zuhörer erkennen, daß die Vorbildlichkeit der Gralgesellschaft in diesem einen Punkt problematisch ist?⁹⁵

Ob eine Gemeinschaft, die das Leben ihrer Mitglieder bis in intime Details hinein reguliert und kontrolliert und dabei vor allem auf Handlungseinschränkungen und Kommunikationsverbote setzt, ein positives oder ein negatives Vorbild bietet, diese Frage lässt Wolfram offen. Wo aber der Parzival zumindest die Möglichkeit eines Problems andeutet, da sieht der Jüngere Titurel die reine Idealität. Auch in diesem Roman ist der Gral ein Instrument umfassender göttlicher Bio-Macht oder sogar BioPolitik, das darüber bestimmt, wer in Salvaterre leben, lieben, Kinder bekommen und

 Das lässt wenigstens die Bemerkung Trevrizents vermuten, dass sie keine Sicherheit nehmen, wenn sie ‚für Sünde‘ kämpfen: ‚si nement niemens sicherheit, / si wâgnt ir lebn gein jenes lebn: / daz ist für sünde in dâ gegebn‘ (P 492,8 – 10: ‚Sie nehmen niemals Sicherheit, sie setzen ihr Leben gegen das des anderen auf die Waage. Dies ist ihnen aufgegeben für Sünde‘).  Stephan Fuchs-Jolie bezeichnet den Gral gar als „Terrorinstrument der Willkür“. Stephan FuchsJolie: Von der Gnade erzählen. Parzival, Gottes ‚hulde‘ und die Gesetze des Grals, in: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), S. 435 – 446, hier S. 442.  Verstärkt wird eine gewisse morbide Parallelität zwischen Gralburg und Schastel marveile durch die Assoziation der jeweils zentralen Gegenstände mit dem Tod: Auf dem Gral erscheinen ‚Epitaphien‘ (P 781,15), die Wundersäule wird mit dem Spiegel in Camillas Grabmal verglichen (P 589,7– 9).  „Die Zuhörer werden das rigide Liebesverbot des Grals mit anderen Augen betrachtet haben, nachdem sie im dreizehnten Buch erfahren hatten, daß in Schastel marveile der Zustand gesellschaftlicher Verödung, der sich im Fehlen von Liebesbeziehungen zwischen Rittern und Damen manifestierte, die Folge eines bösen Zaubers war. Derselbe Zustand – Ritter und Damen, denen Liebesbeziehungen untereinander verboten sind, zusammen in einer Burg – soll in Munsalvaesche als Ausfluß göttlicher Weisheit verstanden werden: die auffallende Parallele ist geeignet, Zweifel an der Vorbildlichkeit der Gralgesellschaft zu wecken.“ Bumke, Schluß, S. 242. Vgl. auch Bumke, Wolfram, S. 186; Schirok, Themen und Motive, S. 375 – 377.  Joachim Bumke: Die Utopie des Grals. Eine Gesellschaft ohne Liebe?, in: Literarische UtopieEntwürfe. Hg. von Hiltrud Gnüg. Frankfurt a. M. 1982, S. 70 – 79, hier S. 77.

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sterben darf und wann und auf welche Weise dies jeweils geschieht. Albrecht schildert ihn allerdings als noch weitaus aktiver strafend und disziplinierend als Wolfram. Bevor beispielsweise Titurel seinem Sohn erklärt, wie der Gral seine Zuneigung kundtut, weist er zuerst einmal darauf hin, was geschieht, wenn man sich der ordenung des grales (JT 639,4) widersetzt.⁹⁶ Frimutel möge sich um Tugendhaftigkeit bemühen, wenn er nicht Gottes Strafe auf sich ziehen wolle. Wer nämlich den Gral ansehe an ganzer ksch (JT 646,2: mit weniger als vollkommener Sittsamkeit), der werde für die Dauer von sieben Tagen außerordentlich geschwächt werden (JT 646,1– 4). Bei ärgeren Verfehlungen könne es aber noch schlimmer kommen: Ist er aber gerende unksch des tages ziten, / so er den gral ist wernde angesichtes, so kan er nicht erbiten, / er wirt des selben tages verwunt so sere / zem tode oder sust zeverhe, daz er zem grale belibet sunder ere (JT 647,1– 4). Begehrt er aber etwas Unreines an dem Tag, an dem er den Gral sieht, dann gibt es keinen Aufschub: Er wird am selben Tag so sehr auf den Tod verwundet oder doch so sehr am Leben, dass er beim Gral ehrlos wird.

Ein mahnendes Beispiel für die Folgen solchen Ungehorsams ist später, ähnlich wie im Parzival, Anfortas.⁹⁷ Als der Gral im Jüngeren Titurel nach Indien umzieht, wählt er nach dem gleichen rigorosen Prinzip aus, wer ihn begleiten darf, und denunziert die Sünder, die nicht aufrichtig gebeichtet haben und daher nicht mitkommen sollen, schriftlich, sodass man sie sogleich aussortieren kann (JT 6067,2– 6068,2). In Indien angekommen, führt der Gral schließlich mit einer weiteren Inschrift eine Maßnahme ein, die sündhafte Gedanken schon im Keim ersticken soll, indem sie den Sünder für alle Menschen gut sichtbar kennzeichnet und ihn durch diese negative Stigmatisierung aus jeglicher Gemeinschaft ausschließt: Doch liez er an im vinden geschriben ordenunge / den alten und den kinden. swer uber al daz lant mit sunden runge, / dem slůc man groze wunden durch die hende; / gemeinschaft mit den lten, der můst er furbaz immer sin ellende, / Untz er die sunde bůzte. so was diu wund geheilet, / daz volk in aber grůzte und het in werdichlichen ungemeilet: / man hete in sam der nie sund erdahte. / der nu daz selbe tæte, ich wen, man doch vil mange sunde versmahte (JT 6307,1– 6308,4). Die Alten wie auch die Kinder ließ er [der Gral, A.L.] an sich eine geschriebene Satzung sehen: Jeder, der irgendwo im Land mit einer Sünde kämpfte, dem schlug man tiefe Wunden durch die Hände. Aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen war er von da an und so lange ausgestoßen, bis er die Sünde gebüßt hatte. Dann wurde die Wunde geheilt. Das Volk grüßte ihn wieder und behandelte ihn wie einen ehrhaften und unschuldigen Menschen, wie jemanden, der nie auch nur an Sünde gedacht hatte. Wer so etwas einmal erlebt hat, von dem glaube ich, dass der später oft das Begehen weiterer Sünden verschmähte.

 An anderer Stelle ist von des grales recht die Rede (JT 435,4).  Dieser muss aufgrund einer einzigen Sünde auf alle Freuden verzichten – ,die tet er wider des grales ordenunge‘ (JT 5261,4: die beging er wider die Ordnung des Grals).

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Anders als das biblische Kainsmal (Gen 4,1– 16) kann das Sündenzeichen des Grals wieder entfernt werden. Seine Funktion zur Stabilisierung der Gemeinschaft besteht nicht darin, Blutrache zu vermeiden – vielmehr ist es eine Art Erziehungsmittel, das dazu dient, den Sünder erst aus der Gemeinschaft auszustoßen und ihn dann zu reintegrieren, sobald er sich als rehabilitationsfähig erwiesen hat. Im Jüngeren Titurel ist der Gral somit nicht nur Sprachrohr Gottes, Tischleindeckdich und Therapeutikum zur Lebensverlängerung. Er fungiert auch als Lügendetektor und Pranger, der jeden Verstoß jedes Einzelnen (also nicht nur des Königs) gegen die schriftlich gesetzte Ordnung öffentlich sichtbar macht – und zwar nicht erst verurteilungswürdige Taten, sondern schon sündige Gedanken. Kein Wunder, dass es den Gral zuletzt nach Indien zieht, wo im Palast Priester Johans ein Überwachungsinstrument aufgebaut ist, das ganz ähnlich funktioniert: eine große, kostbare Säule mit einem Spiegel, mit deren Hilfe der Herrscher das ganze Reich überwachen und jeden Menschen sehen kann, der etwa aufrührerische Pläne hegt: der spiegel stet so, daz man siht dar inne, / swer sich uber al in den provintzen keret / mit hazze gen dem kunige. der spiegel daz zuhant da wizzen leret. / Valsch und al untriwe der selbe spiegel meldet. / die stet drinn al niwe, untz er die schuld mit bůze wider geldet. / so zergent diu mal gar nach der slihte (JT 6245,2– 6246,3). Der Spiegel ist so aufgestellt, dass man darin sieht, wenn sich irgendwo in den Provinzen jemand feindselig gegen den König wendet. Der Spiegel lässt das sogleich wissen. Falschheit und Treulosigkeit meldet der Spiegel. Die sind darin fortwährend zu sehen, bis man die Schuld mit Buße abgilt. Dann zergehen die Zeichen geradewegs und vollständig.

Horst Wenzel zufolge dient dieser Spiegel „ausdrücklich nicht dazu, den Herrscher vor seinen Feinden oder das Land vor fremden Eindringlingen zu schützen, sondern richtet sich nach innen, um zwischen guten und schlechten Untertanen zu scheiden. […] Die utopische Idee eines harmonisch geregelten Reiches, in dem sich die Untertanen im Bewusstsein ständiger Kontrolle normgerecht verhalten, bedarf technischer Blicke, die ubiquitär wirksam werden“.⁹⁸ In einer Zusatzstrophe in Handschriftengruppe II (JT Str. 6246a) wird das Verschwinden der Sündenmale explizit als Wirkung des Bußsakraments beschrieben. Damit rückt Priester Johan, ein Vertreter Gottes auf Erden, als speculator cordis in eine ähnliche Position wie Gott selbst.⁹⁹ Dieses nahezu foucaultsche Panoptikum¹⁰⁰ hat Albrecht zusammen mit den meisten weiteren Schilderungen der Kostbarkeiten und mirabilia im Reich und im

 Horst Wenzel: Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter. Berlin 2009, S. 163.  Vgl. Müller, Höfische Kompromisse, S. 321– 322.  Rechtfertigen lässt sich die Verwendung dieses modernen Begriffs durch einen Vergleich von Albrechts Wundersäule im Zentrum eines Herrschaftsbereichs mit den Instrumenten der Disziplinarmacht als spezifischer Technologie der Macht, wie Michel Foucault sie beschreibt: „Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen. Ein zentraler Punkt wäre zugleich die Lichtquelle, die alle Dinge erhellt, und der Konvergenzpunkt für alles, was gewußt werden muß: ein vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge und auf das alle

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Palast des Priesters Johan aus dem Brief des Priesterkönigs Johannes (d. h. aus dem sogenannten Presbyterbrief) übernommen. Dieser Text, dessen vermeintlicher Absender sich an den byzantinischen Kaiser wendet und den man dem Priester Johan oder Johannes zuschrieb, verbreitete sich seit dem 12. Jahrhundert in ganz Europa und wurde weithin für echt gehalten.¹⁰¹ Dass nicht erst Albrecht um die Existenz und den Inhalt des Presbyterbriefs wusste, sondern auch schon sein Vorbild Wolfram, zeigt der Schluss des Parzival. Dort heißt es, dass Feirefiz und Repanse nach Indien gehen und einen Sohn bekommen, den man später priester Jôhan nennt (P 822,25).¹⁰² Mehrere motivische Parallelen deuten darauf hin, dass Wolfram auch Details kannte, von denen in diesem Zusammenhang besonders die wunderbare Säule von Bedeutung ist. Im Parzival dient eine ebensolche Säule Clinschor dazu, seinen Herrschaftsbereich zu überblicken. Dem Erzähler zufolge hat Clinschor sie ûz Feirefîzes landen (P 589,10) gestohlen und nach Schastel marveile gebracht, das heißt also aus Trîbalibôt oder Indîâ, wie Feirefiz’ Land ‚bei uns‘ auch genannt wird (P 823,2– 3). Die Erzählung reflektiert an dieser Stelle, wie sie selbst teilweise zustande gekommen ist: So, wie Clinschor die Säule aus Indien geraubt, nach Europa importiert und in seinem Schloss aufgestellt hat, hat der Dichter das Motiv der Säule aus einem anderen Text, nämlich aus dem Presbyterbrief entlehnt und in seinen eigenen Roman eingebaut. Im Parzival pervertiert der dubiose Clinschor die im Presbyterbrief, beschriebene Funktion des Dings: Im Bericht des Priesterkönigs wird die Säule zur Verteidigung der gerechten Herrschaft eines gottesfürchtigen Herrschers gebraucht. Man kann sich dem Spiegel auf der Säule nur dann nähern, wenn man selbst frei von Sünde ist. Wenn man hineinschaut, dann sieht man alles, was jeder Mensch in dem riesigen Reich des Pries-

Blicke gerichtet wären.“ Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. Main 1994 (erstmals Paris 1975), S. 224.  Bettina Wagner: Die ‚Epistola presbiteri Johannis‘. Lateinisch und deutsch. Überlieferung, Textgeschichte, Rezeption und Übertragungen im Mittelalter. Mit bisher unedierten Texten. Tübingen 2000; Dietrich Huschenbett: Art. ‚Priesterkönig Johannes‘ (‚Presbyterbrief‘), in: VL Bd. 7, Sp. 828 – 842; Elisabeth Schmid: Priester Johann oder die Aneignung des Fremden, in: Germanistik in Erlangen. Hundert Jahre nach der Gründung des Deutschen Seminars. Hg. von Dietmar Peschel. Erlangen 1983, S. 75 – 93; Zu Albrechts Bearbeitung des Presbyterbriefs im Jüngeren Titurel vgl. Julia Zimmermann: Im Zwielicht von Fiktion und Wirklichkeit. Zur Rezeption des Presbyterbriefs in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘, in: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hg. von Johannes Keller und Florian Kragl. Göttingen 2009, S. 547– 566.  „Nachweislich umfaßte Wolframs Kenntnis über den Priester Johannes zwei Punkte, die durch den Brief verbürgt waren: 1. die Lokalisierung nach Indien und 2. die Verknüpfung mit der Ausbreitung des Christentums im Orient.“ Bumke, Schluß, S. 248. Hartmut Kugler geht davon aus, dass Wolfram den Brief nicht gekannt hat. Vgl. Hartmut Kugler: Zur literarischen Geographie des fernen Ostens im ‚Parzival‘ und ‚Jüngeren Titurel‘, in: ‚Ja muz ich sunder riuwe sin.‘ Festschrift für Karl Stackmann. Hg. von Wolfgang Dinkelacker, Ludger Grenzmann und Werner Höver. Göttingen 1990, S. 107– 147, hier S. 120. Für den Jüngeren Titurel sind die intertextuellen Verhältnisse klarer: Albrecht übernimmt lange Passagen aus dem Presbyterbrief, wahrscheinlich, um „dem Gedicht […] mehr historische Gewichtigkeit und verbindlichen Bezug auf die nichtliterarische ‚Realität‘ [zu] geben“. Kugler, Geographie, S. 137.

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terkönigs tut.¹⁰³ Der Zauberer Clinschor im Parzival hingegen setzt die Säule zur Bewahrung eines Unrechtsregimes ein, das er auf Schastel marveile errichtet hat und das zum Glück der von Clinschor Unterdrückten schließlich von Gawan beendet wird.¹⁰⁴ Das gestohlene und zweckentfremdete Gerät wird in den falschen Händen zum Unterdrückungsinstrument. Indem Wolfram zwei informationsübertragende Geräte (den himmlischen, Schriften vermittelnden Gral und die zweckentfremdete irdische, Bilder übermittelnde Säule) einander gegenüberstellt und auf diese Weise die Herrschaftszentren Munsalvæsche und Schastel marveile miteinander parallelisiert, rückt er die sozialen und herrschaftlichen Praktiken der Gralgesellschaft im Parzival in ein etwas zweifelhaftes Licht. Der Dichter des Jüngeren Titurel löst diesen Zusammenhang auf, indem er den intradiegetischen Diebstahl der Wundersäule sozusagen rückgängig macht und sie in seiner Erzählung zurück an den Ort stellt, an den sie dem Presbyterbrief zufolge gehört: nach Indien in den Palast des Priesterkönigs Johan, wo sie auf ähnliche Weise wie der Gral dazu genutzt wird, gute Herrschaft zu erhalten und zu festigen. Das bedeutet auch: Ab dem Moment, in dem Wundersäule und Gral sich im selben Land befinden, ist kein Bewohner dieses Landes, der sündhafte Gedanken hegt, vor Entdeckung sicher. Im Jüngeren Titurel sind totale Überwachung und Kontrolle kein Schreckensszenario, sondern eine kaum zu übertreffende Wunschvorstellung.¹⁰⁵

 Vgl. Friedrich Zarncke: Der Priester Johannes. Erste Abhandlung. Enthaltend Capitel I, II und III. Leipzig 1879, § 69 – 72, S. 919 – 920. Die Münchner Übersetzung gibt die Wunderkraft der Spiegelsäule folgendermaßen wieder: Wer czu dem spiegel wil gan, / der müz wesen aller sünden an, / sam er in der tawff waz: / fürwar sölt ïr wissen das, / darin sicht er alle dinch, / di vmbvächt der erden rinch. / Nü hört von des spiegels chrafft: / an dem ligt vil der maisterschafft, / geheiligt vn̄ gemachet / mit got also wesachet: / wes aldy welt peginnet / oder was si in ir sinnet, / oder was als mein volch tüt, / oder was yder fürst tüt, / so der auf der welt ist, / secht das sech wir zu der frist / in des spiegels maisterschafft; / von got so hab wir di chrafft (691– 708). Der Text der Münchner Übersetzung des Presbyterbriefs befindet sich in Zarncke, Priester Johannes, S. 995 – 1004. Säule und Spiegel nehmen zwar im Presbyterbrief nicht gerade selbst „die Polizei- und Gerichtsfunktion im Reich“ wahr, können aber sehr wohl solchen oder ähnlichen Institutionen als Hilfsmittel dienen, die unerwünschtes Verhalten aufspüren und ahnden. Anna-Dorothee von den Brincken: Presbyter Johannes, Dominus Dominantium – ein Wunsch-Weltbild des 12. Jahrhunderts, in: ‚Ornamenta ecclesiae‘. Kunst und Künstler der Romanik. Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museum. 3 Bde. Hg.von Anton Legner. Köln 1985, Bd. 1, S. 83 – 97, hier S. 95.Vgl. auch Wenzel, Spiegelungen, S. 160 – 162.  Vielleicht spielt der Autor des Reinfried von Braunschweig auf diese praktische Eigenschaft von Clinschors Herrschaftssitz an, wenn er über den Rückzugsort des ‚heidnischen‘ Zauberers Savilon auf dem Magnetberg mitteilt, dass man von hier aus im Umkreis von fünfhundert Meilen sehen könne, was auf dem Meer geschehe (R 21720 – 21722).  Möglicherweise übernimmt Albrecht unter anderem deshalb lange Passagen aus dem Presbyterbrief in seinen Jüngeren Titurel, weil ihm das im Presbyterbrief entworfene Konzept von Herrschaft durch Überwachung und gegenseitige Kontrolle gefällt. So heißt es etwa im Presbyterbrief über die Folgen des Lügens: Inter nos nullus mentitur, nec aliquis potest mentiri. Et si quis ibi mentiri coeperit, statim moritur i. quasi mortuus inter nos reputatur, nec eius mentio fit apud nos i. nec honorem ulterius apud nos consequitur (Presbyterbrief §51). Die Übersetzung im ,Ambraser Heldenbuch‘ lautet: Vnder vnns niemand leuget / noch den anndern betreuget. / Wenn ainer beginnet liegen / seinen ebencristen

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Während der Lohengrin schildert, wie sich das Kontrollstreben des Grals auswirkt, wenn es zur Grundbedingung einer ehelichen Beziehung wird, interessiert sich der Parzival dafür, wie es aussieht, wenn eine ganze Gemeinschaft sich den Regeln einer übergeordneten Macht unterwirft, die das Leben sämtlicher Mitglieder in allen denkbaren Bereichen reguliert. Die Frage, ob die Prinzipien einer solchen Gemeinschaft als nachahmenswert zu betrachten sind oder ob man die Gralritter und Gralhüterinnen – besonders im Vergleich zu den Mitgliedern der Artusgesellschaft auf der einen und den Gefangenen auf Schastel marveile auf der anderen Seite – auch bedauern muss, belässt er in der Schwebe. Der Jüngere Titurel schließlich stellt in dieser Frage Eindeutigkeit her: Je umfassender die Kontrolle ist, die der Gral über seine Untertanen besitzt, desto besser. Schrift ist in diesem Roman ein Herrschaftsinstrument, dessen Funktion über die Mitteilung von Handlungsanweisungen weit hinausgeht. Im Jüngeren Titurel überwindet Schrift nicht nur die Grenze zwischen Gott und den Menschen, indem sie den Menschen Gottes Willen mitteilt, sondern auch die Grenzen zwischen den Menschen, indem sie sie über die Gedanken, Gefühle und Absichten ihrer Mitmenschen aufklärt. Jeder, der mit dem Gral zu tun hat, wird in diesem System zum potenziellen Kontrolleur. Andererseits kann jeder, der liest, auch seinerseits zum Gegenstand einer Inschrift werden, die seine tiefsten Geheimnisse offenbart und dadurch wiederum ihn für alle anderen ‚lesbar‘ macht. Wenn der Roman imaginiert, dass man nicht nur für verbotene Taten, sondern auch für verbotene Gedanken öffentlich beschämt, gezüchtigt und ausgestoßen wird, dann entwirft er ein System, das weniger autoritär oder diktatorisch als vielmehr totalitär ist.

Die Exklusivität der lesenden Gemeinschaft In Wolframs Parzival wird von zwei Gemeinschaften erzählt, die sich um Dinge gruppieren: Die Mitglieder des Artushofs scharen sich um die Tafelrunde, die der Gralgesellschaft um den Gral. Beide Dinge stehen im Mittelpunkt von Mahlgemeinschaften und beide besitzen sowohl profane als auch sakrale Anteile.¹⁰⁶ Einen wichtigen Unterschied gibt es Bruno Quast zufolge allerdings: „Wolfram bildet mit der Tafelrunde eine im Ding zu sich selbst kommende und sich vergewissernde Gesell-

triegen, / so ist er todt an der stat / wann er sein ere verloren hat: / wir haben in fuͤr einen todten man; / die wirdikait, die er sol han, / die muess er lassen vnnder wegen, / die schandt mus sein fuͤrbas phlegen: / bey vnns hat er dhaynen wert mere, / wann er hat verloren all sein ere (711– 722). Der Text dieser Übersetzung des Presbyterbriefs im ,Ambraser Heldenbuch‘ befindet sich in Zarncke, Priester Johannes, S. S. 957– 968.  Vgl. Bruno Quast: Dingpolitik. Gesellschaftstheoretische Überlegungen zu Rundtafel und Gral in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hg. von Anna Mühlherr, Heike Sahm, Monika Schausten und Bruno Quast. Berlin, Boston 2016, S. 171– 184, hier S. 182.

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schaft ab. Die Gralsgesellschaft stellt sich als Dienstgesellschaft dar.“¹⁰⁷ Während die Tafelrunde für die Artusritter da ist, die sie zur friedvollen Selbstorganisation nutzen, sind die Gralritter für den Gral da, dem sie dienen. Dieser Dienst will organisiert sein, sodass die Gralgesellschaft Aufgaben und Ämter festlegt: Es gibt einen Gralkönig, eine Gralträgerin und eine Gralbotin, dazu einen Priester und eine Vielzahl von Männern und Frauen, die dem Gral aufwarten, aber jederzeit in die Außenwelt abbestellt werden können. An dem Aufwand, den die Gralgesellschaft um das gemeinsame Abendessen bei Parzivals erstem Besuch auf der Gralburg treibt, wird sichtbar, dass Wolfram im Vergleich zu Chrétien die Hierarchien am Hof stärker ausdifferenziert: Aus den wenigen Personen, die in der französischen Vorlage während der Vorbereitungen zum Essen auftreten, wird in der deutschen Bearbeitung eine größere Zahl von Dienern und Edelknaben, Gräfinnen, Grafentöchtern und Herzoginnen, von denen manche durch die Nennung ihrer Herkunft näher gekennzeichnet werden.¹⁰⁸ Als namentlich benannte und aktiv in die Handlung eingreifende Individuen treten aus der Gralgesellschaft aber eigentlich nur Anfortas, Repanse und Cundrie hervor. Titurel bleibt in Wolframs Roman im Hintergrund, und die templeisen besitzen zwar einen meister, der einer rotte vorsteht (P 792,25). Da sie aber, anders als die Artusritter, alle dasselbe Wappen tragen (nämlich die Taube), sind sie ansonsten nicht voneinander zu unterscheiden: „Während am Artushof und in der Rittergemeinschaft der Tafelrunde die einzelnen Ritter ihre Individualität weitgehend bewahren, vereinigen sich am Gralshof die aus verschiedenen Ländern kommenden Ritter und Frauen im Zeichen der Turteltaube zu einer wenig differenzierten, homogenen Gemeinschaft.“¹⁰⁹ Zum Vergleich: Im Daniel von dem blühenden Tal des Strickers, der nicht lange nach Wolframs Parzival entstand, wird dem Artushof mit dem Hof des Königs Matur ebenfalls ein anderes Herrschaftssystem gegenübergestellt, dessen Funktionstüchtigkeit auf Zwang und auf einer Uniformität beruht, die das Hervortreten und die Bewährung einzelner Ritter verhindert.¹¹⁰ Für den Autokraten Matur geht die Konfrontation mit der Artusgemeinschaft schlecht aus – er selbst und viele seiner Gefolgsleute werden getötet, sein Reich und seine verwitwete Ehefrau übernimmt der Protagonist Daniel und alles, was Matur beherrscht hat, geht in einem auf Offenheit, Kooperationsfähigkeit und Kompromissbereitschaft basierenden, fast grenzenlosen Artusreich auf. Etwas Ähnliches geschieht im Parzival mit Clinschors Unrechtsherrschaft, als seine Gefangenen befreit und erneut der Artusgesellschaft zugeführt wer-

 Quast, Dingpolitik, S. 183.  So z. B. die Gräfin von Tenabroc (P232,25), die Töchter der Grafen Iwân von Nônel und Jernîs von Rîl (P 234,12– 13) sowie Anfortas’ Schwester Repanse de Schoye (P 235,25).  Konstantin Pratelidis: Tafelrunde und Gral. Die Artuswelt und ihr Verhältnis zur Gralswelt im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Würzburg 1994, S. 98.  Vgl. Lea Braun: ‚Monstra‘, Macht und die Ordnung des Raums. Zur Funktion der phantastischen Figuren im ‚Daniel von dem blühenden Tal‘, in: (De)Formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Hg. von Björn Reich und Gabriela Antunes. Göttingen 2014, S. 109 – 130, hier S. 4– 5.

