Inklusion und Fremdheit: Abschied von einer pädagogischen Leitideologie 9783839442883

Inclusion as an ideology? This book shows the downsides of the idea of educational inclusion and opens the debate about

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Inklusion und Fremdheit: Abschied von einer pädagogischen Leitideologie
 9783839442883

Table of contents :
Inhalt
1. Einführung
2. Der pädagogische Inklusionsbegriff
3. Der pädagogische Diskurs um Heterogenität und Fremdheit
4. Radikale Fremdheit und der Ordnungsbegriff bei Waldenfels: Kritik an der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung
5. Fremderfahrung im Kontext von Behinderung: Kritik an der inklusionspädagogischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“
6. Resümee und Ausblick
Literatur
Danksagung

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Philipp Singer Inklusion und Fremdheit

Pädagogik

Philipp Singer (Dr. phil.), geb. 1982, promovierte als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. 2016 erhielt er den »Preis für gute Lehre an den staatlichen Universitäten in Bayern«. Der Diplom- und Sonderpädagoge arbeitet an einer Förderschule in Regensburg.

Philipp Singer

Inklusion und Fremdheit Abschied von einer pädagogischen Leitideologie

Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Würzburg im Jahr 2017 als Dissertation angenommen.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4288-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4288-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Einführung | 9

1.1 1.2 1.3 1.4

Entwicklung der Fragestellungen der Arbeit | 9 Begründung der Fragestellungen und methodisches Vorgehen | 18 Thesen der Arbeit | 25 Aufbau der Arbeit | 32

2

Der pädagogische Inklusionsbegriff | 41

2.1

Problemfelder des (sonder-)pädagogischen Inklusionsdiskurses | 43 2.1.1 Entwicklung des pädagogischen Inklusionsbegriffes im deutschsprachigen Raum | 43 2.1.2 Verkürzung des pädagogischen Inklusionsverständnisses | 44 2.1.3 Begriffliche Unklarheiten und nebulöses Diskursfeld | 45 2.1.4 Moralisierung des pädagogischen Inklusionsdiskurses | 51 2.1.5 Verhältnis der Heil- und Sonderpädagogik zum pädagogischen Inklusionsbegriff | 54 2.1.6 Bildungspolitische Umdeutungen | 63 2.1.7 Bewertung und Zusammenfassung | 64 Abgrenzung vom soziologischen Begriffsverständnis | 67 Die Theorie der pädagogischen Inklusionsidee | 73 2.3.1 Übergeordnete Zielsetzungen des inklusionspädagogischen Ansatzes | 76 2.3.2 Zur Begründung des inklusionspädagogischen Ansatzes | 88 2.3.3 Theoretische Grundannahmen des inklusionspädagogischen Ansatzes | 99 2.3.4 Zusammenführung: Beurteilung der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ | 126 Beurteilung der Theorie der Inklusion im Vergleich zur Theorie der Integration | 139 2.4.1 Theoretische Verortung des Inklusionsbegriffes durch Hinz | 140 2.4.2 Vergleich der Integrations- und Inklusionstheorie | 145 2.4.3 Fazit zum theoretischen Vergleich von Integration und Inklusion | 175 Fazit und Zusammenfassung | 178

2.2 2.3

2.4

2.5

3

Der pädagogische Diskurs um Heterogenität und Fremdheit | 185

3.1 3.2

Einführung | 185 Der pädagogische (Integrations- und Inklusions-)Diskurs um Heterogenität | 190 3.2.1 Vergleich des Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurses | 191 3.2.2 Heterogenität als relative Verschiedenheit im pädagogischen Inklusions- und Integrationskonzept | 200 3.2.3 Diskursinterne Kritik am Verständnis von Heterogenität als relative Verschiedenheit | 206 3.2.4 Zusammenfassung | 214 Zur Diskussion der radikalen Fremdheit im heil- und sonderpädagogischen (Inklusions-)Diskurs | 216 Fremdheit im inklusionspädagogischen Ansatz | 223

3.3 3.4 4

Radikale Fremdheit und der Ordnungsbegriff bei Waldenfels: Kritik an der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung | 227

4.1

Der Begriff der Ordnung | 228 4.1.1 Topographie des Fremden | 229 4.1.2 Genealogie von Ordnung als Ansatzpunkt | 232 4.1.3 Klassische und moderne Ordnungsformation | 235 4.1.4 Formen des Ordnungsersatzes: Kritik an der Inklusion als Gesamt- und Grundordnung | 237 4.1.5 Ordnung als Prozess der Selektion und Exklusion | 244 4.1.6 Die Kontingenz von Ordnung: Ordnung im Potentialis | 252 Kritik an der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung | 258 Fremdheit und Verschiedenheit | 265 4.3.1 Der Weg von der Ordnung hin zum Fremden: Fremdes als Außerordentliches | 265 4.3.2 Der Unterschied zwischen Verschiedenheit und Fremdheit | 268 4.3.3 Überschreitung von Ordnungsgrenzen und die Asymmetrie von Eigenem und Fremdem | 277 4.3.4 Die Kontingenz der inklusionspädagogischen Perspektive | 282 Der Ordnungsbegriff als Dekategorisierungsgebot? Zur Unvergleichlichkeit des Fremden | 285 Zusammenfassung | 291

4.2 4.3

4.4 4.5

5

Fremderfahrung im Kontext von Behinderung: Kritik an der inklusionspädagogischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ | 295

5.1

Fremdheit und Behinderung | 297 5.1.1 Normale und strukturale Fremdheit: Behinderung als strukturale Fremdheit | 297 5.1.2 Behinderung als leibliche Erfahrungsweise von Selbst, Anderen und der Welt | 301 5.1.3 Das Verhältnis von Normalem und Anomalem: Behinderung als Anomalie | 309 5.1.4 Fremdartigkeit im Kontext von Behinderung | 314 5.1.5 Zusammenfassung | 320 Grundzüge der Fremderfahrung und der Konzeption der Responsivität | 322 5.2.1 Verflechtung von Eigenem und Fremdem | 322 5.2.2 Fremdheit im Eigenen | 326 5.2.3 Der Anspruch des Fremden | 328 5.2.4 Momente der responsiven Antwortlogik | 333 5.2.5 Zusammenfassung und Kritik an der inklusionspädagogischen Grundordnung der „Normalität der Verschiedenheit“ | 346 Das Phänomen der Aufmerksamkeit als Einfallstor des Fremden | 349 Die „sozialen Reaktionen“ im Kontext von Behinderung | 356 5.4.1 Begriff und Formen der „sozialen Reaktionen“ | 358 5.4.2 Determinanten und Entstehung der „sozialen Reaktionen“ | 361 5.4.3 Interkultureller Vergleich der „sozialen Reaktionen“ | 363 5.4.4 Erklärungsansätze der „sozialen Reaktionen“ | 366 5.4.5 Strategien zur Einstellungsänderung | 371 Fremderfahrung im Kontext von Behinderung | 376 5.5.1 Auffallen und Aufmerken im Kontext von Behinderung | 377 5.5.2 Einschätzung der „sozialen Reaktionen“ und der inklusionspädagogischen Blickhaltung | 386 5.5.3 Das Phänomen der Behinderung zwischen Attraktion und Repulsion | 396 5.5.4 Beurteilung der Erklärungsansätze der „sozialen Reaktionen“ aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden | 402 Zusammenfassung (5.3-5.5) | 405 Abschließende Kritik am inklusionspädagogischen Ansatz | 410 5.7.1 Der inklusionspädagogische Ansatz zwischen Aneignung des Fremden und Entgrenzung von Eigenem und Fremdem | 411 5.7.2 Zum Gefährdungspotential der inklusionspädagogischen Sichtweise auf Fremdheit | 417

5.2

5.3 5.4

5.5

5.6 5.7

6

Resümee und Ausblick | 425

6.1

Diskussion des methodischen Zugangs der Analyse und Einschränkungen der Arbeit | 425 Resümee | 430 Ausblick: Zum Umgang mit Inklusion und Fremdheit in intersubjektiver, diskursiver und disziplinärer Hinsicht | 447

6.2 6.3

Literatur | 461 Danksagung | 481

1

Einführung

1.1 ENTWICKLUNG DER FRAGESTELLUNGEN DER ARBEIT Das Aufkommen des Inklusionsbegriffes in den pädagogischen Teildisziplinen kann generell als Antwort auf die vielfältigen Ausgrenzungen verstanden werden, die auch ‚Behinderte‘1 im gesellschaftlich-institutionellen Bereich und in intersubjektiven Verhältnissen nach wie vor erfahren. Der Soziologe Jörg Michael Kastl teilt diese Einschätzung, indem er die Stigmatisierung, gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung von ‚Behinderten‘ als ein zentrales, gesellschaftliches Problem beschreibt, das bis heute nicht überwunden ist (vgl. Kastl 2010: 165). Dennoch ist es nicht so, dass der Integration ‚Behinderter‘ auf einer normativrechtlichen Ebene in den letzten Jahrzehnten keine Aufmerksamkeit zuteilwurde. Es existiert spätestens seit den beginnenden 70er Jahren eine Vielzahl an rechtlichen Verordnungen zur Integration ‚Behinderter‘, was auch mit dem Erstarken einer sogenannten integrationspädagogischen Bewegung Ende der 60er Jahre zu tun hat.2 Trotzdem ist es gesamtgesellschaftlich betrachtet allem Anschein nach bisher nicht gelungen, die Integration ‚Behinderter‘ entschieden genug umzusetzen. Genau aus diesem Grund kritisiert vor allem der Inklusionspädagoge Andreas Hinz die bisherige Praxis der Integration und legitimiert damit unter anderem die Einführung des Begriffes Inklusion auch in den deutschsprachigen Raum ungefähr zur Jahrtausendwende (vgl. u.a. Hinz 2002; 2003; 2004). Auch wenn sich Hinz in seinen Ausführungen zumeist selbst auf die Dimension der Behinderung bezieht, stellt er klar heraus, dass die genuine Bedeutung des pädagogischen Inklusionsbegriffes explizit jedoch nicht auf diese Dimension beschränkt ist. Die vorliegenden Ausführungen werden unter anderem zeigen, dass eine solche isolierte Betrachtung mit den inklusionspädagogischen Prämissen auch gar nicht mehr möglich ist. Unter dem Motto

1

Zur Erläuterung der gewählten Ausdrucksweise ‚Behinderte‘ vgl. die Ausführungen in 5.1.2.

2

Vgl. zu dieser Entwicklung im bildungspolitischen Bereich u.a. Schnell (2006).

10 | Inklusion und Fremdheit

der „Normalität der Verschiedenheit“ wendet sich dieser Begriff vielmehr „gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung […]“ (Hinz 2006a: 98) und will „allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse zugesichert sehen […]“ (ebd.). Der Fokus liegt hierbei auf der generellen Wertschätzung der individuellen Unterschiedlichkeit und der Heterogenität der Gruppe (vgl. ebd.). Die Geschichte der gesellschaftlichen, institutionellen und zwischenmenschlichen bzw. intersubjektiven Ausgrenzung ‚Behinderter‘ und anderer marginalisierter Menschen ist so alt, wie die Geschichte der Menschheit selbst. Sie kann hier nicht annähernd in ihrer vielfältigen und teils grausamen Wirklichkeit wiedergegeben werden. Folgende Zusammenstellung aus dem Werk Der Krüppel von Müller (1996), der sich in seinen Ausführungen auf viele, unterschiedliche Quellen bezieht, soll einen plastischen Einblick in diese erbarmungslose Geschichte geben: „Körperlich wie geistig Behinderte, Schiefgesichtige, Leute, die anrüchige Berufe ausübten, Unterschichtsangehörige, Zeugungsunfähige, Aussätzige, ‚verdächtige‘ Randexistenzen, Flüchtlinge, Fremde usw. besaßen einer ebenso ubiquitären wie unauslöschlichen Anschauung nach allezeit einen bösartigen, gefährlichen, ja aggressiven Charakter […]. Überall auf der Welt wurden Behinderte, Verwachsene, Albinos und Rothaarige […] immer auch der Schadenszauberei bezichtigt. […] Keinerlei Zweifel indessen konnte mehr aufkommen, wenn die Entstellungen ebenso unübersehbar wie abschreckend kraß in Erscheinung traten. In derartigen Leibern hausten füglich die schwärzesten Seelen. Wirkliche Krüppel sind wahre Teufel3, ja unter Umständen eine Verkörperungsform des Gehörnten selbst […]. […] Noch heute sehen nicht wenige Menschen in den ‚aufgeklärten‘ Gesellschaften Europas in verunstalteten und verhaltensgestörten Kindern ‚eine Strafe‘ Gottes – wie entsprechende Befragungen [der 80er Jahre; Anm. P.S.] ergaben. […] Auch Luther stand unerschütterlich zu dem Glauben; er hielt es für das beste, derartige Kinder gleich zu ertränken oder dem Feuer zu überantworten […]. […] Bei Naturvölkern amüsierte man sich gemeinhin köstlich, wenn ein Behinderter, wie ein Lahmer zum Beispiel, stürzte und sich wehtat oder beschmutzte. […] Nicht immer blieb es bei bloßer Belustigung. Denn hinter dem schlürfenden Gang, dem mühsamen Fortziehen der Glieder an Krücken, dem klobigen Buckel oder den toten Augen lauerte ja das Böse, dessen unverkennbarer Ausdruck die Verunstaltung war. Rasch wurde aus Spott daher rüde Beschimpfung. Die Mundurucú im Nordosten Brasiliens bezeichneten Gruppenangehörige mit körperlichen Mißbildungen als tun, das heißt ‚Kot‘. […] Und den verbalen Anwürfen folgten alsbald ‚hier und da sogar Steine‘. […] Damals machte sich der Abscheu noch offen auch wider Behinderte, Kranke und hilflose Alte Luft. Man pöbelte sie in aller Öffentlichkeit an, hinderte sie am Weitergehen, bewarf sie mit Unflat. […] Jahrhunderte später, als die Aufklärung ihre kargen Früchte getragen hatte, wurden geistig Behinderte, ‚Erbkranke‘, Homo3

Hervorhebungen innerhalb von Zitaten sind in diesem Buch, sofern nicht anders vermerkt, stets im Original belassen.

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sexuelle und andere ‚Abartige‘ […] überwiegend mechanisch vernichtet. Danach trat eine gewisse Ernüchterung ein. […] Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten in Deutschland nur mehr Flüchtlinge […] den Gegenstand von Argwohn und Mißtrauen. […] In der Gegenwart ist man bekanntlich zwar liberaler geworden; gleichwohl sehen nach wie vor viele Eltern vor allem ihre Töchter nur ungern eine engere Beziehung, geschweige denn Ehe mit einem Behinderten […] eingehen. […] Heute herrscht offiziell eine ‚behindertenfreundlichere‘ Atmosphäre, die sich in der Gesetzgebung, in Bau- und Einrichtungsvorschriften niederzuschlagen beginnt. Aber hinter den Stirnen, ja in den Augen der ‚Unbetroffenen‘ wohnt weiterhin Argwohn, der zur Meidung mahnt und auf Distanz drängt. […] Die Mauern der Isolat ion sind möglicherweise dünner, nicht jedoch durchlässiger geworden. Das erstrebte Ziel bleibt ‚integ‘ – das Kürzel, eher die Chiffre für ‚Integration‘.“ (Müller 1996: 32-64)

Zwar hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre sicherlich einiges zum Besseren gewendet. Ausgrenzungen von ‚Behinderten‘ sind aber auch heute noch lange nicht überwunden. Nur ein Beispiel hierfür sind soziale Ausgrenzungserfahrungen behinderter Schüler4 in allgemeinen Schulen. Im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie (vgl. Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose 2012a) berichtet die Mutter einer körperbehinderten Schülerin beispielsweise Folgendes: „Gesamtschule ging die Hanna dann. Da ist sie gemobbt worden, es fing dann so langsam an, dass die Mitschüler weggelaufen sind, weil die wussten, die kann nicht so schnell hinterher. Also all solche Sachen, so Kleinigkeiten halt […]. Ich bin einfach vom Bauchgefühl gegangen und hab gedacht, die braucht einen geschützten Rahmen, die muss da raus, weil sonst geht die kaputt. Weil die wollte mittlerweile dann auch gar nicht mehr zu Schule gehen, weil das Mobbing immer stärker wurde.“ (Singer 2015a: 53)

In einem weiteren Beispiel berichtet ein Vater von einer eher indirekten Ausgrenzungserfahrung seines körperbehinderten Sohnes an einer allgemeinen Schule: „Ist natürlich auch schwierig, klar. Wenn Kindergeburtstag ist oder ähnliches, das ist schon doof. Vielleicht erzählt man sich in der Klasse noch, ah, war ja gestern toll bei dir, und denkt dann, ja toll, ich war nicht dabei. Ja, das ist einfach so.“ (Ebd.: 54) Als ein letztes Beispiel für nach wie vor bestehende Ausgrenzungen sei die Schilderung einer Mutter zur Situation ihres ebenfalls körperbehinderten Sohnes an einer allgemeinen Schule angeführt: „[…] weil er ja schon ziemlich gemobbt worden ist, aber nicht von den Kindern, sondern von den Lehrern […]. Sie hatte so Sachen losgelassen: 28 Kinder und dann noch ein Rollstuhl in der Klasse, das wäre ihr zu viel. Das hat die ihm auch zu verstehen gegeben […]. Und die hat 4

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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ihm auch zu verstehen gegeben, dass er nicht mit auf Klassenfahrt dürfe. […] Sie hat auch noch nicht mal mit uns zusammen gearbeitet. Also, dass sie abends mal angerufen und gefragt hätte: Wie mache ich das am besten? Sie hat das von vornherein abgelehnt. ‚Dieses Kind will ich nicht haben‘ und hat dann auch entsprechend dafür gesorgt […], das war eigentlich mehr das Mobbing von den Lehrern.“ (Ebd.)

Ausgrenzungen von Menschen, die den üblichen Normalitätsvorstellungen nicht entsprechen, haben, wie insbesondere auch die eindrücklichen Schilderungen Müllers zeigen, immer auch etwas mit der Erfahrung einer Fremdheit zu tun, die Verunsicherung auslöst. Müller beschreibt dieses Szenario wie folgt: „Die Begegnung mit auffallend abweichend beschaffenen, ‚andersartigen‘ Menschen, die ‚entstellt‘, seltsam ‚verkrümmt‘, im Verhalten ‚gestört‘ erscheinen, bei deren Entwicklung sichtlich etwas ‚zerrissen‘ und ‚schiefgelaufen‘ ist, verunsichert die Reaktionsfähigkeit, löst Unbehagen aus […]“ (Müller 1996: 30). Vor allem die Interaktion mit Menschen, die eine auffällige Behinderung haben, ist den Studien Cloerkes’ zufolge gekennzeichnet durch Spannung, Verhaltensunsicherheit und Ambivalenzempfindungen (vgl. Cloerkes 2007: 107): „Nichtbehinderte erleben Verhaltensunsicherheit und unangenehme psycho-physische Reaktionen: Hilflosigkeit, Verlegenheit, Anspannung, Unbehagen, Erschüttertsein, Angst, Abscheu, Ekel, bis hin zu hochgradiger Erregtheit […]“ (ebd.: 108). Das folgende Beispiel bringt die Verunsicherung, die in der Interaktion mit Menschen, die schwerer behindert sind, hervortreten kann, deutlich zur Sprache: „Was ich im Heim und in der Schule antraf, war für mich die Verkörperung einer ‚unheilen‘ Welt. In den schreienden, verkrüppelten, sich schlagenden Kindern konnte ich beinahe keinen Menschen mehr erkennen. Ich verurteilte mich selbst wegen dieser Gedanken, aber das Verhalten der Kinder befremdete mich so sehr, dass sie mir eher ‚tierisch‘ als ‚menschlich‘ erschienen. Ich klammerte mich zu dieser Zeit daran, dass sie menschliche Namen hatten; das allein half mir, sie als Menschen sehen zu können.“ (Pfeffer 1987: 260)

Diese Verunsicherung gewohnter Handlungs- und Wahrnehmungsschemata ruft unterschiedliche Antworten hervor, die nach Cloerkes Distanz schaffen sollen und die er als „originäre“ und „soziale Reaktionen“ bezeichnet, die sich der rationalen Kontrolle überwiegend entziehen (vgl. Cloerkes 2007: 106f.). Die Bandbreite dieser Reaktionen kann vom „Anstarren und Ansprechen“ bis hin zu „diskriminierenden Äußerungen“, „Witzen“, „Spott und Hänseleien“ oder „Aggressivität bzw. Vernichtungstendenzen“ reichen (vgl. ebd.). Im pädagogischen Integrations- und noch mehr im Inklusionsdiskurs hat sich als Chiffre für die Erfahrung dieser Fremdheit und die Prozesse, die mit diesen Erfahrungen einhergehen, der Begriff der Heterogenität eingebürgert. Dabei stehen weniger die Heterogenität selbst und die Erfahrung dieser, als vielmehr der Umgang

Einführung | 13

mit Heterogenität im Vordergrund der Betrachtung; die angesprochenen Erfahrungen und Prozesse werden im pädagogischen Diskurs über Inklusion nicht mehr thematisiert oder nur auf höchst indirekte Art und Weise, indem sie als etwas gänzlich zu Vermeidendes hinter der Forderung der „Wertschätzung von Vielfalt“ verschwinden. Der integrationspädagogische und, in verstärktem Maße, der inklusionspädagogische Ansatz geben damit, dass sie jeweils eine Antwort auf Ausgrenzungen darstellen, also zugleich eine Antwort darauf, wie mit der Fremdheit des Anderen, die sich hinter dem Begriff der Heterogenität auch verbirgt, gesamtgesellschaftlich und intersubjektiv umgegangen werden soll. Wie sich zeigen wird, fallen diese Antworten zwar beide Male mehr oder weniger einseitig aus, sie unterscheiden sich allerdings auch in dem wesentlichen Punkt, wie diese Fremdheit jeweils betrachtet wird. Ohne bereits an dieser Stelle auf die Diskussion um die Differenzen zwischen dem Integrations- und Inklusionsbegriff einzugehen, wird mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff nicht nur in Anspruch genommen, die ‚institutionelle Lösung‘ für alle vom Problem der Ausgrenzung betroffenen, gesellschaftlichen Gruppierungen gefunden zu haben. Auch soll allen Menschen im Zeichen der pädagogischen Inklusionsidee zugleich die vollumfängliche, persönliche Wertschätzung und „selbstverständliche Anerkennung“ innerhalb sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche zuteilwerden (vgl. Boban/Hinz 2003a: 39). Der pädagogische Inklusionsbegriff nimmt für sich in Anspruch, das Konzept des angemessenen Eingehens auf die vorhandene Heterogenität (vgl. Boban/Hinz 2003b: 3) zu sein. Das heißt: Der inklusionspädagogische Ansatz verspricht uns eine Antwort darauf, wie wir mit der Fremdheit des Anderen auf der institutionellen und intersubjektiven Ebene umgehen sollen, so dass dieser Umgang als „angemessen“ beurteilt werden kann. Knapp zusammengefasst liegt die Antwort der ‚institutionellen Lösung‘ darin, dass selektierende Strukturen, wie beispielsweise die der sonderpädagogischen Fördermaßnahmen und Einrichtungen, zu überwinden seien und in ihrer vorgeblich selektiven Wirkung als diskriminierend abgelehnt werden (vgl. u.a. Hinz 2002: 356). Als Ziel im schulischen Kontext fungiert hier die „Schule für ausnahmslos alle“. In diesem Rahmen sollen sich von nun an die einzelnen Systeme, wie das der Schule, an die Voraussetzungen des einzelnen Individuums anpassen und nicht mehr, so der Vorwurf an die Praxis der Integration, das Individuum an die einzelnen Systeme. Hinsichtlich des Umgangs mit Heterogenität auf der intersubjektiven Ebene lautet die Devise, jeglicher Heterogenität unter der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ (vgl. u.a. Hinz 2002: 357) wertschätzend zu begegnen. Gefordert wird ein willkommen heißender Umgang mit Verschiedenheit oder Heterogenität, Vielfalt wird per se wertgeschätzt und begrüßt. Während in der heil- und sonderpädagogischen Disziplin und auch in der Fachöffentlichkeit eine breite und kontroverse Diskussion zu den vom inklusionspädagogischen Ansatz geforderten Veränderungen auf gesellschaftlich-systemi-

14 | Inklusion und Fremdheit

scher bzw. institutioneller Ebene geführt wird, bleibt sehr überraschend eine kritische Diskussion der Thesen, die dieser Ansatz zum Problem intersubjektiver Begegnungen anbietet und einfordert, nach wie vor so gut wie aus. Auch Franziska Felder, die diese Dimension im Kontext von Inklusion als eine der wenigen umfangreicher thematisiert, weist hierauf hin und nimmt diese Problemlage zum Anlass ihrer überzeugenden Ausführungen: „Was nämlich bei der Debatte um Rechte auf Inklusion vernachlässigt wird, ist die gemeinschaftliche Sphäre der Inklusion und dabei insbesondere die personale und interpersonale Ausgestaltung derselben.“ (Felder 2013: 96) Diese Nicht-Thematisierung und damit das Ausbleiben einer kritischen Diskussion der inklusionspädagogischen Thesen zu diesem Problem ist deswegen umso überraschender, weil sich letztlich erst in der konkreten Begegnung zwischen Menschen entscheidet, ob und wem wir uns wertschätzend zuwenden. Bedeutung gewinnt unser Handeln für den Anderen oder die Andere letztlich und vorwiegend dann, wenn wir uns tatsächlich begegnen und uns ihm oder ihr zuwenden oder uns abwenden. Hier entscheidet sich, wie dem oder der Anderen begegnet wird, und dies liegt nicht nur allein in unserer Hand, wie uns die inklusive Pädagogik glauben machen will. Auch die Anrufung von Gesetzen und Normen hilft in dieser Situation nicht weiter. Wenn Inklusion in pädagogischen Kontexten kein abstrakter oder formaler Entwurf auf der Ebene des Rechts bleiben und Bedeutung für den Einzelnen erlangen soll, sie also ihrem eigenen Anspruch gerecht werden will und wie es mit dieser Idee versprochen wird, dann repräsentieren die zwischenmenschlichen Begegnungen das Kerngeschehen auch des inklusionspädagogischen Ansatzes. Nur hier kann letztlich davon gesprochen werden, ob es zur Anerkennung des Anderen kommt, die über eine bloß formale, rechtliche oder institutionelle Anerkennung hinausgeht. Im pädagogisch-fachlichen und politisch-öffentlichen Raum wird zwar immer wieder betont, wie wichtig eine Haltung oder Einstellung sei, die diese institutionellen Veränderungsprozesse trägt. Die Thesen, die der inklusionspädagogische Ansatz hierzu anbietet, bleiben aber weitgehend unhinterfragt. Die von diesem Ansatz auf beschwörende Art und Weise vorgetragenen Formeln der „Wertschätzung von Vielfalt“ und der „Normalität der Verschiedenheit“ scheinen sich bereits so sehr im kollektiven inklusiven Gedächtnis festgesetzt zu haben, dass sie inzwischen als einzig zulässige, quasi naturhafte Prämissen für die Wahrnehmung von und den Umgang mit Unterschieden bzw. Menschen, die den üblichen Normalitätsvorstellungen nicht entsprechen, hervortreten. Auch Dammer teilt diese Einschätzung der pädagogischen Inklusionsdebatte: „Wie bereits im Kontext der Integrationspädagogik stößt man allenthalben auf ein Lob der Vielfalt als der eigentlichen Normalität, die homogenisierende Normalisierungsbestrebungen überflüssig erscheinen lässt […]“ (Dammer 2011: 19). Allein bereits der große Anklang, den das ‚Lob der Vielfalt‘ als Formel für den Umgang mit Unterschieden im öffentlichen und wissenschaftli-

Einführung | 15

chen Raum findet, löst Skepsis aus und deutet auf eine stark verkürzte und vereinfachende Darstellung eines überaus komplexen Geschehens hin. Aufgrund der primären Ausrichtung des pädagogischen Diskurses um Inklusion auf institutionelle, rechtliche und praktisch-professionelle Fragen und Veränderungen ist die Dimension des intersubjektiven Handelns und Wahrnehmens eindeutig in den Hintergrund der theoretischen Bearbeitung und Reflexion geraten. Der Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes, die exklusive Leitvorstellung für den Umgang mit Heterogenität zu sein, bleibt im Diskurs um Inklusion bis auf wenige kritische Einwände unhinterfragt. Im moralisch aufgeladenen Diskurs um Inklusion, in dem es fast undenkbar erscheint, sich öffentlich skeptisch zum Thema zu äußern (vgl. auch Dederich 2013b: 58; Tenorth 2013b: 6), stellt lediglich Dederich als nahezu Einziger die entscheidende und vor allem grundsätzliche Frage, ob „Inklusion tatsächlich die einzig legitime Antwort auf die Forderung nach Nicht-Ausschluss [ist]?“ (Dederich 2013a: 42). Ihm zufolge steht eine „ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Fragen […] in der Heil- und Sonderpädagogik noch aus“ (ebd.). Diesem Forschungsdesiderat, das neben einer wissenschaftlichen Relevanz durch die Wirkmächtigkeit der inklusionspädagogischen Ansichten im öffentlichen Raum auch eine unmittelbare gesellschaftspolitische Bedeutung besitzt, widmet sich die vorliegende Arbeit. Im Anschluss an die von Dederich aufgeworfene Frage wird der Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes, als Leitvorstellung für den intersubjektiven Umgang mit Heterogenität zu fungieren, kritisch hinterfragt und auf seine Konsequenzen für die Begegnung mit ‚Behinderten‘ hin geprüft. Da diese Prüfung problematische und gefährliche Auswirkungen zu Tage treten lassen wird, stellt sich mit der vorliegenden Arbeit neben der Möglichkeit eines veränderten Umgangs mit Heterogenität auch die Frage nach der weiteren Verwendung des pädagogischen Inklusionsbegriffes innerhalb der heil- und sonderpädagogischen Fachdisziplin. Angesichts der Bedeutung, die der intersubjektiven Dimension zur Verwirklichung des nicht zu hinterfragenden inklusionspädagogischen Anliegens zukommt, nämlich ‚Behinderten‘ mit mehr Achtung zu begegnen, drängt sich vorweg die Frage auf, weshalb bisher keine breite, wissenschaftliche Diskussion darüber eingesetzt hat, welche theoretischen Vorstellungen der inklusionspädagogische Ansatz hierzu anbietet. Noch drängender wird diese Frage, wenn bedacht wird, dass diese Erörterungen keine bloßen theoretischen Spielereien sind, sondern die Antworten dieses Ansatzes von unmittelbarer praktischer und politischer Relevanz sind: Primäres Anliegen der pädagogischen Inklusionsidee ist geradezu der bewusste Eingriff in die Raster unseres Denkens, Handelns und Wahrnehmens, die sich dahingehend verschieben sollen, dass es normal zu sein hat, verschieden zu sein (vgl. u.a. Hinz 2002: 357). Wir haben es hier also nicht nur mit einem bloß wissenschaftlichen Gegenstand zu tun, sondern Inklusion ist in pädagogischen Kontexten ein Begriff, dem, wie es heißt, eine „weltweite Bedeutung“ (vgl. Hinz 2006a: 98) zukommt und

16 | Inklusion und Fremdheit

der in höchstem Maße auf die Veränderung sozialer Praxen abzielt. Anhand der Tatsache, wie ausladend das inklusionspädagogische Grundmotto der „Normalität der Verschiedenheit“ – oder der Satz „Es ist normal, verschieden zu sein“ – inzwischen Platz in öffentlichen, gesellschaftlichen und politischen Diskursen gegriffen hat, zeigt sich, dass die Prämissen dieses Ansatzes bereits eine große gesellschaftspolitische Wirkmächtigkeit entfaltet und erreicht haben. Die inklusionspädagogische Beeinflussung des Handelns, Denkens und Wahrnehmens steht also nicht erst in ferner Zukunft an, sondern sie ist längst in vollem Gange. Das ist nur dann gut und sinnvoll, wenn die Prämissen dieses Ansatzes bestimmte, spezifische Bedingungen auch der Begegnung zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ berücksichtigen und wenn die Forderungen mit Bezug auf den empirischen Erfahrungsgehalt dieser Begegnungen getroffen werden. Ansonsten laufen sie Gefahr, entweder als wirkungslos zu verpuffen oder eine nicht beabsichtigte, schädliche Wirkung zu evozieren. Nicht nur aus immanent theoretischen und wissenschaftlichen Gründen, sondern auch vor dem Hintergrund dieser praktischen und gesellschaftspolitischen Bedeutung bleibt unverständlich, weshalb eine vertiefte und kritische Verständigung darüber ausbleibt, welche Annahmen der inklusionspädagogische Ansatz für die Verwirklichung des Ziels einer größeren Wertschätzung ‚Behinderter‘ im zwischenmenschlichen oder intersubjektiven Bereich trifft und verfolgt. Ein Grund für diese fehlende Verständigung hat bestimmt auch mit der großen Komplexität dieser Problematik zu tun, was das Fehlen einer kritischen Auseinandersetzung jedoch keinesfalls rechtfertigt. Weiterhin erschwert sicherlich die moralisch aufgeladene Situation des Diskurses um Inklusion und seine Verortung in menschenrechtlichen Bezügen ein kritisches Hinterfragen zentraler Thesen des inklusionspädagogischen Ansatzes. Nicht zuletzt kann mit Dederich auf die mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) eingesetzte Umorientierung des heil- und sonderpädagogischen Diskurses hin zu sozialethischen und politischen Problemstellungen hingewiesen werden (vgl. Dederich 2013c: 257).5 Zwar seien dies wichtige zu bearbeitende Fragestellungen, aber durch diese Vereinseitigung ist der heil- und sonderpädagogische Diskurs in eine Schieflage geraten: „Zum einen nimmt der Diskurs aufgrund seiner ausgeprägten Normativität quasi legalistische Züge an. Zum anderen geraten individuelle Handlungen mitsamt ihrer responsiven Grundstruktur […] zu sehr aus dem Blick“ (ebd.). Die „starke Konzentration auf die Behindertenrechtskonvention und das Problem der Gerechtigkeit“ habe „nicht nur die Ethik der Ver-

5

Zur Entstehungsgeschichte der UN-BRK vgl. u.a. Degener (2015). Nachdem die UNBRK am 13. Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung einstimmig verabschiedet wurde (vgl. ebd.: 57), ist sie in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft getreten (vgl. u.a. Aichele 2015: 85).

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antwortung, sondern auch das […] Handeln leiblicher Subjekte in den toten Winkel der Reflexion“ (ebd.) verschoben. Mit dieser zutreffenden Einschätzung Dederichs lässt sich das nicht nur implizite Ziel dieser Arbeit benennen: Das im Diskurs um Inklusion nahezu völlig in Vergessenheit geratene und verdrängte Handeln leiblicher Subjekte wird dem toten Winkel der Reflexion entzogen und damit dem reflexiven Kontext um Inklusion überhaupt erst wieder zugänglich gemacht. Explizit und bildlich gesprochen geht es in der vorliegenden Arbeit darum, die mit der Rede von Inklusion erhobenen, präskriptiven Forderungen aus dem Reich des Ideenhimmels zu holen und sie mit dem Boden der Lebenswelt, den konkreten Erfahrungen zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘, zu konfrontieren. Ausgangspunkt hierfür ist die Überlegung, dass Veränderungen, die zu einer tatsächlich größeren zwischenmenschlichen Wertschätzung ‚Behinderter‘ führen sollen, eine Analyse dieser Begegnungen voraussetzt. Im Fokus der Arbeit stehen dabei weniger technokratische Lösungsansätze als vielmehr das Anliegen, wieder ein Problembewusstsein dafür zu erzeugen, dass sich – trotz aller inklusiven Vorkehrungen – Menschen als leibliche Wesen begegnen, deren Handeln nicht auf Normen und Werte festgelegt ist, die von außen vorgegeben werden. Solch eine Analyse ermöglicht es, die inklusionspädagogischen Prämissen kritisch zu hinterfragen, auf Konsequenzen dieser Annahmen hinzuweisen und einen veränderten Umgang mit Heterogenität oder der Fremdheit des Anderen aufzuzeigen. Im Speziellen legt sich die Arbeit also die Frage vor, wie die pädagogische Inklusionsidee die intersubjektive Ebene in den Blick bekommt. Welche Lösungsvorschläge oder Argumente bietet dieser Ansatz, um sein eigenes Ziel einer größeren Wertschätzung ‚Behinderter‘ in dieser Hinsicht zu erreichen? Insofern es der Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes ist, das Konzept des angemessenen Eingehens auf die vorhandene Heterogenität (vgl. Boban/Hinz 2003b: 3) zu sein: Wie sieht dieser Umgang mit Heterogenität bzw. der Fremdheit des Anderen auf der intersubjektiven Ebene aus? Zu prüfen ist demnach, wie sich der vorgesehene Umgang zu den konkreten, intersubjektiven Begegnungen verhält. Ist dieser Umgang bzw. das allein auf die Wertschätzung von Vielfalt ausgerichtete Heterogenitätsverständnis den Erfahrungen zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ gegenüber angemessen, so dass es tatsächlich zu einer größeren Wertschätzung des Einzelnen kommen kann? Oder, um es auf einer begrifflich-abstrakteren Ebene zu formulieren: Welche Antworten gibt der inklusionspädagogische Ansatz auf das Problem der Erfahrung von Fremdheit? Wird das zugrunde gelegte Heterogenitätsverständnis der Erfahrung von Fremdheit gerecht? Insofern dies nicht zutreffen wird, ist nach den Konsequenzen zu fragen, die die inklusionspädagogische Sichtweise für die konkreten Begegnungen haben kann. Von dieser Gefahrenlage aus betrachtet stellt sich abschließend unweigerlich die Frage nach dem weiteren Umgang

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der heil- und sonderpädagogischen Disziplin mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff.

1.2 BEGRÜNDUNG DER FRAGESTELLUNGEN UND METHODISCHES VORGEHEN Institutionelle und professionelle Veränderungen im Zuge der Entwicklung eines ‚inklusiven Bildungssystems‘ zu diskutieren und die hierfür benötigten Rahmenbedingungen empirisch zu untersuchen, sind wichtige Aufgaben für die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik, denen sie sich in hohem Maße zuwendet. Genauso wichtig sind für eine Wissenschaft aber die grundlagentheoretische Arbeit an ihren Grundbegriffen und die kritische Auseinandersetzung mit denselben, zu denen der Begriff der Inklusion innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik inzwischen zählt (vgl. Ackermann 2012). Da dieser Begriff nicht ihrem eigenen diskursiven Kontext entstammt, sondern aus inklusionspädagogischen und gesellschaftspolitischen Diskursen importiert wurde, müssen die theoretischen Prämissen der pädagogischen Inklusionsidee in ihrer Bedeutung für eigene fachwissenschaftliche Bezüge umso mehr hinterfragt und geprüft werden. Diese grundlagentheoretische oder philosophisch ausgerichtete Prüfung, die mit der vorliegenden Arbeit durchgeführt wird, ist vor allem aus zwei Gründen wichtig und bedeutsam: Nach Dederich besteht eine Aufgabe von Wissenschaft darin, mithilfe einer solchen methodischen Ausrichtung die zentralen Begriffe und theoretischen Grundorientierungen einer Disziplin zu prüfen, zurückzuweisen oder weiterzuentwickeln (vgl. Dederich 2013c: 22): „Eine philosophische Perspektive einzunehmen heißt in diesem Zusammenhang, die Logik solcher Prozesse zu hinterfragen und hinsichtlich ihrer Legitimation kritisch zu prüfen.“ (Ebd.: 26) Die vorliegende Arbeit will diesem methodischen Anspruch dadurch gerecht werden, dass sie bewusst die kritische und grundlagentheoretisch ausgerichtete Auseinandersetzung mit der Idee und dem Begriff der pädagogischen Inklusion sucht. Im Speziellen gilt es, die Prämissen und Argumente der pädagogischen Inklusionsidee zur Überwindung von Ausgrenzungen bzw. zur Verwirklichung der Wertschätzung in konkreten Begegnungen zu prüfen und anschließend danach zu fragen, ob diese Vorstellungen aufrechtzuerhalten, zurückzuweisen oder weiterzuentwickeln sind. Messen lassen muss sich die Arbeit bei einem solchen Vorgehen letztlich sowohl an der Transparenz ihrer argumentativen Voraussetzungen als auch an der Konsistenz ihrer Argumentation selbst. Die methodische Grundausrichtung der Arbeit kann daher als eine argumentative Reflexion der inklusionspädagogischen Wissensbestände begriffen werden, die das Bestehende in seiner Bedeutung für die eigene Fachdisziplin befragt und in Frage stellt.

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Eine umfassendere theoretisch-kritische Prüfung des pädagogischen Inklusionsansatzes stellt im Diskurs um die pädagogische Inklusionsidee nach wie vor eine Ausnahme dar.6 Die Prüfung erfolgt also zum einen aus immanent wissenschaftlichen Gründen. Die vorliegende Arbeit stellt damit auch einen disziplinären Beitrag zur Überwindung der bestehenden Diskrepanz zwischen der Strahlkraft der pädagogischen Inklusionsidee und der Unterbelichtung ihrer theoretischen Prämissen innerhalb der heil- und sonderpädagogischen Fachgrenzen dar. Zum anderen ist diese Prüfung auch im Hinblick auf die angesprochenen praktischen Bezüge dieser Idee von größter Relevanz. Expliziter Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes ist es, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, nicht nur auf systemischer Ebene wie jener der Schule, sondern auch auf der Ebene der Haltungen und Einstellungen. Damit inhäriert diesem Ansatz von Grund auf die Erzeugung machtförmigen Wissens: Ein bewusstes Ziel dieses Ansatzes ist das Eingreifen in das Denken, Wahrnehmen und Handeln, so dass es zu einer Einstellungsänderung und damit zur selbstverständlichen Anerkennung aller Menschen kommt. Die Theorie der pädagogischen Inklusion ist somit kein harmloser Gegenstand, sondern sie bedeutet ein machtvolles Instrument, indem sie bewusst in das praktische Geschehen der Dinge und das Leben aller Menschen eingreifen möchte. Indem auch die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik sich dieses Begriffes bedient und sich seiner nahezu sogar bemächtigt hat, muss sie sich insbesondere vor dem Hintergrund, angewandte Wissenschaft zu betreiben, dessen vergewissern, dass ihre Prämissen zumindest keine schädlichen Auswirkungen für ‚Behinderte‘ haben: „Da die Heil- und Sonderpädagogik angewandte Wissenschaft ist, die pädagogische Praxis reflektieren, theoretisch modellieren und praktisch gestalten und verändern will, haben ihr Wissen und die daraus abgeleiteten Praktiken konkrete existenzielle Auswirkungen auf die Lebenssituation behinderter, chronisch kranker und anderer, aus dem gesellschaftlichen Normalitätsspektrum herausfallender bzw. bestimmten Normen nicht entsprechender Menschen.“ (Dederich 2013c: 27)

Eine genaue Prüfung der Prämissen der pädagogischen Inklusionsidee im Hinblick auf den disziplinären Gegenstand der Behinderung ist daher für die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik umso wichtiger. Je nachdem, wie diese Prüfung ausfällt, gilt es, gegebenenfalls andere Perspektiven auf den Gegenstand der Behinderung sowie den Umgang mit ihm herauszustellen als es mit dem pädagogischen Inklusionsansatz vorgesehen ist und vorgegeben wird. Gerade das inklusionspädagogische Motto der „Normalität der Verschiedenheit“ und der inzwischen gesamtgesellschaftlich positiv besetzte Begriff der Vielfalt 6

Zu umfassenderen theoretischen Auseinandersetzungen mit der pädagogischen Inklusionsidee vgl. v.a. Ahrbeck (2011; 2014); Felder (2012); Lee (2012).

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haben bereits eine relativ große Wirkmächtigkeit im öffentlichen Leben erlangt. Sie zielen auf eine Wahrnehmungsänderung hinsichtlich der Vorstellungen von Normalität ab und fordern eine Haltung ein, mit der wir Menschen begegnen sollen, die diesen zu überwindenden Vorstellungen nicht entsprechen. Diese Forderungen können durch ihre Verankerung im kollektiven Bewusstsein also konkrete Auswirkungen auf die Begegnungen auch zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ haben und damit Einfluss auf die entscheidende Frage nach der persönlichen Wertschätzung des Anderen nehmen. Aufgrund dieser vorhandenen, machtvollen Wirkung ist also genau zu prüfen, wie diese Vorstellungen und Forderungen formuliert und begründet sind. Der Gradmesser dafür, ob der inklusionspädagogische Ansatz unter diesen Voraussetzungen weiterhin als Leitvorstellung für den intersubjektiven Umgang mit Heterogenität Gültigkeit beanspruchen kann, muss sein, wie die tatsächlichen Begegnungen auch zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ in diesem Diskurs berücksichtigt werden und ob die Prämissen dieses normativen Ansatzes diesen Begegnungen überhaupt gerecht werden können. Ansonsten bliebe – zumindest was diesen Bereich betrifft – nichts als eine Utopie übrig, die im besten Fall nichts und im schlimmsten Fall eine vielfach kontraproduktive Wirkung erreicht. Methodischer Zugang der Analyse Um das Verhältnis zwischen den Prämissen des inklusionspädagogischen Ansatzes und den tatsächlichen Begegnungen beurteilen zu können, müssen neben einer ausführlichen Darstellung dieser Prämissen auch die Begegnungen selbst einer Analyse unterzogen werden. Von hier aus lassen sich dann Rückschlüsse auf dieses Verhältnis ziehen. Eine kritische und systematische Prüfung der Prämissen des inklusionspädagogischen Ansatzes kann sich nicht im spekulativen Bereich bewegen, sondern sie erfordert Kriterien, anhand derer sich diese bemessen lassen. Prüfstein ist der Bezug oder das Verhältnis dieser Aussagen zu den tatsächlichen Begegnungen, also der Ebene, auf der sich Menschen als leibliche Wesen begegnen und konkrete Erfahrungen miteinander machen. Der Zugang der Phänomenologie des Fremden bei Bernhard Waldenfels eignet sich hierfür auf besondere Weise, da sich mit ihm die intersubjektiven Begegnungen zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ abseits eines normativen Anspruchsdenkens als ein Geschehen der Erfahrung thematisieren lassen. Indem die Phänomenologie als eine „Philosophie der Erfahrung“ bzw. als „Versuch der direkten Beschreibung aller Erfahrung“ auftritt (vgl. Merleau-Ponty 1966: 3), stellt sie gewohnte Sehgewohnheiten immer auch in Frage: „Sie dechiffriert nicht eine Wirklichkeit, die nicht für sich selbst sprechen kann, sondern sie ist bemüht, den Sinn der unterschiedlichen Erfahrungen, die wir machen, von ihnen selbst her zu entwickeln. Zwangsläufig gerät Phänomenologie dadurch in einen dauernden Konflikt mit unseren vielfach vermittelten Sehgewohnheiten.“ (Meyer-Drawe 1993: 28) Der

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inklusionspädagogische Anspruch, dass es normal sein soll, verschieden zu sein, ist in pädagogischen Sphären auf dem besten Weg, zur neuen, bestimmenden Sehgewohnheit für den Umgang mit und die Wahrnehmung von Behinderung zu werden. Mit der Phänomenologie des Fremden wird es in dieser Arbeit daher darum gehen, dieses normative Anspruchsdenken mit den Ansprüchen der Erfahrung zu konfrontieren und letztlich die schädlichen Wirkungen der inklusionspädagogischen Prämissen für den Umgang mit Behinderung aufzuzeigen. Diese resultieren eben genau daraus, dass der inklusionspädagogische Denkansatz in seiner präskriptiven Ausrichtung vehement auf das Erfahrungsgeschehen einwirken will, ohne diesem aber selbst Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Der fremdheitsphänomenologische Zugang ermöglicht eine Rückbefragung derjenigen Ebene, auf der wir Erfahrungen miteinander machen und solche nicht nur wiederholen oder herstellen. Mit dem methodischen Zugang der Phänomenologie kann es dabei nicht um die Verkündung irgendwelcher Wahrheiten gehen. Dies erklärt sich bereits dadurch, dass wir an das Geschehen der Erfahrung selbst nicht heranreichen, da es sich uns notwendigerweise entziehen muss, damit wir überhaupt darüber sprechen können. Wie jeder andere Diskurs taugt zudem auch der philosophische Diskurs nicht zum Superdiskurs; auch er hat seine eigenen Grenzen und seine Rede erfolgt nicht von einem ortlosen Standpunkt aus (vgl. Waldenfels 1987: 200): „Philosophie, die tradierbar ist wie eine Wissenschaft, besteht aus Texten, in denen Fragen aufgegriffen und aufgeworfen, Themen ausgewählt, begriffliche Unterscheidungen getroffen, Vergleiche angestellt, andere Texte zitiert oder nicht zitiert, fremde Äußerungen kommentiert, Kapiteleinteilungen vorgenommen, Titel und Überschriften festgesetzt werden – und in denen natürlich auch behauptet und argumentiert wird.“ (Ebd.: 199)

All diese und andere Einschränkungen stellen eine Notwendigkeit dar, um überhaupt etwas zur Sprache zu bringen und auf begründete Weise dazu Stellung zu beziehen. So erfolgen auch die vorliegenden Ausführungen nicht standortlos, sondern es werden aus der fremdheitsphänomenologischen Perspektive heraus zentrale Momente des inklusionspädagogischen Denkens aufgegriffen und kritisch hinterfragt. Umso wichtiger ist es für ein solches methodisches Vorgehen jedoch, neben diesem spezifischen Zugang auch die argumentativen Voraussetzungen der Kritik sowie den Standort der eigenen Rede möglichst transparent zu machen. Mit den umfassenden Ausführungen zum pädagogischen Inklusionsbegriff sowie der Darstellung zentraler Problemfelder des Diskurses um die pädagogische Inklusionsidee soll diesem Anspruch entsprochen werden (Kap. 2). Phänomenologie wird in der vorliegenden Arbeit explizit in ihrer Rolle als Störenfried (vgl. Waldenfels 2008: 44) verstanden und genutzt, mit der das allzu gut funktionierende Denksystem des inklusionspädagogischen Ansatzes verunsichert

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und in Frage gestellt wird. Mit dem fremdheitsphänomenologischen Zugang, als Analyseinstrument der pädagogischen Inklusionsidee, wird damit sozusagen die Methode eines indirekten Diskurses verfolgt, „der sich an andere Diskurse anlehnt, sich in sie einnistet, sie befragt, aufsprengt, zerlegt, wachhält wie ein Salz, das Speisen nicht ersetzt, sondern würzt. […] Ein solch indirekter Diskurs hätte seinen Ort gleichzeitig innerhalb und jenseits des direkten Diskurses, an den er sich anschließt. Sofern dieser indirekte Diskurs kritisch ist, schwebt die Kritik ebenfalls zwischen Tür und Angel; sie wäre weder bloß immanent noch transzendent, als spezifisch gezielte Kritik würde sie sich nähren von den Schatten des Außerordentlichen, die eine jede Ordnung um sich verbreitet.“ (Waldenfels 1987: 200)

Ein solches methodisches Vorgehen ist dieser Arbeit zugrunde gelegt: Mit der Phänomenologie des Fremden wird im Sinne eines indirekten Diskurses eine Anlehnung an und ein Einnisten in den Diskurs der pädagogischen Inklusion verfolgt, der gleichsam von innen und außen heraus aufgesprengt werden soll. Die Kritik richtet sich hierbei einerseits auf die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung als Kernidee dieses Ansatzes sowie andererseits auf dessen Sichtweise von Intersubjektivität. Die nicht zu überwindenden „Schatten des Außerordentlichen“ können beide Male als das Fremde selbst verstanden werden, die mit dem inklusionspädagogischen Ansatz jedoch unwiderruflich getilgt werden sollen. Kurzum: Im Mittelpunkt der Analyse und Kritik steht der Umgang mit Fremdheit in diesem Ansatz. Zentraler Ansatzpunkt dieses Zugangs ist, dass wir es auf der Ebene der Erfahrung stets mit Ansprüchen des Fremden und der Erfahrung von Fremdheit zu tun haben. Diese Erfahrung von Heterogenität im Sinne von Fremdheit geht jedem Vergleich und normativen Gleichsetzen voraus; vielmehr stellt sie uns – wie sich anhand des einleitenden Beispiels gezeigt hat – zunächst einmal selbst in Frage („Ich verurteilte mich selbst wegen dieser Gedanken, aber das Verhalten der Kinder befremdete mich so sehr, dass sie mir eher ‚tierisch‘ als ‚menschlich‘ erschienen“; Pfeffer 1987: 260). Die normative Einschätzung unterschiedlicher Ausprägungen von Heterogenität (zum Beispiel Behinderung, Geschlecht etc.) als ‚gleich(wertig)‘ erfolgt stets nachträglich („Ich klammerte mich zu dieser Zeit daran, dass sie menschliche Namen hatten; das allein half mir, sie als Menschen sehen zu können“; ebd.). Mit dem Begriff der Heterogenität kommt im inklusionspädagogischen Ansatz bisher nur diese zweite Ebene vor, das Vergleichen und Gleichsetzen unterschiedlicher Ausprägungen von Heterogenität. Anders formuliert: Heterogenität wird hier ausschließlich im Sinne von „Verschiedenheit“ benutzt. Durch diese einseitige Sichtweise des ‚normativen Gleichsetzens‘ wird die Ebene, auf der wir (Fremd-)Erfahrungen machen, nicht nur übergangen, sondern durch das Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ werden diese Ebene und die Fremdheit des Anderen letztlich nivelliert. Heterogenität im Sinne von Fremdheit bleibt im inklu-

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sionspädagogischen Ansatz unberücksichtigt. Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, diese Ebene der Erfahrung bzw. ein Verständnis von Heterogenität im Sinne von Fremdheit in den Diskurs um die pädagogische Inklusion vertieft einzubringen und mit dieser Sichtweise auf problematische Implikationen der theoretischen Prämissen dieses Ansatzes aufmerksam zu machen. Der Dreh- und Angelpunkt des inklusionspädagogischen Ansatzes ist das Problem der Heterogenität und der Umgang mit ihr. Durch ein fremdheitsbezogenes Heterogenitätsverständnis ändert sich der Zugriff auf dieses Problem grundlegend. Begegnungen zwischen Menschen lassen sich mit dieser Sichtweise anders betrachten als dies im inklusionspädagogischen Ansatz geschieht. Durch die einseitige Verwendung von Heterogenität im Sinne von Verschiedenheit kann dieser Ansatz sein Anliegen der Wertschätzung nicht mehr als ein Problem der konkreten Erfahrung zwischen Menschen thematisieren, sondern diese Ziele nur noch aus einer normativen Perspektive heraus fordern. Allerdings ist dieses eingeschränkte Verständnis von Heterogenität bei weitem kein alleiniges Problem des inklusionspädagogischen Ansatzes, sondern es betrifft nahezu den gesamten Diskurs um Vielfalt, Differenz oder Verschiedenheit. Auch in der Heil- und Sonderpädagogik, die es im Kern mit dieser Problematik zu tun hat, ist, wie Dederich als nahezu einziger Vertreter dieser Disziplin bemerkt, „bis heute […] erst in Ansätzen bedacht worden, zu welchen theoretischen und konzeptionellen Konsequenzen eine Konzeptionierung von Heterogenität und Vielfalt als radikaler Andersheit [Fremdheit; Anm. P.S.] führt“ (Dederich 2013c: 34). Ihm zufolge stehe eine „kritische Diskussion der radikalen Andersheit [Fremdheit; Anm. P.S.] im Kontext der Heil-und Sonderpädagogik […] noch aus“ (ebd.: 55). Diese Diskussion, die innerhalb der Disziplin von Dederich und Stinkes angestoßen wurde (vgl. Dederich 2013c, 2014; Stinkes 2012a, 2012b, 2014), wird hier ausführlich in Bezug auf die theoretischen Grundlagen des inklusionspädagogischen Ansatzes geführt. Der fremdheitsphänomenologische Zugang erfüllt in dieser Arbeit also mehrere Funktionen: Er dient primär dazu, das Heterogenitätsverständnis und die theoretischen Sichtweisen des inklusionspädagogischen Ansatzes auf den Umgang mit Heterogenität bzw. Fremdheit auf systematische Art und Weise zu hinterfragen und Konsequenzen dieser Sichtweise zu verdeutlichen. Mit ihm lässt sich zeigen, dass die Problematik der Ausgrenzung und Wertschätzung nicht vorrangig eine Frage fehlender oder vorhandener Wertüberzeugungen auf der Ebene des Rechts oder der Moral ist, sondern sich zunächst als ein Geschehen der Erfahrung und damit der Erfahrung von Fremdheit verhält. Der Zugang über das Phänomen der Fremdheit ermöglicht somit gleichsam, die vor dem Hintergrund rechtlicher und institutioneller Fragen in Vergessenheit geratene Dimension der konkreten Begegnungen im Diskurs um Inklusion überhaupt erst wieder sichtbar zu machen und sie abseits normativer Vorstellungen und präskriptiver Forderungen zu thematisieren. Im Speziellen finden die Überlegungen zur Fremdheit im Kontext des Umgangs mit Heterogenität

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also Anwendung auf die Thematik der Behinderung, die nicht zuletzt auch im Diskurs um Inklusion im Vordergrund der Diskussionen steht und die das Problem der Fremdheit auf besondere Weise hervortreten lässt. Der Ansatz dient somit auch der Analyse der Spezifik der Begegnungen zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘. Von hier ausgehend wird nicht nur die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ kritisierbar, sondern auch die bisherige Sichtweise auf die „sozialen Reaktionen“ im Kontext von Behinderung und deren Erklärungsansätze (vgl. Cloerkes 2007) erfahren eine teilweise Revision und Erweiterung. Neben dem Zugriff auf die spezifische Problematik der Intersubjektivität ermöglichen die Überlegungen zur Fremdheit zugleich auch ein Hinterfragen der grundsätzlichen, theoretischen Prämisse der pädagogischen Inklusionsidee, der Annahme des völligen Einbezogenseins in eine sogenannte „inklusive Gemeinschaft“. Die eigenen Ausführungen beziehen sich hierbei durchgehend auf die Phänomenologie des Fremden bei Waldenfels, dessen Werk sich eher im Sinne einer Reliefbildung denn als eine strenge, systematische Abhandlung verstehen lässt (vgl. Waldenfels 2006: 13). Waldenfels befasst sich auf eine sehr grundlegende Weise mit den Phänomenen der Ordnung und Fremdheit, was die Möglichkeit bietet, seine Überlegungen in vielerlei Hinsicht fruchtbar zu machen. Sein Werk lässt sich zwar so lesen, dass beispielsweise Behinderungen immer auch mit thematisiert sind, eine direkte Explikation dieser Thematik erfolgt jedoch aus guten Gründen nicht oder nur sehr am Rande. Ebenso lassen sich seine Ausführungen, insbesondere zum Ordnungsbegriff, als eine umfassende Inklusionskritik lesen, die so jedoch ebenfalls nur sehr randständig und wenn, dann mit Bezug auf Habermas, gestreift wird. Der inklusionspädagogische Ansatz samt seiner Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ spielt in den Werken von Waldenfels bisher aber keine oder zumindest keine explizite Rolle. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, diese vorhandenen Anknüpfungsmöglichkeiten und das kritische Analysepotential der Waldenfels’schen Studien für die Thematik der Behinderung und den pädagogischen Inklusionsbegriff explizit zu machen. Damit stellt das Denken Waldenfels’ für die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik einen fruchtbaren Boden dar, aus dem heraus sie sich selbst sowie ihren Gegenstand der Behinderung und den Umgang mit ihm auf gleichsam kritische und ertragreiche Weise hinterfragen kann. Im heil- und sonderpädagogischen Diskurs sind es bisher vor allem Dederich und Stinkes, die sich dem Waldenfels’schen Denken zuwenden und es inzwischen ebenso in den Kontext inklusionspädagogischer Theoriebildung stellen.7 Jedoch ist aus dieser Perspektive bisher weder eine umfassende Kritik an der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung – als der Grundidee dieses Ansatzes – erkennbar noch wurde mit ihr die Spezifik der Prozesse der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung eingehender untersucht und 7

Vgl. hierzu genauer u.a. 3.3.

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diese Untersuchung daraufhin in klarer Abgrenzung auf die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ angewendet. Vor allem mit dem Problem der Verantwortung setzen Dederich und Stinkes einen anderen Schwerpunkt, der in Richtung einer Reformulierung ethischer Verhältnisse abzielt. Im Verlaufe der Arbeit wird zudem deutlich werden, inwiefern sich die eigenen Ausführungen insbesondere von der Ansicht Stinkes’ abheben, die von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Erweiterung der Prämissen des pädagogischen Inklusionsansatzes um das Denken der radikalen Fremdheit ausgeht (vgl. Stinkes 2012a; 2014). Demgegenüber wird hier der Begründungsversuch unternommen, dass eine solche Erweiterung nicht nur nicht möglich ist, sondern dass das Denken der radikalen Fremdheit die Prämissen dieses Ansatzes und seine Ansprüche aufs Äußerste in Frage stellt.

1.3 THESEN DER ARBEIT Mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff bestehen Hoffnung und Anspruch, die theoretische und praktische Lösung aller Probleme gefunden zu haben, die zu Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Marginalisierungen führen. Positiv gewendet verbindet sich mit ihm der Wunsch und die Forderung nach einer weltweiten, selbstverständlichen Anerkennung aller Menschen und ihrem uneingeschränkten Einbezogensein in einer „inklusiven Gesellschaft“ (vgl. Hinz 2006a: 98). Dabei tritt der inklusionspädagogische Ansatz mit dem expliziten Anspruch auf, das exklusive Konzept des angemessenen, nichthierarchischen und damit demokratischen Eingehens auf die vorhandene Heterogenität (vgl. Boban/Hinz 2003b: 3) zu sein, zu der auch die Dimension der Behinderung zählt. Die zu überprüfende, übergeordnete These dieser Arbeit ist, dass der inklusionspädagogische Ansatz – entgegen seinem eigenen Anspruch – eine unzureichende Idee repräsentiert, um auf der intersubjektiven Ebene Ausgrenzungen zu vermeiden und wertschätzendes Verhalten herbeizuführen. Die Grundannahmen und Forderungen dieses Ansatzes können sogar das Gegenteil der eigenen Intentionen bewirken, indem sie ausgrenzendes Verhalten verstärken und zu neuen Exklusionen führen. Diese Gefahr entsteht dadurch, dass die Ebene der Erfahrung, auf der wir uns als leibliche Wesen in unserer Fremdheit begegnen, nicht nur ausgeblendet wird, sondern die Fremdheit des Anderen durch die inklusionspädagogischen Prämissen nivelliert und zugleich ihre Überwindung gefordert wird. Ausgangspunkt dieser These ist, dass der pädagogische Inklusionsbegriff das Problem der intersubjektiven Ausgrenzung bzw. Wertschätzung ausschließlich normativ und präskriptiv betrachtet. Der intersubjektive Umgang mit Vielfalt, Verschiedenheit oder Heterogenität steht immer schon fest, bevor dem Anderen konk-

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ret begegnet wird. Der oder die Einzelne hat sich dem Duktus dieser Idee zu fügen, demnach Heterogenität, Vielfalt und Verschiedenheit von vornherein als etwas Wertzuschätzendes erfahren und umstandslos bejaht werden sollen. Unter der theoretischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ werden die Anerkennung und Wertschätzung des Anderen vehementer als jemals zuvor gefordert, indem es „mehr denn je gelte“, dass es normal zu sein hat, verschieden zu sein (vgl. Hinz 2002: 357). Heterogenität wird nun also endgültig zur neuen Normalität ausgerufen. Heterogenes tritt somit nur noch unter den Maßstäben der Normalität oder des Allgemeinen in Erscheinung, in das es gleichsam eingeordnet wird; es hat für sich genommen keinerlei spezifische Bedeutung mehr. Dies zeigt sich auch anhand der mit diesem Theorem aufs engste verbundenen Kritik an der sogenannten und behaupteten „Zwei-Gruppen-Theorie“ des integrationspädagogischen Ansatzes. Diese Kritik hat die Überwindung der als diskriminierend und rassistisch eingestuften Kategorien wie beispielsweise „behindert-nichtbehindert“ oder „Mann-Frau“ zum Ziel, die als bloße sprachliche Zuordnungen oder Konstruktionen verstanden werden (vgl. u.a. Hinz 2010a: 39ff.). Dass diese Kategorien jeweils eine spezifische Bedeutung für die Wahrnehmung von sich und Anderen und für das Verhältnis zwischen Ich und Anderen haben können, wird also von Grund auf bezweifelt. Der Maßstab der Wahrnehmung soll sich dahingehend verschieben, dass spezifische Merkmale wie das einer Behinderung keinerlei Bedeutung mehr haben. Das einzig zulässige Raster unserer Wahrnehmung soll nur noch der allgemeine Maßstab der individuellen Verschiedenheit sein, der noch dazu zur neuen Normalität ausgerufen wird. In eben diesem Verständnis von Heterogenität als normale, individuelle Verschiedenheit, das den Zielpunkt inklusionspädagogischen Denkens markiert, zeigt sich eine deutliche theoretische Verschiebung gegenüber der integrationstheoretischen Denkfigur der egalitären Differenz. Entgegen der Behauptung von Hinz und der häufig zu vernehmenden Einschätzung lautet eine weitere These daher, dass mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff nicht bloß eine Kritik an der Praxis der Integration einhergeht, sondern dieser Begriff auch auf der theoretischen Ebene etwas entschieden Neues gegenüber dem integrationstheoretischen Verständnis von Integration darstellt. Nun darf die Kritik an den theoretischen Prämissen eines Begriffes und seinen Argumenten nicht mit einer Kritik an dem zentralen Anliegen dieses Begriffes verwechselt werden, das im Falle der pädagogischen Inklusion grundsätzlich die Wertschätzung aller Menschen und ihre Teilhabe an der Gesellschaft zum Ziel hat: „Niemand, der für moralisch zurechnungsfähig gelten möchte, wird über das zentrale Anliegen der Inklusionsidee streiten wollen, dass schulische und gesellschaftliche Diskriminierung zu unterbinden sei, selbst wenn er eine von Diskriminierung freie Gesellschaft als Utopie ansehen mag.“ (Dammer 2011: 6) Anzuzweifeln sind auch hier nicht das Ziel einer größeren Teilhabe ‚Behinderter‘ an der Gesellschaft und ihre möglichst umfängliche Wertschätzung. In Frage gestellt wird vielmehr, dass mit

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den theoretischen Vorstellungen des pädagogischen Inklusionsbegriffes der Königsweg hin zu diesem Anliegen gefunden ist, so, wie es der Anspruch dieses Ansatzes ist und wie er es verspricht. Anhand des Ordnungsbegriffes bei Waldenfels kann, so eine weitere These, die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung vielmehr als illusionär und totalitär verortet und als ideologisch motiviert ausgewiesen werden, indem der Standpunkt der eigenen Wir-Rede verleugnet wird. Die einseitig normative Sichtweise auf das inklusionspädagogische Kerngeschehen der Anerkennung anderer Menschen stellt, so die Hauptthese weiter, eine starke Verkürzung dieser Problematik dar. Der inklusionspädagogische Ansatz steht durch sein einseitiges Beharren auf der Wertschätzung von Vielfalt vor dem selbst eingekauften Problem, Anerkennungs- und Ausgrenzungsprozesse nicht mehr abseits von moralischen Forderungen thematisieren zu können. Das in höchstem Maße konfliktreiche, intersubjektive Geschehen entzieht sich durch den normativen Blickwinkel der Reflexion, so dass diese Sichtweise lediglich Antworten auf ein Geschehen zur Verfügung stellt, das ihr durch die normative Blickhaltung verschlossen bleibt. Die Antworten bewegen sich also losgelöst von jeglichen Kontexten, in denen sich Menschen unter bestimmten historischen, kulturellen, gesellschaftlichen und leiblichen Voraussetzungen begegnen. Diese Verhältnisse müssen vom inklusionspädagogischen Ansatz in seinen theoretischen Überlegungen zum Problem der Ausgrenzung und Wertschätzung in irgendeiner Form Berücksichtigung erfahren, weil die Antworten ansonsten lediglich abstrakt und kontextlos bleiben und sie somit ideologische Züge annehmen. Indem der inklusionspädagogische Ansatz diese Verhältnisse jedoch völlig ausblendet und allein Wünschenswertes und Gesolltes zum Ausdruck bringt, ermöglicht die reduktionistische Sichtweise dieses Ansatzes keine Reflexion mehr darüber, weshalb es überhaupt zu gesellschaftlichen und intersubjektiven Ausgrenzungen kommen könnte. Eine solch tiefgreifende Reflexion, die sich um eine Analyse gesellschaftlicher und intersubjektiver Voraussetzungen dieser Problematik bemüht und Hindernisse nicht verschweigt, ist aber dringend geboten und notwendig, um von konkreten Problemlagen ausgehend spezifische Veränderungsprozesse, wie beispielsweise einen Wandel der Einstellungen, herbeizuführen. Allein mit Forderungen ist noch nichts gewonnen. Blenden diese Appelle ihre wirklichkeitsbezogenen Bedingungen aus, so besteht die Gefahr, dass sie im günstigsten Fall wirkungslos bleiben oder dort auf Ablehnung und Widerstand stoßen, wo sich die Wirklichkeit anders zeigt und die Forderungen auf klare Grenzen treffen. Auch kann es nicht der Anspruch einer wissenschaftlichen Disziplin oder eines wissenschaftlichen Ansatzes sein, das Ziel gesellschaftlicher und intersubjektiver Veränderungen allein durch die Kraft moralischer Argumente herbeizuführen (vgl. hierzu auch Schlee 2012: 117f.). Anstatt seinem eigenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nachzukommen und damit die Bedingungen dieser Veränderungen analytisch in den Blick zu nehmen, geht der inklusionspädagogische Ansatz der Analyse gesellschaftlicher und intersubjektiver

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Wirklichkeiten nicht nur aus dem Weg, sondern versucht, diese auf der sprachlichen Ebene als ungültig zu erklären. Kastls Einschätzung zum pädagogischen Inklusionsdiskurs fällt in diesem Zusammenhang ähnlich aus: Die „Rhetorik der derzeitigen omnipräsenten Inklusionspropaganda“ erwecke „mittlerweile den Verdacht, dass sie geradezu die Funktion hat, die Blicke nach oben zu richten – auf die großen Formeln und Worte am blauen Himmel der pädagogisch-juristischen Deklaratorik. Vielleicht, damit man nicht allzusehr auf die kleinen, aber wesentlichen Details der harten irdischen Alltagsrealität […] achtet […]“ (Kastl 2013: 150). Die hier angedeuteten Überlegungen führen zu der These, dass der inklusionspädagogische Ansatz ein einseitig normativer Ansatz ist, der durch seine Forderungen zudem sehr präskriptiv in Erscheinung tritt und hierbei ohne direkte Begründungsleistungen dieser Forderungen auskommt. Die Begegnung mit anderen Menschen gerät im inklusionspädagogischen Ansatz nur noch unter der Perspektive eines Anwendungsfalls moralischer oder rechtlicher Normen in den Blick. Die Erfahrung dieser Begegnungen, die geprägt sind von der Erfahrung der Fremdheit des Anderen und der Fremdheit des Eigenen, bleibt unterminiert. Die Anerkennung des Anderen wäre aus dieser verkürzten Sichtweise lediglich eine Frage des subjektiven, autonomen Wollens ob der Anerkennung vielfaltsbewusster Werte, wobei mögliche Ursachen für Ausgrenzungen dann eine Frage fehlender Wertüberzeugungen wären. Begegnen sich Menschen jedoch wirklich nur im Modus moralischer und rechtlicher Normen und Ansprüche oder nicht vielmehr als leibliche Wesen, die nicht nur mit Plänen, Zielen und Wünschen, sondern auch mit Ängsten und Unsicherheiten behaftet sind? Vollzieht sich ausgrenzendes und anerkennendes Verhalten allein auf der Ebene rechtlicher und moralischer Geltungsansprüche (vgl. hierzu auch Singer 2015a; Lelgemann/Singer/ Walter-Klose 2015b)? Die leiblichen und damit wahrnehmungsbedingten, konkreten Erfahrungen zwischen Menschen, so die Hauptthese dieser Arbeit weiter, werden im inklusionspädagogischen Ansatz als ein normatives Geschehen verschleiert und hierdurch systematisch ausgeblendet. Für diese Tatsache gibt es unterschiedliche Gründe, die sich sowohl auf gesellschaftspolitischer als auch auf theoretischer Ebene verorten lassen. So ist es im Diskurs um Inklusion allem Anschein nach nicht mehr zeitgemäß und angemessen, Schwierigkeiten, auch und besonders im intersubjektiven Umgang mit Behinderung, überhaupt noch zu benennen. Die zu starke Konzentration auf bunte Farbpunkte, die zur Visualisierung der wertzuschätzenden Vielfalt oftmals verwendet werden, scheint verdrängt zu haben, dass sich hinter diesen Farbklecksen Menschen mit unterschiedlichen Erwartungen, Haltungen, Bedürfnissen und Ängsten verbergen und diese in unterschiedlichen Beziehungen auf unterschiedliche Art und Weise virulent werden können. Auch Schlee teilt diese Einschätzung, indem er bezüglich solcher Visualisierungsversuche feststellt, dass „diese Darstellung über die Dynamik innerhalb menschlicher Gruppierungen sowie

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über die Bedeutung von situativen Konstellationen völlig hinweg[geht]“ (Schlee 2012: 111). Und Smykalla ist zuzustimmen, wenn sie betont, dass dieses „Feiern von Vielfalt“ zu einem „Zelebrieren der Differenz“ führe: „Unterschiede werden weniger als Problem, Nachteil oder tragisches Schicksal, denn als erfreuliches Spektakel oder als kulturelles Kapital präsentiert.“ (Smykalla 2014: 177) So sei im Kontext der Ausblendung intersubjektiver Erfahrungsmomente und der beschönigenden und euphemistischen Rede von Vielfalt und Differenz an dieser Stelle lediglich darauf hingewiesen, dass auch bereits vorliegende Erkenntnisse in diesem Kontext, wie die von Cloerkes so benannten „originären Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘, so gut wie keinerlei Beachtung mehr im pädagogischen Inklusionsdiskurs finden. Die Ausblendung des wahrnehmungs- und erfahrungsbedingten, intersubjektiven Geschehens begründet sich aber nicht nur durch die euphemistische und moralisierende Rede von Inklusion, sondern sie hängt auch – so eine weitere These – mit inneren Konsistenzgründen der inklusionspädagogischen Theoriebildung zusammen. Das auf dem Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ basierende Theoriegebäude kann Begegnungen zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ nicht mehr in den Blick nehmen, sofern es sich nicht selbst ad absurdum führen will. Das mit diesem Theorem anvisierte Ziel der Auflösung wahrnehmungsbezogener Kategorien negiert hierdurch jedoch die Spezifik unterschiedlicher Beziehungen, wie beispielsweise die zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘, und die mit ihnen verbundenen, situativen und kontextgebundenen singulären Ansprüche. Damit aber gehen zugleich eine Negation der Inhalte tatsächlicher Begegnungen und die Verwehrung des Rechts, etwas selbst zu empfinden, einher. Zu diesen problematischen Implikationen kommt es in theoretischer Hinsicht vor allem deswegen, da Heterogenität im inklusionspädagogischen Ansatz ausschließlich in ihrer relativen Dimension der Verschiedenheit, also im Vergleichen unterschiedlicher Merkmale von Individuen, Verwendung findet. Diese einseitige Betrachtung von Heterogenität bzw. das Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ verkennt die radikale Dimension von Heterogenität, das heißt die Erfahrung einer Fremdheit, die sich jedem Vergleich und Gleichsetzen entzieht. So sehr es auch das Bemühen des inklusionspädagogischen Ansatzes sein mag, diese Fremdheit zu tilgen: Dieser Versuch kann nur durch den Preis der diskursiven Ausblendung leiblich-konkreter Erfahrungen gelingen, die Wahrnehmung selbst bleibt hiervon unberührt bzw. untergraben die leiblichen Erfahrungen die normativen Forderungen dieses Ansatzes. Es steht deshalb die These im Raum, dass das Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ nur so lange Gültigkeit beanspruchen kann, wie die konkreten Begegnungen und damit die Dimension der radikalen Fremdheit übergangen werden. Anders als Stinkes, die den Gedanken der radikalen Fremdheit im Kontext von Inklusion neben Dederich als Einzige im heil- und sonderpädagogischen Diskurs überhaupt aufgreift und die von einer Erweiterung der Idee der

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„Normalität der Verschiedenheit“ um die Idee der „radikalen Fremdheit“ spricht (vgl. Stinkes 2012a; 2014), wird hier davon ausgegangen, dass eine solche Erweiterung nicht möglich ist. Vielmehr wird hier die These vertreten, dass das Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ durch den Gedanken der „radikalen Fremdheit“ grundsätzlich in Frage gestellt wird. Es ist daher zu beweisen, dass der inklusionspädagogische Ansatz als sinnvolle und angemessene Leitvorstellung für intersubjektives Handeln bzw. den Umgang mit Heterogenität abzulehnen ist. Die Theorie dieses Ansatzes wird dem Problem des Umgangs mit Heterogenität nicht nur nicht gerecht, sondern diese Sichtweise impliziert durch die systematische Ausblendung und Negierung der Erfahrungsebene, und ihr gleichzeitiges präskriptives Einwirken auf diese, die Gefahr gegenläufiger Konsequenzen. Der hier gewählte analytische Zugang der Phänomenologie des Fremden bei Waldenfels greift all die angesprochenen Probleme auf: Neben seiner Funktion eines Analyseinstruments der inklusionspädagogischen Prämissen verspricht er eine wesentlich differenziertere Betrachtung des Problems der Ausgrenzung bzw. Wertschätzung auf der intersubjektiven Ebene als dies der inklusionspädagogische Ansatz vermag, der auf der Ebene moralisch gebotener Forderungen verbleibt. Mit ihm wird ein Perspektivenwechsel möglich, der diese Ebene selbst und damit die Begegnungen zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ wieder in den Blick nehmen und deren Spezifik herausarbeiten kann. Anstatt sich auf universelle Forderungen im Umgang mit Heterogenität zu beschränken, die sich unspezifisch auf alle Dimensionen von Heterogenität beziehen, zwingt die Analyse dieser Begegnungen zu einem spezifischen Umgang mit der Heterogenitätsdimension der Behinderung. Sie erfordert eigene und andere als die vom inklusionspädagogischen Ansatz vorgesehenen, verallgemeinernden Antworten auf das Problem des Umgangs mit Heterogenität bzw. Behinderung. Damit ist zugleich ein Wechsel der Diskursebenen weg von einem bloß relativen Verständnis von Heterogenität im Sinne von Verschiedenheit hin zu einem Verständnis von Heterogenität im Sinne von Fremdheit angezeigt. Diese Differenzierung ermöglicht es, den Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes, als alleingültige universelle Vorstellung des Umgangs mit Heterogenität zu fungieren, systematisch zu prüfen und ihn vor dem Hintergrund dieser Prüfung neu zu verorten bzw. einzuschränken. Gleichsam ermöglicht die Analyse des spezifischen Fremderfahrungsgeschehens im Kontext von Behinderung aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden kritische Rückfragen an die Sichtweise auf die „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ und deren Erklärungsansätze bei Cloerkes. Die These ist hierbei, dass das Verständnis der „sozialen Reaktionen“ die Dimension pathischer Ereignisse zu wenig berücksichtigt und die Erklärungsansätze ‚zu spät‘ einsetzen, um dieses Geschehen angemessen berücksichtigen zu können.