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den. Gral und Tafelrunde aber erhalten ihre vorsichtige Koexistenz über das Ende der Handlung hinaus aufrecht. Der Roman verzichtet darauf, eines der beiden Herrschafts- und Vergemeinschaftungsmodelle vom anderen vereinnahmen zu lassen. Das Königreich des Grals, das schließlich – anders als das des Zauberers Clinschor oder das des Königs Matur im Daniel – nicht autokratisch, sondern theokratisch und damit von höchster Stelle legitimiert regiert wird, und das stärker weltlich ausgerichtete Reich des Königs Artus bestehen am Ende noch immer nebeneinander. Der Gral negiert die Existenzberechtigung weltlicher Höfe und Herrschaftsbereiche nicht. Indem er aber nur einen von Parzivals und Condwiramurs’ Zwillingssöhnen zu sich beruft, nämlich Loherangrin und nicht auch Kardeiz, signalisiert er, dass es nicht gleichgültig ist, welcher Gemeinschaft man angehört: Während der Artushof fast allen Rittern offensteht, die sich ihm anschließen wollen, besteht die Gralgesellschaft nach wie vor auf Exklusivität. Feirefiz darf zwar auf die Gralburg kommen, den Gral sehen und die Gralträgerin heiraten; automatisch zum ‚Gralritter ehrenhalber‘ wird er dadurch aber keineswegs. Man ergänzt einander und man respektiert einander, aber man weiß auch ganz genau, wo die Grenzen zwischen den Gemeinschaften verlaufen. Diese sozialen Strukturen baut der Dichter des Lohengrin um. In seinem Roman existieren Artus- und Gralgesellschaft nicht getrennt voneinander, sondern werden zu einer einzigen Gemeinschaft verschmolzen. Noch innerhalb der Rahmenhandlung wird eröffnet, dass es Artus ist, der Lohengrin nach Brabant aussendet (L 285). In Strophe 41 werden Artus und der Gral dann mit größter Beiläufigkeit vereint: Artus ordnet an, dass Priester vor den Gral ziehen sollen, um Gottes Willen in Erfahrung zu bringen; er selbst trägt ûf sînem houbte […] / dô vür den grâl aldâ des rîches krône (L 415 – 416: auf seinem Haupt […] dort vor dem Gral die Krone des Reichs). Das heißt: Der Herrscher dieses Reichs ist Artus und nicht etwa Parzival. Artus ist es auch, der sich zuerst als Freiwilliger meldet (L 511– 520) und der Lohengrin aussendet (L 285). Dieser wiederum nennt seinen Vater Parzival beim Abschied erst an zweiter Stelle: ‚Artûs, künic wert, / mîn herze nû urlóubes von dir, herre, gert. / got segen dich, vater mîn, und werde degene‘ (L 611– 613: ‚Artus, edler König, ich wünsche nun, Herr, von dir entlassen zu werden. Gott segne dich, mein Vater, und er segne auch euch, edle Helden‘). Parzival ist zwar, wie Lohengrin später mitteilt, ‚herre zuo dem grâl‘ (L 7102: ‚Herr beim Gral‘), aber offenbar ist Lohengrins Vater eben nur einer von vielen Herren und nicht etwa der höchste oder einzige Gralherrscher. Zusätzlich wird die Gemeinschaft auf der Gralburg zweimal als tavelrunde bezeichnet (L 448 und 493). Der Dichter des Lohengrin begnügt sich folglich nicht damit, die weltliche Artusgemeinschaft und die asketische Gralgemeinschaft, die bei Wolfram beide sowohl Züge von Idealität als auch von Defizienz aufweisen, in einem Ergänzungsverhältnis nebeneinander existieren zu lassen. Stattdessen extrahiert er sozusagen das Beste aus beiden Welten (Artus und Parzival, Tafelrunde und Gral, Bemühung um Ehrerwerb und Gottesdienst) und erschafft in der Amalgamierung von Artus- und Gralrittertum ein neues Gemeinschaftsmodell, das einem literarisch interessierten Publikum auf einen Blick alles bietet, was es sich an vollendeter, geistlich-weltlicher Höfischkeit nur wünschen kann.

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Danielle Buschinger sieht in der Verbindung von Artusgesellschaft und Gralherrschaft einen Versuch, die kaiserliche Idee in Verbindung mit der göttlichen Ordnung [zu] setzen und dadurch die kaiserliche Idee [zu] verherrlichen […]. Artus wird zum Prototyp des absoluten Herrschers in Verbindung mit Gott, und dies zu einer Zeit (die unmittelbar auf die trübe Zeit des Interregnums folgt), in der eine neue Dynastie, die der Habsburger, an die Macht kommt und im Reich Ordnung zu schaffen versucht. Wir haben hier ein Beispiel, das das Prinzip vieler arthurischer Romane des Spätmittelalters veranschaulicht, die die Interessen eines Herrscherhauses verteidigen.¹¹¹

Folgt man dieser Interpretation, dann legitimiert Artus’ doppelte Tugend- und Machtfülle nicht nur seinen Abgesandten Lohengrin, sondern auch das Brabanter Herrscherhaus sowie den Kaiser, dem Lohengrin nach dem Gerichtskampf zu Hilfe kommt, und damit auch die Institution des Kaisertums. Der Dichter tut aber noch mehr, als die Herkunft, die Nachkommenschaft und die Alliierten des Protagonisten aufzuwerten. Er reichert auch die Gralsphäre mit allerlei weiteren Charakteristika an, die sie einerseits als besonders mächtig und exotisch, andererseits aber auch als vage irreal erscheinen lassen. Impliziert wird etwa, dass das Gralreich als jenseitiges Territorium¹¹² nicht nur von wundersamen Tieren,¹¹³ sondern auch von ‚heidnisch‘-antiken Persönlichkeiten wie etwa der Sybille bevölkert wird. Wenn Clingsor im Rätselspiel-Teil des Lohengrin beteuert, dass die Sybille, ihre Tochter Felicia und Iunas (die Göttin Juno?) ‚ganz wie wir‘ auch wirklich Geschöpfe aus Fleisch und Blut seien und dass Wolfram die Göttinnen ruhig zu sich rufen möge, um sich von ihnen über die Lebensweise der Gralhüter informieren zu lassen, dann kann man sich fragen, ob Clingsor es mit dieser Art von Authentizitätsbehauptung ernst meint oder ob er sich (und damit auch seinem fiktiven oder dem realen Publikum des Textes) hier einen Spaß erlaubt.¹¹⁴ Und wenn Wolfram daraufhin bestätigt, dass  Danielle Buschinger: Variationen des Mythos von Lohengrin vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, in: Artusroman und Mythos. Hg. von Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl und Matthias Däumer. Berlin, Boston 2011, S. 303 – 316, hier S. 307.  Artûs hât kempfen ûz gesant, / sît er von dirre werlte schiet, in Kristenlant (L 251– 252: Artus hat Kämpfer in christliche Länder geschickt, seit er aus dieser Welt geschieden ist).  Die Königin will ohne Angabe von Gründen zur Befragung des Grals Ezsydemôn daz reine tier sowie dessen vriedelinne Sibînî mitnehmen (L 431– 440). Vgl. auch L 26 – 27 und L 68. Welches Tier hier gemeint ist, ist unklar.Wolfram von Eschenbach „reiht es zunächst unter die Giftschlangen, bezeichnet es später aber als deren Feind.Vielleicht ist das so genannte Ichneumon gemeint, […] eine in Afrika und Asien verbreitete Schleichkatzenart.“ Manfred Kern: Art. ,Echidna‘, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hg. von Alfred Ebenbauer und Manfred Kern. Berlin, New York 2003, S. 235. Gemeint ist möglicherweise der Mungo. Vgl. Sonja Glauch: Inszenierungen der Unsagbarkeit. Rhetorik und Reflexion im höfischen Roman, in: ZfdA 132 (2003), S. 148 – 176, hier S. 163.  ‚Felicîâ, Sybillen kint, / und Iunas, die mit Artûs in dem birge sint, / die habent vleisch sam wir ouch gebeine. / Die vrâget ich, wie der künic lebe, / Artûs, und wer der massenîe spîse gebe, / wer ir dâ pflege mit dem getranke reine, / Harnasch, kleider unde ros. sie lebent noch in vreche. / die gotinne bringe her vür dich, / daz sie dichs unterscheiden sam si tâten mich, / daz dir iht hôher meister kunst gebreche‘ (L 231– 240: ‚Felicia, die Tochter der Sybille, und Iunas, die sich zusammen mit Artus in dem Gebirge

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Sybille, Felicia und Iunas tatsächlich bei Artus seien und dass er das aus erster Hand vom heiligen Brandan erfahren habe (L 261– 263) – ist dies dann als Beitrag des Erzählers zu einer seriösen Diskussion über die Zuverlässigkeit ‚heidnischer‘ und christlicher Quellen zu verstehen oder führt hier ein Überbietungswettstreit jegliche Bemühung, etwas über die Zustände im Gralreich erfahren zu wollen, vollends ad absurdum? Die Frage stellt sich weniger, wenn man die anfänglichen Schilderungen der Gralgemeinschaft nicht von dieser Einleitung, sondern vom Ende des Romans her betrachtet, nachdem man also von einer Vielzahl göttlicher Wunder, erfolgreicher ‚Heidenkämpfe‘ und anderer wichtiger religiöser und politischer Ereignisse in der bekannten Welt erfahren hat. Im Rückblick erscheint das Reich des Grals als Ort, an dem vieles möglich ist, was man an anderen Orten für unvorstellbar halten würde, vergleichbar dem mit vielerlei mirabilia angefüllten Reich des Priesters Johan in Albrechts Jüngerem Titurel. Und warum sollen an einem solchen Ort nicht die Sybille und der heilige Brandan gemeinsam mit König Artus zum Gral gehen, um dort in Erwartung einer Inschrift ein geheimnisvolles Ritual mit Kindern und wilden Falken zu vollziehen? Im Gegensatz zum Lohengrin nobilitiert Albrecht im Jüngeren Titurel die Artusgesellschaft nicht, indem er sie mit der Gralgesellschaft fusionieren lässt. Im Gegenteil: Die weltliche, höfische Welt erweist sich in den Augen ihrer traurigen Bewohnerinnen und Bewohner schließlich als dermaßen dysfunktional, dass sich die kinderlosen Hauptakteure Ekunat, Clauditte, Richaude und Kaylet nach Tschonatulanders und Sigunes Tod ganz aus ihr zurückziehen und sich von nun an nur noch frommen Werken widmen (JT 5922,1– 5958,4). Während beim Gral weiterhin göttliche Inschriften darüber Auskunft geben, wie die Gegenwart und die Zukunft zu gestalten sind, wird die Artuswelt mit abschließenden Epitaphien versehen, die lediglich die Erinnerung an ihre Protagonisten wachhalten sollen: zallen stiften sunder vindet man ir namen da mit schriften, / Immer mer zedenken Artus und siner vrowen / mit triwen ane wenken, wan sine helfe stark liez er do schowen. / darnach liez man der zweier niht beliben, / Tschinotulander und Sigunen hiez man darnach schriben, / Richauden, Kayleten, Clauditten, Ekunaten: / singen, lesen heten pfaffen vil, die got vil tiure baten. / daz wert vil reht unz an daz end der welte. / Liazen und Gurnomantzen schreip man da rehte in dem selben gelte (JT 5954,4– 5956,4). In jeder Stiftung findet man ihre Namen aufgeschrieben zum fortwährenden und tadellos zuverlässigen Gedenken an Artus und seine Herrin, da er an diesen Stiftungen sehen ließ, wie sehr er sie unterstützte. Man vernachlässigte auch zwei andere nicht: Tschonatulander und Sigune ließ man danach ebenfalls aufschreiben, dazu Richaude, Kaylet, Clauditte und Ekunat. Geistliche hatten viel zu singen und zu lesen um ihretwillen. Sie verwendeten sich eifrig bei Gott für sie. Das

aufhalten, sind ebenso aus Fleisch und Knochen wie wir. Die habe ich danach gefragt, wie der König Artus lebt und wer die Gesellschaft mit Essen versorgt, wer sich mit edlen Getränken um sie kümmert, mit Rüstung, Kleidung und Pferden. Sie leben heute noch ganz fröhlich. Ruf die Göttinnen zu dir, damit sie es dir ebenso erklären wie mir, sodass es dir nicht an meisterhafter Kunstfertigkeit mangelt‘).

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währt zu Recht bis ans Ende der Welt. Auch Liaze und Gurnomantz schrieb man dort auf, wie es recht war und wie sie es verdient hatten.

Nachdem damit die Geschichte der Artuswelt zu Ende gebracht ist, fragt der Erzähler: Sol disiu aventiure ein ende han mit riwe? (JT 5966: Soll diese Aventiure mit Kummer enden?), und antwortet gleich selbst: nein, sist so gehiure! (JT 5966,2: Nein, sie ist doch so schön!). Nachdem er zunächst noch vom eigentlich alles andere als gehiuren Ende Lohrangrins berichtet hat und damit nochmals unterstreicht, wie gefährlich und letztlich wertlos alles weltliche Streben und Begehren ist, widmet er sich am Schluss seiner Erzählung der erfolgreichen Verbindung von geistlicher und weltlicher Macht: In Indien tut sich die Gralgesellschaft um Parcifal mit Feirefiz und dem Priester Johan zusammen. Es findet eine mehrfache Verschmelzung statt: Vereint werden mit Parcifal und Feirefiz die beiden Zweige der Familie; mit dem Gral und dem Herrscher Johan, deren Tempel bzw. Palast sich zuletzt im selben Land befinden, kommen zwei Herrschaftsformen zusammen. Zudem hatte schon zuvor Priester Johan zwei Funktionen in sich vereint: die des Königs und die des Priesters, wobei die zweite der ersten überlegen sein soll, wie Feirefiz den Neuankömmlingen erklärt: Durch dise namen werde Johan und priester beide / heizet man uber al uf erde disen hohen kunic. man tůt im leide, / swer in keiser oder kunic benende (JT 6147,1– 3: Man nennt diesen mächtigen König in ehrenvoller Weise überall auf der Welt sowohl ‚Johan‘ als auch ‚Priester‘. Man tut ihm weh, wenn man ihn [nur] Kaiser oder König nennt). Parcifal bietet Priester Johan seinen Dienst an (JT 6279,4), dieser will wiederum aufgrund der Heiligkeit des Grals Parcifal dienen (JT 6309,3 – 4). Da das Reich nicht geteilt werden soll, befindet man sich in einer Pattsituation, die durch einen Kompromiss aufgelöst wird, den der Gral durch eine Inschrift diktiert: Parcifal wird König, dies jedoch nur für eine zeitlich begrenzte Dauer; danach geht die Herrschaft auf den Sohn des Feirefiz und der Urrepanse über. Alle Herrscher sollen in Zukunft einen neuen Namen annehmen, so wie es alle Päpste zu Ehren Gottes tun, und dieser Name soll ‚Priester Johan‘ lauten (JT 6321,4– 6325,4). Die potenziell konkurrierenden Ansprüche Parcifals, Feirefiz’und Johans werden somit im Amt eines übermächtigen rex et sacerdos harmonisiert.¹¹⁵ Diese umfassende Harmonisierung verschiedener Herrschaftsbereiche hat Auswirkungen darauf, wie Gral, Graltempel und Gralgesellschaft von nun an wahrgenommen werden. In Europa hatte sich die Sphäre des Grals durch Absonderung ausgezeichnet. Die Pracht des Graltempels und seiner Skulpturen, Bilder und Schriftbänder mit Inschriften, die im Text wie eine Fortsetzung der Gralinschriften wirken (JT 578,2– 580,2), hatte nur von den Gralhütern betrachtet und gedeutet werden können. In Indien hingegen begeben sich täglich viele Menschen auf Pilgerreise, um den Gral, seinen Tempel und die ihn behütenden liehten klaren (JT 6285,4) zu

 Vgl. Danielle Buschinger: Zu Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘: Versuch einer Interpretation, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Hg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S. 521– 528, hier S. 527.

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bestaunen, die offenbar allesamt, anders als im Lohengrin, nicht von fast unüberwindlichen Bergen oder anderen Hindernissen von der Außenwelt getrennt sind. Nicht impliziert wird allerdings, dass die Gruppe derer, die mithilfe des Grals den gesamten östlichen Teil der Welt regieren, möglichen neuen Mitgliedern ebenso offensteht wie der in desolatem Zustand in der früheren Heimat zurückgelassene Artushof. Man lässt sich besuchen und bewundern, bleibt aber dennoch unter sich. In allen drei Gralromanen bildet die Gemeinschaft, die sich um den Gral schart, ein exklusives Gegenstück zu inklusiveren, integrativeren Gruppen. Ganz gleich, ob sie wie im Parzival als streng segregierte Parallelgesellschaft neben anderen Gemeinschaften existiert, ob sie wie im Lohengrin mit dem Artushof verschmilzt oder sich wie im Jüngeren Titurel mit dem Priester Johan und seiner Gefolgschaft zusammenschließt – stets wird ein Teil der Welt ausgeschlossen, seien es gewöhnliche Artusritter, Brabanter Ehefrauen‚ nicht-christliche Personen oder auch die gesamte glaubensschwache europäische Christenheit. In jedem der Texte kennt die Gralgemeinschaft eine Grenze, die sie von anderen Menschen trennt und die nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Erlaubnis des Grals überschritten werden darf. Um eine Elite handelt es sich zwar auch bei der Artusgemeinschaft. Während aber grundsätzlich jeder Ritter die Möglichkeit hat, sich dieser anzuschließen und sich in ihr zu bewähren (wenn nötig auch mehr als einmal), kennt die Gralgemeinschaft keine ‚Initiativbewerbungen‘, sondern nur Erwählung. Jegliche Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit liegt nicht bei ihren Mitgliedern, nicht einmal bei ihrem Oberhaupt, sondern allein bei Gott. Besonders in den beiden jüngeren Texten funktioniert daher die Erzählung vom Gral und seinen Hütern ähnlich wie viele Heiligenlegenden: Zur Nachahmung taugt das Verhalten der Figuren nur sehr mittelbar. Was die Geschichten vor allem erzeugen, ist weniger eine Diskussion über Tugenden und Ideale als vielmehr Ehrfurcht vor der göttlichen Instanz, die normkonformes Verhalten belohnt, jegliche Abweichung aber unerbittlich bestraft.

5.4 Vom ‚world building‘ zur Gemeinschaftsstiftung In Hartmanns Gregorius ist die Tafel des Protagonisten ein Schriftträger, der innerhalb der von Hartmann geschaffenen erzählten Welt (ebenso wie in ihrem älteren französischen Pendant) nur für wenige Figuren von Bedeutung ist. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Grabmal der Japhite. Dieses Bauwerk ist zwar in der Logik der erzählten Welt viel besser zugänglich als Gregorius’ Elfenbeintafel – wer sich aber, abgesehen von Japhites Brüdern, überhaupt für das Grabmal und für die darauf angebrachte Inschrift interessiert oder interessieren könnte, darüber lässt der Dichter nichts verlauten. Im Reinfried von Braunschweig schließlich existieren neben Schriftstücken für den privaten oder sogar geheimen Gebrauch (Yrkanes Briefe an ihren Geliebten oder Savilons magischer Zettel) auch solche, die sich an eine größere Öffentlichkeit wenden, etwa die vorsintflutlichen Säulen oder die Säulen des Herkules, wobei die Intention der Schreibenden und der tatsächliche Effekt nicht immer

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zusammenfallen: Savilons Zettel wird gegen den Willen des Verfassers von Vergil entdeckt, ebenso wie Gregorius’ Tafel von ihrem Besitzer zwar sorgsam verborgen, im Laufe der Zeit aber dennoch von anderen Personen wahrgenommen wird. Das heißt: Man kann schrifttragende Artefakte in erzählenden Texten unter anderem danach kategorisieren, welche Wirkung auf welchen konkret adressierten Rezipienten ihnen von ihren Produzenten zugedacht wird, welche tatsächliche Wirkung sie auf ihre tatsächlichen Rezipienten ausüben und auf welche Weise intendierter und faktisch eintretender Effekt miteinander zusammenhängen oder ob überhaupt ein Zusammenhang hergestellt wird. Ein erstes, nicht weiter überraschendes Ergebnis einer solchen Betrachtung lautet: Leichte Zugänglichkeit zu erzählten Inschriften muss keineswegs eine intensive intradiegetische Rezeption nach sich ziehen – im Gegenteil: Je größer die Anstrengungen sind, die darauf verwendet werden, den Zugang zu einer Schrift zu begrenzen oder sogar zu unterbinden, desto mehr gewinnt diese an Potenzial, aufgrund ihrer bloßen Existenz Folgehandlungen durch Entdeckung oder Erzwingung des Zugangs auszulösen. Man muss sich aber nicht darauf beschränken, die Effekte zu beschreiben, die eine Schrift innerhalb einer bestimmten Erzählung auf die darin beschriebenen Figuren haben soll oder tatsächlich hat. Fragen kann man auch, ob oder wie eine fiktive Inschrift materiell und inhaltlich eine Wirkung entfalten kann, die über die Grenzen der vom Dichter entworfenen oder genutzten erzählten Welt ausstrahlt. Was aber ist das überhaupt, eine erzählte Welt? Zunächst einmal scheint es nicht schwierig zu sein, diese Frage zu beantworten: „Jeder fiktionale Text entwirft eine eigene Welt“, so Matías Martínez und Michael Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie. ¹¹⁶ Hartmann von Aue konstruiert also in seinem Gregorius eine etwas andere Welt als der Dichter des französischen Grégoire. Zugleich sind sich die erzählten Welten des Grégoire und des Gregorius aber auch sehr ähnlich: In beiden existieren sowohl ein Herrschaftsbereich namens Aquitanien/Aquitaine als auch die Stadt Rom und in beiden zeugt eine Frau mit ihrem Bruder ein Kind, das später in Rom Papst wird. Die beiden erzählten Welten enthalten mithin ähnliche topographische Teilräume, in denen ähnliche Figuren mit ähnlichen Namen auftreten und in denen ähnliche Ausgangsbedingungen zu ähnlichen Handlungsabläufen führen. Bei Rezipienten, die beide Texte kennen, kann dadurch der Eindruck entstehen, dass die erzählten Welten, die in den beiden Texten entworfen werden, trotz aller Unterschiede im Detail zu einem großen Teil ähnlich oder sogar deckungsgleich sind. Die Existenz der beschrifteten Elfenbeintafel in den beiden erzählten Welten des Grégoire bzw. des Gregorius, in denen die Tafel Bedeutungen transportiert und Handlungen initiiert, trägt zu diesem Eindruck nicht unerheblich bei. Wenn daher im späten Mittelalter ein Bearbeiter die Tafel beinahe vollständig aus der Handlung herauskürzt, dann ist die solchermaßen neu konfigurierte erzählte Welt mit der der älteren Vorlage zwar noch immer insofern verwandt, als etwa die Topographie, die Figurenkonstellation und der Handlungs-

 Matías Martínez und Michael Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. München 62005, S. 123.