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Kurzum: Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen ein Denken der radikalen Fremdheit für den pädagogischen Inklusionsbegriff im Ganzen und für seine Prämissen im Umgang mit Heterogenität bzw. Behinderung im Speziellen hat. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht nur in dieser begrifflich-theoretischen Hinsicht bedeutsam, sondern sie impliziert zugleich eine unmittelbare praktische Relevanz. Denn je nachdem, zu welchen Konsequenzen das Denken der Fremdheit für den pädagogischen Inklusionsbegriff führt, stellt sich auch für die Disziplin der Heilund Sonderpädagogik die Frage ihres zukünftigen Verhältnisses zu diesem Begriff und seiner disziplinären Verwendung. Von praktischer Bedeutung wird das Denken der Fremdheit aber auch deshalb, weil sich hiermit ein anderer Umgang mit Behinderung als im inklusionspädagogischen Ansatz ankündigt, der andere Möglichkeiten auf dem Weg hin zu mehr Anerkennung ‚Behinderter‘ offenbart. Die Thesen der Arbeit lassen sich damit wie folgt nochmals zusammentragen: Die Hauptthese der Arbeit ist, dass der inklusionspädagogische Ansatz die Dimension intersubjektiver Beziehungen als sein eigenes Kernanliegen letztlich nicht in den Blick bekommt, indem er sie nur normativ betrachtet. Mit der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ werden sowohl das Geschehen der Fremderfahrung und Aufmerksamkeit als auch die Spezifik dieser Prozesse im Kontext von Behinderung übersehen. In Verbindung damit, dass dieser Ansatz bewusst Einfluss auf das Denken, Wahrnehmen und Handeln auch im Kontext von Behinderung nehmen will, kann ihm eine machtförmige Wirkung für intersubjektive Begegnungen auch zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ unterstellt werden. Indem hierbei die nicht zu überwindende Fremdheit des Anderen gefordert wird, gefährdet das inklusionspädagogische Denken die Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘. Im Einzelnen gilt es zu zeigen, dass dieser Ansatz streng normativ und präskriptiv ausgerichtet ist und ohne direkte Begründungsleistungen seiner Forderungen auszukommen versucht (2.3). Zugleich kommt es mit der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ zu einer theoretischen Verschiebung gegenüber dem integrationstheoretischen Ansatz der egalitären Differenz, die in einem grundlegend anderen Verständnis von Heterogenität ihren Ausdruck findet (2.4). Es kann daher von einer originären pädagogischen Inklusionsidee ausgegangen werden, die im Diskurs um sie jedoch zum einen zusehends verwässert und entwertet wurde (2.1) und die sich zum anderen von einem soziologischen Inklusionsbegriff unterscheidet (2.2). Sowohl der integrationstheoretische als auch der inklusionstheoretische Ansatz unterliegen im pädagogischen Kontext allerdings einem einseitigen Verständnis von Heterogenität im Sinne von Verschiedenheit, das ein Denken von Heterogenität im Sinne der radikalen Fremdheit zudeckt oder gar zu überwinden trachtet (Kap. 3). Die Ordnungsvorstellung des inklusionspädagogischen Ansatzes tritt als dessen Grundidee nicht nur als illusionär, sondern auch als totalitär und ideologisch motiviert in Erscheinung (Kap. 4). Der fremdheitsphänomenologische Zugang in Anschluss an Waldenfels ermöglicht es hingegen, die Intersubjektivität im Kontext

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von Behinderung als ein Geschehen der (Fremd-)Erfahrung zu thematisieren und hierbei sowohl diese Prozesse als auch den Gegenstand der Behinderung vor dem Hintergrund ihrer lebensweltlichen Bedeutung zu verorten (Kap. 5). Auszugehen ist hier von einem spezifischen Geschehen der Erfahrung von Heterogenität, das sich nicht mit anderen Heterogenitätserfahrungen gleichsetzen lässt. Abgesehen hiervon erfahren mit dem Zugang über das Phänomen der Fremdheit auch die bisherigen Erklärungsansätze der „sozialen Reaktionen“ im Kontext von Behinderung und deren Sichtweise eine Revision und Erweiterung (5.4; 5.5.2; 5.5.4). Schließlich ist zu zeigen, dass die inklusionspädagogische Betrachtung von Intersubjektivität und die damit einhergehende Nivellierung von Fremdheit ein großes Gefahrenpotential für das Ziel der Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘ darstellt (5.7).

1.4 AUFBAU DER ARBEIT Dieser einführende Teil hat das Erkenntnisinteresse der Arbeit kenntlich gemacht sowie dessen Bedeutung in wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht verortet. Ebenso wurden die methodische Herangehensweise aufgezeigt und der Arbeit neben einer Hauptthese weitere Thesen zugrunde gelegt. Der folgende Aufbau gliedert sich entsprechend dieser Thesen in vier inhaltliche Hauptteile sowie ein abschließendes Resümee samt eines Ausblicks hinsichtlich eines veränderten Umgangs mit den Phänomenen der Fremdheit und Behinderung. Teil II wendet sich zunächst ausführlich dem pädagogischen Inklusionsbegriff zu, womit mehrere Ziele verfolgt werden: In methodischer Hinsicht dient dieses Vorgehen dazu, die argumentativen Voraussetzungen der anschließenden Kritik zu schaffen und diese offen zu legen, indem die Prämissen der pädagogischen Inklusionsidee analysiert und auf möglichst systematisierte Weise dargestellt werden. Eine solche Begriffsklärung ist für diese Arbeit insbesondere deswegen immens wichtig, da die allgemeine Rede über Inklusion häufig unterstellt, dass es kein spezifisches Verständnis von Inklusion in pädagogischen Kontexten geben würde. Dieses undifferenzierte Diskursverständnis wird hier explizit nicht geteilt. Vielmehr können derartige Äußerungen und Darstellungen häufig als eine politische Strategie verstanden werden, die insbesondere von der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik, aber auch von bildungspolitischer Seite aus zur Anwendung kommt. Diese begriffsverwässernden Strategien dienen unter anderem dazu, zu einer Vereinbarkeit des pädagogischen Inklusionsbegriffes mit der Heil- und Sonderpädagogik zu gelangen bzw. bildungspolitische Entscheidungen im Zeichen des als zeitgemäß empfundenen inklusiven Paradigmas verorten zu können. Mit der Benennung und Analyse spezifischer Problemfelder des Diskurses um den pädagogischen Inklusionsbegriff ergeht der Versuch, das hochkomplexe Dis-

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kursfeld, mit dem es eine Arbeit inzwischen zu tun hat, die sich explizit dem pädagogischen Inklusionsbegriff zuwendet, zumindest ansatzweise zu entwirren (2.1). Nach einer knappen begriffsgeschichtlichen Verortung des pädagogischen Inklusionsbegriffes im deutschsprachigen Raum ist neben der diskursiven Verkürzung dieses Verständnisses auf die vorliegende Situation des Diskurses um Inklusion hinzuweisen, demnach der Diskurs selbst einen Zustand installiert, in dem der pädagogische Inklusionsbegriff als ungeklärt ausgewiesen werden soll. Zugleich ist dieser Diskurs nach wie vor und unbestritten von einer moralisch sehr aufgeladenen Situation geprägt, was kritische An- und Rückfragen ebenso wenig erleichtert wie eine offene und ehrliche Diskussionskultur. Einer solchen Diskussion entzieht sich – neben der Bildungspolitik – vor allem auch die Heil- und Sonderpädagogik, indem sie eher eine Politik der Begriffsumdeutung verfolgt, anstatt eine wissenschaftliche oder grundlagentheoretische Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff zu suchen. Hier wird aufzuzeigen sein, inwiefern und durch welche Strategien sowie mit welchen Motiven sich die Heil- und Sonderpädagogik auf diesen zweifelhaften Weg begibt, der aber letztlich nur dazu führt, sich selbst das disziplinäre Wasser abzugraben. Unabhängig davon, ob diese inhaltlichen Analysen als zutreffend beurteilt werden oder nicht, dient dieses Vorgehen in methodischer Hinsicht auch dazu, den eigenen Blickwinkel der Arbeit kenntlich und damit transparent zu machen. Ein solches methodisches Vorgehen liegt auch der anschließenden, ausführlichen Erörterung der pädagogischen Inklusionsidee selbst zugrunde (2.3). Mit der Erörterung der inklusionspädagogischen Grundannahmen muss zunächst geklärt werden, worauf sich die anschließende Kritik bezieht. Ausgegangen wird hierbei davon, dass es eine originäre pädagogische Inklusionsidee gibt, die mit eigenen theoretischen Annahmen operiert und dies auch in Abgrenzung zur Integrationstheorie. Vorweg erscheint es angesichts der Diskurslage jedoch geboten, den pädagogischen Inklusionsbegriff von einem soziologischen Verständnis von Inklusion abzugrenzen (2.2). Anstatt eine Reformulierung der pädagogischen Inklusionsidee in ein immanent soziologisches Begriffsverständnis anzustreben, wird in der vorliegenden Arbeit ein pädagogisches Begriffsverständnis von Inklusion ernst genommen und dieses aus einer phänomenologischen Perspektive heraus einer spezifischen Kritik unterzogen. Dies macht soziologische Analysen des pädagogischen Inklusionsbegriffes weder überflüssig noch stellt es sie in Frage. Im Gegenteil können diese Analysen vielmehr aufschlussreich sein, um auf bestimmte gesellschaftliche Problemlagen und Strukturen aufmerksam zu machen, die ein pädagogisches Begriffsverständnis weitgehend nivelliert und die auch der hier gewählten phänomenologischen Perspektive womöglich verschlossen bleiben. Beide Perspektiven können auf ihre Weise bestimmte Probleme und Analysen der pädagogischen Inklusionsidee zugänglich machen, andere hingegen eher weniger in den Blick nehmen. Eine soziologisch fundierte Analyse und Kritik kann vor allem die gesell-

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schaftliche Dimension von Inklusion thematisieren, mit einer phänomenologischen Herangehensweise lässt sich insbesondere die intersubjektive Dimension dieser Prozesse betrachten. Die beiden Perspektiven schließen sich daher keineswegs aus, sondern sie können sich auf fruchtbare Weise ergänzen. Umfassendere theoretische Auseinandersetzungen mit der pädagogischen Inklusionsidee sind im pädagogischen Inklusionsdiskurs eher selten. Eine grundsätzliche Infragestellung des inklusionspädagogischen Anspruchs, mit Inklusion den Weg schlechthin gefunden zu haben, um zur Anerkennung und Wertschätzung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppierungen zu gelangen, ist im (heil- und sonder)pädagogischen Inklusionsdiskurs so gut wie nicht festzustellen (vgl. auch Dederich 2013a: 42).8 Diese starke Zuwendung verwundert auch deswegen, da die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik ihr Selbstverständnis bis vor einigen Jahren noch aus pädagogischen Grundbegriffen wie dem der Bildung oder Erziehung und dem gesellschaftspolitischen Anspruch auf Integration gezogen hat. Der Inklusionsbegriff scheint jedoch eben diese anderen pädagogischen Grundbegriffe zu verdrängen, so dass die Heil- und Sonderpädagogik auf dem besten Weg ist, sich einer gesellschaftspolitischen oder allein normativen Ausrichtung hinzugeben. In Verbindung damit, dass eine grundlagentheoretische Verortung des Topos Inklusion innerhalb der Fachgrenzen kaum zu erkennen ist, gerät die Heil- und Sonderpädagogik in die Gefahr, ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufs Spiel zu setzen und nur noch als Spielball gesellschaftspolitischer Paradigmen oder bildungspolitischer Entscheidungen wahrgenommen zu werden. Teil II der Arbeit sucht daher explizit die theoretische Auseinandersetzung mit der pädagogischen Inklusionsidee. Zur Darstellung der Theorie der pädagogischen Inklusionsidee (2.3) wurde eine Systematik entwickelt, die sich um die übergeordneten Zielsetzungen (2.3.1), die Begründungs- oder Legitimationsversuche (2.3.2) sowie um die Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“, die die eigentliche theoretische Ausrichtung dieses Ansatzes darstellt (2.3.3), herum gruppiert. Es gilt 8

Eine Ausnahme, die sich auf umfassende und theoretische Weise mit diesem inklusionspädagogischen Anspruch auseinandersetzt, stellt die bereits thematisierte Arbeit von Felder dar (vgl. Felder 2012). Felder schränkt hier die Ansprüche des inklusionspädagogischen Ansatzes klar ein und begründet, dass es kein moralisches Recht auf Inklusion geben kann. Als Zielperspektive wird Inklusion aber letztlich auch bei ihr beibehalten. Klare Zurückweisungen der pädagogischen Inklusionsidee sind so nur aus soziologischer Perspektive zu erkennen, insbesondere bei Kastl (2012; 2013; 2014a; 2014b). Auch die umfassende Kritik Ahrbecks stellt die pädagogische Inklusionsidee in vielen Punkten zwar auf plausible Weise in Frage (vgl. Ahrbeck 2011; 2014); allerdings scheint es so zu sein, dass Ahrbeck mit seiner Kritik zu einem „gemäßigten Inklusionsverständnis“ gelangen möchte. Auf die Problematik einer solchen Vorgehensweise wird in 2.1 näher eingegangen.

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hier zu zeigen, dass der inklusionspädagogische Ansatz einseitig normativ sowie präskriptiv ausgerichtet ist und ohne direkte Begründungsleistungen auszukommen versucht, weshalb es sich bei seinen Zielsetzungen im Endeffekt um bloße Postulate zur Veränderung des gesellschaftlichen Rahmens und der Gestaltung intersubjektiver Beziehungen handelt. Derartige theoretische Systematisierungsversuche liegen kaum vor9; die hier gewählte Systematik ermöglicht nicht nur die differenzierte Diskussion der theoretischen Grundlagen dieses Denkansatzes, sondern ebenso eine anschließende Konsistenzprüfung, bei der die theoretische Grundprämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ zu den Zielsetzungen und anderen wesentlichen Aussagen dieses Ansatzes – wie der Kritik an der sogenannten „Zwei-GruppenTheorie“ und der Bestimmung von Heterogenität als individueller Verschiedenheit – ins Verhältnis gesetzt wird (2.3.4). Die pädagogische Inklusionsidee erweist sich zwar als in sich weitgehend stimmig, jedoch zeigen sich auch Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten, insbesondere in der eigenen Rede über ihre Anliegen. Zudem ermöglicht diese Systematik eine Inbeziehungsetzung der pädagogischen Inklusionstheorie mit der Integrationstheorie bzw. dem sogenannten integrationstheoretischen Integrationsverständnis (2.4), das Hinz als nahezu deckungsgleich mit der Inklusionstheorie einstuft. Entgegen dieser Einschätzung, die so auch im pädagogischen Inklusionsdiskurs sehr häufig getroffen oder von Hinz übernommen wird, wird sich zeigen, dass es mit der inklusionspädagogischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ zu einer bedeutsamen theoretischen Verschiebung gegenüber der integrationstheoretischen Denkfigur der egalitären Differenz kommt. In eben dieser Umdeutung der Denkfigur der egalitären Differenz, die Hinz vornimmt, ohne dies klar zu thematisieren, besteht das originäre Moment eines pädagogischen Inklusionsbegriffes. Erst durch sie kommt es zu anderen Einschätzungen der Zielsetzungen des gesellschaftlichen, institutionellen und intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität. Diese Veränderungen haben anfänglich überhaupt erst den Anlass der teils scharfen und anhaltenden Diskussionen geboten, die es ohne ein solches, originäres Moment gar nicht erst gegeben hätte. Die vorliegende Arbeit will nicht einer weiteren Entleerung des pädagogischen Inklusionsbegriffes Vorschub leisten und damit weitere Unklarheiten in Theorie und Praxis befördern, sondern sie nimmt diese originäre pädagogische Inklusionsidee ernst und diskutiert ihre theoretischen Prämissen in der Bedeutung für das eigene Fachgebiet und dessen Gegenstand der Behinderung. Nicht zuletzt wird diese Diskussion vor dem Hintergrund der relativ großen gesellschaftspolitischen Wirkmächtigkeit dieses Denkansatzes geführt, der Einfluss auf das Denken, Handeln und Wahrnehmen im Kontext von Behinderung hat. Die virulente Gefahr dieses Denkens wird im Vergessen und der Nivellierung der Fremdheit des Anderen gesehen. Sie entspringt einem sehr einseitigen Ver9

Als Ausnahmen vgl. u.a. Dyson (2007); Liesen (2010).

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ständnis von Heterogenität, das lediglich die normative Verschiedenheit berücksichtigt und die Ebene leiblichen Handelns ausblendet. Verhängnisvoll wird der inklusionspädagogische Denkansatz aber deshalb, weil mit ihm zugleich der Versuch einhergeht, auf eben diese Ebene präskriptiv einzuwirken. Teil III kann daher in gewisser Weise als Zwischenschritt begriffen werden, mit dem dieses einseitige Verständnis von Heterogenität im Sinne bloßer Verschiedenheit expliziert wird. Ausgehend von einem Vergleich des Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurses (3.2.1) wird sich zeigen, dass ein solches Verständnis nicht nur den pädagogischen Inklusionsdiskurs durchzieht, sondern auch den Diskurs um Integration sowie den Heterogenitätsdiskurs selbst (3.2.2). Dieses einseitige und erfahrungsnivellierende Verständnis von Heterogenität im Sinne wertzuschätzender Verschiedenheit bleibt jedoch inzwischen nicht mehr unwidersprochen; es sind daher diejenigen Kritiklinien herauszustellen, die auch für die vorliegende Arbeit relevant sind (3.2.3). Aufmerksam gemacht wird in dieser Kritik unter anderem auf ein Verständnis von Heterogenität im Sinne radikaler Fremdheit, das auch für die anschließende kritische Analyse des inklusionspädagogischen Ansatzes leitend ist. Ein solches Denken von Heterogenität als radikale Fremdheit bleibt auch im heil- und sonderpädagogischen Diskurs nahezu völlig unterbelichtet; einzig mit Dederich und Stinkes existieren hier, diskursiv betrachtet, zwei ‚gallische Dörfer‘, die sich mit dem Denken der radikalen Fremdheit einem bloß normativen Heterogenitätsdenken entgegenstellen und dieses inzwischen auch im Kontext inklusionspädagogischer Theoriebildung diskutieren (3.3). Auch im Sinne einer Darstellung des Forschungsstandes der eigentlichen Thematik, die um eine kritische Klärung des Zusammenhangs von Inklusion und Fremdheit bemüht ist, ist diese Diskussion hier aufzugreifen. Zugleich gilt es an dieser Stelle, das eigene Forschungsinteresse sowie die eigene Schwerpunktsetzung nochmals zu verdeutlichen. Ebenso ist eine Abgrenzung dahin gehend vorzunehmen, dass mit dieser Arbeit, anders als bei Stinkes, nicht von der Möglichkeit einer Erweiterung des inklusionspädagogischen Ansatzes um das Denken radikaler Fremdheit ausgegangen wird. Abgerundet wird dieser Teil der Arbeit mit einer ersten heuristischen Betrachtung des Umgangs mit Fremdheit im inklusionspädagogischen Ansatz (3.4). Mit diesen inhaltlichen Klärungen und Analysen sind in methodischer Hinsicht die Voraussetzungen für zwei umfassende Kritiklinien geschaffen. Teil IV widmet sich der eigentlichen inklusionspädagogischen Grundidee einer inklusiven Gesellschaft oder Gemeinschaft, die aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden als eine totalitäre Gesamtordnung eingestuft werden muss. Unter Rückgriff auf den phänomenologischen Ordnungsbegriff bei Waldenfels, der das Entstehen von Ordnung als einen notwendigen Prozess der Selektion und Exklusion zeigt (4.1), werden in Teil IV primär zwei Ziele verfolgt: Zum einen lässt sich die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung in engem Anschluss an den Waldenfels’schen Ordnungsbegriff nicht nur als völlig illusionär identifizieren, sondern auch als ein

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pädagogischer und gesellschaftspolitischer Versuch der Totalisierung, der sich durch die Begründungsfreiheit seiner Prämissen sowie die Verleugnung der eigenen kontingenten Perspektive zudem als ideologisch motiviert entpuppt (4.1.4; 4.2). Zum anderen sucht die Arbeit mit dem Begriff der Ordnung bei Waldenfels zugleich den heuristischen Zugang zum Gedanken der radikalen Fremdheit selbst (4.3), der auch für die Ausführungen in Teil V der Arbeit tragend ist. Im Mittelpunkt steht hierbei die Klärung des Unterschieds zwischen einem Verständnis von Heterogenität im Sinne von Verschiedenheit und Heterogenität im Sinne von Fremdheit (4.3.2). Diese Heuristik ermöglicht einen Wechsel der Diskursebenen, durch den Anerkennungs- und Wertschätzungsverhältnisse nicht bloß in ihrer normativen Sollensdimension thematisierbar werden, sondern als zwischenleibliche Erfahrungsprozesse. Indem diese zweite Ebene, die sich gegenüber normativen Ansprüchen jedoch stets als vorgängig erweist, insbesondere im inklusionspädagogischen Ansatz nicht nur vergessen wird, sondern überwunden werden soll, kommt es zu unhaltbaren Annahmen. Mit dieser Nivellierung der leiblichen Erfahrung von sich selbst und Anderen geht nicht nur ein Verlust an Fachperspektiven und praktischen Handlungsmöglichkeiten einher, sondern auch eine Ignoranz gegenüber der Erfahrung einer Behinderung, die sich sowohl für das behinderte Selbst als auch für das nichtbehinderte Selbst als eine spezifische Fremderfahrung par excellence vollzieht und die sich zudem nicht mit anderen Heterogenitätserfahrungen gleichsetzen lässt (4.3.4; Kap. 5). Zum Ende dieser ersten Kritiklinie stellt sich die Frage, wie sich der radikale Fremdheitsbegriff zum Dekategorisierungsgebot des inklusionspädagogischen Ansatzes verhält (4.4). Entgegen dieser Forderungen sowie der Annahme, auch das Denken der radikalen Fremdheit führe zum Gebot, auf vergleichende Feststellungen zu verzichten (vgl. Stinkes 2014: 92ff.), wird hier zu zeigen sein, dass es aus einer fremdheitsphänomenologischen Perspektive nicht darauf ankommt, kategorialen Vergleichen zu entsagen. Der Gedanke der radikalen Fremdheit macht vielmehr auf die Kontingenz einer jeden Ordnung aufmerksam, die es sichtbar zu machen gilt und um damit zu der Einsicht zu gelangen, dass eine Ordnung stets anders sein kann als sie ist, dass sie aber nicht völlig beliebig sein kann. Die zweite, große Kritiklinie zielt in Teil V ab auf die pädagogische Inklusionsidee als eine formale Grundordnung. Diese Ordnung unterwirft das leibliche Wahrnehmen und Handeln dem Dispositiv der „Normalität der Verschiedenheit“. Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz ist eine Ordnung des Denkens, Handelns und Wahrnehmens anvisiert, die ohne jegliche Erfahrung von Fremdheit auskommen soll und die lediglich noch die relative Verschiedenheit zwischen Menschen als zulässige Maxime intersubjektiver Erfahrung anstrebt. Anhand einer Analyse der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung gilt es zu zeigen, dass sich diese nicht in der Erfahrung bloßer Verschiedenheit erschöpft, sondern dass das Phänomen der Behinderung eine spezifische Erfahrung von Fremdheit sowohl für das

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nichtbehinderte als auch das behinderte Selbst bedeutet. Es wird sich herausstellen, dass die inklusionspädagogische Verleugnung dieser spezifischen und unwiderruflichen Strukturen der Fremderfahrung in Verbindung mit der Aufforderung, sie zu überwinden, das Ziel einer größeren Wertschätzung ‚Behinderter‘ geradezu verhindert. Um hierhin zu gelangen, müssen vorweg bestimmte Vorarbeiten geleistet werden: In einem ersten Schritt ist zunächst zu klären, inwiefern die Phänomene der Fremdheit und Behinderung zusammenhängen (5.1). Behinderungen sind demnach dem strukturalen Fremdheitsbereich zuzuordnen (5.1.1), sie bedeuten eine spezifische leibliche Erfahrungsweise von Selbst, Welt und Anderen (5.1.2), treten als bestimmte Anomalie hervor (5.1.3) und verweisen auf eine dreifach gesteigerte Fremdartigkeit (5.1.4). Nach dieser Klärung sind bestimmte Grundzüge der Fremderfahrung bzw. der Konzeption der Responsivität (5.2) sowie des Phänomens der Aufmerksamkeit (5.3) aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden bei Waldenfels darzulegen. Bereits an dieser Stelle erfolgt eine erste Kritik an der inklusionspädagogischen Grundordnung der „Normalität der Verschiedenheit“ (5.2.5). Diese grundsätzlichen Ausführungen zur Responsivität und zum Phänomen der Aufmerksamkeit werden anschließend in den Kontext der Fremderfahrung einer Behinderung gestellt. Es wird aus dieser Perspektive also nach der Spezifik dieser Fremderfahrungen gefragt (5.5.1; 5.5.3). Abschließend ist die inklusionspädagogische Sichtweise auf Fremdheit, Behinderung und Intersubjektivität mit diesen Überlegungen zu konfrontieren und auf das Gefährdungspotential dieses Ansatzes hinzuweisen (5.7). Parallel zu diesen Ausführungen werden wesentliche Erkenntnisse zur Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ (Cloerkes) dargestellt (5.4) und aus der hier gewählten Perspektive einer kritischen Revision unterzogen bzw. um den Gedanken der radikalen Fremdheit erweitert (5.5.2; 5.5.4).10 Teil VI diskutiert zum Ende der Arbeit zunächst den methodischen Zugang der Analyse des inklusionspädagogischen Ansatzes und benennt Einschränkungen dieses Vorgehens (6.1). Im Sinne eines Resümees werden daraufhin die wesentlichen Überlegungen und Kritikpunkte der Arbeit zusammengefasst (6.2). Anhand eines Ausblicks (6.3) ist abschließend nach einem anderen Umgang mit dem Phänomen der Fremdheit zu fragen, als dies im inklusionspädagogischen Ansatz der Fall ist. Ebenso gilt es hier zu zeigen, inwiefern der Gedanke der radikalen Fremdheit dem Diskurs über die Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘ zu mehr Klarheit verhilft, um die Thematisierung normativer Ansprüche und intersubjektiver Verhältnisse analytisch getrennt betrachten zu können. In einem letzten Punkt bezieht die Arbeit vor dem Hintergrund der Kritik an der pädagogischen Inklusionsidee

10 Hierbei erfolgt eine Beschränkung auf die Erkenntnisse von Cloerkes (1979; 2007), da dessen Überlegungen nach wie vor die größte Relevanz für diesen Bereich besitzen.

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Stellung zur weiteren Verwendung des pädagogischen Inklusionsbegriffes innerhalb der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik.

2

Der pädagogische Inklusionsbegriff

Von Inklusion (lat. inclusio: Einschließung, Einsperrung; includere: einschließen, einsperren, einengen, zurückhalten) ist allerorts die Rede. Bildungspolitik, Medien, gesellschafts- und behindertenpolitische Organe und Verbände, ebenso Einrichtungen für ‚Behinderte‘ und insbesondere einzelne Fachwissenschaften – hier vor allem die mit Behinderung befassten pädagogischen Teildisziplinen wie die Heil- und Sonderpädagogik – bedienen sich dieses Begriffes in zunehmender Weise und erzeugen damit zugleich seine Aufmerksamkeit. Historisch betrachtet ist Inklusion, beispielsweise im Vergleich zum Bildungs-, aber auch zum Integrationsbegriff, ein noch recht junger Begriff. Beginnend mit der Jahrtausendwende – und spätestens seit der UN-BRK im Jahr 2009 – hat er eine steile Karriere in der pädagogischen Teildisziplin der Heil- und Sonderpädagogik hinter sich und auch im gesellschaftsund bildungspolitischen Bereich hat der Inklusionsbegriff inzwischen an enormer Strahlkraft gewonnen. Doch obgleich der Begriff der Inklusion sowohl in öffentlich-medialen und bildungspolitischen Diskursen als auch in pädagogischen Disziplinen inzwischen hoffähig geworden ist: Kaum ein Begriff polarisiert die Debatten in den Feldern der Bildungspolitik sowie der Heil- und Sonderpädagogik mehr als Inklusion. Sowohl die theoretischen Vorstellungen als auch die praxisrelevanten Veränderungen, die aus dem Inklusionsbegriff abgeleitet werden, sind nicht deckungsgleich und widersprechen sich teilweise. Derjenige, der den Versuch unternimmt, sich dieses Begriffes aus wissenschaftlicher Sicht anzunehmen, sieht sich mit einer Reihe von Problemlagen konfrontiert. Der Diskurs um Inklusion hat inzwischen eine solche Dichte und Komplexität erreicht, so dass es nicht mehr möglich erscheint, sich mit diesem Begriff auseinanderzusetzen, ohne das Diskursfeld zuvor selbst in den Blick zu nehmen. Dabei kann es nicht um den Anspruch gehen, die Komplexität des Diskurses um Inklusion vollständig zu erfassen und darzustellen. Ein solch aufwendiges Vorhaben würde eine gesonderte und systematische Betrachtung notwendig machen, die derzeit noch nicht vorliegt. Vielmehr müssen hier diejenigen Probleme zur Sprache kommen, die für den Kontext und das Erkenntnisinteresse der Arbeit

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bedeutsam sind. Ein solcher diskursanalytischer Blick ist schon allein deshalb geboten, da der Diskurs um Inklusion inzwischen einem Nebelfeld gleicht, das konturlos zu werden droht und das die Sichtverhältnisse bis aufs Äußerste einschränkt. Zugleich verfolgt diese einleitende Darstellung das Ziel, den Problemkontext oder den diskursiven Rahmen der folgenden Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff zu erfassen. Einerseits lässt sich mit dieser Herangehensweise das spezifische Erkenntnisinteresse der Arbeit näher bestimmen; andererseits muss sich eine jegliche wissenschaftliche Erörterung um eine möglichst große Transparenz hinsichtlich ihrer argumentativen Voraussetzungen bemühen. Um die Argumentation nachvollziehbar zu machen und diese einordnen zu können, müssen zunächst die die Arbeit tragenden Perspektiven offengelegt und eine eigene Standortbestimmung vorgenommen werden. Die folgende Darstellung versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden, indem sie zunächst bestimmte Problemlagen des Diskurses um Inklusion skizziert, von denen die Arbeit ausgeht. Im Sinne einer transparenten Darstellung ist es anschließend genauso wichtig, das der Arbeit zugrunde gelegte Inklusionsverständnis zu explizieren. Diese Notwendigkeit ergibt sich erstens aus einem der Problemfelder, wonach die Rede über Inklusion oft unterstellt, Inklusion repräsentiere einen unklaren Begriff, was zu dem bedenklichen ‚Vorteil‘ führt, alles Mögliche in diesen Begriff hinein interpretieren zu können. Wie auch Lüders konstatiert, zwingen seine „vielfältigen Referenzen […] dazu, dass man ihn vor weiterem Gebrauch in jedem Fall begrifflich klären muss, also ihn präzisieren muss“ (Lüders 2014: 46). Trotzdem passiert genau dies meistens nicht, wenn von Inklusion die Rede ist; die zumeist praxisorientierten Fragestellungen im schulischen Umfeld werden häufig ohne theoretische Bezüge und Klärungen bearbeitet. Den Ausführungen wird üblicherweise nur der Hinweis auf die UN-BRK vorangestellt, um den eigenen Beitrag als ‚inklusiv‘ zu verorten, ohne dass aber der Begriff der Inklusion in der UN-BRK geklärt wurde (vgl. hierzu u.a. auch Wansing 2015: 43). Zwar trifft es zu, dass im pädagogischen Diskurs inzwischen kein klarer Begriff von Inklusion mehr anzutreffen ist. Dies heißt aber nicht, dass ein relativ klares Begriffsverständnis von Beginn an nicht vorgelegen hätte. Genau dieser Eindruck entsteht allerdings häufig, wenn heutzutage von Inklusion die Rede ist. Die Arbeit geht vielmehr davon aus, dass diese begriffliche Unschärfe aufs Engste damit zusammenhängt, dass es innerhalb der letzten Jahre zu vielfältigen Begriffsumdeutungen und Begriffsverwässerungen eines vormals relativ klar formulierten pädagogischen Inklusionsbegriffes kam, der im deutschsprachigen Raum hauptsächlich auf Andreas Hinz zurückgeht (vgl. u.a. Hinz 2002; 2003; 2004). Zur Diskussion stehen hier demzufolge nicht die spezifischen Interpretationen und zweifelhaften Lesarten, die sich seither um den pädagogischen Inklusionsbegriff ranken, sondern dessen originären theoretischen Voraussetzungen. Diese sind zweitens also auch deshalb darzustellen, um die argumentativen Grundlagen und Referenzpunkte offenzulegen, auf die sich die anschließende Kritik bezieht.

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2.1 PROBLEMFELDER DES (SONDER-)PÄDAGOGISCHEN INKLUSIONSDISKURSES 2.1.1 Entwicklung des pädagogischen Inklusionsbegriffes im deutschsprachigen Raum In pädagogischen Kontexten taucht die Debatte um Inklusion nach Hinz erstmals in den 70er Jahren in den USA vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit der Praxis der schulischen Integration und ihrer unterstellten Selektivität auf (vgl. Hinz 2010: 34; 2013). Biewer und Schütz zufolge sei der Begriff „inclusion“ erstmals Ende der 80er Jahre in Nordamerika verwendet worden und „zielte auf die uneingeschränkte Gemeinsamkeit von Schüler/innen mit und ohne ‚special educational needs‘ und intendierte damit eine Veränderung schulischer Strukturen. Er löste – für fachliche Begriffe ungewöhnlich schnell – zu Beginn der 1990er Jahre den Begriff ‚mainstreaming‘ in den USA und seit Mitte der 1990er Jahre den Begriff ‚integration‘ in Großbritannien und den Commonwealth-Staaten ab.“ (Biewer/Schütz 2016: 123)1

Als Fixpunkt einer zunehmenden, weltweiten Verbreitung des Begriffes „inclusion“ wird häufig auf die sogenannte Erklärung von Salamanca aus dem Jahr 1994 verwiesen (vgl. u.a. Sander 2004: 240; Bürli 2009: 46; Liesen 2010: 11; Bernhard 2012: 344; Platte 2012: 144; Hinz 2013; Wansing 2015: 45; Biewer/Schütz 2016: 124), die aus der UNESCO-Konferenz Pädagogik für besondere Bedürfnisse – Zugang und Qualität hervorging. Zwar stehen bei dieser Erklärung eindeutig Kinder und Jugendliche mit Behinderungen im Fokus, sie betont aber zugleich, „dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschließen, Straßen- ebenso wie arbeitende Kinder, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder –gebieten.“ (UNESCO 1994: o.S.)

Seit der Jahrtausendwende findet der pädagogische Inklusionsbegriff auch im deutschsprachigen Raum zunehmend Verwendung (vgl. Bürli 2009: 32; Hinz 2010a: 40; Biewer/Schütz 2016: 124). Spätestens mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), das in Deutschland seit 2009 Gültigkeit besitzt, hat der Begriff der Inklusion an

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Zu einer ausführlicheren Begriffsgeschichte vgl. u.a. Liesen/Felder (2004); Bürli (2009); Hinz (2010a); Biewer (2010: 124ff.); Biewer/Schütz (2016).

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enormer Bedeutung im öffentlichen und wissenschaftlichen Raum gewonnen (vgl. u.a. auch Lüders 2011: 22; Wansing 2015: 43). Zweck dieser Konvention ist es, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“ (United Nations 2008: Art. 1). Laut Degener habe die UN-BRK eine neue Ära in der internationalen Behindertenpolitik eingeleitet, indem die Menschenrechte für behinderte Menschen erstmals verbindlich festgeschrieben wurden (vgl. Degener 2015: 55). Der Inklusionsbegriff, der in der deutschen Version jedoch mit dem Begriff der Integration übersetzt wurde, zählt dabei „neben weiteren Grundsätzen wie Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit, Zugänglichkeit und Teilhabe zu den Schlüsselbegriffen, die zentral sind für das Verständnis und die Interpretation der Konvention“ (Wansing 2015: 43). Mit diesem Bedeutungsschub, der dem Begriff der Inklusion durch die UN-BRK zuteil wurde, gehen seitdem lebhafte und kontroverse Debatten einher, die in Deutschland vorwiegend im Zusammenhang mit Reformen des Bildungssystems geführt werden (vgl. ebd.): „Internationale Deklarationen und Abkommen sind zum wichtigsten Impulsgeber für die Diskussion geworden, sie markieren die Eckpunkte eines inklusiven Erziehungs- und Bildungskonzepts und unterstützen seine Umsetzung.“ (Liesen 2010: 11) 2.1.2 Verkürzung des pädagogischen Inklusionsverständnisses Diese Diskussionen werden zwar allgemein begrüßt, jedoch findet sich auch die Kritik, dass die bereits bestehende Verkürzung des Begriffes der Inklusion auf Behinderung im Zuge der UN-BRK noch verstärkt wurde (vgl. u.a. Hinz 2013). Elementares Kennzeichen des pädagogischen Inklusionsbegriffes sei aber, dass sich Inklusion auf alle Dimensionen von Verschiedenheit und deren uneingeschränkte Wertschätzung bezieht: „Fähigkeiten, Geschlechterrollen, ethnische Herkünfte, Nationalitäten, Erstsprachen, Rassen, soziale Klassen bzw. Milieus, Religionen und Weltanschauungen, sexuelle Orientierungen, körperliche Bedingungen und anderes mehr.“ (Hinz 2006a: 98) Inklusion „stellt kein Thema dar, das nur behinderte Menschen betrifft“ (Degener/Diehl 2015b: 20); vielmehr ist sie, so Wansing, „universell gültiges Prinzip der sozialen Berücksichtigung der gesamten Bevölkerung“ (Wansing 2012: 383). Mit dem Begriff der Inklusion verbindet sich die Hoffnung auf Beseitigung jeglicher gesellschaftlicher Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Marginalisierungen nicht nur von benachteiligten Gruppen, sondern aller Menschen – weltweit (vgl. Hinz 2006a: 98). Inklusion gehe es um das vollständige und in diesem Sinne totalitäre Einbezogensein in einer allerdings nicht näher definierten Gesellschaft, in der alle Menschen selbstverständlich anerkannt seien (vgl. ebd.). Inklusion, so Hinz, sei eine gesellschaftliche Leitvorstellung und „erstreckt sich auf

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alle Lebensbereiche, wo sie gestufte, differenzierte Strukturen als selektiv und damit problematisch kritisiert und volle Teilhabe für alle Menschen fordert“ (ebd.). Angesichts dieses universalen Anspruchs konstatierte Hinz allerdings bereits vor zehn Jahren, die deutsche Diskussion um Inklusion konzentriere sich bisher stark auf den schulischen Bereich (vgl. ebd.; Hinz 2013). An dieser doppelten Verkürzung hat sich im öffentlichen und wissenschaftlichen Raum seither wenig geändert. Im Gegenteil: Inklusion wird heutzutage fast immer in Bezug auf den gemeinsamen Schulbesuch von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf diskutiert. Anlass und Ausgangspunkt dieser Diskussion ist die Zielvorstellung des inklusionspädagogischen Ansatzes einer „Schule für alle“, in der Heterogenität begrüßt und willkommen geheißen wird (vgl. u.a. Hinz 2002: 360); die ‚Verschiedenheitsdimension‘ der Behinderung steht dabei ganz besonders im Fokus der Aufmerksamkeit. Inklusion wird somit zumeist als ein sonderpädagogisches Thema verstanden und Integration auf andere gesellschaftliche und marginalisierte Gruppierungen angewandt. 2.1.3 Begriffliche Unklarheiten und nebulöses Diskursfeld An dieser begrifflichen Unklarheit dürften die Übersetzungen der SalamancaErklärung und der UN-BRK ins Deutsche nicht unwesentlich beteiligt gewesen sein. Bekanntermaßen wurden die Begriffe „inclusion“ und „inclusive“ in den deutschen Übersetzungen dieser internationalen Abkommen mit „Integration“ bzw. „integrativ“ übersetzt (vgl. u.a. Bürli 2009: 28; Hinz 2010a: 36; Aichele 2013: 29; Wansing 2015: 45). So gibt die deutsche Übersetzung der UN-BRK die „vier einschlägigen Stellen im Zusammenhang des Rechts auf Bildung und des Rechts auf Arbeit […] mit ‚Integration‘ beziehungsweise ‚integrativ‘ wieder. Während die englische Fassung etwa von ‚inclusive education system‘ spricht, verwendet die deutsche Übersetzung die Wortwahl ‚integratives Bildungssystem‘.“ (Aichele 2008: 12) Entscheidend für den rechtlichen Verpflichtungsumfang sei zwar, wie der Inhalt nach der Auslegung der authentischen Sprachfassungen der UN-Sprachen bestimmt werden kann (vgl. Aichele 2008: 12; 2013: 29), zu denen die deutsche Sprache nicht gehört (vgl. Wansing 2015: 45). Dennoch ist diese Übersetzung aus der Sicht Aicheles unter inhaltlichen Gesichtspunkten vor allem deswegen problematisch, da „die im Namen der ‚Inklusion‘ vorgetragenen Ansprüche auf eine Öffnung gesellschaftlicher Bereiche für die effektive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen über das hinaus gehen, was traditionell mit ‚Integration‘ gemeint ist: Es geht nicht nur darum, innerhalb bestehender Strukturen Raum zu schaffen auch für Behinderte, sondern gesellschaftliche Strukturen so zu gestalten und zu verändern, dass sie der realen Vielfalt menschlicher Lebenslagen – gerade

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auch von Menschen mit Behinderungen – von vornherein besser gerecht werden.“ (Aichele 2008: 12)

Die mit dem Inklusionsbegriff verbundenen Chancen und innovativen Potentiale der UN-BRK hätten mit einer entsprechenden deutschen Übersetzung leichter vermittelt und genutzt werden können (vgl. ebd.). Auch aus diesem Grund führte die deutsche Übersetzung zu großer Kritik seitens behindertenpolitischer Verbände und Betroffener und schließlich zur sogenannten „Schattenübersetzung“ der UN-BRK, um mit einer authentischen Wortwahl zur Bewusstseinsbildung beizutragen (vgl. Netzwerk Artikel 3 e.V. 2009). Trotz dieser zweifelhaften Übersetzung hat sich auch im deutschsprachigen Raum im Zuge der UN-BRK der Begriff der Inklusion durchgesetzt und ausgebreitet, ohne dass der Begriff in dieser Konvention selbst definiert worden wäre. Angesichts einer nach wie vor unklaren inhaltlichen Verwendung des Inklusionsbegriffes, auch in Abgrenzung zum Begriff der Integration, bestehen internationale Übereinstimmungen nach Bürli immerhin darin, „dass Integration, Mainstreaming und Inklusion eines gemeinsam ist, nämlich dass sie in der historischen Entwicklung […] die Vorphasen (1) der Exklusion und (2) der Separation überwinden und somit zur Abnahme der Ausgliederung von behinderter [sic!] Kindern und zur Zunahme von Gemeinsamkeit aller Kinder beitrugen […]“ (Bürli 2009: 27). Dem viel zitierten Phasenmodell Sanders zufolge (vgl. u.a. Sander 2004: 242f.), das sich auf den schulischen Bereich bezieht, waren in Deutschland bzw. sind in einigen Entwicklungsländern behinderte Kinder in der Phase der Exklusion von jeglichem Schulbesuch ausgeschlossen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts befinde sich das deutsche Schulwesen diesem Modell zufolge überwiegend in der Phase (2) der Separation, demnach behinderte Kinder eigene Bildungseinrichtungen (Sonderschulen) besuchen (vgl. ebd.: 243). In der Phase (3) der Integration, deren Beginn Bürli in Deutschland in den frühen 70er-Jahren verortet (vgl. Bürli 2009: 27), können behinderte Kinder allgemeine Schulen mit sonderpädagogischer Unterstützung besuchen (vgl. Sander 2004: 243). Mit dieser Phase sollte nach Bürli die Separation und Segregation überwunden werden, sie „hatte eine Reduktion von Aussonderung zum Ziel“ (Bürli 2009: 27). In der Phase (4) der Inklusion, in der Sander eine neue Entwicklungsstufe erreicht sieht (vgl. Sander 2004: 242), besuchen alle behinderten Kinder „wie alle anderen Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen Allgemeine Schulen, welche die Heterogenität ihrer Schüler und Schülerinnen schätzen und im Unterricht fruchtbar machen“ (ebd.: 243). Oder wie es bei Bürli heißt: „In den Grundzügen bedeutet Inklusion (Phase 4) den vorbehaltlosen Einbezug aller Kinder in das Bildungssystem, welches radikal zu reformieren ist, damit es als ‚Schule für Alle‘ allen Kindern gerecht zu werden vermag. Behindertsein ist hier eine normale Variante menschlichen Daseins, die Vielfalt der Schülerschaft wird positiv gesehen und nicht nur als ein belas-

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tendes, sondern auch ein lernförderndes Faktum, das die Schule zu berücksichtigen und zu nutzen hat. Bei der (vollen) Inklusion wird vom Recht des Kindes ausgegangen, in die jeweils zuständige Regelschule aufgenommen zu werden, in welcher den eventuell besonderen Bedürfnissen verschiedener (nicht nur behinderter) Kinder durch personelle und materielle Hilfen Rechnung getragen wird.“ (Bürli 2009: 28)

Ziel dieser Phase ist die „Vielfalt als Normalfall“: „Inklusion wird überall zur Selbstverständlichkeit, der Begriff Inklusion kann daher in einer fernen Zukunft vergessen werden.“ (Sander 2004: 243; vgl. 2003: 317) Die Ausbreitung und Verwendung des Inklusionsbegriffes vollzogen sich im deutschsprachigen Raum allerdings nicht auf der Basis einer gründlichen Auseinandersetzung, sondern, so Hinz, „mehr als ein neuer ,In-Begriff‘, mit dem man Aktualität zeigen kann […]“ (Hinz 2010a: 37). Im Zuge der Anschlussdiskussionen um die UN-BRK kam es nicht nur zu einer verkürzten Sichtweise auf Inklusion, sondern der Begriff selbst wird in gesellschafts- und bildungspolitischen Diskursen sowie in der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik seitdem geradezu inflationär und damit immer unschärfer verwendet. Mit Katzenbach kann daher übereinstimmend festgestellt werden: „Denn es ist ja nicht allein der öffentliche Diskurs, in dem es zu einer zunehmenden Begriffsverwirrung kommt, auch der Fachdiskurs wird immer unübersichtlicher.“ (Katzenbach 2015: 21) Ebenso ist dem Befund von Hinz aus dem Jahr 2013 voll und ganz zuzustimmen: „In der Folge der UN-Behindertenrechtskonvention […] wird in einem Ausmaß über Inklusion diskutiert, das vor wenigen Jahren unvorstellbar war. Und wie bei jedem Begriff, der eine neue Orientierung repräsentiert und damit allzu schnell zum unscharfen bis konturlosen Modebegriff wird […], ist es auch bei Inklusion so, dass inzwischen nahezu alles als Inklusion deklariert wird, was sich positiv und fortschrittlich darstellen möchte. Das ist logisch und gleichzeitig dramatisch, weil damit die inhaltliche Klarheit dessen, was Inklusion ursprünglich als Innovationsperspektive bedeutet [sic!], immer mehr verloren geht. Innerhalb dieser kurzen Spanne ist beim Thema Inklusion der Weg von der kompletten Unkenntnis zu immer stärkerer Unkenntlichkeit zurückgelegt. Nahezu alles, was bisher unter Integration firmierte – und womöglich noch viel mehr –, wird inzwischen als Inklusion bezeichnet.“ (Hinz 2013: 1)

Nicht nur im öffentlichen, gesellschaftspolitischen Raum, sondern auch im Fachdiskurs unterscheiden sich die Bedeutungszuschreibungen von Inklusion inzwischen erheblich. Der große Interpretationsspielraum, der sich im heil- und sonderpädagogischen Diskurs durch die inflationäre Redeweise über Inklusion aufgetan hat, zeigt sich deutlich anhand einer Systematisierung, wie Integration und Inklusion verwendet werden. Bürli beschreibt hier folgende Muster der Begriffsauffassungen: Integration ohne Inklusionsbegriff; synonyme und synchrone Bedeutungen der Termini Integration/Inklusion; Inklusion als synonyme Ersatzbezeichnung von In-

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tegration; Inklusion und Integration als antonyme Begriffe; Inklusion als bereinigte Integration; Inklusion als optimierte, erweiterte Integration (vgl. Bürli 2009: 33f.). Der Hauptstreitpunkt besteht Bürli zufolge darin, „ob der Terminus Inklusion die gleiche oder eine veränderte Bedeutung wie die Integrationsbezeichnung beinhaltet und ob Integration durch Inklusion (Inclusion, Inclusive Education) ergänzt oder ersetzt werden soll“ (Bürli 2009: 33). Ein bestimmter Hauptstreitpunkt bezieht sich in diesem Kontext auf die Einschätzung von Hinz, dass die als defizitär eingestufte Umsetzungspraxis der Integration die Einführung eines neuen Begriffes (Inklusion) im Sinne eines „theoretischen Reflexes“ auf die Praxis der Integration erfordert und rechtfertigt (vgl. u.a. Hinz 2003: 330f.). Dass es sich bei Inklusion um eine theoretische Vertiefung oder Erweiterung der Konzepte der Integrationspädagogik handelt, wurde von anderen jedoch von Beginn an bezweifelt (vgl. Reiser 2003: 308f.). Diese Diskussion wird auch in der vorliegenden Arbeit noch zu führen sein (vgl. 2.4). Es liegt auf der Hand, dass gerade die inflationäre Verwendung des Inklusionsbegriffes erst zu dieser Unklarheit eines vormals relativ klar umrissenen Begriffes geführt hat. Letzteres ist zumindest dann anzunehmen, wenn ein ehrliches Interesse an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Grundlagen der pädagogischen Inklusionsidee besteht und man sich nicht mit Begriffsumdeutungen oder der Gleichsetzung von Integration und Inklusion begnügt. Diese „Rückbesinnung auf die theoretischen Grundlagen ist“, so Katzenbach, „allerdings auch kein einfaches Geschäft. Denn auch hier ist zu konstatieren, dass sich die Sachlage im Lauf der Jahre deutlich verkompliziert hat“ (Katzenbach 2015: 21) und bereits der Beginn der Diskussionen von keiner Einigkeit hinsichtlich der theoretischen Bedeutung des pädagogischen Inklusionsbegriffes geprägt war. Es trifft zwar zu, dass im pädagogischen Diskurs um Inklusion heutzutage keine Klarheit mehr über diesen Begriff besteht (vgl. hierzu u.a. Giese 2011: 218; Dammer 2011: 16; Bernhard 2012: 344; Wansing 2013: 16; Lüders 2014: 23). Fraglich ist aber, ob der „interpretative Spielraum dessen, was unter Inklusion zu verstehen ist, noch recht weit gefasst ist“ (Ackermann 2012: 83), oder ob diese Situation nicht vielmehr erst durch die zügellose Rede über Inklusion überhaupt erst eingetreten ist. So stellt auch Katzenbach fest, dass die „weite Verbreitung des Begriffs der Inklusion […] zur Beliebigkeit seiner Verwendung geführt [hat]“ (Katzenbach 2015: 20). Es ist daher notwendig, wieder eine intensivere Diskussion um seine theoretischen Grundlagen zu führen (vgl. ebd.). Stattdessen scheint aber häufig das Argument auszureichen, Inklusion stelle einen völlig ungeklärten Begriff dar; die Entleerung des Begriffes wird als argumentatives Grundmuster bereits vorausgesetzt, um sich einer theoretischen Auseinandersetzung von vornherein zu entziehen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung wird durch den vervielfachten Interpretationsspielraum bezüglich der Bedeutung von Inklusion erheblich erschwert. Durch die im Diskurs häufig anzutreffende unklare Verwendung des Inklusionsbegriffes oder gänzlich fehlende theoretische Bezüge mangelt es an Anknüpfungs-

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punkten, auf die sich die Diskussionen und Argumente beziehen ließen. Im Moment fehle der Inklusion „eine anschlussfähige Diskurskultur“ (Liesen 2010: 18); Liesens Einschätzung aus dem Jahr 2010 trifft noch immer und in verstärktem Maße zu. Erschwerend kommt hinzu, dass der Begriff inzwischen auch von der Heil- und Sonderpädagogik nahezu okkupiert und durch sie einer spezifischen Interpretation unterzogen wurde, wie sich noch zeigen wird. Auch innerhalb dieser Fachgrenzen unterscheiden sich die Interpretationen. Nicht zuletzt hat die Instrumentalisierung dieses Begriffes durch die Politik für eine restlose Begriffsverwirrung gesorgt, so dass Liesens Einschätzung vor diesem Hintergrund auch hier zutrifft: „Der Begriff ist über die Jahre zur Projektionsfläche für alles Mögliche geworden. Die Darstellung kann schwerlich stringenter sein als der Inklusionsdiskurs selbst.“ (Ebd.: 11) Aus demselben Jahr datiert die ähnliche Einschätzung von Hinz, demnach sich aktuell „Tendenzen [finden], den Inklusionsbegriff mit allen unterschiedlichen Verständnissen zu füllen – und je mehr dies Platz greift, desto unspezifischer und tendenziell sinnloser wird er damit“ (Hinz 2010b: o.S.). Diese Tendenzen haben sich innerhalb der letzten Jahre zusehends verschärft, so dass im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs inzwischen oftmals eine fast schon resignierende, wenn nicht gar kapitulierende Haltung zu vernehmen ist, wenn es um die Diskussion theoretischer Bezüge von Inklusion gehen sollte. Die Situation einer ungeklärten Lage scheint vielerorts hingenommen zu werden – was einigen Akteuren eher in die Hände spielen dürfte. Gleichzeitig bleibt der Begriff in öffentlichen, bildungspolitischen, medialen und wissenschaftlichen Diskursen aber in hohem Maße virulent. Vor dem Hintergrund der inflationären Verwendung verwundern denn auch nicht die vielen Charakterisierungen des pädagogischen Inklusionsbegriffes als „Zauberformel“ (Dammer 2011: 8), „Containerbegriff für eine Vielzahl von pädagogischen Konzepten und Zugängen“ (Felder 2012: 18), „Budenzauber“ (Sierck 2013) oder als ein „Hehlwort […], das nicht aufklärt, sondern verschleiert, das nicht erhellt, sondern vernebelt“ (Bernhard 2012: 342). Auch von der „regelrechten Verwahrlosung des Begriffs […]“ (Katzenbach 2015: 19) ist die Rede, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff ist aber nicht nur dadurch erschwert, dass dieser inzwischen konturlos geworden ist, sondern auch dadurch, dass der Diskurs um diesen Begriff offensichtlich an Wissenschaftlichkeit eingebüßt hat. Dies hat zum einen mit inhaltlichen Gründen zu tun, indem „ein sehr unübersichtliches Diskursfeld [besteht], das sich aus verschiedenen Denkschulen und -strömungen speist und das mehrere Schwerpunkte hat, die vor ganz unterschiedlichem theoretischem [sic!] Hintergrund in ganz unterschiedlicher Weise in Planung und konkretes Handeln einfließen kön-

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nen“ (Liesen 2010: 17ff.).2 Oder wie es bei Wocken heißt: „Der wissenschaftliche Diskurs um Integration und Inklusion präsentiert sich bunt und kontrovers; er gleicht einer babylonischen Sprachverwirrung.“ (Wocken 2011: 59) Zwar stellt diese Unübersichtlichkeit und Komplexität des pädagogischen Inklusionsdiskurses ein Hindernis für differenzierte und theoriegeleitete Analysen des pädagogischen Inklusionsbegriffes dar. Dieses Problem darf aber weder als Rechtfertigung dazu dienen, die Wahl eines bestimmten Theoriehintergrundes der persönlichen Entscheidung zu überlassen, anstatt den Weg der – anspruchsvollen – diskursiven Auseinandersetzung zu suchen (vgl. hierzu auch Katzenbach 2015: 22); noch viel weniger darf dies dazu führen, dass theoretische Bezugnahmen im Kontext der wissenschaftlichen Rede von Inklusion völlig ausbleiben. In diesem Sinne kennzeichnet auch Giese den Inklusionsdiskurs in der Heil- und Sonderpädagogik als ein „anthropologisches Niemandsland“ und weist auf ein eklatantes Theoriedefizit dieses Diskurses hin, das „zu einem terminologisch, theoretisch und konzeptionell ‚unbegrenzten‘ Inklusionsbegriff führt und eine normativ unreflektierte Aufladung im Sinne eines Universaltherapeutikums für alle Arten von Integrationsschäden begünstigt“ (Giese 2011: 220). Neben diesen inhaltlichen Gründen gibt es zum anderen auch diskurssemantische Gründe, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff erschweren und die zugleich Verantwortung dafür tragen, dass der Diskurs an Wissenschaftlichkeit einbüßt. Eine generelle Einschätzung dazu, wie der Diskurs um Inklusion häufig geführt wird, trifft Dederich folgendermaßen: „Betrachtet man den fachlichen Diskurs in der Heil- und Sonderpädagogik und die vielfältigen Aktivitäten im Raum des Politischen, dann ist es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass sich manche wissenschaftliche Kommentatoren in einen Zustand der Verzückung schreiben und manche Politiker in einem Strudel des Aktionismus verlieren.“ (Dederich 2013a: 33)

Noch schärfer fällt das Fazit von Jantzen aus: Er sieht in der Debatte um Inklusion eine Dimension erreicht, „die man sarkastisch nur als eine neue Religion kennzeichnen kann“ (Jantzen 2012: 36). Auch Speck zielt in diese Richtung, wenn er anmerkt, dass die „Verve, mit der ‚Inklusion‘ seit dem Bekanntwerden der UNBehindertenrechtskonvention in Deutschland öffentlich und in den Institutionen verbreitet wird, […] manchmal missionarische Züge angenommen [hat]. Es entsteht der Eindruck, als würde ein Heilsversprechen von unbestreitbarer Gewissheit ausgedrückt.“ (Speck 2011a: 68) 2

Einen hilfreichen Systematisierungsversuch des Inklusionsdiskurses bietet Liesen in Anlehnung an Dyson an (vgl. Liesen 2010). Solche Versuche stellen im Diskurs um Inklusion eine große Ausnahme dar. Vgl. hierzu auch Bürli (2009).

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2.1.4 Moralisierung des pädagogischen Inklusionsdiskurses Eine kritische, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Inklusion findet sich nicht nur in einem Dickicht unterschiedlichster Verwendungszusammenhänge mit je anderen Begriffsverständnissen und einem unübersichtlichen Diskursfeld wieder. Sie sieht sich innerhalb des pädagogischen Diskurses darüber hinaus mit einer Moralisierung und Ideologisierung eines Diskurses konfrontiert, der hierdurch an Wissenschaftlichkeit einbüßt: „Die Inklusionsdiskussion leidet unter der ideologischen Kompromisslosigkeit, mit der sie für gewöhnlich geführt wird.“ (Liesen 2010: 19) Zur Veranschaulichung dieser unfruchtbaren Situation dient hier beispielhaft ein Disput zwischen Hans Wocken und dem Kultusministerium Mecklenburg-Vorpommern, der im Rahmen eines vom Ministerium veranstalteten „Inklusionskongresses“ im Jahr 2012 erfolgte. Im Vorwort eines zu diesem Kongress erschienenen Tagungsbandes schreiben Mathias Brodkorb als Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern und Prof. Dr. Katja Koch als Inklusionsbevollmächtigte des Ministers zu diesem bedauerlichen Höhepunkt des ersten Inklusionskongresses (vgl. Brodkorb/Koch 2012b: 6): „Um so bedauerlicher ist es, dass einer der Hauptbeiträge nicht in diesem Band erscheinen kann. Wir hatten im Interesse der Pluralität und Meinungsfreiheit zwei Referenten eingeladen, sich auf diesem ersten Inklusionsprozess [sic!] zum ‚Menschenbild der Inklusion’ zu äußern, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Herrn Prof. Dr. Hans Wocken (Sonderpädagoge, bekennender Anhänger der Inklusion und Anwalt der ‚Schwachen‘) auf der einen Seite – Herrn Prof. Dr. Egon Flaig (Althistoriker und Gymnasiallehrer, Kritiker der Inklusion und Anwalt der ‚Starken‘) auf der anderen Seite. Beide Referenten hatten im Vorfeld des Kongresses ihre Manuskripte ausgetauscht und wussten folglich, worauf sie sich einlassen würden. Die Kontroverse wurde von beiden schließlich auch in aller Schärfe geführt. Seinen Schlusspunkt nutzte Hans Wocken in Rostock dann zu dem Hinweis, dass ihn die Ausführungen Flaigs ‚anwidern‘ und ‚anekeln‘ würden und er daher seinen Beitrag für den Dokumentationsband zurückziehen müsste, da er sich andernfalls schämen würde, mit einem solchen Mann (gemeint war Flaig) gemeinsam Autor in ein und demselben Buch zu sein. Diese Ankündigung erfolgte nicht spontan, sondern war bereits im Vorfeld des Kongresses schriftlich angekündigt worden.“ (Ebd.: 5f.)

Wocken schreibt in seiner Stellungnahme „Kulturverfall durch Inklusion? Wider den ‚Rassismus der Intelligenz‘“ zum Vortrag von Egon Flaig: „Das Kultusministerium muss sich aber auch selbst befragen, ob die bewusst inszenierte Kontroverse für eine Tagung, die eigentlich die Inklusionsreform anregen und beflügeln soll, angemessen ist. Auf einem Katholiken- oder Kirchentag werden auch nicht zu Beginn erst

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einmal Grundsatzdebatten abgehalten, ob es überhaupt einen Gott gibt; diese Frage ist im Vorhinein entschieden. Kirchengegner und Atheisten werden jedenfalls nicht zu solchen Tagen christlichen Glaubens eingeladen. Das Kultusministerium Mecklenburg-Vorpommern organisiert dagegen Diskurse und riskiert dadurch eine Saat des Unwillens. Wer einen Inklusionskongress veranstaltet, sollte nicht den geringsten Zweifel an seinem Bekenntnis zur Inklusion aufkommen lassen. Der vom Kultusministerium amtlich hofierte Zweifel, ob Inklusion ‚denn etwas Gutes‘ (Flaig) ist, erscheint mir deplatziert und kaum reformförderlich.“ (Wocken 2012: 10)

Der Leser möge sich selbst ein Bild von dieser Einschätzung machen. Auf eines ist aber in jedem Falle hinzuweisen: Wenn Wocken als ein von Inklusion überzeugter Wissenschaftler hier einen Inklusionskongress mit einem Kirchentag vergleicht und in diesem Kontext davon spricht, dass die Frage nach Gott auf einem Kirchentag ja auch „im Vorhinein entschieden ist“, er Inklusion also mit einem „Bekenntnis“ verknüpft, so ist, gelinde formuliert, eine kritische und wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht mehr möglich: „Glauben an eine Idee ist“, wie Speck zugesteht, „ohne Zweifel eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung von Innovationen; sie kann aber konträre Folgen haben, wenn der Glaube zu einem Dogmatismus führt und jeder, der das Dogma nicht teilt und etwa von der Vernunft Gebrauch macht, zum Reaktionär gestempelt wird.“ (Speck 2011a: 68) Es ist dann nicht nur von einem Realitätsverlust, sondern eindeutig auch von einem ‚Wissenschaftsverfall‘ auszugehen. Wegen der inhaltlichen Argumente, die dem Diskurs über Inklusion unter diesen Voraussetzungen nur zuträglich sein können, seien die weiteren Ausführungen des Ministeriums hier angefügt: „Dieser Moment gehört zweifelsfrei zu den bedauerlichen Höhepunkten des ersten Inklusionskongresses in Mecklenburg-Vorpommern. Gleichzeitig jedoch ist genau dieser Moment einer der lehrreichsten: Er zeigt, dass über Inklusion zu sprechen und Inklusion tatsächlich selbst zu leben zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Wir jedenfalls sind überzeugt: Wenn es denn wahr ist, dass Inklusion unser aller Leben in Zukunft verändern wird und nur als gesamtgesellschaftlicher Prozess denkbar ist, dann kann dieser Prozess nicht erfolgreich organisiert werden, ohne Respekt und Toleranz auch jenen gegenüber zu leben, die Inklusion ablehnen oder ihr skeptisch gegenüber stehen. Im produktiven Sinne können und müssen ihre Einwände vielmehr als warnende Hinweisschilder für die Risiken ernst genommen werden, die mit dem Projekt der Inklusion ohne Zweifel auch verbunden sind.“ (Brodkorb/Koch 2012b: 6)

Sich über Inklusion in kritischer Bezugnahme zu äußern, ist also kein ganz ‚ungefährliches‘ Unterfangen. Inklusion avancierte und avanciert sowohl in der Bildungspolitik als auch im pädagogischen Diskurs zu einem Begriff, der die Diskussionen auf polarisierende und irritierende Weise bestimmt (vgl. Tenorth 2013a: 17).

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Tenorth vergleicht den Begriff der Inklusion daher auch mit dem der Integration in der Hochphase der Gesamtschuldiskussion. Ähnlich wie damals, so Tenorth, „versammelt der Begriff der Inklusion die größten moralisch-politischen Ansprüche und die höchsten pädagogischen Versprechen, und wie in der Gesamtschuldebatte formieren sich hinter diesem Begriff – oder gegen ihn, dann meist etwas leiser – die unterschiedlichen bildungspolitischen Fraktionen“ (ebd.). Wer dem politisch korrekten Zeitgeist widerspricht, wer Inklusion und ihre Bezugsbegriffe wie Heterogenität und Vielfalt nicht uneingeschränkt als etwas Positives und zu Bejahendes einschätzt und herunterbetet, der macht sich schnell verdächtig oder sieht sich gar eines „Rassismusverdachtes“ (vgl. Kobi 2006a: 32) ausgesetzt. Er oder sie wird unter dem Hinweis auf die Menschenrechte auf die moralische Anklagebank gesetzt, so, als bedeuteten kritische An- und Rückfragen bereits die Infragestellung der Rechte und, noch gravierender, der Würde von ‚Behinderten‘. Eines der größten Probleme dabei ist, worin Kastl voll zugestimmt wird, dass mit der Formel „Inklusion ist Menschenrecht“ so getan werde, „als würde Inklusion alle Probleme lösen“ (Kastl 2012: 15). „In Wirklichkeit“, so Kastls zutreffendes Fazit, „wird damit nur die Moralisierung der Diskussion bewirkt und ein Handlungs- und Zeitdruck aufgebaut, der auch schädlich sein kann“ (ebd.). Wer Inklusion sagt, hat recht, so hätte sich der – wohlgemerkt wissenschaftliche – pädagogische Diskurs um ausgrenzende gesellschaftliche Mechanismen und Zustände bezüglich einer uneingeschränkten Anerkennung ‚Behinderter‘ bis vor kurzer Zeit noch zusammenfassen lassen (vgl. auch den erwähnten Disput). In einer Phase der Euphorie wurde diesem neuen Begriff frenetisch Beifall geklatscht. Seit kürzerer Zeit mehren sich jedoch auch Stimmen, die die Dominanz dieses Begriffes und die mit ihm verbundenen Sichtweisen und Konsequenzen nicht mehr kritiklos hinnehmen wollen. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung ist das wichtig und förderlich. Dennoch: Die Debatte ist bei einer nüchternen und sachlichen Diskussion noch lange nicht angekommen. Nach wie vor ist sie bestimmt von ideologischen Überhöhungen, Grabenkämpfen und Stigmatisierungen. Der inklusive Zeigefinger schwebt nach wie vor wie ein Damoklesschwert über der Diskussion. Diese moralisch aufgeladene Situation, in der es häufig nur ein Entweder-Oder zu geben scheint, führt dazu, dass die Rede von und über Inklusion undifferenziert erfolgt und unkritisch wird. Oder wie es Tenorth ausdrückt: „Das Gelände ist erneut vermint, Abweichung wird so wenig toleriert wie Distanz – man muss sich offenbar eindeutig verhalten.“ (Tenorth 2013a: 17) Bei all dieser „Schwarz-Weiß-Manier“, bei der unterschieden werde, wer dafür und wer dagegen sei, bliebe jedoch, so Speck, „die Solidarität aller an mehr sozialer Teilhabe behinderter Menschen Interessierten [auf der Strecke]“ (Speck 2011a: 69). Kritische Sichtweisen, die stets auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung, auch der inklusiven Theorieentwicklung, leisten können, werden durch diese Moralisierung und Ideologisierung erschwert. Eine vertiefte und kritische Diskussion der inklusiven Thesen muss aller-

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dings möglich sein, wenn sich der inklusive Ansatz nicht in die Nähe einer Ideologie begeben will – und sie muss auch geführt werden. Die bisher genannten Problemfelder des relativ weiten Interpretationsspielraums hinsichtlich der Begriffsbedeutung, eines unübersichtlichen Diskursfeldes sowie der Moralisierung des Inklusionsdiskurses stecken einen Rahmen ab, in welchem Kontext und unter welchen Voraussetzungen sich diese Arbeit bewegt. Eine Arbeit, die die Diskussion der Inklusion eher aus dem sonderpädagogischen Diskursfeld heraus führt, muss sich unter den genannten Voraussetzungen vorweg auch um eine Klärung des Verhältnisses dieser Disziplin zum Begriff der Inklusion bemühen. Wie kommt der Inklusionsbegriff innerhalb dieses Diskursfeldes zur Sprache? Auch hier kann von einem geklärten Verhältnis bisher keine Rede sein. Im Gegenteil zeigt sich, dass die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik zur weiteren Verunklarung und Verwässerung des Inklusionsbegriffes beiträgt. 2.1.5 Verhältnis der Heil- und Sonderpädagogik zum pädagogischen Inklusionsbegriff Von Inklusion ist inzwischen in menschenrechtlich bedeutsamen Konventionen wie der UN-BRK die Rede. Auch in schulpolitischen Verordnungen und Gesetzen findet der Begriff in zunehmendem Maße Anwendung, ohne dass die juristisch zu ziehenden Konsequenzen immer ganz eindeutig wären. Klar aber ist, dass die Diskussionen und Konsequenzen, die mit diesem Begriff verbunden sind, zu teilweise massiven Veränderungen im gesellschafts- und bildungspolitischen Bereich führen (zum Beispiel Abschaffung der Förderschulen bzw. Diskussion über ihre Abschaffung). Von diesen Veränderungen ist nicht nur die Praxis, sondern auch die Sonderpädagogik als wissenschaftliche Disziplin betroffen, die sich durch die Prämissen des inklusionspädagogischen Ansatzes in Frage gestellt sieht. Insofern ist es nur folgerichtig und verständlich, wenn sich die Disziplin mit diesem Begriff auseinandersetzt: „Betrachtet man derzeit die Diskussion in all den ‚Pädagogiken‘, die sich um die Belange von Menschen mit Behinderungen kümmern, so sticht ein Thema hervor, demgegenüber sie alle Stellung zu beziehen und sich auch zu profilieren versuchen […] – alle wenden sich der ‚Inklusion‘ zu“ (Ackermann 2012: 83). Dass es um die Jahrtausendwende überhaupt zur Auseinandersetzung der heilund sonderpädagogischen Disziplin mit dem Begriff der Inklusion kam (vgl. Liesen/Felder 2004: 3ff.; 2010: 18), ist vor dem Hintergrund der angesprochenen Entwicklungen nicht verwunderlich. Mit Inklusion verbinden sich die Infragestellung und Auflösung sämtlicher sonderpädagogischer Strukturen, „gestufte, differenzierende Strukturen“ werden hier explizit als „problematisch kritisiert“ (vgl. u.a. Hinz 2002: 356). Für den Beginn der Auseinandersetzung dürfte noch wesentlicher sein, dass sich der pädagogische Inklusionsbegriff auch auf den genuinen disziplinären

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Gegenstand des Fachgebietes der Heil- und Sonderpädagogik bezieht, da Behinderungen im inklusionspädagogischen Ansatz als eine Dimension von Verschiedenheit mit angesprochen sind. Trotz dieses engen inhaltlichen Bezugs des pädagogischen Inklusionsbegriffes zum genuinen Thema der wissenschaftlichen Sonderpädagogik ist es einigermaßen überraschend, wie zügig diese Disziplin Inklusion als einen Begriff, der nicht ihrem eigenen diskursiven Kontext entstammt, in ihr begriffliches Repertoire aufgenommen hat. Aus dieser Aufnahme und der anfänglichen Zuwendung ist jedoch inzwischen eine so starke Dominanz dieses Begriffes geworden, dass, wie es scheint, der Wettbewerb mit anderen Begriffen und Sichtweisen langweilig zu werden droht. Ackermann ist daher beizupflichten, wenn er mit Blick auf den Bildungsbegriff den drohenden Verlust anderer Begriffe innerhalb der sonderpädagogischen Disziplin anprangert: „Doch wenn Inklusion mit dem Anspruch auftritt, sich auf das gesamte disziplinäre Selbstverständnis zu beziehen und dessen Zentrum auszufüllen, verdrängt sie den pädagogisch zentralen Gedanken der Bildung als Möglichkeit des Menschen.“ (Ackermann 2012: 98) Durch die Dominanz des Inklusionsbegriffes besteht aktuell die Gefahr, dass andere Ansichten, fachliche Perspektiven und genuin pädagogische Grundbegriffe, die, wie zum Beispiel der Bildungsbegriff, zuvorderst den Gegenstand des Fachgebietes ausmachen, aus dem diskursiven Blickfeld geraten. Damit verschlössen sich der wissenschaftlichen Reflexion und dem praktischen Handeln jedoch zugleich wichtige andere Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Im Zuge der Diskussion um Inklusion hat allerdings auch eine Selbstreflexion des Faches eingesetzt, die positiv hervorzuheben ist. Zentral scheint hier aktuell die Frage zu sein, welche Rolle der Sonderpädagogik in Theorie und Praxis in einem sogenannten ‚inklusiven Bildungssystem‘ zukommt und wie und mit welchen fachlich veränderten Anforderungen diese Rolle auszufüllen ist. Die zügige Aufnahme des Inklusionsbegriffes in die eigene Disziplin vollzog sich jedoch, ohne dass eine vertiefte, theoretische Auseinandersetzung mit den eigentlichen Voraussetzungen dieses Begriffes und der dahinter stehenden Idee stattgefunden hätte. Eine solche Diskussion ist bisher immer noch nicht klar zu erkennen, die Folgen trägt die heil- und sonderpädagogische Disziplin bis heute. Dieses überstürzte Vorgehen hat zu mindestens zwei paradoxen Problemen geführt: Trotz der Allgegenwärtigkeit des Inklusionsbegriffes innerhalb dieser Disziplin ist es ihr bisher nicht in ausreichendem Maße gelungen, entweder eine überzeugende theoretische Verortung des Topos Inklusion in ihrem Gedankengebäude vorzunehmen oder sich durch eigene Begriffe hiervon klar genug abzugrenzen. Ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass die fehlende vertiefte theoretische Auseinandersetzung mit der eigentlichen Idee der Inklusion oder die fehlende Abgrenzung anhand eigener Begrifflichkeiten und Fachperspektiven nach wie vor zu dem Problem führt, sich nicht entschieden und überzeugend genug gegen Positionen zur Wehr setzen zu können, die im Namen der Inklusion die Existenzberechtigung sonderpädagogi-

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scher Strukturen in Frage stellen. Würde dieser Begriff ernst genommen, anstatt sich mit „moderaten“ und verwässernden Auslegungen zu behelfen, dann ließe sich eine Vereinbarkeit von Sonderpädagogik und Inklusion nicht mehr ohne Weiteres konstruieren. Von sonderpädagogischer Seite aus wird das Ansinnen der Auflösung sonderpädagogischer Strukturen aber meist leichtfertig unter dem Hinweis auf die UNBRK abgetan, so, als wäre in der Konvention die genuine Inklusionsidee ausformuliert, was nicht der Fall ist. Aus dieser Perspektive kann man dann selbstverständlich recht umstandslos zu dem Schluss einer Vereinbarkeit von Inklusion und Sonderpädagogik gelangen. Trifft es hingegen zu, dass diese Forderung im Sinne der pädagogischen Inklusionsidee nur folgerichtig ist, so hätte es die Disziplin der Heilund Sonderpädagogik bisher versäumt, sich klar mit eigenen Begriffen und Fachperspektiven zu positionieren. Stattdessen fungiert Inklusion weiterhin als dominanter Grundbegriff dieser Disziplin und hat dort Hochkonjunktur. Anstatt eine ehrliche Debatte über das Verhältnis von Inklusions- und Sonderpädagogik zu führen, hat sie sich mit Inklusion einen Begriff gekauft, dessen sie sich fortan bedient und zu bemächtigen versucht, ohne diesen radikal genug – auch in seinem Anspruch, als pädagogische und handlungsleitende Idee für den Umgang mit ‚Behinderten‘ zu fungieren – zu hinterfragen. Hierdurch kommt es zu der paradoxen Situation eines nach wie vor ambivalenten und ungeklärten Verhältnisses bei gleichzeitiger Dominanz dieses Begriffes innerhalb der eigenen Fachdisziplin. Oder wie es bei Speck kurz und bündig heißt: „Die Rolle, die die Heil- und Sonderschulpädagogik in dieser zwiespältigen Situation spielt, trägt gegenwärtig weithin Züge von Hilflosigkeit und Resignation.“ (Speck 2011a: 117) In inhaltlicher Hinsicht ist von Inklusion im sonderpädagogischen Diskurs hauptsächlich unter der Prämisse einer Veränderung des Schulsystems die Rede; die eigentlich dahinterstehende Idee wird so gut wie nicht hinterfragt oder angezweifelt. Die Diskussion verbleibt zumeist an der Oberfläche, sie beschränkt sich vorwiegend auf praxisrelevante Fragen wie beispielsweise die Gestaltung inklusiven Unterrichts, die Rahmenbedingungen schulischer Inklusion oder die Rolle der Förderschulen, der sonderpädagogischen Fachkräfte und der Fachdisziplin selbst in einem sogenannten ‚inklusiven Bildungssystem‘. Aus mehreren Gründen müssen diese und andere wichtige Fragen der praktischen Umsetzung gestellt und berücksichtigt werden und erfordern allesamt gut durchdachte Antworten: Im bildungs- und gesellschaftspolitischen Bereich verbinden sich mit Inklusion die Hoffnung und das Ziel, Barrieren, die die uneingeschränkte Teilhabe aller Menschen an sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen erschweren, abzubauen. In der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion liegt der Fokus dabei eindeutig auf dem gemeinsamen Schulbesuch von nichtbehinderten und behinderten Kindern und Jugendlichen. Es müssen also Antworten aus theoretischer und empirischer Sicht darauf gefunden werden, wie diese Veränderungen so gestaltet werden können, dass diese möglichst

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als Vorteil für alle Beteiligten erfahrbar werden und keinen der Beteiligten seinem eigenen Schicksal überlassen. Vor dem Hintergrund der Komplexität der historisch gewachsenen Strukturen und Funktionen des Bildungswesens können diese Antworten allerdings keineswegs so einfach ausfallen, wie es die unreflektierte Rede über Inklusion zuweilen nahelegt (vgl. hierzu auch Tenorth 2013a). Noch differenzierter werden die Antworten auf die erwähnten Fragen ausfallen müssen, wenn sonderpädagogische Förderbedarfe der behinderten Kinder und Jugendlichen auch weiterhin Berücksichtigung erfahren sollen, anstatt sie in einer diffusen Allgemeinheit aufgehen lassen zu wollen, wie es der pädagogische Inklusionsbegriff fordert. Auf jeden Fall müssen Antworten auch vor dem Hintergrund der erwähnten Forderung nach einer Auflösung sämtlicher sonderpädagogischer Strukturen gefunden werden. Wie kann und muss sich die Sonderpädagogik im Zuge dieser Entwicklungen verorten und positionieren? Wie kann hier auch weiterhin eine hohe sonderpädagogische Fachlichkeit sichergestellt werden? Vor diesem Hintergrund ist es verständlich und wichtig, dass sich die Disziplin der Sonderpädagogik diesen auf die Praxis zielenden Fragen widmet. Es wäre auch weder angebracht, die Entwicklung hin zu mehr Teilhabe ‚Behinderter‘ zu verurteilen noch kann es zielführend sein, die Augen vor ihr zu verschließen. Dieser Vorwurf trifft die Disziplin der Sonderpädagogik keineswegs. Zu all diesen praxisrelevanten Fragen wird in der Disziplin inzwischen eine breite und vielerorts kontroverse Diskussion geführt, eine schier unüberschaubare Menge theoretischpraktischer und empirischer Beiträge bereichert diese notwendige Diskussion. Häufig bleibt allerdings eine theoretische Verortung der Beiträge aus; die Beiträge bleiben aufs Ganze gesehen eine Antwort auf die Frage nach den begrifflichtheoretischen Grundlagen, auf denen sie fußen, schuldig. Stattdessen dreht sich die Diskussion im Kreis, sie verharrt fast immer auf der Ebene praktisch-institutioneller Fragen, auf der die unterschiedlichen Pro- und Contra-Positionen ausgetauscht werden. Es ist jedoch nicht möglich, ohne eine theoretische Verortung die Beiträge in ihrer theoretischen Bedeutung und damit vor einem wissenschaftlichen Hintergrund zu diskutieren. Darüber hinaus ist die alleinige Behauptung, einen Beitrag zur Inklusion zu leisten, die sich häufig bereits im Titel ankündigt, nicht sonderlich überzeugend, wenn der theoretische Bezug entweder völlig ausbleibt oder der individuellen Willkür überlassen bleibt. So scheint es inzwischen üblich geworden zu sein, den Ausführungen eigene Interpretationen von Inklusion voranzustellen, was sehr interessant und aufschlussreich ist, aber den wissenschaftlichen und systematischen Diskurs nicht sonderlich voranbringt. Die theoretische Diskussion des Inklusionsbegriffes beschränkt sich zumeist auf Abgrenzungsversuche zum Integrationsbegriff. Diese Diskussion über die Abgrenzung der Begriffe Integration und Inklusion ist wichtig, um zu klären, ob mit dem Inklusionsbegriff ein neuer theoretischer Ansatz einhergeht und worin das spezifisch Neue dieses Begriffes überhaupt besteht. Aber: Auch hier bleibt die Diskussi-

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on ein weiteres Mal stecken, indem es meistens bei der Feststellung bleibt, dass es (keine) Unterschiede zwischen beiden Begriffen gibt und selbst hier werden dann hauptsächlich praktisch-institutionelle Unterschiede bearbeitet. So gut wie nie wird der nächste – oder erste – Schritt gesucht, die Idee der Inklusion zu hinterfragen oder sie gar begründeter Weise anzuzweifeln: „Inklusion ist in der Sonderpädagogik mittlerweile ein konsensueller Containerbegriff und als solcher oft auch unhinterfragt. Insbesondere werden die Definitionen von Inklusion nicht auf ihre normativen Konsequenzen hin befragt.“ (Felder 2012: 118) Diese Tatsache ist umso verwunderlicher, da der pädagogische Inklusionsbegriff mit dem exklusiven Anspruch auftritt, die Lösung für alle Problematiken darzustellen, die mit der Ausgrenzung und Anerkennung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen einhergehen. Inklusion scheint immer schon als zu erreichender Fixpunkt festzustehen, wenn über sie gesprochen wird, nur die Auslegung oder inhaltliche Ausgestaltung dieses Ziels scheint noch verhandelbar zu sein. Wird weiter nach theoretischen Auseinandersetzungen der Heil- und Sonderpädagogik mit dem Begriff der Inklusion gesucht, so finden sich inzwischen am häufigsten einleitende Hinweise zur UN-BRK. Abgesehen davon, dass von dieser (menschen-)rechtlichen Verordnung ausgehend dann umstandslos pädagogische oder didaktische Fragestellungen bearbeitet werden, verhält es sich so, dass der eigene Beitrag sich selbstverständlich als ‚inklusiv‘ versteht, nur weil er auf die UNBRK Bezug nimmt. Am Beispiel der Diskussion um Inklusion im Kontext dieser Konvention zeigt sich, dass auch hier nur scheinbar eine begriffliche und grundlagentheoretische Bearbeitung im Gange zu sein scheint, die sich aber als ein sonderpädagogisches Ablenkungs- oder Ausweichmanöver entpuppt. Der mit Inklusion verbundenen Infragestellung sonderpädagogischer Strukturen hat die Disziplin der Sonderpädagogik bisher kaum etwas Eigenes entgegengesetzt. Stattdessen hat sie eine eigentümliche Strategie entwickelt, um dieser Gefahr entgegenzuwirken. Gleichzeitig verharrt auch die grundlagentheoretische Begriffsdiskussion in eben dieser Strategie. So beschränkt sich die Disziplin der Sonderpädagogik, wo sie sich dem Begriff selbst zuwendet, zumeist allein darauf, über die Konsequenzen zu diskutieren, die aus der UN-BRK, insbesondere dem Art. 24 zur schulischen Bildung, ableitbar sind. Aber nur, weil in dieser wichtigen Konvention von „inclusion“ die Rede ist, heißt das noch lange nicht, dass hier Inklusion in ihrem eigentlichen Sinne gemeint ist. Trifft es zu, dass mit Inklusion ihrer eigentlichen Bedeutung nach die Auflösung sonderpädagogischer Strukturen verbunden ist, so ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Inklusion in der UNBRK gerade nicht in diesem spezifischen Sinne verwendet wurde. Dies zeigt sich, wenn einem Gedanken von Jörg Kastl gefolgt wird: Ihm zufolge schaffe die UN-BRK kein neues Menschenrecht, sondern sie „beruft sich auf bereits kodifizierte spezifische Menschenrechte und betont ihre volle Anwendbarkeit auf

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behinderte Menschen“ (Kastl 2013: 142). Kastl verdeutlicht diesen Gedanken weiter wie folgt: „In Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz wird z.B. in Artikel 24 Abs. 2a der UN-BRK ein Zugangsrecht behinderter Menschen zum ‚allgemeinen Bildungssystem‘ abgeleitet. Was genau ‚allgemeines Bildungssystem‘ bedeutet, ergibt sich aus dem Konventionstext allerdings nicht. Das muss vom jeweiligen Rechts- und Systemkontext der jeweiligen Staaten her interpretiert werden. In Deutschland ist beispielsweise das Sonderschulsystem durchaus Bestandteil des allgemeinen Schulsystems. Unklar ist, was konkret die Gewährleistungspflicht eines ‚inklusiven Bildungssystems‘ beinhaltet: wäre [sic!] ein Sonderschulsystem, das mehr als unser derzeitiges System auf Eingliederung in das Regelschulsystem angelegt wäre, schon ein Schritt in Richtung Inklusion? Sind zweitweise eingerichtete Förder- oder Sonderklassen innerhalb der ‚Regelschulen‘ damit noch verträglich? Oder geht es ausschließlich um gemeinsamen Unterricht?“ (Ebd.)