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verlauf einander weiterhin ähneln. Die Ähnlichkeit der beiden erzählten Welten hat sich jedoch merklich verringert. Etwas Vergleichbares geschieht, wenn in der spätmittelalterlichen Prosaauflösung des Wigalois zwar noch Japhites Grabmal vorkommt, nicht aber ihr Epitaph, oder wenn im Widuwilt sogar beides aus der erzählten Welt verschwindet. Das heißt: Die erzählten Welten, die in unterschiedlichen Texten erzeugt werden, sind genauso wenig miteinander identisch, wie es die Texte sind. Allerdings können diese Welten in mehr oder weniger hohem Ausmaß inhaltliche Schnittmengen aufweisen. Man wird kaum mit Sicherheit feststellen können, welche Elemente der Diegese tatsächlich vom Dichter oder von seinem Publikum als Hinweise auf die Ansiedlung der Handlung in einer aus einer anderen Erzählung bekannten erzählten Welt wahrgenommen wurden und welche Folgen dies für die konkrete Rezeption hatte. Es ist aber wahrscheinlich, dass der Rezipient einer spätmittelalterlichen lateinischen Gregoriuslegende deutliche Parallelen zwischen der erzählten Welt dieses Textes und der erzählten Welt von Hartmanns Gregorius erkennen konnte, sofern ihm beide Erzählungen bekannt waren. Ein solcher Effekt kann sich auch jenseits von Bearbeitungen und Produkten des Wiedererzählens einstellen, nämlich dann, wenn der Dichter nicht eine bekannte erzählte Welt im Zusammenhang mit einem ebenfalls in weiten Teilen bekannten Plot aufgreift, sondern einen mehr oder weniger neuen Plot in einer erzählten Welt ansiedelt, die dem Publikum aus anderen, älteren Erzählungen bekannt ist oder bekannt sein kann. Zuweilen wird der Eindruck, dass sich neue, bislang unbekannte Figuren in einer aus anderen Erzählungen bekannten erzählten Welt bewegen, nur punktuell hervorgerufen. Wenn beispielsweise ein Leser, der sich bestens mit den Erzählungen des 12. und 13. Jahrhunderts auskennt, beim Rezipieren des Reinfried von Braunschweig zur Magnetbergepisode gelangt, dann kann er den Magnetberg als einen Ort identifizieren, der ihm, ausgestattet mit ganz ähnlichen Eigenschaften, auch in Albrechts Jüngerem Titurel, in Zabulons Buch und im Herzog Ernst begegnet. Als Konsequenz kann ein solcher Leser oder Hörer auf ein literarisches Wissen über diesen Teil der erzählten Welt des Reinfried zurückgreifen, das der Roman selbst nicht zur Verfügung stellt, das er jedoch durch die Platzierung von deutlichen intertextuellen Signalen (z. B. durch die Information, dass sich auch Herzog Ernst schon auf dem Magnetberg aufgehalten habe) für das informierte Publikum abrufbar macht. In anderen Fällen fügt sich der Dichter in eine stabile, schon länger beglaubigte Erzähltradition ein, indem er seine gesamte Erzählung oder große Teile davon in einer Welt lokalisiert, mit deren Grundbedingungen das Publikum vertraut ist, sobald es auch nur einen einzigen anderen Text kennt, dessen Handlung ebenfalls dort angesiedelt ist. Wie kann man die Elemente der Diegese klassifizieren, die eine teilweise oder vollständige Deckungsgleichheit zwischen den erzählten Welten von zwei oder mehreren Texten andeuten? Ein Vorschlag lautet, dass der Eindruck von Deckungsgleichheit durch Figuren und Objekte, Räume und Orte sowie Handlungen und Ereignisse evoziert wird, die ein Autor in irgendeiner Weise als aus anderen Texten

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bekannt charakterisiert.¹¹⁷ Entscheidend ist, dass diese Entitäten, Stätten und Begebenheiten im selben imaginären Raum (nicht zwingend in derselben imaginären Zeit) verortet werden können. Daraus folgt, dass nicht jede intertextuelle Anspielung automatisch dafür sorgt, dass erzählte Welten einander überlagern: Wenn etwa der Erzähler im Wigalois feststellt, dass er nichts dagegen habe, falls Gahmuret vom Baruc schöner bestattet worden sei als Japhite (W 8244– 8245), dann impliziert er damit nicht, dass Japhite und Gahmuret zu verschiedenen Zeiten dieselbe erzählte Welt bewohnen – ebenso wenig, wie wenn der Erzähler die wilde Frau Ruel mit der schönen Jeschute vergleicht, von der her Wolfram so ausgezeichnet erzählt habe (W 6343 – 6344). Dass zwei Handlungen in derselben erzählten Welt angesiedelt sind, wird vielmehr erst dann plausibel, wenn ein Text die eigenen Figuren, Orte und Ereignisse explizit in einen räumlichen Zusammenhang mit denen eines anderen Textes bringt. Wenn beispielsweise sowohl Wolfram als auch Wirnt erzählen, dass ihre jeweiligen Protagonisten Parzival und Wigalois einem König namens Artus und seiner Frau namens Ginover begegnen, dann suggerieren sie dadurch, dass alle vier Figuren sich grundsätzlich im selben Raum bewegen – oder, besser gesagt: Wirnt erweckt diesen Eindruck, da er in seinem Roman eine erzählte Welt nutzt, die ihm von Wolfram, Hartmann und anderen höfischen Dichtern zur Verfügung gestellt wurde.¹¹⁸ Während manche der erzählten Figuren, Orte oder Ereignisse in ganz unterschiedlichen Texten vorkommen, gibt es offenbar auch Elemente, die miteinander kaum kompatibel sind. Ist es etwa im 13. Jahrhundert denkbar, dass sich in ein und demselben Roman König Artus mit Dietrich von Bern duelliert oder dass der arme Heinrich auf seiner Reise nach Salerno einen Umweg über Isenstein macht? Und wenn dies nicht oder kaum vorstellbar ist, inwiefern und warum gehören dann diese Figuren, Orte und Ereignisse zwei erzählten Welten an, zwischen denen zumindest zu dieser Zeit so gut wie keine Deckungsgleichheit besteht? Welche erzählten Dinge  Marie-Laure Ryan nennt als mögliche systematische Kategorien „Existents: the characters of the story and the objects that have special significance for the plot“, „Setting: a space within which the existents are located“, „Physical laws: principles that determine what kind of events can and cannot happen in a given story“, „Social rules and values: principles that determine the obligations of characters“, „Events: the causes of the changes of state that happen in the time span framed by the narrative“ und „Mental events: the character’s reactions to perceived or actual states of affairs“. MarieLaure Ryan: Story/Worlds/Media. Tuning the Instruments of a Media-Conscious Narratology, in: Storyworlds across Media: Toward a Media-Conscious Narratology. Hg. von Marie-Laure Ryan und JanNoël Thon. Lincoln, London 2014, S. 24– 37, hier S. 29 – 30. Unklar ist, zu welchem Zweck man zwischen Ereignissen und mentalen Ereignissen unterscheiden soll. Die Kategorie ‚Ereignis‘ könnte man insofern präzisieren, als zwei Erzählungen über ein Ereignis nur dann in derselben erzählten Welt situiert sind, wenn zusätzlich eine gewisse Deckungsgleichheit der an dem Ereignis beteiligten Dinge, Figuren und/oder Orte besteht. Auch die Kategorie ‚soziale Regeln und Werte‘ könnte weiter präzisiert werden.  Zu dieser Unterscheidung vgl. Annette Volfing: ‚Parzival‘ and ‚Willehalm‘: Narrative Continuity?, in: Wolfram’s ‚Willehalm‘. Fifteen Essays. Hg. von Martin H. Jones und Timothy McFarland. Rochester, NY 2002, S. 45 – 59, hier S. 46. Zu den zahlreichen intertextuellen Anspielungen im Parzival vgl. Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ‚Parzival‘. Frankfurt a. M. 1993.

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kennt wiederum das 13. Jahrhundert, die in ganz unterschiedliche Texte und Stoffe Eingang finden können? Im Folgenden wird exemplarisch danach gefragt, in welcher Hinsicht und mit welchen Folgen der Parzival, der Lohengrin und der Jüngere Titurel auf eine gemeinsame erzählte Welt zurückgreifen und welche Rolle der Gral, seine Inschriften und die Erzählinstanz ‚Wolfram‘ bei der Konstituierung einzelner erzählter Welten wie auch eines gemeinsamen Erzählkosmos spielen.

Der Gral als Fluchtpunkt einer gemeinsamen erzählten Welt Wolfram von Eschenbach führt in seinem Werk vor, wie es aussieht, wenn mehrere verschiedene Plots in derselben erzählten Welt angesiedelt sind. Im Willehalm etwa sagt der Erzähler über den ‚heidnischen‘ Fürsten Akarin von Marokko, er sei des baruckes geslehte, / der mit kristenlichem rehte / Gahmureten ze Baldac / bestatte, da von man sprechen mac (Willehalm 73,21– 24). aus dem Geschlecht des Baruc, der nach christlichem Brauch Gahmuret in Baldac bestattete, wovon man erzählen kann.

Hier wird nicht lediglich eine in einer bestimmten erzählten Welt beheimatete Figur mit einer anderen in einer anderen erzählten Welt verglichen: Indem der Erzähler feststellt, dass Akarin und der Baruc, der Gahmuret gekannt und bestattet hat, miteinander verwandt sind, stellt er klar, dass beide Figuren in derselben erzählten Welt zu Hause sind oder waren, auch wenn die beiden Teilräume, in denen sich die Handlung des Willehalm bzw. die des Parzival abspielt, die dort stattfindenden Ereignisse und die daran beteiligten Figuren ansonsten nicht viel miteinander zu tun haben. Das Bindeglied zwischen den verschiedenen Bereichen der erzählten Welt ist eine Figur, nämlich der Baruc von Baldac. Offenbar ist es problemlos möglich, sich vorzustellen, dass eine Figur aus einem Artus- und Gralroman mit einer Figur aus einer deutschen chanson de geste-Bearbeitung verwandt ist. Das Beispiel zeigt, dass die Grenzen von erzählten Welten nicht mit Gattungs- oder Stoffgrenzen zusammenfallen müssen. Die Verbindungen zwischen Willehalm und Parzival sind relativ lose und beschränken sich stets auf knappe Bemerkungen, die kaum neue Informationen zur Beschaffenheit der gemeinsamen erzählten Welt beitragen – abgesehen davon, dass der Gral und die Gralgesellschaft auch im Willehalm als möglicherweise in der Vergangenheit liegende, aber deshalb nicht weniger reale Größen beschrieben werden.¹¹⁹ Stärker verdichtet wird der Eindruck einer über den Einzeltext hinausgehenden erzählten Welt durch die Schilderung des Zusammenhangs zwischen Parzival und Ti-

 Vgl. Willehalm 279,13 – 29. Auch Gawans Lager auf dem Wunderbett wird im Willehalm als vorzeitiges Ereignis gedacht (Willehalm 403,20 – 21). Die erzählten Welten beider Erzählungen enthalten zudem ein Land namens Azagouc (Willehalm 350,25 – 26, P 27,29).

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turel. Der erste Name, der in Fragment I des Titurel genannt wird, ist der Titurels. An dieser Stelle kann das Publikum noch rätseln, ob damit wohl dieselbe Person bezeichnet ist, die Parzival bei seinem ersten Besuch auf der Gralburg von ferne sieht und von der ihm später Trevrizent erzählt – identische Namen oder Namensähnlichkeiten sind bei Wolfram schließlich nicht ungewöhnlich.¹²⁰ Erst die folgenden, wesentlich konkreteren Bezüge zur erzählten Welt des Parzival sorgen für Eindeutigkeit. Sie werden nicht etwa über die Erwähnung der auch im Parzival agierenden Figuren Sigune und Schionatulander hergestellt, von deren Liebesgeschichte der Titurel hauptsächlich handelt, und auch nicht über Nebenfiguren wie Gahmuret oder Herzeloyde oder über das zentrale Objekt von Fragment II, das beschriftete Brackenseil. Das Bindeglied, welches signalisiert, dass sowohl der Titurel als auch der Parzival auf dieselbe erzählte Welt zurückgreifen, ist vielmehr der Inschriften tragende Gral. Nachdem sich nämlich Titurel mehr als fünf Strophen lang recht unspezifisch über das Altern, über Kampf, Liebe und Frauendienst geäußert hat, berichtet er unvermittelt, wie er einst den Gral erhalten habe: Dô ih den grâl enphienc von der botschefte, / die mir der engel hêre enbôt mit sîner hôhen krefte, / dâ vant ih geschriben al mîn orden. / diu gâbe was vor mir nie menschlîcher hende worden. / Des grâles hêrre muoz sîn kiusche unt reine (Titurel 6,1– 7,1).¹²¹ Als ich den Gral empfing durch die Botschaft, die mir der herrliche Engel mit seiner großen Macht überbrachte, da fand ich meinen Auftrag vollständig auf ihm geschrieben.Vor mir war diese Gabe noch nie einer menschlichen Hand übergeben worden. Der Herr des Grals muss keusch und rein sein.

Diese Aussage enthält nun eindeutig Informationen, die dem Publikum aus dem Parzival vertraut sind. Die folgende Geschichte über die Konsequenzen des Liebens, Lesens und Leidens steht damit unter der Überschrift ‚Gral‘. Das schrifttragende Ding und sein erster Hüter Titurel sind es, die als Bindeglieder zwischen den beiden Erzählungen aus zwei erzählten Welten eine einzige machen. Alle nachfolgenden Informationen verstärken diesen Eindruck nur noch, etabliert ist er aber bereits mit Strophe 6 und Titurels Erzählung vom Gral. Die Markierung des Titurel als Gralerzählung wird Albrecht später aufnehmen, indem er in seinem eigenen Roman die Erzählung mit dem Gral sowohl beginnen als auch enden lässt. Dieses neue Ende wiederum mit der Information über den Umzug des Grals von Europa nach Indien nimmt der Dichter des Lohengrin auf, um seine eigene Erzählung an diese mit jedem zusätzlich angeschlossenen Text weiterentwickelte und modifizierte erzählte Welt anzubinden.

 Vgl. die Homonymie zwischen Kyot, dem Urheber der Quelle des Erzählers, und Kyot, dem Herzog von Katelangen, oder die Ähnlichkeit zwischen dem Namen der Gralbotin Cundrîe und dem von Gawans Schwester Cundrîê.  Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hg., übersetzt und mit einem Kommentar und Materialien versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie. Berlin, New York 2002.

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

An Wolframs Parzival wird ersichtlich, dass man das Konzept der gemeinsamen erzählten Welt für das 12. und 13. Jahrhundert als Konzept mit drei verschiedenen Reichweiten beschreiben kann.¹²² Wolfram macht sich alle drei Möglichkeiten zunutze: Erstens baut er mit an einer sehr weitläufigen story world, an deren Konstruktion, Erweiterung und Modifikation neben französischen auch deutschsprachige, andere europäische und nicht-europäische Dichter beteiligt sind. Diese umfassende erzählte Welt vermag im hohen Mittelalter über Gattungs-, Stoffkreis- und Einzelstoffgrenzen hinweg sehr viele Figuren, Räume und Ereignisse zu umfassen. Manche Figuren in diesen Erzählungen sind Zeitgenossen, andere sind es nicht, manche Orte oder Gegenden spielen eine konkrete Rolle in der Handlung, andere werden nur als existent erwähnt, manche Ereignisse ergänzen einander, andere stehen zueinander im Widerspruch. In dieser großen gemeinsamen Welt der hochmittelalterlichen erzählenden Literatur findet Parzival den Gral (Parzival) und verliert Sigune das Brackenseil (Titurel, Jüngerer Titurel); Parzivals Vater steht im Dienst des Baruc von Baldac (Parzival), dessen Verwandter gegen Willehalm von Oransche kämpft (Willehalm); Gawan heiratet Orgeluse (Parzival) und zeugt mit Florie den Helden Wigalois (Wigalois); Gahmuret erobert die Länder Azagouc und Zazamanc (Parzival) und Kriemhild bearbeitet Stoffe, die von dort kommen (Nibelungenlied); auf Brandigan tötet Mabonagrin einen Sohn des Gurnemanz (Parzival) und wird von Erec besiegt (Erec); die christlichen Päpste herrschen in Rom (Parzival) und ein Papst heiratet seine Mutter (Gregorius); eine Brabanter Fürstin wartet auf einen Gralritter (Parzival) und ein Brabanter Fürst wird nach Braunschweig zum Turnier eingeladen (Reinfried von Braunschweig) usw. Zweitens schließt der Parzival an spezifische Teilwelten dieser großen erzählten Welt an (zum Beispiel an die bereits in älteren Texten entwickelte Artuswelt mit ihrem fluiden, aber wiedererkennbaren Set an Figuren, Orten und Verhaltensroutinen) und macht außerdem auf der Basis seiner französischen Vorlage neue Teilwelten für die mittelhochdeutsche Literatur zugänglich (zum Beispiel die Gralwelt). Diese älteren oder neueren Teilwelten werden aus Stoffkreisen generiert. Erzählungen, die solchen Stoffkreisen angehören, weisen ein gemeinsames Repertoire an Figuren, Orten und Ereignissen auf, ohne dass jedoch festgelegt ist, wie diese mit anderen Figuren, Orten oder Ereignissen verknüpft werden.¹²³ Das heißt beispielsweise: Geschichten, die über

 Es scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen dem Wunsch, an bestehende erzählte Welten anzuschließen, und dem Anspruch, sich mit dem eigenen Werk in eine bestehende narrative Tradition einzugliedern. Daher beschränke ich mich bei den folgenden Überlegungen, ähnlich wie Franz Josef Worstbrock in seiner Arbeit zum Wiedererzählen, auf die „erzählerischen Großformen, die stets ‚Historiae antiquae‘ sind“, im Gegensatz zu den „‚Historiae novellae‘, Mären und Fabliaux“, die öfter eigene erzählte Welten entwerfen. Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999, S. 128 – 142, hier S. 128.  Annette Volfing spricht vom ‚literarischen Universum des Artusromans‘, das hauptsächlich über die beiden „stock characters“ Gawein und Artus definiert wird. Volfing, Narrative Continuity, S. 46.

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den Gral erzählt werden, können sich in ihren Handlungsverläufen stark voneinander unterscheiden. Der Gral kann an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Figuren in Berührung kommen, woraus sich unterschiedliche Folgehandlungen ergeben. So gelangt beispielsweise im Parzival nach längerer Suche Parzival zum Gral, während es in Heinrichs von dem Türlin Krone Gawein ist und im Lohengrin überhaupt niemand nach dem Gral sucht, sondern lediglich eine Figur vom Gral ausgesandt wird. Miteinander gemeinsam haben die verschiedenen Gralerzählungen vor allem, dass sie in einer erzählten Welt situiert sind, in der ein Ding existiert, das man als ‚Gral‘ kennt. Drittens greift Wolfram auf einen konkreten Einzeltext zurück, nämlich auf Chrétiens Perceval. Aus der Bearbeitung dieses Textes entsteht ein neuer Text. Zusammen erzeugen Vorlage und Bearbeitung einen neuen Einzelstoff und mit ihm auch eine neue gemeinsame erzählte Welt, an der sich wiederum spätere Bearbeiter (etwa die Dichter des Rappoltsteiner Parzifal, des Jüngeren Titurel oder des Lohengrin) bedienen und an der sie weiterarbeiten können, indem sie ihrerseits Chrétiens oder Wolframs Texte zur Grundlage neuer Erzählungen machen.¹²⁴ Während die Dichter, Bearbeiter und Übersetzer des Rappoltsteiner Parzifal eher kompilatorisch arbeiten, greifen Albrecht und der Dichter des Lohengrin einzelne Handlungsstränge aus dem Parzival heraus und erzählen sie ausführlicher oder ergänzen sie um neue Handlungselemente. Wie dieses Verfahren eines Arbeitens an der erzählten Welt eines bestimmten Textes gelingen kann, hatte Wolfram mit dem Titurel ja bereits vorgemacht, indem er darin ein im Parzival lediglich angedeutetes Ereignis (die Liebe zwischen Sigune und Schionatulander und den Tod des Ritters im Kampf um das Brackenseil) zum Gegenstand einer eigenen Geschichte gemacht hatte.¹²⁵ Albrecht erweitert Wolframs story world, indem er zum einen den Parzival und den Titurel zu einer einzigen Erzählung synthetisiert und indem er zum anderen die Handlung an den Enden und in den ‚Lücken‘ erweitert. In einer Vorgeschichte erzählt er vom Gral, in einer Zwischengeschichte vom Brackenseil und in einer Nachge-

 Um einige veranschaulichende Beispiele für die zunehmende Konkretisierung der erzählten Welten – von der Gesamtheit der narrativen Großformen über den Stoffkreis zum Einzelstoff – zu geben: (1) Im Korpus der hochmittelalterlichen erzählenden Großformen existiert der Gral in derselben erzählten Welt wie Figuren, die konkret überhaupt nichts mit ihm zu tun haben (z. B. Gyburg im Willehalm). (2) Im Korpus des Stoffkreises ‚Gralroman‘ existiert der Gral in derselben erzählten Welt wie eine Vielzahl von Figuren, die auf sehr unterschiedliche Weise mit ihm zu tun haben (z. B. Feirefiz als Bruder des neuen Gralkönigs im Parzival, Joseph von Arimathia als erster Bewahrer des Grals bei Robert de Boron, Lancelot als Suchender im Prosa-Lancelot). (3) Im relativ kleinen Korpus des Perceval/Parzival-Einzelstoffs existiert der Gral in derselben erzählten Welt wie ein an den Geschlechtsorganen verwundeter König und ein Ritter, der es versäumt, eine wichtige Frage zu stellen. Und schließlich, der Vollständigkeit halber: (4) In der erzählten Welt von Wolframs Einzeltext Parzival, die allerdings eine abgeschlossene und daher keine gemeinsame oder geteilte erzählte Welt ist, handelt es sich beim Gral um einen Stein und heißt der verwundete Herrscher Anfortas.  Vgl. Andrea Lorenz: Der ‚Jüngere Titurel‘ als Wolfram-Fortsetzung. Eine Reise zum Mittelpunkt des Werks. Bern, Berlin, Frankfurt a. M. 2002, S. 35 – 53.

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schichte wieder vom Gral.¹²⁶ All diese Erweiterungen schließen in irgendeiner Weise unmittelbar an den Parzival an, der von Titurel als dem ersten Gralhüter gesprochen hatte, der seinen Protagonisten immer wieder auf Sigune und ihren toten Geliebten stoßen ließ und der zum Schluss die Figur des Priesters Johan eingeführt hatte. Die erzählte Welt, die im Parzival mit ihren vielen Figuren, Schauplätzen und Ereignissen schon vergleichsweise komplex ist, macht der Jüngere Titurel noch komplexer. Ähnlich geht der Dichter des Lohengrin vor. Auch er greift mit der Lohengringeschichte ein Erzählangebot des Parzival auf und auch er erzählt die Geschichte sehr detailliert und bringt dabei Figuren, Orte und Ereignisse ins Spiel, die bislang noch nicht mit der Handlung des Parzival in Verbindung gebracht worden waren (z. B. den Papst, die Städte Köln und Mainz oder den Krieg gegen die Ungarn). Letztlich dominieren diese neuen Elemente die Erzählung so stark, dass man kaum den Eindruck gewinnt, die Handlung des Lohengrin sei in derselben erzählten Welt situiert wie die des Parzival. Im Parzival ist Brabant mit seinen Bewohnern und den sich dort abspielenden Ereignissen ein Anhängsel an die Welt der Artusritter und des Grals – im Lohengrin verhält es sich umgekehrt, hier ist eher die Artus- und Gralwelt ein Zusatz zu einem imaginären Europa, mit dem das Publikum nicht nur aus der Literatur, sondern auch aus anderen Quellen wie auch aus eigener Erfahrung vertraut ist. Der Dichter dieses Textes arbeitet daher weniger an einer bestehenden story world weiter, als dass er einer in weiten Teilen neuen erzählten Welt durch den anfänglichen Verweis auf Lohengrins Herkunft eine gewisse Dignität verleiht.¹²⁷ Was der Jüngere Titurel und der Lohengrin gemeinsam haben, ist das Verbindungsglied, durch das sie an die erzählte Welt des Parzival anknüpfen. Ebenso wie Wolfram den Gral und eine Gralinschrift an den Anfang des Titurel gestellt hatte, seines spin off zum Parzival, machen auch seine beiden Nachfolger den Inschriften tragenden Gral zum Ausgangspunkt ihrer Erzählungen. Interpretiert man dieses Verfahren poetologisch, dann wird in einer solchen Lesart der Gral zum Sinnbild des Erzählens in gemeinsamen erzählten Welten. Wolfram hatte den Gral als Medium etabliert, mit dessen Hilfe Gott schriftlich mit ausgewählten Menschen kommuniziert. Eine Besonderheit an diesen göttlichen Schriftbotschaften ist gegenüber anderen Inschriften in höfischen Romanen, dass sie nicht dauerhaft und stabil sind, sondern flüchtig, und dass sie nach dem Rezeptionsvorgang wieder verschwinden. Eine andere Besonderheit besteht darin, dass diese Art der Nachrichtenübermittlung keine einmalige Angelegenheit ist: Während die Bibel nichts davon berichtet, dass Gott mehr als nur das eine Menetekel an die Palastwand schreibt, dient der Gral wiederholt als Schriftträger. Inschriften erscheinen auf ihm, werden gelesen und vergehen. Sie machen damit Platz für neue Inschriften, die auf ihm erscheinen, und auch diese werden gelesen und vergehen wieder – und immer so weiter, theoretisch bis in alle Ewigkeit. Die Gralinschriften, seien  Dazu kommen viele weitere kleine, mehr oder weniger eigenständige Erzählungen, beispielsweise die über Lohrangrins Tod.  Dass man auf den Gral bei der Bearbeitung dieses Stoffs auch verzichten kann, zeigt Konrad von Würzburg mit seinem Schwanritter, der vom Gral oder gar von Gralinschriften nichts weiß.