Aus gutem Grund, so Kastl weiter, gebe die Konvention darüber keine Auskunft, „weil solche Dinge auf dieser Ebene nicht regelbar sind. Menschenrechte haben als Inklusionsmechanismus nämlich ein großes Problem. Sie stehen in der Rechtspraxis unvermeidlich zueinander in Spannungsverhältnissen.“ (Ebd.) Entscheidend sei daher, dass diese Rechte so generell formuliert sein müssten, „dass sie die konkrete Rechtsanwendung oder politische Umsetzung nicht determinieren, sondern Spielräume offen lassen“ (ebd.). Dies hieße aber auch, „dass die schulpolitischen Forderungen aus der UN-Konvention alles andere als eindeutig bestimmbar sind“ (ebd.). Einem Inklusionsverständnis, das die Abschaffung sonderpädagogischer Strukturen verfolgt, kann die UN-BRK unter diesen Prämissen also gar nicht entsprechen: „Dass Inhalt und Umsetzung weitgehend offen bleiben ist ausdrücklich gewollt, schließlich muss die Konvention in allen Ländern dieser Erde gelten können und darf deswegen nicht zu eng formuliert sein […]. So werden in einem Entwicklungsland andere Dinge in Bildung und Erziehung erst einmal einen höheren Stellenwert einnehmen als der gemeinsame Unterricht aller Kinder.“ (Liesen 2010: 12)

Es kommt hier aber weniger auf die Richtigkeit dieser Interpretation an, als vielmehr darauf, dass häufig der Eindruck entsteht, die Sonderpädagogik ‚verwechselt‘ hier die Diskussion bzw. Interpretation der UN-BRK mit der Diskussion über den Inklusionsbegriff und seine genuine Idee. Oder andersherum: Die Bedeutung des Inklusionsbegriffes wird häufig nur über die Interpretationsspielräume der UNBRK diskutiert. Exemplarisch lässt sich dies an der folgenden Argumentation Ahrbecks aufzeigen – ein Sonderpädagoge, der nicht zuletzt auch durch seine detaillierte und plausible Kritik am pädagogischen Inklusionsbegriff bundesweit bekannt wurde: Um zu zeigen, dass die UN-BRK nicht die Abschaffung von Sonderschulen

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impliziert, bezieht sich Ahrbeck zunächst auf folgendes Zitat von Jennessen und Wagner: „Will sich die Idee der Inklusion [Herv. P.S.] gemessen an ihren eigenen grundlegenden Überzeugungen nicht selbst ad absurdum führen, so muss die Zielvorstellung für die inklusive Schule der Zukunft die Schule für alle sein!“ (Jennessen/Wagner 2012: 340) Um die „Schule für alle“ zu begründen, sprechen Jennessen und Wagner hier also eindeutig von der Idee der Inklusion. Ahrbeck bezieht sich folgendermaßen auf die zutreffende Feststellung der beiden Autoren: „Ob sich die UN-Behindertenrechtskonvention [Herv. P.S.] in diesem Sinne zwingend interpretieren lässt, ist höchst umstritten […]“ (Ahrbeck 2014: 23). Weiter heißt es: „Die einen gehen davon aus, dass das Fortbestehen spezieller Einrichtungen dem Inklusionsgedanken [Herv. P.S.] nicht widerspricht […]. Andere hingegen stellen eine unmittelbare Verknüpfung zwischen dem inklusiven Anliegen und schulischen Organisationsformen her. […] Explizit ist in der UN-Konvention, dass Sonderschulen abzuschaffen seien, an keiner Stelle die Rede.“ (Ebd.)

Es stimmt zwar, dass die UN-BRK nicht die Abschaffung der Sonderschulen impliziert, wie anhand der Überlegungen Kastls gezeigt wurde und wie dies auch von Ahrbeck selbst gut begründet wird (vgl. ebd.: 23f.). Jennessen und Wagner gelangen aber zu ihrer Feststellung der „Schule für alle“ über die Idee der Inklusion; diese schulische Organisationsform wird in der von Ahrbeck herangezogenen Textstelle nicht mit der UN-BRK begründet. Ahrbeck hingegen setzt hier die Idee der Inklusion oder den Inklusionsgedanken unvermittelt mit der UN-BRK gleich, wenn es heißt, es sei höchst umstritten, ob sich die UN-BRK im von den Autoren gemeinten Sinne, das heißt der „Schule für alle,“ interpretieren ließe. Diese Interpretation nehmen die Autoren jedoch in dieser verwendeten Textstelle nicht vor, da sie hier mit der Idee der Inklusion und nicht mit der UN-BRK argumentieren. Aus der legitimen Sichtweise heraus, die UN-BRK fordere unter der Prämisse eines ‚inklusiven Bildungssystems‘ keine Auflösung sonderpädagogischer Strukturen, kann nicht begründet werden, dass diese Annahme auch für die Idee oder den Begriff von Inklusion zutrifft. Die Annahme, dass mit der ‚richtigen‘ Auslegung der Konvention auch der Inklusionsbegriff geklärt sei, unterliegt einem Fehlschluss, der nur dadurch möglich wird, dass die Diskursebenen miteinander vertauscht werden. Die Diskussion, die auf der Ebene des Begriffes geführt werden müsste, wird auf eine institutionsbezogene Ebene verlagert, auf die der UN-BRK. Dadurch entsteht vordergründig der Eindruck, über den Inklusionsbegriff zu diskutieren, wohingegen lediglich über die Auslegung einer Konvention gesprochen wird. In der Folge erfährt nicht nur der Inklusionsbegriff eine Umdeutung, sondern mit diesem Manöver wird im heil- und sonderpädagogischen Diskurs dann fälschlicherweise und umstandslos häufig auf eine Vereinbarkeit von Inklusion und Sonderpädagogik geschlossen.

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Auf ein weiteres Muster dieser Begriffsumdeutung, an dem wiederum auch die Heil- und Sonderpädagogik beteiligt ist, soll an dieser Stelle aufmerksam gemacht werden. Immer wieder ist – insbesondere von Stimmen, die dem Inklusionsgedanken kritisch gegenüberstehen – zu vernehmen, dass es im Diskurs um Inklusion einen „radikalen Ansatz der Inklusion“ (vgl. Brodkorb 2012: 20) bzw. ein „radikales Inklusionsverständnis“ (vgl. Ahrbeck 2014: 7) gebe. Um die eigene Diskursposition zu kennzeichnen, wird dem ein „weiter Inklusionsbegriff“ (vgl. Brodkorb 2012: 16) oder ein „gemäßigtes Inklusionsverständnis“ (vgl. Ahrbeck 2014: 7) gegenübergestellt. Bezugs- und Referenzpunkt ist hier häufig Andreas Hinz, dem heutzutage die „radikale“ Position im Inklusionsdiskurs zugeschrieben wird (vgl. u.a. Ahrbeck 2014). Versteht man ‚radikal‘ im ursprünglichen Sinne als ‚an die Wurzel gehend‘, dann trifft diese Zuschreibung insofern zu, als der pädagogische Inklusionsbegriff im deutschsprachigen Raum vor allem von Hinz expliziert wurde. Eher ist aber davon auszugehen, dass „radikal“ aus Sicht derjenigen Diskurspositionen, die sich selbst als „gemäßigt“ bezeichnen, in einem umgangssprachlichen Sinne negativwertend gemeint ist, derart, dass die sogenannten „radikalen Inklusionsvertreter“ eine besonders unnachgiebige Position und Auslegung des Inklusionsbegriffes vertreten würden. Ist es aber nicht vielmehr so, dass Hinz und andere, denen diese Position zugeschrieben wird, nicht eine besonders radikale Diskursposition im negativ-wertenden Sinne vertreten, sondern die Idee der Inklusion ernst nehmen und sich nicht mit einer Gleichsetzung von Integration und Inklusion begnügen? Wird ihnen hiermit nicht fälschlicherweise eine besondere Form der ‚Radikalität‘ unterstellt? Dies wird aber nur dann möglich, wenn der Begriff entweder nicht konsequent gedacht wird oder man eigentlich von Integration spricht, wenn man Inklusion sagt. Bei aller Zustimmung zu vielen Kritikpunkten an einem sogenannten „radikalen Inklusionsverständnis“, die aus der Sichtweise derjenigen Positionen formuliert werden, die im Sinne eines „gemäßigten“ oder „moderaten“ Inklusionsverständnisses verstanden werden wollen: Auch und gerade bei diesen Positionen ist mehr als fraglich, ob sie damit überhaupt noch einen ‚inklusiven Beitrag‘ im Diskurs leisten. Es bleibt nämlich häufig unklar, wie dieses „gemäßigte Inklusionsverständnis“ im Einzelnen aussieht, und vor allem, wodurch es sich in seiner legitimen und einsichtigen Kritik am sogenannten „radikalen Inklusionsverständnis“ vom Begriff der Integration Punkt für Punkt unterscheidet. Ahrbeck kennzeichnet den Unterschied der beiden Inklusionsverständnisse wie folgt: „Sie unterscheiden sich im angestrebten Reformtempo und – was noch wichtiger ist – darin, ob eine ungetrennte Gemeinsamkeit aller Schüler das ausschließlich gültige Ziel sein kann […]. Hinzu kommt eine unterschiedliche Bewertung der bisherigen sonderpädagogischen Förderkategorien. Während sie von gemäßigter Seite für unverzichtbar gehalten werden,

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möchten sie andere unter dem Stichwort der Dekategorisierung weitgehend, wenn nicht gar vollständig abschaffen.“ (Ahrbeck 2014: 8)

Zwar sind beide Ziele – sowohl das ausschließliche Ziel einer „Schule für alle“ als auch die Abschaffung sonderpädagogischer Förderkategorien – in höchstem Maße frag- und kritikwürdig. Warum aber wird die Kritik unter dem Vorzeichen eines „gemäßigten Inklusionsverständnisses“ vorgetragen? Was hat diese Position noch mit Inklusion zu tun? Wenn die Gründe hierfür nicht offengelegt und die Unterschiede zum Begriff der Integration nicht auf plausible Weise geklärt werden, setzt sich der heil- und sonderpädagogische Diskurs auch weiterhin dem – unter diesen Bedingungen berechtigten – Vorwurf einer sonderpädagogischen Begriffsverwässerung aus: „Die Inklusionskritik ist darauf aus, den Begriff ‚Inklusion‘ restlos zu entleeren“ (Wocken 2014: 1), wobei Wocken, indem er sich hier namentlich auf Ahrbeck bezieht, unter „Inklusionskritik“ auch und gerade die Diskursposition eines „gemäßigten Inklusionsverständnisses“ versteht. Lassen sich in den vorgetragenen Kritikpunkten am sogenannten „radikalen Inklusionsverständnis“ hingegen keine klaren Unterschiede zum Integrationsbegriff feststellen, so müsste dieser Sachverhalt auch ehrlicherweise benannt werden. Vor dem Hintergrund der Besorgnis, durch eine klare Stellungnahme unzeitgemäß oder politisch unkorrekt zu erscheinen, ist es einigermaßen erstaunlich, dass eine solche Positionierung – so klar formuliert und wenn auch als Einzelbeispiel vorgetragen – aus dem Feld der Bildungspolitik zu vernehmen ist. Mathias Brodkorb, Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern, der auch von Ahrbeck immer wieder herangezogen wird, um mit ihm auf die „gemäßigte“ Position aufmerksam zu machen (vgl. u.a. Ahrbeck 2014: 121), spricht zwar in seinen Ausführungen von der „gemäßigten Inklusion“, womit er sich an dem Versuch einer Expertenkommission, „Inklusion in einem weiten Sinne“ zu definieren, orientiert (vgl. Brodkorb 2012: 16). Er stellt gegen Ende seiner Ausführung jedoch unumwunden und unmissverständlich fest: „Für all das, was ich als ‚gemäßigte‘ Inklusion bezeichne und wofür die Expertenkommission die Formulierung ‚Inklusion in einem weiten Sinne‘ gebraucht, ist das Modewort ‚Inklusion‘ verzichtbar, denn in diesem Sinne ist Inklusion nichts anderes als gut gemachte Integration.“ (Ebd.: 31f.) An anderer Stelle heißt es in diesem Tagungsband aus Sicht der erwähnten Expertenkommission: „Wenn in vorliegendem Bericht von ‚Inklusion‘ gesprochen wird, so geschieht dies daher fortan ausdrücklich im Sinne der Inklusion in einem weiten Sinne und damit synonym zu Integration.“ (Expertenkommission ‚Inklusion‘ M-V 2012: 93) Es stellt sich zwar dann immer noch die Frage, warum nicht gleich von Integration gesprochen wird, aber immerhin wird das Begriffsverständnis durch diese Feststellung transparent gemacht. Dies reduziert erstens die Gefahr einer weiteren Begriffsverwässerung und sorgt zweitens für An-

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schlussfähigkeit des Diskurses. Derartig eindeutige Festlegungen fehlen im heilund sonderpädagogischen Diskurs weitgehend. Der heil- und sonderpädagogische Diskurs hat sich allem Anschein nach für einen anderen Weg entschieden: den der Begriffsumdeutung. Anstatt über die Idee der Inklusion zu diskutieren und in der Folge Stellung zu beziehen, wird aus der UN-BRK ein spezifisches Inklusionsverständnis generiert; und die Kritik an dieser Idee erhält umstandslos das Vorzeichen einer „gemäßigten“ inklusiven Diskursposition. Über die Gründe für dieses Vorgehen kann nur spekuliert werden. Aufgrund der menschenrechtlichen Bezüge und der angesprochenen Moralisierung des Inklusionsdiskurses liegt aber die Vermutung nahe, dass sich der Weg der Begriffsumdeutung vor allem aus der Angst heraus gebärt, unzeitgemäß zu sein. Ein anderer spezifischer Grund für diese Strategie hängt sicherlich damit zusammen, dass sich die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik durch das sogenannte „radikale Inklusionsverständnis“ selbst in Frage gestellt sieht und implizit oder explizit darum weiß. 2.1.6 Bildungspolitische Umdeutungen Auch der Bildungspolitik spielen die begriffliche Unschärfe und die Umdeutung des pädagogischen Inklusionsbegriffes durch die Heil- und Sonderpädagogik in die Hände, da hierdurch die für sie günstige Situation eintritt, sich klaren (bildungs-) politischen Entscheidungen entziehen zu können: eine dem aktuellen politischen Zeitgeist durchaus entsprechende Haltung. Das gesamtgesellschaftlich positiv besetzte ‚inklusiv‘ wird auch hier häufig zum schmückenden Beiwerk, zur willkommenen Begleitmusik im bildungspolitischen Feld. Gemeinsam mit der Heil- und Sonderpädagogik beteiligt sich auch die Bildungspolitik selbst rege an der Entwertung des pädagogischen Inklusionsbegriffes, wobei die „Pädagogik als Wissenschaft […] in diesem Zusammenhang häufig leider bloß als strategischer Spieleinsatz [dient]“ (Brodkorb 2012: 29), wie die ernüchternde Einschätzung Brodkorbs in seiner Funktion als Bildungsminister ausfällt. Deutlich wird diese Umdeutung und Entwertung zum Beispiel daran, wenn im Bundesland Bayern die sogenannte ‚Einzelinklusion‘ als ein Weg zur Umsetzung der schulischen Inklusion beschrieben und gesetzlich geregelt ist (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst 2014: 4; Art. 30b Abs. 2 BayEUG). Dieser Begriff macht nicht nur begriffs- und inhaltslogisch keinen Sinn, sondern es wird, wie mit Hinz übereinstimmend festgestellt werden kann, „offensichtlich, dass lediglich der – schon in dieser Weise problematisch benutzte – Integrationsbegriff [Einzelintegration; Anm. P.S] gegen den der Inklusion ausgetauscht wurde und damit zu demonstrieren versucht wird, dass den Herausforderungen der Behindertenrechtskonvention entsprochen wird“ (Hinz 2013: 2).

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2.1.7 Bewertung und Zusammenfassung Teile der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik und Bildungspolitik nutzen gleichermaßen die zweifelhafte Gunst der Stunde, um sich einer ehrlichen Debatte über das Verhältnis von Sonderpädagogik und Inklusion zu entziehen. Dass sich die Politik der Strategie der spezifischen Interpretationen von Begriffen bedient, mag ein ihr inhärierendes Merkmal sein. Wenn aber die Sonderpädagogik als eine wissenschaftliche Disziplin diese Strategie mitträgt und sich dieser selbst bedient, wird sie ihrem Anspruch, als eine Wissenschaft fungieren zu wollen, nicht gerecht. Die sonderpädagogische Disziplin hat zwar immer auch eine politische Dimension, indem sie sich seit jeher für die Belange von ‚Behinderten‘ im gesellschaftspolitischen und öffentlichen Diskurs einsetzt und auch einsetzen muss. Doch wenn Politik und Wissenschaft zusammenfallen, kann die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik ihrer Aufgabe nicht mehr nachkommen, gesellschaftliche oder bildungspolitische Zustände kritisch in den Blick zu nehmen. Sei es aufgrund des unspezifischen Gefühls, zeitgemäß sein zu müssen, sei es aufgrund des moralischen oder politischen Drucks, sei es aufgrund einer aus wissenschaftlicher Sicht heraus betrachtet falsch verstandenen Parteinahme für ‚Behinderte‘: Dies darf nicht dazu führen, dass eine kritische und reflektierte Diskussion über die Voraussetzungen und Konsequenzen der grundsätzlichen Kernidee der Inklusion ausbleibt: „Überzeichnungen müssen sich auch einer sachlichen und rationalen Überprüfung stellen, und dies wäre Aufgabe der Wissenschaft, u.a. der Sonder- und Heilpädagogik, soweit sie sich als Wissenschaft versteht.“ (Speck 2011a: 70) Von einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Sonderpädagogik kann und muss erwartet werden, dass sie sich in kritischer Bezugnahme mit den Grundlagen und der Idee eines Begriffes auseinandersetzt, der innerhalb der Fachgrenzen nicht nur virulent geworden ist, sondern der paradoxerweise mittlerweile ihr Selbstverständnis auszumachen scheint. Sie sollte diesen Begriff offen und ehrlich, auch in seiner Bedeutung für das eigene Fachgebiet, diskutieren und sich dieser Debatte nicht weiter durch Begriffsumdeutungen und fadenscheinige Argumente entziehen. Anhand der drei Beispiele – der Gleichsetzung der Inklusionsidee mit der UNBRK, der Einführung eines „gemäßigten Inklusionsverständnisses“ sowie der bildungspolitischen Umdeutungen – zeigt sich, wie der Verwässerung des pädagogischen Inklusionsbegriffes Vorschub geleistet wird. In der Folge entsteht genau die Situation, die nun vorherrscht: Jeder spricht über Inklusion, aber niemand weiß eigentlich mehr, was genau unter diesem Begriff verstanden werden soll. Der „interpretative Spielraum dessen, was unter Inklusion zu verstehen ist“, ist nicht nur „noch recht weit gefasst“ (vgl. Ackermann 2012: 83), sondern er wird hierdurch zusehends noch vergrößert. Das Beiwort ‚inklusiv‘ kann von nun an sämtlichen fachlichen Inhalten und institutionellen Strukturen angeheftet werden:

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„Nicht nur jede Form integrativen Unterrichts wird nun als ‚inklusiv‘ betitelt, sondern es wird vielfach integrativ einfach durch inklusiv ausgetauscht, etwa aus opportunistischem Interesse […]. Im Nebeneffekt solcher begrifflicher Übertreibungen und Verwischungen wird unbemerkt der Unterschied zu ‚Integration‘ aufgehoben, und ‚Inklusion‘ erweist sich so als Erweiterung oder Verlängerung des integrativen Ansatzes.“ (Speck 2011a: 68f.)

Eine konstruktive, wissenschaftliche Auseinandersetzung wird durch dieses begriffliche Nirwana erheblich erschwert, da Anknüpfungspunkte fehlen, auf die man sich in seinen Argumenten beziehen könnte. Innerhalb der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik werden im Kontext der Inklusionsdebatte bereits wichtige Fragen diskutiert. In erster Linie betrifft dies die praxisrelevanten Fragen der institutionellen Umsetzungen und Veränderungen, die zahlreich theoretisch reflektiert und empirisch untersucht werden. Auch an der wichtigen Diskussion um die Auslegung der UN-BRK und um die Abgrenzung zum Integrationsbegriff beteiligt sich diese Disziplin. Nicht die Auseinandersetzung mit all diesen wichtigen Fragen ist zu kritisieren. Im Gegenteil: Gerade der wichtige Prozess hin zu mehr Teilhabe und Anerkennung ‚Behinderter‘ erfordert beispielsweise, auch und gerade in schulischen Kontexten, die Benennung institutioneller und politischer Rahmenbedingungen, die diesen Prozess unterstützen können. Kritisiert werden kann und muss aber das Missverhältnis zwischen der anhaltenden und dominanten Verwendung des Begriffes der Inklusion in nahezu allen Fragen, die das Fachgebiet betreffen und der fehlenden kritisch-reflexiven Auseinandersetzung über die genealogischen Voraussetzungen dieses Begriffes, die höchst zweifelhafte Konsequenzen für ‚Behinderte‘ und das eigene Fachgebiet haben. Wenn Dederich der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik insgesamt vorhält, sie befinde sich in einem „grundlagentheoretischen Dämmerzustand“ (vgl. Dederich 2013c: 90), so trifft dies ganz besonders auch auf ihr Verhältnis zum Begriff der Inklusion zu. Für diese fehlende Auseinandersetzung gibt es zwar Gründe, die aber diese Kluft keinesfalls rechtfertigen. Einige dieser Gründe finden ihre Verortung in den skizzierten Problemfeldern des Diskurses um Inklusion. So erschwert mittlerweile die inflationäre und dominante Verwendung des Inklusionsbegriffes innerhalb des sonderpädagogischen Fachgebietes eine kritische Befragung der theoretischen Prämissen und Konsequenzen der Inklusionsidee. Eine Erklärung hierfür könnte unter anderem sein, dass eine „paradigmengeleitete scientific community“ (vgl. Rosa 2003: 52) im „normalen Fortgang der Wissenschaft […] rigoros eine einheitliche Sozialisierung [sichert] und […] Abweichungen nicht zu[lässt]. Mit anderen Worten, sie sorgt dafür, dass ihre Mitglieder nicht die falschen Fragen stellen oder falsche Methoden verfolgen.“ (Ebd.) Dass ‚die falschen Fragen‘ im Falle der Inklusion nicht gestellt werden, scheint durch die uneinheitlichen Redeweisen und spezifischen Interpretationen zusätzlich erschwert worden zu sein, woran sich die Sonderpädagogik bisher selbst rege beteiligt hat. Um ‚falsche Fragen‘ stellen zu können,

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müsste nämlich erst einmal (wieder) geklärt werden, was annähernd ‚richtige Antworten‘ wären; das heißt, es müsste eine Verständigung über die Idee der pädagogischen Inklusion einsetzen. Anstatt sich dieser Frage zu widmen, gebärt sich aus Angst, unzeitgemäß zu sein, von vielen Seiten eine verworrene und begriffsverwässernde Debatte darum, was fortan als ‚inklusiv‘ bezeichnet werden kann oder Inhalte werden einfach als ‚inklusiv‘ ausgegeben, ohne dabei auf den eigentlichen Begriffsinhalt Rücksicht zu nehmen. Eine weitere Hürde für eine kritische Diskussion stellt sicherlich die moralisch und ideologisch aufgeladene Debatte um Inklusion dar, in der es schnell zu stigmatisierenden Zuweisungen kommt, anstatt sich mit inhaltlichen Argumenten auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang spielt häufig auch der Verweis auf die menschenrechtliche Dimension des Inklusionsbegriffes eine entscheidende Rolle. Nicht selten fungiert die Bezugnahme auf die UN-BRK jedoch als ‚Totschlagargument‘, das jegliche kritische Anfrage zu verhindern versucht und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung damit im Keim erstickt. Allerdings ist, so Schlee, „[e]ine allein von moralischen Argumenten dominierte Diskussion […] unerträglich und sollte dann stimmigerweise nicht mehr an wissenschaftlichen Hochschulen geführt werden“ (Schlee 2012: 117f.). Aus wissenschaftstheoretischer Sicht wird es nämlich dann problematisch, „wenn moralische Richtigkeitsüberzeugungen den kritischen und analytischen Blick trüben und das Engagement die in den Wissenschaften immer auch erforderliche Distanznahme […] verunmöglicht“ (Dederich 2013c: 100). Träte diese Situation ein, dann wäre nicht nur der Anspruch verspielt, den Inklusionsbegriff als einen wissenschaftlichen Begriff zu verorten, sondern auch die disziplinäre Bedeutung der Heil- und Sonderpädagogik wäre massiv in Zweifel gezogen. Die aufgezeigten Problemfelder des Diskurses um die pädagogische Inklusion machen zunächst einmal auf die diskursive Komplexität aufmerksam, mit der es eine Arbeit zu tun hat, die sich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff zuwendet. Sie verweisen auf einen verworrenen Diskurs, der zudem moralisch sehr aufgeladen ist. Im Zentrum der Diskussionen steht der Begriff der Inklusion, der in bestimmten gesellschaftspolitischen, (menschen-) rechtlichen, bildungspolitischen und wissenschaftlichen Diskursen eine große Virulenz entwickelt hat. Durch seinen inflationären, begriffsverwässernden und theorieresistenten Gebrauch ist er in all diesen Diskursen inzwischen bis zur Konturlosigkeit verkommen. Er dient heutzutage mehr denn je eher als Projektions- und Angriffsfläche unterschiedlicher persönlicher Wertüberzeugungen und Einstellungen denn als wissenschaftlicher Begriff, mit dem sich Realitäten und Möglichkeiten beschreiben oder hinterfragen ließen. Dennoch haben wir es bei Inklusion mit einer pädagogischen Idee zu tun, die in ihren praktischen Konsequenzen eine große gesellschafts- und bildungspolitische Relevanz besitzt. Auf sie beziehen sich mittlerweile auch weite Teile des disziplinären Selbstverständnisses der Heil- und Sonder-

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pädagogik, ohne dass diese Idee dabei grundlegend hinterfragt würde; lieber beschreitet die Disziplin den verschleiernden Pfad der Begriffsumdeutung. Die vorliegende Arbeit muss sich mit diesen Problemfeldern und der mit ihnen verbundenen Kritik auseinandersetzen. Mit einer solchen Positionsbestimmung gehen unvermeidlich auch Risiken einher. So stellt sich diese Arbeit – unter den beschriebenen Vorzeichen der unklaren Begriffslage sowie der theoretischen Abstinenz des heil- und sonderpädagogischen Diskurses gegenüber dem pädagogischen Inklusionsbegriff – dem Anspruch, sich auf einer theoretischen Ebene mit der pädagogischen Inklusionsidee auseinanderzusetzen. Indem immer wieder zu vernehmen ist, dass ein klares Begriffsverständnis von Beginn an nicht vorgelegen hätte und es innerhalb und außerhalb des heil- und sonderpädagogischen Diskurses inzwischen unterschiedliche Begriffsverständnisse zu geben scheint – zumindest wird dies behauptet –, setzt sich dieses Vorgehen stets dem Vorwurf aus, in der Wahl der Bezugstheorie selektiv und willkürlich vorzugehen. Dem Vorwurf der Selektivität ließe sich ganz grundsätzlich entgegenhalten, dass ohne eine bestimmte Auswahl auch keine Verständigung oder Auseinandersetzung möglich wird – es würde also genau das passieren, was heutzutage durch fehlende Theoriebezüge eines der größten Probleme der Debatten über Inklusion darstellt. Es ist dann zwar vieles und alles möglich, nur verbleibt der Diskurs damit auf der Ebene persönlicher Einschätzungen und Vorlieben. Dem Vorwurf der Willkürlichkeit ist schon schwieriger gegenüberzutreten, weil er sich auf inhaltliche Gründe bezieht. Solche zu bestimmen, ist angesichts der Diskurslage nicht ganz einfach, sie müssen aber dennoch gegeben und transparent gemacht werden, was an entsprechender Stelle noch getan wird. Die Arbeit bewegt sich damit zwar im Diskursfeld um Inklusion. Hinsichtlich der Kritik an Diskurspositionen, die ein „gemäßigtes“ oder „moderates“ Inklusionsverständnis beanspruchen – und damit zur weiteren Verunklarung und Entwertung des Begriffes beitragen –, vertritt die Arbeit aber ausdrücklich keine solche Position in diesem Diskurs. Dagegen sucht sie bewusst die kritische Analyse der pädagogischen Inklusionsidee, die, um es an dieser Stelle noch einmal zu betonen, nicht mit der UN-BRK verwechselt werden darf. Damit begibt sich diese Arbeit durch die Moralisierung des Diskurses unmittelbar in die Gefahr einer Stigmatisierung, der sie sich aus wissenschaftlichem Interesse an der Sache aber bewusst aussetzt.

2.2 ABGRENZUNG VOM SOZIOLOGISCHEN BEGRIFFSVERSTÄNDNIS Dass bisher immer vom pädagogischen Inklusionsbegriff die Rede war, hat einen guten Grund. Denn nicht nur in pädagogischen Teildisziplinen, sondern auch in einer ihrer Nachbardisziplinen, der Soziologie, findet der Begriff der Inklusion Ver-

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wendung, hier jedoch in einem gänzlich anderen Sinne. Auch wenn die vorliegende Arbeit explizit die Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff sucht, muss vorab verdeutlicht werden, wodurch sich die disziplinären Begriffsverständnisse im Wesentlichen unterscheiden. Ohne den vielfältigen soziologischen Diskurs um Inklusion hier auch nur annähernd in seiner Gesamtheit darstellen zu können, ist eine solche begriffliche Abgrenzung wichtig, um zu zeigen, auf welches Verständnis sich die anschließende Analyse und Kritik bezieht bzw. nicht bezieht. Eine solche Abgrenzung ermöglicht es außerdem, anschließend eine genauere Bestimmung des pädagogischen Inklusionsbegriffes vorzunehmen, da die Unterschiede zum soziologischen Begriffsverständnis seine theoretische Ausrichtung noch deutlicher hervortreten lassen. Zwar ließen sich der pädagogische Inklusionsbegriff und seine Sichtweise auf das Problem der Aus- und Eingrenzung auch aus der Perspektive des soziologischen Begriffsverständnisses einer spezifischen Kritik unterziehen; das ist jedoch nicht das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, da dieses Problem und die Lösungen, die vom inklusionspädagogischen Ansatz hierzu angeboten werden, aus einer phänomenologischen Sichtweise heraus hinterfragt werden. Dieser Zugang bedeutet insofern eine Einschränkung, da auch mit ihm keine „Analyse gesellschaftlicher Organisationsformen von Arbeits- und Lebensverhältnissen […]“ (Bernhard 2012: 345) möglich ist, deren Fehlen dem inklusionspädagogischen Ansatz aus soziologischer oder gesellschaftstheoretischer Sicht berechtigterweise vorgehalten wird. In der Abstinenz der Analyse gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen, der Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. Dammer 2011: 27), wurzeln vielfältige Probleme des inklusionspädagogischen Ansatzes. Auf ein sehr grundlegendes dieser Probleme macht beispielsweise Bernhard aufmerksam: „Wer die unter neoliberalen Verhältnissen noch verschärften Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzipien nicht thematisiert, die einer kapitalistischen Wirtschaftsstruktur immanent sind, kann kaum zu einer realitätsgerechten Analyse derjenigen Bedingungen gelangen, die die an den jeweiligen Besonderheiten von Kindern festgemachten negativen Etikettierungen und Separierungsmaßnahmen hervorbringen.“ (Bernhard 2012: 347)

Nicht nur die Analyse der intersubjektiven Dimension von Ein- und Ausgrenzung, wie sie hier noch durchgeführt wird, sondern auch eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen dieser Problematik wäre notwendig, um die Bedingungen der Möglichkeit tatsächlicher Veränderungen auch auf dieser Ebene substanziell zu erfassen. Wenn sich der inklusionspädagogische Ansatz jedoch „unvermittelt zu der soziologischen Faktenlage entwickelt bzw. verselbstständigt“ (Dammer 2011: 8), dann würde Inklusion „zu einer Art neue[n] Zauberformel, mit der die Pädagogik einmal mehr die bisher von ihr uneingelösten Versprechen zu erfüllen behauptete“ (ebd.).

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Es wird sich herausstellen, dass Inklusion im inklusionspädagogischen Ansatz in einem stark normativen Sinne verwendet wird, um einen Zustand der grenzenlosen Einbeziehung und Wertschätzung aller Menschen zu beschreiben, der möglichst erreicht werden soll. Auf dem Weg zu diesem Ziel werden die sogenannten Phasen der Exklusion und Integration üblicherweise als überwunden (Exklusion) bzw. als noch zu überwinden (Integration) gekennzeichnet (vgl. u.a. Sander 2004): „Inklusion ist markiert als Zustand maximaler und optimaler ‚Teilhabe‘ behinderter Menschen. Integration ist Vorstufe, halbherzige Teilhabe“ (Kastl 2013: 133), sie „wird zu einer Defizit-Kategorie […]“ (ebd.). In der Soziologie, die den Begriff der Inklusion Kastl zufolge 1965 durch Talcott Parsons ins Spiel gebracht hat, dient der Inklusionsbegriff hingegen „der wertfreien Beschreibung der Realität, nicht als Wertbegriff“ (ebd.: 134). Anders als im inklusionspädagogischen Ansatz, wo Exklusion das negative Gegenstück zur Inklusion darstellt, werden die Begriffe der Inklusion und Exklusion in der Soziologie, genauer der Systemtheorie Niklas Luhmanns, stets als aufeinander bezogen gedacht. Nach Dammer verwendet die Systemtheorie Inklusion in zweifacher Bedeutung: „Unter Inklusion im ersten Sinne versteht sie den Einschluss von Individuen in gesellschaftliche Teilsysteme, abhängig davon, ob jene nach bestimmten kommunikativen Regeln als Mitglieder dieses Systems angesprochen werden. Werden sie dies nicht, so sind sie von diesem Teilsystem exkludiert, was für die Systemtheorie weder ein soziales noch ein moralisches Problem ist, da niemand in alle Teilsysteme gleichzeitig inkludiert sein und daher im Umkehrschluss auch keinen Schaden nehmen kann, wenn er von einigen ausgeschlossen wird, denn er wird, zumindest in orthodoxer systemtheoretischer Sicht, niemals aus der Gesellschaft als ganzer ausgeschlossen. Hier kommt die zweite, auf die Gesellschaft als Gesamtsystem bezogene Bedeutung von Inklusion zum Tragen: Während die Partizipation an Teilsystemen binär als entweder inkludiert oder exkludiert beschrieben wird, so gilt dies nicht für die Gesellschaft als Gesamtsystem, in welche ein Individuum stets inkludiert bleibt.“ (Dammer 2011: 9)

Inklusion und Exklusion dienen in der Soziologie also als deskriptiv-analytische Begriffe, um Prozesse der Mechanismen des gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses wertneutral zu beschreiben; Einschluss und Ausschluss sind weder gut noch schlecht (vgl. Liesen 2004: 78; Felder 2012: 121): „Beides, Inklusion wie Exklusion, ist dabei zunächst formal zu verstehen, das soll heißen: im Sinne von Reflexionsbegriffen, die beschreiben, wie die Systeme funktionieren – was sie sind, was sie tun, zu welchen Bedingungen sie Individuen ein- oder ausschließen.“ (Liesen 2004: 77) Beide Begriffe stehen in der Systemtheorie zudem nicht in einem dichotomischen, sondern in einem dialektischen Verhältnis zueinander (vgl. Dammer 2011: 12): „Menschen sind nicht entweder exkludiert oder inkludiert, sondern kön-

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nen auch innerhalb der Gesellschaft durch Exklusion inkludiert sein […]“ (ebd.). Als Beispiele dieser „inkludierenden Exklusion“ kann mit Stichweh unter anderem auf die Psychiatrie oder das Gefängnis hingewiesen werden (vgl. Stichweh 2009: 38ff.). Exklusion, die im inklusionspädagogischen Ansatz als das zu vermeidende, negative Gegenstück zur Inklusion angesehen wird, ist aus soziologischer Sicht also unvermeidbar, da kein Mensch gleichermaßen in allen gesellschaftlichen Teilsystemen inkludiert sein kann: „Inklusionen sind in der modernen Gesellschaft immer an spezifische Funktionssysteme und deren Funktionslogiken gebunden. Das heißt, jedes Funktionssystem (Bildung, Wirtschaft, Kunst, Sport, System der Intimbeziehungen) vollzieht Inklusion auf je eigene Weise. Es gibt keine Gesamtinklusion in die Gesellschaft […], sondern immer nur in spezialisierte Funktionssysteme.“ (Kastl 2013: 140)

Die Inklusion in ein bestimmtes Teilsystem kann außerdem die Exklusion aus einem anderen Teilsystem mit sich bringen, wie sich deutlich am Beispiel des Gefängnisses oder der Psychiatrie zeigt. Ebenso wenig, wie es systemtheoretisch betrachtet eine vollständige Inklusion in alle gesellschaftliche Teilsysteme geben kann, kann es aus dieser Sicht keine vollständige Exklusion aus der Gesellschaft geben. Selbst eine „bewusst“ gewählte Exklusion aus normativen gesellschaftlichen Strukturen, wie zum Beispiel der Anschluss an eine Jugendbande, der von Stichweh als Beispiel einer „exkludierenden Inklusion“ angeführt wird (vgl. Stichweh 2009: 39f.), bleibt stets an die Gesellschaft als Gesamtsystem rückgekoppelt.3 Nicht nur der Begriff der Exklusion, sondern auch der der Integration wird in der Soziologie im Verhältnis zum Inklusionsbegriff anders als im inklusionspädagogischen Ansatz verwendet. Diese Differenz ist auch für die Grundthematik dieser Arbeit bedeutsam. Neben der Exklusion wird in inklusionspädagogischen Kontexten auch Integration üblicherweise als defizitäre und zu überwindende Vorstufe von Inklusion betrachtet (vgl. u.a. Sander 2004); die Praxis der Integration wird als ‚Be3

Diese nicht-normative, sondern rein deskriptive Sichtweise auf Inklusion und Exklusion wurde jedoch angesichts der sozialen Realität, nicht zuletzt von Luhmann selbst, problematisiert und teilweise revidiert. Laut Liesen habe Luhmann den normativen Gehalt dieser Begriffe klar gesehen, wenn dieser davon schreibt, dass die Idealisierung des Postulats einer Vollinklusion aller Menschen in die Gesellschaft über gravierende Probleme hinwegtäusche (vgl. Liesen 2004: 78). An anderer Stelle heißt es bei Luhmann: „Keine Ausbildung, keine Arbeit, kein Einkommen, keine regulären Ehen, […] keine Beteiligung an Politik, kein Zugang zur Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Gerichten – die Liste ließe sich verlängern und sie betrifft, je nach Umständen, Marginalisierungen bis hin zum gänzlichen Ausschluss“ (Luhmann 1995: 148).

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hinderte‘ stigmatisierend gekennzeichnet und daher in ihrer bisherigen Form abgelehnt (vgl. u.a. Hinz 2002; 2006a). Demgegenüber beziehen sich „Inklusion und Integration […] im soziologischen Diskurs auf zwei ganz unterschiedliche Ebenen“ (Kastl 2013: 139). Kastl bringt dies präzise auf den Punkt: „Man kann inkludiert sein, aber schlecht integriert.“ (Ebd.) Er führt einige Beispiele an, anhand derer sich dieser unterstellte Sachverhalt zeigt: „Das Frauenwahlrecht schafft nicht schon politische Machtpositionen für Frauen […]; das Recht, eine Ehe schließen zu können garantiert noch nicht Liebe […]. Ebenso wenig garantiert schulische Inklusion schon Integration z.B. in der Schulklasse.“ (Ebd.)4 An anderer Stelle präzisiert Kastl den Unterschied zwischen Inklusion und Integration in soziologischer Hinsicht wie folgt: „Inklusion bezieht sich auf die strukturelle Zugänglichkeit sozialer Systeme bzw. die strukturelle Zugehörigkeit von Menschen zu ihnen. Integration bezieht sich dagegen auf die Qualität der in sozialen Systemen wirksamen Bindungen und Einbindungen […]. Zugang (Zugehörigkeit) und (Ein-)Bindung (Zusammenhalt) sind aber in der Realität einfach unterschiedliche Dinge.“ (Kastl 2014a: 12)

Es ist aus soziologischer Perspektive also wichtig, die Begriffe Integration und Inklusion auseinanderzuhalten. Durch ihre Vermengung oder Ineinssetzung kann nicht mehr klar zwischen dem Recht auf Zugänglichkeit zu gesellschaftlichen Systemen und der sozialen Einbindung in diesen Bereichen unterschieden werden. Der inklusionspädagogische Ansatz versucht hingegen, mit Inklusion beide Dimensionen zu beanspruchen und zu vereinen, die Zugänglichkeit und die Einbindung oder Wertschätzung. Indem der Schwerpunkt des pädagogischen Inklusionsdiskurses durch die starke Orientierung an der UN-BRK jedoch eindeutig auf dem ersten Bereich der Zugänglichkeit bzw. der Veränderung der Systeme liegt, so dass alle Menschen an Allem teilhaben können (oder müssen), gerät diese Differenz allzu leicht in Vergessenheit. Wie auch Dederich feststellt, kam es in Folge der UN-BRK zu einer Neuausrichtung des heil- und sonderpädagogischen Diskurses weg von einer individualethischen hin zu einer sozialethischen Orientierung (vgl. u.a. Dederich 2013c: 257; 2013d: 33). Damit einher ging eine weitere Verschiebung des Diskur4

Aus einer gesellschaftstheoretischen Sichtweise heraus und mit Blick auf einen ungleichheitstheoretischen Begriff der Teilhabe weist Wansing in ähnlicher Richtung darauf hin, dass „Gleichheit im Anspruch auf Inklusion im Ergebnis nicht automatisch mit gleicher Teilhabe der Gesamtbevölkerung einhergeht […]. Ob und in welcher Weise im Vollzug von Inklusion tatsächlich Teilhabe entsteht oder Behinderung und Ausgrenzung erzeugt werden, hängt erstens von den Inklusionsbedingungen und Teilhaberegulierungen der einzelnen Gesellschaftssysteme und zweitens von den individuellen Voraussetzungen seitens einzelner Personen ab.“ (Wansing 2012: 384)

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ses: „Die frühere Wertorientierung wird in Folge der BRK durch eine Normorientierung abgelöst.“ (Dederich 2013d: 33) Dederich meint hiermit, „dass nach Ansicht vieler Interpreten Inklusion nunmehr rechtlich garantiert ist und somit von einer normativen Verpflichtung zur Verwirklichung von Inklusion ausgegangen wird, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann“ (ebd.). Diese Normorientierung sei zwar vorteilhaft, um Standards zu formulieren, die rechtlich durchgesetzt werden können; andererseits könne sie auch in einer Verrechtlichung münden, „die neben der Sicherung von einklagbaren Rechten zwar formale, institutionelle und prozedurale Aspekte von Inklusion regeln, soziale Inklusion in Gestalt von tatsächlicher Wertschätzung von Vielfalt, Respekt usw. aber nicht erzwingen kann“ (ebd.: 34). Allein der Zugang zu einem gesellschaftlichen Bereich, wie dem der allgemeinen Schule, sichert noch nicht die persönliche Wertschätzung durch Andere ab, die vom inklusionspädagogischen Ansatz lediglich als wünschenswert dargestellt oder vehement gefordert wird. Oder wie es bei Dammer, mit ebenso kritischem Blick auf die Ersetzung von Integration durch Inklusion, heißt: „Eine Gesellschaft gilt nicht bereits dann als integriert, wenn sie reibungslos funktioniert […], sondern erst, wenn auch auf moralischer Ebene verbindliche Standards durchgesetzt sind, die den Zusammenhalt sichern“ (Dammer 2011: 13). Der auch durch die UN-BRK gesetzte, rechtliche Rahmen stellt zwar eine wichtige Voraussetzung für eine größere Teilhabe ‚Behinderter‘ an gesellschaftlichen Bereichen dar; dies impliziert stets auch die Möglichkeit, dass diesen hierin eine wertschätzende Haltung entgegengebracht wird. Die bloße Verwirklichung institutioneller Rechtsansprüche bedeutet aber noch lange nicht die Verwirklichung einer solchen wertschätzenden Haltung. Die soziologische Differenz von Integration und Inklusion, auf die Kastl hinweist, ist sehr hilfreich, um überhaupt wieder beschreiben zu können, dass sich hinter dem pädagogischen Inklusionsbegriff mehr und anderes verbirgt, als die bloße rechtsbasierte Zugänglichkeit zu gesellschaftlichen Teilbereichen. Einen ähnlichen, aber dennoch leicht unterschiedlichen Weg, um dieses Problem greifbar zu machen, geht Franziska Felder. Sie fragt danach, ob es ein moralisches Recht auf Inklusion geben kann (vgl. Felder 2012: 29). Für diese Diskussion geht sie nicht wie Kastl von der Trennung der Begriffe Integration und Inklusion aus, sondern führt unter Bezugnahme auf die soziologische Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ zwei Dimensionen von Inklusion in den Diskurs ein – eine gemeinschaftliche und eine gesellschaftliche Inklusion: „Während gesellschaftliche Inklusion Strukturen, Institutionen und abstrakte Beziehungen zwischen Menschen umfasst, begegnen sich in gemeinschaftlicher Inklusion Individuen als konkrete Andere.“ (Felder 2013: 105) Auch Felder geht es mit dieser wichtigen und überaus nützlichen Unterscheidung letztlich darum, zu zeigen, dass wir „in unserem Leben auch bezüglich Inklusion abhängig von Quellen [sind], die sich nicht aus Rechten und Gerechtigkeitsbezügen ergeben“ (ebd.: 108). Sie gelangt daher zu dem Schluss, dass „gemeinschaftliche Inklusion“ zentral an Freiwilligkeit gebunden ist (vgl. ebd.:

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107); wären beispielsweise enge zwischenmenschliche Beziehungen verpflichtend durchsetzbar, „so bestünde hier die Gefahr einer Zwangsvergemeinschaftung respektive die Gefahr eines Zwangs, bestimmte Gefühle empfinden und erwidern zu müssen“ (ebd.: 107f.). Diese skizzenhafte Beschreibung des soziologischen Diskurses um Inklusion verweist zum einen auf eine differenzierte Sichtweise und Verwendung der Begriffe Integration, Inklusion und Exklusion innerhalb dieser Disziplin. Zum anderen wird in diesem Diskurs die Dimension der „Einbindung“ oder „gemeinschaftlichen Inklusion“ deutlich, die im pädagogischen Diskurs um Inklusion angesichts seiner normativen Ausrichtung in den Hintergrund geraten ist oder nur sehr einseitig ins Bild kommt und die in der folgenden Untersuchung des pädagogischen Inklusionsbegriffes im Mittelpunkt steht. Eine soziologische Fundierung des Inklusionsbegriffes ermöglicht es, auf Leerstellen des pädagogischen Diskurses hinzuweisen und den pädagogischen Inklusionsbegriff einer spezifischen und gleichermaßen berechtigten und plausiblen Kritik zu unterziehen. Auch trifft es zu, dass die (sonder-) pädagogische Debatte um Inklusion „weitgehend ohne Rekurs auf die soziologische geführt wird“ (Dammer 2011: 16). Nichtsdestotrotz ist anzuerkennen, dass der pädagogische Inklusionsbegriff anderen Entstehungskontexten entstammt, wie eingangs gezeigt wurde. Aufgrund dieser Tatsache hat er andere Wurzeln und damit auch eine andere Bedeutung als der soziologische Inklusionsbegriff (vgl. Biewer 2010: 125; Biewer/Schütz 2016: 123). Der Vorwurf der „Zweckentfremdung“ und „Umdefinierung“ (vgl. Kastl 2013: 135) soziologischer Begriffe durch die sonderund inklusionspädagogischen Diskurse trifft somit nicht ohne Weiteres zu, was die inhaltliche und nachvollziehbare Kritik aus soziologischer Sicht aber in keiner Weise schmälert. Es erscheint daher legitim, nach einem spezifisch pädagogischen Verständnis von Inklusion zu fragen.

2.3 DIE THEORIE DER PÄDAGOGISCHEN INKLUSIONSIDEE Die bisherigen Ausführungen haben implizit und explizit bereits immer wieder angedeutet, welche Vorstellungen und Erwartungen sich mit Inklusion im pädagogischen Diskurs verbinden. Das folgende Kapitel will diejenigen Grundannahmen des inklusionspädagogischen Ansatzes, die für die folgende Analyse bedeutsam sind, möglichst systematisch darstellen. Die Ausführungen beziehen sich auf die originäre pädagogische Inklusionsidee und damit nicht auf die Verwendung des Inklusionsbegriffes in der UN-BRK oder deren Interpretationen; ebenso wenig beziehen sie sich auf ein zweifelhaftes, sogenanntes „gemäßigtes Inklusionsverständnis“, das letztlich mit Integration übersetzt werden kann. Wie gezeigt werden konnte, kommt

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in diesen Sichtweisen jeweils nicht die Spezifik der pädagogischen Inklusionsidee zum Ausdruck, sondern es handelt sich um ein konsensfähiges, internationales Abkommen oder um Versuche, den pädagogischen Inklusionsbegriff einer sonderpädagogischen oder bildungspolitischen Lesart zu unterziehen. Auch ist hier nicht von Interesse, den Begriff einer soziologischen Bestimmung rückzuführen. Vor dem Hintergrund, dass sich Inklusion als scheinbar ungeklärter Begriff auf das disziplinäre Selbstverständnis der Heil- und Sonderpädagogik bezieht und nach wie vor eine große gesellschafts- und bildungspolitische Relevanz entfaltet, werden die Annahmen der pädagogischen Inklusionsidee ernst genommen und anschließend geprüft. Im deutschsprachigen Raum ist es in erster Linie Andreas Hinz, der diese Idee mit Beginn des 21. Jahrhunderts unter Bezugnahme auf den angloamerikanischen Raum konsequent ausgeführt und bekannt gemacht hat. Nicht nur die dargestellten Abgrenzungen sprechen dafür, das vor allem von Hinz zugrunde gelegte pädagogische Inklusionsverständnis für eine Analyse der pädagogischen Inklusionsidee heranzuziehen: Die gezeigten Diskussionen und Umdeutungsversuche gäbe es nicht, wenn das Auftauchen des Inklusionsbegriffes im pädagogischen Diskurs nicht auch einen inhaltlichen Anlass hierfür geboten hätte. Das heißt, es muss(te) sich mit diesem Begriff etwas Spezifisches oder Neues verbinden, das die anhaltenden Diskussionen erst in Gang gesetzt hat. Dies ist eben dasjenige Verständnis, das im Diskurs heutzutage als „radikal“ gebrandmarkt wird, wobei es lediglich die Idee konsequent vertritt. Namentlich wird mit diesem Verständnis immer wieder Andreas Hinz verbunden (vgl. u.a. die Kritik von Ahrbeck 2011; 2014). Die Notwendigkeit, Gründe für die Auswahl des Bezugsverständnisses von Inklusion anzugeben, resultiert daher vor allem aus der komplexen Diskurslage, in deren Rahmen die originäre pädagogische Inklusionsidee unterschiedliche Umdeutungen und spezifische Auslegungen erfahren hat und nach wie vor erfährt. Zwei weitere, pragmatischere Gründe sprechen für dieses Vorgehen: Zum einen findet sich die Tatsache, dass im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs um Inklusion kein Autor häufiger als Referenzquelle angegeben wird als Andreas Hinz. Zuweilen wird er auch explizit als bedeutender Vertreter der Inklusionsbewegung benannt (vgl. u.a. Fischer 2012: 7) bzw. als jemand, der sich „bereits seit einem Jahrzehnt mit dem Thema Inklusion befasst, lange bevor dieser Begriff hierzulande eine breite Verwendung fand“ (Lee 2012: 11).5 Zum anderen liegen im deutschsprachigen Raum – abgesehen von den Texten Sanders – keine umfänglicheren, theoretischen Fundierungen des pädagogischen Inklusionsbegriffes vor, die sich nicht auf die Gleichsetzung oder den Vergleich von Integration und Inklusion beschränken würden. In diesem Sinne stellt auch Markowetz fest: „Kritischkonstruktive Beiträge, wie sie insbesondere von Andreas Hinz […] und Alfred San5

Als weitere Beispiele vgl. u.a. auch Werning/Baumert (2013: 40); Sander (2003: 316); Reiser (2003: 308); Ahrbeck (2011; 2014).

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der […] vorgelegt wurden, sind leider Ausnahmen“ (Markowetz 2007: 221). Auch aus diesem Grund müssen diejenigen Ausführungen in den Fokus gerückt werden, die die Kernidee der pädagogischen Inklusion expliziert haben. Diese Fundierungen des pädagogischen Inklusionsbegriffes bieten die Möglichkeit einer Anschlussfähigkeit des wissenschaftlichen Diskurses um Inklusion, indem Hinz relativ eindeutige Positionen einnimmt, vertritt und den Begriff in seiner eigentlichen Bedeutung damit konsequent zu Ende denkt. Diese Möglichkeit soll in der vorliegenden Arbeit explizit genutzt werden, indem der Anschluss zunächst herausgearbeitet wird. Denn nur, wenn die Grundannahmen und theoretischen Voraussetzungen dieses Begriffes hinreichend geklärt sind, kann eine differenzierte Analyse einsetzen, die klare Referenzpunkte einer Kritik hat und auf Inkonsistenzen und Leerstellen hinweist. Nur durch diese begriffliche Bestimmung kann eine wissenschaftliche Debatte über den theoretischen Bedeutungsgehalt des pädagogischen Inklusionsbegriffes und dessen Konsequenzen, auch im Hinblick auf das eigene Fachgebiet, geführt werden. Denn aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet erscheint beides in höchstem Maße fragwürdig: sowohl eine kritiklose Haltung gegenüber einer ursprünglich gesellschaftspolitischen Idee wie der pädagogischen Inklusion als auch das Manöver, sich durch Umdeutungsstrategien aus der Affäre zu ziehen, womit einer ehrlichen Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen wird, und dies häufig nur, um auf Höhe der Zeit zu sein. Bei der folgenden Darstellung der inklusionspädagogischen Grundannahmen wird zwar an entsprechenden Stellen auf die Unterschiede zu den dargelegten Begriffsumdeutungen hingewiesen; in erster Linie haben die folgenden Ausführungen aber das Ziel, der These nachzugehen, dass der inklusionspädagogische Ansatz sein eigenes Anliegen der Vermeidung von Ausgrenzung bzw. der Wertschätzung aller Menschen streng normativ und präskriptiv betrachtet. Diese These stellt das Fundament und den Ansatzpunkt der späteren Analyse dar, die mit dem Gedanken der Fremdheit davon ausgeht, dass die normativ-präskriptive Sichtweise des inklusionspädagogischen Ansatzes das eigentliche Geschehen der Ausgrenzung und Wertschätzung selbst nicht mehr in den Blick bekommt. Die theoretischen Annahmen dieses Ansatzes und die damit einhergehende Nivellierung der konkreten Erfahrungsmomente führen zu problematischen Konsequenzen für ‚Behinderte‘ und ‚Nichtbehinderte‘. Die anschließenden Überlegungen zur Fremdheit stellen zudem die grundlegende inklusionspädagogische Annahme einer inklusiven Gesellschaft in Frage und bringen aus einer theoretisch fundierten Sichtweise heraus die problematischen Implikationen dieser Annahme zur Sprache. Um die Grundannahmen des inklusionspädagogischen Ansatzes möglichst systematisch darzulegen, wird eine Unterteilung in die Zielsetzungen (2.3.1), die Legitimationsbasis (2.2.2) sowie die theoretischen Annahmen dieses Ansatzes vorgenommen (2.3.3). Die Beschreibung setzt am Schlüsselproblem des inklusionspädagogischen Ansatzes an, dem Umgang mit Heterogenität. Mit dem pädagogischen

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Inklusionsbegriff wird eine Antwort auf die nach wie vor bestehenden, gesellschaftlichen und intersubjektiven Ausgrenzungen auch von ‚Behinderten‘ gegeben; die pädagogische Inklusionsidee verspricht ein angemessenes, nichthierarchisches und demokratisches Eingehen auf die vorhandene Heterogenität (vgl. Boban/Hinz 2003b: 3), so dass es zu keinerlei Marginalisierungen und Ausgrenzungen mehr kommt. Die Aussagen des inklusionspädagogischen Ansatzes zum Umgang mit Heterogenität konzentrieren sich insbesondere auf die Ebenen der Gesamtgesellschaft, der Institutionen sowie des intersubjektiven Handelns und Wahrnehmens. Anhand dieser Aussagen lassen sich die übergeordneten Zielsetzungen dieses Ansatzes genauer bestimmen, wobei den beiden letzten Ebenen die Funktion zukommt, das Gesamtziel einer „inklusiven Gesellschaft“ zu erreichen. Mit dieser Bestimmung der Zielsetzungen zeigt sich bereits die normative und präskriptive Ausrichtung des Ansatzes, da die jeweiligen Ziele erst noch erreicht werden sollen (normativ) und zugleich als eindeutige Forderungen und Handlungsanweisungen formuliert werden (präskriptiv). Die normative Ausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes zeigt sich anschließend auch daran, wie dieser Ansatz begründet wird. Das Fehlen einer direkten Begründungsleistung von Inklusion bestätigt und bekräftigt diese These. Nicht zuletzt und insbesondere anhand des theoretischen Unterbaus, der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“, wird die normativ-präskriptive Ausrichtung dieses Ansatzes sehr deutlich. Diese Prämisse bildet die theoretische Hintergrundfolie für die Erreichung der Ziele auf allen Ebenen. Sie wird auch im Zentrum der darauffolgenden Analyse stehen. Neben der Darstellung dieser theoretischen Grundannahmen ist hier vor dem Hintergrund der angesprochenen Problemfelder auch darauf einzugehen, inwiefern sich die Theorien der Integration und Inklusion unterscheiden und ob es auch deshalb legitim ist, von einem originären Inklusionsverständnis auszugehen. 2.3.1 Übergeordnete Zielsetzungen des inklusionspädagogischen Ansatzes Eine Antwort auf die Frage nach dem Entstehungskontext des inklusionspädagogischen Ansatzes ist die Tatsache, dass es in vielen gesellschaftlichen Bereichen nach wie vor zu vielfältigen Ausgrenzungen und Marginalisierungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen, wie zum Beispiel ‚Behinderter‘, kommt. Durch die zunehmende Ökonomisierung, Technisierung und Ästhetisierung der Gesellschaft ist davon auszugehen, dass die Ausgrenzung und Marginalisierung insbesondere von ‚Behinderten‘ eher noch zu- als abnehmen wird. Der inklusionspädagogische Ansatz will so besehen einen Gegenentwurf zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen darstellen, indem er eine Antwort darauf verspricht, wie mit der gesellschaftlichen Heterogenität so umzugehen ist, dass Ausgrenzungen zukünftig ver-

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mieden werden und alle Gesellschaftsmitglieder eine vollumfängliche Wertschätzung erfahren. Seine Aussagen zu diesem Umgang mit Heterogenität beziehen sich in erster Linie auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext bzw. auf den Entwurf eines abstrakten Gesellschaftsbildes sowie auf konkrete Maßnahmen im institutionellen und intersubjektiven Umgang mit Heterogenität, die der Verwirklichung dieses Gesellschaftsbildes auf angemessene Weise Rechnung tragen sollen. Anhand dieser drei Aspekte, des gesamtgesellschaftlichen, institutionellen und intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität, lassen sich im Folgenden die übergeordneten Zielsetzungen des inklusionspädagogischen Ansatzes bestimmen. Gesamtgesellschaftlicher Umgang mit Heterogenität „Inklusion vertritt“, wie Hinz an unterschiedlichen Stellen lapidar feststellt, „die Vision einer inklusiven Gesellschaft“ (Hinz 2015: 69; vgl. 2003: 332; 2004: 46; 2010: 33). Doch was heißt das genau? Um die Hintergründe dieser Zielperspektive besser verstehen zu können, ist es hilfreich, sich die Kritik von Hinz an der sogenannten „Fixierung auf die administrative Ebene“ anzusehen. Hinz kritisiert hiermit aus einer „inklusionistischen Sicht“ die bisherige Praxis der schulischen Integration dahin gehend, dass diese sich nach folgendem Motto und Muster gestaltet: „Sag mir deine Schädigung und ich sage dir deine Integrationsmöglichkeiten.“ (Hinz 2002: 356) Anschließend beschreibt Hinz den auch heute noch gängigen institutionellen Verteilungsmechanismus von Schülern mit sogenanntem sonderpädagogischen Förderbedarf: „Hast du extrem hohen Unterstützungsbedarf, kommt nur die Sonderschule in Frage, bist du ein Stück kompetenter und hast weniger Bedarf, wäre eine Sonderklasse in Erwägung zu ziehen, vielleicht aber auch ein sonderpädagogischer Raum […] in einer Allgemeinen Schule möglich. Bei geringeren spezifischen Anforderungen erscheint dann ein teilweise oder durchgängig Gemeinsamer Unterricht in der allgemeinen Klasse angezeigt.“ (Ebd.)

Die Gleichung hinter dieser Logik würde lauten: „Je fitter, desto integrierbarer, je schwächer, desto weniger integrierbar.“ (Ebd.) Diese Logik sei deshalb problematisch, da in der integrativen Praxis die Art und der Grad der Schädigung das Ausmaß der Integration bestimmen (vgl. ebd.). Dieses sogenannte „Readiness-Modell“ begründet Boban und Hinz zufolge „die international weitgehend vorfindbare Selektivität der Integration“ (Boban/Hinz 2003a: 39). Die Kritik an diesem Vorgehen richtet sich aus inklusionistischer Sicht vor allem darauf, dass „sich Kinder und Jugendliche erst durch Mindestfähigkeiten für Integration qualifizieren und ggf. dafür kämpfen [müssen] […]“ (ebd.). Diese Kritik an sogenannten selektiven Strukturen, zu denen nach Hinz auch das System der sonderpädagogischen Förderung zählt, bezieht sich hier zwar auf das spezielle Feld der Schule, in dem es üblicherweise zu dieser Praxis der Integra-

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tion kommt und anhand dessen sich diese Problematik besonders eindrücklich zeigen lässt. Jedoch verdeutlicht Hinz immer wieder, dass Inklusion eine gesellschaftliche Leitvorstellung sei, die „weit über den Rahmen von Schule hinaus[geht] und […] sich auf alle Lebensbereiche [erstreckt], wo sie gestufte, differenzierte Strukturen als selektiv und damit problematisch kritisiert […]“ (Hinz 2006a: 98). Zwar ist der Diskurs um Inklusion heutzutage davon geprägt, Inklusion als ein schulisches Thema zu betrachten, was zu einem verkürzten Begriffsverständnis geführt hat; ihr kommt aber ursprünglich der Topos einer gesellschaftlichen Leitvorstellung zu. Als solche betrachtet sie alle gesellschaftlichen Strukturen kritisch, die „gestuft“ sind und fordert deren Veränderung. Ausgehend von dieser Kritik zeigt sich nun genauer, worum es mit dem inklusionspädagogischen Ansatz mit dem Ziel einer „inklusiven Gesellschaft“ geht. Nach Hinz legt Inklusion als Konzept den Schwerpunkt nämlich deutlich anders, als es in der bisherigen selektiven Praxis der Integration der Fall ist: „Das Einbezogensein [Herv. P.S.] als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft ist zentral […], unabhängig von Fähigkeiten und Unfähigkeiten“ (Hinz 2002: 356). Für das Feld der Schule bedeutet dies, dass Schüler keine Qualifikation mehr für die Zugehörigkeit zum Gemeinsamen Unterricht nachweisen müssen. Unter Bezugnahme auf Sapon-Shevin heißt es weiter: Ein „Kind muss sich nicht erst sein Recht auf Inklusion verdienen oder kämpfen [sic!] es zu erhalten“ (ebd.). Was im Kleinen für das Feld der Schule gilt, trifft dem Anspruch dieses Ansatzes nach auch für die Gesellschaft im Großen zu: Nicht erst die Einbeziehung oder das Einbezogenwerden, sondern das Einbezogensein ist das wesentliche Merkmal einer inklusiven Gesellschaft oder Gemeinschaft. „Gestufte“ und vorgeblich „selektive“ Strukturen, wie die der unterschiedlichen schulischen Bildungsorte, werden in dieser Gesellschaftsordnung als überwunden erklärt. Würden in der Phase der Integration, wie Boban und Hinz unter Bezugnahme auf Sander feststellen, ausgewählte Personen von der normalen Majorität in etwas hinein integriert, so gehe Inklusion „nicht mehr von der Aufnahme bestimmter ‚Anderer‘ aus, sondern vom selbstverständlichen Vorhandensein aller, die gleich und unterschiedlich sind und die einen Anspruch haben, als Gleichgestellte partizipieren zu können und anerkannt zu werden“ (Boban/Hinz 2003a: 41). Inklusion verweist also auf den gesellschaftlichen Einschluss ‚Behinderter‘ als Tatsache und nicht, wie das Wort Integration, auf die Notwendigkeit (vgl. Fornefeld 2008b: 114). Da Inklusion – „im Sinne der generellen Anerkennung von Heterogenität“ (Boban/Hinz 2003a: 41) – einen qualitativen Entwicklungsschritt gegenüber der Integration bedeute, gehe es mit ihr eben nicht mehr um das Hereinlassen bestimmter abweichender Kinder, „sondern um die selbstverständliche Anerkennung aller“ (ebd.). Oder wie es bei Hinz an anderer Stelle heißt: „Es geht diesem Verständnis nach nicht um die Einbeziehung einer Gruppe von Menschen mit Schädigungen in eine Gruppe Nichtgeschädigter, vielmehr liegt die Zielsetzung in einem Miteinan-

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der unterschiedlichster Mehr- und Minderheiten – darunter auch die Minderheit der Menschen mit Behinderungen.“ (Hinz 2002: 355) Als „allgemeinpädagogischer Ansatz“ wendet sich Inklusion gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung (vgl. Hinz 2006a: 98); in der Phase der Inklusion bzw. in einer „inklusiven Gesellschaft“ sind Marginalisierungen und Aussonderungen ausgeschlossen (vgl. Hinz 2004: 49), alle Menschen haben von vornherein teil an einem Ganzen und erfahren hierin eine „selbstverständliche Anerkennung“ und Wertschätzung sowie das volle Recht auf soziale Teilhabe, „ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse […]“ (Hinz 2006a: 98). Jeder Mensch habe „automatisch den Anspruch darauf […], als vollwertiges Wesen anerkannt und als wertvoller Teil der Gemeinschaft willkommen geheißen zu werden“ (Boban/Hinz 2003a: 39). Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz verbindet sich demnach nicht nur der Anspruch des uneingeschränkten Einbezogenseins in sämtliche gesellschaftliche Teilbereiche, sondern zugleich beansprucht er das, was im soziologischen Sinne unter Integration gefasst wird: die Qualität der Bindungen bzw. das gemeinschaftliche Eingebundensein in sozialen Systemen. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, geht es mit Inklusion aber nicht nur um die Heterogenitätsdimension der Behinderung; vielmehr umfasst sie „alle Dimensionen von Heterogenität (Fähigkeiten, Geschlechterrollen, Herkünfte, Erstsprachen, ‚races‘ im Sinne von Hautfarben, ‚classes‘ als soziale Milieus, Religionen, sexuelle Orientierungen, körperliche Bedingungen und andere Aspekte) […]“ (Hinz 2015: 69; vgl. 2003: 332; 2006a: 98; 2010: 33). Die einzelnen Dimensionen von Heterogenität werden mit Inklusion nun nicht mehr wie bisher getrennt diskutiert, sondern „in einen Gesamtzusammenhang gebracht“ (Hinz 2015: 69). Diese unscheinbar wirkende Aussage hat allerdings weitreichende Konsequenzen: Sie bedeutet nämlich, dass Heterogenität zur Normalität (ausgerufen) wird. Der wichtige Gedanke, dass Heterogenität Normalität werden soll, stellt in Verbindung mit der Kritik von Hinz an der sogenannten „Zwei-Gruppen-Theorie“, der die integrative Praxis unterliege, den theoretischen Hintergrund des inklusionspädagogischen Ansatzes dar. Demnach gibt es dann aus inklusiver Sicht nur noch eine „einzige, untrennbar heterogene Gruppe“ – die inklusive Gemeinschaft –, in der sämtliche Dimensionen von Heterogenität vorhanden oder eingeschlossen sind: „Das Konzept der Inklusion versteht sich als eine allgemeine Pädagogik, die es mit einer einzigen, untrennbar heterogenen Gruppe zu tun hat. In ihr sind unterschiedlichste Dimensionen von Heterogenität vorhanden […]. Heterogenität ist Normalität – und dies gilt heute mehr denn je.“ (Hinz 2002: 357) Die vorliegende Arbeit wird sich der Erörterung dieses theoretischen Grundgedankens noch ausführlich zuwenden. Die Annahme einer „inklusiven Ordnung“ bzw. einer „inklusiven Gesellschaft“ hat sich zwar bereits unter einer soziologischen Sichtweise als problematisch erwiesen; sie kann aber auch mit dem Gedanken der Fremdheit hinterfragt werden, was an späterer Stelle ebenfalls getan wird. Kritisch anzumerken ist hingegen bereits

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hier, dass die genauere Bestimmung dieser „inklusiven Gesellschaft“ letztlich unterminiert bleibt, also das ‚Was‘, worin alle Menschen von vornherein einbezogen sein sollen. So spricht beispielsweise auch Hollenweger davon, dass es sich bei diesem Gesellschaftsentwurf um eine undefinierbar bleibende, abstrakte Gesellschaft handelt (vgl. Hollenweger 2003: 155). Naheliegend ist aber, dass es sich um die bestehenden und üblichen Muster und Formen der Lebensgestaltung handelt, die für alle Menschen als erstrebenswert angesehen werden. Dies wird daran deutlich, dass Hinz das sogenannte Konzept „Leben mit Unterstützung“ als inklusiv verortet (vgl. Hinz 2003: 343). Mit diesem Konzept soll ‚Behinderten‘ ein Leben in „üblichen Wohnungen als MieterInnen oder EigentümerInnen“, der Besuch „wohnortnaher üblicher Kindergärten und Schulklassen“, das Arbeiten in „üblichen Betrieben oder Behörden“ und eine Freizeitgestaltung „in den lokal vorhandenen Gruppierungen“ ermöglicht werden (vgl. ebd.: 342; 2010: 36). Es scheint also auch für den inklusionspädagogischen Ansatz eine bestimmte, gesellschaftliche Normalität zu geben, die dazu noch als erstrebenswert betrachtet wird: die üblichen gesellschaftlichen Lebensbereiche und Institutionen. Für den Umgang mit unterschiedlichen Dimensionen von Heterogenität gilt, dass diese unter dem Motto der „Normalität der Heterogenität“ nur noch im Lichte einer allgemeinen, universellen Normalität ohne Maßstab hervortreten. Das trifft allem Anschein nach für den Umgang mit gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen nicht zu, da hier eine bestimmte Normalität als erstrebenswert vorausgesetzt wird. Geht es also mit diesem Ansatz doch wieder um eine Anpassung ‚Behinderter‘ an diese bestehenden gesellschaftlichen Strukturen, was der integrativen Praxis zum Vorwurf gemacht wird? Wenn dies jedoch so wäre, würde sich der Gedanke des ‚Von-vornherein-Einbezogenseins‘ allerdings selbst widersprechen, da dann wiederum das ‚Erst-Einbezogenwerden‘ im Vordergrund stehen würde. Wie also ist diese inklusive Ordnung oder Gesellschaft zu erreichen, ohne dass es zu diesem Selbstwiderspruch kommt? Institutioneller Umgang mit Heterogenität Der institutionelle Umgang des inklusionspädagogischen Ansatzes mit Heterogenität wurde bereits anhand der Kritik am sogenannten „Readiness-Modell“ deutlich, dem die integrative Praxis folge und das der Logik „je fitter, desto integrierbarer, je schwächer, desto weniger integrierbar“ unterliege. Gestufte, differenzierte Strukturen wie das gegliederte Schulwesen oder gegliederte Sonderschulwesen (vgl. Boban/Hinz 2003a: 41) werden als selektiv beurteilt und daher als problematisch kritisiert (vgl. Hinz 2006a: 98): „Wer an einem Ort zu sehr ‚anders‘ ist oder sich ‚anders‘ verhält, wird an einen ‚anderen Ort‘ verwiesen. Selektionsprozesse werden mit der dominierenden Differenz begründet.“ (Boban/Hinz 2003a: 41) Inklusion überwinde nun aber diese Phasen der Integration und Segregation, sie lehnt „alle Formen der strukturell organisierten und durchgesetzten Separierung ab, da sie Bürgerrechte einschränken“ (Hinz 2003: 333). Kritisiert wird, „dass mit einem dif-

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ferenzierten System selektive Momente und eine Teilbarkeit der Integration Platz greife und mit dem ‚readiness-model‘ der geheime Lehrplan einer unterschiedlichen Wertigkeit von Kindern und Jugendlichen Einzug halte“ (ebd.: 334). Für den schulischen Bereich heißt dies übersetzt, dass unterschiedliche Organisationsformen schulischer Bildung eine unterschiedliche Wertigkeit der Kinder und Jugendlichen zum Ausdruck bringen, wobei der Besuch einer Sonderschule den untersten Platz in dieser Rangreihe besetzt. Demgegenüber hält Inklusion bzw. die „integrationspädagogische Sicht einer ‚ungeteilten Integration‘ […] die gemeinsame Bildung und Erziehung aller Kinder und Jugendlicher in der allgemeinen Schule für die einzig demokratische und anzustrebende“ (ebd.). Auf institutioneller Ebene fungiert also die „Schule für alle“ als die einzig zulässige und angemessene Umgangsform mit Heterogenität: „Die Phase der Inklusion geht […] von der vorhandenen Vielfalt aller SchülerInnen eines Einzugsgebietes aus, sieht sie als großes Anregungs- und Lernpotential und muss nicht erst Einzelne in die allgemeine Schule hinein integrieren“ (ebd.: 343). Das inklusive Eingehen auf Heterogenität rückt auf der Ebene der Institution die institutionelle Gemeinsamkeit in den Mittelpunkt, „ohne die Gefahr der Aussonderung und den Druck zur Anpassung“ (Hinz 2004: 64). Diese „institutionelle Gemeinsamkeit“ wird für alle gesellschaftlichen Teilbereiche angestrebt; am Beispiel der Schule, auf das sich übrigens auch Hinz hauptsächlich bezieht, kann aber weiter besonders deutlich gezeigt werden, wie es der inklusiven Sichtweise zufolge zur „institutionellen Gemeinsamkeit“ ohne den „Druck zur Anpassung“ kommt. Hinter dem Ziel der „institutionellen Gemeinsamkeit“, ohne dass es zur Gefahr der „Aussonderung“ oder zum „Druck zur Anpassung“ kommt, steht folgende Auffassung: Die integrative Praxis bzw. das sogenannte sonderpädagogische Verständnis von Integration (vgl. u.a. Hinz 2003: 332), das der Logik des „ReadinessModells“ folge, lege den Fokus auf die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, „die gesellschaftlich wie in verschiedenen Bereichen an den Rand gedrängt werden, beeinträchtigt sind […]“ (ebd.). Sie würden aus dieser Sicht „spezielle Erziehungsbedürfnisse“ aufweisen und bedürften daher einer „speziellen Förderung“: „Dafür sind nach Ansicht dieser VertreterInnen unterschiedlichste Formen der Förderung in einem großen Spektrum separierter, teilseparierter bzw. teilintegrierter und voll integrierter Organisationsformen notwendig.“ (Ebd.: 333) Integrationspädagogik wird nach Hinz unter diesen Gesichtspunkten also als Teil der Sonderpädagogik verortet (vgl. ebd.: 332). Mit dieser Perspektive konzentrieren sich die Bemühungen um mehr Integration und Teilhabe in der integrativen Praxis also vorwiegend auf das Individuum und seine Behinderung; je nach Umfang und Ausprägung der Behinderung setzen für dieses Klientel verschiedene Fördermaßnahmen ein und es kommen unterschiedliche schulische Bildungsorte in Betracht. Die integrative Praxis versucht, „aus sonderpädagogischer Warte individuumsbezogen die Einbeziehung ihrer Klientel mit sonderpädagogischem Förderbedarf, je nach individueller

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Schädigung, mit personenbezogener Ressourcenausstattung, spezieller Förderung und primärer eigener Zuständigkeit voranzubringen […]“ (Hinz 2002: 359). Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz erfährt dieser der integrativen Praxis unterstellte Blickwinkel nun eine grundlegende Änderung. Wiederum unter Bezugnahme auf das Konzept „Leben mit Unterstützung“ gelangt Hinz zu der Feststellung, dass „das Problem […] nicht mehr in der betreffenden Person [liegt], sondern in den Umwelthindernissen, die die soziale Teilhabe erschweren“ (Hinz 2003: 342). An anderer Stelle heißt es etwas ausführlicher: „Schließlich liegt das Problem nicht im Defizit, in der Behinderung, in der Schädigung oder in Abhängigkeit und Unselbstständigkeit, sondern [sic!] entsteht aus Umwelthindernissen, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erschweren.“ (Hinz 2010a: 49) Um den „Druck zur Anpassung“ sowie „Aussonderungen“ zu vermeiden, bestehe die „Lösung dieses Problems […] demzufolge in der Umgestaltung der Umwelt […]“ (Hinz 2003: 342). Nicht mehr die Person ist also dieser Logik zufolge durch Förderung oder Therapie so zu verändern, dass sie in die einzelnen Systeme hineinpasst, sondern es gilt, „die Umwelt im Sinne einer inklusiven Gesellschaft zu verändern“ (Hinz 2010a: 49). Dahinter steht die sozial-konstruktivistische Auffassung, dass es in erster Linie die Umwelthindernisse sind, die die Person behindern. Schulpraktisch und schulorganisatorisch geht die Inklusionspraxis „mit schulpädagogischem Ausgangspunkt und systemischem Ansatz“ den Weg, alle Schüler an einer gemeinsamen „Schule für alle“ teilhaben zu lassen, indem Ressourcen nicht mehr individuums-, sondern systembezogen eingesetzt werden sollen (vgl. Hinz 2002: 359f.). Es geht mit Inklusion also nicht mehr um die Frage, ob ein Individuum in ein bestimmtes System oder Umfeld hineinpasst oder nicht, sondern diese müssen so gestaltet werden, dass sie in der Lage sind, mit jeder erdenklichen Vielfalt oder Heterogenität positiv und wertschätzend umzugehen (vgl. auch Booth 2010: 55). Institutionell betrachtet bedeutet dieser Umgang, dass alle Menschen in die „üblichen“ Lebensbereiche – Hinz sagt nicht, was das heißt – einbezogen worden sind. Neben diesem „systemischen Ansatz“ weisen sich inklusiv-institutionelle Strukturen in ihrem Umgang mit Heterogenität zudem dadurch aus, dass sie „nonkategorial“ organisiert sind und „entspezialisiert“ arbeiten, wie Hinz mit Bezug auf die kanadische Atlantikprovinz New Brunswick ausführt (vgl. Hinz 2010a: 43): Die „nonkategoriale Organisation“ zielt darauf ab, dass die einzelnen Systeme „sich nicht auf bestimmte, abgrenzbare Personenkreise beziehen“ (ebd.). Eine kategoriale Organisation würde dem Grundgedanken der Inklusion widersprechen, der sich Hinz zufolge „gegen jegliche Gruppenzuordnung von Menschen richtet und stattdessen die individuelle Einmaligkeit eines Menschen in den Mittelpunk rückt“ (ebd.). Damit verbunden ist eine „entspezialisierte“ (vgl. ebd.) Arbeitsweise oder Deprofessionalisierung (vgl. Hinz/Boban 2008: 209), „verstanden als Rückbau einer Überspezialisierung auf eine immer differenziertere Klientel […]“ (ebd.); das

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heißt, die Fachkräfte sind nicht mehr für bestimmte Personen, sondern für Situationen zuständig (vgl. Hinz 2010a: 44). Der institutionelle Umgang mit Heterogenität stellt einen wichtigen Baustein dar, um dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft näher zu kommen. Aus dem Anspruch einer unteilbaren heterogenen Gruppe ergeht die Forderung nach einem Verzicht auf gestufte gesellschaftliche Strukturen, die als selektiv beurteilt und daher abgelehnt werden. Es sind also Institutionen notwendig, die die Gemeinsamkeit ausschließlich aller in den Mittelpunkt rücken, unabhängig vom individuellen Unterstützungsbedarf einzelner Personen. Dieser Anspruch auf ‚Unteilbarkeit‘ bedeutet, dass zum Beispiel auch ‚Schwerstmehrfachbehinderte‘ in den „üblichen“ gesellschaftlichen Lebensbereichen wie der allgemeinen Schule oder dem allgemeinen Arbeitsmarkt einbezogen sind. Die Frage nach Umfang und Art einer Behinderung spielt nicht nur keine Rolle mehr bei der Beurteilung, ob zum Beispiel der Besuch einer allgemeinen Schule möglich ist; sie macht mit der inklusionspädagogischen Annahme einer untrennbaren heterogenen Gruppe auch keinen Sinn mehr – ganz abgesehen davon, dass sich ein solch kategoriales Denken inklusionslogisch betrachtet verbittet. Der Fokus richtet sich denn auch weg vom einzelnen Individuum hin zur Gestaltung des Umfeldes, das so zu verändern ist, dass das Einbezogensein tatsächlich aller Menschen möglich ist. Behinderungen resultieren vor allem aus den Umweltfaktoren, die einen Menschen behindern bzw. an seinem Einbezogensein hindern. Der einzig zulässige institutionelle Umgang mit Heterogenität ist im schulischen Bereich die „Schule für alle“, da nur diese Organisationsform der Prämisse der unteilbaren heterogenen Gruppe gerecht wird und so betrachtet alle anderen Organisationsformen als Verstoß gegen dieses Prinzip gewertet werden müssen. Ob es sich bei Erfüllung dieser Ansprüche dann aber noch um die „üblichen“ gesellschaftlichen Lebensbereiche handeln kann, ist zutiefst anzuzweifeln. Denn dies würde voraussetzen, dass die spezifischen Funktionslogiken der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme, wie zum Beispiel die Prinzipien des Wirtschaftssystems, die erforderlichen Qualifikationen für unterschiedliche Berufsfelder oder die gesellschaftlichen Funktionen der Schule, außer Kraft gesetzt wären. Damit handelte es sich dann nicht mehr um die bisher „üblichen“ Lebensbereiche, sondern um gänzlich andere und unbekannte Bereiche des menschlichen Zusammenlebens, die in ihrer Wirkung nicht abschätzbar sind. Intersubjektiver Umgang mit Heterogenität Inklusion fungiert nun aber nicht nur als gesellschaftliche Leitvorstellung für den institutionellen Umgang mit Heterogenität, sondern sie wird ebenso als Leitvorstellung für den intersubjektiven Umgang mit Heterogenität, das konkrete Handeln und Wahrnehmen, herangezogen. Der inklusionspädagogische Ansatz gibt also auch eine Antwort auf die Frage danach, wie wir Menschen innerhalb der inklusiven Gesellschaft und der einzelnen Teilbereiche in ihrer Vielfalt begegnen sollen. Mit die-

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ser Ebene lässt sich eine weitere Zielsetzung des inklusionspädagogischen Ansatzes bestimmen, die neben dem institutionellen Umgang mit Heterogenität den zweiten wichtigen Baustein zur Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft darstellt. In einer Beschreibung der internationalen Eckpfeiler des Diskurses um Inklusion stellt Hinz fest, dass sich Inklusion „der Vielfalt positiv zu[wendet] […]“ (Hinz 2015: 69; vgl. 2010: 33); Inklusion nehme die Vielfalt „also nicht als weg zu organisierendes, sondern als produktives Moment wahr […]“ (ebd.). Diese Aussage bezieht sich nun nicht nur darauf, dass Vielfalt bzw. Heterogenität institutionell so zu berücksichtigen ist, dass alle Menschen in alle „üblichen“ gesellschaftlichen Teilbereiche einbezogen sind. Sie verweist ebenso darauf, wie mit dieser Heterogenität innerhalb dieser Bereiche umzugehen ist, wie wir also allen Menschen, auch und gerade solchen, die den üblichen Normalitätsvorstellungen nicht entsprechen, begegnen sollen. Dieser vom inklusionspädagogischen Ansatz anvisierte, intersubjektive Umgang mit Heterogenität ist damit deutlich wertorientiert, indem er eine bestimmte Ausrichtung des Handelns und Wahrnehmens vorgibt. Es geht, wie Hinz bereits 1995 anmerkt, um „Fixsterne eines heterogenitätsbewussten Denkens und Handelns“ (Hinz 1995: 7), „in welche Richtung es gehen soll, welcher Horizont bei dieser Denkrichtung auftaucht“ (ebd.). Auch Tony Booth, auf den sich Hinz in seinen Ausführungen immer wieder bezieht, macht die Sichtweise von Inklusion deutlich, demnach diese „die aktive Umsetzung bestimmter Werte vertritt“ (Booth 2010: 59); Inklusion stellt Booth zufolge also einen „wertebasierten Ansatz“ dar (vgl. ebd.). Nach Booth sind Werte die „Basis aller Handlungen und Planungen“, die somit wiederum als „Manifestationen moralischer Grundhaltungen“ betrachtet werden können (vgl. ebd.: 60). Wichtig sei, „dass wir die Werte anderer an ihren Taten messen, und nicht an dem, was sie sagen“ (ebd.: 59f.). Für den Fall, dass die aktive Umsetzung der Werte nicht gelingt, würde dies bedeuten, dass auch die ‚moralische Grundhaltung‘ des- oder derjenigen, dem oder der dies nicht gelingt, in Zweifel gezogen ist, er oder sie die Werte also nicht ehrlich und nachhaltig genug teilt und vertritt. Welchen Umgang mit Heterogenität oder Vielfalt sieht der inklusionspädagogische Ansatz auf der intersubjektiven Ebene nun vor? Nach Boban und Hinz gehe es mit Inklusion nicht nur darum, „als Gleichgestellte partizipieren zu können“, sondern ebenso „um die selbstverständliche Anerkennung aller“ (Boban/Hinz 2003a: 41). Jeder Mensch habe „automatisch den Anspruch darauf […], als vollwertiges Wesen anerkannt und als wertvoller Teil der Gemeinschaft willkommen geheißen zu werden“ (ebd.: 39). Zielperspektiven sind demnach ein willkommen heißender und wertschätzender Umgang mit Heterogenität oder Vielfalt sowie eine „selbstverständliche Anerkennung“ aller Menschen. Auch bei Booth stellt die „Anerkennung von Vielfalt“ einen der wichtigsten inklusiven Werte dar:

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„Anerkennung von Vielfalt schließt sowohl das Erkennen und Wertschätzen von Unterschieden zwischen Menschen als auch das Bewusstsein ihres gemeinsamen Daseins als Menschen ein. Der Umgang mit Vielfalt sollte über die bloße Anerkennung hinausgehen und Vielfalt als reichhaltige Quelle für das Lernen, Unterrichten und den Aufbau von Beziehungen sehen.“ (Booth 2010: 62)

Es geht also darum, Unterschiede zwischen Menschen als bereichernd wahrzunehmen und diese generell wertzuschätzen, Heterogenität wird „als anregend und bereichernd wahrgenommen […]“ (Hinz 2006a: 98). Auch im sogenannten „Index für Inklusion“, der von Booth und Ainscow im Jahr 2000 als Hilfsinstrument für Schulen auf dem Weg zu mehr Inklusion in Großbritannien entwickelt wurde (vgl. Booth 2010: 67) und der von Boban und Hinz 2003 in einer adaptierten deutschen Fassung herausgegeben wurde (vgl. Boban/Hinz 2003b), zeigt sich, dass mit Inklusion ein intersubjektiver Umgang mit Heterogenität eingefordert wird, der die Vielfalt ubiquitär wertschätzt, die per se als bereichernd erfahren werden soll. Gleich zu Beginn der Ausführungen zum „Index für Inklusion“ weisen die Autoren im Vorwort für die deutschsprachige Ausgabe darauf hin, welchen Umgang mit Heterogenität eine „Schule für alle“ bzw. eine inklusive Perspektive generell anstrebt: „das angemessene, nichthierarchische und damit demokratische Eingehen auf die vorhandene Heterogenität der SchülerInnen“ (ebd.: 3). Wie bereits gezeigt, kann dieses „demokratische Eingehen auf Heterogenität“ ausschließlich in einer „Schule für alle“ umgesetzt werden. Nach Boban und Hinz bezieht sich der Prozess inklusiver Schulentwicklung inhaltlich auf drei Dimensionen, die im „Index für Inklusion“ den Analyserahmen für die Bestandsaufnahme und die Entwicklung von Zielperspektiven inklusiver Schulen darstellen: „Es gilt, inklusive Kulturen zu schaffen, inklusive Strukturen zu etablieren und inklusive Praktiken zu entwickeln.“ (Ebd.: 14) Die Dimension „inklusive Kulturen schaffen“ bildet hierbei das Fundament für die anderen beiden Dimensionen (vgl. ebd.). Sie „beinhaltet den Aufbau einer sicheren, akzeptierenden, zusammen arbeitenden und anregenden Gemeinschaft, in der jede(r) geschätzt und respektiert wird […]. Hier sollen gemeinsame inklusive Werte entwickelt und an alle neuen KollegInnen, SchülerInnen, Eltern und Mitglieder der schulischen Gremien vermittelt werden.“ (Ebd.: 15) Mit dem „Index für Inklusion“ sollen also bestimmte Werte entwickelt werden, die von der gesamten Schulgemeinschaft geteilt und getragen werden. Die Beschreibung dieser Werte verdeutlicht, wie der Heterogenität zu begegnen ist. So lautet einer dieser „inklusiven Werte“: „Alle SchülerInnen werden in gleicher Weise wertgeschätzt.“ (Ebd.: 17) Anvisiert ist demnach auch hier ein wertschätzender Umgang mit Unterschieden. Innerhalb der Dimension „inklusive Praktiken entwickeln“ heißt es zudem: „Der Unterricht entwickelt ein positives Verständnis von Unterschieden.“ (Ebd.) Heterogenität wird aber nicht nur generell wertgeschätzt, sondern sie wird auch hier als produktiv oder als Chance

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verstanden: „Die Unterschiedlichkeit der SchülerInnen wird als Chance für das Lehren und Lernen genutzt.“ (Ebd.) Auch anhand des „Indexes für Inklusion“ zeigt sich der anvisierte intersubjektive Umgang mit Heterogenität also deutlich. Dem oder der Anderen soll grundsätzlich wertschätzend begegnet werden, wobei die Heterogenität, Vielfalt oder Unterschiedlichkeit nicht als Hindernis, sondern als etwas Positives und Bereicherndes erfahren werden soll. Der Umgang mit Heterogenität steht demzufolge immer schon von vornherein fest, bevor dem oder der Anderen konkret begegnet wird. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Sichtweise auf Heterogenität kein Alleinstellungsmerkmal genießt, sondern im pädagogischen Diskurs um Inklusion, Vielfalt und Differenz üblicherweise eingenommen wird, wie sich an unzähligen Beispielen aufzeigen ließe.6 Zwischenfazit Wie bereits für die übergeordnete Zielsetzung einer inklusiven Gesellschaft und den institutionellen Umgang mit Heterogenität, fungiert die Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ auch für die Zielsetzung der Wertschätzung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit auf intersubjektiver Ebene als theoretische Hintergrundfolie. Anhand ihrer Explikation wird sich noch herausstellen, wie genau die Wahrnehmung von Unterschieden verlaufen soll, so dass es zu einem solchen, vorgeblich wertschätzenden Umgang mit Heterogenität kommen kann. Als Zwischenfazit kann an dieser Stelle aber bereits festgehalten werden, dass sich anhand der Zielsetzungen einer inklusiven Gesellschaft sowie des institutionellen und intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität die normative und präskriptive Ausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes sehr deutlich gezeigt hat. Anders als im soziologischen Begriffsverständnis von Inklusion, das gesellschaftliche Ein- und Ausschlussfaktoren wertneutral und deskriptiv darstellt, werden mit diesen Zielen Beschreibungen darüber abgegeben, wie und wohin sich die Gesellschaft als Ganzes und das Handeln des Einzelnen entwickeln sollen. Wären diese Ziele bereits erreicht, so bräuchte es auch den Begriff der Inklusion nicht mehr, wie dies Hinz unter Bezugnahme auf Sander selbst feststellt: So zeichnet sich die „Phase der Inklusion“ dadurch aus, dass sie in einer Etappe der allgemeinen Pädagogik mündet. Hier ist „Vielfalt der Normalfall“ (vgl. Sander 2004: 243). Da „Vielfalt und Heterogenität nichts Außergewöhnliches mehr sind, braucht es keinen eigenen Begriff mehr für einen spezifischen Ansatz oder ein Konzept. Inklusion geht in dieser fortsetzenden Phase in einer allgemeinen Pädagogik auf und ist kein eigenständiges Thema mehr“

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Für den pädagogischen Diskurs um Inklusion, Vielfalt und Differenz vgl. zu diesem Verständnis von Heterogenität neben Hinz beispielhaft u.a. Prengel (2004); Platte (2012); Nuding/Stanislowski (2013); Wagner (2013).

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(Boban/Hinz 2003a: 41; vgl. Hinz 2004: 50), „der Begriff Inklusion kann daher in einer fernen Zukunft vergessen werden“ (Sander 2004: 243). Aktuell scheinen diese Zielvorstellungen tatsächlich nicht nur in einer „fernen Zukunft“ zu liegen, sondern sie rücken in eine immer entferntere Zukunft; von einer „inklusiven Gesellschaft“ zu sprechen, in der von vornherein alle Menschen einbezogen sind, mutet beispielsweise angesichts des europäischen Umgangs mit von Krieg und Elend bedrohten Flüchtlingen aus Nicht-EU-Staaten nahezu vermessen an. Weder die Abschottung der europäischen Außengrenzen und die Wiedereröffnung innereuropäischer Grenzen sowie der Bau von Grenzzäunen noch die massenhafte Ausweisung von Flüchtlingen und die gestiegene Anzahl an Anschlägen auf Flüchtlingsheime nähren die Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der Vielfalt als bereichernd wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Zynisch ließe sich fragen, ob diese unmenschlichen Handlungen selbst auch unter das Verdikt, Vielfalt gutzuheißen, fallen? Auch das Ziel der „institutionellen Gemeinsamkeit“ bzw. die „Schule für alle“ liegt angesichts der Bedeutung standardisierter Leistungstests wie zum Beispiel PISA oder des zunehmenden Leistungsdrucks bereits in der Grundschule in weiter Ferne. Hierfür spricht als ein weiteres Beispiel die Hamburger Schulreform aus dem Jahr 2010, die unter anderem die Einführung einer sechsjährigen Primarschule vorsah, was durch eine von Eltern gegründete Volksinitiative allerdings verhindert wurde (vgl. hierzu Töller/Pannowitsch/Kuscheck/Mennrich 2011). Auch hinsichtlich des vorgesehenen, intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität kann nicht davon gesprochen werden, dass das inklusionspädagogische Ziel der Wertschätzung von Vielfalt und der Wahrnehmung dieser als bereichernd in der Breite verwirklicht wäre. Dies zeigen beispielsweise die Biographien von behinderten Schülerinnen und Schülern, die unter anderem aufgrund sozialer Ausgrenzungen von allgemeinen Schulen an eine Förderschule gewechselt sind, um nur ein Beispiel aus diesem Bereich zu nennen (vgl. Lelgemann/Lübbeke/Singer/WalterKlose 2012a: 51ff.; 2012b; Singer 2015b: 53ff.). Die Zielbeschreibungen des inklusionspädagogischen Ansatzes bringen als „Vision“, wie Hinz Inklusion auch öfter kennzeichnet (vgl. u.a. Hinz 2015), also gesellschaftliche Zustände und Handlungsweisen zum Ausdruck, die allesamt erst noch erreicht werden sollen. Bei dieser normativen Setzung der Ziele betreibt dieser Ansatz keine Analyse gesellschaftlicher und intersubjektiver Ursachen für Ausgrenzungen, sondern fungiert als wertbasierter Ansatz als eine rein normative Leitvorstellung für gesellschaftlich-institutionelles und intersubjektives Handeln. Ausgehend von der Feststellung, dass es Ausgrenzungen gibt, gelangt er unumwunden zu der Forderung, dass diese in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen gänzlich zu vermeiden sind. Präskriptiv ist dieser Ansatz insofern ausgerichtet, als er klare Vorgaben im Sinne einer Handlungsregel darüber macht, wie der gesellschaftliche, institutionelle und intersubjektive Umgang mit Heterogenität jeweils auszusehen hat

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und zu verwirklichen ist. Im Anschluss an diese Überlegungen ist Dederich daher zuzustimmen, der diese Auffassung ebenso teilt: „Als Idee, die die Gestaltung nicht nur des Bildungssystems, sondern auch des Sozialen und der Gesellschaft überhaupt betrifft, ist Inklusion stark präskriptiv und normativ aufgeladen. Es handelt sich um einen Wertbegriff, der eine bestimmte Ausrichtung des Handelns vorschreibt. Dieses Handeln soll ein in ethischen Begriffen beschreibbares Gut verwirklichen: Einerseits soll es die gesellschaftliche Kohäsion stärken, andererseits einen entscheidenden Beitrag zur Einbindung von bisher randständigen Individuen und Gruppen in das Gesellschaftliche leisten.“ (Dederich 2013a: 34)

Aufgrund der Wichtigkeit, die diese Feststellung für die spätere Analyse hat, sei nochmals betont, dass die Ziele des inklusionspädagogischen Ansatzes ausschließlich normativ und präskriptiv gesetzt werden, das heißt ohne Berücksichtigung weder der Ursachen von Ausgrenzungen noch der Bedingungen dieser angestrebten Veränderungen selbst (zum Beispiel im Bildungssystem und in den gesellschaftlichen Funktionen von Schule). Diese fehlenden Bezüge sind gemeint, wenn von einer einseitigen Ausrichtung dieses Ansatzes die Rede ist. Die normativ-präskriptive Ausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes tritt in verschärfter Weise insbesondere auch in der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ zu Tage, die für sämtliche Zielvorstellungen den theoretischen Hintergrund dieses Ansatzes bildet. Bevor diese Grundannahme einer genaueren Betrachtung unterzogen wird, lässt sich diese einseitige Ausrichtung auch anhand der Beantwortung der Frage danach nachweisen, wie oder womit der Ansatz der Inklusion und seine weitreichenden Zielvorstellungen im pädagogischen Diskurs begründet werden. 2.3.2 Zur Begründung des inklusionspädagogischen Ansatzes Bei der Suche nach Antworten auf die Frage nach der Begründung der pädagogischen Inklusionsidee tritt allerdings eine gewisse Ernüchterung ein. Denn direkte Begründungen oder zumindest Versuche, Inklusion als spezifische Idee zu begründen, sind bei Hinz und anderen Vertretern dieses Ansatzes wie Sander oder Wocken nicht zu finden. Zu diesem Befund gelangt auch Felder, die sich im Kernstück ihrer Arbeit mit der Frage einer Begründung von Inklusion beschäftigt und feststellt, dass aus Sicht eines Großteils der Autoren in der Sonder- und Inklusionspädagogik das Konzept von Inklusion nicht begründungsbedürftig erscheint (vgl. Felder 2012: 17f.). Im Gegenteil: Wie die einleitende Darstellung der Kontroverse zwischen Wocken und dem Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern deutlich macht, wird Inklusion eher als ein moralisches Bekenntnis betrachtet als ein solider, wis-

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senschaftlicher Begriff oder ein argumentatives Handwerkszeug: „Für das Konzept Inklusion selbst zu argumentieren, erachten […] viele Autoren nicht als Aufgabe für die eigene Disziplin. Vielmehr dient Inklusion als – oft unhinterfragter – Leitbegriff und Horizont für einen anzustrebenden Zustand lebensweltlicher Eingebundenheit.“ (Ebd.: 18) Oft würde dies auch nur durch die Abwesenheit einer Begründungsleistung ersichtlich, wie Felder zutreffend feststellt (vgl. ebd.). Das Fehlen einer Begründungsleistung wäre insofern nicht weiter beachtenswert, als es sich mit der pädagogischen Inklusionsidee lediglich um ein reines Hirngespinst oder eine bloße Theorie handeln würde. Wie gesehen ist dies aber nicht der Fall, da diese Idee dabei ist, sich des heil- und sonderpädagogischen Diskurses zu bemächtigen (oder andersherum dieser Diskurs sich ihrer bemächtigt), sie ebenso in bildungspolitischen Debatten eine immer größere Relevanz entfacht und auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht immer stärker als handlungsleitende Regel für den Umgang mit Vielfalt und Unterschiedlichkeit hervortritt. Überraschend ist die Tatsache fehlender Begründungen vor allem aber auch aus inhaltlichen Konsistenzgründen der Idee selbst, da mit Inklusion der nicht zu unterschätzende Anspruch verbunden ist, dass sich die Gesellschaft im Ganzen sowie das Handeln jedes Einzelnen in ihrem Sinne verändern sollen. Hinz sieht in ihr sogar eine „Strategie“, um Menschenrechte durchzusetzen (vgl. Hinz 2015: 70). Dies alles würde eine argumentative und überzeugende Begründungsleistung erwarten lassen. Genau hieran, in diesem Fehlen einer Begründungsleistung von Inklusion, wird jedoch die angesprochene, einseitige Ausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes ein weiteres Mal offensichtlich. Denn Inklusion wird lediglich als Wert an sich immer schon als richtig oder besser vorausgesetzt, ohne dass eine detaillierte und überzeugende Begründung dafür geliefert wird, weshalb Inklusion für sich betrachtet die richtige oder bessere Option im Vergleich zu anderen, möglichen Umgangsweisen mit Heterogenität sein soll: Sie wird von ihren Vertretern sozusagen als ,alternativlos‘ betrachtet. Zu diesem Ergebnis gelangt auch Liesen, der sich als einer der wenigen um die Systematisierung des pädagogischen Inklusionsgedankens und des damit verbundenen Diskurses bemüht: „Aller Diffusität zum Trotz beansprucht sie, wegweisend zu sein. Inklusion ist die Antwort, sie ist das Richtige. Punkt.“ (Liesen 2010: 19) Wenn die Behauptung der fehlenden Begründung zutrifft, so dürften sich auch für die einzelnen, beschriebenen Zielsetzungen des gesamtgesellschaftlichen, institutionellen und intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität keine direkten oder positiven Begründungen feststellen lassen. Um es vorwegzunehmen: Es trifft zwar zu, dass direkte, plausible Begründungen für die Zielsetzungen fehlen; aber auch vorhandene Begründungen würden nichts an der grundsätzlich normativ-präskriptiven Ausrichtung der Zielsetzungen ändern. Das Fehlen direkter, plausibler Begründungen stützt und bekräftigt die These dieser Ausrichtung jedoch.

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Gesamtgesellschaftlich betrachtet fungiert aus inklusionspädagogischer Sicht das völlige Einbezogensein aller Menschen in einer sogenannten inklusiven Gesellschaft als absolute Zielperspektive des Umgangs mit Heterogenität. Ausgangspunkt der inklusionspädagogischen Überlegungen sind die nach wie vor bestehenden, vielfältigen gesellschaftlichen Ausgrenzungen und Marginalsierungen, denen auch ‚Behinderte‘ unterliegen und die mit der integrativen Praxis nicht überwunden hätten werden können. Mit der Vision und Forderung des völligen, allumfassenden Einbezogenseins gibt der inklusionspädagogische Ansatz eine Antwort auf diese Ausgrenzungen. Man könnte auch sagen, er gibt nur eine Antwort; das heißt, er beschränkt sich darauf, eine Antwort zu geben: Weder fragt er nach möglichen Ursachen dafür, dass es nach wie vor zu diesen Ausgrenzungen kommt, um zu differenzierten und angemessenen Antworten auf dieses Problem zu gelangen noch erachtet er eine direkte Begründung für die spezifische Forderung des völligen Einbezogenseins als notwendig. Der Argumentationsweg folgt in erster Linie einer bloß indirekten oder negativen Begründung der Zielvorstellung: Alle Menschen sollen von vornherein einbezogen sein, damit es zu keinerlei Ausgrenzungen und Marginalisierungen mehr kommt. Inklusion wendet sich zuallerst gegen etwas: „In allen Lebensbereichen besteht das Anliegen der Inklusion im Abbau von Barrieren für das Lernen und die Teilhabe“ (Hinz 2010a: 42); „Inklusion vertritt also das universelle Anliegen, […] gegen die verbreitete soziale Verarmung […] zu arbeiten“ (ebd.: 40); „Inklusion […] wendet sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung“ (ebd.: 33). Durchgängiges Begründungsmuster sind zudem die „Qualitäts- und Quantitätsprobleme“ der bisherigen integrativen Praxis (vgl. u.a. Hinz 2002; Boban/Hinz 2003a: 37ff.), die aus unterschiedlichen Gründen ebenso abgelehnt wird. Von hier ausgehend werden dann normative Forderungen erhoben, die sich an der Bürgerrechtsbewegung orientieren (vgl. u.a. Frühauf 2010: 22) und die sich vor allem um die Begriffe der Teilhabe, Gerechtigkeit und Anerkennung drehen (vgl. hierzu auch Dederich 2013a: 34). Diese mit Inklusion erhobenen Forderungen sind aber, so Tenorth, keine neuen „Versprechen […], sondern eindeutig als Teil der allgemeinen Menschenrechte erkennbar“ (Tenorth 2013a: 30). Ihm zufolge werden hierbei „in ethisch-moralischer Perspektive Selbstverständlichkeiten formuliert […] sowie Fragen, die das menschliche Zusammenleben insgesamt betreffen“ (ebd.). Ähnlich heißt es bei Kastl: „Es geht also ganz offensichtlich um Wertvorstellungen und zwar um Wertvorstellungen, die für eine pluralistische demokratische Gesellschaft von grundsätzlicher und selbstverständlicher Bedeutung sind.“ (Kastl 2013: 134) Diese Begriffe und Vorstellungen werden auf Inklusion lediglich gemünzt, um damit ihr normatives und moralisches Anliegen hervorzuheben. Dieses Vorgehen erklärt aber nicht, weshalb diese Ansprüche ausschließlich in einer sogenannten inklusiven Gesellschaft zu erreichen sind, noch dazu, wenn bedacht wird, dass es sich hierbei um Prinzipien handelt, die zu Gesellschaften mit demokratischer Verfassung

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und menschenrechtlicher Verankerung gehören. Die inklusive Gesellschaft selbst wird also entweder nur negativ, über die Ablehnung bestimmter Zustände begründet oder mit Begriffen, die auch in der jetzigen Gesellschaftsform tragende Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens darstellen. Weshalb das völlige Einbezogensein – eine inklusive Gesellschaft – selbst gut ist, wird nicht gesagt. Inklusion oder eine inklusive Gesellschaft wird vielmehr als Wert für sich betrachtet, der noch dazu die einzig legitime Antwort auf Ausgrenzungen darstellt und als die einzig wahre Form des Zusammenlebens verkauft wird. Dasselbe ‚argumentative‘ Grundmuster trifft auch für die Zielsetzung des institutionellen Umgangs mit Heterogenität zu. Der einzig zulässige institutionelle Umgang mit Heterogenität ist der der „institutionellen Gemeinsamkeit“, also im schulischen Kontext die „Schule für alle“. Argumentiert wird jedoch auch hier nicht direkt für diese schulische Organisationsform, sondern allerhöchstens indirekt, und zwar derart, dass die integrative Praxis bzw. sonderpädagogische Systeme und Strukturen als ausgrenzend gekennzeichnet und damit als diskriminierend abgelehnt werden. Diese Einschätzung führt dann in Verbindung mit der Präskription der allumfassenden Anerkennung von Heterogenität zu der Forderung nach „institutioneller Gemeinsamkeit“. Bei dieser Schlussfolgerung werden jedoch erstens keine guten Gründe für die „Schule für alle“ benannt, sondern höchstens gegen das System der sonderpädagogischen Förderung, wobei auch diese Begründungen allein auf moralischen Einschätzungen beruhen. Zweitens ist weder ersichtlich noch plausibel, weshalb die Präskription der Anerkennung von Heterogenität zur Forderung der „Schule für alle“ führt, was Liesen bereits für die Forderung nach Integration nachgewiesen hat (vgl. Liesen 2006). So müssten nach Liesen überzeugende normative Gründe für Integration solche sein, die ersichtlich relevante handlungsleitende Regeln aus ihren Präskriptionen generieren können; ihm zufolge gibt es aber kein direktes Argument dafür, als handlungsleitende Regel Integration zu wählen (vgl. u.a. ebd.: 159). Die Präskription der Anerkennung könnte genauso gut Separation geboten erscheinen lassen. Gezeigt werden müsste daher, welche Chancen allen Kindern einzuräumen sind (vgl. ebd.: 160) und wie diese auszusehen hätten. Und schließlich bleibt auch für den geforderten intersubjektiven Umgang mit Heterogenität die Benennung plausibler Gründe aus: Durch die Feststellung, dass es Ausgrenzungen vielfältiger Lebensformen und Lebensweisen gibt, wird die vollumfängliche Wertschätzung und Anerkennung von Vielfalt gefordert. Auch hier bleibt unersichtlich, weshalb genau es gut sein soll, Vielfalt uneingeschränkt anzuerkennen. So stellt beispielsweise Dammer die Frage in den Raum, wie der inklusiv orientierte Pädagoge mit denjenigen Jugendlichen umgeht, „die seine Bemühungen rundheraus ablehnen, weil ihnen die Lernerfahrungen, die sie in ihrem sozialen Umfeld machen, für ihr gesellschaftliches Überleben – und sei es im Ghetto – nützlicher erscheinen als die schulischen Angebote zur Beteiligung am gesellschaftli-

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chen Schachspiel, in dem sie die Bauern sind und dies auch genau wissen?“ (Dammer 2011: 20). Zwar ließen sich, so Dammer weiter, hierfür vielleicht Lösungsansätze finden, „die Forderung aber, Diversität als Bereicherung zu betrachten (Hinz 2002), dürfte, so pauschal normativ formuliert, angesichts dieser Realität weder die mit erheblicher Mehrarbeit konfrontierten Lehrkräfte noch diejenigen Schülerinnen und Schüler überzeugen, die ihre Besonderheiten als gesellschaftlich überflüssig erfahren müssen“ (ebd.). Auch hinsichtlich des intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität fehlen abseits moralischer Überzeugungen gute Gründe und Argumente für die Präskription der Anerkennung jeder erdenklichen Vielfalt, die ‚Begründung‘ erfolgt nur negativ anhand der Ablehnung der Ausgrenzung von Vielfalt und der moralischen Forderung, diese anzuerkennen. Das Vorgehen ist also bei allen Zielsetzungen dasselbe: Von einer vorgeblich rein deskriptiven Feststellung aus (zum Beispiel: Es gibt Sonderschulen), die aber in ihrer angeblich negativen Wirkung zugleich jeweils abgelehnt wird (Sonderschulen grenzen aus, sind diskriminierend), wird eine normative Forderung erhoben („Schule für alle“). Hierbei wird nicht nur bereits die Deskription normativ vermengt, sondern die Forderung wird ihrerseits nicht aus sich selbst heraus begründet, sondern nur indirekt über die abzulehnende Deskription. Resultat dieses Vorgangs ist, dass am Ende nichts als eine subjektive, moralische Überzeugung steht. Es fehlen positive, spezifische und plausible Gründe, mit denen sich beispielsweise möglichst alle Mitglieder einer Gesellschaft von der ausschließlichen Option einer inklusiven Gesellschaft überzeugen ließen; ebenso fehlen diese Gründe für die Überzeugung davon, dass die Realisierung dieser Wertvorstellungen nur in dieser Ordnung möglich sein soll. Zwar geht es hier primär darum, zu zeigen, dass der inklusionspädagogische Ansatz auch durch das Fehlen nachweislich guter Gründe für seine Zielsetzungen rein normativ und präskriptiv ausgerichtet ist. Dennoch ist aufgrund der Bedeutung dieser Idee in unterschiedlichen Diskursfeldern, wie der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik, darauf hinzuweisen, dass hier ein Begriff bedient wird, der allein auf der Kraft des Normativen oder auf bloß moralischen Überzeugungen beruht. Diese Tatsache sollte einer Wissenschaft zumindest zu denken geben. Würde sie ihr disziplinäres Selbstverständnis aus einem Begriff beziehen, der mehr einem moralischen Bekenntnis gleicht als einer wissenschaftlichen Theorie, die sich auf rationale und nachvollziehbare Argumente stützt, dann sägt sie nachhaltig an dem Ast, auf dem sie sitzt. Versäumte sie es, Andere mit guten Gründen von ihren Anliegen zu überzeugen – so Liesen im Hinblick auf den disziplinären Umgang der Heil- und Sonderpädagogik mit dem Integrationsbegriff –, dann gleicht sie „scharf gesagt, einer Partei, einer Lobby, einem Orden, und begibt sich auf die schiefe Ebene der Deprofessionalisierung. Auch das ist freilich eine Basis, um für die Relevanz und Legiti-

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mität der eigenen Ziele zu argumentieren – aber sie ist weder mit einem professionellen noch mit einem disziplinären Selbstverständnis konsistent zu vereinbaren.“ (Liesen 2006: 161)

Doch auch für den inklusionspädagogischen Ansatz selbst, und inzwischen auch für diejenigen Teile des heil- und sonderpädagogischen Diskurses, die sich auf den Inklusionsbegriff beziehen, wäre es aus inhaltlichen Konsistenzgründen wichtig, Begründungen für die mit diesem Ansatz verbundenen Zielsetzungen abzugeben, die nicht bloß moralischer Natur sind. So muss durchaus und prinzipiell die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, dass ‚Behinderte‘ wie ‚Nichtbehinderte‘ entweder gar nicht an Allem teilhaben wollen oder dieser Gesellschaftsentwurf von einer Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder abgelehnt wird. Letzteres ist angesichts aktueller, politischer Entwicklungen und unter der Voraussetzung einer kapitalistisch verfassten, gesellschaftlichen Grundordnung nicht allzu weit hergeholt. Mit Felder ist vor diesem Hintergrund deshalb nochmals daraufhin hinzuweisen, dass moralische Forderungen und Appelle allein weder aus disziplinärer noch aus praktischprofessioneller Sicht als Begründung für Inklusion ausreichen: Der „Verweis auf politische Rhetorik, auf Überzeugungen und Intuition allein hilft nicht weiter […]. Intuitionen und Meinungen ersetzen erstens Argumente nicht, sondern bilden allenfalls den Ausgangspunkt für Überlegungen. Zweitens ist es in vielen Fällen so, dass es Menschen gibt, welche die Intuitionen oder Meinungen der im Feld Tätigen oder Betroffenen eben gerade nicht teilen. Dass einige dieser Menschen auch an relevanten praktischen Entscheidungsprozessen, beispielsweise in der Verteilung von monetären Ressourcen, beteiligt sind, macht die Sache noch brisanter. Das argumentative Ringen muss daher spätestens dort beginnen, wo ein Dissens verschiedener Meinungen vorhanden und man gezwungen ist, für seine eigene Überzeugung Gründe vorzubringen, will man den Dialog nicht abbrechen. Um die gesellschaftlichen Akteure vom eigenen Anliegen überzeugen zu können, muss man aber sein Handeln mit vernünftigen, kohärenten und systematischen Gründen unterlegen. Dies sind Gründe, die auch für Menschen außerhalb der eigenen Disziplin, Profession oder Praxis nachvollziehbar sind […]. Forderungen nach Inklusion müssen ihrem Gehalt nach daher mehr sein als bloße Meinungs- und Gefühlsäußerungen […]. Ins Zentrum des Interesses geraten Gründe und Argumente. Ein Grund ist für eine Person aber nur dann ein annehmbarer Grund, wenn er nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden kann.“ (Felder 2012: 21ff.)

Der inklusionspädagogische Ansatz versäumt es jedoch, für seine Anliegen solche rationalen Gründe vorzulegen, wie sich anhand der fehlenden Begründung der einzelnen Zielsetzungen deutlich gezeigt hat. Er verbleibt damit allein auf der Ebene moralischer Appelle. Nun ließe sich einwenden, es gäbe doch so etwas, wie eine direkte oder positive Begründung für die pädagogische Inklusionsidee, nämlich die des Rechts, wie heutzutage immer wieder zu vernehmen ist. Auch in einer der wenigen, vorliegenden

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Systematisierungen der Grundgedanken der Inklusion (vgl. Liesen 2010) wird unter dem Punkt „Zur Begründung von Inklusion“ der Aspekt „Recht und soziale Gerechtigkeit“ angeführt: „Inklusion wird heute als ein Recht aufgefasst, das in modernen Staaten jedem Kind zugestanden werden muss: Diskriminierung im Bildungswesen ist nicht hinnehmbar, Chancengleichheit gilt für alle Kinder und Jugendlichen, ungleiche Bildungschancen sind zu bekämpfen. […] Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf Erziehung und Bildung im allgemeinen Bildungssystem und gemeinsam mit den gleichaltrigen Kindern aus ihrer näheren Umgebung, ohne Wenn und Aber. Alles andere ist diskriminierend, missachtend und exkludierend.“ (Liesen 2010: 13)

Ersteres sind allgemeine menschenrechtliche Prinzipien, letzteres die einhellige Meinung aus inklusionspädagogischer Sicht. Auch Hinz selbst beruft sich immer wieder auf die Bürgerrechte oder die Bürgerrechtsbewegung, auf deren Basis der inklusionspädagogische Ansatz argumentiere (vgl. u.a. Hinz 2002: 355; 2004: 46; 2006a: 98). Und auch Ahrbeck gelangt zu dem stimmigen Schluss, „dass sich die Inklusionsbewegung, zumindest in Teilen, in ihrem Selbstverständnis an der Bürgerrechtsbewegung orientiert und sie zu ihrer Legitimation heranzieht“ (Ahrbeck 2011: 29). Es scheint also auf den ersten Blick so zu sein, als ob es für Inklusion doch eine spezifische Begründung gibt. Selbstverständlich spricht nichts dagegen, sich bei der Legitimation von Inklusion auf Bürgerrechte zu beziehen, ob sie und die einzelnen Zielsetzungen damit aber zugleich auch begründet sind, ist dahingestellt. Denn warum sollten allgemeine Bürgerrechte die gezeigten spezifischen Vorstellungen von Inklusion begründen? Es ist hier nicht der Platz, um die historischen Bezüge der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sowie die Geschichte der gemeinsamen Beschulung in den USA und die Plausibilität der Übertragung auf deutsche Verhältnisse darzulegen. 7 Auf eines ist aber hinzuweisen: Bei der Geschichte der gemeinsamen Beschulung in den USA handelt es sich um eine Geschichte von Gerichtsurteilen, und demnach um ein juridisches Recht (vgl. Liesen 2004: 75). Der pädagogischen Inklusionsidee geht es aber wie gesehen nicht nur um die Zugänglichkeit zu sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen oder um eine vollständige Teilhabe, sondern ebenso um das lebensweltliche Einbezogensein sowie die intersubjektive Anerkennung und Wertschätzung, die aktive Durchsetzung von Werten bzw. die „gemeinschaftliche Inklusion“, wie es bei Felder heißt. Ein solches direktes, moralisches Recht auf Wertschätzung kann es, wie Felder plausibel darlegt, aber nicht geben, da es mit der Assoziationsfreiheit von Gemeinschaften kollidieren würde (vgl. Felder 2012: 257). Das heißt, die Orientierung an Bürgerrechten, die zur Legitimierung der Inklusions7

Vgl. hierzu u.a. Liesen/Felder (2004); Liesen (2004); Krach (2009).

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idee herangezogen wird, kann höchstens ein juridisches Recht – und dieses auch nur auf Zugänglichkeit zu einzelnen gesellschaftlichen Bereichen und nicht auf Inklusion – begründen, nicht aber die vollumfängliche und uneingeschränkte Wertschätzung von Vielfalt: „Ein Recht auf Inklusion kann daher […] nur ein indirektes Recht sein. Als solches schützt es aber nicht Inklusion direkt, sondern vielmehr die Voraussetzungen oder Ermöglichungsbedingungen von Inklusion.“ (Ebd.) Einer Rechtsnorm kann zwar auf juristische Weise gefolgt werden, die Verankerung dieser Norm als eine persönliche Wertüberzeugung – wie es ja der explizite Anspruch der pädagogischen Inklusionsidee ist – lässt sich durch sie aber nicht absichern und erst recht nicht erzwingen. Noch viel weniger können, so Felder, die „sozialen Gefühle, mit denen Inklusion zentral verbunden ist, beispielsweise Liebe und Freundschaft, […] durch Rechte abgesichert werden. Rechte kommen generell an ihre Grenzen, wo die Inklusion in Gemeinschaften zur Debatte steht.“ (Ebd.: 262) Wie Dederich in dieser Hinsicht schlüssig feststellt, habe es daher „einen (allerdings nur selten wahrgenommenen) Grund in der Sache selbst“ (Dederich 2013e: 4), dass Inklusion heute sehr stark von den Menschenrechten her legitimiert würde. Dies liege daran, dass „ein umfassendes (nicht juridisch, sondern moralisch verstandenes) Recht auf Inklusion […] ethisch kaum zu begründen sein [dürfte]“ (ebd.: 4f.). Abgesehen von dem Problem, dass Rechte die gemeinschaftliche oder intersubjektive Inklusion nicht absichern können, ist bereits der direkte rechtliche Status von Inklusion zweifelhaft. So ist die im Diskurs um Inklusion, vor allem seit der UN-BRK, immer wieder zu vernehmende Behauptung, Inklusion sei ein (Menschen-)Recht8, genau das, was sie ist: eine bloße Behauptung. Von einem (Menschen-)Recht auf den Zugang zu schulischer Bildung wird häufig auf ein Recht auf Inklusion geschlossen. Oder Inklusion wird gleich selbst zum Menschenrecht ernannt (vgl. Lindmeier 2008: 369ff.; 2012: 38ff.; Jennessen 2013: 5).9 Es ist nicht zu erkennen, weshalb Bürger- oder Menschenrechte überhaupt ein „Recht auf Inklusion“ – was immer dies sein mag – begründen sollten. Aus Bürger- oder Menschenrechten bzw. der UN-BRK ein Recht auf Inklusion abzuleiten, ist nicht zulässig. Oder wie es bei Liesen bereits für die Forderung nach Integration heißt: „Vom Menschenrecht auf Bildung auf ein Menschenrecht auf Integration zu schließen […] ist einfach ein non sequitur“ (Liesen 2006: 120).

8

Hinz selbst sieht dies im Übrigen differenzierter, wenn er sagt: „Dabei ist Inklusion selbst kein Menschenrecht, vielmehr stellt sie eine Strategie dar, Menschenrechte umzusetzen.“ (Hinz 2015: 70)

9

Vgl. hierzu beispielsweise auch das vom Deutschen Institut für Menschenrechte m it entwickelte Online-Handbuch Inklusion als Menschenrecht (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2017).

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So stellen auch Degener und Mogge-Grotjahn fest, dass Inklusion „in der BRK weder definiert noch als eigenständiges Menschenrecht kodifiziert [wird]“ (Degener/Mogge-Grotjahn 2012: 65).10 Den Ausführungen der Autorinnen ist zuzustimmen, wenn sie weiter davon schreiben, dass mit der UN-BRK „nämlich keine neuen Menschenrechte und schon gar keine Sonderrechte für behinderte Personen geschaffen werden [sollten]. Vielmehr wurde mit ihr der allgemein anerkannte Menschenrechtskatalog auf den Kontext von Behinderung zugeschnitten. Das bedeutet gleichberechtigten Schutz und Ausübung der Menschenrechte unter Berücksichtigung der Verschiedenheit, die Behinderung mit sich bringen kann.“ (Ebd.: 65f.)

Kastl zufolge sei Inklusion überhaupt kein „juristischer Begriff“ und die „generelle Aussage, Inklusion sei Menschenrecht, ist nicht nur sinnlos, sondern auch eindeutig falsch. Ein solches Menschenrecht existiert nicht, jedenfalls nicht in irgendeiner kodifizierten Form und auch die UN-Konvention konstituiert kein solches allgemeines Menschrecht auf Inklusion.“ (Kastl 2014b: 3) Zur Begründung verweist Kastl aus einer soziologischen Perspektive darauf, dass es sich vielmehr umgekehrt verhalte: „Nicht Inklusion ist Menschenrecht, sondern ein Teil, aber eben nur ein Teil der Grund- und Menschenrechte sind Inklusionsrechte oder haben zumindest inklusive Aspekte. Diese sind immer konkretisiert für bestimmte gesellschaftliche Bereiche und beinhalten in der Regel auch spezifische Mechanismen, mit denen die Inklusion erreicht wird: zum Beispiel das Recht auf allgemeine, freie, gleiche Wahlen (Inklusion in Politik), Recht auf Eigentum und freie Berufswahl (Wirtschaft) u.a. Die UN- und EU-Menschenrechtsdeklarationen kennen ein Recht auf Bildung, konkretisiert als ‚Zugang‘ zu obligatorischem und unentgeltlichem Grundschulunterricht und angemessener weiterführender ‚Bildung‘. Auch die UN-Konvention schafft kein neues Menschenrecht, sondern beruft sich auf bereits kodifizierte spezifische Menschenrechte und betont ihre volle Anwendbarkeit auf behinderte Menschen.“ (Kastl 2013: 141f.)

10 Die Autorinnen konkretisieren dies am Beispiel des klassischen Menschenrechts auf Meinungsfreiheit: „Art. 21 BRK enthält wie der entsprechende Artikel des Bürgerrechtspaktes (Art. 19) das Recht auf freie Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit. Zudem enthält aber Art. 21 BRK das Recht auf barrierefreien Zugang zu Informationen und die Anerkennung von Gebärdensprache, Braille und anderen alternativen Kommunikationsformen, um das Recht auf Meinungsfreiheit gleichberechtigt zu gewährleisten. Inklusion im Sinne der BRK steht für das Prinzip der gleichberechtigten Partizipation unter Berücksichtigung der Menschenwürde und Anerkennung der Verschiedenheit der Menschen.“ (Degener/Mogge-Grotjahn 2012: 66)

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Zudem seien Menschenrechte zwar wichtig, „aber sie sind zugleich ein fragiler, politisch und rechtlich nicht unmittelbar effektiver Inklusionsmechanismus. Sie stellen erstmal eine Art Schuldschein dar. Solange sie nicht bis auf die Ebenen des Schulrechts, der Schulorganisation und des Sozialleistungsrechts (Eingliederungshilfe!) durchdekliniert werden, kann man sich buchstäblich nicht viel dafür kaufen .“ (Ebd.: 144f.)

Auch der Versuch, Inklusion über (Menschen-)Rechte zu begründen, ist demnach nicht plausibel: Erstens greift er zu kurz, da Rechte nicht alles von dem abdecken können, was mit Inklusion beansprucht wird; zweitens folgt diese ‚argumentative‘ Strategie wiederum nur einer indirekten Begründungsleistung, indem allgemein verbindliche und seit langem bestehende (menschenrechtliche) Prinzipien (Gleichheit, Freiheit etc.) lediglich auf Inklusion gemünzt werden, es sind keine primär „inklusiven Werte“, als die sie jedoch beansprucht werden. Noch dazu ist die Begründung, Inklusion sei ein Recht, inhaltlich falsch, da nur ein Recht auf Zugang zu bestimmten, gesellschaftlichen Teilbereichen (Bildung, Politik, Arbeit etc.) besteht – also auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion – aber kein generelles, direktes Recht auf Inklusion. Liesens Feststellung, dass es den Vertretern des vormaligen Integrationskonzeptes „mit der Rede vom Menschenrecht auf Integration wohl eher darum [geht], rhetorisch einen weltweiten moralischen Konsens und eine gewisse moralische Autoritativität zu evozieren“ (Liesen 2006: 121), trifft demnach ebenso für die rechtsbasierte Rede von Inklusion zu. Was sich bereits für die Setzung der Ziele herauskristallisiert hat, zeigt sich also anhand der ‚Argumentation‘, Inklusion mit Rechten zu begründen, ein weiteres Mal: Es handelt sich auch hier um keine direkte Begründung für Inklusion, sondern allerhöchstens um eine indirekte, die in sich allerdings nicht zulässig ist. Fazit Die These, dass der inklusionspädagogische Ansatz streng normativ und präskriptiv ausgerichtet ist, hat sich bereits anhand der Betrachtung der einzelnen Zielsetzungen bestätigt. Weder geht es mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff darum, eine Beschreibung des gesellschaftlichen und intersubjektiven Geschehens von Ausgrenzungen und Marginalisierungen vorzunehmen – diese werden, wo dies überhaupt geschieht, nur normativ als etwas zu Vermeidendes dargestellt – noch erfahren diese komplexen Prozesse eine analytisch-erklärende Betrachtung, indem Fragen nach möglichen Ursachen hierfür gänzlich ausbleiben. Die Zielvorstellungen zum Umgang mit Heterogenität werden vielmehr einseitig als Fixpunkte eines möglichst zu erreichenden Zustandes – als „Nordstern“, wie Hinz selbst Inklusion immer wieder charakterisiert (vgl. u.a. Hinz 2010a: 34) – formuliert. Zugleich tritt dieser Ansatz als eine präskriptive Leitvorstellung in Erscheinung, indem der Umgang

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mit Heterogenität auf allen Ebenen immer schon feststeht. Insbesondere anhand des vorgesehenen, intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität konnte die präskriptive Ausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes gezeigt werden. Die bedingungslose Wertschätzung und „selbstverständliche Anerkennung“ aller Menschen in ihrer Vielfältigkeit fungiert hier eindeutig als eine Leitvorstellung im Sinne einer Handlungsregel für den Umgang mit allen Menschen und besonders solchen, die den üblichen Normalitätsvorstellungen nicht entsprechen. Inklusion stellt damit in pädagogischen Kontexten eine bloße Wertvorstellung mit alleingültigem Anspruch dar, mit der aber konkrete Veränderungen auf gesamtgesellschaftlicher, institutioneller und intersubjektiver Ebene bewirkt werden sollen. Das Fehlen einer Begründungsleistung für diese Zielvorstellungen bestätigt und bekräftigt die These der allein normativen und präskriptiven Ausrichtung. Indem die normativen Zielvorstellungen entweder als überhaupt nicht begründungsbedürftig erscheinen oder eine höchstens indirekte Begründung über die Ablehnung bestehender Zustände erfahren, tritt der inklusionspädagogische Ansatz vor allem als moralisierend und ideologisierend auf. Auch der Versuch einer rechtsbasierten Begründung von Inklusion hat sich als zu kurz greifend und nicht plausibel erwiesen, da diese Begründung nicht alles abdecken kann, was mit Inklusion beansprucht wird und diese nur indirekt begründen kann. Allerdings gerät Inklusion bereits durch den alleinigen Versuch, sie auf rechtlichem Weg begründen zu wollen, wiederum in normatives Fahrwasser, hier zwar nicht als anzustrebender Zustand, aber im Sinne einer gebotenen Rechtsnorm. Der Impetus, Inklusion mit einem (menschen-)rechtlichen Status zu versehen, bewirkt eine weitere normative und moralische Aufladung dieses Begriffes. Als Konsequenz der normativ-präskriptiven Ausrichtung und fehlender, plausibler Begründungen, erlangt der inklusionspädagogische Ansatz den bloßen Status eines ethisch-moralischen Appells oder, wie es bei Dammer heißt, den eines „politisch-moralisch motivierten Bekenntnisses“ (vgl. Dammer 2012: 353). Dieser Appell hat in seinem Anspruch, als alleingültige Leitvorstellung für den Umgang mit Heterogenität zu gelten, jedoch bereits eine relativ große Wirkmächtigkeit in unterschiedlichen, gesellschaftlichen Handlungsbereichen und für die persönliche Wahrnehmung von Unterschieden erlangt. Die inklusionspädagogischen Annahmen müssten sich daher als tragfähig für die konkrete Gestaltung des Umgangs mit Heterogenität erweisen. Bevor dies anhand der Begegnung mit ‚Behinderten‘ geprüft wird, ist zu klären, wie der Umgang mit Heterogenität aus inklusionistischer Sicht so gestaltet werden soll, damit die Zielsetzung des willkommen heißenden Umgangs mit Heterogenität auch erreicht werden kann. Welche theoretischen Vorstellungen bietet der inklusionspädagogische Ansatz also dafür an, wie insbesondere mit Menschen, die den üblichen Normalitätsvorstellungen nicht entsprechen, umzugehen ist? Gerade anhand der theoretischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ zeigt sich die

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normative und präskriptive Ausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes in verschärfter Form. 2.3.3 Theoretische Grundannahmen des inklusionspädagogischen Ansatzes Es ist im Verlauf der Arbeit bereits immer wieder angeklungen, dass die Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ den theoretischen Hintergrund sämtlicher Zielsetzungen des inklusionspädagogischen Ansatzes darstellt. Sie ist gewissermaßen das Herzstück des inklusionspädagogischen Ansatzes, indem diese Prämisse den Weg hin zu den beschriebenen Zielsetzungen des gesamtgesellschaftlichen, institutionellen und vor allem intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität theoretisch-idealistisch beschreibt und vorgibt. Im Kern zielt die Annahme der „Normalität der Verschiedenheit“ auf die Ausrichtung unseres Denkens, Wahrnehmens und Handelns, so dass ein, im Sinne dieses Ansatzes, angemessener Umgang mit Heterogenität möglich wird (vgl. Hinz 1995: 7). Auch mit ihr wird also keine deskriptive Beschreibung der Wirklichkeit vorgelegt, sondern sie beschreibt erstens einen zu erreichenden Zustand und fungiert zweitens als Leitvorstellung dafür, wie mit Unterschiedlichkeit bzw. Heterogenität „angemessen“ und „demokratisch“ (vgl. Boban/Hinz 2003b: 3) umzugehen ist. Primäres Anliegen der folgenden Ausführungen ist es, aufzuzeigen, wie dieser Umgang mit Heterogenität im inklusionspädagogischen Ansatz aus theoretischer Sicht betrachtet wird und dass diese Sichtweise zugleich einen bestimmten Umgang mit ihr einfordert. Bei der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ handelt es sich um alles andere als eine bloße theoretische Spielerei, sondern mit diesem Denken verbindet sich im realen, gesellschaftlichen Kontext ein ernstzunehmender, machtvoller Vorgang. Dies offenbart sich anhand der Tatsache, dass die Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ implizit oder explizit auf bestimmten Kanälen (Aktion Mensch; Lebenshilfe etc.) und in unterschiedlichen Wendungen („Es ist normal, verschieden zu sein“; „celebrate diversity“; „Wir alle sind verschieden/behindert“; „Anderssein ist normal“; „Vielfalt als Chance“ etc.) Eingang in den gesellschaftspolitischen Diskurs gefunden hat und sie dort als kollektive und individuelle Strategie im Umgang mit Heterogenität, im wahrsten Sinne des Wortes, auch medial, beworben wird. Insofern sich Heterogenität im inklusionspädagogischen Sinne auf alle Dimensionen von Verschiedenheit bezieht, ist hiermit explizit auch der Umgang mit und die Wahrnehmung von ‚Behinderten‘ angesprochen. Dieser Umgang mit Heterogenität wird im Zentrum der darauffolgenden Analyse stehen. Erinnert sei an die These der Arbeit, dass diese normativ-präskriptive Perspektive eines allgemeinen Umgangs mit Heterogenität die spezifische Erfahrung von Heterogenität (auch) im

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Kontext von Behinderung nicht mehr problematisieren und reflektieren kann. Durch die theoretische Annahme der „Normalität der Verschiedenheit“, wie sie explizit bei Hinz in Verbindung mit der – bisher ausgesparten – Kritik an der sogenannten „Zwei-Gruppen-Theorie“ Verwendung findet, lässt sich ein solcher Problem- und Fragehorizont erst gar nicht mehr formulieren. Der Zustand, in dem diese spezifische Erfahrung von Heterogenität (und gemeint ist in diesem Fall Fremdheit) im Kontext von Behinderung nicht mehr thematisiert werden kann, stellt geradezu ein explizites Ziel der pädagogischen Inklusionsidee dar. 2.3.3.1 Kritik an der „Zwei-Gruppen-Theorie“ und der „administrativen Etikettierung“ als Voraussetzung für den theoretischen Zugang Auch die pädagogische Leitidee der Inklusion folgt der Devise des Integrationsgedankens: Bereits mit dem Ansatz der Integration ging es um „Fixsterne eines heterogenitätsbewussten Denkens und Handelns“, „in welche Richtung es gehen soll, welcher Horizont bei dieser Denkrichtung auftaucht“ (vgl. Hinz 1995: 7). Die Beschreibung der inklusionspädagogischen Zielsetzungen hat gezeigt, welcher Horizont diesem Ansatz als erstrebenswert erscheint: Die Zielsetzung besteht in einem „Miteinander unterschiedlichster Mehr- und Minderheiten“ (vgl. Hinz 2002: 355). Inklusion wendet sich der Vielfalt prinzipiell positiv zu und nimmt sie als produktives Moment wahr (vgl. u.a. Hinz 2015: 69). Nicht nur die Partizipation als Gleichgestellter, sondern die „selbstverständliche Anerkennung aller“ und der „automatische Anspruch“ darauf, „als vollwertiges Wesen anerkannt und als wertvoller Teil der Gemeinschaft willkommen geheißen zu werden“ (Boban/Hinz 2003a: 39), ist der tragende Grundgedanke dieses Ansatzes: Heterogenität wird „als anregend und bereichernd wahrgenommen […]“ (Hinz 2006a: 98). Das Ziel im Umgang mit Heterogenität steht also mit diesen Aussagen von vornherein fest, nur der Weg scheint vorerst noch verhandelbar zu sein. Es hat sich jedoch bereits eine erste Einschränkung dahingehend gezeigt, dass ein solcher Umgang aus inklusionistischer Sicht nur in einer untrennbar inklusiv-heterogenen Gruppe, der inklusiven Gesellschaft und Gemeinschaft, realisiert werden kann. Ihre ‚Begründung‘ findet diese Annahme vor allem in der Kritik an der sogenannten „Fixierung an der administrativen Ebene“, der die Praxis der Integration mit ihrer Logik des „Readiness-Modells“ verhaftet sei. Gegenüber dieser Logik, die der Gleichung „Je fitter, desto integrierbarer, je schwächer, desto weniger integrierbar“ folge, geht das pädagogische Inklusionskonzept nicht von der Einbeziehung, sondern vom Einbezogensein „als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft“ aus (vgl. Hinz 2002: 356). Diese Mitgliedschaft erfolgt völlig voraussetzungslos, denn allgemeine Kriterien, Nachweise und Merkmale sind für sie nicht nur nicht erforderlich, sondern sie verlieren in dieser Gemeinschaft ihre Bedeutung: Heterogenität ist

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in der inklusiven Gruppe, Gemeinschaft und Gesellschaft Normalität (vgl. ebd.: 357). An dieser Stelle kommt es nun zur zweiten wesentlichen Einschränkung hinsichtlich dessen, wie das Ziel des wertschätzenden Umgangs mit Heterogenität sichergestellt werden kann. Offensichtlich wird dies daran, wie Heterogenität vom inklusionspädagogischen Ansatz auf theoretischer Ebene betrachtet wird. Diese Sichtweise bildet den Dreh- und Angelpunkt sämtlicher inklusionspädagogischer Annahmen und Zielsetzungen. Ihren Widerhall findet sie zunächst in der von Hinz formulierten Kritik an der sogenannten „Zwei-Gruppen-Theorie“, die die theoretische Betrachtung von Heterogenität, und damit den Weg hin zum Ziel des wertschätzenden Umgangs mit ihr, vorbereitet. Wie die Formulierung der Zielsetzungen, so folgt auch die theoretische Grundausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes dem Weg der Kritik an der integrativen Praxis. Hinz hält dieser zunächst zugute, sie habe dafür gesorgt, dass Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bzw. behinderte Schüler „nicht mehr primär ‚andersartig‘ sind […]“ (ebd.). Ihm zufolge habe Andersartigkeit „eine große Nähe zur Abartigkeit und zur Minderwertigkeit“ (ebd.), was jedoch von Hinz nicht begründet wird. Die Andersartigkeit erfährt anhand dieser Aussage unumwunden eine normative Aufladung, da Andersartigkeit zunächst nichts anders bedeutet, als dass etwas oder jemand sich von etwas oder jemand anderem in bestimmter Hinsicht unterscheidet. Bereits die Integration hat auch nach Wocken die „Bewältigung von Andersartigkeit“ (Wocken 1993: 86) zum Ziel. In der integrativen Praxis seien behinderte Schüler nun zwar nicht mehr „primär andersartig“, vielmehr „sind sie ‚nur noch‘ anders“ (Hinz 2002: 357). Hinz macht der Integration aber zum Vorwurf, dass auch sie „dieses Anderssein nicht im Sinne einer Dialektik von Gleichheit und Differenz […] überwunden“ (ebd.) habe. Verantwortlich hierfür sei die der integrativen Praxis inhärente „Alltagstheorie von zwei Gruppen innerhalb einer Klasse (behinderte und nichtbehinderte Kinder […]) […]“ (Hinz 2008a: 133). Mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff wird daher „die Beibehaltung einer Zwei-Gruppen-Theorie kritisiert, der zufolge Kinder mit Beeinträchtigungen nun zwar in die allgemeine Schule hineingelassen, sie aber weiterhin primär als ‚andere Kinder‘ wahrgenommen werden“ (Hinz 2006b: 257). Dort sorgten dann „special programs in gestufter Differenzierung“, wie „das Hinzuziehen von „anderen SpezialistInnen für diese ,anderen‘ Kinder aus Institutionen, häufig entsprechende Sonderschulen, nun mit ambulanten Anteilen […]“ (ebd.), in verschärfter Form dafür, dass das Kind „vor allem anders [bleibt] […]“ (Hinz 2002: 357), auch unabhängig davon, wie man dieses Anderssein ausdrücke (vgl. ebd.): „Solche Strukturen provozieren exklusive Zuständigkeiten der ,anderen‘ KollegInnen für die ,anderen‘ Kinder, die dann schnell zu ,Auch-Kindern‘ zu werden drohen, wenn sie im wenig veränderten Unterricht dann ,auch‘ etwas tun können.“ (Hinz 2006b: 257)

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Inhalt dieser Arbeit sind nun aber nicht die geforderten schulpraktischen und schulorganisatorischen Veränderungen, die mit dieser Kritik anvisiert werden, wie beispielsweise das Problem der individuellen oder pauschalen Ressourcenzuweisung. Vielmehr steht hier die theoretische Sichtweise auf Heterogenität im Fokus. Für diese ist die Kritik an der „Zwei-Gruppen-Theorie“ ebenso der Ausgangspunkt wie für erstere, die üblicherweise im Vordergrund der heil- und sonderpädagogischen und bildungspolitischen Diskussionen stehen. Die Kritik an der „Zwei-Gruppen-Theorie“ zielt letztlich darauf ab, jegliches Denken, Handeln und Wahrnehmen in Gruppenkategorien, wie zum Beispiel „behindert-nichtbehindert“, „weiblich-männlich“, „deutsch-ausländisch“, „gebildetungebildet“, „reich-arm“ (vgl. u.a. Hinz 2000a: 8) zu überwinden. Genau hierin besteht nach Hinz der „Grundgedanke der Inklusion […], der sich gegen jegliche Gruppenzuordnung von Menschen richtet […]“ (Hinz 2010a: 43). Ein Kernpunkt des inklusiven Fokus ist ihm zufolge, dass „Menschen mit Behinderung […] nicht mehr als abgegrenzte Gruppe gesehen [werden]“ (Hinz 2004: 46). Ein gruppenkategoriales Denken verfehle nämlich das Ziel der Überwindung des Andersseins – implizit: der Fremdheit – nicht nur, sondern es zementiere dieses Anderssein und unterwirft „die Individualität der einzelnen Personen solchen Kategorien […]“ (Hinz 2010a: 40). Untrennbar mit dieser Kritik an der „Zwei-Gruppen-Theorie“ verbunden ist der dritte wesentliche Kritikpunkt von Hinz an der integrativen Praxis: „In der Folge der Zwei-Gruppen-Theorie richtet sich die inklusionistische Kritik dagegen, dass Menschen mit Behinderungen offiziell etikettiert werden.“ (Hinz 2002: 358) Eine jegliche Etikettierung von Menschen bedeute eine „massive Stigmatisierung“ (vgl. ebd.) und „Diskriminierung“ (vgl. u.a. Hinz 2006b: 257): „Inklusive Pädagogik nimmt eine äußerst kritische Position zu allen administrativen Prozessen von Etikettierung ein, denn sie hält sie für einen Ausdruck von Diskriminierung, der die Teilhabe am öffentlichen Leben mindert […]“ (Hinz 2002: 358). Im pädagogischen Feld führe insbesondere die Zuweisung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zu einer kategorialen Diskriminierung von behinderten Schülerinnen und Schülern, die als solche aber nicht mehr benannt werden können und sollen; immer wieder bezieht sich Hinz auf Mittler, um deutlich zu machen, dass eine solche Zuweisung „als ebenso diskriminierend wie sexistische, rassistische und homophobe Zuschreibungen scharf kritisiert [wird]“ (Hinz 2008a: 133; vgl. u.a. auch Hinz 2006b: 257). Solche stigmatisierenden und diskriminierenden Etikettierungsprozesse finden nach Hinz ausdrücklich auch in der dem Denken der „Zwei-Gruppen-Theorie“ verhafteten Integration statt: „Die Typisierung erfasst auch und gerade diejenigen SchülerInnen, die im unreflektierten, unveränderten ‚Regelkontext‘ immer noch primär als anders und abweichend wahrgenommen werden.“ (Hinz 2004: 51) Kurzum: Ein Denken und Handeln in gruppenbezogenen Kategorien wie „behindert-nichtbehindert“ ist aus inklusionistischer Sicht unzulässig, da es der Individualität der

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einzelnen Person nicht gerecht wird und vor allem das Anderssein nicht überwinden kann. Demzufolge sind auch Etikettierungen von Personen, beispielsweise als „behindert“ oder die Zuweisung eines sonderpädagogischen Förderbedarfes, aufgrund ihrer angenommenen diskriminierenden und stigmatisierenden Wirkung gänzlich zu vermeiden. Hinter dieser Logik verbirgt sich die Auffassung, dass (Gruppen-)Kategorien ausschließlich „auf gesellschaftlich-normativer Ebene [bestehen] […]“ (Hinz 2010a: 39f.). Nach Hinz sind Kategorien wie „behindert/nichtbehindert“, „ausländisch/deutsch“, „Mann/Frau“ etc. lediglich „als Konstrukte vorhanden“ (ebd.: 40). So besehen ist es nur konsequent, dass aus inklusionistischer Sicht auch eine Behinderung selbst „nicht dem alten medizinischen Modell entsprechend eine Frage medizinisch -psychologischer Gegebenheiten von Individuen ist, sondern dem sozialen Modell entsprechend als soziales Konstrukt verstanden werden muss, das mit Aspekten von Sozialisation, gesellschaftlichen Zuschreibungen und kulturellen Bedeutungszuweisungen zusammenhängt.“ (Hinz 2008a: 134)

Behinderung wird unter dieser Perspektive also als ein gesellschaftlich erzeugtes Problem betrachtet. Wie sich bereits bei der Darstellung des institutionellen Umgangs mit Heterogenität gezeigt hat, findet die Problemverortung eines nicht näher definierten Problems nicht mehr in der Person statt, sondern in den Umwelthindernissen, die die soziale Teilhabe erschweren (vgl. Hinz 2003: 342). Dies bedeutet: Durch die Beseitigung dieser Umwelthindernisse bzw. mit der Umgestaltung der Umwelt im Sinne einer inklusiven Gesellschaft existieren auch keine Behinderungen mehr, da sie ja lediglich ein soziales Konstrukt sind, hervorgerufen durch gesellschaftliche Barrieren für die soziale Teilhabe. Der inklusionspädagogische Ansatz vertritt daher auch konsequenterweise „ein Konzept des Abbaus von ‚Barrieren für Lernen und Teilhabe‘“ […]“ (Hinz 2008a: 133). Hinz gesteht zwar an dieser Stelle zu, dass diese Barrieren „möglicherweise auch innerhalb der lernenden Person […]“ (ebd.) liegen könnten. Letztlich und vor allem sind sie aber „in Lernbedingungen, den Alltagstheorien Beteiligter, in schulgesetzlichen Regelungen und anderen Bedingungen des Systems Schule zu finden […]“ (ebd.: 133f.). Im Umkehrschluss bedeutete diese sozial-konstruktivistische Sichtweise auf Kategorien und Behinderungen jedoch die Leugnung des habitualisierten und erfahrungsbasierten Wahrnehmens, Denkens und Handelns – sowohl von ‚Behinderten‘ als auch von ‚Nichtbehinderten‘. Implizit findet diese These auch dadurch Bestätigung, dass es Hinz zufolge nur noch eine einzige Ausnahme gibt, unter der die Verwendung von (Gruppen-) Kategorien zulässig ist, nämlich dann, wenn „es um die gesellschaftliche Analyse von Marginalisierungsgefahren geht […]“ (Hinz 2010a: 39). An dieser Stelle wird

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es allerdings kompliziert, denn es stellt sich anhand dieser Aussage die Frage, ob mit Inklusion doch keine völlige Überwindung von (Gruppen-)Kategorien angestrebt wird? Anders, als immer wieder zu vernehmen ist, scheint eine pauschale Antwort hierauf also nicht möglich zu sein. Hinz nimmt denn auch eine Trennung vor zwischen einer person- oder gruppenbezogenen und einer gesellschaftskritischen bzw. gesellschaftsanalytischen Verwendungsweise von Kategorien. Anders formuliert: Kategorien dürfen zwar noch im Hinblick auf die Gesellschaft oder Systeme zum Einsatz kommen, aber nicht mehr in Bezug auf Personen oder Gruppen. In einem aktuellen Beitrag von Hinz und Köpfer heißt es hierzu: „Dekategorisierung kann also als Programm der möglichkeits- und unterstützungsorientierten Restrukturierung pädagogischer Kategorien angesehen werden, deren Resultat nicht die Auflösung von Kategorien per se ist, sondern deren teleologische Transformation, um determinierende, besondernde Markierungen zu vermeiden, die Etikettierungen und demzufolge Stigmatisierungsprozesse mit sich bringen können.“ (Hinz/Köpfer 2016: 39)

Mit Inklusion und dem „prozessorientierten Konzept der Dekategorisierung“ verbindet sich also „die Infragestellung von sonderpädagogischen, behinderungsspezifischen Begriffskategorien […], die durch ihre personenbezogene Ausrichtung bzw. Etikettierung Exklusions- und Stigmatisierungsrisiken beinhalten“ (ebd.: 38). Kategorien dürfen daher nicht mehr auf Personen Anwendung finden; die Kategorien, die für die Strukturierung und Unterstützung eines Feldes und der darin Tätigen benötigt werden, leiten sich nicht mehr über personenbezogene Klassifikationen, „sondern von den je heterogenen Merkmalen der Rahmenbedingungen des Feldes ab“ (ebd.: 44). Auf den Punkt bringen die Autoren dies selbst: „Eine sinnvolle Strategie könnte sein, Kategorien auf Kontexte statt auf Personen zu beziehen […]“ (ebd.). Zwar ist die Verminderung der Exklusions- und Stigmatisierungsrisiken ‚Behinderter‘ ein zugleich anerkennenswertes und anzustrebendes Anliegen. Allerdings beinhaltet diese Logik, demnach sich der kategoriale Fokus auf das System und nicht mehr auf das Individuum richtet, in praktischer Hinsicht vor allem eine problematische Implikation, auf die Dederich in seiner Replik auf Hinz und Köpfer hinweist: „Wie soll ich wissen, was am System oder Kontext zu ändern ist, wenn es nicht statthaft ist, am Individuum einen Bedarf zu beobachten, ihn zu benennen und von hier aus zu analysieren, was überhaupt verändert werden soll?“ (Dederich 2016: 51) Anhand dieser Sichtweise auf die Verwendung von Kategorien zeigt sich, dass kategoriale (Gruppen-)Zuordnungen unter inklusionspädagogischer Perspektive als nicht mehr legitime fungierende Raster der Wahrnehmung und der Benennung anderer Personen und ihrer Verhaltens- und Ausdrucksweisen angesehen werden. Sie dürfen nur noch zur Veränderung von Systemen oder zur Kritik gesellschaftlicher Missstände Verwendung finden. Alles andere wäre stigmatisierend und daher dis-

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kriminierend. Die Beurteilung der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ wird jedoch zeigen, dass diese heuristische Trennung einen Selbstwiderspruch gegenüber dem theoretischen Ansatz der Inklusionspädagogik bedeutet. Um zu einem „angemessenen“, inklusiven Umgang mit Heterogenität zu gelangen, ist es aus inklusionistischer Sicht also notwendig, behinderungsbezogene Kategorien und Behinderungen selbst zu überwinden. Für dieses Anliegen muss der inklusionspädagogische Ansatz daher notgedrungen eine solche sozialkonstruktivistische Haltung einnehmen. In dieser Logik ist es dann nur folgerichtig, wenn das bisher nicht überwundene Anderssein ‚Behinderter‘ an die Beibehaltung einer „Zwei-Gruppen-Theorie“ bzw. an die Verwendung behinderungsbezogener Kategorien geknüpft wird. Gäbe es diese vorgeblich rein sprachlichen Übereinkünfte und bestimmte professionell-sonderpädagogische Bemühungen nicht mehr, dann wäre damit das Anderssein ‚Behinderter‘ und die Behinderung selbst überwunden. Dies sei der integrativen Praxis durch ihre Fixierung auf die „Zwei-GruppenTheorie“ bisher nicht gelungen; Vielfalt und Heterogenität erfahren in ihr daher noch keinen angemessenen und wertschätzenden, sondern einen stigmatisierenden und diskriminierenden Umgang. Booth, auf den sich Hinz in seinen Überlegungen immer wieder bezieht, merkt zwar an, dass er Integration der Inklusion nicht gegenüber stellt (vgl. Booth 2010: 55), es heißt aber grundsätzlich auch bei ihm, dass ein wertschätzender Umgang mit Vielfalt den Verzicht auf kategoriale Zuordnungen von Menschen und deren Etikettierung impliziert (vgl. ebd.). Der argumentative Weg zur theoretischen Bestimmung von Heterogenität führt also wie bereits bei der Festlegung der Zielsetzungen zunächst und primär über die Ablehnung bestimmter Sicht- und Handlungsweisen der integrativen Praxis. Wenn auch jeweils nur indirekt begründet, werden der als defizitär eingestuften integrativen Praxis folgende inklusionspädagogische Zielsetzungen entgegengestellt: Der Einbeziehung das Einbezogensein in eine inklusive Gesellschaft, den selektiven sonderpädagogischen Strukturen die Schule für alle bzw. die institutionelle Gemeinsamkeit und auch dem ausgrenzenden Umgang mit Vielfalt wird deren uneingeschränkte Wertschätzung und Anerkennung entgegengesetzt. In ähnlicher Vorgehensweise erfolgt auch die theoretische Verortung von Heterogenität zunächst über die Ablehnung einer person- oder gruppenbezogenen Verwendung von Kategorien, der ein strikt system- oder kontextgebundener Gebrauch von Kategorien gegenüber gestellt wird. Nur ein solchermaßen ausgerichtetes Vorgehen kann einem wertschätzenden Umgang mit Vielfalt oder Heterogenität gerecht werden. Hiermit sind zwar nun die theoretischen Kontextbedingungen des Umgangs mit Heterogenität benannt, es ist aber immer noch nichts darüber ausgesagt, wie Heterogenität selbst im inklusionspädagogischen Ansatz verstanden wird. Die Kritik an der ZweiGruppen-Theorie und die daraus abgeleitete Forderung nach Verzicht auf gruppenkategoriales Denken, Wahrnehmen und Handeln ist vielmehr erst die Voraussetzung für die theoretische Bestimmung von Heterogenität.