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sie direktiv oder assertiv, wirken als Handlungsgeneratoren. Entweder schreiben sie vor, was ihre Adressaten tun sollen, oder sie verbieten es ihnen und lösen dadurch bei den Angeschriebenen oder bei mittelbar betroffenen Personen Reaktionen aus, die in Handlung umgesetzt werden: Wenn die Gralhüter nicht darauf warten müssten, dass der Gral schriftlich den nächsten Gralkönig benennt, könnten sie schließlich nach Anfortas’ Verwundung auf konventionelle Art einen neuen König einsetzen und die Geschichte wäre zu Ende, bevor Parzival auch nur von zu Hause aufgebrochen ist; wenn sie Parzival darüber informieren dürften, dass er eine Frage stellen muss, dann würde er das tun und auch in diesem Fall wäre die Geschichte schnell vorbei; und wenn schließlich die Brabanter Fürstin sich bei ihrem Ehemann nach dessen Herkunft erkundigen dürfte, dann wäre auch die Geschichte um Loherangrin zumindest recht kurz. Das heißt: Intradiegetische Texte erzeugen intradiegetische Handlungen. Außerhalb der Diegese erzeugen Erzählungen, die solche intradiegetischen Texte enthalten, neue Erzählungen mit neuen erzählten Texten, die ihrerseits zu intradiegetischen Handlungen herausfordern. Damit ist der Gral nicht nur ein intradiegetischer Handlungsgenerator, sondern auch ein Generator des Erzählens. Aus einer Perspektive, die die einzelnen Texte im Hinblick auf die gemeinsame erzählte Welt wahrnimmt, an der sie partizipieren, überschreiben die aufeinander folgenden intradiegetischen Gralinschriften einander, ohne einander auszulöschen. Nicht auf dem Schriftträger, wohl aber im Gedächtnis der rezipierenden Gralgemeinschaft entsteht eine Art Schichtung von Gralinschriften, von denen zwar nur die jeweils jüngste lesbar ist, die älteren aber dennoch weiterhin dazu beitragen, ihren Lesern eine differenzierte Vorstellung vom Willen Gottes zu vermitteln. In ähnlicher Weise ersetzen die einzelnen Gralromane einander nicht, sondern überlagern und komplettieren einander, so widersprüchlich sich auch die Erzählungen im Einzelnen zueinander verhalten mögen. Im Jüngeren Titurel führt Albrecht anhand von Gralinschriften und Brackenseilinschrift vor, auf welch unterschiedliche Weise man mithilfe gemeinsamer story worlds erzählen kann. Das Brackenseil als Schriftträger ist zwar beweglich, sodass auch der Text, der darauf geschrieben steht, sich den begehrlichen Rezipientinnen und Rezipienten immer wieder entzieht. Die Inschrift selbst bleibt allerdings bis zur Zerstörung der Hundeleine statisch. Es gibt nur diese eine.¹²⁸ Das Brackenseil kon-

 Allerdings ist im Jüngeren Titurel nicht ganz eindeutig, wie genau dieser Text lautet: Nachdem Tschinotulander den Hund mitsamt der Leine gefangen hat, liest Sigune darauf (ganz wie in Wolframs Titurel-Fragment, das Albrecht hier in den Jüngeren Titurel integriert) die Geschichte Claudittes, die wiederum nicht nur von ihrer eigenen Liebe, sondern auch von der ihrer Schwester Florie erzählt (JT 1193,1– 1200,4). Als hingegen der Inhalt des Brackenseils zum zweiten Mal vorgetragen wird, wird eine ausführliche Tugend- und Verhaltenslehre präsentiert (JT 1874,1– 1927,4), ohne dass der Erzähler mitteilt, ob die Inschrift in der Zwischenzeit innerhalb der erzählten Welt modifiziert wurde. Impliziert wird dadurch weniger, dass die Schrift veränderbar ist, als vielmehr, dass sie nach Bedarf durch den Erzähler erweitert werden kann – so wie schließlich alles, was Wolfram seinen Bearbeitern an (Wieder‐)Erzählbarem zur Verfügung gestellt hat.

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serviert bei Wolfram und bei Albrecht eine Geschichte in einer Geschichte (nämlich die von Florie und Ilinot innerhalb der von Clauditte und Ekunat), die wiederum Teil einer weiteren Liebesgeschichte wird (nämlich der von Sigune und Schionatulander). Im Jüngeren Titurel bildet auch diese nochmals ein Element in einer weiteren, umfassenderen Geschichte. Die Inschrift auf der strangen ist damit ebenso wie die gesamte Brackenseilerzählung im Jüngeren Titurel umschlossen von einer Vielzahl von anderen Erzählungen und Handlungssträngen. Das bedeutet, dass sie zwar ebenso ausgebaut werden kann wie die Geschichte, die Albrecht über sie erzählt, dass sie aber trotzdem endlich und begrenzt ist: Die Inschrift fängt irgendwo an und hört irgendwo auf, genau wie die Geschichte, die von ihr erzählt. Im Kontrast dazu ist zwar der Gral als Schriftträger (relativ) unbeweglich, die auf ihm zu lesenden Inschriften aber sind dynamisch. Theoretisch können unendlich viele Inschriften nacheinander auf ihm erscheinen. Insofern ergibt es einen Sinn, dass im Jüngeren Titurel die Erzählungen über den Gral und seine Inschriften nicht mitten in der Gesamterzählung platziert werden wie die Erzählung über das Brackenseil, sondern an ihren Rändern. Dort sind auch sie theoretisch unendlich fortsetzbar: Warum sollte man nicht erzählen, was mit dem Gral geschieht, bevor oder nachdem Joseph von Aromate ihn erhält und bevor Titurel sein Hüter wird? Und warum sollte man nicht erzählen, was in Indien passiert, nachdem Parcifal und seine Leute sich dort eingerichtet haben? Es genügt ja nur eine einzige Inschrift, um an beiden Enden die Handlung von Neuem in Gang zu setzen und neue Erzählungen zu generieren, ob als Vorgeschichte zur Vorgeschichte oder als Fortsetzung der Fortsetzung. Im Hinblick auf eine erzählte Welt, in der immer neue Texte auf dem Gral erscheinen, muss niemand befürchten, dass die Gelegenheiten versiegen könnten, Geschichten hervorzubringen.

Beglaubigte Erzählungen – kontrolliertes Erzählen Den Eindruck, dass zwei oder mehr Geschichten in derselben erzählten Welt angesiedelt sind, kann man durch das erzeugen, wovon jeweils erzählt wird, also beispielsweise mithilfe eines erzählten Dings, das in ähnlicher Weise in beiden Erzählungen vorkommt. Eine andere Art von Kohärenz zwischen zwei oder mehr Geschichten und auch zwischen den Texten, die diese Geschichten enthalten, wird nicht auf der Ebene der histoire, sondern auf der des discours hergestellt. Als miteinander verbunden gekennzeichnet werden können Texte unter anderem mithilfe des Namens dessen, der sich in ihnen für das Erzählte verantwortlich erklärt. Im Fall der deutschen Gralromane, in denen Gralinschriften vorkommen, ist dies der Name des Dichters Wolfram von Eschenbach. Im Parzival wird er von dem empirischen Wolfram als eine Art Marke etabliert,¹²⁹ an die nicht nur Wolfram selbst im Willehalm anschließen kann, sondern die später auch von anderen Dichtern genutzt wird, etwa

 Vgl. die Selbstnennungen Wolframs in P 114,12, 185,7 und 827,13 sowie in Willehalm 4,19.

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von dem des Jüngeren Titurel und von dem des Lohengrin. Dieses Kapitel untersucht, wie Wolfram sich in seiner berühmten Quellenfiktion als vermittelt göttlich inspirierten Dichter inszeniert, der einerseits Empfänger von Worten jenseitigen Ursprungs ist und andererseits im Dienst ihrer Weitervermittlung steht – ähnlich wie der Gral, von dem er erzählt. Anschließend wird es darum gehen, wie Albrecht und der Dichter des Lohengrin Wolframs Konstruktion aufnehmen und für ihre eigenen Zwecke modifizieren. In seiner Quellenberufung entwickelt Wolfram ein Modell göttlicher Dichterinspiration. Ihm zufolge kann es nur einen wahren auctor von erzählbaren Ereignissen wie auch von Erzählungen geben, nämlich Gott. Prinzipiell beginnt in der Welt eines Gralromans jegliches Romangeschehen damit, dass Gott den Gral an Menschen übergibt, die ihm dienen und mit denen er mittels Inschriften kommuniziert, die er auf dem Gral erscheinen lässt.¹³⁰ Von Gott kommt aber nicht allein der Anlass zu Handlungen innerhalb der erzählten Welt, von denen dann später erzählt werden kann.Von ihm stammt auch die erste Erzählung über den Gral und damit der erste Anlass zum Erzählen vom Gral überhaupt. Der Erzähler Wolfram klärt sein Publikum darüber auf, wie es kommt, dass es mit dem Parzival eine Geschichte über den Gral rezipieren kann: Zum einen behauptet er zwar, mit Buchstaben und Büchern nichts zu tun haben zu wollen.¹³¹ Zum anderen aber beruft er sich auf verschiedene Quellen, von denen er

 Diese Konstellation legt nahe, dass der Gral von Gott stammt. Explizit gesagt wird das aber nirgends. Der extradiegetische Informant Flegetanis spricht davon, dass eine nicht näher charakterisierte schar den Gral ‚ûf der erden liez‘ (P 454,24), während sie selbst zu den Sternen aufgefahren sei. Soll das implizieren, dass die Schar den Gral zuvor auf die Erde gebracht hat? Der intradiegetische Informant Trevrizent wiederum lässt sich darüber aus, dass die sogenannten neutralen Engel von Gott ‚ûf die erden / zuo dem selben steine‘ (P 471,20 – 21) geschickt worden seien. Dies klingt eher so, als sei der Stein bereits auf der Erde gewesen, als die Engel zu ihm gesandt wurden. Ganz zu trauen ist Trevrizents Worten im Zusammenhang mit dem Gral und den neutralen Engeln allerdings nicht, wie er selbst bei seinem ‚Widerruf‘ eingesteht (P 798,6 – 30). Erst Albrecht klärt im Jüngeren Titurel die Frage nach der Herkunft des Grals: Ein schar den gral uf erde bi alten ziten brahte (JT 6292,1: Eine Schar brachte den Gral in alten Zeiten auf die Erde).  Über gelehrtes Buchwissen äußert sich der Erzähler bekanntlich dezidiert herablassend: ine kan decheinen buochstap. / dâ nement genuoge ir urhap: / disiu âventiure / vert âne der buoche stiure (P 115,27– 30: Ich kenne keinen einzigen Buchstaben. So etwas benutzen genügend andere als Treibmittel. Diese Aventiure geht ihren Weg, ohne durch Bücher angeleitet zu werden). Mit der Frage, ob der Erzähler mit dieser Aussage beim Wort genommen werden will und ob sie gar Rückschlüsse über den historischen Dichter zulässt, beschäftigt sich die Forschung zum Parzival, seit es sie gibt. Einen Überblick über die Forschungsdiskussionen bis knapp zur Jahrtausendwende geben Hannes Kästner und Bernd Schirok: Ine kan decheinen buochstap. Dâ nement genuoge ir urhap. Wolfram von Eschenbach und ‚die Bücher‘, in: Als das wissend die meister wol. Beiträge zur Darstellung und Vermittlung von Wissen in Fachliteratur und Dichtung des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Festschrift für Walter Blank zum 65. Geburtstag. Hg. von Martin Ehrenfeuchter und Thomas Ehlen. Frankfurt a. M. 2000, S. 61– 152. Zum sogenannten Kyotproblem vgl. z. B. Barbara Haupt: Verstecken und Verschleiern. Zum Umgang mittelalterlicher Autoren mit ihren literarischen Quellen. Mit einem Beitrag zum KyotProblem, in: ZfdPh 135 (2016), S. 321– 347; Victor Millet: Von Drachentötern, Quellenfiktionen, Pastourellen und Lehnwörtern. Kritische Notizen zu jüngeren Thesen über deutsch-spanische Bezie-

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einige explizit als schriftlich bezeichnet (was nicht notwendigerweise implizieren muss, dass er lesend darauf zugegriffen hat). Chrétiens Perceval nennt er zwar, erklärt ihn jedoch für unbrauchbar – von Troys meister Cristjân habe der Geschichte wirklich Unrecht getan (P 827,1– 2). Ein anderer Meister hingegen, der Provenzale Kyot, habe mithilfe der personifizierten Aventiure diu rehten mære (P 827,4: die richtige Geschichte) dargeboten. Dieser dem Erzähler zufolge zuverlässige Gewährsmann habe in Toledo dirre âventiure gestifte (P 453,14: die Urfassung dieser Aventiure) in ‚heidnischer‘ Schrift aufgefunden und sie ins Französische übertragen (P 416,20 – 30). Seine Quelle stamme von dem ‚Heiden‘ Flegetanis und dessen Quelle wiederum seien die Sterne gewesen. In ihnen habe Flegetanis gelesen, dass eine geheimnisvolle schar (P 454,24) den Gral auf der Erde gelassen habe, wo er seitdem von getauften und besonders edlen Menschen gehütet werde – [s]us schreip dervon Flegetânîs (P 455,1: All dies schrieb darüber Flegetanis). Die immaterielle Sternenschrift gelangt in dieser Überlieferungskette nach und nach in mehrere materiell existierende Schriften, die unabhängig von ihren Autoren existieren. Ob er mit Kyot in direktem Kontakt stand, verrät der Erzähler nicht. Kyot jedenfalls findet in Toledo nicht Flegetanis selbst vor, sondern lediglich seine schriftlichen Hinterlassenschaften, und auch Flegetanis nimmt am Himmel zwar eine Offenbarung wahr, nicht aber deren göttlichen Urheber.¹³² Oder umgekehrt: Eine göttliche ‚Ersterzählung‘ gelangt von den Sternen zu Flegetanis, von Flegetanis zu Kyot, von Kyot zum Erzähler Wolfram und von diesem zu einem Publikum außerhalb der Diegese. In diesem Überlieferungsprozess verändert sich die Geschichte. Kyot etwa reichert sie ausdrücklich durch die Verwendung einer zusätzlichen Quelle an, indem er eine lateinische Chronik aus Anschouwe hinzuzieht und daraus weitere Informationen über die Mazadan- und die Gralfamilie gewinnt (P 455,2– 22). Zudem wird die Erzählung zweimal aus einem Zeichensystem in ein anderes und aus einer Sprache in eine andere übertragen: Aus Sternenschrift wird Buchstabenschrift und aus dem ‚heidnischen‘ Alphabet das lateinische,¹³³ ‚Heidnisch‘ wird zu Französisch

hungen im Mittelalter, in: ZfdPh 124 (2005), S. 90 – 121; Ulrich Ernst: Kyot und Flegetanis in Wolframs ‚Parzival‘. Fiktionaler Fundbericht und jüdisch-arabischer Kulturhintergrund, in: WW 35 (1985), S. 176 – 195; Herbert Kolb: Munsalvaesche. Studien zum Kyotproblem. München 1963. Einen Überblick über die Forschung gibt Bumke, Wolfram, S. 244– 247.  Ob Gott die von Flegetanis wahrgenommenen Informationen über den Gral absichtlich in den Sternen platziert hat oder ob Flegetanis dort eine ‚natürliche Spur‘ vorangegangener Ereignisse sieht, spielt letztlich keine große Rolle – Gott offenbart sich den Menschen in seiner Schöpfung, sodass diejenigen, die zu interpretieren verstehen, seine Werke darin erkennen können. Flegetanis ist zwar in seinen Interpretationsfähigkeiten eingeschränkt, da er nicht getauft ist. Dass aber Gott ihm im ‚Buch der Natur‘ sozusagen unfreiwillig das Geheimnis des Grals verrät, wird nicht angedeutet.  Möglicherweise muss man die Rede von der karakter â b c, die Kyot ân den list von nigrômanzî (P 453,15 – 17: ohne Unterstützung durch schwarze Künste) habe lernen müssen, so deuten, dass Flegetanis in seiner Schrift (auch?) magische Zeichen benutzt hat, die von Kyot erst entschlüsselt und dann in ein anderes Graphiesystem übertragen werden müssen. Vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 51– 52.

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und Französisch zu Deutsch. Peter Strohschneider geht davon aus, dass der Erzähler den Eindruck erwecken will, der in verschiedenen Sprachen existierende Text – der ‚heidnische‘ des Flegetanis, der französische des Kyot und sein eigener deutscher – besitze in jeder sprachlichen Gestalt genau denselben Inhalt.¹³⁴ Dazu wäre seitens des Publikums eine gewisse absichtliche Gutgläubigkeit nötig, eine Haltung, die gegenüber einem höfischen Roman sicher nicht ausgeschlossen ist.¹³⁵ Man kann allerdings auch auf den Gedanken kommen, dass die ganze Konstruktion mit den drei verschiedenen Texten von drei verschiedenen Verfassern in drei verschiedenen Sprachen und Zeichensystemen vor allem dazu dient, dem Publikum klarzumachen: Es gibt oder gab zwar andere, auch authentischere oder möglicherweise sogar ‚bessere‘ Gralerzählungen als die vorliegende. Aber niemand wird jemals die Chance haben, an sie heranzukommen. Kyot ist nicht verfügbar, Flegetanis noch viel weniger und die Sternenschrift am allerwenigsten. Entweder also treibt der Erzähler einen grausamen Scherz mit seinem Publikum, das sich nach den ursprünglicheren Quellen sehnen soll, von denen er ihm vorschwärmt. Oder aber, und das ist wahrscheinlicher: Ein solches ideales Publikum, wie es der Erzähler adressiert, kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass eine Geschichte beim Tradieren durch Bearbeitung, Ergänzung und Verbesserung, kurz: durch Veränderung auf irgendeine Weise schlechter werden muss – im Gegenteil. Aus den selbstbewussten Worten des Erzählers kann auch die Auffassung des Dichters sprechen, in seiner Version der Geschichte die aktuell schlicht bestmögliche Version vorzulegen. Dafür spricht der Schluss des Parzival, wo der Erzähler Chrétiens Text rüde abwertet. Und auch dem überlegenen Kyot gegenüber gibt er sich nicht so bescheiden, wie es zunächst den Anschein hat, wenn er verspricht, nicht ganz zum Schluss noch diu rehten mære (P 827,4) des Vorgängers eigenmächtig zu ergänzen: niht mêr dâ von nu sprechen wil / ich Wolfram von Eschenbach, / wan als dort der meister sprach (P 827,12– 14: Ich,Wolfram von Eschenbach, will nun nichts anderes mehr über diese Dinge sagen als das, was dort der Meister gesprochen hat). Anschließend nämlich trumpft der Erzähler Wolfram doch noch auf – er selbst habe schließlich Parzivals Kinder und seine edle Familie benennet rehte (P 827,16) und den Protagonisten dorthin geschafft, wo der Glückliche hingehöre (P 827,15 – 18).¹³⁶ Ein Dichter wie Wolfram darf seine Vorlagen nicht nur verbessern, es ist sogar seine Aufgabe, die Geschichte angemessen zu niuwen (P 4,9). Der erneuernde Eingriff ist kein Zeichen von Respektlosigkeit gegenüber der Quelle, sondern Ausdruck

 Vgl. Strohschneider, Sternenschrift, S. 49 – 50.  Gestützt wird Peter Strohschneiders Lesart von einer Passage, in der der Erzähler suggeriert, sich in seiner deutschen Bearbeitung nicht weit von der französischen Vorlage zu entfernen: Kyôt ist ein Provenzâl, / der dise âventiur von Parzivâl / heidensch geschriben sach. / swaz er en franzoys dâ von gesprach, / bin ich niht der witze laz, / daz sage ich tiuschen fürbaz (P 416,25 – 30: Kyot ist ein Provenzale. Er hat diese Aventiure von Parzival auf ‚Heidnisch‘ geschrieben vorgefunden. Das, was er auf Französisch darüber gesagt hat, werde ich, wenn mich mein Verstand nicht verlässt, jetzt weiter auf Deutsch sagen).  Vgl. Kästner/Schirok, Bücher, S. 65.

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des Anspruchs, seinem Publikum die gute Geschichte zu bieten, die es verdient. Glaubt man dem Erzähler, dass die Geschichte über den Gral den Menschen ursprünglich durch Gott selbst zuteilwurde und dass er selbst nur das letzte Glied in einer Kette von Bearbeitungen ist, dann mischt sich in dieser Einschätzung Bescheidenheit mit Selbstbewusstsein. Jeder Dichter, der auf eine Vorlage zurückgreift, weiß, dass auch nach ihm wieder andere kommen werden, die den von ihm bearbeiteten Stoff aufgreifen und weiterbearbeiten. Aus dieser Perspektive erscheint der einzelne Bearbeiter nicht als herausragender Rezipient oder gar als Autor einer einmaligen Botschaft, sondern vielmehr als Medium, mit dessen Hilfe ein Gedanke sich in der Welt manifestiert. Damit, so impliziert der Erzähler des Parzival, kommt dem Dichter Wolfram eine ähnliche Rolle zu wie innerhalb der erzählten Welt dem Gral: Er ist zwar nur ein Instrument zur Vermittlung höherer Wahrheiten – aber was für eines! Welche Teile des Parzival von Wolfram stammen und welche von Kyot oder aus der von diesem entdeckten lateinischen Chronik (wenn beide nicht nur als Chiffren dafür verstanden werden sollen, dass Wolfram verschiedene Quellen benutzt hat), kennzeichnet der Text nicht. Nur die Worte des Flegetanis werden als eigenständige, von der Erzählerrede unterschiedene Rede der Figur gekennzeichnet (P 454,24– 30). Das, was der fisîôn (P 453,25: der Naturkundige) über die himmlischen und irdischen Hüter des Grals gelesen hat, wird in die Verantwortung dieser Figur gestellt. Damit ist Flegetanis der erste Mensch, der eine Geschichte über den Gral erzählt. Eine wichtige Information jedoch gibt der Erzähler paraphrasierend in seinen eigenen Worten wieder, wenngleich auch sie ursprünglich von Flegetanis stammt. Dem Erzähler zufolge ist das Erste, was der ‚Heide‘ in den Sternen liest, der Name des von Gott gesandten Dings: er jach, ez hiez ein dinc der grâl: / des namen las er sunder twâl / inme gestirne, wie der hiez (P 454,21– 23: Er [Flegetanis, A.L.] sagte, dass ein Ding ‚Gral‘ hieße. Dessen Namen, wie er also heiße, das habe er ohne Schwierigkeiten in den Sternen gelesen).¹³⁷ Eine ähnliche Formulierung benutzt der Erzähler zuvor schon einmal, um den Gral zu benennen und zu charakterisieren, bei dieser Gelegenheit allerdings als Gegenstand innerhalb der erzählten Welt. Als Parzival den Gral zum ersten Mal sieht, erklärt der Erzähler: daz was ein dinc, daz hiez der Grâl (P 235,23: Das war ein Ding, das hieß ‚der Gral‘). In seiner Quellenberufung illustriert der Erzähler also zweierlei: erstens, wie man als Dichter an der Autorität seiner Quellen partizipieren kann, indem man die Legitimität des eigenen Textes (z. B. die der Textpassage, in der Parzival den Gral zum ersten Mal sieht) von der der Quelle ableitet (also von der Aussage des Flegetanis über den Namen des Grals); und zweitens, dass der neu ent-

 Michael Stolz weist darauf hin, dass die Fassungen G und T das Verb hiez in P 454,21 durch das Verb wære ersetzen: „Dort geht es in den Worten des Flegetanis nicht um den Namen, sondern um die Existenz des Grals.“ Vgl. Stolz, Dingwiederholungen, S. 272. Da allerdings in den folgenden beiden Versen (P 454,22– 23) der Erzähler auch in G und T vom Namen des Grals spricht, könnte man eher behaupten, dass diese beiden Fassungen den Namen und die Existenz des Dings als identisch postulieren. Damit wäre der Schwerpunkt im Vergleich zu D und m etwas verschoben, weg von der ‚Rede‘ der Sterne und hin zum Gegenstand dieser Rede.