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2.3.3.2 „Individuelle Unterschiedlichkeit“ und die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit als theoretischer Zugang Ziel des inklusionspädagogischen Ansatzes ist der wertschätzende Umgang mit Heterogenität in der inklusiven, unteilbaren Gruppe oder Gesellschaft, in der Heterogenität zur Normalität wird. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es aus inklusionistischer Sicht erforderlich, auf kategoriale Zuordnungen wie „behindert/nichtbehindert“, „Mann/Frau“ etc. zu verzichten. Damit stellt sich die anthropologische Frage, welche Sichtweise stattdessen noch als zulässig erachtet wird, um soziale Praxen gestalten und sich wahrnehmend und denkend zur Welt und gegenüber anderen Menschen verhalten zu können. Der inklusionspädagogische Ansatz bietet hierfür nicht nur einen Vorschlag an, sondern er fordert eine zur Haltung emporgesteigerte Sichtweise ein, die angesichts der mehrdimensionalen Eingebundenheit menschlichen Daseins in historisch-kulturelle, gesellschaftliche, soziale und leibliche Voraussetzungen so einfach wie banal anmutet. Dem Denken, Handeln und Wahrnehmen in gruppenbezogenen Kategorien, wie dies in der „Zwei-Gruppen-Theorie“ der integrativen Praxis zum Ausdruck komme, wird „die Vorstellung eines ununterteilbaren Spektrums von Individuen entgegengestellt […]“ (Hinz 2008a: 133). An anderer Stelle heißt es sinngemäß: Inklusion erhebt explizit den Anspruch, „tradierte Kategorisierungen in verschiedenen Gruppen durch die Idee eines untrennbaren Spektrums individueller Unterschiedlichkeit zu ersetzen […]“ (Hinz/Boban 2008: 206). Die einzig zulässige Kategorie der Wahrnehmung anderer Menschen ist also die der „individuellen Unterschiedlichkeit“; kategoriales Denken, Handeln und Wahrnehmen, das sich auf Personen richtet, wird durch die Kategorie der „individuellen Unterschiedlichkeit“ wortwörtlich „ersetzt“, wodurch „alle gruppenbezogenen Zuschreibungen obsolet [werden]“ (ebd.). Leitend hierfür ist die Zielperspektive einer inklusiven Gesellschafft oder Gruppe, die bereits bei der Darstellung der Zielsetzungen deutlich wurde. Den angeblich rein gesellschaftlich produzierten (Gruppen-)Kategorien wird das Verständnis entgegengesetzt, dass „jede Gruppe aus einem untrennbar heterogenen Spektrum von Individuen besteht, das für verschiedenste Dimensionen auffindbar ist: Fähigkeiten, Geschlechterrollen, ethnische und kulturelle Herkunft, Erstsprachen, religiöse und weltanschauliche Einstellungen, sexuelle Orientierungen, soziale Klassen bzw. Milieus, Rassen, körperliche Gegebenheiten und anderes mehr […].“ (Hinz 2006b: 258)

Eine Abgrenzung einzelner Gruppen ist nicht mehr möglich, die inklusive Gruppe hebt die einzelnen (Gruppen-)Kategorien sozusagen auf. Dies macht sie im wahrsten Sinne des Wortes so gut, dass es nur noch individuelle Verschiedenheiten gibt und das defizitäre Denken, Handeln und Wahrnehmen in individuums- oder gruppenbezogenen Kategorien überwunden ist. Das bereits mehrfach erwähnte

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Motto hierfür lautet konsequenterweise: „Heterogenität ist Normalität – und dies gilt heute mehr denn je.“ (Hinz 2002: 357) Der sinngemäß bekanntere Slogan hierfür ist: „Es ist normal, verschieden zu sein“. Damit ist das Verständnis von Heterogenität bei Hinz als „individuelle Unterschiedlichkeit“ entscheidend determiniert. Die theoretische Sichtweise auf Heterogenität beruht allerdings noch auf einem weiteren Gedanken, dem „dialektischen Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit“ bzw. dem von Annedore Prengel begründeten Prinzip der „egalitären Differenz“ (vgl. u.a. Hinz 2004: 60). Dieser Gedanke spiegelt sich bei Hinz inzwischen im Motto „Es ist normal, verschieden zu sein“ oder „Heterogenität ist Normalität“ wider. Zu Zeiten der Entwicklung der Integrationstheorie bzw. der Pädagogik der Vielfalt bezog Hinz „Heterogenität“ jedoch noch nicht auf die Kategorie der „Normalität“, sondern im Sinne der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit primär auf die der „Gleichheit“: „Mit dem Postulat von Gleichheit und Verschiedenheit werden Grunddimensionen jeder Pädagogik angesprochen […]. Dieses universale Postulat drückt sich beispielhaft im Motto der italienischen Integrationsbewegung aus: ‚Tutti uguali - tutti diversi!‘ - alle sind gleich und alle sind verschieden […]“ (Hinz 1993: 44). Anhand dieses Gedankens, der auch für die Theorie der Integration tragend ist, zeigt sich letztlich auch der Stellenwert, den Heterogenität im inklusionspädagogischen Ansatz einnimmt. Heterogenität bzw. Verschiedenheit gilt es zwar wie gesehen als Eigenwert anzuerkennen, sie wird aber stets nur unter der Voraussetzung der Gleichheit und in Bezug auf sie gedacht. Wie auch Liesen feststellt, ist nicht leicht zu verstehen, was mit der Wendung der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit „eigentlich gemeint sein soll“ (Liesen 2006: 132). Um diesen Gedanken greifbarer zu machen, ist es hilfreich, eine von Hinz entwickelte Systematik der Umgangsstrategien mit Heterogenität in der Schule heranzuziehen. Anhand dreier Modelle, dem Separierungs-, Anpassungs- und Ergänzungsmodell, versucht Hinz bereits 1993 aufzuzeigen, wie mit Heterogenität in der Schule umgegangen wird bzw. aus damaliger integrativer Sicht umgegangen werden sollte (vgl. Hinz 1993: 398ff.). Diese Beschreibung unterschiedlicher Modelle des Umgangs mit Heterogenität, genauer, die des Ergänzungsmodells, lässt sich zugleich als Versuch verstehen, die beschriebenen Zielsetzungen der inklusiven Gesellschaft, der institutionellen Gemeinsamkeit und des wertschätzenden Umgangs mit Heterogenität theoretisch zu begründen. Anhand des Separierungs-, Anpassungs- und Ergänzungsmodells will Hinz zeigen, dass sich die mit diesen Modellen beschriebenen Umgangsstrategien mit Heterogenität nicht nur für den Bereich der schulischen Integration von ‚Behinderten‘ finden lassen, sondern ebenso für die „Heterogenität der Kulturen (Interkulturelle Erziehung) und die

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Heterogenität der Geschlechter (Feministische Pädagogik) […]“ (ebd.: 18).11 Es geht ihm hierbei um die Frage der „Übertragbarkeit des integrationspädagogischen Vorverständnisses eines dialektischen Verständnisses von Gleichheit und Verschiedenheit auf andere Bereiche der allgemeinen Pädagogik“ (ebd.). Für die hier zu erörternde theoretische Sichtweise auf Heterogenität ist es jedoch ausreichend, die Modelle nur in ihren Grundlagen und in Bezug auf die Heterogenitätsdimension der Behinderung darzustellen. Nach Hinz basiere das „Separierungsmodell“ „auf einer Theorie der Andersartigkeit und fordert Maßnahmen, die der Verschiedenheit entsprechen und sie fördern“ (ebd.: 398). Dieses Modell „postuliert die anthropologische Dominanz von Verschiedenheit, der zufolge die jeweils Anderen in je eigenen Systemen gebildet und erzogen werden sollen, um das ,allgemeine‘ System vor ihrer Andersartigkeit zu schützen und Behinderungen von Entwicklungen zu vermeiden“ (Hinz 2004: 59). Grundlage dieses Modells ist also die „Andersartigkeit des Behinderten“, die als Konsequenz in „Sonderklassen/-schulen“ unterrichtet werden mit dem Ziel, „Behinderung von Nichtbehinderten“ zu vermeiden (vgl. ebd.: 60f.). Das „Anpassungsmodell“ basiere hingegen „auf einer Theorie der Gleichheit: Indem es Verschiedenheit ausblendet oder durch besondere Förderung von Abweichenden zu minimieren sucht, fordert und fördert es eine Gleichheit, die mit einem allgemeingültigen Maßstab gemessen wird.“ (Hinz 1993: 398) Dieses Modell postuliere also „gerade das Gegenteil: Anthropologisch dominiert die Gleichheit, der zufolge die allgemeine Normalität das Verbindliche darstellt, das ergo in einem gemeinsamen System so vermittelt wird, dass diese allgemeine Normalität auch von allen übernommen wird und sie sich möglichst entsprechend entwickeln.“ (Hinz 2004: 59) Nach Hinz gebe es hierbei zwei Varianten: „Verschiedenheit wird – so lange sie akzeptabel ist und nicht stört – toleriert oder andernfalls durch besondere Förderung minimiert.“ (Ebd.) Vorrangig werden hier die „Probleme, Lücken und Defizite wahrgenommen und durch besondere Förderung zu kompensieren versucht“ (ebd.: 60). Grundlage dieses Modells ist also die „Normalität der Nichtbehinderten“; Behinderte werden im allgemeinen System entweder „negiert“ oder erhalten besondere Förderung mit dem Ziel der Prävention oder Kompensation (vgl. ebd.). Auf unübersehbare Weise greift die Unterscheidung des Separierungs- und Anpassungsmodells den eingangs thematisierten Vorwurf auf, den Hinz der Praxis der Integration macht: Diese habe zwar dafür gesorgt, dass behinderte Schüler nicht mehr „primär andersartig“ sind, sie sind aber immer „noch anders“ (vgl. Hinz 2002: 357). Auch die Integration habe also „dieses Anderssein nicht im Sinne einer Dialektik von Gleichheit und Differenz […] überwunden“ (ebd.). Zudem werden deutliche Bezüge zum ebenfalls bereits thematisierten Phasenmodell offensichtlich, 11 Später bezieht Hinz diese Umgangsstrategien zusätzlich auf die Bereiche der „Jahrgangsmischung“ und „Chancengleichheit“ (vgl. Hinz 2004: 59ff.).

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demnach die Phase der Integration die der Exklusion und Separation überwunden hat, weshalb sie als qualitativ höherwertig einzustufen ist. Der Phase der Inklusion, in der die Überwindung des Andersseins gelungen ist, entspricht nun das von Hinz favorisierte und vertretene „Ergänzungsmodell“. Dieses basiert „auf einem dialektischen Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit entsprechend der Theorie integrativer Prozesse und bemüht sich um die Förderung von Verschiedenheit in Gemeinsamkeit“ (Hinz 1993: 398). Ausgehend von einem „dialektischen Verständnis von Gleichheit und Differenz“ folgert dieses Modell „das Primat von Gemeinsamkeit bei individueller Verschiedenheit […]. Letztlich zielt es ab auf die Anerkennung ‚egalitärer Differenz‘ […] in Gemeinsamkeit […]“ (Hinz 2004: 60). Grundlage dieses Modells ist demnach die „Gleichheit und Differenz der Begabungen“ mit der Konsequenz des gemeinsamen integrativen Unterrichts und dem Ziel der „egalitären Differenz der Begabungen in Gemeinsamkeit“ (vgl. ebd.). Im Folgenden können nicht sämtliche problematische Implikationen des dialektischen Verhältnisses von Gleichheit und Verschiedenheit diskutiert werden.12 Es sind lediglich diejenigen Punkte anzusprechen, die einerseits zur näheren Bestimmung von Heterogenität bzw. Verschiedenheit aufschlussreich sind und anderseits für die spätere Analyse relevant sind. Der argumentative Weg, der die Entscheidung für das Postulat des dialektischen Verhältnisses von Gleichheit und Verschiedenheit herbeiführt, ist bereits bekannt: Sowohl eine einseitige Orientierung an der Verschiedenheit, die, basierend auf der Grundlage der „Andersartigkeit des Behinderten“, zur Separierung oder Aussonderung führe als auch eine einseitige Orientierung an der Gleichheit, „der zufolge die allgemeine Normalität das Verbindliche darstellt“ und die daher zur Anpassung führe, werden abgelehnt. Geschlussfolgert wird hieraus, dass ein dialektisches Verhältnis dieser beiden Pole, der Verschiedenheit und Gleichheit, notwendig ist, um das „Anderssein“ zu überwinden und damit zu einem angemessenen Umgang mit Heterogenität zu gelangen. Unter Bezugnahme auf Reisers Theorie integrativer Prozesse bestimmt Hinz dieses Verhältnis folgendermaßen: „Dabei ist die Grundlage eine dynamische Balance von Gleichheit und Verschiedenheit, die jede menschliche Entwicklung begleitet: Einerseits die Tendenz des Gleichseins, der Annäherung an andere und der Gemeinsamkeit mit anderen, andererseits die Tendenz des Verschiedenseins, der Abgrenzung von anderen und persönlicher Autonomie. Diese Tendenzen

12 Vgl. hierzu vor allem das Werk Liesens (2006) Gleichheit als ethisch-normatives Problem der Sonderpädagogik, das in der Erörterung dieses Verhältnisses in der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal genießt. Vgl. hierzu zudem auch Dederich (2013c: 30ff.).

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bilden keine sich gegenseitig ausschließenden oder relativierenden Pole, sondern sind in einem dialektischen Spannungsverhältnis aufeinander angewiesen.“ (Hinz 1993: 42)

Hinz zufolge hat diese „dynamische Balance […] nun nicht nur Bedeutung für einzelne Personen, sondern läßt sich ebenso auf die Beziehungen zwischen Gruppierungen, also auf die gesellschaftliche Ebene, anwenden“ (ebd.: 44). Festzustellen ist mit dieser Aussage im Übrigen, dass Hinz hier noch von „Gruppierungen“ spricht. An dieser Stelle ist jedoch von Relevanz, dass die Gleichheit in diesem Verhältnis letztlich doch den Vorrang gegenüber der Verschiedenheit bzw. Heterogenität erhält und es damit zu einem Ungleichgewicht in diesem angenommenen, dialektischen Verhältnis kommt. Ganz simpel zeigt sich dies zunächst einmal daran, dass – entsprechend der Modellbeschreibung – die Ausrichtung an der Verschiedenheit zur Separierung bzw. Aussonderung ‚Behinderter‘ führe, wohingegen die Ausrichtung an der Gleichheit ‚nur‘ zur Anpassung führe. Beides bewirkt zwar keinen angemessenen Umgang mit Heterogenität, weil das Anderssein beide Male nicht überwunden ist; wie die Beschreibung des Stufenmodells hin zur Inklusion jedoch gezeigt hat, bedeutet die Anpassung, zu der es in der integrativen Praxis komme, eine qualitativ höhere Stufe als die der Separierung. Die Ausrichtung an der Gleichheit, so lässt sich anhand dieser Logik feststellen, ist also immer noch besser als die an der Verschiedenheit. Neben diesem impliziten Zusammenhang deuten aber auch unterschiedliche, explizite Aussagen von Hinz zum dialektischen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit darauf hin, dass der Gleichheit das Primat zugeschrieben wird: • „Zu dem Gleichheitsprinzip muß daher also als spannungsvoller Ergänzungspart

[Herv. P.S.] das Verschiedenheitsprinzip hinzutreten.“ (Ebd.: 45) • „Die Anerkennung der ‚Gleichwertigkeit aller Menschen‘ und daraus folgend der

‚Gleichberechtigung aller Bürger‘ [Schönberger 1988: 64f.] und ihre Ergänzung [Herv. P.S.] durch ‚partikular besondere Qualitäten‘ [Prengel 1988a: 73] führen auch über die bisherigen emanzipatorischen Bestrebungen von diskriminierten Gruppen hinaus […].“ (Ebd.: 44f.) • „Hier bilden die verbrieften Gleichheitsrechte für alle Menschen die Grundlage, die in den USA zum Grundsatz der Nichtdiskriminierung führen und im skandinavischen Raum ihren Ausdruck im Normalisierungsprinzip finden. Sollen sie jedoch nicht zur Anpassung an einheitliche Maßstäbe und Normen geraten, müssen gleichzeitig auch partikulare Unterschiede anerkannt werden: verschiedene Sprachen, Normen, Fähigkeiten, Verhaltensweisen müssen zur Geltung kommen können. Erst wenn die grundsätzliche Gleichheit aller, aber auch ihre Verschiedenheit akzeptiert wird, ist gesellschaftliche Integration möglich.“ (Ebd.: 44)

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Am deutlichsten wird das Primat der Gleichheit anhand folgender Aussage: „Gemeinsamkeit in zugelassener Verschiedenheit - so könnte die Programmatik der Interkulturellen Erziehung zusammengefaßt werden. Oder entsprechend den Formulierungen der Theorie integrativer Prozesse: Auf der Basis genereller Gleichheit werden partikulare - hier kulturelle - Besonderheiten akzeptiert und als positive Ergänzungs- und Anregungsmöglichkeiten aufgefaßt.“ (Ebd.: 380)

„Partikulare Besonderheiten“ bzw. Verschiedenheit werden demgemäß nur auf der Basis „genereller Gleichheit“ akzeptiert; die Gleichheit wird in allen Aussagen bereits vorausgesetzt, Verschiedenheit oder partikulare Unterschiede treten diesem Prinzip lediglich hinzu, sie ergänzen es. Dies zeigt sich auch anhand der Aussage zum Normalisierungsprinzip: Um zu verhindern, dass die „verbrieften Gleichheitsrechte“ zur Anpassung führen, müssen „partikulare Unterschiede“ anerkannt werden. Der Verschiedenheit, Heterogenität oder Differenz kommt in dieser Dialektik nur die Funktion zu, falsche Ausprägungen des Gleichheitsprinzips zu verhindern, das Verschiedenheitsprinzip korrigiert das Gleichheitsprinzip lediglich. Die Normalität, die Hinz anhand der Aussage „[a]nthropologisch dominiert die Gleichheit, der zufolge die allgemeine Normalität das Verbindliche darstellt […]“ (Hinz 2004: 59) mit der Gleichheit gleichsetzt, verändert sich zwar durch die Anerkennung von Verschiedenheit, so dass es zu keiner Anpassung und zur Überwindung des Andersseins kommt; sie wird der Verschiedenheit jedoch stets schon als Bezugs- und Fixpunkt vorausgesetzt. Zwar wird auch Verschiedenheit (deskriptiv) angenommen, diese tritt aber nur im Kontext der Normalität bzw. der (normativen) Gleichheit auf, sie wird ihr gleichsam eingeordnet. Aus eben diesem Grund ist die Rede von der ‚egalitären Differenz‘ und eben nicht von der ‚differenten Egalität‘. Die Verschiedenheit/Heterogenität wird gleich, es wird nicht die Gleichheit verschieden. Letzteres würde die (normative) Idee der Gleichheit obsolet machen. Die Verschiedenheit/Heterogenität/Differenz ist hier also noch stärker an der Gleichheit ausgerichtet als die Gleichheit an der Verschiedenheit/Heterogenität/Differenz; letzteren kommt lediglich die Rolle zu, die Idee der Gleichheit zu ergänzen, die der Verschiedenheit als Präskription bereits vorausgelagert ist. Verschiedenheit ist also nur unter dem Primat der Gleichheit zu haben.13 Zwar gibt es auch (deskriptive) Gleichheit nur, indem etwas oder jemand sich auf einer deskriptiven Ebene von etwas oder jemand anderem in einer bestimmten Hinsicht unterscheidet. Gleichheit wird hier aber nicht als deskriptive Gleichheit, sondern als 13 Zwar kann man Lees Aussage zustimmen, dass Hinz die Heterogenität stärker berücksichtigt sehen will. Es ist aber mit den obigen Ausführungen weder plausibel noch dort genauer nachzuvollziehen, weshalb sie in ihrer Darlegung dieser Thematik bei Hinz von einem „Primat der Heterogenität“ spricht (vgl. Lee 2012: 57).

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präskriptive Gleichheit verstanden, die Gleichheit ist hier „eine des Wertes des Individuum und seiner Rechte“ (Dederich 2013c: 44). Diese so verstandene Gleichheit als das Recht, „als Verschiedene respektiert und behandelt zu werden […]“ (ebd.), ist dem Umgang mit Heterogenität oder Verschiedenheit als normativer Überbau stets vorausgesetzt. Oder wie es hierzu bei Dederich heißt: „Wertschätzung von Verschiedenheit und der Verzicht auf alle Versuche, diese zu nivellieren und Homogenität herzustellen, erfolgt grundsätzlich auf dem Boden bzw. im Horizont der normativen Gleichheit.“ (Ebd.) Hiergegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden, aber „diese fundamentale und theoretisch entscheidende begriffliche Asymmetrie zwischen Gleichheit und Verschiedenheit wird in der Theorie selbst verschleiert, weil expressis verbis beide Termini in eine symmetrische Konstruktion eingebunden werden“ (ebd.), wie Dederich voll und ganz zugestimmt werden kann. Diese Unkenntlichmachung zeigt sich nochmals deutlich anhand des folgenden Beispiels, das sich auf die Heterogenitätsdimension des Geschlechts bezieht: „Die ‚Pädagogik der Vielfalt‘ erkennt die prinzipielle Gleichheit der Geschlechter im Sinne gleicher Rechte und grundsätzlich gleicher Bedürfnisse an. Sie betont zugleich die Vielfältigkeit individueller Orientierungen, vertritt also eine dialektische Sichtweise von Gleichheit und Verschiedenheit.“ (Hinz 1993: 381) Mit der Rede von der Dialektik der Gleichheit und Verschiedenheit wird nicht nur die begriffliche Asymmetrie zwischen Gleichheit und Verschiedenheit unkenntlich gemacht. Mit dieser Theorie gibt Hinz vor, der Heterogenität einen gleichberechtigten Status neben der Gleichheit einzuräumen. Diesem Anspruch wird die dialektische Sichtweise von Gleichheit und Verschiedenheit aber nicht gerecht, da Heterogenität/Verschiedenheit stets nur auf ein Allgemeines bezogen bleibt, auf die Idee der Gleichheit. Auch dies wird jedoch durch die angenommene Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit verschleiert, weshalb es sich im besten Falle um eine schlechte Dialektik handelt, bei der der Gleichheit eine entscheidende Vormachtstellung zukommt. Die Bezugnahme auf die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit bzw. auf das Ergänzungsmodell gibt außerdem vor, das „Primat der Gemeinsamkeit“, also die Zielsetzungen einer inklusiven Gesellschaft und der institutionellen Gemeinsamkeit, theoretisch zu begründen. Deutlich wird dies unter anderem anhand der folgenden Aussage von Hinz: „Das Ergänzungsmodell geht von einem dialektischen Verständnis von Gleichheit und Differenz aus und folgert daraus das Primat von Gemeinsamkeit bei individueller Verschiedenheit.“ (Hinz 2004: 60) Damit beruht das „Primat von Gemeinsamkeit“ zwar augenscheinlich auf der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit bzw. Differenz. Warum dieses Primat jedoch aus dieser Dialektik gefolgert wird, bleibt bei Hinz völlig unklar. Es heißt bei ihm mit Bezugnahme auf Reiser lediglich: „Erst wenn die grundsätzliche Gleichheit aller, aber auch ihre Verschiedenheit akzeptiert wird, ist gesellschaftliche Integration möglich […]. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die institutionalisierte Erzie-

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hung.“ (Hinz 1993: 44) Es mag zwar sein, dass Integration auf die Akzeptanz der Gleichheit und Verschiedenheit – was immer dies im Einzelnen bedeuten mag – angewiesen ist, begründet ist sie hiermit aber noch lange nicht. Ohne Integration bzw. das Primat von Gemeinsamkeit mit der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit begründet zu haben, ergeht mit dieser Wendung unmittelbar die Forderung nach „Konsequenzen für die institutionalisierte Erziehung“, also nach Integration. Zwar versucht Hinz direkt im Anschluss, Integration unter Berufung auf Schönberger („Gleichberechtigung aller Bürger“), Flitner („unterscheidende und egalisierende Gerechtigkeit“) und Schlömerkemper („egalitäre Integration“) im Zusammenhang mit der Dialektik der Gleichheit und Verschiedenheit zu begründen. Diese Ansätze setzen allerdings jeweils auf spezifische Weise an bestimmten gesellschafts- oder bildungstheoretischen Problemlagen an, wie Hinz dort selbst aufzeigt (vgl. ebd.: 45ff.). Die Einführung dieser Theorien dient daher eher als Hilfskonstruktion, um Integration über Umwege zu begründen. Für die direkte Folgerung des Primats von Gemeinsamkeit aus der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit fehlt aber, ganz einfach, jedes Argument. Nun ließe sich einwenden, dass die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit – wenn auch nicht intendiert – einseitig auf das Primat der Gleichheit – verstanden als normative Gleichheit des Rechts, als Verschiedene respektiert und anerkannt zu werden – ausgerichtet ist. Aber auch hier gilt: Warum sollte das Recht, als Verschiedene anerkannt zu werden, zum „Primat der Gemeinsamkeit“, also zu einer inklusiven Gesellschaft bzw. einer „Schule für alle“ führen? Hinz bezieht sich in seinen Ausführungen zur „Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit“ bzw. zur „egalitären Differenz“ immer wieder auch auf Annedore Prengel (vgl. u.a. ebd.), deren Name es ist, der „für gewöhnlich mit der ‚Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit‘ assoziiert wird“ (Liesen 2006: 132), wie in Übereinstimmung mit Liesen festgestellt werden kann. Auch bei Prengel hat das „gemeinsame Menschsein […] Priorität“ (Prengel 1990: 274); dieses drückt in der Dialektik die Gleichheit aus, die Prengel als übergeordnetes Achtungs- oder Anerkennungsprinzip versteht (vgl. Liesen 2006: 133). Vielleicht, so ließe sich daher fragen, setzt Hinz in seinen Ausführungen und Bezugnahmen auf Prengel bereits voraus, dass das „Primat der Gemeinsamkeit“ dort begründeterweise aus dem dialektischen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit gefolgert wird. Denn auch bei Prengel heißt es, das „gemeinsame Menschsein“ bzw. die Gleichheit als gleiche Achtung und Anerkennung „begründet die Gleichheit des Schulbesuchs“ (Prengel 1990: 274). Doch auch dies ist nicht der Fall, wie Liesen schlüssig nachweist. Ihm zufolge überführt Prengel das übergeordnete Prinzip gleicher Anerkennung „in a rule of conduct, eine handlungsleitende Regel, die besagt how they ought to be treated: Weil sie gleiche Anerkennung verdienen, sollen sie gleich beschult werden. […] Prengel gibt eine Präskription, Achtung und Anerkennung als Grund für Integration an, das heisst [sic!],

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sie glaubt, dass Achtung und Anerkennung Integration rechtfertigt, und zwar praktisch rechtfertigt. […] Hier fehlt jene Brücke, der Nachweis, dass zwischen der ins Feld geführten Präskription und dem kritisch oder lobend beurteilten Zustand überhaupt eine Verbindung besteht und wenn sie besteht, von welcher Art sie ist. Simpel gesagt können Achtung und Anerkennung Behinderter ebensogut zu separativer Beschulung führen. Prengels normative Begründung ist hier nicht überzeugend.“ (Liesen 2006: 133f.)

Wie Hinz bleibt also auch Prengel den argumentativen Nachweis schuldig, dass die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit bzw. das Primat der Gleichheit das Primat der Gemeinsamkeit oder die institutionelle Gemeinsamkeit begründet. Liesen zeigt dies auch für die andere Seite der Dialektik, die Verschiedenheit, auf; auch hier geht Hinz mit Prengel im Grunde kongruent: Ähnlich wie Prengel sagt Hinz, dass die Andersartigkeit ‚Behinderter‘ zur Aussonderung führe. Nach Prengel geht es daher um die Anerkennung des Andersseins. Es soll an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben, dass Hinz als klare Zielperspektive die Devise ausgibt, dieses Anderssein mit Inklusion nicht nur anzuerkennen, sondern zu überwinden. Worum es hier geht, ist, dass sowohl bei Hinz als auch bei Prengel auch die Anerkennung der Verschiedenheit oder Heterogenität das Primat der Gemeinsamkeit nicht rechtfertigt. Mit Liesen wird hier die behauptete Verbindung nicht einmal versuchsweise expliziert (vgl. ebd.: 134). Dies liege daran, dass die Verschiedenheit bzw. das Anderssein zwei handlungsleitenden Regeln unterliegt, „einer, die aussondert und einer, die nicht aussondert“ (ebd.). Wie gezeigt, erfordert der intersubjektive Umgang mit Heterogenität auch bei Hinz deren uneingeschränkte Wertschätzung und Anerkennung. In diesem Sinne nennt auch Prengel „als Begründung ein Anerkennungsprinzip: Anerkennung des Andersseins führt zu how they ought to be treated: zu Nichtaussonderung“ (ebd.). Wie bei der Folgerung des Primats der Gemeinsamkeit aus dem Primat der Gleichheit fehlt auch hier der argumentative Nachweis dafür, dass die Anerkennung von Verschiedenheit bzw. des Andersseins die Nichtaussonderung bzw. Integration oder Inklusion rechtfertigen würden. Zudem bleibt eine Begründung dafür aus, dass Verschiedenheit oder das Anderssein überhaupt einen Wert in sich darstellt, den es wertzuschätzen gilt (vgl. auch Dederich 2013c: 46). Die fehlenden Nachweise und Brücken, um von der Dialektik der Gleichheit und Verschiedenheit zur Realisierung von Integration oder Inklusion zu gelangen, führen Liesen zu der berechtigten Einschätzung, dass Prengels Begründung auf ziemlich wackeligen Beinen steht (vgl. Liesen 2006: 134). Indem Hinz diese Nachweise ebenso schuldig bleibt und sich explizit immer wieder auf Prengel bezieht, trifft diese Aussage in gleicher Weise auch auf ihn zu. Auch der Versuch, Integration anhand der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit theoretisch zu begründen, schlägt fehl. Da diese Dialektik und die mit ihr verbundene Annahme der „egalitären Differenz“, die bei Hinz jedoch eine Wendung hin zur „Normalität

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der Verschiedenheit“ erfährt, auch die Theoriebasis der Inklusion bilden, gilt dies für sie genauso. Damit aber ist klar, dass die Zielsetzungen des inklusionspädagogischen Ansatzes der inklusiven Gesellschaft, der institutionellen Gemeinsamkeit und des wertschätzenden Umgangs mit Heterogenität auch in theoretischer Hinsicht keine Begründung erfahren. Es handelt sich vielmehr um bloße Postulate und Wertorientierungen. Die Theorie der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit gibt vor, die Zielsetzungen des Umgangs mit Heterogenität zu begründen. Die Prämisse der egalitären Differenz kann die Zielsetzungen im Umgang mit Heterogenität aber nicht plausibel begründen, weil von vornherein feststeht, was erst zu zeigen wäre. Die Theorie dient in diesem Fall vielmehr dazu, die Zielsetzungen nachträglich zu begründen, sie selbst fungiert bereits als normativ-präskriptive Leitvorstellung für den Umgang mit Heterogenität denn als solide Begründungsbasis der inklusiven Zielsetzungen. In diesem Sinne heißt es bei Liesen, dass die sogenannte „Pädagogik der Vielfalt“, die diesem Denken bei Hinz und Prengel als übergeordneter Begriff zugeordnet ist, eine „voreingenommene Konzeption“ ist (vgl. Liesen 2006: 233). Sie enthält „so etwas wie eine für alle Menschen gültige Bestimmung“, von der aus die „Pädagogik der Vielfalt“ glaube, „ihre Ziele – unter anderem Integration – herleiten zu können“ (ebd.). An dieser Stelle gilt es, kurz innezuhalten und zu fragen, wie Heterogenität bei Hinz bis hierin theoretisch bestimmt wird. Wie anhand des Separierungs-, Anpassungs- und Ergänzungsmodells deutlich wurde, zielt seine Kritik am bisherigen Umgang mit Heterogenität im Kern auf die bisher ausgebliebene Überwindung des Andersseins ‚Behinderter‘. Dies sei auch der integrativen Praxis nicht gelungen, die durch die Ausrichtung ihres theoretischen und praktischen Handelns an der „ZweiGruppen-Theorie“ (behindert/nichtbehindert etc.) weiterhin zur Stigmatisierung und Diskriminierung marginalisierter Menschen beitrage. Nur ein dialektischer Umgang mit Gleichheit und Verschiedenheit bzw. Heterogenität könne im Sinne des Ergänzungsmodells zu einem angemessenen und wertschätzenden Umgang mit letzterer führen. Bei Hinz bedeutet diese Wendung: Nur so wird der Überwindung des Andersseins Rechnung getragen. Es hat sich herausgestellt, dass die Gleichheit in dieser Dialektik die Oberhand behält und Verschiedenheit bzw. Heterogenität eher als Korrektiv falscher Ausprägungen des Gleichheitsprinzips fungiert. Verschiedenheit kommt ausschließlich im normativen Horizont der Gleichheit in Betracht, mehr noch, sie basiert ausdrücklich auf dem Gleichheitsprinzip. Zugleich wird mit der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit in Anspruch genommen, das Primat der Gemeinsamkeit, also Integration und auch Inklusion, in theoretischer Hinsicht zu begründen. Es hat sich soeben gezeigt, dass dieser Begründung der entscheidende, direkte Nachweis fehlt. Aus diesem Grund existiert auch kein Beleg dafür, dass mit Heterogenität/Verschiedenheit/Vielfalt wertschätzend, also im integrativen Sinne ‚nichtaussondernd‘, umzugehen ist.

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Im direkten Anschluss an die Kritik der „Zwei-Gruppen-Theorie“ wurde deutlich, dass Hinz Kategorien ausschließlich zur Kritik gesellschaftlicher Missstände, aber nicht mehr in Bezug auf Personen oder Gruppen gerichtet verwendet wissen will. Dieser kategorialen Zuordnung setzt er eine Auffassung entgegen, demnach allen Menschen handelnd, wahrnehmend und denkend nur noch in ihrer individuellen Verschiedenheit bzw. Heterogenität zu begegnen ist. Heterogenität erhält hierdurch also den Status der individuellen Verschiedenheit. Ungeklärt ist bislang allerdings geblieben, wie dieses Ziel anhand der angenommenen Dialektik genau erreicht werden kann und soll. Die Arbeit gelangt mit dieser Frage an einen Punkt, der sowohl das Herzstück der anschließenden Analyse und Kritik als auch den theoretischen Siedepunkt des inklusionspädagogischen Ansatzes bildet. 2.3.3.3 Die „Normalität der Verschiedenheit“ als theoretische Prämisse Vorweg scheint allerdings eine Klärung notwendig und angebracht: Bisher war zwar primär die Rede von der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit, aber diese fiel am Rande immer wieder auch auf den Begriff der Normalität zurück. Dies hat seinen einfachen Grund darin, dass Hinz nicht klar genug herausstellt, worum es ihm mit der Wendung der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit eigentlich geht. Seine klare Zielperspektive, die er an unterschiedlichen Stellen deutlich macht, ist: „Heterogenität ist Normalität – und dies gilt heute mehr denn je.“ (Hinz 2002: 367; vgl. Boban/Hinz 2003a: 39) Diese Wendung stellt die positive Übersetzung des Ziels der Überwindung des Andersseins dar. Angestrebt ist also, dass Heterogenität/Verschiedenheit Normalität wird: Ziel ist die Normalität der Heterogenität/Verschiedenheit. Von der Gleichheit ist hierin ersichtlich keine Rede mehr. 14 Zwar nimmt auch Hinz in seinem Ergänzungsmodell die „Gleichheit und Differenz“ (vgl. Hinz 2004: 61) bzw. die „Verschiedenheit und Gleichheit“ (vgl. Hinz 1993: 399) als anthropologische Grundlage an und erklärt die „egalitäre Differenz“ (vgl. Hinz 2004: 61) bzw. die „Förderung der Verschiedenheit in Gemeinsamkeit“ (vgl. Hinz 1993: 399) zum Ziel von Unterricht. Er verfolgt mit dieser Dialektik aber eine Absicht, die über die bloße Anerkennung der „egalitären Differenz“ – und insofern auch über Prengel – hinausweist; dieses Ziel besteht eben darin, dass Heterogenität zur Normalität wird. Anders gesagt: Nicht die Anerkennung, sondern die Überwindung des Andersseins ist das erklärte Ziel. Hiervon ist in Prengels Verständnis der „egalitären Differenz“ nicht die Rede. Zwar definiert sie diese Prämis14 Auf eine Differenzierung und Erörterung der voraussetzungsvollen Begriffe Gleichheit und Normalität hofft man bei Hinz vergebens. Eine solche kann auch hier nicht umfänglich geliefert werden. Der Begriff der Normalität wird im Verlaufe der Ausführungen jedoch noch eine Differenzierung erfahren.

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se als „grundlegende […] Idee der Pädagogik der Vielfalt, die ein nichthierarchisches, freiheitliches und entwicklungsoffenes Miteinander der Verschiedenen anstrebt“ (Prengel 2001: 96). Den Versuch, das Theorem der egalitären Differenz „auf das populäre Motto, ‚es ist normal, verschieden zu sein‘ […]“ (Prengel 2005: 26) zu reduzieren – und damit auf den Begriff der Normalität – sieht sie jedoch insofern kritisch, als mit einer radikalen Reduktion des Umgangs mit Heterogenität auf dieses Motto „ein Ausblenden von verbindlichen Normen, Formen, Hierarchien und Begrenztheit sowie von kulturellen Traditionen einher [geht]“ (ebd.).15 Dass genau dies und noch mehr bei Hinz nicht nur eintritt, sondern zielgerichtet angestrebt wird, ist im Folgenden zu zeigen. Eben hierin besteht auch der Unterschied der Inklusionstheorie gegenüber der Integrationstheorie. Hinz instrumentalisiert die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit, um zu seinem eigenen Ziel der „Normalität der Verschiedenheit“ bzw. der Überwindung des Andersseins zu gelangen. Um dies zu zeigen, ist nochmals ein Rückgriff auf die drei Modelle zu den Umgangsstrategien mit Heterogenität in der Schule notwendig. Ihre Erörterung erfahren die Grundlagen der „Verschiedenheit und Gleichheit“ sowie das Ziel der „egalitären Differenz“ im von Hinz favorisierten Ergänzungsmodell in der Ablehnung des Separierungs- und Anpassungsmodells: Das Separierungsmodell geht in der einseitigen Orientierung an der Verschiedenheit von der Andersartigkeit des ‚Behinderten‘ aus; im Anpassungsmodell dominiert hingegen die Gleichheit, „der zufolge die allgemeine Normalität das Verbindliche darstellt“ (Hinz 2004: 59). Die einseitige Orientierung an der Verschiedenheit hat also die Andersartigkeit (des ‚Behinderten‘, des Kulturellen, des Geschlechts etc.), die einseitige Orientierung an der Gleichheit die der allgemeinen Normalität (des ‚Nichtbehinderten‘, Deutschen, der männlichen Logik etc.) zur „anthropologischen Grundlage“. Verschiedenheit und Andersartigkeit sowie Gleichheit und Normalität werden anhand dieser Aussagen in einen unmittelbaren Zusammenhang gerückt. Darüber, weshalb diese Verbindung jeweils genau besteht, erfährt man bei Hinz selbst wenig. Es sind ganz einfach nicht weiter begründete Annahmen. Und wenn es eine direkte Begründung gäbe, die über eine bloße Verknüpfung hinausginge, so wird diese jedenfalls nicht klar benannt. Um zu einem angemessenen, dialektischen Umgang mit Verschiedenheit und Gleichheit zu gelangen, ist es der Logik dieser Modellbeschreibungen nach erforderlich, die den beiden Polen zugeordneten Grundlagen der Andersartigkeit und der Normalität zu überwinden. Denn warum sollte nur die Grundlage der Andersartigkeit bzw. das Anderssein überwunden werden (Separierungsmodell), was, wie gesehen, ein explizites Anliegen des inklusionspädagogischen Ansatzes darstellt, und nicht auch die Grundlage der Normalität (Anpassungsmodell)? Für diese These 15 Hieraus könnte nach Prengel „ein Mangel an Chancengleichheit entstehen“ (Prengel 2005: 26).

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spricht außerdem, dass die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit die Grundlagen oder Annahmen der Andersartigkeit und Normalität im Ergänzungsmodell als ‚neue‘ Grundlage ersetzt (vgl. Hinz 1993: 399; 2004: 61). Das Ziel des Umgangs mit Heterogenität, worin diese gleichsam ihre theoretische Bestimmung findet, drückt sich nun aber bekanntermaßen im Slogan der Normalität der Heterogenität/Verschiedenheit aus. Man könnte daher meinen, hier läge insofern ein Widerspruch vor, als Normalität als Grundlage des Umgangs mit Heterogenität (Anpassungsmodell) zu überwinden ist, wobei Heterogenität doch zugleich Normalität ist bzw. werden soll. So einfach, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, verhält es sich also nicht mit der Normalität. Heterogenität soll sogar explizit Normalität werden, die jedoch zugleich zu überwinden ist. Dass jedoch genau hierin, in der Aussage „Heterogenität ist Normalität“, die Überwindung jeglicher Normalität liegt, gilt es im Folgenden zu zeigen. Der anklingende Widerspruch ist also letztlich keiner. Hier nützt auch der Behelf nichts, sich auf eine „allgemeine Normalität“ (vgl. Hinz 2004: 59) oder einen „allgemeingültigen Maßstab“ (vgl. Hinz 1993: 398) zurückzuziehen, was als Grundlage des einseitigen Umgangs mit Gleichheit angenommen wird. Denn die anvisierte Veränderung der Normalität ist weder eine marginale noch eine gravierende Veränderung, sondern sie bringt die Normalität völlig zum Erliegen. Die theoretische Bestimmung von Heterogenität und dem Umgang mit ihr führt durch die Aussage „Heterogenität ist Normalität“ also nur über den Weg, dass auch die Sichtweise auf Normalität genauer untersucht werden muss. Hierzu ist es hilfreich, sich erst einmal anzusehen, warum es überhaupt zu der Aussage „Heterogenität ist Normalität“ kommt. Hinz nimmt an, dass es so etwas wie eine deskriptive Gleichheit und deskriptive Verschiedenheit gibt. Diese deskriptive Ausgangslage beschreibt er wie folgt: „Alle sind gleich beispielsweise in bürgerlichen Rechten, in dem Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, in den Grundbedürfnissen der Versorgung, auch z.B. in der Unvollkommenheit in diversen Bereichen. Gleichzeitig sind alle verschieden, in ihren Fähigkeiten, Vorlieben, Eigenschaften, Ängste [sic!], Attraktivität, Stärken und Schwächen oder anderem.“ (Ebd.: 44)

Für die weitere Argumentation ist es unerheblich, ob die deskriptive Gleichheit und deskriptive Verschiedenheit hiermit jeweils zutreffend charakterisiert ist oder ob diese Beschreibung bereits präskriptive Elemente enthält; diese Ausgangslage wird durch die Beschreibung von Hinz einfach als deskriptiv vorausgesetzt. Sowohl der bisherige einseitige Umgang mit der deskriptiven Verschiedenheit, demnach die Annahme der Andersartigkeit zur Aussonderung führe als auch der einseitige Umgang mit der deskriptiven Gleichheit, demnach die Annahme der allgemeinen Normalität zur „ignorierenden Toleranz“ oder zur Anpassung führe (vgl. Hinz 2004: 59f.), werden als defizitäre Umgangsweisen mit Heterogenität abgelehnt. Die präskriptiven Annahmen der Andersartigkeit und Normalität, die dem Umgang mit

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Verschiedenheit und Gleichheit jeweils zugrunde liegen würden, müssten also beide verändert werden, so dass ein anderer Umgang mit Heterogenität insgesamt möglich würde. Die veränderte und neue Präskription für diesen Umgang findet ihre Bestimmung im dialektischen Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit bzw. in der Wendung der egalitären Differenz, die Hinz als Normalität der Heterogenität verstanden wissen will (vgl. u.a. Hinz 2002: 357; Boban/Hinz 2003a: 39). Diese neue Präskription tritt also deswegen auf, weil die alten Präskriptionen als defizitäre Umgangsweisen mit Heterogenität betrachtet werden. Obwohl die Aussage „Heterogenität ist Normalität“ vorgibt, eine deskriptive Beschreibung der Wirklichkeit zu sein, ist sie zunächst rein präskriptiv zu verstehen, als neue handlungsleitende Regel für den wahrnehmenden, denkenden und handelnden Umgang mit Heterogenität. Korrekt müsste es daher heißen: Heterogenität soll Normalität werden. Erst dann, wenn dieser Zustand – der Inklusion – erreicht ist, würde diese Aussage als deskriptive Beschreibung der Wirklichkeit fungieren können. Insbesondere die Tatsache, dass Hinz der Inklusion „immer auch eine visionäre Dimension […]“ (Hinz 2010a: 34) zuschreibt, bringt zum Ausdruck, dass es sich hierbei um einen Zustand handelt, der, wenn auch noch nicht und nie ganz zu erreichen, doch möglichst erreicht werden soll. Der Satz „Heterogenität ist Normalität“ ist daher (noch) keine deskriptive Beschreibung der aktuellen Wirklichkeit, sondern eine normative Aussage darüber, welcher Zustand aus inklusionistischer Sicht als erstrebenswert erachtet wird. Dieser zu erreichende Zustand wird nun sogleich anhand der Klärung des Verhältnisses von Normalität und Verschiedenheit genauer beschrieben. Zuvor kommt man nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass es sich beim Zustandekommen der neuen Präskription der „Normalität der Verschiedenheit“ genau so verhält, wie bereits bei der Präskription des Primats der Gemeinsamkeit. Auch bei der normativ-präskriptiven Setzung der „Normalität der Verschiedenheit“ wird eine bestimmte Präskription lediglich durch eine andere bestimmte Präskription ersetzt. Das heißt, es werden auch hier keine Gründe dafür vorgelegt, weshalb der Umgang mit den unterstellten deskriptiven Tatsachen der deskriptiven Verschiedenheit und deskriptiven Gleichheit im Sinne der geforderten Präskription genau so und nicht anders ausfallen soll. Vielmehr wird eine bestimmte fungierende und handlungsleitende, implizite Annahme (Andersartigkeit des ‚Behinderten‘ bzw. Normalität des ‚Nichtbehinderten‘) durch eine andere Annahme als neue Verhaltensvorschrift für den Umgang mit der deskriptiven Gleichheit und Verschiedenheit ausgetauscht („Normalität der Verschiedenheit“). Eine direkte Begründung für den geforderten Umgang mit der (deskriptiven) Heterogenität, deren Fehlen bereits für die übergeordneten Zielsetzungen sowie für die Ableitung des Primats der Gemeinsamkeit aus der egalitären Differenz nachgewiesen wurde, bleibt auch bei dieser Zielbestimmung aus. Außer, dass die alten Präskriptionen als defizitär beurteilt werden, wird nicht gesagt, weshalb die neue, geforderte Umgangsweise der deskriptiven Heterogenität besser entspricht und warum man ihr deshalb folgen sollte.

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Hierbei ist noch gar nichts darüber ausgesagt, dass das Gelingen dieses Vorgehens eine subjektivistische und konstruktivistische Auffassung unterstellt, so, als ob wir fungierende und habitualisierte Sicht- und Handlungsweisen beliebig austauschen und zwischen ihnen hin und her wechseln könnten. Doch zurück zur Aussage „Heterogenität ist Normalität“. Sie soll als neue, präskriptive Leitvorstellung für den Umgang mit Heterogenität fungieren und eine andere Sichtweise auf das Anderssein und die Normalität ermöglichen. Betrachten wir zunächst einmal, welche Sichtweise Hinz auf das Anderssein und damit auf den Umgang mit Heterogenität/Verschiedenheit einnimmt. Er macht dies, wie notwendigerweise bereits mehrfach betont, deutlich, wenn er die integrative Praxis dahingehend kritisiert, dass diese das Anderssein nicht überwunden habe. Die Schwierigkeit seiner Argumentation besteht auf dieser Seite darin, dass er das Anderssein und die Verschiedenheit/Heterogenität im Separierungsmodell in einen unmittelbaren Zusammenhang rückt, was leicht zu Verwechslungen führen kann. Wichtig zu sehen ist, dass er beide Begriffe nicht gleichsetzt, sondern einen Umgang mit der vorausgesetzten (deskriptiven) Verschiedenheit kritisiert, der das Anderssein nicht überwindet. Nicht die Verschiedenheit selbst, sondern das Anderssein, der Umgang mit ihr, ist also zu überwinden. Anders gesagt: Der bisherige normativ-wertende Umgang mit der deskriptiven Verschiedenheit ist Hinz zufolge zu kritisieren und zu überwinden. Der Umgang mit ihr soll sich buchstäblich normalisieren; die Überwindung des Andersseins besteht in der Wertschätzung der Verschiedenheit, und zwar so, dass diese Verschiedenheit normal wird. Nicht mehr das Anderssein der Verschiedenheit, sondern deren Normalität wird zur neuen, wahrnehmungs-, denkund handlungsleitenden Regel. An die Stelle des normativen Andersseins tritt also die Kategorie der Normalität. Es gibt dann keine andere Verschiedenheit mehr, sondern nur noch eine normale Verschiedenheit.16 Die Normalität ist die einzige noch zulässige Norm im Umgang mit Verschiedenheit. Das heißt: Indem Verschiedenheit als Deskription normal wird, soll dem Umgang mit Verschiedenheit jegliche Normativität genommen werden, die sich abseits der Kategorie der Normalität bewegt. Anders gesagt: Die Verschiedenheit normalisiert sich soweit, dass sie nur noch als eine deskriptive Tatsache, als bloß naturgegebenes Faktum, in Erscheinung tritt. Jegliche normativen Beurteilungen oder Wertungen im wahrnehmenden, denkenden und handelnden Umgang mit deskriptiver Verschiedenheit sollen durch deren Definition als normal ausgeschlossen sein. Zielgröße ist die Verschiedenheit ohne jegliches Anderssein, ihre deskriptive Normalität. Damit ist zwar klar, welche Bestimmung Verschiedenheit/Heterogenität in der Aussage „Heterogenität/Verschiedenheit ist Normalität“ erfährt (deskriptiv) und welcher Umgang mit ihr angestrebt ist (nicht-normativer Umgang). Wenn sich die 16 Die Übereinstimmung der folgenden Ausführungen mit der Sichtweise auf Heterogenität als ‚individuelle Verschiedenheit‘ wird im Anschluss überprüft (vgl. 2.3.4.2).

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Verschiedenheit über die Normalität definiert, dann müssen aber auch Aussagen dazu getroffen werden, wie die Normalität selbst verstanden wird. Was bedeutet die Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“, die Bestimmung der Verschiedenheit als Normalität, für die Bezugsgröße der Normalität selbst? Die Beantwortung dieser Frage ermöglicht sodann, dass die Verschiedenheit/Heterogenität und der Umgang mit ihr nochmals genauer zu bestimmen ist. Die Frage nach der Bedeutung der Aussage „Heterogenität ist Normalität“ für die Normalität muss unter der Voraussetzung betrachtet werden, dass die Normalität, wie gesehen, als bisherige Strategie im Umgang mit Heterogenität explizit abgelehnt wird. Indem sie durch die Bestimmung der Heterogenität/Verschiedenheit als Normalität aber als Bezugsgröße zugleich beibehalten wird, spricht zunächst alles dafür, dass sie nicht wie das Anderssein überwunden, aber offensichtlich verändert werden soll. Entscheidend für ihre theoretische Bestimmung ist, wie diese Veränderung ausfällt und ob es durch diese anvisierte, bestimmte Veränderung wirklich bei einer bloßen Veränderung der Normalität bleibt oder diese Veränderung nicht vielmehr doch ihre Überwindung bedeutet. Anders formuliert: Handelt es sich in der Aussage „Heterogenität/Verschiedenheit ist Normalität“ bei der Kategorie der Normalität noch um eine Normalität, der notwendigerweise bestimmte Normen vorausgesetzt sind, damit sie überhaupt als Normalität auftreten kann oder um eine Normalität ohne Normen, was ihre eigene Neutralisierung, ihre eigene Aufhebung bedeuten würde? Im Anschluss an die Überlegungen zur Bestimmung der Verschiedenheit ist folglich zunächst festzustellen, dass die Normalität als einzige Norm oder Bezugsgröße für den Umgang mit Verschiedenheit vorgesehen ist. Sie wird also insofern präskriptiv verstanden, als sie eine bzw. die wahrnehmungs-, denk- und handlungsleitende Regel für den Umgang mit Verschiedenheit ist. Nun muss aber zugleich daran erinnert werden, dass die Normalität in ihrer bisherigen präskriptiven Verwendung abgelehnt wird. Unter der Sichtweise einer „allgemeinen Normalität“ habe sie sich bisher einseitig auf die „Normalität des Nichtbehinderten“, die „Normalität des Deutschen“, die „Normalität der männlichen Logik“ etc. bezogen, im Sinne von Hinz also auf die „Gleichheit“ (vgl. Hinz 2004: 59). Die Aussage „Heterogenität/Verschiedenheit ist Normalität“ zeigt an, dass die Normalität von nun an nicht mehr auf die Gleichheit ausgerichtet ist, sondern sie sich insofern auf die Verschiedenheit beziehen soll, als diese normal wird. Die Veränderung der Sichtweise auf Normalität besteht also zunächst darin, dass die Normalität nicht mehr durch die Gleichheit bzw. eine „allgemeine Normalität“ (des ‚Nichtbehinderten‘ etc.) bestimmt ist, sondern durch die Verschiedenheit, die selbst normal werden soll. Indem Verschiedenheit normal werden soll, bleibt die übergeordnete Zielgröße der Normalität (vormals das Primat der Gleichheit) bestehen, nur handelt es sich hierbei um eine andere Normalität als zuvor. In der Aussage „Heterogenität/Verschiedenheit ist Normalität“ kommt es demzufolge zu einer wechselseitigen Verschränkung von Normalität und Verschieden-

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heit, ohne die sich beide Seiten nicht verstehen lassen: Einerseits ist die Verschiedenheit durch die Normalität bestimmt, indem diese als einzig zulässige präskriptive Regel für den Umgang mit ihr auftritt; andererseits ist die Normalität und der Umgang mit ihr zugleich insofern durch die Verschiedenheit bestimmt, als sie sich nur noch auf die deskriptive Verschiedenheit beziehen sollen. Wenn die Normalität auf diese Weise durch die Verschiedenheit bestimmt ist, dann ist für sie entscheidend, wie Verschiedenheit verstanden wird. Wie gesehen, handelt es sich bei der Verschiedenheit nicht mehr um eine andere Verschiedenheit, sondern um eine normale Verschiedenheit, also um ein bloßes deskriptives Faktum. Für die Normalität bedeutet dies zunächst, dass sie von nun an durch eine Verschiedenheit ohne Anderssein oder eine „Normalität der Verschiedenheit“ bestimmt ist; sie kennt nur noch einen einzigen Maßstab, den der allgemeinen, deskriptiven Verschiedenheit. Indem die Normalität zugleich als handlungsleitende Regel für den Umgang mit Verschiedenheit fungiert, ist dieser allgemeine Maßstab der deskriptiven Verschiedenheit die einzig zulässige Umgangsweise mit Verschiedenheit. Die Verschränkung von Normalität und Verschiedenheit besteht also darin, dass die anvisierte Vorstellung von Normalität durch die Verschiedenheit ohne Anderssein bestimmt ist und in dieser Definition und Beschränkung zugleich den Umgang mit Verschiedenheit vorgibt. Soweit ist klar: Die so verstandene Normalität zeichnet sich dadurch aus, dass es in und mit ihr nur noch den allgemeinen Maßstab der deskriptiven Verschiedenheit gibt. Noch mehr: Normalität ist der allgemeine Maßstab der deskriptiven Verschiedenheit. Wäre es anders, das heißt, gäbe es unterschiedliche Maßstäbe (oder Normen), dann bestünde abermals die ‚Gefahr‘ der normativen Bewertung oder des unterschiedlichen Umgangs mit Verschiedenheit, und damit die ‚Gefahr‘, dass das Anderssein der Verschiedenheit wieder auftaucht. Verschiedenheit käme dann wieder präskriptiv und nicht mehr deskriptiv in den Blick. Was bedeutet nun diese Beschränkung der Normalität auf und ihre Definition durch den allgemeinen Maßstab der deskriptiven Verschiedenheit für sie selbst? Kurzum: Wir haben es hier mit einer Normalität ohne Normen zu tun, was letztlich zu der komplexen Denkfigur einer Normalität ohne Normalität führt. Hiergegen ließe sich einwenden, dass es doch eine Norm oder einen Maßstab der Normalität gibt, nämlich den der allgemeinen, deskriptiven Verschiedenheit. Doch was wäre das für eine Normalität, die nur noch den einzigen Maßstab einer allgemeinen Verschiedenheit kennt? Es wäre eine Normalität, in der es keinerlei Abweichungen mehr gäbe, eine Normalität, die grenzenlos wäre. Denn wenn es normal ist, verschieden zu sein, gäbe es nichts mehr, von dem etwas oder jemand abweichen könnte. Der Maßstab der allgemeinen oder normalen Verschiedenheit lässt ganz einfach keine Abweichungen mehr zu. Wenn es aber nichts mehr gibt, das abweichen kann, dann gibt es auch keine Normalität mehr, die notwendigerweise auf eine Scheidung in Normales und Anomales angewiesen ist, um als solche

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überhaupt hervortreten zu können (vgl. Waldenfels 2008: 16). Der Satz „Heterogenität/Verschiedenheit ist Normalität“ zielt also letztlich auf die Überwindung der Normalität als solcher, indem er ihre völlige Entgrenzung bedeutet. Wie die Verschiedenheit wird auch die Normalität durch ihre Definition als allgemeine Verschiedenheit selbst nur noch als deskriptives Faktum verstanden; sie fungiert hier als Normalität ohne Norm bzw. mit der ausschließlichen Norm der allgemeinen, deskriptiven Verschiedenheit. Durch das Fehlen einer Referenznorm wird die Rede von der Normalität jedoch sinnlos, weshalb bestenfalls noch von einer Normalität ohne Normalität gesprochen werden kann. In einem letzten Schritt ist es nun möglich, von hier ausgehend nach der Bedeutung dieser Definition der Normalität für die Heterogenität/Verschiedenheit und den Umgang mit ihr rückzufragen. Zunächst: Ändert sich hierdurch für die Verschiedenheit selbst irgendetwas in ihrer bisherigen Bestimmung als deskriptive Verschiedenheit? Um diesen Gedanken nochmals aufzugreifen: An die Stelle des bisherigen Umgangs mit Verschiedenheit, der das Anderssein nicht überwunden habe, tritt die Kategorie der Normalität; Verschiedenheit soll nur noch in ihrer deskriptiven Bedeutung wahrgenommen werden, sprich, sie ist einfach vorhanden, ohne dass dieses Vorhandensein eine irgendwie normativ gerichtete Aufladung erhält. Da Heterogenität/Verschiedenheit jedoch zugleich selbst Normalität werden soll, bedeutet dies nach der Definition der Normalität: Sie soll zu einer Normalität ohne Normalität werden. Das tut der bisherigen Bestimmung der Verschiedenheit als deskriptiver Verschiedenheit keinen Abbruch; ihr deskriptives Vorhandensein wird durch diese Neudefinition der Normalität also nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Die Definition der Normalität als Normalität ohne Normalität bekräftigt die Bestimmung der Heterogenität als allgemeine, deskriptive Verschiedenheit vielmehr, als dass sie durch sie in Frage gestellt würde. Denn wenn es keine Normalität mehr gibt, dann gibt es nicht nur keine ‚andere Verschiedenheit‘, sondern letztlich nicht einmal mehr eine ‚normale Verschiedenheit‘. Es gibt dann nur noch Verschiedenheit, als allgemeines, deskriptives Vorkommnis. Entscheidendes tut sich aber für den Umgang mit Verschiedenheit durch die Bestimmung der Normalität ohne Normalität. Diese ist die einzig zulässige Norm im Umgang mit Verschiedenheit. Anders gesagt: Der Umgang mit der deskriptiven Verschiedenheit soll sich buchstäblich normalisieren. Indem die Normalität als eine Normalität ohne Norm auftritt, heißt das für den normativen Umgang mit Verschiedenheit, also die Normativität des Umgangs, dass auch dieser Umgang bzw. die Normativität des Umgangs ohne Norm fungieren soll. Die Normativität im Umgang mit Verschiedenheit soll durch seine Normalisierung also überwunden werden: Wir sollen uns der Verschiedenheit nicht mehr wertend zuwenden. Wenn Verschiedenheit selbst normal ist, dann sind bestimmte Normen im Umgang mit ihr nicht mehr notwendig, sondern sie sind dann ganz einfach überflüssig. Der Umgang mit Verschiedenheit hätte sich dann vollkommen normalisiert. Für die deskriptive Ver-

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schiedenheit bedeutet dies übersetzt, dass sie nicht mehr weiter auffällt bzw. überhaupt nicht mehr auffällt, sie hat sich selbst normalisiert, was in der Aussage „Heterogenität soll Normalität werden“ als Zielperspektive deutlich zur Sprache kommt. Dieser Umstand kommt der Überwindung der Verschiedenheit gleich, aber nur in einer bestimmten Hinsicht. Gegen die These der Überwindung von Verschiedenheit spricht zunächst einmal, dass sie auch im Falle des eintretenden Zustandes der Inklusion erhalten bleibt, nur eben „als Normalfall“ (vgl. Sander 2003: 317; 2004: 243). Der Zustand der Inklusion ist dann erreicht, wenn der Begriff selbst überflüssig geworden ist (vgl. ebd.), was dann der Fall ist, wenn „Vielfalt und Heterogenität nichts Außergewöhnliches mehr sind […]“ (Boban/Hinz 2003a: 41). Zwar gestehen Hinz und andere zu, dass dieser erwünschte Zustand einen „visionären Charakter“ habe, dies ändert aber nichts an der geforderten Tatsache, dass eben dieser Zustand als Zielgröße möglichst erreicht werden sollte. Die Aussage „Heterogenität ist Normalität“ strebt also ihre eigene Überwindung an, ihr eigenes Überflüssigwerden. Hierzu kommt es dann, wenn Verschiedenheit normal ist, sie sich normalisiert, sozusagen transzendiert hat. Die Verschiedenheit/Heterogenität wird mit diesen Aussagen also immer noch beibehalten, als angenommener, deskriptiver „Normalfall“. Es lässt sich also immer noch davon sprechen, dass Verschiedenheit als deskriptive, normale Tatsache – als Normalfall – erhalten bleibt. So kann Hinz denn auch nach wie vor grundsätzlich sagen, dass es ihm keineswegs um „die Beseitigung, Ignorierung oder Nivellierung von Verschiedenheit […]“ (Hinz/Köpfer 2016: 38) geht, womit er sich zur Wehr gegen derartige Vorwürfe setzt. Seine Aussage erweist sich nach den Ausführungen jedoch nur insofern als zutreffend, als es sich hierbei um die bloße Feststellung einer rein deskriptiv vorhandenen Verschiedenheit handelt. Der einfache und ungekürzte Vorwurf der Nivellierung von Verschiedenheit trifft so betrachtet also nicht zu. Der Vorwurf der Nivellierung von Verschiedenheit trifft vielmehr ‚nur‘ in einer bestimmten Hinsicht zu. Denn eine solchermaßen verstandene Verschiedenheit, die losgelöst von jeglicher Normativität und Norm fungiert, die sich völlig normalisiert hätte, wäre für uns, ebenso wie die Normalität, nicht mehr wahrnehmbar. Die Feststellung einer bloß deskriptiven Verschiedenheit macht für uns letztlich keinen Sinn, denn sie hätte uns nichts mehr zu sagen, sie würde uns nicht mehr ansprechen können. Denn dazu müsste sie als Verschiedenheit überhaupt erst hervortreten können, sie bräuchte wie die Normalität etwas oder jemand, von dem sie sich zuallererst abhebt und unterscheidet. Ihre völlige Normalisierung verunmöglichte diese Notwendigkeit; die Normalität hat selbst keinen Maßstab mehr. Es kommt also nicht zu einer Nivellierung von Verschiedenheit per se. Vielmehr kommt es zu einer Nivellierung der Erfahrung von Verschiedenheit und damit zu einer Ignoranz dessen, dass uns Verschiedenheit auf unterschiedliche Weise ansprechen und angehen kann, dass Verschiedenheit im Handeln jeweils eine Bedeu-

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tung für uns erlangt. Die angestrebte, absolute Normalisierung der Verschiedenheit würde verunmöglichen, dass wir uns ihr gegenüber auf bestimmte Weise antwortend und handelnd verhalten. Um es in der Sprache von Waldenfels etwas ausführlicher zu sagen: „Daß Ereignisse geformt werden und Typisches von Atypischen gesondert wird, ist eine Unausweichlichkeit. Auf ein konkretes Ereignis oder Ding, an dem alles gleich wichtig wäre, könnte man ebensowenig antworten, wie der Organismus auf keinen Reiz reagieren kann, der nicht nach bestimmten Mustern verarbeitet würde. Ein konkretes Ereignis, das nicht dieser Formung unterworfen würde, wäre weder zu wiederholen noch wiederzuerkennen, es wäre nicht einmal benennbar. Es würde vorbeirauschen wie eine ungewohnte Musik oder eine Rede in einer völlig fremden Sprache; solange sich nicht bestimmte Strukturen und Rekurrenzen herausgebildet haben, hat es für mich keinen Sinn zu sagen, ich habe dieses schon einmal gehört. Es wäre dasselbe, wie wenn ich sagen wollte, ich bin schon einmal in dieses Wasser gestiegen. […] Eine […] methodisch nivellierende Außenbetrachtung, die wissenschaftliche Relevanzkriterien ohne Bezug auf den Redenden und Handelnden anlegt, kann der empirischen Überprüfung von Rede- und Handlungssituationen dienen, deren eigene Kriterien gehen aber auf diese Weise verloren.“ (Waldenfels 1987: 65)

Die bloße Außenbetrachtung von (deskriptiver) Verschiedenheit übersieht und ignoriert deren lebensweltliche Bedeutung, die sie für uns im konkreten Handeln hat. Eine völlige Normalisierung der Verschiedenheit verkennt, dass diese je eigene Kriterien hat, eine spezifische und bedeutsame „Typik“. Anhand eines Beispiels von Waldenfels sei dieser Verlust der lebensweltlichen Perspektive und der Ignoranz gegenüber eigenen Kriterien der Verschiedenheit durch ihre Normalisierung nochmals verdeutlicht: „Es mag eines Tages dahin kommen, daß Schwarzwaldtannen, im Durchschnitt betrachtet, mehr gelbe als grüne Nadeln haben; letztere als atypisch beiseitezusetzen, wird einem Förster kaum einfallen.“ (Ebd.: 65f.) Das Ziel des inklusionspädagogischen Umgangs mit Heterogenität besteht darin, dass wir uns der Verschiedenheit handelnd, wahrnehmend und denkend nicht mehr normativ zuwenden. Das Ziel ist so etwas wie eine „wertfreie Erfahrung“ (vgl. hierzu Wehrle 2010). Diese rein deskriptive Sichtweise auf Heterogenität/Verschiedenheit und der angestrebte, sich normalisierende Umgang mit ihr, stellt das Grundproblem der vorliegenden Arbeit und den Ansatzpunkt der Analyse dar: Die Abkoppelung der Verschiedenheit und des Umgangs mit ihr vom Handeln, die Überwindung der Erfahrung der lebensweltlichen Bedeutung von Verschiedenheit. Das mag sich – notabene – wie die Erörterung eines rein wissenschaftlichen Problems anhören. Dies ist es zwar auch, aber eben nicht nur. Denn dadurch, dass die Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ eine präskriptive Handlungsregel für den Umgang mit Verschiedenheit ist, kann sie immense Konsequenzen haben, sobald sie in das Denken Einzug hält und damit im praktischen Wahrnehmen

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und Handeln virulent wird. Die praktische Bedeutung der Erörterung dieser Problematik ergibt sich also auch aus der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ selbst. 2.3.4 Zusammenführung: Beurteilung der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ Ausgehend von der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit erfährt die Prämisse Prengels der „egalitären Differenz“ bei Hinz eine Aus- und Umdeutung hin zur Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“. Im Anschluss an die Erörterung der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“, die der pädagogischen Inklusionsidee von Hinz zugrunde gelegt wird, lässt sich nun eine Zusammenführung der bisherigen Ausführungen vornehmen. Zunächst gilt es zu prüfen, wie sich diese Theorie zu den übergeordneten Zielsetzungen des inklusionspädagogischen Ansatzes verhält. Für die innere Konsistenz dieser Theorie wäre es wichtig, dass beide Seiten, die Zielsetzungen und die theoretische Sichtweise, in einem kongruenten Verhältnis zueinander stehen und die Theorie die Zielsetzungen erklären kann oder ihnen zumindest nicht widerspricht. Anschließend ist die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ hinsichtlich der Übereinstimmung mit den Voraussetzungen der Sichtweise auf Heterogenität zu prüfen. Sowohl die Verwendung von Kategorien, demnach diese nur noch kontext- aber nicht mehr person-oder gruppenbezogen verwendet werden sollen als auch die daraus abgeleitete Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit müssten sich durch die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ erklären lassen. In einem dritten Schritt ist danach zu fragen, ob und inwiefern die Theorie der Inklusion zu einer theoretischen Verschiebung gegenüber der Theorie der Integration führt und wodurch sie sich von einem sogenannten „gemäßigten Inklusionsverständnis“ abhebt. Schließlich werden erste Konsequenzen angedeutet, die sich aus den theoretischen Vorstellungen ergeben und die für die Analyse bedeutsam sind. 2.3.4.1 Beurteilung der Theorie im Hinblick auf die Zielsetzungen Die Zielsetzungen des inklusionspädagogischen Ansatzes wurden anhand der Systematisierung des Umgangs mit Heterogenität auf gesamtgesellschaftlicher (inklusive Gesellschaft), institutioneller (Schule für alle; Primat der Gemeinsamkeit) und intersubjektiver (positive Wertschätzung von Vielfalt bzw. Verschiedenheit) Ebene beschrieben. Bei der Suche nach Begründungsleistungen dieser Zielsetzungen hat sich herausgestellt, dass direkte Begründungen ausbleiben und auch eine rechtsbasierte Begründung aus unterschiedlichen Gründen nicht überzeugen kann. Ebenso wurde bereits thematisiert, dass auch die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ keine Begründung dieser Zielsetzungen ermöglichen kann. Dies liegt daran,

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dass sie selbst bereits eine normative Aussage darüber ist, welche Wirklichkeit anzustreben ist („Es soll normal werden, verschieden zu sein“) und dass sie zugleich als präskriptive, allgemeingültige Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsregel für den Umgang mit Verschiedenheit auftritt. Sie ist demnach wie die Pädagogik der Vielfalt von Prengel eine voreingenommene Konzeption, deren Zielsetzungen a priori feststehen (vgl. Liesen 2006: 233). Wenn die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ die Zielsetzungen unter diesen Voraussetzungen zwar nicht begründen kann, so müsste sie diese zumindest erklären können. Sie müsste sagen können, dass die Zielsetzungen genau so ausfallen und nicht anders. Das heißt, die Theorie dürfte ihren eigenen Zielsetzungen nicht widersprechen, da sie sich andernfalls unglaubwürdig machen würde und ihre Plausibilität in Zweifel gezogen wäre. Dies wird nun im Einzelnen geprüft. Wie verhält sich also die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ als erstes zum übergeordneten Ziel einer inklusiven Gesellschaft, der Annahme einer einzigen, untrennbaren heterogenen Gruppe, in der alle Menschen von vornherein einbezogen sind? Die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ lässt keine Normalität mehr zu bzw. nur noch die Normalität einer allgemeinen, deskriptiven Verschiedenheit, was ihrer eigenen Überwindung gleichkommt. Die Alleingültigkeit dieses Maßstabs oder dieser Norm hat keinen Gegenspieler mehr, der die Normalität als solche erst hervortreten ließe. Infolgedessen sind der Normalität keine Grenzen gesetzt, der Zustand der „Normalität der Verschiedenheit“ stellt ein grenzenloses Ordnungsgefüge dar. In diesem Punkt deckt sich die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ also mit der Zielsetzung oder der Annahme einer inklusiven Gesellschaft. Denn auch die Ordnung der inklusiven Gesellschaft, die untrennbar heterogene Gruppe, hat kein Außen und kein Innen. Indem sie alles und alle umfasst, kennt auch sie keine Grenzen. Alles und jeder ist in ihr einbezogen. Die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ kann mit gar nichts anderem operieren als mit einem grenzenlosen Ordnungsgefüge. Die Einführung unterschiedlicher Maßstäbe oder Normen abseits der allgemeinen Verschiedenheit würden die Verschiedenheit sofort wieder qualitativ einordnen und sie damit in ihrem bloßen deskriptiven Vorhandensein entzaubern. Theorie und Zielsetzung sind in der Annahme einer grenzenlosen Ordnung damit deckungsgleich, sie gehen Hand in Hand. Die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ erklärt in diesem Fall also, weshalb es innerhalb dieses Theoriegebäudes zu der Annahme einer inklusiven Gesellschaft kommen muss. Jedoch werden nach außen hin keine positiven Gründe vorgelegt, warum genau diese Ordnung dem Umgang mit Heterogenität am besten entsprechen soll. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht; von Interesse ist hier vielmehr die innere Konsistenz, verstanden als Widerspruchslosigkeit, sowie die Spezifik der pädagogischen Inklusionsidee. In diesem Fall erweisen sich Zielsetzung und Theorie als konsistent, indem die Spezi-

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fik der Annahme einer untrennbar heterogenen Gruppe in der „Normalität der Verschiedenheit“ ihr theoretisches Pendant findet. Dasselbe gilt auch für den institutionellen Umgang mit Heterogenität, der die institutionelle Gemeinsamkeit zum exklusiven Ziel hat (am Beispiel der Schule: die „Schule für alle“). Auch hier verhalten sich Zielsetzung und Theorie als kongruent zueinander. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem eben Gesagten: Die untrennbare, heterogene Gruppe, die in der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ ihren Widerhall findet, lässt keine Aufteilung in sogenannte gestufte Systeme, wie beispielsweise das von Regel- und Förderschulsystem, zu. Die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ liefert auch hierfür die theoretische Erklärung: Denn wenn es normal ist, verschieden zu sein und nicht mehr feststellbar ist, wo die Normalität anfängt und aufhört, dann kann keine Entscheidung mehr darüber getroffen werden, wer in welches System eingeordnet wird, sprich, wer eine Förder- oder eine Regelschule besucht. Ebenso wenig kann dann noch beurteilt werden, wer für die „einen“ und wer für die „anderen“ Kinder zuständig ist (vgl. Hinz 2002: 357), weil nicht mehr feststellbar ist, wer die „einen“ und wer die „anderen“ Kinder sind. Die Annahme der institutionellen Gemeinsamkeit und die damit einhergehende Überwindung gestufter, institutioneller Strukturen sowie die Forderung nach „Entspezialisierung“ sind die konsequenten Forderungen aus der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“. Unter dieser Prämisse kann die Frage nach bestimmten Strukturen und Zuständigkeiten nicht mehr gestellt werden, da keine Grenzen vorhanden sind, anhand derer sich die Zuteilung zu bestimmten Strukturen und Zuständigkeiten bemessen lassen würden. Begründet sind diese Forderungen nach außen hin damit wiederum nicht, aber die inklusionspädagogische Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ zeigt auf, dass sie innerhalb dieses Theoriegebäudes nur so und nicht anders ausfallen können. Beide Zielsetzungen, die der inklusiven Gesellschaft bzw. der untrennbar heterogenen Gruppe sowie das exklusive Primat der institutionellen Gemeinsamkeit, sind konsequente und in sich stimmige Ableitungen aus dem inklusionstheoretischen Ansatz der „Normalität der Verschiedenheit“. Sie müssen sogar genau so ausfallen, wenn die pädagogische Theorie der Inklusion zugrunde gelegt wird. Dies hat zur Folge, dass sich die diskursive Rede von und über Inklusion auf eben genau diese Zielsetzungen beziehen und ein mit Inklusion begründetes Handeln sich an eben diesen Zielen ausrichten müsste. Diese Tatsache erteilt allen Versuchen eine Absage, die sich unter dem Deckmantel eines sogenannten „gemäßigten“ oder „moderaten“ Inklusionsverständnisses oder unter Berufung auf die UN-BRK als ‚inklusiv‘ verstanden wissen wollen. Es ist nichts irgendwie ‚Inklusives‘ daran, schulische Inklusion nur für bestimmte Schülergruppen in Erwägung zu ziehen, Inklusionsquoten aufzustellen, Förderschulen und andere auf Behinderung spezialisierte Institutionen beizubehalten, sonderpädagogische Professionalität als behinderungsspezifische Angelegenheit zu betrachten, die Bedingungen schulischer Inklu-

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sion für einzelne Förderschwerpunkte empirisch zu untersuchen 17 oder gar den Weg der sogenannten schulischen „Einzelinklusion“ zu gehen. Selbst die Beibehaltung der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik als eine eigenständige Disziplin, die sich mit Behinderung befasst, ist unvereinbar mit der pädagogischen Inklusionsidee. Ebenso wenig ist diese Theorie ein Selbstbedienungsladen, demnach man sich herausgreift, was einem daran gefällt und den Rest ignoriert, beispielsweise, indem man nur die systemische, institutionelle Veränderung aufgreift und für gut befindet und den Rest der Theorie ignoriert. Dies würde die Theorie verzerren und in sich unstimmig werden lassen, ähnlich eines Kippbildes, bei dem man einen bestimmten Aspekt so verändert, dass nur noch eines der beiden Bilder zu erkennen ist. Es ist dann zwar immer noch ein Bild, aber es entspricht nicht mehr einem Kippbild, da die Spezifik und Typik dieses Gefüges zerstört wäre. Dies alles und noch mehr hat nichts mit Inklusion zu tun, wie es ihrem genuinen, theoretischen Verständnis entspricht. Von Interesse ist hier keine normative Bewertung der inklusionspädagogischen Zielsetzungen, sondern allein die Tatsache, dass die wenigen, genannten Punkte etwas anderes meinen, aber nicht Inklusion. Ihre Beachtung mag im Einzelnen noch so wichtig sein, sie aber als inklusiv zu verkaufen ist gerade aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet weder statthaft noch sonderlich überzeugend. Anders als bei den ersten beiden Zielsetzungen verhält es sich nun mit dem intersubjektiven Umgang mit Heterogenität, der die uneingeschränkte und positive Wertschätzung von Vielfalt bzw. Verschiedenheit zum Ziel hat. In diesem Fall ist keine Ableitung dieser Forderung aus der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ möglich. Genau genommen sind hier Zielsetzung und Theorie nicht nur nicht kongruent, sondern die Zielsetzung widerspricht der Theorie in diesem Fall letztlich sogar. Die Verschiedenheit soll durch die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ nur noch als normal ohne normative Bewertung bzw. als bloße Deskription in Erscheinung treten. Sie kann zudem keiner anderen normativen Bewertung mehr zugänglich gemacht werden als der der Normalität. Der Maßstab des Umgangs mit ihr ist die Normalität ohne Normen oder Normativität. Wäre es anders, dann wäre der Umgang mit Verschiedenheit der Beliebigkeit anheim gegeben und das implizierte die ‚Gefahr‘ des Umgangs, der das Anderssein in den Vordergrund stellt. Die Entscheidung dafür, dass sich der Umgang mit Verschiedenheit normalisiert, schließt alle anderen Präskriptionen im Umgang mit ihr aus. Forderungen zum Umgang mit Verschiedenheit, die abseits der Normalisierung dieses Umgangs liegen, sind mit dieser Theorie demnach nicht vereinbar.

17 Dies ist aufgrund der eigenen Mitarbeit an unterschiedlichen Forschungsprojekten, die sich unter anderem eben diese Frage vorgelegt haben, durchaus selbstkritisch zu verstehen.

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Dies ist insofern irritierend, als gerade die Wertschätzung der Verschiedenheit als Ziel ausgerufen wird. Dieses normative Ziel im Umgang mit Verschiedenheit kann mit der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“, die selbst bereits normativ verfasst ist, jedoch nicht erklärt oder aus ihr abgeleitet werden. Das gezeigte Verhältnis von Normalität und Verschiedenheit hat ja geradezu die Entkopplung von Normalität und Normativität zum Ziel, die Loslösung der deskriptiven Verschiedenheit aus ihrer normativen Umklammerung. Genau betrachtet widerspricht dieses hinterrücks eingeführte normative Element der Wertschätzung der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ damit sogar. In jedem Fall trifft es zu, dass mit dieser Prämisse, der Vorentscheidung eines sich normalisierenden Umgangs, die Wertschätzung von Verschiedenheit von vornherein keine Begründung aus der Theorie heraus erfahren kann. Dass Verschiedenheit wertgeschätzt werden soll, stellt daher nichts anderes dar als eine bloße, unbegründete Forderung, die sich noch dazu aus der eigentlichen Theorie heraus nicht ableiten lässt. Ähnlich, wie Liesen dies für Prengels Pädagogik der Vielfalt nachweist (vgl. Liesen 2006: 132ff., 232f.), gilt auch für Hinz’ Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“, dass die Präskription, Verschiedenheit wertzuschätzen, der Theorie als ein übergeordnetes, normatives Prinzip von außen hinzugefügt wird. Auch hier ist es zwar so, dass es sich um eine voreingenommene Konzeption handelt; aber durch eben diese normative Voreingenommenheit macht sich die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ letztlich unglaubwürdig. Dieser Selbstwiderspruch liegt darin begründet, dass die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ einerseits eine Entkoppelung von Normalität und Normativität anstrebt, einen nichtwertenden und sich normalisierenden Umgang mit deskriptiver Verschiedenheit; andererseits entgeht sie dieser von ihr angestrebten, eigenen Forderung gerade dadurch nicht, dass der Umgang mit (deskriptiver) Verschiedenheit durch die normative Forderung ihrer Wertschätzung keinen neutralen, sondern einen wertenden Umgang vorsieht. Würde sich die Präskription der Wertschätzung aus der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ ableiten lassen, dann würde sie sich selbst ad absurdum führen. Aus diesem Grund benötigt die Theorie einen normativen Überbau: die uneingeschränkte Wertschätzung von Vielfalt/Verschiedenheit/Heterogenität. Dieser Überbau stellt damit nichts als ein bloßes Postulat dar, das auch in theoretischer Hinsicht nicht erklärt werden kann. Denn könnte die Theorie dieses Postulat begründen, dann würde sie ihrem eigenen Axiom des sich normalisierenden und nicht-normativen Umgangs mit Verschiedenheit widersprechen. Hinzu kommt das bereits benannte Problem, dass keine überzeugenden Gründe im Sinne einer handlungsleitenden Regel vorgelegt werden, dass Vielfalt überhaupt wertgeschätzt werden soll.

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2.3.4.2 Beurteilung der Theorie im Hinblick auf ihre eigenen Voraussetzungen Ein weiteres Ziel des inklusionspädagogischen Ansatzes liegt im Verzicht auf eine person- oder gruppenbezogene Verwendung von Kategorien, der die Annahme eines untrennbaren Spektrums von Individuen entgegengestellt wird. Diese Voraussetzung der Sichtweise auf Heterogenität als individueller Verschiedenheit wurde bei der Erörterung der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ bisher ausgespart. Es ist daher notwendig, zu prüfen, ob und inwiefern die Forderung des Verzichtes einer person- oder gruppenbezogenen Verwendung von Kategorien und die daraus abgeleitete Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit mit der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ kongruent gehen. Außerdem stellt sich die Frage, ob diese Sichtweise auf Heterogenität der Bestimmung von Heterogenität als allgemeiner, deskriptiver Verschiedenheit nicht sogar widerspricht. Das Postulat der Wertschätzung der Verschiedenheit gibt vor, dass auf (gruppen-)kategoriale Zuordnungen und, damit einhergehend, auf Etikettierungen von Menschen verzichtet wird. Eine solche Vorgehensweise stelle einen Akt der Diskriminierung und Stigmatisierung dar. Um der Vielfalt oder Verschiedenheit wertschätzend zu begegnen, dürfen Kategorien aus inklusionspädagogischer Perspektive also nicht mehr als legitime und fungierende Raster der Wahrnehmung und der Benennung anderer Personen und ihrer Verhaltens- und Ausdrucksweisen verwendet werden, sondern nur noch systembezogen oder zur Kritik gesellschaftlicher Missstände zum Einsatz kommen (vgl. 2.3.3.1). Außer, dass eine person- oder gruppenbezogene Verwendung von Kategorien als diskriminierend und stigmatisierend abgelehnt wird, findet sich auch hier keine direkte Begründung dafür, dass nur der Weg des Verzichtes dieser Verwendung von Kategorien zu einem wertschätzenden Umgang mit Verschiedenheit führen kann. Wie gezeigt (vgl. 2.3.3.2), wird dem Denken, Handeln und Wahrnehmen in gruppenbezogenen Kategorien „die Vorstellung eines ununterteilbaren Spektrums von Individuen entgegengestellt […]“ (Hinz 2008a: 133), „die Idee eines untrennbaren Spektrums individueller Unterschiedlichkeit […]“ (Hinz/Boban 2008: 206). Heterogenität/Verschiedenheit wurde daher im Vorgriff auf die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ als „individuelle Verschiedenheit“ bestimmt. Auch hier interessiert nun die Frage, wie sich die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ zu ihren eigenen Voraussetzungen – der Forderung nach Verzicht auf eine person- oder gruppenbezogene Verwendungsweise von Kategorien und der Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit – verhält. Es zeigt sich, dass beide Voraussetzungen nicht nur kongruent mit der Theorie gehen, sondern diese auf bestimmte Weise radikalisieren oder zuspitzen. Allerdings tun sich in der Rede von Hinz durch ihn selbst bestimmte Widersprüche auf.

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Die Übereinstimmung der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ mit der Forderung nach Verzicht einer person- oder gruppenbezogenen Verwendung von Kategorien liegt auf der Hand. Denn wie sollen solche Kategorien zustande kommen, wenn es normal ist, verschieden zu sein? Wenn der allgemeine Maßstab der Normalität die deskriptive Verschiedenheit ist und die Normalität hierdurch ihre eigene Überwindung anstrebt, dann lässt sich nicht mehr sagen oder feststellen, wer oder was überhaupt als verschieden in Erscheinung tritt. Es lässt sich dann nur noch sagen: Jeder ist verschieden. Für eine Bestimmung des „als“ bräuchte es neben der Verschiedenheit mindestens noch ein weiteres Kriterium, das die Verschiedenheit als solche überhaupt erst als einen Unterschied hervorbringen könnte. Diesen zweiten Bezugspunkt kann es aber nicht mehr geben, wenn sich die Normalität nur noch über den Maßstab der Verschiedenheit selbst definiert. Anders gesagt: Wenn sich Verschiedenheit völlig normalisiert hat, ist sie selbst schon der Maßstab der Normalität. Normalität und Verschiedenheit fallen hier zusammen, sie sind identisch miteinander. Ein Maßstab kann sich aber grundsätzlich nicht in Bezug zu sich selbst setzen. Die völlige Normalisierung der Verschiedenheit bedeutete daher ihre eigene Überwindung, da sie selbst bereits der Maßstab der Normalität ist. Die Deutungsmöglichkeiten der Verschiedenheit, als etwas Verschiedenes aufzutreten, gelingen nicht mehr; hierzu müsste sich das, was als verschieden auftritt, von etwas anderem unterscheiden, das heißt, es dürfte nicht mit sich selbst identisch sein. Etwas ist nur verschieden in Bezug auf etwas anderes. Wenn sich Verschiedenheit aber normalisiert hat – sie also selbst bereits zur Normalität geworden ist – ist sie selbst der Maßstab der Normalität, sie wäre mit sich selbst identisch. Es gäbe nichts mehr, von dem sich die Verschiedenheit in ihrer Normalität unterscheiden könnte. Übrig bleibt nur die Aussage: Jeder ist verschieden, oder: Jeder ist normal verschieden. Diese Aussage macht zwar inhaltlich betrachtet letztlich keinen Sinn, weil nichts mehr über die Verschiedenheit selbst ausgesagt werden kann. Genau das ist aber das Anliegen der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“, da wir uns der Verschiedenheit gegenüber nicht mehr normativ-wertend zuwenden sollen. Die Forderung nach Verzicht auf die Verwendung person- oder gruppenbezogenen Kategorien erklärt sich genau hierdurch, in der Verunmöglichung der Bestimmung der Verschiedenheit als Verschiedenheit, oder genauer: als Unterschiedlichkeit. Eine Kategorisierung ist nicht mehr möglich, da nicht mehr feststellbar ist, wer oder was überhaupt als verschieden in Erscheinung tritt. Es gibt nur noch eine allgemeine Verschiedenheit, die für uns dadurch letztlich keine mehr ist. Der Verschiedenheit würde hier, gestalttheoretisch gesprochen, wie der Figur der Grund fehlen, den sie aber benötigte, um als Figur überhaupt erst hervortreten zu können, indem sie sich von ihm abhebt. Verschiedenheit ist als solche daher im besten Fall noch deskriptiv vorhanden, sie lässt sich aber nicht mehr als Verschiedenheit im Sinne von Unterschiedlichkeit bestimmen und wahrnehmen. Jeder und jede wäre nicht mehr „anders“ oder „anders verschieden“, sondern nur noch „verschieden“ oder „normal

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verschieden“; er oder sie unterscheidet sich in diesem Fall nicht mehr vom Anderen. Diese Differenz von Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit deutet sich auch sprachlich an: Während etwas von etwas anderem verschieden ist bzw. durch einen Vergleich hergestellt wird, unterscheidet sich etwas von etwas anderem. Läuft die bloße Verschiedenheit der Unterschiedlichkeit den Rang ab, dann kann etwas oder jemand nicht mehr als etwas oder als jemand wahrgenommen und benannt werden. Es ist daher nicht nur nicht mehr möglich, jemanden als behindert oder nichtbehindert, als Mann oder Frau, als Deutschen oder Ausländer etc. zu kategorisieren, sondern ihn oder sie solchermaßen auch wahrzunehmen. Ausgeschaltet wird damit zugleich, dass wir jemanden als fremd wahrnehmen, dass uns der oder die Andere in seiner oder ihrer Fremdheit beunruhigt, indem er uns beispielsweise ängstigt oder anzieht. Überblendet wird damit, kurzum, die lebensweltliche Erfahrung von Verschiedenheit. Dies alles ist aber das explizite Ziel der theoretischen Überlegungen von Hinz. Die hoffnungsvolle Zielformulierung, dass mit Inklusion Unterschiede als selbstverständlich angesehen werden und sich die Grenzen verwischen (vgl. Feyerer 2003: 10), macht demnach, konsequent betrachtet, keinen Sinn. Die Grenzen „verwischen“ sich aufgrund des eben Gesagten nicht nur, sondern sie sind theoretisch gesehen ganz einfach nicht mehr vorhanden. Ohne diese Grenzen existieren auch keine Unterschiede mehr, sondern nur noch die bloße Verschiedenheit; Unterschiede, wie es so oft heißt, können deshalb auch nicht mehr als „selbstverständlich“ angesehen werden. Ebenso ist dann nicht mehr nur „pädagogisch“ – was immer dies in diesem Fall auch heißen mag – „nicht mehr feststellbar, wo […] ‚das deutsche Kind‘ endet und ‚das ausländische Kind‘ beginnt, wo ‚die weibliche Rolle‘ endet und die ‚männliche‘ beginnt oder wo der Beginn von […] anderem ‚Anderssein‘ auszumachen wäre“ (Hinz 2002: 357); das alles ist durch die Grenzauflösungen überhaupt nicht mehr „feststellbar“, nicht wahrnehmend und daher auch nicht sprachlich. Die Unterschiede mutieren zur bloßen Verschiedenheit. Hinz versucht im Anschluss an die Kritik der „Zwei-Gruppen-Theorie“ mit Inklusion, alle Heterogenitätsdimensionen – „Fähigkeiten, Geschlechterrollen, Herkünfte, Erstsprachen, ‚races‘ im Sinne von Hautfarben, ‚classes‘ als soziale Milieus, Religionen, sexuelle Orientierungen, körperliche Bedingungen und andere Aspekte“ (Hinz 2015: 69) – „in einen Gesamtzusammenhang“ zu bringen (vgl. ebd.). „Menschen mit Behinderungen“, so heißt es wörtlich, „sind somit in diesem großen Rahmen enthalten […]“ (Hinz 2006a: 98); auch an anderer Stelle spricht Hinz von „Menschen mit elementaren Unterstützungsbedürfnissen“ (vgl. Hinz 2007a: 18ff.), „die als ‚harter Kern‘ der größten Gefahr der Marginalisierung und des Ausschlusses aus allgemeinen Zusammenhängen ausgesetzt sind“ (ebd.: 37). Den Widerspruch zu seinem eigenen Anliegen, die Forderung nach Verzicht auf die diskriminierende Verwendung von person- oder gruppenbezogenen Kategorien, sieht er zwar selbst, indem er feststellt, dass der Begriff „Menschen mit elementaren Unter-

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stützungsbedürfnissen“ „als Zuschreibung wiederum eine Gruppe von Menschen von anderen [trennt] […]“ (ebd.), was „dem Anliegen und dem Anspruch von Inklusion [widerspricht]“ (ebd.). Wie auch Lee daher schlüssig feststellt, entkommt Hinz diesem Grunddilemma aber nicht, indem er diese gruppenbezogenen Kategorien selbst beibehält (vgl. Lee 2012: 78). Hinz versucht, diesen Widerspruch an unterschiedlichen Stellen dadurch zu lösen, mit Inklusion alle Dimensionen von Heterogenität in einen „Gesamtzusammenhang zu bringen“: „Das Konzept der Inklusion versteht sich […] als eine allgemeine Pädagogik, die es mit einer einzigen untrennbar heterogenen Gruppe zu tun hat. In ihr sind unterschiedlichste Dimensionen von Heterogenität vorhanden.“ (Hinz 2002: 357) Mit dieser Zusammenführung der Heterogenitätsdimensionen sollen gruppenbezogene Zuschreibungen obsolet werden (vgl. u.a. Hinz/Boban 2008: 206): „Nicht ‚nur‘ Menschen mit Behinderungen, sondern eben ‚alle‘ anderen auch müssen ins Blickfeld rücken, damit sich Menschen mit Behinderungen nicht abheben.“ (Lee 2012: 110) Das Problem ist nun aber nicht nur, dass auch die teils umständlichen Umschreibungen der zu vermeidenden Kategorien (Behinderung, Mann, Frau etc.) eben nur Umschreibungen der Kategorien sind und die Rede von Heterogenitätsdimensionen offenbar nicht ohne eine Benennung des zu Bezeichnenden auskommt. Das Problem besteht vielmehr darin, dass diese einzelnen Dimensionen von Heterogenität unter den Voraussetzungen der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ als Dimensionen gar nicht mehr benannt werden können. Indem alle nur noch verschieden sind, gibt es keine Dimension im Plural mehr, sondern nur noch eine Dimension im Singular, die der allgemeinen Verschiedenheit, die keine Unterschiedlichkeit mehr kennen kann. Um die Zweifel zu beseitigen, „dass Inklusion also doch auf bestimmte Personengruppen fokussiert sein könnte, es also doch partikulare und gruppenkategorial ausgerichtete Anteile des inklusiven Fokus’ [sic!] geben könnte“ (Hinz/Boban 2008: 207), bezieht sich Hinz auf Booth, dem er zur Überwindung dieser Zweifel eine schlüssige Antwort unterstellt: „However, the dividing of learners vulnerable to barriers for learning and participation into groups has dangers when this separation continues for policy and intervention purposes […]“ (ebd.). Das ‚Argument‘ von Hinz ist nun das Folgende: „Wie so oft führt das spezifische Und weiter als das Entweder-Oder: So lange es um die gesellschaftliche Analyse von Marginalisierungserfahrungen geht, ist es nicht nur legitim, sondern geboten, in Gruppenkategorien zu denken und mit ihnen zu arbeiten.“ (Ebd.) Zwar will Hinz hiermit die bereits bekannte Strategie deutlich machen, Kategorien auf Kontexte zu beziehen bzw. diese nur noch zur Analyse gesellschaftlicher Missstände einzusetzen. Warum aber sollte diese heuristische Trennung ein Argument dafür sein, die Zweifel zu beseitigen, dass Inklusion „doch auf bestimmte Personengruppen fokussiert sein könnte“? Auch bei mehrmaliger Betrachtung ist hier keine Argumentation erkennbar. Die Rede ist nur davon, wie Kategorien zu verwenden sind. Warum diese Verwendung

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aber den genannten Zweifel ausräumen soll, ist nicht ersichtlich. Es ist und bleibt einfach eine Behauptung und kein Argument. Zudem tritt anhand der beabsichtigten heuristischen Trennung, Kategorien nicht mehr person- oder gruppenbezogen zu verwenden, sondern nur zur Analyse von Marginalisierungserfahrungen, der eben angesprochene Widerspruch zu den eigenen theoretischen Überlegungen deutlich zu Tage. Denn die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ erreicht als Präskription für den Umgang mit Unterschieden bzw. Verschiedenheit – Hinz verwendet diese beiden Begriffe unsortiert – die Überwindung der Kategorien in der Theorie, sie ist explizit darauf angelegt. Wenn die Kategorien aber mit dieser Theorie auch auf der Ebene der Wahrnehmung überwunden sind: Woher sollen die Gruppenkategorien, die nach Hinz zur Kritik gesellschaftlicher Missstände sogar explizit eingesetzt werden müssen, dann noch kommen? Wenn die Theorie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden soll, gruppenbezogene Kategorien perzeptiv und damit auch sprachlich zu überwinden: Wie können sie dann gleichzeitig noch zur Kritik beibehalten werden? Es ist zwar interessant, dass Hinz hier das „Und“ dem „Entweder-Oder“ vorzieht; seine eigene Theorie jedoch lässt nur das „Entweder-Oder“ zu. Entweder müsste daher die komplette Theorie verändert werden, so dass Kategorien auch mit der Theorie möglich werden und daraufhin als grundsätzlich zulässig erscheinen oder es müsste auf das bloße Hilfskonstrukt der heuristischen Trennung in eine gruppenbezogene und eine gesellschaftskritische oder systemische Verwendung von Kategorien verzichtet werden. Ersteres würde jedoch „dem Grundgedanken der Inklusion widersprechen, der sich gegen jegliche Gruppenzuordnung von Menschen richtet und stattdessen die individuelle Einmaligkeit eines Menschen in den Mittelpunkt rückt“ (Hinz 2010a: 43). Letzteres würde die Aufgabe eines der „inklusiven Kernpunkte“ bedeuten, demnach „Menschen mit Behinderung […] als Minderheit betrachtet [werden] und nicht mehr als ‚functionally limited‘ […]“ (Hinz 2004: 46). Auch eine „teleologische Transformation“ von Kategorien (vgl. Hinz/Köpfer 2016: 39), „ein Verständnis von Dekategorisierung, das den Unterstützungsbedarf des Systems ins Zentrum rückt […], um der Vielfalt der Lernenden besser Rechnung tragen zu können“ (ebd.), kommt diesem problematischen Widerspruch nicht bei. Auf die Problematik der Praktikabilität dieses Verständnisses wurde bereits hingewiesen. Doch nimmt man Hinz hier auch rein theoretisch betrachtet beim Wort, dann geht mit diesem Verständnis von Dekategorisierung zwar nicht unbedingt eine „Flucht aus der Kategorie“ einher, wie sich Hinz gegen derartige Vorwürfe zur Wehr gesetzt wissen will, aber zumindest eine Flucht aus der eigenen Theorie. Die hier vorgelegte Frage, ob die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ und die Zielsetzung der Überwindung einer gruppenbezogenen Verwendung von Kategorien miteinander kongruent gehen, kann also bejaht werden. Allerdings widerspricht die heuristische Hilfskonstruktion von Hinz einer gesellschaftskritischen Verwendung von Kategorien seinen eigenen theoretischen Überlegungen. Zudem

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ist es aus dieser theoretischen Perspektive inkonsequent, weiterhin von einzelnen Heterogenitätsdimensionen auszugehen, die zwar in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden sollen, aber trotzdem noch benannt werden – wenn auch nur noch durch Umschreibungsversuche. Legt man die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ und ihre hier erörterten theoretischen Konsequenzen zugrunde, kann konsequenterweise von Kategorien nicht mehr die Rede sein. Die „Normalität der Verschiedenheit“ hat aus der Unterschiedlichkeit eine bloße und nicht mehr konturiert wahrnehmbare Verschiedenheit gemacht. Wie verhält es sich nun mit der hieraus abgeleiteten Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit? Dem Denken, Handeln und Wahrnehmen in gruppenbezogenen Kategorien wird die Annahme eines untrennbaren Spektrums von Individuen entgegengestellt. Das Motto der „Normalität der Verschiedenheit“ hat nicht mehr die Anerkennung und Wertschätzung von gruppenbezogener Verschiedenheit zum Ziel, sondern der Grundgedanke der Inklusion rückt „stattdessen die individuelle Einmaligkeit eines Menschen in den Mittelpunkt […]“ (Hinz 2010a: 43). Genau genommen lautet die Prämisse und Präskription der „Normalität der Verschiedenheit“ durch diese Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit damit „Normalität der individuellen Verschiedenheit“ bzw. „Es ist normal, individuell verschieden zu sein“. Die Bestimmung von Heterogenität als allgemeine (normale) Verschiedenheit bzw. der Normalität als allgemeiner Verschiedenheit hat bereits gezeigt, dass damit eine Überwindung jeglicher gruppenkategorialer Verschiedenheit einhergeht. Was verändert sich also durch die Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit? Widerspricht diese Annahme der individuellen Verschiedenheit der Theorie, demnach Verschiedenheit als allgemeine Verschiedenheit bestimmt wurde oder findet sie hierin ihre Bestätigung? Es zeigt sich, dass die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ nicht nur mit einer Dekategorisierung per se kongruent geht, sondern die Theorie und ihre Konsequenzen finden in der Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit ihre Radikalisierung und Zuspitzung. Die Normalität zeichnet sich weiterhin durch den Maßstab der deskriptiven Verschiedenheit aus; mit dem Hinweis auf die „individuelle Einmaligkeit“ wird nur nochmals deutlich herausgestellt, dass Verschiedenheit auch wirklich nicht auf gruppenbezogene Verschiedenheit ausgerichtet ist. Jeder sei ausschließlich nach seinen eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu betrachten; einen Maßstab der Normalität, an dem sich Verschiedenheit auszurichten habe, gäbe es auch hierdurch nicht mehr, da die individuelle Verschiedenheit selbst der Maßstab der Normalität ist. Die Bezugsnorm der Normalität ist und bleibt dadurch die Verschiedenheit, die auch und gerade in ihrer Individualisierung den allgemeinen Maßstab für die Normalität darstellt. Es macht keinen Unterschied, ob gesagt wird, „jeder ist verschieden“ oder „jeder ist individuell verschieden“. Im Falle der Normalität der allgemeinen Verschiedenheit gibt es nur noch eine Normalität, die der allgemeinen Ver-

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schiedenheit, in der alle gleich sind; im Falle der Normalität der individuellen Verschiedenheit gibt es ebenso nur noch eine Normalität, die der individuellen Verschiedenheit, in der auch alle gleich sind. Gegen letzteres könnte noch der Einwand erhoben werden, dass sich durch die Pluralisierung der Verschiedenheit auch die Normalität pluralisiert. Das ist zwar richtig, aber es ändert nichts daran, dass die Normalität damit überwunden wird. Im Gegenteil: Wenn es unendlich viele ‚Normalitäten‘ gibt bzw. so viele ‚Normalitäten‘, wie es Menschen gibt, dann gibt es keine Normalität und keine Unterschiedlichkeit mehr. Ob nun die allgemeine, deskriptive Verschiedenheit oder die individuelle, deskriptive Verschiedenheit Normalität wird: Beides kommt der Abschaffung der Normalität gleich; beide Male kann nicht bestimmt werden, in Bezug auf wen oder was jemand verschieden ist, denn dazu müsste sich etwas oder jemand von etwas anderem oder jemand anderem in bestimmter Hinsicht unterscheiden. Indem die allgemeine oder individuelle Verschiedenheit selbst der Maßstab der Normalität ist, fallen Verschiedenheit und Normalität mit sich selbst zusammen, es gibt dann kein Unterscheidungskriterium mehr. Jeder ist nur noch unter seinen eigenen Maßstäben zu betrachten, jeder ist (individuell) verschieden, und darin sind wir alle gleich. Die Idee der Gleichheit erfährt bei Hinz also eine Wendung hin zur individuellen, deskriptiven Verschiedenheit, die als neue „Normalität“ auftritt. Man ist geneigt, hier von einer Dialektik von Normalität und Verschiedenheit zu sprechen, in der sich beide insofern wechselseitig bedingen, indem sie sich gegenseitig neutralisieren bzw. derart ineinander schieben, dass nicht mehr wahrnehmbar ist, wer als normal oder als verschieden ins Blickfeld gerät. Die Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit widerspricht der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ damit nicht, sondern bekräftigt sie und radikalisiert sie in der gezeigten Weise. Dadurch dass Heterogenität als individuelle Verschiedenheit zur Normalität wird, sind die Normalität selbst und die mit ihr verbundenen Vorstellungen in einer inklusiven Ordnung überwunden. Gerade dadurch, dass Heterogenität als individuelle Verschiedenheit den Normalfall darstellt, kann der inklusionspädagogische Ansatz nicht mehr von einzelnen Heterogenitätsdimensionen ausgehen, da es in der inklusiv-heterogenen Gruppe keine Normalität(en) mehr gibt: „Hier ist eine fixierte, für allgemein erklärte Normalität nicht mehr vorhanden“ (Boban/Hinz 2003a: 41), wie Boban und Hinz selbst stimmiger Weise feststellen. Dem Vorwurf an die Integration, diese habe das Anderssein ‚Behinderter‘ nicht überwunden, begegnet der inklusionspädagogische Ansatz also dadurch, dass Heterogenität nicht nur als bloß deskriptive Verschiedenheit ohne jegliche Normativität, sondern als deskriptive, individuelle Verschiedenheit aufgefasst wird und diese zugleich Normalität wird. Auf einer sprachlichen Ebene ist das Ziel der Überwindung des „Andersseins“ damit endgültig erreicht, denn jeder Mensch ist nur noch verschieden oder „individuell anders“, also ist er nicht mehr

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anders „anders“; er unterscheidet sich nicht mehr von anderen Menschen, sondern ist nur noch verschieden von anderen Menschen. Auch hier kann Hinz zwar immer noch davon sprechen, dass es ihm nicht um eine „Beseitigung, Ignorierung oder Nivellierung von Verschiedenheit“ geht (vgl. Hinz/Köpfer 2016: 38). Das Problem – das für Hinz allerdings keines ist, da genau hierin der Fixpunkt des inklusiven Denkens liegt – ist aber, dass die Verschiedenheit durch ihre Normalisierung allerhöchstens nur noch deskriptiv vorhanden wäre. Wenn sich Verschiedenheit völlig normalisiert hätte, kann sie unserer Wahrnehmung aber nicht mehr zugänglich sein. Denn dass uns jemand oder etwas als verschieden erscheint, setzt einen minimalen Grad der Abweichung voraus, der durch die völlige Normalisierung der Verschiedenheit nicht mehr vorhanden wäre. Hinzu kommt, dass sich unsere Wahrnehmung notwendigerweise immer auch bis zu einem gewissen Grad normalisieren muss, damit sich etwas überhaupt als etwas zeigt. Die Definition der Normalität als individuelle Verschiedenheit bedeutet aber die Überwindung dieser Normalisierung, indem Normalität und Verschiedenheit zusammenfallen. Ohne diese beiden Voraussetzungen, der Abweichung und der Normalisierung der Wahrnehmung, wäre Verschiedenheit für uns nicht mehr wahrnehmbar. Waldenfels erläutert diesen Vorgang präzise wie folgt: „Das Sehen stellt sich […] dar als ein Sehen-als: Etwas zeigt sich als etwas, das heißt in dieser Gestalt oder Struktur und in diesem Sinne, nicht in jener Gestalt oder Struktur und in jenem Sinne, und als etwas hebt es sich ab von dem Hintergrund anderer Möglichkeiten. Ohne die Wiederholbarkeit als etwas und die Abhebung von etwas würden wir buchstäblich nicht etwas, also gar nichts sehen. Das Sehen bliebe beschränkt auf einen Sehschock, und das Gesehene versänke in dem eintönigen Einerlei der Nacht, in der alle Katzen grau sind“. (Waldenfels 1999b: 155)

Abweichung und Wiederholbarkeit sind also notwendigerweise zwei Voraussetzungen, damit wir überhaupt etwas sehen und etwas als etwas wahrnehmen können. Beides wird mit der Theorie der Normalität der (individuellen) Verschiedenheit, wie sie im inklusiven Kontext von Hinz in dieser Hinsicht konsequent gedacht wird, verunmöglicht. Dies hat mit der Angst zu tun, dass dieses ‚etwas‘, das andere Anderssein oder die Unterschiedlichkeit einer normativ-wertenden und defizitären Einschätzung unterzogen werden könnte. Zwar geschieht dies tatsächlich sehr häufig – auch und gerade im Kontext von Behinderung. Auch die oftmals unkritisch fungierenden Normalitätsvorstellungen, die zu diesen Einschätzungen führen, können kritisiert und bis zu einem gewissen Grad bewusst gemacht werden. Die Überwindung des „anderen Andersseins“ würde allerdings die Überwindung unserer Wahrnehmung und damit unserer selbst bedeuten. Den eingeforderten Respekt gegenüber „Unterschiedlichkeit“ wahrt die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ selbst nicht, da sie nur noch von Verschiedenheit, aber eben nicht mehr von

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Unterschiedlichkeit sprechen kann. Die bloße Verschiedenheit kennt durch ihre Normalisierung keine Unterschiede mehr; die angebliche Rede von der Wertschätzung „individueller Unterschiedlichkeit“ meint eine bloße Verschiedenheit.

2.4 BEURTEILUNG DER THEORIE DER INKLUSION IM VERGLEICH ZUR THEORIE DER INTEGRATION Dieses Kapitel hat die Zielsetzungen, die (fehlenden) Begründungsleistungen sowie die theoretischen Grundannahmen des inklusionspädagogischen Ansatzes und deren Voraussetzungen ausführlich thematisiert. Ebenso wurde die Theorie ins Verhältnis zu den übergeordneten Zielsetzungen und ihren eigenen Voraussetzungen gesetzt. Von hier ausgehend kann nun abschließend beurteilt werden, ob und inwiefern sich die Theorie der Inklusion samt ihren Zielsetzungen, Voraussetzungen und Konsequenzen von der Theorie der Integration unterscheidet. Hierfür werden die inklusionspädagogischen Annahmen mit zentralen Aussagen der Integrationstheorie – insbesondere von Reiser und Prengel, auf die sich Hinz namentlich vor allem bezieht – konfrontiert. Eine solche Prüfung ist vor allem deshalb notwendig, da nicht nur von Hinz immer wieder bezweifelt wird, dass zwischen der Integrations- und der Inklusionstheorie überhaupt Unterschiede bestehen. Wenn dies so wäre, dann müsste sich die nachfolgende Analyse und Kritik also in gleicher Weise auf den Integrationsbegriff beziehen lassen. Diese Prüfung ist also zum einen wichtig, um auch die Aussage von Hinz selbst, Inklusion führe zu keiner grundlegenden theoretischen Veränderung gegenüber der Theorie der Integration (vgl. u.a. Hinz 2004: 55; 2007b: 87), ins Verhältnis zu den erörterten theoretischen Grundannahmen des inklusionspädagogischen Ansatzes zu setzen und um damit mehr Klarheit in dieser wichtigen, diskursiven Frage zu schaffen. Zum anderen ist sie für die vorliegende Arbeit bedeutsam, um beurteilen zu können, ob es überhaupt so etwas wie eine originäre pädagogische Inklusionsidee gibt, die auf eigenen theoretischen Überlegungen fußt und um damit nochmals herauszustellen, worauf sich die nachfolgende kritische Analyse richtet. Im Folgenden ist zu zeigen, worum es Hinz mit dem Begriff der Inklusion in theoretischer Hinsicht geht und wie er ihn im Vergleich zum Integrationsbegriff verortet. Anschließend wird danach gefragt, ob die Inklusionstheorie in den Zielsetzungen des gesellschaftlichen, institutionellen und intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität mit der Integrationstheorie übereinstimmt.18 Es wird zunächst deutlich werden, dass beide Theorien in ihren grundlegenden Zielsetzungen in wesentli18 Dass beiden Theorien eine spezifische und direkte Begründungsleistung abgeht und sie demselben Argumentationsmuster folgen, wurde bereits gezeigt (vgl. 2.3.2), weshalb an dieser Stelle auf eine solche Prüfung verzichtet wird.

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chen Punkten übereinstimmen. Zwar bauen zudem viele der inklusionstheoretischen Überlegungen auf der Integrationstheorie auf oder sind tatsächlich kongruent mit ihr. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Inklusion theoretisch aber nichts Neues mit sich bringt, gibt es einige Anzeichen, die dafür sprechen, dass mit Inklusion auch eine Verschiebung auf theoretischer Ebene einhergeht. Diese theoretische Verschiebung zeigt sich insbesondere anhand dessen, wie Heterogenität bei Hinz gefasst wird, nämlich nur noch als bloße „individuelle Verschiedenheit“, die in der inklusiv-heterogenen Gruppe allzu gut aufgehoben ist. Mit dieser Annahme verändert sich nicht nur der theoretische Zugang zum Problem der Heterogenität, sondern von hier ausgehend zeigt sich auch ein anderer Umgang mit der Zielsetzung des Primats der Gemeinsamkeit und der Wertschätzung von Heterogenität. 2.4.1 Theoretische Verortung des Inklusionsbegriffes durch Hinz Die Frage nach Unterschieden von Integration und Inklusion muss als ein nach wie vor ungeklärtes Verhältnis bestimmt werden. Dies betrifft insbesondere die theoretische Diskussion bzw. die hinter diesen Begriffen liegenden Theorien. Bevor auf diese Diskussion eingegangen und eine eigene Einschätzung in dieser Frage vorgenommen wird, ist nochmals genauer auf die allgemeinen Verwendungsweisen der Begriffe Integration und Inklusion Bezug zu nehmen. Die einleitende Skizze der diskursiven Problemfelder hat die bestehenden begrifflichen Unklarheiten aufgegriffen und gezeigt, dass diese Diffusion durch die inflationäre Rede über Inklusion und spezifische Umdeutungsversuche zusehends vergrößert wurde. Der dort bereits erwähnte Hauptstreitpunkt besteht nach Bürli darin, „ob der Terminus Inklusion die gleiche oder eine veränderte Bedeutung wie die Integrationsbezeichnung beinhaltet und ob Integration durch Inklusion (Inclusion, Inclusive Education) ergänzt oder ersetzt werden soll“ (Bürli 2009: 33). Ein häufig aufgegriffener Systematisierungsversuch von Sander definiert in Bezug auf den Integrationsbegriff drei Verständnisse von Inklusion: Inklusion I, II und III (vgl. Sander 2004). Inklusion I meint, dass „die Bezeichnungen Integration und Inklusion gleichbedeutend und gleichzeitig (d.h. unterschiedslos in der gleichen Zeitepoche) verwendet [werden]. Diese ausdrückliche Begriffsgleichsetzung […] bringt inhaltlich nichts Neues; sie deckt weiterhin ein breites Verständnis von Integration/Inklusion ab“ (Bürli 2009: 33). Hingegen bedeutet Inklusion II nach Sander „die von allen Fehlformen bereinigte Integration behinderter Kinder. Inklusion II ist optimierte Integration.“ (Sander 2004: 242) Inklusion in diesem Sinne findet also Verwendung, um „der Versandungsgefahr in der Integrationspraxis entgegen zu wirken und einem Missbrauch des Integrationsbegriffs auszuweichen […]“ (ebd.: 241). Die Ausführungen der Kritikpunkte von Hinz an der integrativen Praxis (Kritik an der Fixierung auf die administrative Ebene; Kritik an der Zwei-Gruppen-

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Theorie; Kritik an der administrativen Etikettierung) zeigen, dass sich Hinz dieser Verwendungsweise von Inklusion (Inklusion II) zuordnen lässt. Hinz lässt sich aber nicht nur der Verwendung von Inklusion II, sondern ebenso der von Inklusion III zuordnen. Unter Inklusion III versteht Sander die „folgerichtige Erweiterung von Inklusion II“ (Sander 2004: 242). Inklusion III ist „optimierte und umfassend erweiterte Integration“ (vgl. ebd.). In diesem Sinne verändert Inklusion „nach und nach den Unterricht und das gesamte Klassenleben, weil die Unterschiedlichkeit [Verschiedenheit; Anm. P.S.] der Kinder nicht mehr als Störfaktor betrachtet wird, sondern als Ausgangslage und auch als Zielvorstellung der pädagogischen Arbeit. Die Akzeptanz der Unterschiede [Verschiedenheit; Anm. P.S.] steht im Zentrum.“ (Ebd.) Nicht mehr nur behinderte Kinder, sondern alle Kinder treten „verstärkt in den Blick der Lehrpersonen, einschließlich der Kinder mit besonderen Stärken“ (ebd.). Folgerichtig bezieht sich Inklusion III „auf alle Kinder. Denn jedes Kind ist verschieden, ist ein besonderes Kind, jedes Kind hat eigene Bedürfnisse und verdient individuelle Beachtung.“ (Ebd.) So gesehen ist die individuelle Verschiedenheit auch bei Hinz buchstäblich das Maß aller Dinge für den Umgang mit Heterogenität. Dieser Systematik Sanders entsprechend verwendet Hinz Inklusion also nicht als synonymen Begriff für Integration, sondern im Sinne einer optimierten und erweiterten Integration. Wie verortet Hinz den Inklusionsbegriff nun selbst? Ihm zufolge bietet der Inklusionsbegriff eine Alternative, um den „Verwischungen“ entgegenzutreten, denen Integration im Laufe der Praxisentwicklung durch vielfältige Umdeutungen ausgesetzt wurde (vgl. Hinz 2003: 330). Oder wie es bei Reiser heißt: „Der Wechsel des Zielbegriffs (Inklusion statt Integration) hat den Hintergrund, dass die mit dem alten Begriff verbundene Praxis defizitär geworden ist. Die visionäre Kraft des Begriffs Integration scheint abgenutzt.“ (Reiser 2003: 308) Wie eingangs gesehen, befindet sich aber inzwischen auch der Inklusionsbegriff in diesem Dilemma. Die Debatte um Integration und Inklusion habe sich nach Hinz „also an der bisherigen Praxisentwicklung der Integration und deren quantitativen wie qualitativen Problemen entzündet, sie ist nicht primär eine Diskussion auf der Theorieebene“ (Hinz 2003: 330f.). Zugleich könne die Frage nach Integration und Inklusion aber „als theoretischer Reflex auf die Probleme der Praxisentwicklung verstanden werden“ (ebd.: 331). Anhand dieser Aussage wird jedoch nicht ganz klar, ob Inklusion selbst im Sinne eines theoretischen Reflexes fungiert oder lediglich gemeint ist, dass die Praxis der Integration „theoretisch“ reflektiert wird. Anhand einer ähnlichen, anderen Aussage wird jedoch deutlich, dass „Inclusive Education als theoretischer Reflex eines geschärften Fokus angesichts einer konzeptionell verflachten und zunehmend problematischen Praxisentwicklung verstanden werden kann […]“ (Hinz 2000b: 230). Inklusion ist nach Hinz demnach ein „theoretischer Reflex“ auf die problematische Praxis der Integration. Auf die selbst aufgeworfene Frage, was „das Neue des Inklusionsansatzes auf der Theorieebene“ sei (vgl. Hinz 2004: 55), antwortet Hinz anhand einer Äußerung Jakob Muths über

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die Wirkungen der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates von 1973 jedoch wiederum: „Nichts, nichts, nichts!“ (ebd.), um direkt im nächsten Satz die Frage aufzuwerfen: „Oder vielleicht doch etwas?“ (Ebd.) Letztlich gelangt er aber in diesem Aufsatz zu dem Schluss, dass der Begriff der Inklusion „auf der Ebene integrationspädagogischer Theoriebildung – in deutlicher Abhebung von sonderpädagogischer Theoriebildung – nichts wirklich Neues bringt […]“ (ebd.: 69). „Nichts wirklich Neues“ zeugt zumindest von einer gewissen Entscheidungsunfreudigkeit und Unentschlossenheit. Um das bis hierhin festzuhalten: Inklusion ist also ein theoretischer Reflex, ohne eigene oder ohne „wirklich“ eigene, theoretische Grundlagen. Nicht einfacher wird die Sachlage, wenn es anderer Stelle heißt, dass die „inklusionistische Kritik“ an der Integration einklage, „was ursprüngliches Anliegen von Theorie und Praxis der Integration war“ (Hinz 2002: 354). Etwas ausführlicher gesprochen: „Inklusion bedeutet auf der Theorieebene für die integrationspädagogische Sicht keine neuen Zugänge, Aussagen oder Ansätze […]. Was Integrationspädagogik an Theorie vertreten hat, entspricht der Inklusion, auch wenn manches, was bisher eher implizit mitgedacht wurde, nun explizit und systematisch ausgeführt wird.“ (Hinz 2007b: 87)

Es kommt mit dieser Aussage also zu einer Gleichsetzung der Theorie der Integration und der Theorie der Inklusion. Im direkten Anschluss an die erste Aussage heißt es wiederum: „Inklusion beansprucht in der Tat einen grundsätzlichen Wandel der grundlegenden theoretischen Sichtweisen und damit einen Paradigmenwechsel.“ (Hinz 2002: 355) Wenn Hinz hier von „grundlegenden theoretischen Sichtweisen“ spricht, kann damit nur die Theorie der Integration gemeint sein. Dies gilt zumindest dann, wenn diese Aussage für sich betrachtet wird. Weiter heißt es aber: „Von der ‚functional limitation perspective‘ gilt es zur ‚minority perspective‘ zu kommen […]. Es geht diesem Verständnis nach nicht um die Einbeziehung einer Gruppe von Menschen mit Schädigungen in eine Gruppe Nichtgeschädigter, vielmehr liegt die Zielsetzung in einem Miteinander unterschiedlichster Mehr- und Minderheiten.“ (Ebd.)

Das ist bereits bekannt; im nächsten Absatz kennzeichnet Hinz Ansätze mit diesem Blickwinkel aber als „Pädagogik der Vielfalt“, die bereits der Theorie der Integration zugrunde gelegen habe. Dies wiederum würde bedeuten, dass es also doch keinen „grundsätzlichen Wandel der grundlegenden theoretischen Sichtweisen“ gegeben habe. Es wird an dieser Stelle ganz einfach nicht klar, wie Hinz das Verhältnis von Integrations- und Inklusionstheorie verortet. Diese Verwirrung entsteht vor allem dadurch, weil Hinz hier nicht klar sagt, welche theoretischen Sichtweisen sich wandeln.

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Die Einschätzung des Integrationspädagogen Reiser zu den Aussagen von Hinz fällt so auch wie folgt aus: „Auch wenn ich der Diagnose der Praxisentwicklung zustimme, bezweifle ich die Aussage, es handle sich um einen theoretischen Reflex. Die in der deutschen Integrationsforschung erarbeiteten Konzepte (z.B. die Konzeptualisierung integrativer Bildung und Kooperation durch Feuser, das Konzept integrativer Prozesse nach Reiser, die Pädagogik der Vielfalt nach Prengel) erfahren in meinem Urteil durch ein Konzept der ‚Inklusion‘ keine wesentliche theoretische Vertiefung oder Erweiterung. Umformungsprozesse, die das Integrationskonzept in der Praxis deformieren, sind mit Hilfe dieser Konzepte beschreibbar, abgrenzbar und keineswegs überraschend und betreffen die Praxisebene, nicht die Theorie- oder Konzeptebene. […] Theoretisch erscheint es mir fragwürdig, die Begriffe Integration und Inklusion als Leitbegriffe unterscheidbarer Konzepte gegeneinander zu setzen, wie dies Hinz (2002: 359) versucht. […] Es wäre doch naiv zu glauben, dass sich die unerwünschten Entwicklungen der Praxis, die ja ihre strukturellen Verankerungen haben, unter einem neuen Begriff nicht fortsetzten.“ (Reiser 2003: 308f.)

Nach Reiser bedeutet Inklusion theoretisch also nichts Neues, sofern man sich mit ihr auf Feuser, ihn selbst oder Prengel bezieht. Dieser Aussage würde aber auch der hier kritisierte Hinz zustimmen. Im Jahr 2007 zeigt sich Reiser denn auch „versöhnlicher gestimmt“ (vgl. Reiser 2007: 100), da Hinz und Boban ihn und andere Integrationspädagogen „zu Vorläufern des Inklusionsgedankens deklariert haben“ (ebd.). Man wird Hinz denn auch nicht gerecht, wenn ein weiterer Systematisierungsversuch ausgeblendet würde. Im Verlaufe der Arbeit war bisher eher nebenbei von einem sogenannten „integrationspädagogischen“ und einem sogenannten „sonderpädagogischen“ Verständnis der Integration die Rede. Diese Trennung nimmt Hinz deshalb vor, um zu zeigen, dass es ihm mit Inklusion nicht um eine Kritik an der Theorie der Integration geht, sondern um deren Praxisentwicklung. Die Theorie der Inklusion entspricht dem „integrationspädagogischen Verständnis“ von Integration sogar; dieses habe sich bisher in der Praxis aber nicht durchgesetzt und unterlag einigen Deformierungsprozessen. Einem „sonderpädagogischen Verständnis“ von Integration liege hingegen „die Annahme zu Grunde, dass Integration einen immanenten Teil von Sonderpädagogik darstelle und Sonderpädagogik gar nicht ohne den Anspruch und die Zielsetzung von Integration denkbar sei […]. Daraus folgt, dass Integrationspädagogik, wenn überhaupt eine solche Kategorie als sinnvoll erachtet wird, als Teil von Sonderpädagogik verortet wird.“ (Hinz 2003: 332)

Wie bereits im Kontext der Erörterung des „Readiness-Modells“ erwähnt, liege der Fokus der Sonderpädagogik „bei den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die

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[…] beeinträchtigt sind und insofern spezielle Erziehungsbedürfnisse aufweisen und spezieller Förderung bedürfen. […] VertreterInnen dieser Orientierung bezeichnen sich selbst gern als ‚differenzierte Integration‘ und grenzen sich von VertreterInnen einer, wie sie formulieren, ‚totalen Integration‘ ab […]“ (ebd.: 332f.). Das „integrationspädagogische Verständnis“ von Integration habe einen demgegenüber deutlich veränderten Fokus: „Integrationspädagogik ist kein Teil der Sonderpädagogik, sondern ein Querschnittsfach in der Erziehungswissenschaft […]. Der Fokus der Integrationspädagogik liegt nicht mehr exklusiv bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen, sondern ist ausgeweitet auf die Prozesse und Effekte in heterogenen Gruppierungen insgesamt, schließt also alle Menschen ein […]. Man könnte zur Kontrastierung der ‚differenzierten‘ und ‚totalen‘ Integration hier von einer ‚uneingeschränkten‘ oder ‚konsequenten‘ im Unterschied zur ‚selektiven‘ oder ‚eingeschränkten‘ Integration sprechen.“ (Ebd.: 333)

Ergänzend weist Hinz darauf hin, dass das integrationspädagogische Verständnis „in der Theorie schon früh davon ausgegangen ist, dass Integration sich nicht nur auf die Frage von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen bezieht, sondern ebenso auf Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache, aus unterschiedlichen sozialen Milieus und mit anderen Differenzen bezieht – am deutlichsten ausgeprägt im Ansatz der ‚Pädagogik der Vielfallt‘ (vgl. Hinz 1993, 1998; Prengel 1993, 1999; Preuss-Lausitz 1993).“ (Ebd.)

Hinz kommt daher zu der Einschätzung, dass „VertreterInnen der integrationspädagogischen Orientierung […] mit Recht die Frage nach dem neuen Moment des Inklusionsansatzes [stellen]“ (ebd.: 333f.). Diese hätten „die Kernpunkte des Inklusionsansatzes […] – vielleicht nicht so explizit – immer schon theoretisch vertreten, zumindest aber mitgedacht“ (ebd.: 334). Die Schlussfolgerung dieser Argumentation lautet: „Theoretisch ist das also wenig Neues.“ (Ebd.) Deutliche theoretische Differenzen ergeben sich nur zwischen einem sonderpädagogischen Verständnis von Integration und dem integrationspädagogischen Verständnis von Integration bzw. Inklusion (vgl. Hinz 2004: 58); Inklusion bedeutet aus integrationspädagogischer Sicht in theoretischer Hinsicht hingegen „nichts oder nichts wirklich Neues“ (vgl. ebd.). Deutlichen Nachholbedarf für die Integrationspädagogik, also das ‚bisschen‘ Neue mit der Inklusion, sieht Hinz in theoretischer Hinsicht vor allem darin, „einen inklusiven Umgang mit sozialer Benachteiligung auszuformulieren“ (ebd.: 69). Ebenso „gilt es verstärkt die Beschränkung der Aufmerksamkeit der Integrationspädagogik auf den vorschulischen und schulischen Bereich aufzubrechen“ (ebd.: 70). Mit dem Inklusionsbegriff sieht er letztlich „die große Chance verbunden, von der sonderpädagogischen Orientierung der Integrationsdebatte hin zu einer allgemein pädagogischen Verortung der Inklusionsfrage zu kommen“ (ebd.), woran sich

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die Integrationspädagogik beteiligen sollte (vgl. ebd.). Nach Einschätzung der Lage der Dinge hat sich diese Hoffnung bisher nicht nur nicht erfüllt, sondern die Sonderpädagogisierung der Inklusionsfrage schreitet wie eingangs gesehen unaufhörlich voran. 2.4.2 Vergleich der Integrations- und Inklusionstheorie Die Einschätzung, dass Inklusion theoretisch nichts Neues oder nichts wesentlich Neues im Vergleich zur Integrationstheorie – dem integrationspädagogischen Verständnis von Integration – bedeutet, ist nun anhand der vorangegangenen theoretischen Ausführungen zu überprüfen. Zunächst richtet sich der Blick dabei unter Beibehaltung der bisherigen Systematik auf die übergeordneten Zielsetzungen des inklusionspädagogischen Ansatzes des gesellschaftlichen, institutionellen und intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität. Sodann gilt es, das aufgezeigte inklusionistische Verständnis von Heterogenität und den Umgang mit ihr mit zentralen Aussagen der Integrationstheorie zur Sichtweise auf Heterogenität und den Umgang mit ihr zu konfrontieren. Zeigt sich beim Vergleich der Zielsetzungen zunächst eine weitgehende Übereinstimmung, so treten bei der Sichtweise auf Heterogenität und den Umgang mit ihr deutliche Unterschiede hervor. Hierdurch erscheinen jedoch auch die Zielsetzungen wiederum in einem anderen Licht. Anders gesagt: Der (theoretische) Weg zu den angenommenen, gleichen Zielen ist ein jeweils anderer. Genauer: Die Wege trennen sich nach einem gemeinsamen Wegstück, so dass beide, Integration und Inklusion, an unterschiedlichen Zielen ankommen, die nur auf den ersten Blick etwas gemeinsam haben. Vergleich der Zielsetzungen Anhand des integrationspädagogischen Verständnisses von Integration wird deutlich, dass sich die übergeordneten Zielsetzungen der Integrations- und Inklusionspädagogik tatsächlich erst einmal nicht wesentlich unterscheiden: „Im Zielpunkt sind beide Bedeutungsvarianten gleich, es geht um die Herstellung einer Einheit“ (Reiser 2003: 305), so Reiser. Genau genommen setzt der Inklusionsgedanke diese Einheit bereits voraus, wohingegen Integration diese Einheit erst herstellen muss. Beiden Ansätzen ist zudem die Annahme einer heterogenen Gruppe gemeinsam, „gemeinsames Kennzeichen der sich international entwickelnden Integrations- und Inklusionspädagogik ist die ‚heterogene Lerngruppe‘ […], in der Zugehörigkeit und Anerkennung nicht über Leistungshierarchien vermittelt werden, sondern per se jedem Kind in seiner unvergleichlichen Einzigartigkeit zukommen“ (Prengel 2010a: 20). Im Durchgang verschiedener Beispiele aus der Integrationspädagogik (Reiser, Deppe-Wolfinger, Sander, Prengel) zeigt Hinz auf, dass bereits die Integrationstheorie zudem „immer schon unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität thema-

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tisiert [hat]“ (Hinz 2004: 55). Diese Aussage findet Bestätigung, insofern es beispielsweise bei Prengel bereits im Jahr 1990 heißt: „Der originelle Beitrag der Integrationsprojekte in der Geschichte der Pädagogik ist, dass sie bewiesen haben, dass es möglich ist, alle SchülerInnen in der ganzen Bandbreite menschlicher Vielfalt von den Schwerstbehinderten bis hin zu den Hochbegabten gemeinsam zu unterrichten. Sie [die Integrationspädagogik; Anm. P.S.] bereichert das didaktische Repertoire der Reformpädagogik um ein Arrangement, in dem extrem verschieden Begabte auf ihrem jeweiligen Niveau bei gemeinsamer Arbeit, oft sogar an einem Gegenstand, lernen.“ (Prengel 1990: 278f.)

Ihrer Pädagogik der Vielfalt (1993) stellt Prengel in diesem Sinne die folgende Hauptfragestellung voran: „Kann pädagogisches Handeln der geschlechtlichen, kulturellen und individuellen Verschiedenheit der Menschen gerecht werden?“ (Prengel 2006: 15) In ähnlichem Sinne heißt es auch bei Reiser: „Integration als universelle Forderung ist nicht mehr fixiert auf behinderte Kinder oder Ausländerkinder oder Randgruppenkinder, sondern formuliert ein allgemeines pädagogisches Postulat.“ (Reiser 1990a: 297) Aufgrund der Tatsache, dass der integrative Ansatz „immer schon unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität thematisiert [hat]“ (Hinz 2004: 55), gelangt Hinz zu dem Schluss, dass die „Theorie der deutschsprachigen Integrationspädagogik […] von Anfang an ein aus heutiger Sicht inklusives Verständnis der Integration [zeigt] […]“ (ebd.). Ob diese Einheit, die heterogene Gruppe und die einzelnen Dimensionen in beiden Ansätzen auf dieselbe Weise gedacht werden, interessiert hier vorläufig noch nicht. Festzustellen ist zunächst lediglich, dass sowohl die Integrationstheorie als auch die Inklusionstheorie von einer heterogenen (Lern-) Gruppe ausgehen und beide Theorien den Fokus nicht nur auf die Dimension Behinderung, sondern auf unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität richten, wie dies Hinz selbst mehrfach feststellt. Auch hinsichtlich des institutionellen Umgangs mit Heterogenität decken sich beide Theorien in der grundsätzlich anzustrebenden Zielsetzung des Primats der Gemeinsamkeit bzw. der „Schule für alle“. Unter Bezugnahme auf Feuser stellt Hinz fest, dass die Integrationstheorie „auf die ‚Überwindung des gegliederten Schulwesens‘ und die ‚Beendigung von Selektion und Segregation‘ […] [zielt]“ (ebd.: 53). Auch der pädagogische Inklusionsgedanke hat geradezu die Überwindung jeglicher selektiver, institutioneller Strukturen zum Ziel; das uneingeschränkte Primat der Gemeinsamkeit sowie die Annahme einer unteilbar, heterogenen Gruppe muss einer solchen Logik folgen, da sich die Theorie andernfalls in einen Selbstwiderspruch begeben würde. Aus gutem Grund bezieht sich Hinz bei der Darstellung der Gemeinsamkeit von Integration und Inklusion in diesem Punkt auf Feuser und nicht auf Reiser oder Prengel, die ihm ansonsten als theoretische Referenzgrößen

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und Bezugsquellen dienen. Ein ehrlich gemeinter Theorienvergleich dürfte die differenzierteren Ansichten der Integrationstheorie an dieser Stelle zumindest nicht verschweigen, was Hinz aber tut. Die „Schule für alle“ bzw. das Primat der Gemeinsamkeit fungiert zwar auch bei Prengel als Zielperspektive des integrationspädagogischen Ansatzes: Das „gemeinsame Menschsein hat Priorität und begründet die Gleichheit des Schulbesuchs“ (Prengel 1990: 274). Prengel zufolge habe die Integrationsbewegung „dem Recht auf Schulbildung aller Menschen überhaupt eine weitere Forderung hinzugefügt: das Gleichheitsrecht auf den Besuch der allgemeinen Schule“ (ebd.: 278). Allerdings sehen sowohl Prengel als auch Reiser dem Anspruch der „Schule für alle“ gewisse Grenzen gesetzt, die bei Hinz mit der absolutistischen, aber konsequenten Forderung des Primats der Gemeinsamkeit überhaupt keine Rolle mehr spielen können. So heißt es bei Prengel: „Denn der universalistisch-utopische Anspruch einer Schule ohne Aussonderung ist nicht deklamatorisch einlösbar.“ (Ebd.: 283) Ähnlich skeptisch äußert sich Reiser: „Ein völliges Zurückdrängen des Integrationsgedankens scheint mir wegen des offensichtlichen Modernisierungsbedarfs in den schulisch vermittelten Qualifikationen ebenso unwahrscheinlich wie eine völlige Umgestaltung des Schulsystems.“ (Reiser 1990a: 304) Zwar sei eine „Bagatellisierung oder Psychiatrisierung des Integrationsanspruchs auch in Form von Lächerlichmachen oder in Form des Ideologievorwurfs […] nicht mehr durchführbar“ (ebd.). Allerdings könne „die pädagogische Überzeugung die entgegenstehenden ökonomischen Interessen [genausowenig] überspringen“ (ebd.). Realistisch betrachtet könne es Reiser zufolge „im Zusammenhang mit dem Schub der Integrationsbewegung zu einer partiellen Modernisierung des Schulsystems kommen […]“ (ebd.: 307). Eine „Alles-oder-Nichts-Position“ lehnt er in bildungspolitischstrategischer Hinsicht ab (vgl. ebd.: 308). Eine solche sollte vielmehr „die realen Grenzen der Veränderungsfähigkeit des Schulsystems sowie die Gefahr der Umformungsprozesse im Auge behalten […]“ (ebd.). Interessant ist in diesem Zusammenhang zudem, dass nach Reiser, auf den sich Hinz hauptsächlich auch bezieht, „selbst eine Sonderschule […] in sich mehr oder weniger integrativ arbeiten [kann], obwohl ihre Grundbedingung einer zuvor selektierten Population diesem Gedanken entgegengesetzt ist und seine Verwirklichung einschränkt“ (ebd.: 297). Denn Integration formuliere „ein allgemeines pädagogisches Postulat“ (ebd.). So können „Sonderschulen, die in heterogenen Gruppierungen integrative Prozesse zu verwirklichen suchen, dem Gedanken der Integration […] näher kommen“ (ebd.: 298). Nach der Inklusionstheorie ist die „Schule für alle“ jedoch die einzig demokratisch zulässige Form der Beschulung, alles andere sei stigmatisierend und diskriminierend, gefolgt wird dem von Reiser kritisierten „Alles-oder-Nichts-Prinzip“. Aufgrund ihrer Prämissen kann die Inklusionstheorie andere institutionelle Strukturen erst gar nicht mehr in Erwägung ziehen, was der Integrationstheorie theoretisch zumindest noch möglich ist. Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass sowohl die In-

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tegrations- als auch die Inklusionstheorie das Primat der Gemeinsamkeit bzw. die „Schule für alle“ als wünschenswerte Zielperspektive im institutionellen Umgang mit Heterogenität ansehen. Es bedarf nach allem bisher Gesagten kaum mehr der Erwähnung, dass auch im intersubjektiven Umgang mit Heterogenität die Wertschätzung von Heterogenität als Zielperspektive sowohl der Integrations- als auch der Inklusionstheorie hervortritt. Die „Wertschätzung von Pluralität“ (vgl. Prengel 2006: 49) bzw. die „Wertschätzung für Heterogenität“ (ebd.: 50) ist auch für Prengels (integrative) Pädagogik der Vielfalt ein zentrales Element. Sie definiert diese gar als „Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen“ (ebd.: 62). Sowohl für die Integrations- als auch für die Inklusionsbewegung bildet der Topos der Anerkennung und Wertschätzung von Unterschieden (Prengel) und Verschiedenheit (Hinz) die axiomatische Grundlegung für den Umgang mit Heterogenität, die zugleich als Zielperspektive im Umgang mit ihr fungiert. Beide Ansätze wären erst gar nicht denkbar ohne eine solche Perspektive, sie sind explizit darauf ausgerichtet. Sowohl die Integrations- als auch die Inklusionspädagogik charakterisieren sich nach Prengel dadurch, „dass die Unterschiede zwischen Kindern nicht beklagt, sondern freudig begrüßt und willkommen geheißen werden“ (Prengel 2010a: 20). Allerdings kommt es auch und gerade in diesem anthropologischen Fundament und Axiom zu grundsätzlich unterschiedlichen, theoretischen Sichtweisen, wie das Ziel der Wertschätzung von Heterogenität zu erreichen ist. Man könnte an dieser Stelle aber nun stehen bleiben und zu dem Schluss gelangen, dass sich die Ansätze der Integration und Inklusion im pädagogischen Kontext theoretisch tatsächlich nicht oder nicht wesentlich unterscheiden. Beide operieren mit der Annahme einer heterogenen Gruppe und berücksichtigen unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität, beide stellen das „Primat der Gemeinsamkeit“ bzw. die „Schule für alle“ als gewünschte institutionelle Umgangsform mit Heterogenität in Aussicht und beide Ansätze verfolgen einen wertschätzenden und anerkennenden Umgang mit Heterogenität. Und in gewisser Weise bleibt Hinz genau hier stehen, wenn er sagt: Theoretisch ist dies alles „nichts Neues“ oder „nichts wirklich Neues“. Sein Hauptargument dabei ist: „Die Theorie der deutschsprachigen Integrationspädagogik zeigt von Anfang an ein aus heutiger Sicht inklusives Verständnis der Integration, sie hat immer schon unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität thematisiert.“ (Hinz 2004 55) Das entscheidende Argument bei der Beurteilung, ob es einen theoretischen Unterschied zwischen Integration und Inklusion gibt, kann allerdings nicht bei der Feststellung stehen bleiben, dass die Integrationstheorie immer schon unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität berücksichtigt hat. Für den theoretischen Vergleich muss das Hauptaugenmerk vielmehr darauf gerichtet werden, wie Heterogenität, die Dimensionen von Heterogenität und der Umgang mit ihr aus integrativer und inklusiver Sicht jeweils in den Blick genommen werden, wie sie also theoretisch bestimmt werden. Genau hierin, in diesen

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unterschiedlichen Sichtweisen auf Heterogenität, bestehen gravierende theoretische Unterschiede, die alles andere als nur marginal und die dafür verantwortlich sind, dass auch die Zielsetzungen jeweils in ein anderes Licht rücken. Vergleich der inklusionspädagogischen Kritik mit der Integrationstheorie Es ist bezeichnend, dass Hinz gerade an den Stellen, die die Erörterung der Frage nach dem theoretischen Unterschied zum Ziel haben, genau diese unterschiedlichen Sichtweisen auf Heterogenität unter den Tisch fallen lässt (vgl. Hinz 2004). Dass er die Unterschiede nicht sieht, ist ausgeschlossen, da ansonsten sein Ansatz, der sich durch bestimmte Kritikpunkte an der integrativen Praxis begründet, haltlos würde. Es spricht hingegen vielmehr einiges dafür, dass er die theoretischen Unterschiede deswegen nicht oder nicht klar genug herausstellt, da er sich ansonsten offen gegen die Integrationstheorie, sprich, gegen die mit dieser Theorie verbundenen Namen, wenden müsste. Man kann Hinz bestimmt nicht vorwerfen, den Inklusionsgedanken nicht konsequent zu denken; dies tut er wie kein anderer und im deutschsprachigen Raum nahezu als Einziger. Wenn es jedoch um die Abgrenzung von der Integrationstheorie geht, scheint für ihn, diskursanalytisch betrachtet, das Risiko eines offenen diskursiven Bruchs mehr zu wiegen als die Stringenz und Transparenz seiner eigenen Argumentation. Diese Kritik bedarf allerdings einer Begründung, das heißt, es muss gezeigt werden, worin der theoretische Unterschied genau besteht. Hinz hat keine Kritik der Integrationstheorie, sondern deren Deformation in der Praxis zum Ziel. Integrations- und Inklusionstheorie widersprechen sich ihm zufolge nicht nur nicht, sondern Inklusion fordert ein, „was ursprüngliches Anliegen von Theorie und Praxis der Integration war“ (Hinz 2002: 354); „Inklusion bedeutet auf der Theorieebene für die integrationspädagogische Sicht keine neuen Zugänge, Aussagen oder Ansätze […]. Was Integrationspädagogik an Theorie vertreten hat, entspricht der Inklusion, auch wenn manches, was bisher eher implizit mitgedacht wurde, nun explizit und systematisch ausgeführt wird.“ (Hinz 2007b: 87) Was bedeutet das? Wenn die Integrations- der Inklusionspädagogik theoretisch entspricht, bedeutet das, dass sowohl die hier in der Breite erörterten Kritikpunkte von Hinz, die er auf die Praxis der Integration gerichtet wissen will (Kritik an der Fixierung auf die administrative Ebene; Kritik an der Zwei-Gruppen-Theorie; Kritik an administrativer Etikettierung) als auch die von Hinz zugrunde gelegte Sichtweise auf Heterogenität als „individuelle Verschiedenheit“ bzw. die Überwindung des Andersseins ihren Rückhalt genau so in der Theorie der Integration haben müssten. Die Integrationstheorie müsste all diese wesentlichen Punkte bereits vertreten, wenn es keine oder nur minimale Unterschiede geben sollte. Hinz unterstellt eben dies in seiner Rede fehlender theoretischer Unterschiede. Trifft das aber tatsächlich auch so zu?

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Die Kritik an der Fixierung auf die administrative Ebene (Schule für alle) im Vergleich zur Integrationstheorie Um zunächst das Hauptargument von Hinz aufzugreifen: Es ist richtig, dass auch die Integrationstheorie unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität immer schon mitgedacht hat, wie soeben deutlich wurde. Und es trifft sicherlich auch zu, dass „manches, was bisher eher implizit mitgedacht wurde, nun explizit und systematisch ausgeführt wird“ (Hinz 2007b: 87), dass also mit Inklusion von nun an vor allem auch die Dimension „sozialer Benachteiligung“ (vgl. Hinz 2004: 55; 69) Berücksichtigung erfährt. Doch wäre dies tatsächlich der einzige theoretische Unterschied: Warum kam es dann zu den anhaltenden, teils kontroversen und scharfen Debatten im Zuge der Diskussion um Inklusion? Die fachlichen und bildungspolitischen Debatten drehen sich ja im Kern nicht um die Frage, welche Heterogenitätsdimensionen von nun an allesamt zu berücksichtigen seien. Im Gegenteil: Die Debatte fokussiert hauptsächlich auf Behinderungen. Dies stellt zwar eine Verkürzung und Verkehrung der inklusionspädagogischen Prämissen dar, aber es zeigt ebenso, dass sich die Debatten nicht primär an der Erweiterung der Heterogenitätsdimensionen um die Dimension vor allem der „sozialen Benachteiligung“ entzündet haben. In bildungspolitischer Hinsicht finden die Diskussionen ihren Ausgangspunkt vielmehr in der inklusionspädagogischen Forderung der „Schule für alle“ als einzig zulässige und demokratische schulische Organisationsform, die alle anderen Organisationsformen schulischer Bildung als diskriminierend ausschließt. Zwar ist hier insofern ein Zusammenhang zwischen der Dimension „sozialer Benachteiligung“ und der Forderung nach der „Schule für alle“ zu erkennen, als diese Organisationsform als einzig mögliche zur Beseitigung „sozialer Benachteiligung“ in Betracht gezogen wird. Aber genau hierin liegt auch das Problem, dass nämlich diese Organisationsform schulischer Bildung mit Inklusion erstens als alternativlos dargestellt wird und dass mit ihr zweitens die Überwindung „sozialer Benachteiligung“ oder das Ziel der „sozialen Gerechtigkeit“ – als Vision – in Aussicht gestellt wird. Auch für die Integrationstheorie war und ist die „Normalität der gemeinsamen Beschulung“ ein wichtiges Ziel, das „nicht durch eine große Reihe von Ausnahmen unterlaufen werden [darf] “ (Reiser 2007: 104). Von der Vision der pädagogischen Inklusionsidee, dass „keine einzige Person […] aus der allgemeinen Schule ausgeschlossen sein [darf]“ (ebd.: 101), war aber in der Integrationstheorie von Reiser, auf die sich Hinz unter anderem hauptsächlich bezieht, keine Rede. Diese Vision, so der Integrationspädagoge Reiser, „ist meiner Meinung nach völlig illusionär und belanglos“ (ebd.: 104). „Dass […] Ausnahmen existieren, wie es sie in allen Ländern mit der Zielsetzung der Inklusion gibt“, hält Reiser für „ebenso selbstverständlich“ (ebd.). Auch die Vorstellung, mit Inklusion „soziale Benachteiligung“ zu überwinden bzw. zur „sozialen Gerechtigkeit“ zu gelangen, rückt Reiser aus integrationstheoretischer Sicht zurecht:

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„Soziale Gerechtigkeit ist in der Wirtschaftsordnung, in der die Welt lebt, nicht umfassend und konkret denkbar, höchstens die Korrektur von groben Ungerechtigkeiten. Soziale Gerechtigkeit ist eine Utopie, keine Vision. Eine Utopie ist wirkungsmächtig und notwendig, und vielleicht ist es ein Kennzeichen unserer gegenwärtigen globalen politischen Lage, dass die Utopie der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt scheint. Aber eine Utopie ist der Stachel im Fleisch, der Träger einer großen Mahnung. Die Geschichte lehrt, dass es immer dann entsetzlich wird, wenn die Umsetzung einer Utopie konkret erzwungen werden soll.“ (Ebd.: 103)

So ist es. Im institutionellen Kontext ist es also vor allem die Radikalisierung der Forderungen, die mit Inklusion einhergehen und die die Debatten in bildungspolitischer Hinsicht befeuert haben. Um es aber nochmals deutlich zu sagen: Radikalisierung darf hier nicht negativ-wertend verstanden werden, sondern sie ist in dem Sinne zu sehen, dass diese Forderungen die einzig zulässigen und konsequent gedachten Ableitungen aus der pädagogischen Inklusionsidee darstellen. Die Erwägung, andere schulische Bildungsorte als die „Schule für alle“ in Betracht zu ziehen, ist mit der Prämisse der Normalität der (individuellen) Verschiedenheit nicht mehr nur nicht zulässig, sondern sie ist auch nicht mehr möglich. Die Vision „Heterogenität ist Normalität“ kassiert das dialektische und spannungsreiche Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit, das die Möglichkeit unterschiedlicher schulischer Bildungsorte grundsätzlich zumindest nicht verhindert hat, auch wenn die Integrationstheorie eine separierte Beschulung nicht für gut geheißen hat. Bei Prengel heißt es hierzu explizit: „Schulen für in dieser oder jener Hinsicht homogene Gruppen müßten aus der Sicht der Pädagogik der Vielfalt ebenfalls nicht prinzipiell ausgeschlossen sein, sofern sie demokratischen Grundsätzen verpflichtet und auch für andere Kinder offen sind. Das gilt eher für Sekundarstufen, wohl kaum für die Primarstufe. Das Erproben vielfältiger Schulmodelle, auch von Mädchenschulen mit emanzipatorischer Zielsetzung oder Schulen für Angehörige einer Kultur können mit neuen Erfahrungen die Pädagogik bereichern und dürfen nicht von vornherein unter Verdacht gestellt werden, alte Ausgrenzungen wiederzubeleben. Sicher liegen solche Formen wegen ihrer monistischen Ausrichtung nicht in der engeren Wahl der Vielfaltspädagogik, aber sie müßte eigentlich auch dem Schulpluralismus eine Chance geben. Keine der Formen der homogenen Gruppenbildung, angefangen von kleinen Tischgruppen bei innerer Differenzierung über Arbeitsgemeinschaften, Klassen und Schulzweige für Menschen mit ähnlichen Erfahrungen darf aber zu Isolation und Separation führen. Die getrennt gewonnenen Erkenntnisse gilt es zurückzuführen in die gemischte Gemeinschaft, diese damit zu konfrontieren und weitere gemeinsame und getrennte Schritte zuzulassen.“ (Prengel 2006: 188)

Prengel benennt mit der „gemischten Gemeinschaft“ die Zielperspektive der Vielfaltspädagogik zwar klar; aber das dieser Pädagogik zugrundeliegende Theorem der

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egalitären Differenz, das Hinz zur theoretischen Grundlage auch der Inklusion erklärt, schließt sowohl homogene Gruppierungen als auch andere Schulformen als die der „Schule für alle“ sowie „getrennte Schritte“ nicht kategorisch und a priori aus. Genau dies ist aber in der Inklusionstheorie der Fall. Anhand des unterschiedlichen Umgangs mit dem Ziel der „gemeinsamen Beschulung“ wird besonders deutlich, welche Auswirkungen die Umdeutung des Theorems der egalitären Differenz in die Normalität der individuellen Verschiedenheit haben. Der entscheidende Punkt für die Bestimmung des theoretischen Verhältnisses von Integration und Inklusion liegt in unterschiedlichen Sichtweisen auf Heterogenität, die zu einem jeweils anderen Umgang mit den Zielsetzungen führen. Für den institutionellen Umgang mit Heterogenität bedeutet dies, dass die „Schule für alle“ unter der inklusionspädagogischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ die einzig mögliche Organisationsform schulischer Bildung darstellt (vgl. u.a. 2.3.4.1), wohingegen die Zielperspektive der egalitären Differenz andere Möglichkeiten zumindest noch als denkbar erscheinen lässt. Prengel spricht hier sogar davon, dass die Pädagogik der Vielfalt eigentlich auch dem „Schulpluralismus“ eine Chance geben müsste. Dasselbe trifft auch auf die Voraussetzung der Forderung der „Schule für alle“ zu, demnach das Selektionsprinzip von Schule mehr oder weniger (Integration) bzw. völlig (Inklusion) überwunden werden müsste. Man kann der Inklusionstheorie zwar vorwerfen, dass sie das Selektionsprinzip von Schule gänzlich außer Kraft gesetzt wissen will. In inhaltlich-theoretischer Hinsicht muss sie dies aber annehmen, da die konsequente und ausschließliche Forderung der „Schule für alle“ oder das aus ihrer Sicht alternativlose Primat der Gemeinsamkeit sich andernfalls verflüchtigen würde. Dass dies jedoch bereits mit der Integrationstheorie gefordert wurde, ist so nicht zutreffend. Die Pädagogik der Vielfalt bzw. die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit nimmt die Selektionsfunktion von Schule zwar ebenfalls und logischerweise sehr kritisch in den Blick; allerdings tut sie das wesentlich differenzierter als die Inklusionstheorie, der auch hier die angemessene, differenzierte Sichtweise aus theoretischen Konsistenzgründen nicht mehr gelingen kann. So heißt es bei Prengel im Jahr 1993: „Um die Aufgaben der Qualifikation und Sozialisation angemessener erfüllen zu können, ist die Selektionsfunktion viel stärker nach außen zu verlagern [Herv. P.S.]. […] Zusammenfassend läßt sich sagen, Pädagogik der Vielfalt versteht sich als Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen. Indem sie Mißachtung im Bildungswesen zu vermeiden sucht, fördert sie persönliche Bildungsprozesse, sowie Qualifikations- und Sozialisationsprozesse und wirkt den schädlichen Folgen des im Bildungssystem vorherrschenden Selektionsprinzips entgegen.“ (Prengel 2006: 61f.)