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stehende Text letztlich doch vom Dichter selbst verantwortet werden muss. Wer kann schon wissen, was Flegetanis gelesen und daraufhin geschrieben hat – um seine Worte zu erfahren, kann das Publikum ja gar nicht anders, als den Umweg über den Erzähler des Parzival zu nehmen, durch den sie vermittelt werden. Der Parzival kennt den Gral sozusagen in zwei Zuständen. Innerhalb der erzählten Welt liest man die Inschriften auf dem Gral, jenseits davon liest man über sie oder hört man von ihnen. Oder: Innerhalb der Diegese existiert der Gral als Ding, außerhalb der Diegese existiert er als Name des Dings und als Gegenstand einer Erzählung darüber, also als Ding zweiter Ordnung.¹³⁸ Als Steuerungsinstrument schreibt Wolfram dem Gral eine doppelte Funktion zu: Gott, so behauptet der Roman, nimmt schriftlich Einfluss, und zwar nicht nur auf die erzählte Welt des Parzival, sondern auch auf die empirische Welt, in der sich der Dichter erzählend selbst verortet und die über den schriftlich vermittelten Namen des Grals sowie die daraus abgeleiteten Geschichten mit der erzählten Welt in Berührung kommt. Die Autorität und Legitimität der durch den Dichter selbst etablierten ‚Marke Wolfram‘ nutzt Albrecht im Jüngeren Titurel, indem er seinen Erzähler den Namen des berühmten Vorgängers lange Zeit verwenden lässt. Entweder bezeichnet der Erzähler sich selbst damit (JT 2867,1: Ich, Wolfram, clagen solde – ich Wolfram, sollte klagen) oder er wird von der personifizierten Aventiure damit angesprochen (JT 266,2).¹³⁹ Das hält ihn nicht davon ab, Kritik an Wolframs Vorlage zu üben und die Geschichte verbessern zu wollen. Zuweilen geschieht dies eher subtil, an anderen Stellen mit größerer Vehemenz. So nimmt Albrecht etwa in der Erzählerrede die ersten beiden

 Peter Strohschneider zufolge besteht „eine Ähnlichkeitsrelation von Erzähltem und Erzählen jenseits unserer differentiellen Zeichenlogiken: Von der Magie des Grals und auch von seiner Schriftmagie erzählt ein Roman, der seine eigene Textualität mythisiert.“ Strohschneider, Sternenschrift, 56. Vgl. auch die Beobachtungen Haiko Wandhoffs zu den poetologischen Implikationen der Quellenfiktion im Parzival: „Das Finden des Grals und das (Er‐)Finden des Gralromans, die Roman-âventiure Parzivals und der âventiure-Roman Wolframs, werden auf diese Weise ineinander gespiegelt: In und mit Wolframs Text, den die eine oder andere Dame, so hofft der Erzähler, tatsächlich geschriben siht (337,3), wird am Ende buchstäblich eine neue schrift des Grals zu lesen sein, ein radikal erneuerter Gralroman nämlich, der allen Widernissen zum Trotz ein gutes Ende findet.“ Haiko Wandhoff: Imaginäre Kopfreisen in die Wunderwelt der âventiure, oder: Wenn das Sehen zur Allegorie des Lesens wird. Neue Überlegungen zu Hartmanns ‚Erec‘ und ‚Iwein‘, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. Hg. von Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon und Martin H. Jones. Berlin 2011, S. 141– 159, hier S. 143.  Daneben ist auch von ‚dem von Eschenbach‘ oder vom ‚Freund von Blienfelden‘ die Rede. Dass das Schlüpfen des Dichters in die Wolfram-Rolle gut angenommen wurde, wird daran sichtbar, dass Wolfram schon bald als Autor des Romans galt.Vgl.Volker Mertens: Wolfram als Rolle und Vorstellung. Zur Poetologie der Authentizität im ‚Jüngeren Titurel‘, in: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider und Franziska Wenzel. Berlin 2005, S. 203 – 226, hier S. 204. Zur Erzählerschaft im Jüngeren Titurel vgl. u. a. auch Werner Schröder: Wolfram-Nachfolge im ‚Jüngeren Titurel‘. Devotion oder Arroganz? Frankfurt a. M. 1982, S. 24– 25; Thomas Neukirchen: Die ganze ‚aventiure‘ und ihre ‚lere‘. Der ‚Jüngere Titurel‘ Albrechts als Kritik und Vervollkommnung des ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Heidelberg 2006.

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Verse des Parzival auf und formuliert sie leicht um. Aus der Sentenz Ist zwîvel herzen nâchgebûr, / daz muoz der sêle werden sûr (P 1,1– 2: Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt, dann muss das der Seele sauer werden) werden folgende Ausführungen: ist zwivel nachgebure dem herzen icht di lenge, / daz můz der sele sure werden ewiclich in jamers strenge. / herze, hab di stæt an dem gedingen, / war minne, rehten gelouben, so mac der sel an sælicheit gelingen (JT 22,1– 4). Wenn Zweifel eine Zeit lang nah beim Herzen wohnt, dann muss das der Seele auf ewig sauer werden in strengem Kummer. Herz, bewahre Beständigkeit in der Hoffnung, der wahren Liebe und dem rechten Glauben, dann vermag die Seele die Seligkeit zu erreichen.

Die Paraphrase transformiert die ursprünglich prägnante Sentenz in eine ausführlichere Aussage und ergänzt diese auch gleich noch durch eine Handlungsanleitung, gemäß der Tendenz des Jüngeren Titurel, sowohl detaillierter als auch didaktischer vorzugehen als die Vorlage.¹⁴⁰ Kurz zuvor formuliert der Erzähler einen expliziten Änderungswunsch. Er nimmt den Vorwurf auf, den Pfad der Erzählung verdunkelt und die Figuren ohne Schiff und Brücke alleingelassen zu haben, und verspricht für die Überarbeitung Besserung, obwohl manche Kritiker ihm das angeblich nicht zutrauen: ich wil die krumb an allen orten slichten, / wan sumeliche jehende sint, ich kunne iz selbe nicht verrichten (JT 20,3 – 4: Allerorts will ich das Krumme gerade machen. Einige sagen nämlich, dass ich selbst das gar nicht zustande bringen könnte). Nach dem Ende der Parzival-Handlung nennt das sprechende ‚Ich‘ abermals seinen Namen, dieser lautet nun aber plötzlich nicht mehr Wolfram, sondern Albrecht: Die aventiure habende bin ich, Albreht, vil gantze (JT 5961,1: Über die Aventiure verfüge ich, Albrecht, in ihrer Gänze). Etwas weiter hinten gerät ihm sein Plan folgerichtig zur Kritik an Wolfram: Ich wolte mich hie nieten der kunst durch Parcifalen, / wie sine kint gerieten, diu edlen, klaren, szen, lieht gemalen / (viel endelich ich gerne von in spreche: / man giht, wie dem von Eschenbach an siner hohen kunst dar an gebreche) (JT 5991,1– 4). Ich würde nun gern meine Kunstfertigkeit in den Dienst Parcifals stellen und erzählen, wie seine Kinder gerieten, die edlen, reinen, süßen, hellfarbenen. (Ich spreche eifrig und gern von ihnen. Man sagt, dass die große Kunstfertigkeit dessen von Eschenbach in dieser Hinsicht nicht ausreiche).

 „Die Prägnanz von Wolframs ursprünglichem Zweizeiler geht so verloren, nicht zuletzt durch die potenziell autonome explicatio in den Versen 3 f. Die Verwendung des Imperativs in Vers 3 verleiht der Passage außerdem eine gewisse moralisierende Vehemenz; denn diese neue Erzählinstanz schreckt nicht davor zurück, ihrem Publikum vorzuschreiben, wie es seine Gedanken, Überzeugungen und Gefühle zu ordnen habe.“ Annette Volfing: ‚Leien mund nie baz gesprach‘. Wolfram als stilistisches Vorbild im ‚Jüngeren Titurel‘, im ‚Lohengrin‘ und im ‚Göttweiger Trojanerkrieg‘?, in: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. Hg. von Elisabeth Andersen, Ricarda Bauschke-Hartung und Silvia Reuvekamp. Berlin, Boston 2015, S. 323 – 338, hier S. 326.

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Sonja Glauch zufolge wird an diesen Stellen weder unfreiwillig ein Plagiat aufgedeckt noch freiwillig ein Fiktionalitätssignal gesetzt: „Albrecht begreift weder seinen Vorgänger Wolfram noch sich selbst als den Autor der erzählten Geschichte, sondern er stilisiert die Geschichte zu etwas vorab Existentem, das nur eines Erzählers bedarf, und zwar eines guten.“¹⁴¹ Und: „Albrecht kopierte Wolfram oder dichtete im Stil und in der Manier Wolframs. Er wird das nicht als ehrenrührigen Übergriff auf eine individuelle Autorleistung, sondern im Geist mittelalterlicher Imitatio als ein poetisches Meisterstück angesehen haben.“¹⁴² Dieser Ansatz erlaubt es dem Bearbeiter, sich einerseits auf das ‚Label Wolfram‘ zu berufen und andererseits Kritik an dem Dichter Wolfram zu üben.¹⁴³ Indem Albrecht die im Parzival und im Titurel vorgefundene Geschichte aufnimmt, sie neu, besser und vollständiger erzählt und ziemlich zum Schluss den Namen Albrecht als Signatur für den verwendeten Bearbeitungsmodus einführt, reiht er sich in die Traditionskette ein, die Wolfram im Parzival angelegt hat. Das Verhältnis zwischen Erzähler und erzählter Welt verändert er nicht. Und wie der Erzähler im Parzival, so nimmt auch der im Jüngeren Titurel gegenüber seinem Publikum eine ähnlich vermittelnde Position ein, wie es der Gral gegenüber der Gralgesellschaft innerhalb der Diegese tut. Auch der Lohengrin kennt eine Wolfram-Rolle. In diesem Roman wird sie allerdings nicht vom Dichter eingenommen, sondern von einer seiner Figuren, oder, besser ausgedrückt: Die empirische Dichterpersönlichkeit Wolfram wird in eine Figur innerhalb einer Erzählung verwandelt, über die wiederum ein zunächst namenloser und später erst benannter übergeordneter Erzähler gebietet. Die Rahmenhandlung, in der die Figur Wolfram die Lohengringeschichte zum Besten gibt, beinhaltet ein Streitgespräch zwischen dem Gelehrten Clingsor und dem Laien Wolfram, welches in beinahe identischer Form aus dem Rätselspiel des Wartburgkriegs bekannt ist. Nach und nach bauen die Kontrahenten in diese Rahmenhandlung Hinweise ein, die eine ausführliche Erzählung und damit die Eröffnung einer Metadiegese provozieren: Clingsor spricht vom Artushof und erwähnt, dass Artus anlässlich des Läutens einer Glocke einen Kämpfer ausgesandt habe (L 231– 260). Wolfram rügt ihn dafür, dass er den Namen des Kämpfers nicht genannt habe (L 264– 265), woraufhin sich Wolframs Mäzen, der Landgraf Hermann von Thüringen, einschaltet und von Wolfram verlangt, die ganze Geschichte vorzutragen (L 284– 285). Dieser erzählte Zuhörer Hermann von  Sonja Glauch: Der Eigensinn der Camouflage. Zur Dialektik des Fiktionalen im ‚Jüngeren Titurel‘, in: Der ‚Jüngere Titurel‘ zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk. Hg. von Martin Baisch, Johannes Keller, Florian Kragl und Matthias Meyer. Göttingen 2010, S. 67– 85, hier S. 80.  Glauch, Eigensinn, S. 84. Vgl. auch Linda B. Parshall: The Art of Narration in Wolfram’s ‚Parzival‘ and Albrecht’s ‚Jüngerer Titurel‘. Cambridge 1981, S. 8 – 9.  Nicht nur der direkte Vorgänger Wolfram wird kritisiert, auch auf dessen Quelle Kyot fallen skeptische Blicke. Einmal verwendet der Erzähler die Wendung ob uns Kyot niht triuget (JT 2993,2: Wenn uns Kyot nicht betrügt), ein anderes Mal schränkt er eine zuvor gegebene Information mit der Bemerkung ein ob Kyot niht entriegen kan die luͤte (JT 5354,4: wenn es Kyot nicht gelingt, die Leute zu betrügen). Eine solche Skepsis gegenüber dem meister aus der Provence findet sich im Parzival nicht.

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5 Kontrolliert werden: Parzival, Jüngerer Titurel, Lohengrin

Thüringen ist also bereits vertraut mit der Geschichte (oder zumindest mit ihrem Beginn).¹⁴⁴ Clingsor bekräftigt: ‚nû singet, meister wîse‘ (L 300) und Wolfram kommt dieser Aufforderung nach. Im Folgenden unterbricht er seinen Monolog zweimal, um Clingsor dazu herauszufordern, die Geschichte selbst zu Ende zu bringen (L 1058 – 1091 und 2274– 2303), wird aber jedes Mal von seinen Zuhörern überzeugt, selbst fortzufahren. Der Lohengrin besitzt eine Rahmen- und eine Binnenhandlung und trennt beide klar voneinander. Der extradiegetische Erzähler der Rahmenhandlung, der letztlich für den gesamten Text verantwortlich ist, tritt am Anfang kaum in den Vordergrund. Präsent ist er nur in wenigen kurzen, nichtdialogischen Passagen. Ganz am Ende der Erzählung geht die Rede der Figur Wolfram übergangslos in die Rede dieses Erzählers über. Plötzlich ist auch die Situation der Übermittlung keine mündliche mehr, sondern eine schriftliche: Nû ist der âventiure grunt, / swer daz buoch ist lesent, schôn gemachet kunt (L 7621– 7622: Nun ist die Aventiure in ihrer ganzen Tiefe für alle, die das Buch lesen, recht offenbart worden). In einem nur bei der Lektüre des geschriebenen Textes erkennbaren Akrostichon nennt sich der Verfasser selbst Nouhuwius (oder Nouhusius) (L 7621– 7647) und preist ausdrücklich die Dichtkunst dessen von Eschenbach (L 7635).¹⁴⁵ Wie Albrecht dichtet auch der Dichter des Lohengrin in der Manier Wolframs.¹⁴⁶ Anders als Albrecht aber stellt er von Beginn an gut sichtbar aus, dass er eine Rolle annimmt, wenn er als Wolfram von Eschenbach über Lohengrin spricht. Zudem behauptet er in einer komplizierten Volte, dass es sich bei dem Wolfram, an dessen Autorität er durch die Zuschreibung der Binnenerzählung teilhat, nicht oder nicht nur um eine empirische Persönlichkeit handelt, und sei sie auch längst verstorben, sondern in erster Linie um einen ‚Papierdichter‘.¹⁴⁷ Zwar ist dieser ‚erzählte Erzähler‘ ein

 „Die Figur des Landgrafen wird damit zugleich zur Projektionsfläche des vom Text angesprochenen Adressatenkreises, dessen Profilierung in der Epik üblicherweise im Prolog stattfindet und im Lohengrin stattdessen in die textinterne Rahmensituation verlagert wird. Unter dieser Perspektive betrachtet, erweist sich der Landgraf als Verkörperung eines Rezipienten, dessen literarischer Sachverstand sich zum einen in der Vertrautheit mit literarischen Stofftraditionen äußert, zum anderen aber auch in der Fähigkeit, die Qualität literarischer Leistungen angemessen zu bewerten.“ Hallmann, Wartburgkrieg, S. 279.  In den Handschriften wird das Akrostichon nicht als solches hervorgehoben. Vgl. Alastair Matthews: The Medieval German ‚Lohengrin‘. Narrative Poetics in the Story of the Swan Knight. Rochester, NY 2016, S. 60 – 61.  Dass der Erzähler durch das Rollenspiel an Wolframs Autorität als hervorragender Dichter partizipiert, schließt nicht aus, dass er sich stilistisch eher an Albrechts Jüngerem Titurel orientiert, wie Annette Volfing zeigt. Vgl. Volfing, Stilistisches Vorbild, S. 329 – 334. Zur Wolfram-Rolle im Lohengrin vgl. auch Matthews, Lohengrin, besonders S. 14– 39 und S. 40 – 62.  Zum ‚Papierheiligen‘ vgl. Kunze, Papierheilige. Otto Neudeck zufolge wird der historische Dichter Wolfram im Wartburgkrieg als handelnde Figur zur Chiffre für ein Autorverständnis, das der gelehrten (und noch dazu verdächtig ‚heidnischen‘) Wissenstradition, für die der arrogante meisterpfaffe Clingsor steht, eine Absage erteilt. Vgl. Neudeck, Möglichkeiten, S. 346. Vgl.dazu auch Burghart Wa-

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heterodiegetischer Erzähler, der an der Geschichte, die er vorträgt, nicht selbst beteiligt ist. Zugleich aber bewohnt dieser Wolfram, so stellt es die Rahmenerzählung dar, nicht nur dieselbe Welt wie der historische Landgraf von Thüringen, sondern auch dieselbe Welt wie eine Figur aus dem Parzival. Listig fragt Wolfram Clingsor, ob er wohl schon einmal von dem Clingsor gehört habe, der die Damen des Artus gestohlen und auf sein Wunderschloss gebracht habe. Dieser Clingsor habe in Büchern viel über Zauberei gelesen (L 2288: vil zoubers er an buochen las). Daraufhin erklärt Wolframs Kontrahent nonchalant, dass er selbst natürlich nicht dieser Clingsor sei. Eine Verbindung gebe es aber über mehrere Ecken durchaus: ‚mîns enn uren sîn schrîber was, / nâch sînem tôt warf er ir vil ze rôste. / mîn en der wart von Rôme gesant / ze einer gib dem künige rîch in Ungerlant / der selb wart Clingesor nâch iem genennet. / Den selben namen hân ouch ich‘ (L 2289 – 2294). ‚Der Großvater meines Vaters war sein Schreiber. Nach seinem Tod warf er viele von ihnen [von den Büchern, A.L.] ins Feuer. Mein Vater wurde als Geschenk aus Rom dem mächtigen König in Ungarn gesandt. Er wurde Clingsor nach ihm genannt. Ebendiesen Namen trage auch ich.‘

Zwischen dem Clingsor der Rahmenhandlung des Lohengrin und dem Clingsor von Wolframs Parzival besteht also keine Identität, wohl aber ein über mehrere Generationen gedehntes Angestellten-, Verwandtschafts- und Nachbenennungsverhältnis.¹⁴⁸ Und dies wiederum heißt: Der Wolfram des Lohengrin bewohnt eine erzählte Welt, die er sich mit seinen eigenen Figuren und daher auch mit dem Gral teilt. Dieser ist im Lohengrin auf ähnliche Weise ein erzähltes Ding, wie Wolfram eine erzählte Person ist. Ein solches Literarisierungsverfahren impliziert nicht zwingend, dass das Erzählte ausgedacht im Sinne von ‚fiktiv‘ oder sogar ‚unwahr‘ ist. In gewisser Weise betont es sogar die Faktualität des Erzählten, indem es suggeriert: Ebenso, wie der erzählte Wolfram einen Referenten in der empirischen Welt besitzt, besitzt ihn auch der erzählte Gral. Der Dichter des Lohengrin nutzt Wolframs guten Ruf, um seinen eigenen Text zu legitimieren. Indem er seine Lohengrin-Erzählung in das Setting des Wartburgkriegs einbaut und am Ende als eigenständiger, von Wolfram unterschiedener Erzähler hervortritt, der nicht nur über Wolframs Stoff, sondern auch über Wolfram selbst erzählen kann und diesen damit seinerseits zum Erzählstoff macht, tut er aber noch

chinger: Der Sängerstreit auf der Wartburg. Von der Manessischen Handschrift bis zu Moritz Schwind. Berlin, New York 2004, S. 21.  Da sich laut Wolframs Parzival auch Vergil unter Clingsors Vorfahren befindet (P 656,14– 18), muss es nicht verwundern, dass Clingsor in Dietrichs von Apolda lateinischer Vita der Heiligen Elisabeth (entstanden 1289 – 1297) eines Nachts beim Blick in die Sterne die Geburt der Heiligen prophezeien kann – ähnlich, wie der historische Vergil in der mittelalterlichen Tradition die Geburt Christi voraussagt und wie dies im Reinfried von Braunschweig Savilon tut, der dort wiederum unabsichtlich zu Vergils Meister im Geiste wird. Vgl. Die Vita der heiligen Elisabeth des Dietrich von Apolda. Hg. v. Monika Rener. Marburg 1993, S. 24. Vgl. dazu Wachinger, Sängerstreit, S. 22; Hallmann, Wartburgkrieg, S. 139.

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mehr. Er preist Wolfram und verfügt zugleich über ihn, indem er sich nicht lediglich auf ihn als Quelle beruft, sondern ihn für sich und an seiner Stelle sprechen lässt und diese Konstellation ausstellt. Ähnlich wie im Parzival nimmt auch im Lohengrin der Erzähler namens Wolfram eine ähnliche Position zur Erzählung ein wie der Gral zu den Worten Gottes. Der Dichter des Lohengrin aber setzt diesem Spiel noch ein Krönchen auf: In seinem Text gibt es einen übergeordneten Dichter, der das Medium (d. h. den Erzähler Wolfram) zum Sprechen bringt. Damit agiert der Dichter nicht analog zum Gral, sondern zu demjenigen, der in allen drei Gralromanen dafür sorgt, dass es auf dem Gral etwas zu lesen gibt.

Rezeptionsgemeinschaften Viele der erzählten Inschriften in höfischen Romanen adressieren entweder eine bestimmte Person oder mehrere Personen oder aber eine Gruppe von unbestimmtem und potenziell unbeschränktem Umfang. Gralinschriften heben sich von all den relativ weit verbreiteten Briefen, Testamenten, Grabinschriften, magischen Amuletten und Waffeninschriften unter anderem dadurch ab, dass sie sich zwischen den beiden Polen ‚adressiert wird eine Einzelperson‘ und ‚adressiert wird eine undefinierte Gruppe‘ bewegen. Meistens expliziert der Parzival gar nicht, wer genau die Gralinschriften liest, sondern vermeidet es durch die Verwendung von Passivkonstruktionen oder des Wortes man, sich in dieser Hinsicht festzulegen.¹⁴⁹ Bei der einzigen Gelegenheit allerdings, bei der man den Wortlaut einer Gralinschrift – wenn auch vermittelt durch eine Rede der Figur Trevrizent – erfährt, richtet sich die Nachricht nicht an eine einzelne Person, sondern an die Gruppe derjenigen, die vor dem Gral auf die Knie gefallen sind (P 483,29: ‚„habt ir daz vernommn?“‘).¹⁵⁰ Gott spricht, wenn er Gralinschriften schickt, nicht zu irgendwelchen zufällig Anwesenden. Während auch sehr mächtige und gerissene menschliche Schreibende nie ganz kontrollieren können, wer ihre Inschriften zu sehen bekommt, überlässt der Absender der Inschriften auf dem Gral die Zusammensetzung der Gruppe seiner Empfänger nicht dem Zufall, sondern steuert ganz genau, wer seine Botschaften rezipieren kann bzw. darf und wer nicht: Um überhaupt Zugang zum Bereich des Grals zu erhalten, muss man zuvor

 Wenn Trevrizent erklärt, dass der Gral per Inschrift mitteile, wann und wen der Gralkönig heiraten dürfe, dann impliziert das nicht zwingend, dass nur der Gralkönig die Botschaft rezipiert (P 478,13 – 16). Die Schrift, die neue Mitglieder der Gralgesellschaft beruft, wird gelesen, ohne dass man von Trevrizent erfährt, von wem (P 470,28 – 30). Als Cundrie Parzival verkündet, dass er zum Gral berufen sei, drückt sie sich ebenfalls denkbar unbestimmt aus: ‚daz epitafjum ist gelesen‘ (P 781,15: ‚das Epitaph wurde gelesen‘). Ähnlich verfährt schließlich auch der Erzähler, wenn er die letzte Inschrift einleitet, die das Frageverbot enthält: ame grâle man geschriben vant (P 818,25: auf dem Gral fand man geschrieben).  Von denen, die die Nachricht wahrnehmen, spricht der zu diesem Zeitpunkt anwesende Trevrizent dementsprechend in der ersten Person Plural: ‚dar an gesâh wir zeinem mâl / geschriben‘ (P 483,20 – 21: ‚Darauf sahen wir plötzlich geschrieben‘).

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namentlich von ihm benannt worden sein. Eine weitere Hürde besteht darin, dass man getauft sein muss, damit es einem nicht ergeht wie Feirefiz, der zwar in die Präsenz des Grals gelangt, ihn aber nicht sehen kann.¹⁵¹ Vom Sender ungewollte Rezeptionsakte, wie sie im Gregorius oder im Reinfried von Braunschweig geschildert werden, sind in diesem System ausgeschlossen. Die vom Gral zugelassenen Leser tun, wenn sie eine Gralinschrift rezipieren, zwei Dinge auf einmal: Erstens nehmen sie Informationen auf. Und zweitens bestätigen sie ihre Zugehörigkeit zur Gruppe derer, die über den Gral Informationen erhalten, mit jedem einzelnen Leseakt performativ von Neuem. Überträgt man dieses Konzept einer ‚Gemeinschaftsbildung durch Lesen‘ auf das Publikum des Textes, in dem von diesem Phänomen erzählt wird, dann könnte man sagen: Wolfram erfindet das elitäre Prinzip der höfischen Literatur zwar nicht, aber er erklärt implizit, wie es funktioniert. Höfische Literatur ist Elitenliteratur in einem doppelten Sinn. Nur die Allerwenigsten finden überhaupt Zugang zu ihr. Von denjenigen wiederum, denen es vergönnt ist, in ihre Nähe zu kommen, ist noch lange nicht gesagt, dass sie sie auch tatsächlich als das wahrnehmen, was verständige Menschen in ihr sehen – eine überaus kostbare, einzigartige und Ehrfurcht gebietende Verbindung zu anderen und höheren Sphären. Sicherlich darf man einen solchen Versuch der Engführung einer erzählten mit einer im Text letztlich nirgends explizit empfohlenen Lesehaltung nicht überbelasten. Ebenso gut kann man nämlich das Rezeptionsmodell der Gralgesellschaft als nicht etwa empfohlenes, sondern sogar abschreckendes Beispiel verstehen. Die Kompetenzen, die der Erzähler des Parzival im Prolog für eine gelungene Rezeption seiner Erzählung voraussetzt, sind schließlich nicht Ehrfurcht, Bereitschaft zur Passivität und unbedingter Gehorsam, sondern Wendigkeit und ein rascher Verstand, um mit der anspruchsvollen, hakenschlagenden Erzählung Schritt halten zu können: swer mit disen schanzen allen kan, / an dem hât witze wol getân, / der sich niht versitzet noch vergêt / und sich anders wol verstêt (P 2,13 – 16: Wer mit all diesen Wechselfällen mithalten kann, den hat der Verstand freundlich behandelt. Der versitzt sich nicht und verrennt sich auch nicht, im Gegenteil: Er versteht sich gut darauf). Ein komplexer Roman ist eben mehr als ein Befehl oder ein Verbot. Beständige Treue (P 2,1) und unbedingte, vorhersehbare Zuverlässigkeit findet man in ihm nicht ununterbrochen. Wer mit solch einem Text etwas anfangen will, der muss, so der Erzähler, höhere Leistungen erbringen – wenn dies dem Leser oder Hörer jedoch gelingt, dann winken ihm gute Lehren (P 2,8). Belohnt wird das Publikum zudem mit einem Wechselbad der Gefühle: dirre âventiure / […] lât iuch wizzen beide / von liebe und von leide: / fröud und angest vert tâ bî (P 3,28 – 4,1: Diese Geschichte wird euch Glück und Leid lehren, Freude bringt sie mit sich und Angst). Was der Erzähler in Aussicht stellt, ist also ein ganz anderes Rezeptionserlebnis als das, das Gott und der Gral den Bewohnern der

 Jenseits der Diegese entspricht die Unfähigkeit ungetaufter Menschen, den Gral (und seine Inschriften) zu sehen, ihrer Unfähigkeit zu verstehen, was der Gral eigentlich ist (P 453,20 – 22). Das extradiegetische Pendant zu dem ‚blinden‘ Feirefiz ist der ‚unverständige‘ Flegetanis.

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Gralburg zukommen lassen. Die Lesesituationen auf Munsalvæsche sind weihevoll, ernsthaft oder sogar schmerzlich; von höfischer Freude oder geistlichem Glück ist im Zusammenhang mit den Grallektüren auch für die Zeit vor Anfortas’ Verwundung nie die Rede. Vielleicht ist es bezeichnend, dass die Gralinschriften als ‚Epitaphien‘ bezeichnet werden (P 470,24 und 781,15) – an der einzigen anderen Stelle, an der das Wort im Parzival verwendet wird, meint es, wie in anderen Texten meistens auch, eine Grabinschrift (P 107,30). Aus der Sicht eines Erzählers, der eine komplexe, widersprüchliche und mithin elsternfarbene Geschichte anbietet, ist die Gralburg mit ihrem Schriftträger, auf dem stets kurze und einfach verständliche Texte mit eindeutigen Anweisungen zu lesen sind, nicht nur eine Art Kloster oder Kaserne, sondern auch ein Mausoleum. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass der Roman in diesem Bild das Leseverhalten einer Elite vorführt, die vor dem Gegenstand ihrer Verehrung buchstäblich in die Knie geht, auch um sich selbst in ihrer Auserwähltheit und Rigidität feiern zu können – und dass eine solche Haltung nicht zur Nachahmung empfohlen wird. Der Lohengrin betont demgegenüber eher die Schwierigkeiten, mit denen sich die Leserinnen und Leser in der erzählten Welt und damit möglicherweise auch die Rezipientinnen und Rezipienten des Textes selbst konfrontiert sehen. Die Probleme, die man auf der Gralburg damit hat, einerseits überhaupt an einen interpretierbaren Text heranzukommen und diesen dann andererseits auch tatsächlich korrekt zu interpretieren, zeigen, dass es unter Umständen nicht genügt, einer weltlichen und geistlichen Elite anzugehören, um sich als ausreichend kompetenter Leser zu erweisen. Selbst diejenigen, die einen Text in Gestalt einer Gralinschrift vor sich haben und ihn lesen können, benötigen zum Verständnis eine zusätzliche inspirative Unterstützung. Ob man sie erhält oder wer sie erhält, ist nicht kalkulierbar. Die Fähigkeit zur ‚richtigen Lektüre‘ erweist sich damit als gnadenhaft gewährtes Geschenk. Auch der Lohengrin betont zwar, dass göttliche Botschaften sich am ehesten an geistliches Personal (im weitesten Sinn) und damit an Experten im Lesen und Deuten schriftlicher Texte richten.¹⁵² Gleichzeitig wirkt der Text der Vorstellung entgegen, dass die Gewährung des Zugangs zu göttlichen Botschaften selbst für solche Einzelpersonen oder Gruppen eine Selbstverständlichkeit darstellt. Der Gral offenbart die entscheidende Inschrift nicht erwachsenen Männern, sondern sehr jungen Menschen. Die richtige Auslegung der Inschrift nimmt eine junge Frau vor. Indem der Roman darauf verzichtet zu erklären, woher diese ihre plötzliche Erkenntnis bezieht, suggeriert er, dass die Quelle dieselbe ist, aus der auch die Gralinschrift stammt, und dass das Mädchen bei seiner Schlussfolgerung aus der Inschrift folglich von Gott inspiriert wurde. Indem die Erzählung mehrere Barrieren beim Empfangen und Verstehen des göttlichen Textes einführt, die nicht aufgrund eines bereits etablierten Status, sondern nur mithilfe immer weiterer Gnadenakte überwunden werden können, stellt sich der Lo-

 Gott schreibt beispielsweise an einen Kaplan (L 371– 373), einen Abt (L 771– 776) oder einen Papst (L 5929 – 5936).

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hengrin einem übermäßigen Selbstbewusstsein lesender Eliten entgegen. Überheblichkeit ist auch bei einem literarisch gebildeten Publikum fehl am Platz: Wenn dieser Roman ‚richtig‘ verstanden werden kann, so lehrt es die Lektüresituation an seinem Beginn, dann nur, weil man sich bemüht und sein Autor es so will. Der Jüngere Titurel schließlich führt verschiedene Lektüresituationen vor, in denen Gralinschriften rezipiert werden. Im ersten Teil der Handlung, in dem davon erzählt wird, wie Titurel den Gral erhält, den Graltempel baut und das Gralgeschlecht gründet, scheinen die Nachrichten auf dem Gral hauptsächlich für den obersten Gralhüter bestimmt zu sein und auch von ihm gelesen zu werden: Titurel ist es, der vom Gral einen Bauplan und schriftliche Anweisungen für den Bau des Graltempels erhält (JT 339,2 und 370,2); ihn lässt der Gral lesen, dass er heiraten darf (JT 442,3 – 4); Titurel liest, wer mit dieser Frau auf die Gralburg kommen darf und wer nicht (JT 448,3 – 4 und 450,4); Titurel berichtet, dass ihm durch eine Gralinschrift eine Tugendlehre geschenkt worden sei (JT 512,3 – 4); er liest auf dem Gral vom Schicksal des Frimutel und des Anfortas und dass Frimutel Gralkönig werden soll (JT 600,2– 4 bzw. 604,1– 4) etc. Erst viel später und nachdem die Königswürde schon lange von Titurel über Frimutel auf Anfortas übergegangen ist, wird die Botschaft, die das Kommen des Erlösers ankündigt, von der gesamten Gralgesellschaft rezipiert (JT 5270,1– 4). An der Brackenseilerzählung ist zu erkennen, wie kritisch der Jüngere Titurel nicht-öffentlichen Lektüren gegenübersteht, wenn sie nicht von besonders begnadeten Lesern wie Titurel vorgenommen werden.¹⁵³ Nachdem das Brackenseil Tod und Verderben über die Artusgesellschaft gebracht hat und Titurel erst in den Hintergrund getreten und schließlich gestorben ist, werden die Inschriften auf dem Gral gar nicht mehr von einer einzelnen Person, sondern nur noch von der gesamten Gralgemeinschaft gelesen. Gralinschriften teilen der Gruppe vor der Abfahrt nach Indien mit, wer ordentlich gebeichtet hat (JT 6067,2– 6068,1), der Gral lässt alte Menschen wie auch Kinder Satzungen lesen, die über den Umgang mit moralischem Fehlverhalten Aufschluss geben (JT: 6307,1– 2), und wie es in Indien mit der Herrschaft weitergehen soll, teilt das wundersame Gefäß nicht nur Parcifal und Priester Johan mit, sondern offenbar allen, die es betrifft (JT 6321,4– 6322,1). Es gibt also im Jüngeren Titurel eine deutliche Bewegung von der Rezeption der Gralinschriften durch einen auserwählten Einzelnen zur Rezeption durch eine Gruppe von Auserwählten. Als zugehörig zu einer Gruppe elitärer Lesender können sich auch die Rezipientinnen und Rezipienten des Jüngeren Titurel begreifen. Jedenfalls bietet ihnen der Text zahlreiche Gelegenheiten, ihre Kennerschaft und literarische Bildung unter Beweis zu stellen, indem er spezifische, aber zugleich lückenhafte Informationen präsentiert, die die Rezipienten mithilfe ihrer Kenntnis des Parzival oder des Titurel ergänzen  „[S]o wie die gelesene Schrift Verletzung, Zerwürfnis und letztlich Tod nach sich zieht, vermag sie am Artushof als vernommene ihre Rezipientengemeinschaft zu einem Kollektiv zusammenzuschließen, in dem nicht nur keine Besitzansprüche aufkommen, sondern sogar Versöhnungsbereitschaft entsteht.“ Philipowski, Schrift, S. 67.

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können. Die im Parzival angelegte Überlieferungskette etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, kennt auch Albrecht: der von Provenzale und Flegetanis parlre / heidenisch von dem grale und franzoys tůnts kunt vil aventre. / daz wil ich diutsch, gan iz mir got, hie kunden. […] / durch daz Flegetanis der sterne warte / zu lob dem heren grale sin geslechte prist in hohem zarte (JT 86,1– 91,4). Der aus der Provence und der Prophet Flegetanis machen uns auf ‚Heidnisch‘ und auf Französisch viele Aventiuren vom Gral bekannt. Die will ich mit Gottes Hilfe hier auf Deutsch erzählen. […] Daher preist der Sternendeuter Flegetanis zum Lob des reinen Grals überaus wohlwollend dessen Geschlecht.¹⁵⁴

Jemand, der den Parzival nicht kennt, kann an dieser Stelle lange rätseln, wer wohl ‚der Provenzale‘ ist und wie er heißt, was es mit diesem Flegetanis auf sich hat und wer von den beiden eigentlich auf ‚Heidnisch‘ bzw. auf Französisch über den Gral geschrieben hat. Ohne Kenntnis des Vorgängertextes ist diese stark verkürzte Quellenberufung kaum verständlich. Wer hingegen die inhaltlichen Lücken füllen kann, gehört offenbar zur Gruppe derer, die Bescheid wissen.¹⁵⁵ Albrecht kündigt zwar an, Wolframs krumme Geschichte neu und nun gerade zu erzählen (JT 20,3) und auf diese Weise seine nützliche Lehre zielsicher ans Publikum zu bringen.¹⁵⁶ Dieser Absicht stehen jedoch zwei Hindernisse im Weg: erstens die schiere Länge des Textes und zweitens die Tatsache, dass es häufig sehr schwierig ist, ihn zu verstehen. Volker Mertens bemerkt, dass der Jüngere Titurel zwar nachweislich äußerst populär gewesen sei, ein kognitives Verständnis aber nicht das Ziel des Verfassers habe sein können.¹⁵⁷ Die Leser, oder besser: die Hörer (d. h. auch solche Hörer, die sich den Roman selbst laut vorlasen), sollten die Melodie wie auch das Rauschen der „wilde[n] Wortorgie“¹⁵⁸ genießen können, ohne den Text unbedingt in all seinen intrikaten Details erfassen zu müssen. Hierin ähnelt der Jüngere Titurel den heiligen Texten, deren Rezeption in der Liturgie Gemeinschaft stiftet:

 Zur Übersetzung von parlre (oder pareliure von altfz. parleor) als ‚Sprecher‘ oder ‚Prophet‘ vgl. Conrad Borchling: Der jüngere Titurel und sein Verhältnis zu Wolfram von Eschenbach. Göttingen 1897, S. 181. Man könnte das Wort auch mit ‚Verkünder‘ übersetzen, um die biblische Konnotation des Prophetenbegriffs zu vermeiden.  Eine ähnliche Funktion hat im Lohengrin die Passage, in der der Erzähler es vermeidet zu sagen, was die Figur Elsam denn zu fragen vermeiden solle (L 2274– 2306). Ein gut informiertes Publikum weiß natürlich, dass Elsam nicht nach Lohengrins Herkunft fragen darf, weil davon im Parzival erzählt wurde. Vgl. Regina Unger: Wolfram-Rezeption und Utopie. Studien zum spätmittelalterlichen bayerischen ‚Lohengrin‘-Epos. Göppingen 1990, S. 21– 22.  Zur Ambiguität des Wortes lere (Lehre oder Leere?) in diesem Zusammenhang vgl.Volker Mertens: Kontingenz und Sprache im ‚Jüngeren Titurel‘: Der Text, der nicht verstanden werden will, in: Der ‚Jüngere Titurel‘ zwischen Didaxe und Verwilderung. Neue Beiträge zu einem schwierigen Werk. Hg. von Martin Baisch, Johannes Keller, Florian Kragl und Matthias Meyer. Göttingen 2010, S. 183 – 199, hier S. 192– 193.  Vgl. Mertens, Kontingenz, S. 183.  Schmid, Verhältnis, S. 92.

5.4 Vom ‚world building‘ zur Gemeinschaftsstiftung

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Das heilige Buch wird gezeigt, verehrt, beweihräuchert, die Schrift in ihm ist nicht lediglich semantisch funktional, sondern in ihrer geschmückten Schönheit Zeichen der göttlichen Schönheit. Auch der cantus lectionis vermittelt nicht nur dekodierbare Bedeutung, sondern ist in seiner Klanglichkeit Abbild des cantus angelorum und Verheißung, dass die Gläubigen einst diesen selbst hören werden und in ihn einstimmen können.¹⁵⁹

Wer sich mit diesem Roman beschäftigt, der liest ihn nicht einfach, er zelebriert die Rezeption. Ist man damit an ein Ende gekommen, dann ist man, ähnlich wie die Gralritter innerhalb der Diegese, nicht einfach nur informiert, sondern eingeweiht. Diese Erfahrung wirkt verbindend.¹⁶⁰ Die schwierige Lektüre stiftet eine Zusammengehörigkeit, wie sie ähnlich auch unter denen herrscht, die sich den Worten auf dem Gral unterwerfen. Der Lohn für die Mühe, das verheißt zumindest der Erzähler in der letzten Strophe des Textes, ist für die Leserinnen, Hörer und diejenigen, die die Geschichte weiterschreiben, der gleiche wie für die lesenden Figuren, nämlich der höchstmögliche: Nu prfet, alle werden, die wirde dieses bůches! / von dtscher zung uf erden nie getichte wart so werdes růches, / daz lib und sele so hoch gen wirde wiset, / alle di iz hren, lesen oder schriben, der sele mze werden geparadiset (JT 6327,1– 4). Erkennt nun, all ihr Ehrenhaften, die Ehrenhaftigkeit dieses Buches! Von einer deutschen Zunge wurde auf Erden noch nie ein Gedicht mit ehrerbietigerer Sorgfalt gemacht, das den Körper und die Seele zu so hoher Ehrenhaftigkeit anweist, dass die Seelen all derer, die es hören, lesen oder schreiben, ins Paradies gelangen.

 Mertens, Kontingenz, S. 197.  Bedenkt man zudem, dass die Rezipienten des Romans sich von Titurels Tempelauslegungsrede ebenso angesprochen fühlen könnten wie die intradiegetischen Adressaten der Figur und dass auch sie in der Anwesenheit des Grals im Graltempel ein allegorisches Bild für die Anwesenheit Gottes im Menschen zu sehen vermögen, dann ist es folgerichtig, sie wie Annette Volfing als Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft auch im engeren Sinn zu betrachten. Vgl. Volfing, Literacy, S. 70.

6 Schluss Wer schrifttragende Artefakte und die auf ihnen festgehaltenen Texte untersucht, von denen in höfischen Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts erzählt wird, der kann dies mit unterschiedlichen Zielen tun. Ein mögliches Erkenntnisinteresse besteht darin, herauszufinden, auf welche Weise, zu welchen Zwecken und mit welchen Resultaten adlige Menschen im Hochmittelalter schrieben und lasen. In diesem Fall betrachtet man die Romane Hartmanns und Wirnts, Wolframs und Albrechts aus einer literarhistorischen Perspektive und fragt danach, wie sich reale Schreib- und Lektürepraktiken in den Texten niederschlugen und welche Informationen sich aus den erzählten Handlungen über tatsächlich praktizierte, mehr oder weniger routiniert durchgeführte Handlungen ableiten lassen. Eine etwas andere Möglichkeit besteht darin, das Fiktive – mit Wolfgang Iser gesprochen – weniger mit Blick auf das Reale als vielmehr auf das Imaginäre der höfischen Gesellschaft anzusehen. Erzählte Schriftstücke als fiktive Sprachzeichen verweisen von einem solchen Standpunkt aus nicht oder nicht allein auf reale, sondern auch auf imaginäre Signifikate. Iser zufolge werden reale Gegebenheiten, Gegenstände oder Handlungen (und damit auch reale Schreibakte und schrifttragende Artefakte), die in einem fiktionalen Text erscheinen, „nicht um ihrer selbst willen wiederholt“.¹ Der Text kann gar nicht anders, als einen Überschuss an Bedeutung zu generieren, der über das hinausgeht, was die Wirklichhkeit außerhalb des Textes bereithält. In diesem Überschuss scheint ein Imaginäres auf, das erst dadurch fassbar und diskutierbar wird, dass der Text es in Worte fasst.² Im höfischen Roman manifestieren sich Vorstellungen davon, was es heißt, sich als höfischer Herr und höfische Dame, als Herrscher und Gefolgsmann, als Geistlicher und Ritter, als Gelehrter und Krieger, als Autor und Leserin an der Erzeugung und Erhaltung einer Gemeinschaft zu beteiligen, die die Ideale und Normen, auf denen sie basiert, zu einem großen Teil aus ebensolchen Texten gewinnt und sie auch wieder an diese Texte zurückgibt. Im Erzählen definieren sich die Erzähler neu, in spielerischen Probehandlungen loten sie aus, „wer und was ein Ritter und eine Dame als Repräsentanten der höfischen Gesellschaft ‚eigentlich‘ sind“.³ Schreibend versorgen die höfischen Autoren eine Gemeinschaft mit Erzählungen, die gerade dabei ist, das für sie noch relativ neue Kommunikationsmedium Schrift in all seinen Facetten für sich zu entdecken. Indem die Dichter vom Lesen und Schreiben erzählen, reflektieren sie die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Kommunikation als Instrument zur Identitätsbildung, zur Ausübung von Dominanz und zur Stiftung von Gemeinschaft.

 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 20.  „So gewinnt der Akt des Fingierens seine Eigentümlichkeit dadurch, daß er die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und gerade in solcher Wiederholung das Imaginäre in eine Gestalt zieht“. Iser, Das Fiktive, S. 20.  Kraß, Geschriebene Kleider, S. 22. https://doi.org/10.1515/9783110689693-007

Dimensionen von Inschriftlichkeit

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Das Imaginäre der sozialen Interaktion gewinnt dabei häufig literarisch gebrochen oder überspitzend im Außeralltäglichen Gestalt – ebenso, wie die Autoren meist nicht von durchschnittlichen Pferden, mediokren Waffen und hinlänglich komfortablen Herrschersitzen sprechen, sondern von außergewöhnlich edlen, prächtigen und kostbaren Rössern, Schwertern und Palästen, kommen in höfischen Erzählungen über schriftliche Kommunikation oft Schriftstücke zum Einsatz, deren Inhalt, materiale Beschaffenheit und Gebrauch in irgendeiner Weise als extravagant markiert werden. Mit einer gewissen Vorliebe wird daher von Schreibtafeln aus Elfenbein erzählt, von edelsteinbesetzten Hundeleinen, nicht enden wollenden Epitaphien auf kostbaren Grabmälern, sakralen Gegenständen mit göttlichen Botschaften, vorsintflutlichen Marmorsäulen und magischen Amuletten.

Dimensionen von Inschriftlichkeit Systematisch miteinander vergleichen kann man diese fiktiven schrifttragenden Artefakte, indem man sie daraufhin untersucht, wie sich in ihnen jeweils verschiedene Dimensionen von Inschriftlichkeit entfalten. In meiner Studie habe ich mich auf die diskursive, die materiale, die interaktive und die poetologische Dimension konzentriert. In Zukunft könnte es sich aber lohnen, noch weitere Aspekte von Inschriftlichkeit für die Beschreibung intradiegetischer Schriftstücke nutzbar zu machen.