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Es ist hier lediglich von einer „Außenverlagerung“ des Selektionsprinzips und einem „Entgegenwirken“ die Rede. Von einer „Überwindung des gegliederten Schulwesens“ und der „Beendigung von Selektion und Segregation“ (vgl. Hinz 2004: 53) ist offensichtlich weder bei Prengel noch bei Reiser die Rede, die Hinz beide als Referenzen der Integrationstheorie dienen. Vielmehr dürfe das „Prinzip des gemeinsamen Lernens […] nicht starr-dogmatisch verstanden werden, wenn es im Einklang mit dem Gedanken des Dialogs in integrativen Prozessen stehen soll“ (Prengel 1990: 279) bzw. ist das „Spannungsverhältnis von Gleichheit und Differenz […] nicht als ein allemal erreichter statischer Zustand der Integrationspädagogik anzusehen: es [sic!] erfordert vielmehr das Aushalten von Vorläufigkeit und Prozeßhaftigkeit […]“ (ebd.: 283). In einem aktuelleren Beitrag weist Prengel explizit darauf hin, dass eine „Kritik an der Selektivität des Bildungswesens“ – wie sie die inklusive Pädagogik anstrebt – für die „Demokratisierung des Bildungswesens“ unerlässlich sei (vgl. Prengel 2010a: 45). Allerdings würde in den einschlägigen Debatten um inklusive Pädagogik „die Bedeutung des Leistungsprinzips für demokratische Gesellschaften […] häufig vernachlässigt“ (ebd.). Demgegenüber sei Prengel zufolge „zu berücksichtigen, dass Leistungserziehung und Leistungsvergleiche nicht nur als repressiv zu deuten sind. Für alle modernen Demokratien ist das Prinzip der leistungsbezogenen Statuszuweisung maßgeblich, es löst das Prinzip der geburtsständischen Statuszuweisung traditioneller Ständegesellschaften ab und wir empfinden es als gerechter.“ (Ebd.)

Auch die inklusive Pädagogik müsse die „stets gegebene Differenz zwischen normativen Ansprüchen und Realisierungsgrad […]“ (ebd.: 46) beachten. Angesichts des inklusionspädagogischen Anspruchs der Überwindung jeglicher selektiver Strukturen im Bildungsbereich ist dies alles noch sehr milde formuliert. Indem der inklusionstheoretische Ansatz die vormalige Zielperspektive der „gleichen Freiheit“ (vgl. ebd.: 21) bzw. die Bedeutung von Heterogenität, „Verschiedenes als nichthierarchisch, also als egalitär zu denken […]“ (ebd.) durch die Kategorie der „Normalität der individuellen Verschiedenheit“ ersetzt und diese Prämisse zur alleingültigen Umgangsweise mit Heterogenität erklärt hat, ist die Beachtung derartiger Differenzen nicht mehr möglich. Das Leistungs- und Selektionsprinzip ist mit dieser Prämisse außer Kraft gesetzt; denn woher sollen die hierzu notwendigen Kriterien kommen, wenn es normal ist, individuell verschieden zu sein? Mit dem Theorem der egalitären Differenz, das Hinz der Inklusionstheorie zugrunde gelegt wissen will, wird zwar auch eine Kritik an der „Fixierung auf die administrative Ebene“ laut; mit ihm werden aber nicht per se alle anderen Schulformen sowie die Selektionsfunktion von Schule als grundsätzlich abwertend und diskriminierend gekennzeichnet. Die Überlegungen von Hinz selbst gehen in diesem Punkt zwar bereits 1993 in diese Richtung, sie werden zum damaligen Zeitpunkt aber noch nicht in

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dieser verschärften Form vorgetragen. Sonderschulen, also selektive Strukturen, werden damals von ihm noch nicht grundsätzlich als selektiv und damit diskriminierend beurteilt, sondern sie werden „in dem Moment Schulen der Aussonderung, in dem sie das Prinzip der Subsidiarität verlassen und die Andersartigkeit ihres Klientels [sic!] zur einzigen und dauerhaften Begründung für ihre institutionelle Existenz machen“ (Hinz 1993: 143). Diese unterschiedliche Einschätzung zu seinen heutigen Aussagen erklärt sich dadurch – vielleicht auch noch aus anderen Gründen –, dass sich Hinz zum damaligen Zeitpunkt noch näher am eigentlichen dialektischen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit bewegt und er noch keine Wendung hin zur „Normalität der Verschiedenheit“ im inklusionslogischen Sinne eingeschlagen hat. Dass es zu diesen unterschiedlichen Umgangsweisen mit der Zielsetzung des „Primats der Gemeinsamkeit“ kommt, liegt daran, dass das Verständnis von Heterogenität mit der pädagogischen Inklusionsidee einen grundsätzlichen theoretischen Wandel gegenüber der Integrationstheorie bzw. dem dialektischen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit erfährt. Dieser Wandel wird besonders deutlich im Vergleich der Integrationstheorie mit dem inklusionspädagogischen Kritikpunkt der „Zwei-Gruppen-Theorie“ und der „administrativen Etikettierung“. Der unterschiedliche Umgang mit Heterogenität Auch die Aussagen von Reiser und Prengel selbst deuten darauf hin, dass es überhaupt zu einer theoretischen Veränderung kommt: Reiser sagt zwar, dass Inklusion gegenüber Integration theoretisch nichts Neues bietet (vgl. Reiser 2003: 308); er sagt aber auch, dass der Begriff der Integration auf „der theoretischen Ebene […] umfassender und tiefer gehender als der Begriff Inklusion [ist]. […] Was in der Theorie integrativer Prozesse tiefer erfasst wird als in den Inklusionskonzepten ist die konflikthafte Dynamik zwischen den Prozessen der Annäherung und der Abgrenzung auf allen […] Ebenen. […] Diese psychoanalytisch orientierte Sicht […] unterscheidet sich erheblich von Inklusionskonzepten, die Inklusion und Exklusion polar setzen.“ (Reiser 2007: 99)

Man könnte mit dieser Aussage auch zu dem Fazit gelangen: Inklusion hat es nicht verdient, sich mit dem Titel Integration zu schmücken. Zumindest deutet die Aussage von Reiser aber einen theoretischen Rückschritt an. Auch Prengel gelangt zu der Einschätzung, dass „aktuelle Formen des Verständnisses von Inklusion teilweise vereinfachend […]“ hinter die „bis heute wegweisende, äußerst anspruchsvolle Bestimmung des Theorems der Integration […] zurückfallen […]“ (Prengel 2010a: 19). Dieser Rückschritt oder diese Vereinfachung besteht darin, dass die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit oder der egalitären Differenz eine Umdeutung hin zur „Normalität der Verschiedenheit“ erfährt. Besonders deutlich wird der theo-

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retische Unterschied am unterschiedlichen Umgang der beiden Ansätze mit Heterogenität. Entscheidend für die theoretische Verhältnisbestimmung von Integration und Inklusion ist nicht, dass Heterogenität oder möglichst alle Dimensionen von Heterogenität in beiden Ansätzen berücksichtigt werden, sondern wie Heterogenität beide Male in den Blick kommt. Wie bereits bei der Forderung der „Schule für alle“ stimmt es skeptisch, dass die heftigen Debatten um Inklusion nicht bereits deutlich früher eingesetzt haben. Dies gilt zumindest dann, wenn kein theoretischer Unterschied angenommen wird. Offensichtlich muss es aber etwas geben, das die Gemüter auf einmal so erhitzt; und dies liegt nicht nur an der neuen Vehemenz, mit der Inklusion in Erscheinung tritt oder an der Zugkraft, die die UN-BRK ausstrahlt. Es liegt auch nicht nur an der alternativlosen Forderung einer „Schule für alle“ und noch viel weniger an dem Postulat, dass Inklusion das Einbezogensein aller Dimensionen von Heterogenität zum Ziel hat. Die Debatte um Inklusion – insbesondere die fachliche oder fachwissenschaftliche – hat sich auch und besonders entlang „des Konzepts der Dekategorisierung“ entfacht, wie Hinz selbst bemerkt (vgl. Hinz 2016: 38) (vgl. hierzu u.a. Ahrbeck 2011; Dederich 2015; Dederich 2016; Lee 2012; Lüders 2014; Stinkes 2015). Gemeint ist hiermit die bereits ausführlich erörterte Kritik von Hinz an der sogenannten „Zwei-Gruppen-Theorie“ und der „Kritik an der administrativen Etikettierung“ (vgl. 2.3.3.1). Um weiter bei diesem Bild zu bleiben: Wenn Integration und Inklusion theoretisch nichts Neues bedeuten, wie von Hinz unterstellt, müssen diese Kritikpunkte an der integrativen Praxis und die exklusive Bestimmung von Heterogenität als individuelle Verschiedenheit auch aus integrationstheoretischer Sicht formulierbar sein. Obwohl diese Kritikpunkte den Ansatzpunkt der inklusionstheoretischen Überlegungen von Hinz darstellen und er um eine Klärung der theoretischen Unterschiede von Integration und Inklusion bemüht ist, blendet er diese Frage an den entscheidenden Stellen aus. Zwar widmet sich einer der aktuellsten Beiträge explizit dem „Konzept der Dekategorisierung“ (vgl. Hinz/Köpfer 2016), aber auch hier wird eine Abgrenzungsdiskussion zur Integrationstheorie in dieser Frage vermieden. Die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ erreicht auf der theoretischen Ebene das wesentliche Ziel im Umgang mit Heterogenität: die Überwindung des Andersseins. Die Bestimmung von Heterogenität als Normalität bzw. als Normalfall und damit als bloße individuelle Verschiedenheit geht somit kongruent mit der Forderung nach Verzicht einer gruppenbezogenen Verwendung von Kategorien (vgl. 2.3.4.2). Ein wertschätzender Umgang mit Heterogenität impliziert den Verzicht auf kategoriale Zuordnungen von Menschen und deren Etikettierung; beides wäre stigmatisierend und diskriminierend. Die einzig mögliche Kategorie im Umgang mit Heterogenität ist die der individuellen Verschiedenheit. Alles andere wäre ein Widerspruch zum Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“; dies gilt explizit auch für den gezeigten Widerspruch, in den

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Hinz sich verwickelt, indem er gruppenbezogene Kategorien in gesellschaftskritischer oder systembezogener Absicht weiterhin verwenden möchte oder indem er unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität weiterhin benennen muss; die Prämisse „Heterogenität ist Normalität“ lässt Kategorienbildungen nicht mehr zu. Treffen diese Annahmen, das Ziel der Überwindung des Andersseins und die Bestimmung von Heterogenität allein als individuelle Verschiedenheit bzw. der Verzicht auf gruppenbezogene Kategorien, also tatsächlich auch auf die Theorie der Integration zu? Werden mit der Pädagogik der Vielfalt – dem dialektischen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit, das der Inklusionstheorie von Hinz zugrunde gelegt wird – derartige Zielvorstellungen für den Umgang mit Heterogenität formuliert? Wenn Hinz feststellt, dass die Theorie der Integrationspädagogik „ein aus heutiger Sicht inklusives Verständnis der Integration“ zeige, da sie „immer schon unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität thematisiert“ habe (vgl. Hinz 2004: 55), dann stimmt daran zwar, dass die Integrationstheorie tatsächlich unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität thematisiert. Es trifft aber ganz sicher nicht zu, dass sie das auf inklusive Art und Weise tut. Ihr Verständnis von Heterogenität entspricht eben gerade nicht dem inklusiven Verständnis von Heterogenität, das diese ausschließlich als individuelle Verschiedenheit verstanden wissen will. Dieser entscheidende Unterschied wird von Hinz bei dem expliziten theoretischen Vergleich der beiden Ansätze verschwiegen. Es gibt kein inklusives Verständnis der Integration, erst recht nicht „von Anfang an“, wie von Hinz behauptet wird (vgl. ebd.); dies wird der wesentlich differenzierteren Theorie der Integration und ihrer Betrachtung von Heterogenität nicht gerecht und verkürzt sie auf unzulässige Weise. Im Gegensatz zur Theorie der Inklusion verwickelt sich die Theorie der Integration nicht in den Widerspruch, nicht mehr von einzelnen Heterogenitätsdimensionen sprechen zu können. Hinz geht über diesen Widerspruch hinweg und versucht, ihn durch umständliche Umschreibungen der Heterogenitätsdimensionen erfolglos zu vermeiden oder flüchtet in die heuristische Trennung von person- und systembezogener Verwendung von Kategorien, was aber unter der Voraussetzung der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ ganz einfach nicht funktioniert (vgl. 2.3.4). Lediglich an einer Stelle blitzt der Unterschied der beiden Ansätze hinsichtlich ihrer Betrachtung von Heterogenität kurz auf, er wird aber sogleich wieder verwischt. Um zu zeigen, dass es keine theoretischen Unterschiede gibt, bezieht sich Hinz namentlich auf Prengel. Er zitiert sie hierzu aus der Einleitung ihrer Pädagogik der Vielfalt: „Mädchen und Jungen, behinderte und nichtbehinderte Menschen, Angehörige verschiedener Kulturen, Subkulturen und Gesellschaftsschichten: Ihnen allen steht Bildung zu. […] Lehrerinnen und Lehrer der Grundschulen haben darum wohl mehr als jede andere pädagogische Berufsgruppe Erfahrungen mit einer Pädagogik der vielfältig zusammengesetzten Lerngrup-

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pen gemacht und die verschiedensten Unterrichtskonzepte dafür entwickelt. Sie praktizieren immerzu gleichzeitig ihre je besonderen Formen der Geschlechtererziehung, der Interkulturellen Pädagogik, der Regel- und Sonderpädagogik.“ (Prengel 2006: 11)

Die Einschätzung von Hinz – und mehr als dieser eine Satz findet sich dazu nicht – fällt wie folgt aus: „Auch wenn sich aus heutiger Perspektive die bipolare Konstruktion zweier Gruppierungen kritisieren lässt – von heute aus gesehen ist es ebenfalls ein Ansatz mit inklusiver Stoßrichtung!“ (Hinz 2004: 54) Zwar deutet Hinz mit seiner Kritik an der „bipolaren Konstruktion zweier Gruppierungen“ den Unterschied hier kurz an; und ebenso sieht er in Prengels Ansatz hier ‚nur‘ noch einen Ansatz mit „inklusiver Stoßrichtung“. Die unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen stellt er aber auch hier nicht heraus; vielmehr sieht er letztlich auch in der Pädagogik der Vielfalt einen „inklusiven Entwurf“ (vgl. ebd.: 55). Wie wiederholt zur Sprache kam, bezieht sich Hinz ebenso immer wieder auch auf die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit bzw. Prengels Theorem der egalitären Differenz oder ihre Pädagogik der Vielfalt. Dieser Ansatz würde auch die Theoriebasis der Inklusion darstellen, die Theoreme müssten also ebenfalls Gültigkeit für die inklusive Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit haben. Durch die Analyse des integrationstheoretischen Umgangs mit gruppenbezogenen Kategorien und des Umgangs mit dem Anderssein erweist sich diese Unterstellung allerdings als unzutreffend. Anhand einer umfangreicheren Textpassage aus Prengels Pädagogik der Vielfalt zeigt sich, dass dieser Ansatz keine solche Auflösung kollektiver Verschiedenheit bzw. keine grundsätzliche Überwindung gruppenkategorialen Denkens, Handelns und Wahrnehmens anstrebt: „Der Zusammenhang von Selbstachtung und Anerkennung Anderer gilt nicht nur im Hinblick auf Einzelne, sondern auch im Hinblick auf Gruppen von Einzelnen mit gemeinsamen Erfahrungen. Im Austausch zwischen Verschiedenen kommt es vor, daß Einzelne beim Zuhören erkennen ‚Das habe ich auch schon einmal erlebt.‘ Für die Möglichkeit [sic!] eigene Erfahrungen in Worte zu fassen, zu verstehen und als Teil der eigenen Existenz zu erkennen erschließt das Wiedererkennen im Anderen neue Dimensionen. In der Pädagogik der Vielfalt hat darum neben der Anerkennung der Verschiedenheit zwischen Einzelnen auch die Anerkennung kollektiver Verschiedenheit zwischen Gruppen [Herv. P.S.] Platz. Gruppengemeinsamkeiten dürfen aber nicht von außen zugeschrieben und nicht durch gruppeninterne Hierarchien erzwungen werden, so daß Einzelne der Gruppe subsumiert werden, sondern es wird ihnen Raum gewährt, sich zu zeigen, zu entwickeln und zu verändern, sich gegebenenfalls auch wieder aufzulösen. Pädagogik der Vielfalt fördert Gruppenbildungen zwischen Mädchen und zwischen Jungen, zwischen Kindern aus dem gleichen Kulturkreis, zwischen Kindern mit ähnlichen Erfahrungen mit Behinderungen, weil Emanzipation immer auch ein kollektiver [Prozess] ist. Deren Gestaltung und Dauer muß situativ flexibel entschieden werden. […]

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Kollektivität berücksichtigen bedeutet in der Pädagogik der Vielfalt, Kinder und Jugendliche in ihrem historisch-kulturellen Gewordensein zu verstehen. Zugleich kritisiert die Pädagogik der Vielfalt die im Namen von Kollektivität praktizierten Separierungen und Repressionen.“ (Prengel 2006: 188f.)

Diese Beschreibung der Pädagogik der Vielfalt bringt ihr Anliegen und den differenzierten Umgang mit kollektiven oder gruppenbezogenen Kategorien deutlich zur Sprache. Die Pädagogik der Vielfalt kritisiert zunächst, dass Kollektivität häufig einer hierarchischen Unterteilung unterworfen wird. Sie ist explizit darauf angelegt, jegliche Hierarchisierung von Kollektivitäten in Frage zu stellen und scharf zu kritisieren. Mit ihr wird dafür plädiert, „Verschiedenes als nichthierarchisch, also als egalitär zu denken […]“ (Prengel 2010a: 21), im „Gedanken der egalitären Differenz kommt der Wunsch zum Ausdruck, auf vielfältige Weise leben zu können. […] Vielfalt des Lebens erscheint wertvoll, weil die Unterdrückung und Hierarchisierung von Lebensäußerungen als Verlust, Einschränkung, Störung oder gar als Zerstörung […] erfahren wird“ (Prengel 2001: 92). Die Denkfigur der egalitären Differenz „stellt nichts als ein anderes Wortspiel für das dar, was den Kern der Menschenrechtsidee ausmacht: Die gleiche Freiheit, die allen Menschen zukommt.“ (Prengel 2010b: 6) Wie die Textpassage zeigt, geht die Pädagogik der Vielfalt zudem davon aus, dass sich „Gruppengemeinsamkeiten“ wieder verändern oder auch auflösen können. In diesem Sinne betont Prengel ein Verständnis von „heterogen“ als „unbegreiflich“ und „unsagbar“ (vgl. ebd.: 5): „Heterogenität als Erkenntnismotiv enthält also auch immer die Frage, inwieweit eine wissenschaftliche Aussage, zum Beispiel über Kinder und Kindheit, stets begrenzt, unvollständig, vorläufig und fehlbar ist […]“ (ebd.). Sie schlussfolgert hieraus, „dass es unmöglich ist, einen Menschen definitiv zu diagnostizieren oder einer Kategorie zuzuordnen“ (ebd.). Unerlässlich sei daher sowohl die „Offenheit für Unbestimmtes, Unvorhergesehenes, Unbekanntes […]“ (ebd.) als auch „eine vehemente Kritik an etikettierenden Zuschreibungen“ (ebd.). Kategoriale Aussagen würden „immer nur Annäherungen an kindliche Wirklichkeit erlauben“ (ebd.). Mit der Denkfigur der egalitären Differenz „geht es gerade nicht darum, Menschen auf eine Identität festzulegen, beispielsweise als behindert, als Ausländer, als Migrant, als Mädchen oder als Junge. Es geht vielmehr um das Ideal, jedem Kind die Möglichkeit zuzugestehen, einen eigenen Lernweg sowie einen eigenen Lebensentwurf zu suchen.“ (Ebd.: 6) Man könnte nun mit diesen Aussagen zu dem Schluss gelangen, dass – entgegen der behaupteten These – das inklusionstheoretische Verständnis von Heterogenität mit dem integrationstheoretischen Verständnis deckungsgleich ist. In der zitierten Textpassage spricht Prengel nun aber ausdrücklich auch davon, dass in der Pädagogik der Vielfalt bzw. mit der Denkfigur der egalitären Differenz neben der Anerkennung der Verschiedenheit zwischen Einzelnen auch die Anerkennung kollektiver Verschiedenheit zwischen Gruppen Platz hat. Eine solche Aussage steht

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unübersehbar im krassen Widerspruch zum inklusionspädagogischen Verständnis von Heterogenität, das ausschließlich noch als „individuelle Verschiedenheit“ verstanden wird. Mit dem Theorem der egalitären Differenz ist auch keine Rede davon, dass gruppenbezogene Kategorien nur noch in gesellschaftskritischer Absicht oder „systembezogen“ verwendet werden dürfen, wie dies von Hinz aus inklusiver Perspektive vorgesehen ist. Im Gegenteil: Die „Anerkennung kollektiver Verschiedenheit“ stellt für die Pädagogik der Vielfalt ein wichtiges Erkenntnismotiv auch für pädagogische Prozesse und pädagogische Professionalität dar. „Kollektivität“ ermöglicht es, Kinder und Jugendliche in ihrem „historisch-kulturellen Gewordensein“ zu verstehen, wie es in der zitierten Textpassage heißt. Prengel benennt klar das Dilemma, dass mit der kollektiven Perspektive „die Gefahr essentialistischer und etikettierender Zuschreibungen“ besteht (vgl. Prengel 2001: 101). Diese Gefahr sieht sie im Übrigen auch mit der individuellen Perspektive gegeben; auch diese erfasst „nicht schon den kleinstmöglichen Ausschnitt, denn gerade aus differenztheoretischer Sicht stellt das Individuum keine Einheit mit abgeschlossener Identität dar. Darum lässt sich auch die individuelle Perspektive im Hinblick auf verschiedene Lebensabschnitte, verschiedene Beziehungsmöglichkeiten in verschiedenen sozialökologischen Kontexten wie Familie, Schule, Peer-group usw. auffächern.“ (Ebd.)

Ein „dynamisches Differenzkonzept“ könne „fixierende Identifizierungen“ zwar vermeiden, aber eben nur begrenzt. Wenn aber, wie Prengel zuzustimmen ist, „überhaupt Aussagen über Einzelne wie über soziale Gruppierungen möglich sein sollen, müssen sie als Untersuchungseinheiten – zumindest provisorisch – definitorisch eingegrenzt werden“ (ebd.). Theoretische und empirische Kategorienbildung ist daher immer mit grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Problemen verbunden (vgl. ebd.). Zwar gereicht unsere Sprache niemals völlig an das Phänomen selbst heran, sie definiert das Phänomen notgedrungen als etwas und wird ihm somit niemals völlig gerecht; allerdings darf diese Einsicht nicht dazu führen, auf personenoder gruppenbezogene Kategorien generell zu verzichten, da wir uns ansonsten nicht einmal mehr verständigen könnten. Es ist allerdings anzuzweifeln, dass es sich bei diesen Kategorien um bloße Konstrukte handelt, denn wir bestimmen nicht autonom über unsere Wahrnehmung. Eine Kritik an etikettierenden Zuschreibungen ist nach Prengel zwar unerlässlich und ebenso bedeuten kategoriale Aussagen immer nur Annäherungsprozesse an die Wirklichkeit. Aber zugleich, so Prengel, sind „fachlich fundierte Kategorien für soziale oder kulturelle Lebenslagen, für Behinderungsarten und für Geschlechter unverzichtbar, denn ohne sie wären weder Sozial- und Bildungsstatistik noch Forschung über Benachteiligungen, über kollektive Erfahrungen, über pädagogische

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oder therapeutische Konzepte noch diagnostische Aussagen möglich. Ohne Kategorien gibt es keine fachliche Kommunikation.“ (Prengel 2014: 53; vgl. 2010b: 6)

Dem ist hinzuzufügen, dass es ohne Kategorien auch keine Rede über unsere Erfahrungen und Wahrnehmung gibt, ja, die Wahrnehmung selbst ist bereits notgedrungen auf Kategorienbildung angelegt. Auch die inklusive Pädagogik benötige Prengel zufolge kollektive (Gruppen-) Kategorien: „Im Spektrum der Positionen Inklusiver Pädagogik wird Individualität favorisiert, und kollektive kategoriale Zuordnungen werden in ihren etikettierenden und diskriminierenden Wirkungen wahrgenommen. Obwohl jedes Kind in der heterogenen Kindergruppe mit seiner besonderen Biographie einzigartig ist, braucht Inklusive Pädagogik auch Erkenntnisperspektiven, die sich auf Gruppen beziehen.“ (Prengel 2010a: 45f.)

Ihre unmittelbar im Anschluss an diese Aussage getroffene Einschätzung lässt sich durchaus als Kritik am inklusionspädagogischen Ansatz verstehen: „Das Fehlen einer kollektiven Kategorienbildung käme einem Verzicht der Aufmerksamkeit für kollektive Traditionen, für die Entwicklung von gruppenbezogenem Fachwissen, für den zielgruppenbezogenen professionellen Austausch sowie für generalisierungsfähige Forschungen gleich.“ (Ebd.: 46) Dieser Einschätzung des inklusionspädagogischen Ansatzes und der inhaltlichen Kritik ist ebenfalls zuzustimmen. Allerdings bleibt fraglich, warum dieser Ansatz dann noch als „inklusiv“ bezeichnet werden sollte, wenn sich der Grundgedanke der pädagogischen Inklusionsidee nach Hinz „gegen jegliche Gruppenzuordnung von Menschen richtet und stattdessen die individuelle Einmaligkeit eines Menschen in den Mittelpunkt rückt“ (Hinz 2010a: 43). Erkenntnisperspektiven, die sich auf Gruppen beziehen, sind mit dem Theorem der Normalität der individuellen Verschiedenheit zudem nicht mehr möglich. In einem anderen Aufsatz ordnet Prengel ihre Pädagogik der Vielfalt zu Beginn gar selbst der „Inklusiven Pädagogik“ zu (vgl. Prengel 2010b: 1), sie beschränkt sich in ihren weiteren Ausführungen aber im Wesentlichen auf ihre bisherigen Überlegungen zum Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit. Es ist ohne jeglichen Zweifel in hohem Maße anerkennenswert, dass Prengel auf die Problemlagen des inklusionspädagogischen Ansatzes aufmerksam macht. Es bleibt allerdings – zumindest in den hier herangezogenen Texten – unklar, warum sie ihren eigenen Ansatz auf einmal der Inklusionspädagogik zuordnet, da sie sich in ihren Ausführungen im Wesentlichen auf ihre Überlegungen der letzten 20 bis 30 Jahre stützt. Sie verteidigt die Denkfigur der egalitären Differenz zwar implizit immer wieder gegen unzulässige Verkürzungen im Sinne der bloßen Normalität der (individuellen) Verschiedenheit. Es ist aber nicht zu erkennen, wodurch sich ihre aktuellen Überlegungen von ihren bisherigen integrationstheoretischen Überlegungen unterscheiden

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würden. Gegen Ende des erwähnten Aufsatzes betont Prengel sogar, dass der „Erkenntnisgewinn“ – in diesem Fall für die erfolgreiche Entwicklung der Frühpädagogik – bereits durch „die Integrationsforschung in den 1980er Jahren auch für die heutige Zeit gültig formuliert“ (ebd.: 11) wurde. Dies spricht zwar dafür, dass sie mit dem inklusionspädagogischen Ansatz keine theoretische Weiterentwicklung, sondern vielmehr eine Verkürzung gegeben sieht (vgl. Prengel 2010a: 19). Es ist aber dann erst recht nicht zu verstehen, aus welchen inhaltlichen und theoretischen Gründen sie ihre Pädagogik der Vielfalt der Inklusionspädagogik zuordnet. Klärungen wären hierzu sehr hilfreich, da sich ansonsten der Verdacht einstellt, dass es zu einer Gleichsetzung von Integration und Inklusion kommt und der wissenschaftliche Erkenntnis- und Neuerungswert von Inklusion in Zweifel gezogen wäre.19 Wie dem auch sei: Bei Hinz – und dies ist im deutschsprachigen Raum so deutlich erkennbar nur bei ihm – ist dieser theoretische Unterschied, der die Einführung eines pädagogischen Inklusionsbegriffes rechtfertigt, mit der Bestimmung von Heterogenität als individuelle Verschiedenheit und der Ablehnung gruppenkategorialer Zuordnungen abseits der Gesellschaftskritik klar gegeben. Dies gilt auch dann, wenn er diesen theoretischen Unterschied in Abgrenzung von der Integrationstheorie selbst nicht klar benennt. Im Gegensatz zur Integrationstheorie und zu seinen eigenen Überlegungen zu Beginn der 90er Jahre wird kollektive Verschiedenheit mit dem Ansatz der Normalität der individuellen Verschiedenheit obsolet. So spricht Hinz im Jahr 1993 selbst noch explizit immer wieder von „Gruppierungen“. Er sieht hier sogar, dass die Theorie integrativer Prozesse „nicht nur Bedeutung für einzelne Personen [hat], sondern [sie] läßt sich ebenso auf die Beziehungen zwischen Gruppierungen, also auf die gesellschaftliche Ebene, anwenden“ (Hinz 1993: 44). An einer anderen Stelle könnte man Hinz so verstehen, dass er die Etikettierung und Gruppierung von Behinderungen – auch wenn er derartige Etikettierungen zum damaligen Zeitpunkt schon sehr kritisch betrachtet – damals noch nicht gänzlich in Frage stellt, wenn er folgendes als denkbar in Erwägung zieht: „Als pragmatischer Schritt wäre – nach italienischem, aber auch skandinavischem Vorbild – die Begrenzung des Behinderungsbegriffs auf die klarer faßbaren Sinnes-, Körper- und geistigen Behinderungen denkbar, die Lern-, Verhaltens- und Sprachprobleme aus 19 Prengel geht auf diese Problematik lediglich anhand von Fußnoten in zwei der hier herangezogenen Texte ein (vgl. Prengel 2011: 23; 2015: 28). Entgegen ihrer eigenen Kritik am inklusionspädagogischen Ansatz spricht sie hier unter anderem davon, dass die Integrationsbewegung „den gleichen Einsichten und Praktiken verpflichtet war wie die heutige Inklusionsbewegung“ (Prengel 2015: 28). Die Begriffe Inklusion und Integration werden von ihr daher „aus Gründen der historischen Kontinuität der Integrations- und Inklusionsbewegung […] in weitgehend gleicher Bedeutung verwendet“ (ebd.). Damit werden die theoretischen Unterschiede zwischen beiden Ansätzen jedoch verwischt und ihre eigene, berechtigte Kritik an der inklusiven Pädagogik wird unplausibel.

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dieser Etikettierung ausnehmen würden.“ (Ebd.: 142) Nach Hinz wäre dieser Schritt unter anderem damit begründbar, dass hierdurch „unterschiedliche Entstehungszusammenhänge der beiden (wenn auch nicht eindeutig voneinander abgrenzbaren) großen Gruppen von Behinderungen, einerseits mit auch körperlich deutlichen Beeinträchtigungen, andererseits im Sozialisationsprozeß und in der Auseinandersetzung mit Schule entstehend […], berücksichtigt [würden]“ (ebd.). Auch wenn an dieser Stelle nicht restlos klar wird, ob dieser „pragmatische Schritt“ von Hinz Unterstützung erfährt oder nicht, ist die Rede bei ihm auch an anderen Stellen damals noch von „Kindern mit Sinnes-, Körper- und geistiger Behinderung […]“ (ebd.: 143). Auch heute noch kommt er ohne die Benennung der Behinderungen nicht aus. Derartige kollektive Etikettierungen und Bezeichnungen wären aus heutiger inklusionspädagogischer Sicht in höchstem Maße stigmatisierend und diskriminierend. Zwar ist bei Hinz auch damals schon keine größere Wertschätzung für „kollektive Verschiedenheit“ zu erkennen, die er heute nur noch zum Einsatz der Kritik gesellschaftlicher Missstände einsetzen will. Er bezieht sich aber in seiner inklusionistischen Kritik – und dies meint auch und vor allem die Kritik an der „ZweiGruppen-Theorie“ – auf die Denkfigur der egalitären Differenz, die die Anerkennung kollektiver Verschiedenheit zwischen Gruppen explizit zulässt. Und dies eben nicht nur in einer hierarchie- oder gesellschaftskritischen Absicht, sondern als elementares Erkenntnismotiv auch für pädagogisches Handeln. Das Prinzip der Verschiedenheit wird im dialektischen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit nicht aufgelöst zugunsten individueller Verschiedenheit, wie dies im inklusionspädagogischen Theorem der Normalität der individuellen Verschiedenheit der Fall ist. Mit dem Prinzip der Verschiedenheit, so Prengel, „ist prinzipiell die ganze Bandbreite möglicher Existenzweisen gemeint, und die Differenzen innerhalb der Gruppe der nichtbehinderten Kinder und innerhalb der Gruppe der behinderten Kinder fallen ebenso ins Gewicht wie die Unterschiede zwischen Nichtbehinderten und Behinderten. Indem individuelle Differenzen anerkannt werden, können zwangsläufig subkulturell bedingte Unterschiede koexistieren.“ (Prengel 1990: 275)

Es ist nicht nachvollziehbar, warum eine derartige Bestimmung des dialektischen Verhältnisses von Gleichheit und Verschiedenheit, die explizit Unterschiede zwischen Gruppen in nicht nur kritischer Absicht aufgreift, von Hinz keine Berücksichtigung erfährt, wo es ihm doch geradezu um den theoretischen Vergleich von Integration und Inklusion geht. Klar aber ist, dass seine inklusionspädagogische Verortung des Topos Heterogenität als individuelle Verschiedenheit das dialektische Spannungsverhältnis, das auch zwischen Gruppen möglich ist, nicht mehr berücksichtigen kann. Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz wird dieses Spannungsverhältnis, das sich stets in der Gefahr der Stigmatisierung bewegt, aufgelöst, der einzelne Mensch darf nur noch unter der Perspektive der individuellen Verschie-

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denheit betrachtet werden. Es gibt unter dem Maßstab der individuellen Einzigartigkeit nur noch individuelle Unterschiede, aber keine kollektiven Unterschiede mehr. Das macht aber die Rede von Unterschieden letztlich überflüssig, da nicht mehr gesagt werden kann, wer sich von wem in welcher Hinsicht unterscheidet, und erst recht nicht, welche Menschen sich hinsichtlich kollektiver Erfahrungen unterscheiden. „Das Dilemma der Gleichstellung, ihre befreiende Wirkung und ihr Anpassungsdruck“ ist allerdings, so Prengel, „nicht ohne weiteres auflösbar“ (ebd.: 286). Dieses Dilemma ist auch nicht durch eine Verabschiedung der kollektiven Perspektive aufzulösen; es sei denn, man ignoriert spezifische Erfahrungen von Menschen, die sie mit bestimmten, anderen Menschen teilen können, aber eben nicht mit allen anderen Menschen. Gerade die Auseinandersetzung mit diesem Dilemma habe zu neuen pädagogischen Ideen geführt (vgl. ebd.): „In der Behindertenpädagogik führten die Kritik am Anpassungsdruck und die Reflexion des Normalisierungsprinzips zur Frage nach dem Recht der Behinderten auf ihr Anderssein, die besonders von der Krüppelbewegung öffentlich diskutiert wird.“ (Ebd.: 286f.) Mit der Perspektive der egalitären Differenz erfährt daher gerade auch die Sicht der Betroffenen, das heißt die der kollektiven Verschiedenheit Aufmerksamkeit. Aus der Sicht der egalitären Differenz ist weder der Fokus auf gruppenbezogene Verschiedenheit generell stigmatisierend noch darf mit ihr gruppenbezogenes Denken nur noch in gesellschaftskritischer Absicht zum Einsatz kommen. Vielmehr ermöglicht sie es, in der pädagogischen Arbeit auch die gemeinsam geteilten Erfahrungen der Mitglieder einer Gruppe zu berücksichtigen und somit pädagogische Prozesse auch in dieser Hinsicht möglichst angemessen zu gestalten: „Sowohl in der feministischen als auch in der interkulturellen Pädagogik spielt die Kollektivität der benachteiligten Gruppe eine unverzichtbare Rolle. Auch für jene Konzepte feministischer Pädagogik, die keineswegs die Koedukation in Frage stellen, ist die zeitweilige Trennung der Geschlechter und der separate Austausch notwendig, um gemeinsame Erfahrungen benennen und neue Perspektiven entwickeln zu können. In der interkulturellen Erziehung […] sind die gemeinsamen Erfahrungen der Angehörigen einer Kultur wesentlich für die Arbeit. Die Integrationspädagogik entstand durch die Kritik an ausgrenzender Separierung der Behinderten. Die Arbeit an der Frage nach den Möglichkeiten der identitätsstiftenden Kollektivität der Behinderten, wie sie zum Beispiel in der Krüppelbewegung und in der Gehörlosengemeinschaft thematisiert wird, hat sie noch nicht aufgenommen. […] Die Frage nach der Kollektivität der Behinderten stellt sich für unterschiedliche Formen von Beeinträchtigungen sehr unterschiedlich, sie stellt sich wohl kaum für alle. Es gehört zu allen Emanzipationsbewegungen, sich zum Erfahrungsaustausch und zum Aufstellen und Durchsetzen von Forderungen zusammenzuschließen. […] In der Integrationspädagogik der nächsten Jahre wird es auch darum gehen, emanzipatorische Formen der Kollektivität Behinderter nach deren eigenen Wünschen zu entwickeln […].“ (Ebd.: 287)

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An anderer Stelle formuliert Prengel die bisherigen Grenzen der integrativen Pädagogik noch etwas schärfer. Diese zeuge zwar von einer einzigartigen „Aufmerksamkeit für individuelle Heterogenität verbunden […] mit der Aufmerksamkeit für Gemeinsamkeit. […] Grenzen der integrativen Pädagogik sehe ich darin, daß sie bisher vielfach die Augen verschlossen hat vor der Bedeutung der Gemeinsamkeit zwischen Menschen mit ähnlichen Lebenserfahrungen. […] Integrationspädagogik ist darum hochsensibel für individuelle Heterogenität, für kollektive Heterogenität hingegen hat sie noch wenig Bewußtsein. Diese Begrenztheit betrifft alle möglichen Formen potentieller Kollektivität von Kindern und Jugendlichen, wie sie etwa in unterschiedlichsten peer-groups zum Ausdruck kommen. Sie zeigt sich drastisch darin, daß die Integrationspädagogik die Kollektivität von Menschen mit Behinderungen, wie sie die Selbsthilfebewegung, und als deren Teil die Krüppelbewegung, beflügelt hat, kaum beachtet.“ (Prengel 2006: 170)

Das Bewusstsein für kollektive Heterogenität ist im inklusionspädagogischen Ansatz nun aber völlig verloren gegangen (vgl. hierzu auch Singer 2015a: 60). Noch mehr: Es sollen sogar die letzten Zweifel beseitigt werden, „dass Inklusion […] auf bestimmte Personengruppen fokussiert sein könnte, es also doch partikulare und gruppenkategorial ausgerichtete Anteile des inklusiven Fokus’ [sic!] geben könnte“ (Hinz/Boban 2008: 207). Ein großes Problem hierbei ist die beträchtliche Wirkmächtigkeit dieses Fokus, der im gesellschaftspolitischen Feld und im wissenschaftlichen Betrieb zu einer immer stärkeren Verkrampfung der Diskussionen und damit zum Gegenteil dessen führt, was inklusionspädagogisch erreicht werden soll: Ein sich normalisierender Umgang mit Verschiedenheit. Von Behinderungen oder ‚Behinderten‘ zu sprechen erscheint selbst im wissenschaftlichen Diskurs inzwischen als frevelhaft und rückständig.20 Kobi übt in diesem Rahmen beispielsweise scharfe Kritik am Wandel der heilpädagogischen Sprachnutzung und spricht hinsichtlich „political“ und „pedagogical correctness“ gar von der „Sprach-Polizei“, die mit Orwell letztlich dazu führe, die Reichweite der Gedanken zu verkürzen (vgl. Kobi 2006b: 145f.). Ohne die weitreichende fachliche Diskussion an dieser Stelle zu eröffnen, ist mit Kahlert und Heimlich aber auch darauf hinzuweisen, dass das „Menschenrecht auf ein Leben in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit […] Regelungen notwendig [macht], die gewährleisten, dass Menschen, die dafür besondere Unterstützung benötigen, diese auch erhalten. Wenn dies unabhängig vom Wohlwollen ihrer nahen und fernen Umgebung garantiert sein soll, muss man diejenigen benennen, die ein Recht auf besondere Unterstützungen haben.“ (Kahlert/Heimlich 2014: 105) 20 In vielen Seminarsitzungen sind zum Beispiel Studierende der Heil- und Sonderpädagogik hochgradig verunsichert, wie sie den genuinen ‚Gegenstand‘ ihres Fachgebietes benennen sollen.

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Von der ‚Kollektivität Behinderter‘ zu sprechen – wie diese Perspektive mit der egalitären Differenz noch möglich ist und auch eingenommen wird – muss dem inklusionspädagogischen Ansatz als ein unsäglicher Affront in doppelter Hinsicht erscheinen. Es muss nochmals deutlich gesagt werden: Die von Hinz vorgeschlagene, aber innerhalb des Theoriegebäudes widersprüchliche ‚Lösung‘, nur noch zur Analyse gesellschaftlicher Marginalisierungserfahrungen in Gruppenkategorien zu denken – alles andere sei diskriminierend – entspricht nicht dem Denken der egalitären Differenz. Die Perspektive kollektiver Verschiedenheit kommt mit dieser Denkfigur nicht oder nicht nur in gesellschaftskritischer Absicht zum Einsatz. Sie bringt vielmehr auch die Wertschätzung für das andere oder kollektive Anderssein zum Ausdruck. Eine Diskriminierung liegt hier nur insofern vor, als den gemeinsam geteilten Erfahrungen einer Gruppe, in denen diese sich von einer anderen Gruppe unterscheidet, Aufmerksamkeit zuteilwird. Diese Erfahrungen als bloße „Konstrukte auf gesellschaftlich-normativer Ebene“ (vgl. Hinz/Boban 2008: 207) abzutun und sie überwinden zu wollen, wird ihnen und den Menschen, die diese Erfahrungen machen, sicherlich noch weniger gerecht als der stete Versuch, sich ihnen – auch im pädagogischen Sinne – zuzuwenden. Die auf die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit zurückgehenden Ansätze betonen nicht nur die individuelle Verschiedenheit, sondern auch die kollektive Verschiedenheit, sie „werden den historisch und biographisch gewordenen Differenzen zwischen Kindern gerecht, indem sie Raum schaffen für die geschlechtsspezifisch, (sub)kulturell und individuell verschiedenen existenziellen [Herv. P.S.] Erfahrungen […]“ (Prengel 1990: 288). Die kollektive Perspektive ist wichtig, da sie nicht nur „Fragen nach Erkenntnissen über Gruppierungen von Menschen [ermöglicht]“ (Prengel 2001: 100) und nicht nur den individuellen, sondern auch den gemeinsam geteilten, existenziellen Erfahrungen Rechnung trägt. Auch der Integrationspädagoge Reiser, der Hinz neben Prengel als andere Referenzgröße bei der Beurteilung dessen dient, dass es keine theoretischen Unterschiede zwischen Integration und Inklusion gibt, bestätigt die gezeigten Sichtweisen, die mit der Denkfigur der egalitären Differenz einhergehen: Explizit heißt es auch bei ihm, dass das universelle Postulat integrativer Prozesse, auf das sich Hinz namentlich immer wieder bezieht, die partikularen Ansprüche nicht auflöst (vgl. Reiser 1990a: 298): „Im positiven Fall sind diese in dem universellen Postulat aufgehoben; universelles Postulat und partikularer Anspruch können sich auch in einer Gegensatzeinheit gegenüberstehen.“ (Ebd.) Das heißt, die Einnahme einer kollektiven Perspektive bzw. ein gruppenkategoriales Denken kann grundsätzlich notwendig sein, und dies deshalb, weil es für die Betroffenen selbst und für das Verständnis der einzelnen Gruppen existenziell wichtig sein kann. Gruppenkategoriales Denken dient eben nicht nur der Kritik gesellschaftlicher Missstände. Reiser betont sogar, dass die Möglichkeit, sich in Bezugsgruppen zu begeben, auch für behinderte Men-

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schen notwendig ist (vgl. ebd.). Diese würden sich im Laufe ihres Kinder- und Jugendlebens mit ihrer Beeinträchtigung auseinandersetzen und sind „dabei auch auf den Kontakt zu anderen Menschen mit denselben Beeinträchtigungen angewiesen […]. So hat z.B. das blinde Mädchen in der Grundschule, das jedem Besucher zu Anfang mitteilt: ‚Ich bin die einzige Blinde hier in der Schule‘ auch das Recht, in der Gleichheit mit anderen Blinden ihre Verschiedenheit zu den Sehenden zu bestätigen.“ (Ebd.)

Diese Aussage Reisers hat nichts mit einem Plädoyer für Sonderschulen zu tun, denn die „eigenständige Sonderpädagogik hat bislang nur den Rückzug in die Behinderten-Identität angeboten und das Grundproblem unzulässigerweise einseitig aufgelöst“ (ebd.). Sie hat aber ganz sicher auch nichts damit zu tun, die Unterschiedlichkeit der Verschiedenheit oder das andere Anderssein in einer bloß noch individuellen Verschiedenheit aufzulösen: „Das universelle Postulat der Integration fordert die Realisierung der Gemeinsamkeit aller Menschen, hebt aber die Notwendigkeit der Identifikation des einzelnen mit Sub-Gruppen als Schutz gegen Vereinzelung nicht auf.“ (Ebd.) Um eine solche Perspektive einnehmen zu können und ihr pädagogische Achtsamkeit zuteilwerden zu lassen, bedarf es aber der – auch pädagogischen – Identifizierung der Gruppe als solcher. Die Perspektive der individuellen Verschiedenheit oder Einzigartigkeit, die wir alle im Umgang mit Heterogenität einnehmen sollen, erlaubt das allerdings nicht mehr. Wenn, wie Hinz richtig feststellt und wie es der inklusionspädagogische Ansatz anstrebt, „Heterogenität Normalität ist“ (vgl. Hinz 2002: 357), dann ist „[p]ädagogisch […] nicht mehr feststellbar, wo im kontinuierlichen Spektrum von Gleichheit und Verschiedenheit ‚das deutsche Kind‘ endet und ‚das ausländische Kind‘ beginnt, wo ‚die weibliche Rolle‘ endet und die ‚männliche‘ beginnt oder wo der Beginn von ‚sozialer Benachteiligung‘, ‚sonderpädagogischem Förderbedarf‘ oder anderem ‚Anderssein‘ auszumachen wäre.“ (Ebd.)

Anhand dieser Aussage zeigt sich nochmals deutlich, wie Hinz hier unzulässigerweise das Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ mit der Denkfigur der „Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit“ vermengt bzw. letztere umdeutet. Richtig ist zunächst: Mit der Perspektive der „Normalität der Verschiedenheit“ lässt sich dies alles tatsächlich nicht mehr feststellen, was aber notwendig wäre, um auch der kollektiven Verschiedenheit gerecht werden zu können. Im von ihm hier so benannten „kontinuierlichen Spektrum von Gleichheit und Verschiedenheit“ ist das jedoch entgegen seiner Aussage alles nicht nur noch möglich, sondern es kann den Ausführungen Prengels und Reisers zufolge auch notwendig sein. Die Dilemmata der Einlösung von universellen und partikularen Anspruch und der Gefahr stigmatisierender Etikettierungen werden in der Integrationstheorie klar gesehen, sie werden

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mit der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit aber nicht zugedeckt. Die Denkfigur von Gleichheit und Verschiedenheit hebt diese Dilemmata eben gerade nicht auf, dies tut nur die Denkfigur der „Normalität der Verschiedenheit“. Das dialektische Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit zielt also nicht darauf ab, Heterogenität nur noch als individuelle Verschiedenheit zu bestimmen. Es hat wegen der gezeigten Gründe keine Überwindung gruppenbezogenen Denkens, Handelns und Wahrnehmens zum Ziel. Mit der egalitären Differenz wird der hierarchisch-bewertende Umgang mit kollektiver Verschiedenheit kritisiert und nicht das Denken, Wahrnehmen und Handeln in diesen Kategorien per se. Wie ausführlich gezeigt werden konnte, ist es demgegenüber aber sogar ein Grundgedanke des inklusionspädagogischen Ansatzes, sich gegen jegliche Gruppenzuordnung von Menschen zu richten (vgl. Hinz 2010a: 43). Und dies deshalb, weil – so der Vorwurf an die Praxis der Integration – auch sie „dieses Anderssein nicht im Sinne einer Dialektik von Gleichheit und Differenz […] überwunden“ (Hinz 2002: 357) habe. Ein Denken in vorgeblich sonderpädagogischen Kategorien zementiere dieses Anderssein und unterwirft „die Individualität der einzelnen Personen solchen Kategorien […]“ (Hinz 2010a: 40). Aus inklusionistischer Sicht heraus betrachtet: Wenn die Überwindung des gruppenbezogenen Denkens, Handelns und Wahrnehmens stattgefunden hat, fällt auch das Anderssein durch Behinderung weg. Nur so könne es zu einem wertschätzenden und angemessenen Umgang mit Heterogenität kommen. Wie dies auf der theoretischen Ebene durch das Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ gelingt, ist ausführlich erörtert worden. Das andere Anderssein, beispielsweise eine Behinderung, wird zum bloßen individuellen Anderssein und damit zur bloßen individuellen Verschiedenheit herunter gestuft. Mit dem universellen Postulat der Integration und der Denkfigur der egalitären Differenz geht es aber nicht um die Überwindung gruppenbezogener Kategorien bzw. kollektiver Verschiedenheit, weshalb anzunehmen ist, dass die Theorie der Integration auch keine Überwindung des Andersseins anstrebt. Die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit wird zwar von Hinz – insbesondere im thematisierten Ergänzungsmodell – auch zur Begründung der Überwindung des Andersseins herangezogen; jedoch wird diese Denkfigur von Prengel – auf die sich Hinz bei der Verwendung dieser Denkfigur namentlich bezieht und womit er die Theoriegleichheit als gegeben ansieht – nicht in diesem Sinne begründet und verwendet. Prengel sieht sehr wohl Unterschiede zwischen Gruppen gegeben, die es auch pädagogisch zu berücksichtigen gilt. Das Spannungsverhältnis universeller Gleichheitsrechte und partikularer Besonderheiten gilt nicht nur für individuelle, sondern auch für kollektive „Besonderheiten“: Auch wenn Frauen, andere Ethnien und ‚Behinderte‘ gemeinsame Stigmatisierungserfahrungen erlitten hätten, bedeutet dies nicht, „daß sich diese Gruppen real gleichen“ (Prengel 1990: 285). Die Anerkennung kollektiver Verschiedenheit gewährt dem anderen Anderssein im dialektischen Spannungsverhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit noch Raum, wohingegen es in der

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Auflösung dieses Spannungsverhältnisses durch die Denkfigur der „Normalität der Verschiedenheit“ keinen Platz mehr für ein anderes Anderssein gibt. Prengels demokratischer Differenzbegriff, der auf der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit beruht, bezieht sich sowohl auf „die Differenzen zwischen dominanten und inferiorisierten gesellschaftlichen Gruppen (zwischen dominierenden und inferiorisierten Kulturen, zwischen Männern und Frauen, nichtbehinderten und behinderten Personen usw.)“ als auch auf „die Differenzen zwischen Untergruppen innerhalb einer jeden dieser Gruppen“, also „innerhalb behinderter Personenkreise“, sowie schließlich auch „auf die Vielfalt zwischen Einzelpersonen sowie auf die innerpsychische und -somatische Heterogenität verschiedener Persönlichkeitsanteile“ (vgl. Prengel 2006: 181f.). Ihre Feststellung hierzu lautet: „Pluralitätstheoretisch stehen Wertschätzung von Individualität und kollektiver Zugehörigkeit nicht im Widerspruch, sie entstehen lediglich durch verschiedene ‚Brennweiten‘ des Wahrnehmungsfocus.“ (Ebd.: 182) Diese Differenzen dürften allerdings nicht essentialistisch verstanden werden im Sinne des Wesens der Frau oder der ‚Behinderten‘, sondern nach Prengel handelt es sich um soziokulturelle Differenzen, um unterschiedliche Lebensweisen und unterschiedliche Verarbeitung von Lebenserfahrungen, die zudem in ständiger Veränderung begriffen sind (vgl. ebd.: 182). Sicherlich unterliegt die Wahrnehmung dieser Differenzen stets auch soziokulturellen Deutungsmustern. Es ist aber fragwürdig, ob es sich bei den Differenzen tatsächlich nur um soziokulturelle und nicht auch um leiblich erfahrene Differenzen handelt, die sowohl für ‚Behinderte‘ als auch für ‚Nichtbehinderte‘ eine existentielle Bedeutung haben. Von einer Überwindung des Andersseins ist trotz dieser Bestimmung von Heterogenität im dialektischen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit nirgends die Rede. Im Gegenteil geht es mit dieser Denkfigur neben der Legitimation der Gleichheitsrechte auch um das Recht auf Akzeptanz des Andersseins von Frauen, ‚Behinderten‘ oder Angehörigen von Minoritäten (vgl. ebd.: 183). An dieser und an anderer Stelle wird nun sehr deutlich, dass es in dieser Dialektik eben gerade nicht um die Überwindung des Andersseins geht: „Das Anderssein durch Behinderung ist nicht mehr zentrales, die Aussonderung begründendes Merkmal, sondern das gemeinsame Menschsein hat Priorität und begründet die Gleichheit des Schulbesuchs. Zugleich aber wird die Anerkennung des Andersseins zu einem wesentlichen Prinzip pädagogischen Handelns im Unterricht […]“ (Prengel 1990: 274). Anhand dieser Aussage wird deutlich, dass das „gemeinsame Menschsein“ das „Anderssein durch Behinderung“ nicht aufhebt. Vielmehr gilt es, dieses Anderssein anzuerkennen, nicht nur in der Hinsicht individueller Verschiedenheit – was der Überwindung des Andersseins gleichkommt – sondern auch unter der Perspektive kollektiver Verschiedenheit. Die folgende Klarstellung von Prengel aus dem Jahr 1990 klingt aus heutiger Sicht wie eine aktuelle Kritik an der inklusionspädagogischen Verwendung der Denkfigur der egalitären Differenz: Die

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„Struktur des Verhältnisses von Gleichheit und Verschiedenheit in der Integrationspädagogik […] hat nichts zu tun mit einer Illusion von Gleichheit der Behinderten, die Behinderungen ungeschehen machen will. Die Theorie der Gleichheit und die von uns untersuchte integrative Praxis beinhalten: Zur Akzeptanz der Verschiedenheit gehören zwangsläufig auch die Auseinandersetzungen mit dem Leiden an Behinderung und mit der Abwehr von Behinderung […].“ (Ebd.: 276)

Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, reicht aber eine Bestimmung von Heterogenität als individuelle Verschiedenheit überhaupt nicht aus. In der Beibehaltung des Behinderungsbegriffs – in der kollektiv-kategorialen Perspektive – besteht nach Reiser zwar insofern ein Widerspruch, als „die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit von Menschen grundsätzlich im Widerspruch bleibt zu den gesellschaftlichen Erwartungen von ‚Normalität‘“ (Reiser 1990b: 272). Den Begriff ‚behindert‘ als Abgrenzungsbegriff zu ‚nichtbehindert‘ zu verwenden, sieht aber auch er als notwendig an, um überhaupt die soeben angesprochene „Trauerarbeit“ leisten zu können: „Voraussetzung der Akzeptanz des Kindes ist bei den Eltern und LehrerInnen der behinderten Kinder die Wahrnehmung der Beeinträchtigung und die psychische Verarbeitung dieser Tatsache, d.h. Trauerarbeit. Voraussetzung hierfür ist eine klare Einsicht in den Umfang der Beeinträchtigung und deren Folgen.“ (Ebd.: 271f.) Auch die Schlussfolgerung Reisers aus dem Jahr 1990 liest sich wie eine aktuelle Kritik am inklusionspädagogischen Umgang mit Heterogenität: „Wenn das Etikett ‚behindert‘ gemieden wird, wird mitunter auch diese Einsicht behindert.“ (Ebd.: 272) Hiermit sind existentielle Erfahrungen sowohl des ‚Behinderten‘ als auch des ‚Nichtbehinderten‘ angesprochen, die nicht ausschließlich und nicht primär mit einem gesellschaftlichen Konstrukt zu tun haben. Der Fokus, das andere Anderssein überwinden zu wollen, verdrängt diese existentielle Notwendigkeit, denn hierfür müsste erst einmal die Einsicht herrschen, dass Behinderung nicht bloß sozial konstruiert ist, sondern stets auch eine leibliche Erfahrung darstellt – für den ‚Behinderten‘ wie den ‚Nichtbehinderten‘. Dass Hinz genau dies verdrängt, macht er bereits 1993 deutlich, wenn er hierzu, wie folgt, Stellung bezieht: „Möglicherweise wäre die Not der Trauer bei einer anderen gesellschaftlichen Bewertung von Behinderung nicht mehr so groß.“ (Hinz 1993: 143) Insofern er Behinderungen heutzutage nur noch als soziales Konstrukt verstanden haben wissen will (vgl. 2.3.3.1), das es durch Veränderungen der Umweltfaktoren zu überwinden gilt, bräuchte es dieser Logik zufolge überhaupt keine solche Trauerarbeit mehr. Aus noch einem weiteren, wesentlichen Grund, der heute im Zuge der Diskussion um Inklusion wieder brandaktuell ist, wird die Perspektive des ‚Andersseins durch Behinderung‘ im integrationstheoretischen Denken nicht ad acta gelegt. Wie gesehen nimmt die Inklusionspädagogik „eine äußerst kritische Position zu allen administrativen Prozessen von Etikettierung ein, denn sie hält sie für einen Ausdruck von Diskriminierung, der die Teilhabe am öffentlichen Leben mindert“ (Hinz

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2002: 358). Begriffe wie „Lernstörung“ oder „geistige Behinderung“ lehnt sie ab; angestrebt ist ein „schooling without labels“ (vgl. ebd.). Zwar weist Reiser darauf hin, dass bereits die integrative Praxis bemüht war, personenbezogene Entwicklungsvoraussetzungen nicht mit den gängigen Behinderungskategorien zu beschreiben, „sondern als individuelle spezielle Förderungsbedürfnisse“ (Reiser 1990b: 267). In der integrativen Praxis wurde in den damaligen Untersuchungen „Behinderung […] nicht als Persönlichkeitseigenschaft verstanden, sondern als ein die Entwicklung eines Individuums beeinträchtigendes Hindernis“ (ebd.: 266). Er weist aber zugleich auf die Widersprüche der integrativen Praxis und den gesellschaftlichen Funktionen von Schule hin: „In der pädagogischen Zielsetzung kann die Aufgabe der Schule, in ihren Mauern ein demokratisches Gemeinschaftsleben zu schaffen und die optimale Entwicklung jedes Kindes zu fördern, ungebrochen vertreten werden; in der pädagogischen Realität jedoch kollidiert diese Zielsetzung stets mit den institutionellen Vorgaben und gesellschaftlichen Funktionen von Schule und Unterricht.“ (Ebd.: 267)

Einer dieser Widersprüche besteht in der Unverzichtbarkeit, „die Behinderung eines Kindes als personenbezogene Eigenschaft festzustellen, obwohl diese Festlegung der pädagogischen Absicht und Arbeit widerspricht“ (ebd.: 270). Mit dieser Etikettierung wird, so wie damals, auch heute noch „die Rechtsgrundlage geschaffen, daß für dieses Kind besondere Geldmittel bereitgestellt werden“ (ebd.: 270f.). Der seit mindestens 30 Jahren anhaltende Versuch, mit anderen Begriffen zu arbeiten, wie zum Beispiel ‚Gutachtenkinder‘, ‚Kinder mit besonderem Förderbedarf‘ oder dem heute oft zu vernehmenden und in sich dazu höchst widersprüchlichen Begriff ‚Inklusionskinder‘, „um dem vermeintlichen Stigma des Behinderungsbegriffs zu entgehen“, so Reiser, „ändert […] nichts an dem etikettierenden Akt, der dieses Kind von anderen Kindern abgrenzt, die auch Hilfe benötigen, ohne besonderen Rechtsanspruch auf erweiterte Zuwendung zu haben“ (ebd.: 271). Interessant ist zunächst, dass Reiser hier von dem „vermeintlichen“ Stigma des Behinderungsbegriffes spricht, woraus sich schließen lässt, dass er bereits die damaligen Versuche des Verzichtes der Benennung als kritisch beurteilt. Hinz geht davon aus, dass sich die Praxis und Theorie der Inklusion nicht von der Theorie der Integration unterscheidet. Inklusion entspricht dem integrationspädagogischen Verständnis von Integration. Es mag zwar sein, dass der Verzicht auf Etikettierungen bereits in der damaligen Praxis der Integration ein erstrebenswertes Anliegen dargestellt hat. Hinz geht es aber ja bekanntermaßen darum, zu zeigen, dass sich auch und besonders die Theorien von Integration und Inklusion nicht unterscheiden, dass also die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit, die auf Prengel und Reiser zurückgeht und die Hinz als theoretische Referenzgrößen seiner Überlegungen verortet, auch für die Inklusionstheorie gültig ist. Es stellt sich

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also heraus, dass das für die Sichtweisen auf Heterogenität nicht zutrifft, da das Theorem der Normalität nur noch individuelle Verschiedenheit zulässt, wohingegen die Denkfigur der egalitären Differenz die Perspektive kollektiver Verschiedenheit nicht verhindert. Gleiches trifft nun aber auch auf den Umgang mit Etikettierung zu, die nur im Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ bzw. in der Inklusionstheorie ausgeschlossen ist, mit dem Gedanken der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit aber nicht verunmöglicht wird. Es geht an dieser Stelle nicht darum, wie die Praxis der Etikettierung aus integrations- und inklusionstheoretischer Sichtweise heraus jeweils normativ beurteilt wird, sondern darum, dass die Integrationstheorie die Wahrnehmung und Benennung kollektiver Verschiedenheit und damit auch Etikettierungen prinzipiell noch ermöglicht, was der Inklusionstheorie mit der Prämisse der Normalität individueller Verschiedenheit ganz einfach nicht mehr möglich ist. Dies bedeutet, wenn überhaupt, dass sich die heutige Inklusionstheorie mit den Absichten der damaligen pädagogischen Integrationspraxis deckt, die so aber bis heute nicht realisiert wurden, was ja auch Hinz kritisiert. In theoretischer Hinsicht besteht allerdings – wie sich bereits für den Kritikpunkt der „Fixierung auf die administrative Ebene“ und die Kritik an der „Zwei-Gruppen-Theorie“ gezeigt hat – auch hinsichtlich der Kritik an der „administrativen Etikettierung“ keine Deckungsgleichheit zwischen der inklusionspädagogischen Kritik sowie ihrer theoretischen Annahmen und der Theorie der Integration. Bestätigung finden diese Überlegungen, dass Inklusion und Integration theoretisch unterscheidbare Ansätze darstellen, abschließend auch in einem Aufsatz von Reiser aus dem Jahr 2007 mit dem Titel Inklusion – Vision oder Illusion? (vgl. Reiser 2007). Reiser macht hier nicht nur sehr deutlich, dass es sich bei Inklusion mit ihrem Ziel der keine Person ausschließenden „Schule für alle“ um eine Illusion handelt, sondern er grenzt die Vision der Integration auch von der Vision der Inklusion ab. Anders als Prengel, die ihren eigenen Ansatz wie angesprochen unumwunden als inklusiven Ansatz kennzeichnet, ohne zu sagen, wodurch dies theoretisch gerechtfertigt ist, bezieht sich Reiser auch weiterhin auf den Begriff der Integration (vgl. ebd.: 100). Der Zielerreichung der Vision der Integration – der „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, der Berufstätigkeit, der Bildung, so auch in Kindergarten und Schule“ (ebd.: 101) – liege folgender Mechanismus zugrunde: „Es wird eine Beeinträchtigung festgestellt, als solche anerkannt und berücksichtigt durch Vorkehrungen, Regelungen, durch einen Nachteilsausgleich.“ (Ebd.) Um einen solchen Nachteilsausgleich zu erhalten, müsse dieser Nachteil entweder auf einzelne Personen oder auf bestimmte Personengruppen hin abgrenzbar festgestellt werden.21 Die Vision der Inklusion verfolge 21 „So gehören in Schweden auch die Menschen, die gegen Tierhaare allergisch sind, zu den schützenswürdigen potentiell benachteiligten Personen, was zur Folge hat, dass Hunde in Restaurants oder Schiffe [sic!] nicht mitgenommen werden dürfen, in Niedersachsen da-

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„eine ganz andere Richtung. Hier geht es um eine Gestaltung von Lernprozessen in Schulen in einer Art und Weise, dass alle Kinder ohne Feststellung eines besonderen Nachteils infolge einer individuellen Beeinträchtigung in das Lernen und die Teilhabe am sozialen Leben einbezogen werden.“ (Ebd.: 102) Mit der Vision der Integration findet die Tatsache Anerkennung, „dass die öffentliche Schule systemisch organisiert und an ein Gesellschaftssystem gebunden ist, das nicht soziale Gerechtigkeit herstellt, sondern nur soviel davon, wie nötig ist, um die Interessensdurchsetzung der Herrschenden zu ermöglichen“ (ebd.: 103). Nach Reiser gehöre es stets zur Aufgabe des Systems Schule, Einheitlichkeit herzustellen, wobei es sich dabei immer auch des strategischen Handelns der Exklusion bedienen würde. Inklusion müsse diesen Rahmen in Rechnung stellen: „Schule zelebriert nicht nur die Verschiedenheit, sondern ebenso auch die Gleichheit, auch die erzwungene Gleichheit unter gleiche Verhaltenserwartungen.“ (Ebd.) In diesem systemischen Kontext und unter Anerkennung der gesellschaftlichen Funktion von Schule ist die personenbezogene Definition eines Nachteils, der aufgrund einer Behinderung eintritt, von großer Bedeutung, um einen Ausgleich im funktionalen System von Schule zu erhalten. Indem mit Inklusion keine personen-, sondern nur noch eine systembezogene Verwendung von Ressourcen zum Einsatz kommen soll, würde es sich Reiser zufolge hierbei um eine höchst unsichere Vision für behinderte Schülerinnen und Schüler handeln: „Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen und Professionelle, die für diese Kinder arbeiten, sollten es sich sehr gut überlegen, ob sie den Mechanismus und die Funktionsweisen des Nachteilsausgleichs gegen die ungewisse Versicherung aufgeben, dass in einer neuen Schulgestaltung alle Kinder zu ihrem Recht kommen.“ (Ebd.) Diese unterschiedlichen Umgangsweisen mit Heterogenität, die sich in der Praxis auch in der (Nicht-)Zuweisung eines Nachteilsausgleiches niederschlagen, lassen sich in die eine oder andere Richtung befürworten oder nicht. Worum es hier geht ist, dass sich anhand dieses Beispiels nochmals deutlich zeigt, dass Heterogenität nicht beide Male einfach nur in den Blick kommt, sondern dass der Umgang mit ihr unterschiedlich ausfällt. Wenn sich Integration und Inklusion, wie Hinz annimmt, theoretisch nicht unterscheiden würden, warum hält es Reiser dann für notwendig, beide Begriffe durch unterschiedliche Visionen voneinander abzugrenzen? gegen gehören Blinde nicht mehr zu einer solchen Personengruppe: das Blindengeld wurde gestrichen. Dagegen sind in Schweden Menschen, die eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung benötigen in Relation zu Deutschland massiv benachteiligt, ohne dass dies ausgeglichen wird.“ (Reiser 2007: 101) Diese Regelungen haben sich inzwischen teilweise verändert. So wurde zum Beispiel das Blindengeld in Niedersachsen zu Beginn des Jahres 2007 wieder eingeführt, was aber zugleich die Aussage Reisers bestätigt, dass die Definition eines Nachteilsausgleichs eine Angelegenheit der politischen Meinungsbildung ist (vgl. ebd.).