Die diskursive Dimension Die diskursive Dimension solcher Gegenstände zu untersuchen bedeutet, danach zu fragen, ob und wie die Erzählung Informationen über den Inhalt des erzählten Textes zur Verfügung stellt und welche Effekte die Darstellung zeitigt. Folgende Fragen haben sich bei der Analyse als hilfreich erwiesen: Erfährt man überhaupt etwas über den Inhalt einer bestimmten Inschrift? Welche Worte zum Beispiel auf dem Amulett stehen, das im Wigalois am Schwert des Protagonisten befestigt wird, bleibt völlig im Unklaren, und auch über den Inhalt der Zauberbücher und des Zettels in Savilons Ohr im Reinfried von Braunschweig kann man nur Vermutungen anstellen. Wie aber ist es zu interpretieren, wenn das diskursive Potenzial einer intradiegetischen Inschrift nicht explizit ausgeschöpft wird? Heißt das, dass ihm nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung zukommt (so wahrscheinlich im Fall von Wigalois’ Schriftamulett), oder soll der Mangel an Information dazu anregen, die Lücke durch eigene Spekulationen über mögliche Inhalte zu füllen (wie es im Reinfried geschieht)? Wenn andererseits etwas über den Inhalt der Inschrift gesagt wird, wie wird dieser Inhalt dann vermittelt – präsentieren der Erzähler oder eine intradiegetisch erzählende Figur den Wortlaut oder wird er paraphrasiert? Wenn der Wortlaut wiedergegeben wird, dann kann man darauf achten, wie der Erzähler ihn rahmt: ob er etwa die Autorschaft des oder der Schreibenden hervorhebt oder nicht. In Hartmanns Gregorius zum Beispiel werden beide Ergebnisse durch die Wahl spezifischer Inquit-Formeln (bzw. den

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6 Schluss

Mangel an Inquit-Formeln) erzielt, im Jüngeren Titurel macht der Erzähler zuweilen nicht deutlich, ob eine Gralinschrift von Gott, von einem Engel Gottes oder vom Gral selbst stammt, und im Wigalois bleibt die Autorschaft von Japhites Epitaph gänzlich ungeklärt. Auf diese Weise können unterschiedliche Effekte entstehen: Eine entpersonalisierende Wiedergabe der Inschrift kann eine schreibende Figur entlasten, sie kann dem Gesagten Autorität verleihen oder seinen Ursprung verrätseln – welche Wirkung erzielt wird, hängt vom Kontext ab, in dem die Inschrift steht.Weiterhin ist zu fragen, ob der Erzähler die Rezeption durch eine Rahmung des Wortlauts lenkt. Bewertet er die Aussagen, die die Inschrift macht, schließt er sich ihnen an oder widerspricht er? Weckt er Zweifel daran, dass der Text auch wirklich den Wortlaut der Inschrift enthält, indem er etwa, wie es im Wigalois oder im Reinfried geschieht, verwirrende Informationen über ihre sprachliche Gestalt liefert? Geht aus den Texten hervor, wo die Inschrift endet und die Rede des Erzählers beginnt? Und welcher Eindruck entsteht vom Urheber der Inschrift oder auch vom Erzähler, wenn die Grenzen nicht genau zu bestimmen sind – wie beispielsweise im Parzival, wo man nicht mit Sicherheit feststellen kann, worin genau der Inhalt des göttlichen Frageverbots nach Parzivals Ernennung zum Gralkönig besteht? Wenn wiederum der Erzähler den Inhalt einer Inschrift paraphrasiert, dann macht es einen Unterschied, ob das Publikum zu glauben angehalten ist, den genauen Inhalt erschließen zu können, oder ob der Erzähler durch Andeutungen einen größeren Vorstellungsraum eröffnet. Wie verhält sich die Schrift zu den mündlichen Reden der Figuren – nimmt sie Teile davon auf, und wenn das so ist, welche Teile wählt sie dann aus und warum? Oder erweist sich die schriftliche Rede gegenüber den mündlichen als relativ eigenständig? Welche Redeweisen zeichnen sich in der Inschrift selbst ab: Werden Sachverhalte beschrieben (z. B. im Gregorius die Umstände der Geburt des Kindes), werden Wünsche oder Anordnungen formuliert (z. B. im Reinfried Yrkanes Aufforderung an den Geliebten, zu ihr zurückzukehren), werden Zustandsveränderungen deklariert (z. B. im Parzival die Bestimmung des neuen Gralkönigs)? Markieren der Erzähler oder die Inschrift selbst Lücken in der schriftlichen Rede, weisen sie explizit oder implizit auf Informationen hin, die die Inschrift nicht enthält oder verschweigt (etwa den Namen des Landes, aus dem Gregorius stammt; Japhites ausdrücklichen Wunsch nach Wiedervereinigung mit ihrem Geliebten; den Autor des Buchs, das in Savilons Höhle angekettet ist; die Identität des Kriegers, der Elsam von Brabant beistehen soll)? Wie verhalten sich verschiedene intradiegetische Inschriften eines Romans inhaltlich zueinander? Und wie ist es zu deuten, wenn manche Bearbeiter der jeweiligen Vorlagen zwar von den bekannten Artefakten sprechen (von Gregorius’ Tafel, von Japhites Grab, vom Magnetberg, vom Gral), aber nicht von den darauf befindlichen Inschriften, wenn also von einem komplexen Gemisch aus diskursiven und materialen Komponenten einer Inschrift lediglich die materialen übrigbleiben?

Dimensionen von Inschriftlichkeit

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Die materiale Dimension Sowohl die inhaltliche als auch die materiale Dimension von Schrift betrifft die Frage, ob die Schrift stabil und lange haltbar von ihrem Textträger bewahrt wird oder ob sie nach einer gewissen Zeit durch menschliche oder göttliche Intervention wieder verschwindet (wie etwa die Inschrift auf dem Helm des persischen Herrschers im Reinfried bzw. die Gralinschriften oder die Schrift auf der Elfenbeintafel in manchen Fassungen der Gregoriuserzählung). Solche Inschriften verbinden die Dauerhaftigkeit von Schrift mit der Flüchtigkeit mündlicher Rede. Nicht immer wird die materiale Beschaffenheit schrifttragender Artefakte detailliert beschrieben. Wenn aber Informationen gegeben werden, dann deuten diese auffallend oft darauf hin, dass die Schriftstücke nicht nur hinsichtlich ihres Inhalts besonders sind, sondern dass auch ihre materiale Beschaffenheit sie aus der Menge alltäglicher Gebrauchsgegenstände hervorhebt. Häufig sind die Schriftträger aus heterogenen Materialien zusammengesetzt, sie sind bunt und vereinen verschiedene Einzelbestandteile und Formen zu einem Ganzen: so etwa die Tafel des Gregorius (Elfenbein, Edelsteine), das Grabmal der Japhite (Metalle, rote und blaue Edelsteine, grüner Marmor, goldener Ring), eigenhändig geschriebene oder diktierte Briefe mit angehängten Siegeln, die vorsintflutliche Säulenkonstruktion aus Marmor und Ziegelstein etc. Das bedeutet: Sobald die Materialität von höfischen Schriftträgern eine größere Rolle spielt, beginnen sie zu leuchten und zu schillern. Von diesen menschengemachten, zusammengesetzten Artefakten hebt sich der von Gott zur Verfügung gestellte Gral insofern auffällig ab, als er aus einem Stück gemacht ist. Kategorisieren kann man die Schriftträger auch danach, ob die Schrift auf ihren Untergrund aufgetragen oder eingegraben ist oder ob der Text gar keine Aussage darüber macht, wie es kommt, dass man die Buchstaben lesend vom Schriftträger unterscheiden kann (z. B. im Fall der Inschriften auf dem Gral). Wie haltbar ist das Artefakt? Ist es für die Ewigkeit gemacht oder überdauert es nur eine kurze Zeitspanne? Auch gilt es zu fragen, auf welche Weise es gehandhabt werden kann: Kann man es im Raum bewegen? Wie groß ist es in Relation zu den Lesenden? Wie leicht oder wie schwierig ist es, das Schriftstück zu verstecken, falls das notwendig ist (z. B. den kleinen Zettel in Savilons Ohr, die Elfenbeintafel, die nur heimlich gelesen wird oder die verschiedenen beschrifteten Ringe im Wigalois oder im Reinfried, die offen oder im Verborgenen getragen bzw. mitgeführt werden)? Können auch kleine, transportable Gegenstände sozusagen öffentlich wirken und kann man auch große, immobile Gegenstände verstecken? Wer hat das jeweilige Artefakt oder Ding hergestellt und woher kommt es? Für seine Dignität und Aussagekraft in einem je speziellen Kontext macht es durchaus einen Unterschied, ob der Gegenstand ursprünglich vom Himmel kommt und vor langer Zeit bei Jesu letztem Abendmahl verwendet wurde oder ob ihn ein ‚heidnischer‘ Herrscher hat herstellen lassen, ob Gregorius’ Mutter (in Hartmanns Gregorius) eine generische Elfenbeintafel benutzt oder (im französischen Grégoire) eine Tafel, die sie von ihrem Lehrer erhalten hat und die daher ein persönliches Besitztum darstellt, und ob in dem angeketteten Buch auf dem Magnetberg lediglich die Geschichte Savilons und Vergils aufgeschrieben ist oder ob Vergil zum Aufschreiben seiner Geschichte eines von Savilons Zauberbüchern

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benutzt und den Text darin ergänzt oder überschrieben hat. In einem erweiterten Sinn gehören zur materialen Dimension intradiegetischer Inschriften auch die Räume, in denen sie aufbewahrt werden (Kirchen oder ‚heidnische‘ Tempel, Kemenaten, Paläste, Klöster und Berghöhlen) sowie die Landschaften oder Erdteile, in denen sie sich befinden (auf einer Insel oder auf dem Festland, in Europa oder im östlichen Teil der Welt, im Zentrum eines Herrschaftsbereichs oder in der Peripherie, an einem öffentlich zugänglichen Ort oder in einer abgeschiedenen Einöde). Auf der Grenze zwischen der materialen Dimension von Inschriftlichkeit und der interaktiven Dimension bewegen sich Boten, die schrifttragende Artefakte von einer Figur zur anderen tragen oder auf andere Weise dafür sorgen, dass jemand ein Schriftstück erhält. Inwiefern materialisiert sich in ihren Körpern und Stimmen der Inhalt der Schrift, die sie übergeben? Verstärken Boten und Briefe einander? Unter welchen Umständen und mit welchen Folgen lassen sie sich voneinander trennen? Können sie einander auch widersprechen?

Die interaktive Dimension In Briefen und anderen überbrachten oder zu überbringenden schrifttragenden Artefakten geht die materiale in die interaktive Dimension von Inschriftlichkeit über. Wenn innerhalb einer erzählten Welt Schriftstücke existieren oder angefertigt werden, dann müssen sie zwar nicht unbedingt Kommunikations- und Interaktionsprozesse zwischen Figuren in Gang setzen, sie können es aber und tun es auch oft. Ein Bote, der ein Schriftstück überbringt, ist nicht ausschließlich darauf festgelegt, den Absender zu repräsentieren und ihn gleichsam zu verdoppeln. Der Abt im Gregorius etwa ist gleichzeitig der Empfänger einer Botschaft und ein Bote, der sie an eine andere Person weitergibt. Er hat durchaus seine eigenen Ansichten, was die Aufgabe angeht, mit der ihn die anonyme Absenderin der Tafel betraut hat. Doch nicht nur der Überbringer ist für die Rezeption von Inschriften von Bedeutung. An alle intradiegetischen Inschriften kann man dieselben Grundfragen stellen: Von welcher Figur oder welchen Figuren stammt die Schrift? Für wen ist sie gedacht und wer erhält und rezipiert sie tatsächlich? Wird ein bestimmter Rezeptionseffekt angestrebt und wird dieser auch erzielt? Inwiefern generiert die schriftsprachliche Interaktion Folgehandlungen? Wie verhält sich die schriftliche Interaktion zur mündlichen und zur nonverbalen Interaktion der Figuren? Wird in der Rezeption eher der Inhalt oder eher die Materialität des Textträgers beachtet oder erzählen die Texte, dass die handelnden Figuren beides miteinander in Verbindung bringen, um Botschaften zu übermitteln und zu entziffern? Wie lassen sich Sonderfälle beschreiben, in denen beispielsweise Figuren mit sich selbst kommunizieren (z. B. Reinfried und Yrkane bei der Anfertigung eines Schriftdokuments, das für einen späteren Zeitpunkt die ordnungsgemäße Zeugung des Thronfolgers festhalten soll) oder in denen eine Figur Kommunikation und Austausch gerade vermeiden will, sie durch die Herstellung eines schrifttragenden Artefakts aber riskiert (z. B. Savilon mit seinem Schriftstück, das die Geburt Christi verhindern soll)? Wenn ein Schriftstück im Handlungsverlauf mehrmals in irgendeiner Weise verwendet

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wird oder wenn mehrere verschiedene Schriftstücke nacheinander verwendet werden, erhält man in der Interpretation des Gesamttextes eine Möglichkeit, vom Syntagma aufs Paradigma durchzugreifen, indem man anhand der Schriftkommunikation gezielt beobachtet, wie sich verschiedene Figurenbeziehungen voneinander unterscheiden oder wie sich eine Figurenbeziehung im Verlauf der erzählten Zeit verändert. Indem man zu beschreiben versucht, wie Figuren in höfischen Erzählungen mithilfe von mehr oder weniger extravaganten Schriftstücken miteinander kommunizieren und dabei im engeren Sinn zugleich reden und handeln, kommt man topischen wie auch neuartigen Figurenkonstellationen auf die Spur. Auf einige Ergebnisse schriftlicher Interaktion in den erzählten Welten höfischer Romane werde ich gleich noch zurückkommen.

Die poetologische Dimension Um schließlich die poetologische Dimension von Inschriftlichkeit zu erfassen, kann man fragen, ob oder wie sich aus den diskursiven, den materialen und den interaktiven Aspekten der Inschriften, von denen in einem Roman erzählt wird, eine implizite theoretische Aussage des Autors über das Schreiben im Allgmeinen und über das Verfassen von höfischer Literatur im Medium der Schrift im Besonderen ableiten lässt. Zu diesem Zweck lohnt es sich, zunächst die Prologe und Epiloge sowie etwaige Überschriften und Erzählerexkurse anzusehen und zu untersuchen, wie die Autoren außerhalb der Handlung über höfische Formen des Lesens und Schreibens reflektieren. In einem zweiten Schritt kann man sich Gedanken darüber machen, ob sich die extradiegetischen Überlegungen zu Schrift, Schriftproduktion und Schriftrezeption plausibel mit den intradiegetischen in Verbindungen bringen lassen. Inwiefern ergänzen sich theoretische Überlegungen und konkrete Schriftphantasien innerhalb der Handlung? Entsprechen oder widersprechen sie einander? Sowohl extradiegetisch als auch intradiegetisch werden Akte des Schreibens und Lesens häufig durch Metaphern oder Metonymien veranschaulicht. Zu den wiederkehrenden Bildern gehört vor allem das der Erzählung als Produkt mühsamer, aber professionell und kompetent ausgeführter Handarbeit (z. B. im Wigalois und im Reinfried). An anderer Stelle wird die Erzählung mit einem Weg verglichen, den es zu beschreiten gilt (z. B. im Gregorius), oder mit einem Raum, der betreten werden kann (z. B. im Reinfried). Die Gralromane Parzival, Jüngerer Titurel und Lohengrin wiederum konstruieren unter anderem anhand eines schrifttragenden Artefakts ganze fiktive oder semi-fiktive Erzählwelten, in denen sich das belesene Publikum orientieren kann und soll, wobei es, wenn es die Aufforderung zu einer sorgfältigen Rezeption ernst nimmt, auf viel Bekanntes, aber auch auf die eine oder andere Überraschung stößt. Oft betont wird die Zusammengesetztheit, Heterogenität und Hybridität der Werke, die etwa im Gregorius, im Wigalois und im Reinfried als so facettenreich und vieldeutig präsentiert werden, dass sie einerseits ihrem Publikum vielfältige Möglichkeiten zur Unterhaltung und Belehrung bieten, andererseits aber auch von ihm verlangen, nacheinander oder gleichzeitig unterschiedliche Rezeptionsmodi zu erproben, um den Bedeutungsreichtum der je-

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weiligen Erzählung in Gänze erfassen und würdigen zu können. Häufig werden die Erzählungen weniger als inspiriert denn als artifiziell und als absichtsvoll und aufwändig ‚gemacht‘ ausgewiesen, ähnlich wie die in ihnen beschriebenen beschrifteten Elfenbeintafeln und Edelsteinsärge, Säulen, Bücher, Statuen und Ringe. Eine Ausnahme bilden wiederum die Gralromane. Sie inszenieren ein abweichendes Modell, indem sie ein schrifttragendes Artefakt in den Mittelpunkt stellen, das nicht von Menschenhand gemacht ist, sondern nur von Menschen gehütet, gepflegt und genutzt wird – genau wie die Geschichten, die davon erzählen. Auch dazu, mit welcher Haltung ein Roman von seinem Publikum rezipiert werden soll, äußern sich viele Texte sowohl explizit als auch implizit: in allen Fällen aufmerksam, zuweilen aber auch mit einer gewissen Experimentierfreude und geistigen Beweglichkeit, mit Andacht und Demut oder mit Wissbegier und Forschergeist.

Resultate inschriftlicher Kommunikation: Kontrolle und Kontrollverlust In allen untersuchten Texten werden Schreib- und Leseakte als soziale Handlungen geschildert, die den Handelnden häufig dazu dienen oder dienen sollen, ihr Verhältnis zur Welt zu klären und sich zu diesem Zweck in bestehende Ordnungen einzufügen oder neue Ordnungen herzustellen. Stets geht es um Kontrolle: Ein Mensch, der Inschriften in die Welt setzt, will kontrollieren, was man über ihn weiß und was man über ihn oder über andere Menschen denkt, er will andere Menschen dazu bringen, das zu tun oder zu unterlassen, was er für richtig hält, kurz: Er will schreibend seine Welt gestalten. Viele Erzählungen über das Anfertigen und Rezipieren von Inschriften handeln deshalb davon, welche Arten von Kontrollbestrebungen den schrifttragenden Artefakten abzulesen sind und ob die intradiegetischen Autoren ihre Ziele erreichen oder nicht. Zusammenfassend lassen sich die gewünschten Resultate inschriftlicher Kommunikation drei Typen zuordnen: Selbstkonstitution, Beziehungsund Gemeinschaftsbildung sowie Ausbildung oder Stabilisierung von hierarchischen Strukturen.

Selbstkonstitution In vielen höfischen Erzählungen schreiben und lesen Figuren Texte, um etwas über sich selbst herauszufinden oder, noch häufiger, um etwas über sich mitzuteilen. In Hartmanns Gregorius geschieht sogar beides mithilfe desselben Schriftstücks: Die Mutter legt ein – unvollständiges – Geständnis ab, in dem sie ihr Vergehen bekennt, sich aber auch gleichzeitig für ihre Leser als fürsorgliche und gottesfürchtige Mutter in Szene setzt. Ihr Sohn wiederum entnimmt der Tafel bei seinen wiederholten Lektüren stets neue Aspekte seiner Identität (die adlige Herkunft, die Verpflichtung gegenüber den sündhaften Eltern, die eigene Sündhaftigkeit, die Erwähltheit durch Gott). Gregorius wird bei der Ausbildung seiner Identität maßgeblich durch die Existenz der

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Tafel beeinflusst. Dass die Resultate der Lektüre grundsätzlich auch ganz anders ausfallen könnten, wird an der Reaktion des Abts sichtbar, der nicht einverstanden ist mit den Schlüssen, die Gegorius aus der Konfrontation mit dem Schriftstück ableitet. Was hingegen Wigalois mit der Anbringung der Grabinschrift auf Japhites Sarg beabsichtigt und ob er damit Erfolg hat, erfährt das Publikum nicht – es kann sich nicht einmal sicher sein, wie groß Wigalois’ Anteil an dem Epitaph überhaupt ist. Auffällig ist jedoch, dass dieses nicht ausschließlich über die Verstorbene spricht, sondern auch über den, der ihren Tod indirekt verursacht hat, und ihm die Position eines Siegers zuschreibt. Auf diese Weise wird – offenbar zumindest mit Wigalois’ Zustimmung – dessen neue Position als Herrscher von Korntin im Tempel der ‚Heiden‘ verewigt. Noch deutlicher wird die Selbstbeschreibungsfunktion von Schriftnachrichten im Wigalois an dem beschrifteten Ring, den Florie ihrem Ehemann und ihrem Sohn schickt und anhand dessen inhaltlicher und materialer Dimension sie sich selbst zu einem nutzlosen Schmuckstück erklärt. Auch im Reinfried von Braunschweig arbeiten verschiedene Figuren daran, mittels schriftlicher Botschaften einen bestimmten Eindruck von sich zu erwecken. Der namenlose Rivale des Protagonisten zum Beispiel möchte mithilfe höflicher Briefe trotz seiner Vergehen als unschuldiger und ehrenhafter Mann gelten, während sich Vergil als würdiger Nachfolger und Erbe des Magiers Savilons stilisiert, indem er schriftlich die eigene Ähnlichkeit mit dem bewunderten Vorgänger hervorhebt. In den Gralromanen schließlich wird Identität weniger im Schreiben als im Lesen hergestellt: Was Gott über sich selbst denkt, geht aus seinen Nachrichten nicht hervor, während seine den Gral behütenden Diener einen großen Teil ihres Selbstverständnisses daraus gewinnen, dass sie den göttlichen Befehlen und Erklärungen auf dem Gral fraglos Folge leisten. Wer dies nicht tut, wie beispielsweise Anfortas, der verliert jeglichen festen Halt im Leben und muss so lange auf seine Rehabilitation warten, bis es eine neue, erlösende Botschaft zu lesen gibt. In all diesen Texten schreiben und lesen Figuren, um sich darüber klar zu werden und nach außen zu kommunizieren, wer sie sind und welche Position sie in der Gemeinschaft einnehmen können, wollen oder sollen, in die sie eingebettet sind oder zu der sie Zugang finden möchten.

Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung Eine Chance und ein Risiko solcher Identitätsfindungsprozesse im Medium der Schrift besteht darin, dass die Schreibenden stets mit einem Publikum rechnen dürfen und auch rechnen müssen. Wer in höfischen Erzählungen Inschriften anfertigt oder in Auftrag gibt, der tut dies selten für sich allein. Auch Identitätsbehauptungen oder -zuschreibungen bedürfen schließlich eines Gegenübers, das die Ausführungen des Sprechers zur Kenntnis nimmt, selbst wenn es sich bei diesem Gegenüber um den Autor als ersten Leser seines eigenen Textes handelt, der in Distanz zum schreibenden Ich tritt oder es versucht. Dieser Beobachtung widersprechen auch nicht jene Fälle, in denen ein intradiegetischer Autor wie Savilon im Reinfried gar nicht will, dass sein Schriftstück entdeckt und die Schrift darauf gelesen wird. Im Gegenteil – die Errich-

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tung dieses Tabus verlangt geradezu danach, dass das schrifttragende Artefakt im Verlauf der Erzählung gegen den Willen seines Produzenten in fremde Hände gelangt. Alle intradiegetischen Inschriften ermöglichen zumindest potenziell Interaktion und Austausch und daher auch die Ausbildung von Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Personen innerhalb der erzählten Welt. Sie stiften Gemeinschaft zwischen dem Autor und dem Leser oder auch zwischen verschiedenen Lesern, indem sie Gemeinsamkeiten hervorheben, beispielsweise zwischen Verwandten, Liebenden, Glaubensgenossen und Verbündeten oder potenziell Verbündeten etc. Im Gregorius schenkt die Tafel der Mutter dem jungen Mann, der seine Pflegefamilie verloren hat, eine neue Familie, wenn auch vorerst nur sozusagen ‚auf dem Papier‘. In dem mit einem Siegel des Vaters versehenen Brief, den Wigalois an ebendiesen Vater sendet, macht der Absender die Familienbande zwischen den beiden geltend, um den Angesprochenen zur Unterstützung zu bewegen. Der Gral wiederum erzeugt eine stetige Erweiterung der Gralsippe, indem er Hochzeiten anordnet. Liebende Protagonistinnen und Protagonisten versichern sich sowohl im Wigalois als auch im Reinfried wechselseitig ihrer Gefühle, indem sie darüber schreiben, während die Liebe zwischen Japhite und Roaz von anderen im Rückblick mithilfe einer Inschrift beschrieben wird. Doch nicht nur Einzelpersonen werden adressiert: Japhites Epitaph spricht die Gemeinschaft aller Christenmenschen an, die für die verstorbene Frau beten sollen; die schriftlichen Botschaften auf dem Gral richten sich an die Gruppe der Gralhüter; und Herkules und die Nachkommen Adams wenden sich im Reinfried mit ihren beschrifteten Säulen sogar an die gesamte Menschheit. Reaktionen auf die Existenz von schrifttragenden Artefakten können auch militärische Allianzen erzeugen, etwa die zwischen Wigalois und Japhites Brüdern, zwischen Reinfried und dem Herrscher von Persien, zwischen den europäischen Gralhütern und dem Priesterkönig Johan oder zwischen Lohengrin, Elsam von Brabant und Kaiser Heinrich. Schreibend und auf Schriften reagierend finden all diese Figuren zusammen oder werden dazu angehalten, weil die Inschriften die am Kommunikationsprozess Beteiligten inhaltlich und material dazu auffordern, sich als Teile eines größeren Ganzen zu betrachten (d. h. einer Familie, eines Liebespaares, einer Glaubensgemeinschaft, einer militärischen oder freundschaftlichen Allianz, der Gesamtheit aller Menschen etc.).

Ausbildung und Stabilisierung hierarchischer Strukturen Die erzielte Gemeinschaftlichkeit wird zum einen durch vielfältige Exklusionspraktiken erreicht und setzt zum anderen selten auf soziale Symmetrie. Indem man die Beziehungen genauer untersucht, die durch die Produktion und Rezeption von Inschriften entstehen (oder umgekehrt: zerstört werden), kommt man Bestrebungen der höfischen Literatur auf die Spur, erzählend bestehende hierarchische Strukturen und Dominanzverhältnisse zu affirmieren oder aber sie komplexer zu denken, zu hinterfragen und zu verwerfen und an ihrer Stelle neue Modelle zu entwickeln. Im Gregorius versucht die Elterngeneration bei zwei Gelegenheiten, ihre Nachkommen durch mündliche bzw. schriftliche Anweisungen zu einem bestimmten Verhalten zu bewe-

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gen; beide Male schlagen die Kontrollversuche der Eltern fehl. Am Ende wird der Spieß umgedreht: Nun übernimmt der durch eine Schreibtafel belehrte Gregorius die Rolle eines geistlichen Vaters, der seine eigene Mutter mündlich belehrt und tröstet. Auch im Wigalois übernimmt die Generation der Kinder das Steuer, nachdem der Vater des Potagonisten brieflich in den Dienst seines Sohnes gestellt wurde und die Mutter sich ebenfalls brieflich für immer verabschiedet hat. Adams Nachkommen im Reinfried weigern sich nach der Sintflut, sich an die schriftlich fixierten Weisungen der Vorväter zu halten. Der Gelehrte Vergil wiederum verfolgt den älteren Zauberer Savilon, verursacht seinen Tod und nimmt seine Stelle als nekromantischer Experte ein, ebenso wie Parzival durch seine Ernennung mittels Gralinschrift seinen Onkel Anfortas ersetzt. Im Lohengrin erscheint die entscheidende Schrift auf dem Gral erst, als sich nicht erwachsene Männer und Frauen, sondern Kinder darum bemühen, später ist es dann eine Jugendliche, die als einzige der anwesenden Personen die Gralinschrift deuten kann. Während die Generationenfrage in all diesen Fällen zugunsten der Nachkommen entschieden wird, werden Konflikte zwischen den Geschlechtern häufig im Sinne männlicher Schreiber und Leser gelöst: Im Wigalois werden mehrere Frauen nach der Beschriftung von Japhites Sarg mit Schriften versehen, eingeschlossen und wie Schmuckstücke behandelt und im Reinfried können die Briefe einer Frau den angesprochenen Mann nur in Verbindung mit Botschaften von anderen Männern zum Handeln bewegen. Zudem kann Yrkane nicht eigenständig ein Dokument anfertigen, das die rechtmäßige Zeugung des Erben bestätigt, sondern benötigt dafür ihren Ehemann. Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben kann jedoch auch Handlungsspielräume für weibliche Figuren eröffnen und verleiht ihnen zuweilen sogar Überlegenheit: Gregorius’ Mutter nimmt schreibend entscheidenden Einfluss auf das Leben ihres Sohnes, die nachsintflutlichen Frauen missbrauchen eigenwillig schriftlich konservierte Informationen und Lohengrins Schwester deutet eine Gralinschrift, die für die berühmten männlichen Mitglieder der Gralgesellschaft rätselhaft bleibt. Mal erweisen sich die Männer den Frauen als unterlegen, mal verhält es sich umgekehrt – ganz auf Augenhöhe aber bewegen sich die männlichen und weiblichen Figuren in den hier untersuchten Texten letztlich nie. Eindeutiger fällt die Tendenz bei ständischen und religiösen Differenzen aus: Ständisch hochstehende Persönlichkeiten schreiben anders als solche, die ständisch unterlegen sind und können auch andere Reaktionen erwarten, wie etwa der Briefwechsel zwischen König Fontanagris und dem namenlosen Ritter im Reinfried oder auch Wigalois’ Deutungshoheit bei der Darstellung der vorangegangenen Ereignisse in Japhites Epitaph demonstrieren. Dass das Christentum in jedem Fall dem ‚Heidentum‘ überlegen ist, wird im Reinfried an der Zerstörung der Devise auf dem Helm des Herrschers von Persien erkennbar, im Wigalois an der Aufforderung zur Fürbitte für Japhites Seele und im Parzival an der Tatsache, dass Feirefiz sich erst taufen lassen muss, bevor er den Gral sehen darf, während wiederum Flegetanis zwar über den Gral in den Sternen lesen, aber nicht die volle Bedeutung des Gelesenen begreifen kann. Die radikalste aller Asymmetrien, die in Prozessen schriftlicher Kommunikation sichtbar und festgeschrieben werden, kennzeichnet das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen. Im Gregorius signa-

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lisiert Gott durch das Tafelwunder, dass der Protagonist an seiner Gnade partizipiert, im Wigalois wird Gottes Allmacht in Japhites Grabinschrift festgehalten, im Reinfried versucht ein Mensch, Gott mithilfe eines schrifttragenden Artefakts zu kontrollieren, scheitert aber, und im Parzival, im Jüngeren Titurel und im Lohengrin entscheidet Gott ganz allein, wie die von ihm angeschriebenen Menschen sich zu verhalten haben und was mit ihnen geschieht, wenn sie seinem Willen zuwiderhandeln. Was sich an all diesen asymmetrischen Beziehungen generalisierend beobachten lässt: Wer schreibt, besitzt Autorität, und wer Autorität besitzt, erhält vermehrt Gelegenheit zum Schreiben. Außer im Fall göttlicher Inschriften jedoch befindet sich die größte Macht immer bei den intradiegetischen Rezipientinnen und Rezipienten, die sich die Schriftstücke und Inschriften interpretierend aneignen und damit machen, was ihnen gefällt.

Ausblick In meiner Studie habe ich einen Blick auf die diskursiven, materialen, interaktiven und poetologischen Dimensionen von Inschriften in höfischen Romanen des deutschsprachigen Hochmittelalters geworfen und aus meinen Beobachtungen einige Aussagen darüber abgeleitet, wie die Autoren dieser Texte anhand intradiegetischer schrifttragender Artefakte Phantasien über Kontrolle, Hierarchie und Herrschaft entwickeln. Diese Perspektive ließe sich mühelos erweitern, indem man weitere höfische Texte in die Untersuchung einbezieht, indem man Erzählungen aus anderen Gattungen hinzunimmt oder indem man sich nicht auf die deutsche Literatur beschränkt, sondern systematische Vergleiche zu französischen, englischen, nordischen, arabischen oder hebräischen Erzählungen etc. zieht. Eine andere Möglichkeit zur weiteren Arbeit am Themenkomplex ‚Inschriftlichkeit‘ besteht darin, die mittelalterlichen Erzählungen mit Texten anderer Epochen zu vergleichen. Ein größer angelegter diachroner Vergleich würde es möglich machen, verstärkt historischen Wandel zu erfassen und zu deuten. Noch immer steht ja die Annahme im Raum, dass Schrift und schriftliche Texte in der Kultur des Mittelalters viel stärker auratisch aufgeladen sind als in einer Zeit, in der die meisten Menschen sehr häufig und mit großer Selbstverständlichkeit selbst schreiben oder lesen, und dass sich diese spezifisch mittelalterliche Sichtweise im höfischen Roman mit seinen außergewöhnlichen Schriftphantasmen niederschlägt. Von einem modernen Standpunkt aus stellt sich das Interesse mittelalterlicher Autoren an der Hervorhebung der materialen Komponenten von Textualität oft als spezifisch vormodernes Manko dar, als Defizit einer Gesellschaft, die mit Schrift und Schriftlichkeit noch wenig vertraut ist und sich von Phänomenen der Sinnlichkeit schrifttragender Artefakte faszinieren lässt, statt sich – wie es später üblich wird – ausschließlich mit den rein intellektuell und durch hermeneutische Bemühungen erfassbaren, diskursiven Inhalten von schriftlichen Texten zu beschäftigen. Ludger Lieb beispielsweise stellt fest, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft, die noch keine massenhafte Vervielfältigung und Standardisierung von schriftlichen Texten kannte, „die Verbindung von Material und Text tendenziell noch intensiver war

Ausblick

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und die hermeneutische Bewegung des entmaterialisierten Lesens (von Schrift zu Text und Sinn) noch nicht so dominierte“.⁴ Dazu kann man zwei Fragen stellen: Lassen sich die Geschichten, die die höfischen Romane über komplexe materiale Schriften erzählen, mit dem im Mittelalter verbreiteten Interesse an der Aura und Materialität von Schrift erklären? Und spielt die Materialität von Schrift in der Moderne wirklich eine so viel geringere Rolle als im Mittelalter? Bei aller Bedeutung der heiligen Schrift und der Rarität schriftlicher Texte überhaupt muss man sicher, was den Umgang mit und den Blick auf Schrift und Schriftlichkeit betrifft, zwischen der lateinischen und der volkssprachlichen Kultur unterscheiden – es ist zumindest zu vermuten, dass ein Gelehrter wie Thomas von Aquin sich beim Lesen oder Verfassen eines scholastischen Traktats gewöhnlich nicht lange mit der Materialität des Textträgers aufhielt und dass er mit einer ‚entmaterialisierten‘ Lektüre keine großen Schwierigkeiten hatte. Allerdings verschiebt sich durch diese kleine Differenzierung die Ausgangsfrage nur: Warum thematisieren höfische, in einer Volkssprache dichtende Autoren – im Vergleich zu vielen ihrer auf Latein schreibenden Kollegen – die Materialität von Schrift so häufig und so ausgiebig in ihren Erzählungen? Dass man von Herrschaft und Kontrollverlust in deutscher Sprache auch erzählen kann, ohne intradiegetische Schriftstücke zu bemühen, zeigen heldenepische Texte wie das Nibelungenlied. Die Tatsache, dass dieses sich einem Erzählen von Inschriften geradezu verweigert, ist sicher nicht damit zu erklären, dass es noch einer oralen Kultur verhaftet sei. Ganz im Gegenteil präsentiert das Epos vielmehr im Rückgriff auf die mündliche Tradition und in Kenntnis der bereits bestehenden höfischen Literatur einen programmatischen Gegenentwurf zum höfischen Roman. Warum aber kommen dort so viele Inschriften vor? Vielleicht gibt es auf diese Frage mehr als nur eine einzige Antwort. Die komplexe materiale Beschaffenheit von Artefakten tritt oft dort hervor, wo Dichter ihr Können anhand von descriptiones unter Beweis stellen. Dass wiederum schrifttragende Artefakte beschrieben werden und nicht nur Kleidungsstücke, Bauwerke oder Rüstungen, ist häufig in solchen Texten der Fall, die ihre Verortung in einer schriftlichen Tradition betonen und die ihre eigene Entstehung im Medium der Schrift reflektieren. Materiale Inschriften werden auf diese Weise im höfischen Roman zum Kristallisationspunkt einer neuen Art des Erzählens und Dichtens. Das Interesse an der Gegenständlichkeit von Schrift wäre dann weniger der allgemeinen mittelalterlichen Verzauberung durch das neue Medium geschuldet als – etwas spezifischer – den Erfordernissen und dem Erkenntnisinteresse einer neuen Gattung. Was aber wird aus diesem höfischen Interesse, wenn die höfische Literatur verschwindet? Peter Strohschneider zufolge gibt es in den vormodernen höfischen Textkulturen etwas, „was in unserer eigenen Kultur allein noch in frömmigkeitspraktischen Residuen, als triviale Alltagsannahme oder als bornierte kulturindustrielle Depravation begegnet, demnach so oder so in spezifischen gesellschaftlichen

 Lieb, Spuren, S. 3.

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Subsystemen eingekapselt bleibt und ernsthafter Reflexion nicht standzuhalten vermag“.⁵ Wenn man diesen Standpunkt teilt, dann ist man sicher nicht verwundert, Phänomene von ‚blockierter‘ oder ‚übersprungener Textualität‘ in zahlreichen modernen Erzählungen vorzufinden, die sich den populären Gattungen ‚Fantasy‘, ‚Historischer Roman‘ oder ‚Märchen‘ zurechnen lassen. Man denke nur an die magischen Bücher in Michael Endes Unendlicher Geschichte oder in Cornelia Funkes Tintenherz, an den papierenen Schattenkönig in Walter Moers’ Stadt der träumenden Bücher oder an die vielen zauberkräftigen Schreibgeräte in J. K. Rowlings Harry Potter-Reihe. Würde man aber all diesen Erzählungen und daneben auch William Goldmans Princess Bride oder Ludwig Tiecks Runenberg unterstellen, ernsthafter Reflexion nicht standhalten zu können? Und was ist dann mit Werken der sogenannten Hochliteratur, die von mehr oder weniger extravaganten Schriftträgern und ihren Inhalten und Bedeutungen erzählen, etwa Jean Pauls Leben Fibels, Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter, Franz Kafkas In der Strafkolonie, Elias Canettis Die Blendung oder Arno Schmidts Zettel’s Traum? Möglicherweise sitzen wir bei unseren Beschreibungen der höfischen Textkultur einem Narrativ der Moderne auf, das von unserem Zeitalter behauptet, über die Materialität von Schrift erhaben und sozusagen ‚hinaus‘ zu sein. Von modernen Lesern verlangt dieses Narrativ, über Schrift nicht zu staunen und beim Lesen und Schreiben lediglich den Geist zu bemühen, keinesfalls aber den Körper. Nicht zu leugnen ist, dass die meisten Menschen im heutigen deutschsprachigen Raum nicht nur lesen und schreiben können, sondern dies auch ausgiebig tun. Dass sich Schreib- und Leseprozesse zunehmend im digitalen Bereich abspielen, hat zur Verfestigung der Vorstellung von der ‚Körperlosigkeit‘ der Schrift sicherlich beigetragen. Empirisch lässt sich jedoch auch feststellen, dass es nach wie vor einen Unterschied macht, ob man bei der Lektüre eines Romans ein gelbes Reclam-Bändchen für 12,80 Euro in der Hand hält oder ein Buch mit festem Einband, Goldschnitt und aufwändigen Illustrationen – vielleicht auch eine Erstausgabe, vielleicht sogar eine vom Autor selbst handschriftlich signierte Erstausgabe; ob wir bei einem Hochzeitsgottesdienst den Text eines Kirchenliedes von einem kopierten Zettel ablesen oder aus einem gebundenen Gesangbuch; ob wir die Seminarlektüre auf einem teuren und ästhetisch ansprechenden elektronischen Gerät lesen, auf einem Tablet unbekannter Marke aus dem Supermarkt oder in ausgedruckter Form; ob wir in unseren Arbeitsdokumenten elektronische Markierungen und Kommentare anbringen oder handschriftliche; ob wir jemandem eine elektronische Grußkarte zum Geburtstag schicken oder eine auf Papier, ob die Papierkarte handgeschrieben oder nur unterschrieben ist, ob sie selbstgebastelt ist oder im Laden gekauft wurde usw. Die Rezeption der Inhalte schriftlicher Texte wie auch ihre Produktion lässt sich auch in der Moderne von ihren materialen Aspekten nicht vollständig lösen. Vielleicht gehen die mittelalterlichen höfischen Dichter in dieser Hinsicht einfach etwas direkter und offener vor als moderne Autoren, wenn sie

 Strohschneider, Sternenschrift, S. 57.

Ausblick

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verschiedene mögliche Zusammenhänge zwischen den diskursiven und den materialen Aspekten von Schrift benennen und sie dazu nutzen, den Handlungsverlauf ihrer Erzählungen voranzutreiben oder ihn zu unterbrechen. Zweifellos haben sich die Bedingungen, unter denen Autoren Texte verfassen, in den letzten 800 Jahren in vielerlei Hinsicht grundlegend verändert. Man kann aber darüber nachdenken, ob es möglich ist, den bei der Deutung mittelalterlicher Texte geschärften Blick für die verschiedenen Dimensionen intradiegetischer Inschriften auch auf moderne Texte zu richten und vergleichend danach zu fragen, worin sich mittelalterliche und moderne Schreibweisen ähneln, worin sie sich unterscheiden und wie diese Unterschiede zu erklären sind. In diesem Fall wäre nicht nur für die Erforschung mittelalterlicher Literatur etwas gewonnen, sondern auch für unsere Wahrnehmung aktueller Texte, Diskurse und Lebensweisen.

Abkürzungsverzeichnis ABäG DVjs G GRM HZ IASL JT L LwJb Mlat. Jb. MLR VL

P PBB R W WW ZfdA ZfdPh ZGerm ZWLG

Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Hartmann von Auge: Gregorius (Paul/Wachinger) Germanisch-Romanische Monatsschrift Historische Zeitschrift Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Albrecht: Der Jüngere Titurel (Wolf/Nyholm) Lohengrin (Cramer) Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Mittelleinisches Jahrbuch The Modern Language Review Die deutsche Literatur des Mittelalters/Verfasserlexikon. Hg. von Wolfgang Stammler, Karl Langosch, Kurt Ruh und Burghart Wachinger. 2. Aufl., 14 Bände. Berlin, New York 1978 – 2008. Wolfram von Eschenbach: Parzival (Lachmann) Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Reinfried von Braunschweig (Bartsch) Wirnt von Grafenberg: Wigalois (Kapteyn/Seelbach/Seelbach) Wirkendes Wort Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Germanistik Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte

https://doi.org/10.1515/9783110689693-008

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Forschung

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Forschung

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Forschung

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Index Albrecht 20 f., 251 – 254, 257, 260 f., 263 f., 268, 272 – 274, 279 f., 284 – 287, 290, 292 – 295, 304 – 307, 312, 316, 319, 321, 323 – 325, 329 – 332, 338, 340 – Der jüngere Titurel 3, 8, 20 – 22, 133, 239 f., 243, 251 – 254, 257, 261, 268 – 275, 279 f., 284 – 290, 292 – 295, 298, 300, 303 – 308, 312, 314, 316, 318, 320 – 325, 329 – 332, 337 f., 342, 345, 350 Alkuin 239 Arnold von Lübeck 28, 82 – 87, 93 – 95 – Gesta Gregorii Peccatoris 28, 82 – 86, 93 Augustinus von Hippo 234, 296 – Confessiones 296 Bamberger Legendar Brandan 8, 234

89

Chrétien de Troyes 177 f., 252, 276 f., 279, 290, 309, 321, 326 f. – Erec et Enide 178 – Perceval ou li contes dou graal 276 f., 321, 326 Christine de Pizan 239 Cicero (Marcus Tullius Cicero), Laelius de amicitia 118 Dante Alighieri, La Divina Commedia 232 Das Spital von Jerusalem 102 Decretum Gratiani 53 De Gregorio 91 Der Heiligen Leben 45, 89 f., 102 Der rote Mund 135 f. Der Stricker 101, 258, 309 – Daniel von dem blühenden Tal 309 f. – Karl der Große 101, 258 Der Zwickauer 60 – Des Mönchs Not 59 f. Dietrich von Apolda, Vita der heiligen Elisabeth 333 Dietrich von Hopfgarten, Wigelis 158 Erweiterte Christherre-Chronik Fortunatus 7 Freidank, Bescheidenheit

203, 207

176

https://doi.org/10.1515/9783110689693-010

Friedrich von Schwaben 233 Frühmittelhochdeutsche Genesis

227 f.

Gesta Romanorum 33, 90 f., 97 Gottfried von Straßburg 7, 48, 144, 162, 164 – 166, 173, 248 – Tristan 7, 48 – 50, 136, 144, 164 Gregorius de grote sunder 92 Gregorius Peccator 86 – 88 Haimo von Auxerre, Commentarium in Cantica Canticorum 134 Hartmann von Aue 7, 20 – 24, 27, 30, 33, 35 f., 40 f., 43, 46, 48 – 50, 55, 59 f., 62, 66 f., 72 – 78, 80 – 87, 89 f., 93 – 94, 96 – 104, 116, 120, 144, 158, 161 f., 164 – 167, 169, 171 – 173, 175, 177, 180, 207, 233, 237 f., 248, 251, 314 – 317, 340 f., 343, 346 – Der arme Heinrich 60, 120, 161, 175, 177 – Erec 30, 62, 94, 116, 173, 178, 320 – Gregorius 7, 20 – 24, 27, 29 – 36, 38, 40, 43 f., 48 – 50, 52 f., 55, 58 – 60, 64, 66, 68 – 73, 75 f., 81, 86, 89 f., 92 f., 95, 97 f., 100 – 105, 120, 158, 177, 180, 208, 235, 238, 251, 267, 274, 314 – 316, 320, 335, 341 – 346, 348 f. – Iwein 94, 144, 147, 161, 164, 169, 173, 175, 207, 237 – Klagebüchlein 94 Haut livre dou Graal 277 Heinrich der Teichner 58 Heinrich Seuse 14 Heinrich von dem Türlin 135, 173, 321 – Die Krone 173, 321 Heinrich von Kröllwitz, Vater unser 134 f. Heinrich von Morungen 14 Heinrich von Mügeln 134, 203 f., 207 Heinrich von München, Weltchronik 203 Heinrich von Neustadt, Apollonius von Tyrland 2 f. Heinrich von Veldeke 2, 135, 137 f., 140, 156, 239, 278 – Eneasroman 2, 137 – 139, 149, 156, 239, 278 f. Hermann von Sachsenheim 239 Herzog Ernst 139, 191 f., 234, 316

Index

Horaz (Quintus Horatius Flaccus), Ars Poetica 230 Jacobus de Voragine, Legenda Aurea 255, 257 Jans Enikel, Weltchronik 258 Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich 7 John of Salesbury, Metalogicon 110 Juan de Timoneda, Patroñuelo 44 Kafka, Franz 198, 352 – Das Schweigen der Sirenen 198 Kaiserchronik 258 Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur 132 Konrad von Megenberg, Buch der Natur 228 Konrad von Würzburg 3, 102, 218, 251, 267, 322 – Alexius 102 – Der Schwanritter 218, 267, 322 – Der Trojanerkrieg 3, 251 La Vie du Pape Saint Grégoire 28, 33, 72 – 82, 87, 90, 92, 206, 315, 343 Lohengrin 20 – 22, 251 f., 254, 258, 260, 263 f., 268 – 271, 274 f., 279 f., 282 – 284, 288 f., 291 f., 294 f., 298 – 302, 308, 310 – 312, 314, 318 f., 321 f., 325, 331 – 334, 336, 338, 345, 349 f. Lucidarius 228 f. Magnum Legendarium Austriacum 40 Mann, Thomas, Der Erwählte 28 Meisterlied im Langen Ton Heinrichs von Mügeln 203 f., 207 Nibelungenlied

30, 48, 167, 214, 320, 351

Otte, Eraclius 259, 275 Ovid (Publius Ovidius Naso) – Heroides 224 – Tristien 162

87, 162, 224

Presbyterbrief 240, 306 – 308 Prosa-Lancelot 8, 173, 251 f., 290, 321 Prudentius (Aurelius Prudentius Clemens) – Queste del Saint Graal 277 Rappoltsteiner Parzifal 321 Rätselspiel (Wartburgkrieg) 289, 311, 331

239

379

Reinbot von Durne 257 f. – Der heilige Georg 209, 257 f., 260 Reinfried von Braunschweig 9, 20 – 22, 180, 183 – 186, 191, 194, 198, 200, 202 – 204, 207 – 209, 214, 219 – 223, 225, 228 – 232, 234 f., 237 f., 240 f., 243 f., 246 – 248, 250 f., 257 f., 274, 307, 314, 316, 320, 333, 335, 341 – 343, 345, 347 – 350 Rheinisches Marienlob 134 Robert de Boron 258, 276 f., 279, 321 – Estoire dou Graal 276 f., – Merlin 258 Roman d’Eneas 137 Rudolf von Ems 165, 227 – Weltchronik 227 – Willehalm von Orlens 165 St. Trudperter Hohelied 134 Statius (Publius Papinius Statius), Achilleis 196, 245 Strabon, Geographica 232 Straßburger Alexander 81, 234 Thüring von Ringoltingen – Melusine 3, 8 Trierer Ägidius 101 Ulrich Füetrer, Wigoleis

3, 201

158 f.

Vergil (Publius Vergilius Maro) 209 – Aeneis 202, 207 – Bucolica 202 – Georgica 202 Vita Adae et Evae 40 f. Vorauer Bücher Mosis 134

202 f., 207 –

Wallersteiner Margarethe 93 Wartburgkrieg 203 f., 289, 331 – 333 Widuwilt 143, 158 f., 316 Wigoleis vom Rade 159 f. Wirnt von Grafenberg 20 f., 106, 112, 114, 116, 118, 122, 131, 137 f., 141, 143 f., 151, 158, 160 – 173, 175 – 179, 237 – 239, 251, 317, 340 – Wigalois 20 – 22, 106, 110, 112, 114, 120, 123 – 125, 128, 131, 135 – 143, 145 – 147, 149, 158, 160 – 163, 165 f., 168, 172 – 175, 178, 180 f., 237 f., 251, 274, 316 f., 320, 341 – 343, 345, 347 – 350

380

Index

Wolfdietrich A 58 Wolfram von Eschenbach 3, 7, 9, 20 f., 30, 48, 62, 107, 112, 114, 116, 123, 135, 140, 162, 165 – 167, 171 – 173, 177, 184, 209, 221, 228, 237, 246, 248, 251 – 254, 260 f., 263 f., 267 – 269, 271, 273 f., 276 – 279, 281, 283 – 285, 288, 290 f., 294 f., 298, 301 – 304, 306 – 311, 317 – 335, 338, 340 – Parzival 3, 8 f., 20 – 22, 30, 46, 48 – 50, 62, 107, 112, 114, 116, 123, 131, 140 f., 149, 167,

173, 177, 184, 221, 228 f., 235, 240, 242, 251 – 253, 261, 263, 265 – 267, 269 – 271, 273 – 275, 277 f., 280, 283 – 285, 289 – 292, 294 f., 297 f., 300 f., 303 f., 306 – 309, 314, 317 – 322, 324 f., 327 – 331, 333 – 338, 342, 345, 349 f. – Titurel 3, 7 f., 251 f., 285, 319 – 323, 331, 337 – Willehalm 140, 209, 318, 320 f., 324 Zabulons Buch (Wartburgkrieg)

203 f., 316