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Hinter diesen beiden Visionen stehen unterschiedliche theoretische Bestimmungen von Heterogenität. Das Anderssein durch Behinderung erfährt in der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit grundsätzlich noch Anerkennung und Berücksichtigung, was beispielsweise einen Nachteilsausgleich für bestimmte Personen oder Personengruppen ermöglicht, wohingegen die Theorie der Inklusion mit dem Denken der „Normalität der Verschiedenheit“ geradezu darauf ausgelegt ist, dieses Anderssein durch Behinderung zu überwinden, und zwar auch praktisch zu überwinden, wie sich anhand der einzelnen Kritikpunkte von Hinz herauskristallisiert hat. Man kommt nicht umhin darauf hinzuweisen, dass es im Jahr 2008 zur völligen Konfusion in der Argumentation von Hinz kommt, indem er sich auf die eben dargelegten Ausführungen Reisers bezieht. Allerdings geschieht dieses Durcheinander nicht grundlos. Vielmehr hat diese Verwicklung eben damit zu tun, dass Reiser – der ihm unter anderem bisher als Beleg dafür gedient hat, zu zeigen, dass es keine theoretischen Unterschiede zwischen Integration und Inklusion gibt – selbst auf die Unterschiede hinweist, indem er beide Visionen voneinander abgrenzt. Hinz bleibt gar nichts anderes mehr übrig, als von nun an auch von zwei Visionen zu sprechen: „Beide Visionen sind gut begründet und gesellschaftspolitisch notwendig, um gegen Marginalisierungskräfte zu wirken […]. Neben den großen Gemeinsamkeiten auch ihre Unterschiede in den Blick zu nehmen, ermöglicht eine Diskussion, die sich n icht nur mit Begriffen, sondern vor allem mit der Frage unterschiedlicher Visionen und Orientierungen auseinandersetzt.“ (Hinz 2008b: 84)

Unabhängig davon, dass es mit dieser Diskussion um Visionen eben gerade auch um die Begriffsdiskussion geht, spricht Hinz hier entgegen seiner vormaligen Aussagen urplötzlich von „zwei gut begründeten Visionen“, die neben allen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede hätten. Hinz behauptet, Reiser hätte eine Diffusion der Visionen diagnostiziert, die sich auf die folgende Frage zuspitzen lassen würde: „Macht es mehr Sinn, einen engen Fokus auf Menschen mit Beeinträchtigungen zu richten und ihre Interessen zu stärken oder ist es sinnvoller, mit einem weiter geöffneten Fokus alle Menschen zu unterstützen, die von Marginalisierung bedroht sind? Der enge Fokus entspricht der Integrationsvision, der weite der Inklusionsvision.“ (Ebd.: 85) Zunächst hat Reiser keine Diffusion der Visionen festgestellt, sondern er grenzt diese in seinen Ausführungen einfach klar voneinander ab. Zweitens hat Hinz die Integrationstheorie bisher als inklusiv verortet, da sie „immer schon unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität thematisiert“ (Hinz 2004: 55) habe, so, wie dies auch hier ausführlich erörtert wurde. Es stimmt zwar, wenn Lee, die sich dieser Debatte ebenso annimmt, feststellt, dass hier „der ‚enge Fokus auf Menschen mit Behinderungen‘ ohne Weiteres nicht mehr der Kritik unterzogen [wird]“ (Lee 2012: 97), aber Hinz räumt dem weiten Fokus der Inklusion „perspektivisch […] eine hö-

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here Priorität“ (Hinz 2008b: 86) ein, dass also der „enge Fokus“ letztlich doch überwunden werden soll. Er stellt auch klar, dass „sich eine kleine, insgesamt eher schwache Integrationsbewegung“ „so etwas wie inhaltliche Kleinstaaterei“ gar nicht leisten könne (vgl. ebd.). Zudem diene der „enge Fokus“ wiederum nur dazu, wenn es um Fragen von Marginalisierung gehe (vgl. ebd: 85f.). Der „enge Fokus“, den Reiser im Sinn hat, wird also hiermit durchaus der Kritik unterzogen, denn Reiser hat in seinen Ausführungen den Schwerpunkt auf die Anerkennung von Grenzen pädagogischen Handelns und pädagogischer Realität sowie die Notwendigkeit personenbezogener Nachteilsausgleiche gesetzt. Das eigentliche Problem in theoretischer und argumentativer Hinsicht liegt aber woanders: Denn Hinz nimmt mit der Aussage, Integration setze einen engen Fokus auf Menschen mit Beeinträchtigungen (vgl. ebd.: 85), sein Hauptargument, Integrationstheorie sei schon immer inklusiv gewesen, weil sie unterschiedliche Dimensionen berücksichtigt habe, implizit zurück, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Dieses Vorgehen zeugt nicht nur von keiner allzu großen Transparenz im Hinblick auf seine eigenen theoretischen Überlegungen, sondern es lässt die bisherige Argumentationsstrategie des theoretischen Vergleichs von Integration und Inklusion einstürzen. Davon abgesehen lassen sich die Ausführungen Reisers drittens nicht auf die Frage eines engen oder weiten Fokus zuspitzen. Diese „Zuspitzung“ verfehlt die Argumentation von Reiser. Inklusion und Integration unterscheiden sich nicht nur durch den Fokus, ob sie nun alle Dimensionen von Heterogenität berücksichtigen oder nur die Dimension Behinderung, sondern wie sie dies tun. So verfolgt Reiser mit seinen Ausführungen vielmehr das Ziel, bestimmten Personengruppen, wie beispielsweise auch ‚Behinderten‘, vor dem Hintergrund einer realen Sicht auf Verteilungskämpfe innerhalb des Schulsystems auch weiterhin einen besonderen Nachteil zu attestieren. Theoretisch kann und praktisch will der inklusionspädagogische Ansatz einen solchen Umgang mit Heterogenität nicht mehr verfolgen. Zudem kennzeichnet Reiser die beiden Visionen von Integration und Inklusion dadurch, dass sie sich auf einer Metaebene im Umgang mit ihren Zielsetzungen unterscheiden und kommt zu dem Schluss, dass es sich bei Inklusion nicht um eine Vision, sondern um eine Illusion handelt. Vision und Illusion unterscheidet er dabei wie folgt: „Grenzen sind erweiterbar, wenn ich sie wahrnehme. Ich muss sie sehen, akzeptieren und analysieren. Was Vision und was Illusion ist unterscheidet sich nicht am Inhalt einer Zielvorstellung, sondern an meinem Umgang mit meiner Zielvorstellung. Wenn ich Grenzen, innere Widersprüche, Unklarheiten oder Selbsttäuschungen meiner Vision nicht genau untersuche, dann handle ich illusionär, nicht visionär. Das Ergebnis wird sehr rasch eine Deformation der Vision sein.“ (Reiser 2007: 100)

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Anhand des Beispiels des Nachteilsausgleiches gelangt Reiser zu der Einschätzung, dass es sich bei der Vision der Inklusion, die ihren Fixpunkt darin hat, dass sie sich selbst überflüssig macht, um eine Illusion handelt, da dieser Zustand nie eintreten werde: „Der Glaube an diese Vision ist eine Illusion. Die Zuteilung von Vor- und Nachteilen wird immer ein Ergebnis politischer Prozesse sein. Für die politische Meinungsbildung müssen Vorteile und Nachteile von Personengruppen klar definiert werden, es ist zu entscheiden, welche Ressourcen für welche Personen und Gruppen von der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. […] Durch Leugnung von Grenzen wird die Vision der Inklusion illusionär und sie wird ebenso verschlissen werden, wie die Vision der Integration verschlissen worden ist.“ (Ebd.: 104)

Der theoretische Unterschied zwischen beiden Ansätzen besteht jedoch darin, dass es der originären (integrativen) Denkfigur der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit im Gegensatz zu ihrer (inklusiven) Umdeutung in die Normalität der individuellen Verschiedenheit noch möglich war, diese Grenzen zu sehen, zu analysieren und sie in ihrer Widersprüchlichkeit aufzudecken, das heißt, einen Umgang damit zu finden. 2.4.3 Fazit zum theoretischen Vergleich von Integration und Inklusion Die häufig zu vernehmende Einschätzung, Integration und Inklusion würden sich in theoretischer Hinsicht nicht unterscheiden, ist falsch. Anhand dieser Ausführungen hat sich gezeigt, dass sich das integrations- und das inklusionstheoretische Verständnis von Heterogenität deutlich voneinander unterscheiden. Dies hat Auswirkungen, denn hierdurch ändert sich der theoretische und praktische Umgang mit den grundlegenden und in weiten Teilen übereinstimmenden Zielsetzungen beider Ansätze. Zwar nimmt auch die Perspektive der egalitären Differenz individuelle Verschiedenheit wahr, sie löst aber kollektive Verschiedenheit deswegen nicht auf. Oder anders formuliert: Das „gemeinsame Menschsein“ stellt das „Anderssein durch Behinderung“ nicht in Frage. Wie bereits die Kritik von Hinz an der „Fixierung auf die administrative Ebene“ findet auch seine Kritik an der „Zwei-GruppenTheorie“ und der „administrativen Etikettierung“ keinen Widerhall in der Integrationstheorie bzw. in der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit. Genau besehen handelt es sich – entgegen der Aussagen von Hinz, mit Inklusion lediglich die deformierte Praxis der Integration zu kritisieren und explizit nicht die Integrationstheorie – auch um eine Kritik der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit, wie sie von Prengel und Reiser im pädagogischen Kontext begründet wurde und

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verwendet wird. In diesem dialektischen Prinzip ist ein Umgang mit gruppenbezogener oder kollektiver Verschiedenheit, der über eine bloße Gesellschaftskritik hinausgeht, ausdrücklich noch vorgesehen, weshalb auch das Anderssein durch Behinderung nicht verleugnet, sondern als anerkennenswert herausgestellt wird. Mit der Denkfigur der egalitären Differenz ist es nicht nur möglich, einen solchen Umgang noch zur Sprache zu bringen, sondern die Berücksichtigung des Andersseins durch Behinderung wird aus ganz bestimmten Gründen auch als notwendig beurteilt. Diese Denkfigur zielt also nicht, wie von Hinz unterstellt, auf die Überwindung des Andersseins, was Hinz in theoretischer Hinsicht nur deswegen gelingt, weil er die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit zur Normalität der individuellen Verschiedenheit umdeutet und damit verfälscht. Es liegt an eben dieser Umdeutung und an dem hierdurch prinzipiell veränderten Heterogenitätsverständnis, dass die integrativen und inklusiven Zielsetzungen des institutionellen und wertschätzenden Umgangs mit Heterogenität, die auf den ersten Blick als nahezu deckungsgleich hervorgetreten sind, in der Inklusionstheorie in einem grundsätzlich anderem Licht als in der Integrationstheorie erscheinen. Die Analyse der integrations- und inklusionstheoretischen Zielsetzungen hat gezeigt, dass beide Ansätze mit der Annahme einer heterogenen Gruppe operieren und unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität berücksichtigen. Zudem stellen beide das „Primat der Gemeinsamkeit“ bzw. die „Schule für alle“ als gewünschte, institutionelle Umgangsform mit Heterogenität in Aussicht und beide Ansätze verfolgen einen wertschätzenden und anerkennenden Umgang mit Heterogenität. Durch die inklusionspädagogische Sichtweise auf Heterogenität verändert sich aber der Umgang mit den Zielsetzungen grundlegend: Indem die Perspektive kollektiver Verschiedenheit in der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit nicht aufgegeben wird, ist die heterogene Gruppe hier keine ein für allemal fixierte Einheit, in der alle Menschen von vornherein einbezogen wären und in der sie sich nur noch in ihrer individuellen Verschiedenheit begegnen würden. Diese Dialektik gerät deshalb auch nicht in den Widerspruch von Hinz, einzelne Dimensionen von Heterogenität nicht mehr benennen zu können, obwohl dies augenscheinlich notwendig ist, „um das Thema Behinderung als wichtigen Aspekt mit anderen gleichwertig und gleichgewichtig zu platzieren“ (Hinz 2008b: 86). Sie verwickelt sich ebenso nicht in den inklusionstheoretischen Widerspruch, Gruppenkategorien hinsichtlich gesellschaftlicher Marginalisierungen noch verwenden zu müssen, obwohl dies in theoretischer Hinsicht unlogisch ist. In der integrationstheoretischen, heterogenen Gruppe begegnen sich Menschen auch in ihrem historischen und kollektiven Gewordensein, ohne dass dieses Sein starr und unveränderlich wäre. Grenzen sind in ihr nicht beliebig erweiterbar, sondern immer nur im Rahmen und unter der Voraussetzung konkreter, gesellschaftlicher Bedingungen. Die Zielperspektive ist im inklusionspädagogischen Ansatz nicht mehr die „gleiche Freiheit“ oder der „nichthierarchische Umgang mit Heterogenität“, sondern die Normalität der individuellen Verschieden-

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heit. Mit dem integrationstheoretischen Verständnis von Heterogenität sind andere Organisationsformen schulischer Bildung daher prinzipiell noch denkbar, auch wenn hier das Primat der Gemeinsamkeit die bevorzugte Option ist. Sie verkennt aber nicht die Einbettung von Schule in das Gesellschaftssystem, indem sie das Selektions- und Leistungsprinzip zwar kritisierbar macht, es aber nicht abschaffen will. Mit der inklusionstheoretischen Bestimmung von Heterogenität als individuelle Verschiedenheit lassen sich derartige Wahloptionen und gesellschaftliche Funktionen nicht einmal mehr denken. Und schließlich steht die Integrationstheorie nicht vor dem Problem, dass keine „Trauerarbeit“ mehr geleistet werden kann, da sie das Anderssein durch Behinderung mit der Denkfigur der egalitären Differenz nicht überwinden will, worin jedoch das erklärte Ziel des inklusionspädagogischen Ansatzes besteht. Der intersubjektive Umgang mit Heterogenität konzentriert sich mit der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit nicht darauf, den Anderen nur in seiner individuellen, sondern auch in seiner kollektiven Verschiedenheit wertzuschätzen. Die vom inklusionspädagogischen Ansatz praktisch angestrebte Überwindung des anderen Andersseins – das sich in der Überwindung gruppenkategorialen Denkens, dem Verzicht auf Etikettierungen und der Bestimmung von Heterogenität bzw. Behinderung als bloße individuelle Verschiedenheit widerspiegelt – wird im integrationstheoretischen Ansatz als praktische und notwendige Handlungsperspektive nicht aufgegeben. Die Theoriebasis der egalitären Differenz lässt diese, für das praktische Handeln notwendige Sichtweise der kollektiven Verschiedenheit noch zu; der Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ gelingt dies nicht nur nicht mehr, sie ist sogar explizit darauf angelegt, diese Sichtweise auch im praktischen Handeln obsolet werden zu lassen. Die Integrationstheorie bzw. die Denkfigur der egalitären Differenz ermöglicht es, Widersprüche und Dilemmata im praktischen Handeln – wie das Problem stigmatisierender Etikettierungen und der gleichzeitig pädagogisch und auch finanziell notwendigen Wahrnehmung und Benennung kollektiver Verschiedenheit – noch zur Sprache zu bringen. Die Inklusionstheorie bzw. die Denkfigur der Normalität der individuellen Verschiedenheit verdeckt diese Widersprüche nicht nur, sondern sie will sie als bisherige Handlungsoptionen überwunden sehen und mit der Zielperspektive der „Vielfalt als Normalfall“ aus dem Bewusstsein heben. Das Theorem der Normalität der individuellen Verschiedenheit kassiert das Spannungsverhältnis der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit also auf allen Ebenen. Der Umgang mit den Zielsetzungen verändert sich hierdurch grundlegend. Wo die Integrationstheorie mit der Denkfigur der egalitären Differenz noch auf gesellschaftlich und intersubjektiv bedingte Widersprüchlichkeiten hinweisen kann, womit sie die Grenzen einer Analyse noch zugänglich macht, ist all dies mit der Annahme der Heterogenität als Normalfall nicht mehr möglich und vorgesehen. Die Integrationstheorie verschweigt diese Grenzen nicht nur, sondern deren stete

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Reflexion ist für sie immer auch Antrieb für pädagogisches Handeln und pädagogische Professionalität, die um die Grenzen des pädagogisch Machbaren weiß. Gegenüber dem inklusionspädagogischen Denken der Normalität individueller Verschiedenheit hält sie diese Widersprüche aus und deckt sie nicht zu. Durch diese Vergessenheit um ihre eigenen Grenzen wird die Vision der pädagogischen Inklusion zur reinen Illusion, die aber durch ihre visionäre Charakterisierung als grundsätzlich realisierbar und wünschenswert in Aussicht gestellt wird. Das Scheitern der Gesellschaft und des Einzelnen an dieser Frage ist vorprogrammiert, insofern sie noch dazu zur alleingültigen Maxime des gesellschaftlichen, institutionellen, intersubjektiven und des pädagogischen Eingehens auf Heterogenität erklärt wird.

2.5 FAZIT UND ZUSAMMENFASSUNG Der Begriff der pädagogischen Inklusion ist das bestimmende Thema der aktuellen Heil- und Sonderpädagogik, er spielt eine zunehmend große Rolle im Feld der Bildungspolitik und hält immer häufiger Einzug in gesellschaftspolitische Debatten. In all diesen Kontexten fungiert er als ethisch-moralisches Leitmotiv im Umgang mit Heterogenität bzw. Vielfalt, Verschiedenheit oder Differenz. Inklusion ist zum Modewort und zum Platzhalter für diesen Umgang avanciert, ohne dass inzwischen noch klare Konturen dieses Begriffes erkennbar sind. Er ist, wie mit Hinz übereinstimmend festgestellt wird, bis zur Unkenntlichkeit verkommen. Insbesondere der Bildungspolitik spielt diese Konturlosigkeit in die Hände, da sämtliche Entscheidungen unter dem Schlagwort der Inklusion verkauft werden können. Ein inklusives Schulsystem zu entwickeln, hört sich modern, zukunftsweisend und zeitgemäß an. Ohne über die einzelnen Entscheidungen in den jeweiligen Bundesländern urteilen zu wollen, haben diese fast immer nichts mit Inklusion im pädagogischen Sinne zu tun. Die Beibehaltung von Förderschulen ist zwar beispielsweise durchaus kompatibel mit der UN-BRK, aber nicht mit der pädagogischen Inklusionsidee. Diese Konvention kann aus immanent rechtlichen Gründen die hier gezeigten Zielsetzungen gar nicht als menschenrechtliches Ziel begründen. Inklusion im Sinne der UNBRK auszulegen kann daher nur heißen, auch weiterhin die freie Entscheidung über die „individuell gewünschte Schulform“ beizubehalten (vgl. Walter-Klose 2012: 66). Zwar kann man aus der UN-BRK den (menschen-)rechtlichen Anspruch ableiten, „allen Kindern und Jugendlichen […] einen Zugang zum gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen […]“ (ebd.). Damit hätte man zwar einen rechtlichen Anspruch aufgestellt, aber das sagt nichts über Inklusion in ihrer theoretischen Bedeutung aus, sie kommt hier nicht als pädagogische Idee in den Blick. Es gäbe dann zwar ein Recht auf Zugang zur allgemeinen Schule, aber man könnte ebenso gut sagen, dass von nun an ein rechtlicher Anspruch auf Integration besteht. Über die

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Idee oder den Begriff der Inklusion ist damit aber gar nichts ausgesagt. Der Unterschied zwischen Integration und Inklusion wäre hier allenfalls nur ein rechtlicher Anspruch, aber kein theoretischer Unterschied. Auch die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik schlägt mit dieser Strategie einen, aus theoretischer Sicht, unzulässigen Umweg ein, indem sie Inklusion häufig über die UN-BRK definiert. Aus dieser Perspektive betrachtet war die UNKonvention für die Disziplin ein ‚Glücksfall‘, da sie keine eindeutigen Definitionen und Entscheidungen vorsieht, was von der Disziplin dankbar aufgegriffen wurde. Es ist ihr zwar durch diese Umdeutung gelungen, den Begriff der pädagogischen Inklusion, der ihr selbst konträr entgegensteht, zu entwerten und ihn seiner eigentlichen Bedeutung zu berauben. Dies zeugt aber nicht nur von keiner wissenschaftlichen Herangehensweise, die eine begrifflich-neutrale und ehrliche Auseinandersetzung erfordert hätte, sondern diese Strategie bringt eine in höchstem Maße politische Vorgehensweise zum Ausdruck. Angesichts ihrer inklusionspädagogischen Infragestellung kann das sogar verständlich sein. Für eine Wissenschaft hätte es sich jedoch angeboten, sich mit eigenen Begriffen und Sichtweisen, mit eigenem Fachwissen zu positionieren. Dies hat sie definitiv versäumt, die Heil- und Sonderpädagogik befindet sich nun in dem eingangs thematisierten Dilemma, mit einem Begriff klarzukommen, den sie einerseits als einen Grundbegriff ihrer Disziplin verkauft, durch den sie anderseits aber selbst in Frage gestellt wird. Das definitorische Vakuum, das mit der UN-BRK bewusst und notwendigerweise bestehen bleiben muss, wird von ihr mit dem politischen Ziel gefüllt, die pädagogische Inklusionsidee als sonderpädagogische Leitidee auszuweisen. Andere Versuche schielen auf eine Ausdeutung des pädagogischen Inklusionsbegriffes im Sinne eines sogenannten „gemäßigten“ oder „moderaten“ Inklusionsverständnisses; sie können aber nicht plausibel erklären, wodurch sie sich in diesem Verständnis vom Begriff der Integration unterscheiden würden, und noch viel weniger, was das mit Inklusion im pädagogischen Sinne zu tun hat. Jegliche Relativierung dieser Idee führt zu ihrer Entwertung und zur Konturlosigkeit. All diese Versuche und Verwässerungen haben zu einer großen diskursiven Verwirrung geführt, so dass Versuche, Inklusion theoretisch zu definieren und sich klar auf sie zu beziehen, heutzutage von vornherein häufig unterlassen werden. Die praktischen Konsequenzen können durch diese fehlenden Bezüge dann selbstverständlich als ‚inklusiv‘ ausgezeichnet werden. Es mag zwar ein Wesensmerkmal aktueller politischer Entwicklungen sein, Positionen an Stimmungen im Land auszurichten. Besteht demgegenüber ein wichtiger Unterschied einer wissenschaftlichen Herangehensweise aber nicht genau darin, dass es Aufgabe einer Wissenschaft wäre, für mehr begriffliche Klarheit zu sorgen und nicht noch mehr Unklarheit in den Diskurs zu transportieren? Der politisch korrekte Zeitgeist scheint das rationale Urteilsvermögen der heil- und sonderpädagogischen Disziplin in der Frage einer kritischen Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff erheblich getrübt zu haben. Die diskursive Großwetterlage nimmt

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den Zustand einer unterstellten und selbst herbeigeführten Verunmöglichung der begrifflichen, wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Großen und Ganzen hin. Selbstverständlich muss sich eine Disziplin wie die Heil- und Sonderpädagogik, der eine immanent gesellschaftspolitische Bedeutung inhäriert, stetig weiterentwickeln, um mehr Teilhabe von ‚Behinderten‘ an der Gesellschaft zu ermöglichen. Aber braucht sie dazu wirklich einen Begriff wie den der pädagogischen Inklusion, der ihren disziplinären Gegenstand der Behinderung und sie selbst radikal in Frage stellt? Ein Weiter-so-wie-bisher – den Inklusionsbegriff als ungeklärt darzustellen oder ihn auf fadenscheinige Weise umzudeuten und alles Mögliche mit ihm anzustellen – kann sich eine wissenschaftliche Disziplin wie die Heil- und Sonderpädagogik nicht mehr länger leisten. Denn irgendwann wird sie mit dieser Verunklarungsstrategie auch ihre eigenen disziplinären Konturen so weit entstellt haben, dass sie – und dann zu Recht – selbst als überflüssig betrachtet und beurteilt werden könnte. Die Ausführungen zum pädagogischen Inklusionsbegriff hatten zum Ziel, den Begriff der pädagogischen Inklusion auch vor diesem Hintergrund in seiner theoretischen Bedeutung auf systematische Art und Weise zu klären und ihm in dieser Hinsicht möglichst gerecht zu werden. Dieses Vorgehen erschien angesichts der Rede fehlender, theoretischer Grundlagen und Konturen notwendig, um (wieder) etwas mehr Klarheit in dieser Frage zu erhalten. Damit geht die vorliegende Arbeit explizit nicht den Weg, den pädagogischen Inklusionsbegriff einer sonderpädagogischen Lesart zugänglich zu machen oder ihn in einem solchen Sinne zu entwerten. Vielmehr möchte sie die dargelegten, theoretischen Annahmen im Sinne einer wissenschaftskritischen oder wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung ernst nehmen und daran anschließend eine spezifische Kritik entwickeln, die klare theoretische Referenzpunkte hat. Ein solcher Anschluss ist im deutschsprachigen Raum in erster Linie durch Hinz und vormals auch Sander ermöglicht worden, denen von sonderpädagogischer Seite aber heute unzulässigerweise eine besonders radikale Auslegung des pädagogischen Inklusionsbegriffes unterstellt wird. Auch diese Unterstellung hat die Entwertung des pädagogischen Inklusionsbegriffes zum Ziel, da „radikal“ hier negativ-wertend und nicht im Sinne von „an die Wurzel gehend“ gemeint ist, was jedoch zutreffend wäre. Hinz vertritt nicht irgendeine spezielle oder besonders harte oder unnachgiebige Auslegung des pädagogischen Inklusionsbegriffes, sondern er denkt diesen Begriff wie nahezu kein anderer einfach nur konsequent zu Ende. Damit erfüllt er insofern ein wichtiges Kriterium für einen wissenschaftlichen Diskurs, als er sowohl für anschlussfähige theoretische und empirische Forschungen sorgt als auch Praxis und Theorie vor diesem Hintergrund in ihrer ‚Inklusivität‘ beurteilbar macht.22 22 Wie bereits angesprochen müssen vor diesem Hintergrund auch eigene empirisch e Forschungen, die unter dem Zeichen der Inklusion verortet und erfolgt sind, kritisiert wer-

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Auch wenn es in den theoretischen Annahmen von Hinz bestimmte Widersprüche gibt: Die Zielsetzungen einer inklusiven Gesellschaft sowie das exklusive Primat der institutionellen Gemeinsamkeit sind konsequente und in sich stimmige Ableitungen aus dem inklusionstheoretischen Ansatz der „Normalität der Verschiedenheit“. Andere Auslegungen der pädagogischen Inklusionsidee sind zwar offensichtlich möglich, haben mit ihr aber nichts zu tun; der inklusionspädagogische Ansatz selbst lässt dies jedenfalls nicht zu. Bei dem Ziel der Wertschätzung von Verschiedenheit verhält es sich schon schwieriger, da die Theorie der „Normalität der Verschiedenheit“ einen nicht-wertenden Umgang mit Verschiedenheit vorsieht, weshalb sie einen zusätzlichen normativen Überbau benötigt (vgl. 2.3.4.1). Widersprüchlich wird dieser Ansatz zudem an denjenigen Stellen, an denen die Dimensionen von Heterogenität noch benannt werden (müssen) oder eine gesellschaftskritische Verwendung dieser vorgesehen ist. Beides ist mit der Annahme der Normalität der individuellen Verschiedenheit oder der individuellen Vielfalt als Normalfall nicht mehr möglich. Die Forderung nach Verzicht auf gruppenbezogene Verwendung von Kategorien sowie die Bestimmung von Heterogenität als individuelle Verschiedenheit stellen indes wiederum konsequente Ableitungen aus dem Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ dar (vgl. 2.3.4.2). Letztlich hat sich begründeterweise erwiesen, dass es eine originäre pädagogische Inklusionsidee gibt. Anders als von Hinz zunächst unterstellt, nimmt der pädagogische Inklusionsbegriff nicht nur die deformierte integrative Praxis kritisch in den Blick und er unterscheidet sich ebenso nicht nur von einem sogenannten sonderpädagogischen Verständnis von Integration. Vielmehr unterscheidet er sich durch die Sichtweise auf Heterogenität und dem hieraus resultierenden anderen Umgang mit den Zielsetzungen auch von einem integrationspädagogischen Verständnis von Integration, das Hinz in theoretischer Hinsicht als inklusiv verortet. Das integrationspädagogische Verständnis von Integration kann daher nicht mit der pädagogischen Inklusionsidee gleichgesetzt werden, sondern mit dieser Idee kommt es zu einer theoretischen Verschiebung gegenüber der Integrationstheorie. Das dialektische Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit, das Hinz auch der Inklusionstheorie zugrunde gelegt wissen will, erfährt mit der „Vielfalt als Normalfall“ bzw. der Normalität der individuellen Verschiedenheit eine entscheidende theoretische Wendung. Diese – aus inklusionistischer Sicht betrachtet – folgerichtige den. Dies schwächt nicht die inhaltlichen Ergebnisse ab, aber ihre ‚inklusive Verortung‘. Diese Tatsache verweist allerdings zugleich darauf, dass empirische Forschungsvorhaben in der Heil- und Sonderpädagogik heutzutage kaum mehr ohne Bezug auf Inklusion auszukommen scheinen, was jedoch zu weiteren begrifflichen Verwischungen führt. Fraglich erscheint indes, ob drittmittelfinanzierte Forschung ohne einen solchen Bezug überhaupt noch bewilligt würde, erst recht, wenn ihre Vergabe durch öffentliche Auftraggeber wie Politik oder Verbände erfolgen.

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Wandlung, die den inklusionspädagogischen Ansatz von der Integrationstheorie abgrenzt, ist so nur bei Hinz in Anschluss an Sander erkennbar. Daher grenzt sich der inklusionspädagogische Ansatz auch von der „Pädagogik der Vielfalt“ ab, wie sie von Prengel und Hinz zu Beginn der 90er Jahre formuliert wurde. Weder bei Prengel noch bei Hinz ist hier von Inklusion die Rede; erst durch das Aufgreifen des Inklusionsbegriffes aus dem angloamerikanischen Raum kam es bei Hinz in den Folgejahren zur theoretischen Verschiebung weg von der egalitären Differenz hin zur „Normalität der Verschiedenheit“ – auch wenn Hinz heute noch von der egalitären Differenz spricht. Prengel wiederum verwendet diese Denkfigur im Wesentlichen nach wie vor so differenziert wie damals, weshalb bei ihr nicht zu erkennen ist, was ihren Ansatz der Pädagogik der Vielfalt aus theoretischer Sicht als „inklusiv“ ausweist. Für die theoretische Verschiebung ist es entscheidend, dass nicht nur diese oder jene Dimensionen von Heterogenität Beachtung erfahren, sondern wie Heterogenität jeweils bestimmt wird und wie sich hierdurch der Umgang mit ihr bzw. mit den Zielsetzungen ändert. Noch viel weniger haben allerdings die thematisierten bildungspolitischen und sonderpädagogischen Umdeutungsversuche etwas mit der pädagogischen Inklusionsidee gemein. Reiser schließlich benennt diesen Unterschied, indem er Integration und Inklusion als zwei unterschiedliche Visionen darstellt und dem integrationstheoretischen Ansatz treu bleibt. Die pädagogische Inklusionsidee stellt als eine Antwort auf Ausgrenzungen und als eine Strategie für den Umgang mit Heterogenität also einen – auch unter theoretischen Gesichtspunkten – spezifischen Ansatz dar. Berücksichtigt die Denkfigur der egalitären Differenz noch Widersprüche und Grenzen gesellschaftlichen, pädagogischen und intersubjektiven Handelns, so tritt der inklusionspädagogische Ansatz in seinen theoretischen Annahmen und Zielsetzungen buchstäblich völlig entgrenzt und entfesselt auf. Weder die gesellschaftliche Einbindung des Pädagogischen noch intersubjektiv bedingte Erfahrungsmomente werden mit ihm berücksichtigt. Die Zielsetzungen erfolgen rein normativ ohne jegliche Analyse der möglichen Ursachen von Ausgrenzungen, das Sollen fungiert komplett losgelöst vom Sein bzw. gerät das Sein nur als etwas zu Vermeidendes in den Blick. Der inklusionspädagogische Ansatz konnte aber nicht nur als bloß normativ, sondern auch als streng präskriptiv ausgerichtet verortet werden. Mit ihm werden klare und exklusive Vorgaben im Sinne einzuhaltender Handlungsregeln dazu formuliert, wie der gesellschaftliche, institutionelle und intersubjektive Umgang mit Heterogenität jeweils auszusehen hat und zu verwirklichen ist. Sowohl für die normativen Zielsetzungen als auch für die präskriptiven Handlungsregeln hat sich zudem erwiesen, dass direkte Begründungsleistungen jeweils fehlen und Begründungen allerhöchstens indirekt vorhanden sind. Bei den einzelnen inklusionspädagogischen Zielsetzungen und beim Theorem der „Normalität der Verschiedenheit“ selbst handelt es sich daher um bloße Postulate zur Veränderung des Seins, die sich angesichts der Ignoranz und materiellen Entgrenzung derselben nicht mehr als visionär, sondern als illusio-

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när, und aufgrund fehlender Begründungsversuche zudem als ideologisch entlarvt haben: „Allein der Überschwang der guten Ziele kann doch die Skepsis nicht dispensieren – wenn man selbst weiß, dass die Probe aufs Exempel die Praxis und die eigenen Handlungsmöglichkeiten sind, nicht die Anrufung der Menschenrechte.“ (Tenorth 2013a: 37) Diese Aussage Tenorths zu den postulierten, positiven Effekten von Inklusion im pädagogischen Bereich erweist sich nicht nur für den inklusiv vorgesehenen gesamtgesellschaftlichen und institutionellen Umgang mit Heterogenität, sondern auch und besonders für den vorgesehenen intersubjektiven Umgang mit Heterogenität als zutreffend. Die kritisierten Umdeutungsstrategien und Folgediskussionen können aus dieser Perspektive als Versuche verstanden werden, den pädagogischen Inklusionsbegriff wieder in Relation zur Wirklichkeit oder zum Sein zu setzen. Die inhaltliche Kritik am pädagogischen Inklusionsbegriff aus theoretischer und empirischer Sicht ist somit auch keineswegs unberechtigt oder anzuzweifeln. Der Vorwurf richtet sich lediglich auf die Semantik des Diskurses, demnach die theoretische Kritik oder die empirische Forschung, die notwendigerweise differenzierte Fragen stellen muss, selbst wiederum unter dem Schlagwort der (gemäßigten, moderaten oder differenzierten) Inklusion verkauft werden; das ist zwar womöglich absatzfördernd und zeitgemäß, ob diese Vorgehensweise aber mit den eigenen wissenschaftlichen Standards vereinbar ist, muss zunächst jeder für sich selbst entscheiden. Diskursanalytisch betrachtet erzeugt es allerdings mehr Probleme als hierdurch gelöst werden und in disziplinärer Hinsicht kann sich der aktuell eher günstig stehende bildungspolitische Wind auch wieder drehen.

3

Der pädagogische Diskurs um Heterogenität und Fremdheit

3.1 EINFÜHRUNG Auch die nachfolgende Analyse und Kritik setzt an der inklusionspädagogischen Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Sollen und Sein an. Das Ziel dieser Arbeit ist nicht, das Sein eindeutig bestimmen zu wollen. Vielmehr ist es das Anliegen, wieder Aufmerksamkeit dafür zu erzeugen, dass die Problematik von Ausgrenzung und Wertschätzung überhaupt eine Problematik ist, deren Struktur sich nicht in einer Normativität erschöpft und der noch viel weniger durch (inklusionspädagogische) Präskriptionen beizukommen ist. Beides ist im Diskurs über die pädagogische Inklusionsidee in Vergessenheit geraten. Diese einseitige Sicht befördert nicht nur nicht das Ziel einer größeren gesellschaftlichen und intersubjektiven Wertschätzung ‚Behinderter‘, sondern sie kann diesem Ziel geradezu im Wege stehen. Demgegenüber wird die Dimension intersubjektiver Vollzüge hier als ein Geschehen der Erfahrung problematisiert, das in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ spezifische Ansprüche stellt, ohne dass diese Spezifik selbst verallgemeinert werden kann. Neben einer Befragung der inklusiven Ordnungsvorstellung selbst, wird der Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes in Frage gestellt, als exklusive und angemessene Leitvorstellung für den intersubjektiven Umgang mit Heterogenität gelten zu wollen. Auf dem Prüfstand steht die inklusionspädagogische Prämisse, dass wir uns der Verschiedenheit nicht mehr normativ-wertend zuwenden sollen, sondern sich der Umgang mit Verschiedenheit normalisiert, so dass es kein anderes Anderssein – keine Fremdheit – mehr gibt. Die Ausführungen des vorangegangenen Teils haben gezeigt, dass die Denkfigur der Normalität der individuellen Verschiedenheit eine Entkoppelung von Präskription und Deskription, von Sollen und Sein vorsieht. In ihrer normativistischen Ausrichtung kommt dem Sollen der eindeutige Vorrang vor dem Sein zu, das Sein bestimmt sich ausschließlich noch über das Sollen. Durch die vorgesehene völlige Normalisierung des Umgangs mit Heterogenität zeichnet sich das Sollen durch eine Normalität ohne Norm und ohne Normativität und damit ohne Normalität aus. Die

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vorgeblich analytische Aussage, „Es ist normal, verschieden zu sein“, ist rein substanziell zu verstehen, sie ist eine normativistische Aussage zum gewünschten Erreichen eines bestimmten Zustandes, der sich durch die Überwindung der Normalität sowie die Überwindung des normativen Umgangs mit Verschiedenheit auszeichnet. Das Grundproblem dieses Ansatzes besteht darin, dass hier eine Entkoppelung des Denkens vom Handeln oder der Erfahrung vorgesehen ist; es handelt sich um ein bloßes Gedankengebäude, das dem leiblichen Handeln und Wahrnehmen entrückt ist. Verschiedenheit soll lediglich noch als deskriptive und erfahrungsunabhängige Tatsache registriert werden. Es kommt zwar nicht unbedingt zu einer Ignoranz gegenüber der Verschiedenheit, diese gilt es ja ausdrücklich wertzuschätzen. Jedoch zeichnet sich diese Wertschätzung dadurch aus, dass die Unterschiedlichkeit der Verschiedenheit zur Normalität werden soll, das heißt, Verschiedenheit individualisiert und normalisiert sich so weit, dass von Unterschiedlichkeit bzw. einem anderen Anderssein nicht mehr gesprochen werden kann. Eben darin besteht das ausdrücklich benannte Ziel des inklusionspädagogischen Ansatzes. Auch wenn nach wie vor behauptet wird, Unterschiede nicht zu leugnen, kann höchstens noch die Rede davon sein, dass es zu keiner Verneinung von Verschiedenheit kommt. Aber eben auch dies geschieht nur in rein deskriptiver Hinsicht, das heißt, ohne dass diese Verschiedenheit aufgrund ihrer Normalisierung und Individualisierung noch als Verschiedenheit festgestellt werden kann. Diese bloß methodische Außenbetrachtung macht für uns und unsere Wahrnehmung aber letztlich keinen Sinn, da wir in unserem konkreten Handeln und Tun notwendigerweise ständig darauf angewiesen sind, dass sich etwas von etwas oder jemand von jemandem in bestimmter Hinsicht unterscheidet. Wir könnten es oder ihn ansonsten nicht einmal mehr als Ding oder als Mensch wahrnehmen, da auch diese Feststellung nicht ohne eine wie auch immer geartete normative Feststellung auskommt. Ganz zu schweigen davon, dass unser alltägliches Handeln und unser Umgang mit anderen und die Wahrnehmung dieser anderen notwendigerweise stets auch Normalität und normative Feststellungen voraussetzen. Dies gilt zumindest dann, wenn wir uns nicht in einem völligen Chaos und einem bloßen Nebeneinander, als individuell Verschiedene, verlieren wollen, sondern uns auch weiterhin zugleich handelnd, denkend und wahrnehmend mit der Welt und mit anderen auseinandersetzen und uns gegenseitig aufeinander beziehen wollen. Die Theorie der pädagogischen Inklusion leugnet also nicht unbedingt die Heterogenität/Verschiedenheit per se, sondern die Erfahrung von Heterogenität/ Verschiedenheit. Durch ihre einseitig normative und normativistische Sichtweise auf das Geschehen der Ausgrenzung und Wertschätzung gerät die Ebene des Handelns und Erfahrens nicht nur aus dem Blick. Die zugleich präskriptive Ausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes, die sich sowohl im Anspruch äußert, als exklusive Leitvorstellung für einen demokratischen Umgang mit Heterogenität zu

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fungieren als auch in der Formulierung klarer Verhaltensvorschriften 1, ist geradezu zielgerichtet darauf angelegt, die Erfahrung und Wahrnehmung im Sinne der Leitmaxime der Normalität der individuellen Verschiedenheit zu beeinflussen und zu verändern. Diese Vorstellungen als bloße Illusion und Ideologie abzutun, wird der Tatsache nicht gerecht, dass dieses Denken nicht nur in professionellen und fachwissenschaftlichen Kontexten, sondern auch in gesellschaftspolitischen Debatten eine immer größere Wirkmächtigkeit entfaltet und bereits entfaltet hat. Was sich momentan europaweit abspielt, wenn konkrete Ängste und Sorgen der Bevölkerung oder bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen von der Politik oder meist besser situierten gesellschaftlichen Gruppierungen nicht ernst genommen oder ignoriert werden und es auch infolgedessen zur Radikalisierung politischer Ansichten kommt, diese Gefahr trifft vom Prinzip her betrachtet auch auf das inklusionistische Denken zu. Denn auch hier liegt die Gefahr darin, dass es zur Vermeidung bestimmter Begegnungen kommt, wenn die Maximen und Prämissen dieses wirkmächtigen Denkansatzes schlichtweg nicht zu den gemachten Erfahrungen passen wollen und diese Erfahrungen unter dem ethisch-moralisierenden Postulat der „Normalität der Verschiedenheit“ zudem sogar als verurteilenswert durch andere oder durch sich selbst eingestuft werden. Mit diesem Moralismus wird die illusionäre Ideologie insofern gefährlich, als die Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ zugleich als Maßstab des Handelns und zur Beurteilung des Handelns herangezogen wird. Allen Umdeutungsversuchen zum Trotz hat sie bereits Einzug ins gesellschaftspolitische Feld und damit auch ins Denken gehalten, ihre Virulenz befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen und fortschreitenden Stadium. Die Leitvorstellung der „Normalität der Verschiedenheit“ als Strategie im Umgang mit Heterogenität muss daher in ihrer Bedeutung für die Begegnung mit ‚Behinderten‘ und für ‚Behinderte‘ geprüft werden. Das vom Sein entkoppelte inklusive Sollen ist mit der Realität intersubjektiver Erfahrungsmomente zu konfrontieren. Kurzum: Es interessiert die Erfahrung von Heterogenität im Kontext von Behinderung, die im inklusionspädagogischen Ansatz nicht nur keine Rolle mehr spielt, sondern diese spezifischen Erfahrungen können und sollen mit ihm überhaupt keine Rolle mehr spielen. Der vorgesehene allgemeine Umgang mit Behinderung wird nicht nur dem Phänomen sichtbarer und auffälligerer Behinderungen selbst nicht gerecht, sondern dadurch werden auch die spezifischen Erfahrungen von ‚bestimmten‘ ‚Behinderten‘ und die Erfahrungen von ‚Nichtbehinderten‘ mit ‚Behinderten‘ geleugnet. Anders, als es der inklusionspädagogische Ansatz fordert, ist hier nicht von einem allgemeinen Umgang, sondern einem sehr spezifischen Umgang mit der

1

Hiermit ist der Verzicht auf selektive Strukturen, der Verzicht auf gruppenbezogene Kategorienverwendung, der Verzicht auf Etikettierung sowie die Überwindung des Andersseins und der Normalität gemeint.

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Heterogenitätsdimension Behinderung auszugehen, der weder generell zu verallgemeinern ist noch in einer ‚Sonderpädagogisierung‘ aufgeht. Zwar hat der integrationstheoretische Ansatz von Prengel und Reiser mit der Denkfigur der egalitären Differenz noch ein Bewusstsein für kollektive Verschiedenheit und lässt noch Lücken, in denen der Andere als solcher auftauchen kann (vgl. Meyer-Drawe 1993: 32); das andere Anderssein wird hier zumindest potentiell noch in Rechnung gestellt, wohingegen diese Lücken durch die inklusionstheoretische Reduktion dieser Denkfigur auf die „Normalität der Verschiedenheit“ ge- und verschlossen sind, so dass für ein solches Anderssein bzw. die Fremdheit des Anderen ausdrücklich kein Platz mehr vorgesehen ist. Aber beide unterschiedlichen Sichtweisen auf Heterogenität bekommen durch ihre normative Zentrierung jeweils nicht die Erfahrung von Heterogenität in den Blick: „Beiden geht es trotz aller Unterschiede im Kern um das Gleiche, nämlich Heterogenität und Vielfalt als normativ gehaltvolle Konzepte auszuweisen und pädagogische, bildungspolitische und sozialethische Gestaltungsaufträge an sie zu binden. […] Sie kritisieren ein hoch selektives Bildungssystem, markieren mit ihrem jeweiligen Zentralbegriff (Heterogenität, Vielfalt, Differenz) relative, d.h. an Kriterien bzw. Merkmale gebundene Unterschiede und gehen der Frage nach, welche Konsequenzen die jeweilige Analyse vor allem in Hinblick auf das Bildungssystem nach sich zieht.“ (Dederich 2014: 125)

Diese Feststellung Dederichs, wonach Heterogenität als relative Heterogenität gefasst wird, trifft nicht nur auf die Theorien der Integration und Inklusion zu – die von Dederich in diesem Kontext jedoch nicht genauer voneinander unterschieden werden –, sondern eine solche Perspektive durchzieht den pädagogischen Diskurs um Heterogenität für gewöhnlich im Ganzen. Diese Sichtweise auf Heterogenität thematisiert immer schon einen bestimmten Umgang mit ihr – zumeist einen wertschätzenden, manchmal auch einen herausfordernden Umgang –, sie setzt also erst auf einer normativen Ebene an, die der Erfahrung bzw. einer prä-reflexiven Ebene in gewisser Weise nachgelagert ist. Auf der normativen Ebene lassen sich einzelne Ausprägungen von Heterogenität miteinander vergleichen, woraufhin ihre Gleichwertigkeit betont werden kann, so, wie es auch im Integrations- und im Inklusionsansatz der Fall ist. Unbestritten ist eine solche zutiefst demokratische, sozialethische oder menschenrechtliche Perspektive wichtig, um beispielsweise rechtliche Ansprüche aller gesellschaftlichen Gruppierungen abzusichern und marginalisierenden Diskriminierungen entschieden entgegenzutreten. In pädagogischen Kontexten ist es vor allem das Verdienst Prengels, die sich mit ihrer Pädagogik der Vielfalt auch auf einer theoretischen Ebene in sozialphilosophischer Hinsicht für diese Perspektive einsetzt. Anders als im Theorem der egalitären Differenz geht es mit der reduktionistischen Denkfigur der „Normalität der Verschiedenheit“ allerdings nicht nur darum,

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die Dimensionen von Heterogenität als gleichwertig hervorzuheben, sondern das unterschiedliche Anderssein der einzelnen Dimensionen soll zugleich überwunden werden. Dies führt letztlich zu dem bereits bekannten Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, demnach diese Dimensionen auch nicht mehr benannt werden können. Das inklusionspädagogische Ziel besteht also nicht nur darin, auf der normativen Ebene die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Heterogenitätsdimensionen zu betonen, sondern auch darin, eine Veränderung der Wahrnehmung und Erfahrung dahingehend zu erreichen, dass es auch hier normal wird, nur noch individuell verschieden zu sein. Die Normalisierung des Umgangs mit Heterogenität – ein nichtnormativer oder nicht-kategorialer Umgang – setzt dies sogar voraus, weil alles andere als die Wahrnehmung bloßer individueller Verschiedenheit das Anderssein von Grund auf einer Wertung zugänglich machen würde, was ja gerade ausgeschlossen werden soll. Wie gesagt: Sowohl der Integrationstheorie als auch der Inklusionstheorie gelingt es durch die normative und präskriptive Ausrichtung nicht, die Erfahrung von Heterogenität ausreichend genug oder überhaupt noch in den Blick zu nehmen bzw. zu bekommen. Es ist aber ein prinzipiell theoretischer sowie praktischer Unterschied, ob dem Anderen sein anderes oder unterschiedliches Anderssein potentiell noch zugestanden wird oder nicht, unabhängig davon, ob dies ausreichend genug berücksichtigt wird. Anders gesagt: Das integrationstheoretische Verständnis der egalitären Differenz sieht unter der Perspektive der gleichen Freiheit einen nichthierarchischen Umgang mit Verschiedenheit vor und lässt sich als ein demokratietheoretischer Entwurf für mehr soziale Gerechtigkeit verstehen. Darum geht es dem inklusionspädagogischen Ansatz zwar auch; durch die Auslegung der dialektischen Denkfigur von Gleichheit und Verschiedenheit im Sinne der Normalität der individuellen Verschiedenheit und der damit verbundenen Konsequenz der Überwindung des unterschiedlichen Andersseins erfährt dieser Ansatz darüber hinaus eine wesentlich stärkere präskriptive Ausrichtung in dem Sinne, dass damit nicht nur die normative Forderung nach Gleichwertigkeit erhoben wird, sondern auch die Wahrnehmung und Erfahrung von Heterogenität selbst als veränderungswürdig hervortritt. Spätestens seit den Debatten zur sogenannten Postmoderne in den 80er und 90er Jahren hat sich jedoch verstärkt auch ein Verständnis von Heterogenität oder Differenz entwickelt, das „nicht bloß eine relative, d.h. eine auf ein Gemeinsames bezogene Verschiedenheit, sondern zunehmend auch eine radikal gedachte Unterschiedenheit und Singularität bezeichnet, die durch keinen übergreifenden Kontext bzw. kein einheitliches Fundament (mehr) zusammengehalten wird und so die klassische Frage nach dem Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen insgesamt aufbricht.“ (Ricken/Balzer 2007: 57)

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Dieses Verständnis von Heterogenität oder Differenz als radikale Heterogenität bzw. radikale Differenz findet sich bei Waldenfels im Begriff der „radikalen Fremdheit“ ausgedrückt. Mit der Denkfigur der radikalen Fremdheit lässt sich auch die Erfahrung von Heterogenität im Kontext von Behinderung (wieder) thematisieren, die mit dem integrationstheoretischen und, noch mehr, mit dem inklusionstheoretischen Ansatz durch die einseitige Sichtweise auf Heterogenität als relative Verschiedenheit aus dem diskursiven Blickfeld geraten ist. Dieser Gedanke findet auch bei Wimmer Bestätigung. Ihm zufolge scheint es so zu sein, dass die alteritätsphilosophische Frage des Anderen und „alle damit zusammenhängenden Infragestellungen, Problematisierungen und Subversionen bisher als gesichert geltender erziehungswissenschaftlicher und pädagogischer Voraussetzungen“ (Wimmer 2014: 220) im pädagogischen Diskurs inzwischen wieder vollständig vergessen worden sind. Vor diesem Hintergrund ist im Folgenden zunächst zu zeigen, dass der (sonder-) pädagogische Diskurs um Heterogenität einem größtenteils einseitigen Verständnis von Heterogenität als relative Verschiedenheit folgt (3.2). Dies trifft insbesondere auch auf den pädagogischen Diskurs um Integration und Inklusion zu (3.2.2). Anhand des Ordnungsbegriffes bei Waldenfels wird diesem Denken daraufhin ein Verständnis von Heterogenität als radikale Fremdheit entgegengehalten (Kap. 4). Letzteres ermöglicht nicht nur, die Erfahrung von Heterogenität im Kontext von Behinderung wieder thematisierbar zu machen (Kap. 5), sondern es lässt zugleich eine vehemente Kritik an einer inklusiven Ordnungsvorstellung laut werden.2

3.2 DER PÄDAGOGISCHE (INTEGRATIONS- UND INKLUSIONS-)DISKURS UM HETEROGENITÄT Das Konglomerat der unterschiedslosen Verwendung der Begriffe Heterogenität, Verschiedenheit, Vielfalt oder Differenz bildet einen bzw. den wesentlichen Fixpunkt des Diskurses um Inklusion. Wie deutlich geworden ist, stellen auch Hinz und Prengel diese Begriffe in den Mittelpunkt ihrer am Leitprinzip der Integration bzw. Inklusion orientierten Arbeiten (vgl. Dederich 2014: 125). Die folgenden Ausführungen haben angesichts der Breite und Dichte der Debatten um Heterogenität im pädagogischen Kontext nicht annähernd das Ziel, eine umfassende und vollständige Diskursanalyse zum Begriff der Heterogenität vorzulegen.3 Vielmehr werden 2 3

Vgl. hierzu insbesondere 4.1.4, 4.2 sowie 4.3.4. Für eine solche Analyse des Heterogenitätsdiskurses ist vor allem auf Budde (2012; 2015) zu verwiesen, auf dessen Ausführungen im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird. Einen guten und kritischen Überblick über den Stand des aktuellen Heterogenitätsdiskurses bietet aus bildungs- und erziehungsphilosophischer Perspektive der

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in einem ersten Schritt einerseits bestimmte Grundzüge dieses Diskurses benannt, der große Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zum Diskurs um Inklusion aufweist. Andererseits dienen die folgenden Ausführungen dazu, die einseitige Verwendung des Verständnisses von Heterogenität als relative und wertzuschätzende Heterogenität/Verschiedenheit kenntlich zu machen und um hiervon ein Verständnis von Heterogenität als radikale Heterogenität bzw. radikale Fremdheit abzugrenzen. Allerdings finden sich auch im Diskurs um Heterogenität selbst vermehrt Stimmen, die ein einseitiges Verständnis von Heterogenität im Sinne wertzuschätzender Vielfalt kritisieren. In Anschluss an die Ausführungen zu diesem gängigen Heterogenitätsverständnis werden daher wesentliche Kritikpunkte an diesem Verständnis auf möglichst systematische Weise aufgezeigt. Positionen, die an der Differenz zwischen relativer und radikaler Heterogenität/Verschiedenheit festhalten, werden jedoch im Heterogenitätsdiskurs zumeist ignoriert und ausgegrenzt, so Wimmer (vgl. Wimmer 2014: 229). Für die Heil- und Sonderpädagogik trifft dies insofern umso mehr zu, als die innerdisziplinäre Dominanz des Inklusionsbegriffes mit seiner einseitigen Ausrichtung an einem relativen Heterogenitätsverständnis dazu führt, dass eine Sichtweise auf Heterogenität als radikale Heterogenität in der Disziplin nahezu vollständig verdrängt wurde. In einem zweiten Schritt gilt es daher, denjenigen heil- und sonderpädagogischen Positionen eine Stimme zu verleihen, die das Bewusstsein für ein anders gelagertes Verständnis von Heterogenität auch und gerade im Zuge der Inklusionsdebatten wachhalten, womit zugleich der aktuelle Diskussionsstand dieses Themas in der Heil-und Sonderpädagogik aufgegriffen wird. 3.2.1 Vergleich des Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurses Sowohl hinsichtlich des Diskurses um Heterogenität als auch der Verwendung dieses Begriffes bestehen unübersehbare Konvergenzen mit dem pädagogischen Diskurs und dem Begriff der Inklusion. Zwar gab es in gesellschaftspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Debatten schon seit den 60er und 70er Jahren ein gesteigertes Bewusstsein für Heterogenität (vgl. Lutz/Wenning 2001b: 12). Zu einer seitdem ständig zunehmenden Konjunktur des Heterogenitäts- oder Differenzbegriffes in erziehungswissenschaftlichen Diskursen kam es jedoch erst mit der Jahrtausendwende (vgl. ebd.: 11; Rendtorff 2014: 117). Als diskursauslösendes Ereignis wird hierfür häufig auf die einsetzenden Diskussionen um die PISA-Studie hingewiesen (vgl. u.a. Budde 2012: 2f.; 2015: 119; Koller 2014: 13; Wimmer 2014: 221f.). Als weiteres, wichtiges diskursives Ereignis benennt Budde die im Jahr Band Heterogenität. Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts (Koller/Casale/ Ricken 2014), dessen Einzelbeiträge auch in den folgenden Ausführungen größere Berücksichtigung erfahren werden.

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2008 in Kraft getretene UN-BRK (vgl. Budde 2012: 3). Die Ausführungen im vorangegangenen Teil haben gezeigt, dass diese zeitlichen Markierungen auch für die zunehmende Verwendung des Inklusionsbegriffes zutreffen. Zu diesem Ergebnis gelangt auch Budde, der mithilfe einer Recherche in der Datenbank FIS-Bildung für Inklusion und Heterogenität ähnliche Konjunkturkurven beobachtet hat (vgl. Budde 2015: 119): „Während die Begriffe vor dem Jahr 2000 praktisch keine Verwendung im Diskurs fanden, vermehrt sich die Anzahl der Einträge zu den beiden Stichworten mit immer größerer Geschwindigkeit.“ (Ebd.) Aktuellere Beiträge, die sich dem Heterogenitätsdiskurs widmen, sprechen in diskursiver Hinsicht zudem von einer Heterogenität dieses Diskurses selbst „mit seinen verschiedenen Perspektiven, Zielsetzungen, Konzepten, Maßnahmen sowie seinen gesellschaftspolitischen, bildungspolitischen und pädagogischen Vorstellungen“ (Wimmer 2014: 221). Oder wie es bei Budde heißt: „Der Diskurs um Heterogenität beispielsweise realisiert sich in höchst unterschiedlichen Diskursgefilden als bildungspolitischer, unterrichtsmethodischer, normativer oder schulorganisationaler Diskurs.“ (Budde 2012: 5) Auch der Inklusionsdiskurs gruppiert sich im Wesentlichen um diese Diskursgefilde. Aber nicht nur hinsichtlich der heterogenen Diskurslage und den unterschiedlichen Ausrichtungen des Heterogenitätsdiskurses bestehen unübersehbare Überschneidungen mit dem Inklusionsdiskurs. Bereits 2001 stellen Lutz und Wenning für den Begriff der Differenz ein unübersichtliches Dickicht der Debatten fest (vgl. Lutz/Wenning 2001b: 12). Ein solches Dickicht konnte für den Diskurs um Inklusion ebenso aufgezeigt werden. Budde weist zudem auf eine spezifische Organisation des Diskurses um Heterogenität hin, die sich durch Verunklarung, Handlungsaufforderungen und Normativität auszeichnet (vgl. Budde 2012). Hiervon unabhängig wurden genau diese drei Merkmale in der vorliegenden Arbeit auch für den Inklusionsdiskurs herausgearbeitet. Festgestellt wurde eine häufig anzutreffende Strategie der Verunklarung vor allem seitens der Heil- und Sonderpädagogik und der Bildungspolitik mit dem Ergebnis der Verwässerung des Inklusionsbegriffes. Ein wesentliches Ziel der Ausführungen war es zudem, die normative (sein-sollende) und präskriptive (handlungsauffordernde) Ausrichtung des Begriffes oder Konzeptes der Inklusion nachzuweisen. Allerdings gewinnen diese diskursiven Strategien hier ein jeweils anderes Gewicht und haben neben unterschiedlichen Ausgangspunkten auch andere Zielperspektiven als im Heterogenitätsdiskurs. Hinsichtlich der diskursiven Verunklarung des Gegenstandes Heterogenität gelangt Budde zu folgender Aussage: „In den diskursiven Formationen tauchen durchgängig Begrifflichkeiten auf, die zwar vorgeben, Heterogenität zu erläutern (durch Relationen, Synonyme etc.), tatsächlich aber dazu führen, dass sich das Sprechen und Schreiben multipliziert, der Gegenstand dabei aber nicht an Kontur gewinnt, sondern verliert. Im Sprechen über Heterogenität, ihre Referenzen und Kategorien werden weitere Bedeutungen und Synonyme ins Spiel gebracht, die sich einem syste-

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matischen Zugriff ebenso entziehen wie der Begriff Heterogenität selbst, da sowohl die Bedeutungen als auch die Relationen der Begrifflichkeiten zueinander unkenntlich bleiben. Da dieser Effekt alle für diese Untersuchung hinzugezogenen Aussagen durchzieht, kann davon ausgegangen werden, dass genau die vermeintliche Ordnungslosigkeit ein zentraler Effekt des Diskurses ist, dessen Resultat die Verschleierung durch Vervielfältigung ist. Dies funktioniert prominent über begrifflich konstruierte Verwandtschaften, die wiederum durch reihende Nennungen erzeugt werden. Die Erläuterungen zu Heterogenität sind dabei weder willkürlich noch kongruent, sondern assoziativ und damit dem offenen Feld der Spekulationen überlassen.“ (Ebd.: 56)

Was Budde hier sagt, lässt sich fast 1:1 auf die Strategie der Verunklarung des Inklusionsbegriffes übertragen. Auch hier konnte als zentrales Resultat der vorgeblichen Ordnungslosigkeit des Diskurses die „Verschleierung durch Vervielfältigung“ nachgewiesen werden, so beispielsweise in den Vorgängen, Integration und Inklusion unterschiedslos zu verwenden, ein „gemäßigtes Inklusionsverständnis“ auszurufen oder Inklusion im (ungeklärten und undefinierten) Sinne der UN-BRK zu verwenden. So lesen sich auch die Zustandsbeschreibungen des Heterogenitätsdiskurses wie eine Beschreibung der inzwischen eingetretenen Situation des Diskurses um Inklusion. Koller, Casale und Ricken stellen beispielsweise in ihrem Vorwort zu einem höchst beachtenswerten Band, der sich aus bildungs- und erziehungsphilosophischer Perspektive der neueren Diskussion um das Konzept der Heterogenität zuwendet (vgl. Koller/Casale/Ricken 2014), fest, dass zwar überall die Rede von Heterogenität ist; es sei aber weniger klar, „was eigentlich unter Heterogenität verstanden und in welchen theoretischen Kontexten dieses Konzept verankert werden soll“ (ebd.: 7). So hat sich der Inklusionsdiskurs dem Heterogenitätsdiskurs inzwischen auch dahin gehend angeglichen, dass „keineswegs eine klare begriffliche Fassung oder auch nur ein halbwegs einheitliches Verständnis dessen, was ‚Heterogenität‘ im erziehungswissenschaftlichen Zusammenhang bedeuten […] soll“ (Koller 2014: 10), mehr zu erkennen ist. Diese Tatsache trifft inzwischen auch auf den Begriff der Inklusion zu, der bis zur Unkenntlichkeit verschwommen ist und der häufig ohne jegliche Theoriebezüge auszukommen scheint oder der Willkür subjektiver Ausdeutungen anheimgestellt wird. Unklar sei im Kontext von Heterogenität zum Beispiel, „in welchem Verhältnis Heterogenität zu anderen Begriffen wie Verschiedenheit, Differenz, diversity, Andersheit, Alterität, Vielfalt, Mannigfaltigkeit oder Pluralität steht und welche normativen Implikationen damit jeweils verbunden sind“ (ebd.). In diesem Sinne heißt es auch bei Budde: „Entsprechungen oder Relationen zwischen den Begriffen werden nicht systematisiert; ob damit synonyme Begrifflichkeiten gemeint sind – und wenn ja welche – oder welche inhaltliche oder semantische Beziehung zwischen ihnen existiert, wird nicht erläutert.“ (Budde 2012: 22) Und auch Trautmann und Wischer merken an, dass in schulpädagogi-

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schen Diskussionen Heterogenität häufig „synonym mit Verschiedenheit, Vielfalt oder Unterschieden/Differenz gebraucht [wird]“ (Trautmann/Wischer 2011: 38). Ein Effekt dieser unterschiedslosen Rede zeigt sich in der vorliegenden Arbeit selbst, demnach bisher oft mithilfe eines Schrägstriches (Heterogenität/Verschiedenheit/Vielfalt etc.) gearbeitet wurde. Dies geschah jedoch nicht, um der Vervielfältigung der Begriffsäquivalente Vorschub zu leisten, sondern aus der Tatsache heraus, dass diese Begriffe im Inklusionsdiskurs und bei Hinz ohne Unterscheidungen verwendet werden. Auch wenn zwar klar ist, dass Hinz die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit bzw. die „Normalität der Verschiedenheit“ vor Augen hat, hofft man bei ihm, wie auch Dederich feststellt, auf „eine philosophische Fundierung des zentralen Topos ‚Heterogenität‘ vergebens […]“ (Dederich 2013c: 44; 2014: 125). Was inzwischen auch für den Inklusionsbegriff zutrifft, gilt allem Anschein nach also ebenso für den der Heterogenität: Es fehlen auch hier „vielfach präzise Begriffsdefinitionen oder Einbettungen in Bezugstheorien“ (Rose 2014: 131). Auch hier verhält es sich so, dass die Popularität des Begriffes „als Ausdruck seiner Konturlosigkeit verstanden werden [muss]“ (Mecheril/Vorrink 2014: 105). Es nimmt denn auch nicht Wunder, dass die Charakterisierungen des Heterogenitätsbegriffes deckungsgleich mit denjenigen des pädagogischen Inklusionsbegriffes ausfallen (vgl. hierzu 2.1). Angefangen von der konjunkturellen Rede über den Heterogenitätsbegriff (vgl. u.a. Koller 2014: 9; Jergus/Krüger/Schenk 2014: 149), der „en vogue“ ist (vgl. Mecheril/Vorrink 2014: 105), finden sich Beschreibungen von Heterogenität als „Zauberformel“ (vgl. Koller/Casale/Ricken 2014: 7), als ein „Gummiwort“ oder „Super-Begriff“ (vgl. Rendtorff 2014: 115), als „Containerbegriff“ (vgl. Budde 2012: 4) oder einfach als ein „schwammiger Begriff“ (vgl. Rose 2014: 134). Mecheril und Vorrink bezeichnen Heterogenität daher auch als einen „leeren Signifikanten“, als „ein Ausdruck, mit dem vieles und häufig in einer verunklarenden Gemengelage thematisierbar wird […], ein semantisches Behältnis, in das unterschiedliche, ‚heterogene‘ Traditionen (reformpädagogisch, neoliberal, gesellschaftskritisch, minoritätsfreundlich…) fließen. Das Behältnis Heterogenität nimmt diese Traditionen auf, nimmt ihnen dadurch ihr Profil und nivelliert sie.“ (Mecheril/Vorrink 2014: 105f.)

Eine ähnliche Einschätzung teilt Rendtorff, der zufolge das Gummiwort Heterogenität „alles und nichts bedeuten kann, das auch in dieser breiten und unbestimmten Art mal mit dieser, mal mit jener Auslegung verwendet wird, ein Eimer, in den alle Arten von Unterschieden hineingeleert werden, und zugleich der Deckel, der verhindert, dass sie wieder herauskommen, um ihr Unwesen zu treiben“ (Rendtorff 2014: 117).

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Diese Beispiele zeigen die großen Überschneidungen zwischen dem Heterogenitäts- und dem Inklusionsdiskurs in der Art und Weise, wie die Diskurse jeweils geführt werden und wie mit den Begriffen jeweils umgegangen wird. Anders als beim Begriff der Heterogenität liegt ein wesentlicher Unterschied der pädagogischen Inklusionsidee jedoch darin, dass die festgestellte Heterogenität eher Anlass zum Handeln bietet, wohingegen Inklusion eine klarere und eindeutiger definierte Ausrichtung des Handelns selbst vorgibt. Im Inklusionskonzept ist Heterogenität unter der Voraussetzung des Primats der Gleichheit Ausgangspunkt des Handelns, Inklusion selbst definiert diesen Umgang daraufhin. Die Diskurse haben es außerdem mit einer unterschiedlichen Ausgangslage zu tun: Während sich die Verunklarung des Inklusionsbegriffes implizit oder explizit immer auch auf die ursprüngliche pädagogische Inklusionsidee und deren praktische Implikationen bezieht, lässt sich mit dem Begriff der Heterogenität kein solches normatives und eindeutiges Konzept erkennen. Die Verunklarung richtet sich im Heterogenitätsdiskurs daher eher ‚nur‘ auf den Begriff der Heterogenität selbst und weniger auf eine vormals bestehende klare Idee, die beim Heterogenitätsbegriff so nicht zu sehen ist. Diesen Unterschied zwischen den Diskursen sieht Budde vermutlich deswegen nicht, weil er den verunklarenden Diskurs über Inklusion mit dem Begriff oder der Idee der pädagogischen Inklusion verwechselt. So sieht Budde eine weitere „Trennlinie zwischen den Konzepten […] in Bezug auf die jeweiligen institutionalisierten Förderpraktiken […]“ (Budde 2015: 124). Er beschreibt das Konzept bzw. den Begriff der Inklusion so, dass „mit dem Thema Inklusion spezifische, pädagogische, diagnostische oder therapeutische Maßnahmen verknüpft [sind]. Ein sonderpädagogischer Förderbedarf, ein ,I-Status‘, zieht in der Regel definierte Prozeduren, diagnostische Verfahren, Formulare, entsprechende Verwaltungsapparate mit ihren Sachbearbeiterinnen usw. nach sich, bzw. setzt zwecks Statuserteilung diese Prozeduren ja bereits voraus. Daran schließen sich materielle und personelle Unterschiede an. […] Diese Engführung auf Behinderung etabliert die Produktion eines ‚institutionellen Hintergrundapparates‘ mit seinen ganz eigenen, im Foucault’schen Sinne höchst produktiven Logiken.“ (Ebd.)

Das Konzept der Heterogenität hingegen „richtet sich an keine spezifische Gruppe und verbleibt ein Sammelbegriff ohne konkreten Inhalt, Prozeduren, Ressourcen und Verfahren“ (ebd.: 125). Buddes ansonsten sehr differenzierte Analyse der Begriffe Heterogenität und Inklusion wird hier selbst Opfer der Verunklarung des Inklusionsbegriffes. Was Budde hier dem Inklusionskonzept oder -begriff unterstellt, ist eben genau all das, was mit dieser Idee selbst scharf kritisiert wird. Budde vergleicht hier also nicht den Begriff oder das Konzept von Inklusion mit dem von Heterogenität, sondern er hält das, wozu dieser Begriff inzwischen durch die vielfältigen Verwässerungen mutiert ist, für die Idee selbst.

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Heterogenität als Chance und Ressource Diese skizzenartige Darstellung des Heterogenitätsdiskurses weist neben den Ähnlichkeiten und Unterschieden zum Diskurs der Inklusion auch auf die bestehenden Problemlagen des Diskurses um Heterogenität selbst hin, demnach es auch dieser Diskurs mit einer begrifflichen Unschärfe seines eigenen Topos und einem bestehenden Theoriedefizit zu tun hat. Trotz dieser Uneinheitlichkeit lassen sich mit Budde bestimmte diskursive Formationen ausmachen. Neben der angesprochenen Bildung von „Begriffsketten“ weist Budde auf bestimmte Stellvertretungsformationen von Heterogenität „als“ Herausforderung, „als“ Chance oder „als“ Belastung hin (vgl. Budde 2012: 27).4 Ähnliche Stellvertretungsformationen lassen sich auch für den Diskurs um Inklusion beobachten, wie sich beispielsweise in den Buchtiteln Herausforderung Inklusion. Theoriebildung und Praxis (vgl. Schnell 2015), Inklusion als Herausforderung, Aufgabe und Chance für den Schulsport (vgl. Meier/Ruin 2015), Inklusion als Chance und Gewinn für eine differenzierte Berufsbildung (vgl. Bylinski/Rützel 2016) ankündigt, um nur wenige Beispiele zu nennen. Am häufigsten sind innerhalb und außerhalb des Inklusionsdiskurses sicherlich diejenigen Positionen anzutreffen, die Heterogenität oder Vielfalt als Chance oder als Ressource begreifen. Smykalla liefert eine sehr treffende Beschreibung des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit Vielfalt, der sich auch für den inklusionspädagogischen Umgang mit Vielfalt als zutreffend erweist: „Vielfalt als Modus postmoderner Lebenswirklichkeit wird vermarktet und verkauft sich, denn Vielfalt suggeriert, Unterschiede in Lebensstilen harmonisieren zu können, statt diese zu polarisieren. Diese Vermarktung gelingt durch die Dominanz des Meta -Narrativs ‚Vielfalt als Chance‘, das den Diskurs formt: Vielfalt bereichert, lohnt sich und rechnet sich. Vielfalt wird positiv besetzt und es werden Diversitätsstrategien im Sinne eines Ressourcenansatzes propagiert, der auf Gewinne statt auf Verluste bzw. auf Potenziale statt auf Defizite setzt. Die Diskursivierung von Vielfalt als Chance materialisiert sich quer durch alle Bereiche in bunten Bildern, die Freude, Gemeinschaftlichkeit, Modernität und Zukunftsgewandtheit transportieren sollen. Die der postmodernen Gesellschaft attestierte Notwendigkeit zum Umgang mit Vielfalt wird also zudem mit einem guten Gefühl unterlegt.“ (Smykalla 2014: 170f.)

Um nur ein Beispiel dafür zu nennen, dass diese Sichtweise auch im pädagogischen Diskurs tragend ist: Im Vorwort eines Buches mit dem Titel Heterogenität in Schule und Unterricht. Handlungsansätze zum pädagogischen Umgang mit Vielfalt (vgl. Boller/Rosowski/Stroot 2007) heißt es beispielsweise: „Der Erfolg des von Wissen4

In ähnlicher Weise identifiziert Walgenbach sogar fünf Bedeutungsdimensionen: Heterogenität als Belastung oder Chance, Heterogenität als Produkt sozialer Ungleichheiten, Heterogenität als Unterschiede, Heterogenität als didaktische Herausforderung (vgl. Walgenbach 2014).

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schaft und Politik geforderten produktiven Umgangs mit Heterogenität ist an die Weiterentwicklung von Unterricht, an Maßnahmen zur individuellen Förderung und zugleich an die Erneuerung der Schulstruktur gebunden.“ (Ebd.: 7) Dies liest sich weniger als pädagogischer Ansatz als vielmehr eine neoliberale Maßnahme zur Steigerung einer ‚pädagogischen‘ Produktivität. Für die Verwendung von Heterogenität im Inklusionsdiskurs erweist sich, ergänzend zu der Beschreibung Smykallas, auch als zutreffend, was Wimmer für den pädagogischen Diskurs um Heterogenität in Gänze beobachtet. Ihm zufolge geht es „nicht primär um eine Entdeckung von Heterogenitäten im Sinne von bisher übersehenen Unterschieden und Ungleichheiten […], sondern um deren Umwertung. Sie sollen nicht mehr als Belastungen, Störungen, Defizite oder Hindernisse gewertet werden und als Selektionskriterien dienen, sondern als Chance und positive Ressourcen, die sowohl für gemeinsame Lernfortschritte wie auch für die individuelle Förderung genutzt werden sollen.“ (Wimmer 2014: 222)

Dass Heterogenität oder Vielfalt in der Inklusionspädagogik, und auch in der Integrationspädagogik, als etwas Positives und Wertzuschätzendes in den Blick kommen sollen, haben die Ausführungen zum Inklusionsbegriff im vorangegangenen Teil ausführlich gezeigt. Beide sind explizit auf die von Wimmer angesprochene Umdeutung angelegt; Heterogenität oder Vielfalt kommen sowohl bei Prengel als auch bei Hinz ausschließlich als Chance und Ressource in den Blick (vgl. auch Smykalla 2014: 176). In einem weiteren Beispiel heißt es unter anderem bei Platte: „Inklusive Bildung bedeutet einen Willkommen heißenden Umgang mit Verschiedenheit. […] Inklusive Bildung fordert einen positiven Umgang mit dieser und weiß Unterschiedlichkeiten als Lern-, Erkenntnis- und Gestaltungsprozesse zuträglich zu nutzen.“ (Platte 2012: 143) In einem Handbuch zur Inklusion (vgl. Wagner 2013a) findet sich diese Sichtweise bestätigt. Gleich zu Beginn schreibt Wagner im Vorwort davon, dass Inklusion „in einem umfassenden Sinne als Orientierung im Bildungsbereich verstanden [wird], die auf Bildungsgerechtigkeit zielt und dabei dem Anspruch folgt, Wertschätzung für Heterogenität mit dem Erkennen und Abbauen von Bildungsbarrieren zu verknüpfen“ (ebd.: 10). In einem weiteren Artikel mit dem Titel Heterogenität als Motor für Bildungsprozesse – für Kinder mit und Kinder ohne Behinderung (vgl. Kobelt-Neuhaus 2013) heißt es in diesem Handbuch: „Unterschiedlichkeit wird hier nicht als zu überwindendes Defizit gesehen, sondern als Chance, von- und miteinander zu lernen und gemeinsam Neues zu entwickeln.“ (Ebd.: 124) Zum Abschluss dieses Artikels kann man lesen, dass Unterschiede „der ideale Motor für Entwicklung [sind] […]“ (ebd.: 126). In einem anderen Buch, das vorgibt, die Grundlagen und Grundfragen der Inklusion zu behandeln (vgl. Nuding/Stanislowski 2013), schreibt Nuding in einem Versuch einer Definition:

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„Erscheinungsformen von Heterogenität wie Geschlecht, soziale Bedingungen, Ethnie, Nationalität, Alter, körperliche Verfassung, Intelligenz, werden als Dimensionen von Vielfalt akzeptiert, als bereichernd anerkannt und als alltäglicher Bestandteil des Zusammenlebens wertgeschätzt. Inklusion versteht sich als Konzept zur Überwindung von Benachteiligung und Diskriminierung im Bildungssystem aufgrund der Orientierung an den Ressourcen eines jeden Kindes.“ (Ebd.: 3)

Diese Beispiele bringen es nochmals deutlich zur Sprache: Mit Inklusion gilt es, Vielfalt als etwas Positives wertzuschätzen und sie als Ressource für etwas nutzbar zu machen. Die gewählte Sprache zeugt dabei eher von neoliberalistischem Einfluss ins pädagogische Denken und Handeln, das hierdurch immer mehr die Nutzbarmachung und Verzweckung von Bildung bewirkt und diese nicht mehr als Selbstzweck des Menschen bzw. als Wechselverhältnis von Menschen mit sich selbst, mit anderen und der Welt begreift. 5 Normativer und präskriptiver Umgang mit Heterogenität Was Symkalla und Wimmer für die gesamtgesellschaftliche und pädagogische Sichtweise auf Vielfalt oder Heterogenität diagnostizieren, trifft also insbesondere auch auf den inklusionspädagogischen Diskurs zu. Heterogenität als Gewinn, Ressource und ganz allgemein als etwas Positives zu begreifen, stellt im inklusionsund integrationspädagogischen Ansatz geradezu ein anthropologisches Fundament und zugleich eine ethische Maxime des Handelns dar. Inklusion und Integration dienen dabei als wirksames und effektives Konzept für einen solchen Umgang und werden wiederum selbst als Chance und Gewinn für alle verkauft. Für den Inklusionsdiskurs lässt sich demzufolge nicht nur der Effekt der Verunklarung feststellen, sondern ebenso die von Budde für den Heterogenitätsdiskurs beobachteten Effekte der Normativität und der Handlungsaufforderung (vgl. Budde 2012: 57ff.). Wird die Idee und nicht die verunklarende Rede über Inklusion zugrunde gelegt, dann zeigen sich Unterschiede gegenüber den Effekten des Heterogenitätsdiskurses nicht in der prinzipiellen normativen und präskriptiven Ausrichtung, sondern in der Klarheit der Aussagen und der abgeleiteten institutionellen und professionellen Konsequenzen. Zwar erscheint Heterogenität auch im Inklusionsdiskurs „als sakrosankte Heilsbotschaft zur Bekämpfung zahlreicher gesellschaftlicher, ökologischer und ökonomischer Probleme“ (ebd.: 60) und gilt als positiver Gegenpol zu Homogenisierungen (vgl. ebd.). Es bleibt aber nicht bloß bei einer solchen normativen Ausrichtung, sondern dieser Ansatz wird normativistisch in dem Sinne, dass das Sollen losgelöst vom Sein über dieses bestimmen soll. Unterschiede werden nicht nur als 5

Zu diesem Bildungsverständnis und den vieldeutigen Möglichkeiten, Bildung zu denken, vgl. den Band Einführung in die Theorie der Bildung (Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006).

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etwas Positives umgedeutet, sondern sie sollen im inklusionspädagogischen Ansatz Normalität werden und zwar so, dass das Anderssein einer jeden normativen Bewertung entzogen wird. Diese Sichtweise auf Heterogenität stellt eine Grundvoraussetzung für den Entwurf eines neuen Gesellschaftsbildes dar, der inklusiven Gemeinschaft. Zwar zielt auch der Heterogenitätsdiskurs auf einen gesamtgesellschaftlich veränderten Umgang mit Heterogenität ab. Das Versprechen einer neuen Gesellschaftsordnung, wie sie mit dem Begriff der pädagogischen Inklusion verbunden ist, findet sich so eindeutig ausformuliert mit dem Begriff der Heterogenität allerdings nicht. Nicht nur in dieser normativen und normativistischen, sondern auch bezüglich der handlungsauffordernden oder präskriptiven Ausrichtung verhält sich der Begriff der Inklusion deutlich klarer als der der Heterogenität. Für den Heterogenitätsdiskurs stellt Budde fest, dass in „der Rede über Heterogenität […] eine Handlungsnotwendigkeit installiert [wird], nach der Heterogenität nicht einfach Heterogenität ist, sondern zumeist ‚Umgang mit…‘“ (Budde 2015: 126). Meistens würde dieser geforderte Umgang Heterogenität als Effekt bezähmen und sie umgänglich gestalten, sie würde also der technologischen Bearbeitung unterworfen (vgl. Budde 2012: 21). Für den Umgang mit Heterogenität, den der inklusionspädagogische Ansatz vorsieht, trifft das in jedem Fall auch zu. Ebenfalls trifft zu, dass mit Inklusion immer auch ein „Umgang mit“ Heterogenität als erforderlich eingeschätzt wird. Inklusion ist jedoch bereits selbst ein ganz bestimmtes Konzept für den Umgang mit Heterogenität, das nicht nur eine normativistische Sichtweise auf Heterogenität verfolgt, sondern auch klare institutionelle und professionelle Umgangsweisen mit Heterogenität vorsieht und einfordert. Wenn man so will, hält Inklusion den Beipackzettel für den Umgang mit Heterogenität bereit, der nicht ohne schädliche Nebenwirkungen beiseitegelegt werden kann, sondern eine genaue Beachtung erfordert, damit die richtige Dosierung zur angemessenen Heilung respektive Haltung führt. Ein solchermaßen exakt verfasster Beipackzettel für den Umgang mit Heterogenität ist im Diskurs um Heterogenität in dieser Klarheit nicht zu erkennen. Die Konzepte der Heterogenität und Inklusion sind also jeweils normativ und präskriptiv ausgerichtet, wobei der Begriff der Inklusion im gezeigten Sinne weit über den der Heterogenität hinausweist. Gemeinsam ist ihnen zudem eine verunklarende Diskursorganisation, die es jedoch mit unterschiedlichen diskursiven Ausgangslagen zu tun hat. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der grundsätzlich positiven Sichtweise auf Heterogenität, die zugleich als Ressource betrachtet wird, die aber im Inklusionskonzept auch einer normativistischen Revision im Sinne der Normalität der Heterogenität unterzogen wird. Zwar geht die inklusionspädagogische Bestimmung von Heterogenität damit über den Heterogenitätsdiskurs selbst hinaus. Wenn von Heterogenität, Verschiedenheit oder Vielfalt die Rede ist, dann gehen jedoch beide Diskurse von einem Verständnis von Heterogenität als relative Heterogenität oder relative Verschiedenheit aus. Der Unterschied besteht darin,

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dass im Diskurs über Heterogenität eine Sichtweise auf Heterogenität als radikale Heterogenität prinzipiell möglich ist, wohingegen die inklusionspädagogische Idee eine solche Perspektive nicht nur verunmöglicht, sondern diese mit ihr geradezu bekämpft wird. Bevor diese andere Betrachtungsweise ausführlich thematisiert wird, ist nochmals herauszustellen, dass sowohl das pädagogische Inklusions- als auch das Integrationskonzept einem relativen Heterogenitätsverständnis folgen. 3.2.2 Heterogenität als relative Verschiedenheit im pädagogischen Inklusions- und Integrationskonzept Was Rose für den Heterogenitätsdiskurs feststellt, trifft so auch auf die Verwendung von Heterogenität in der Inklusionspädagogik zu, auch wenn derartigen gruppenkategorialen Merkmalen keine institutionelle, professionelle und intersubjektive Relevanz mehr zukommen soll: „Schließlich wird […] relativ schnell deutlich, dass der Begriff Heterogenität in der Regel, entgegen seiner streng etymologischen Bedeutung von ‚andersgeartet‘, immer sowohl auf Differenzen als auch auf Gleichartigkeiten in Gruppen verweist (z.B. wenn Gruppenmitglieder nach gleichen Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder Intelligenz beschrieben werden können, hinsichtlich der Merkmalsausprägungen aber als sehr unterschiedlich einzustufen sind […]).“ (Rose 2014: 135)

Diesen relativen Begriff von Heterogenität beschreibt Wenning wie folgt: „Relativität bezieht sich auf Fragen des Maßstabs und der Dualität von Homogenität und Heterogenität. Die Feststellung von Homogenität oder Heterogenität ergibt sich durch einen Vergleich; beide liegen nur bezogen auf einen Maßstab vor.“ (Wenning 2007: 23) Heterogenität und Homogenität bleiben daher notwendigerweise aufeinander bezogen, sie können nicht unabhängig voneinander bestimmt werden (vgl. ebd.). Ebenso wenig sind Homogenität/Heterogenität objektive Eigenschaften der Vergleichsgegenstände, „sie werden ihnen durch Vergleichsoperationen zugeschrieben“ (ebd.). Für diese Bestimmung ist ein Maßstab notwendig, der die Vergleichbarkeit erst ermöglicht. Hinsichtlich institutionalisierter Bildung weist Wenning auf folgende Maßstäbe bzw. Kategorien von Heterogenität hin: Leistung, Alter, Entwicklung, soziokulturelle Heterogenität, Sprache, Migration, Gesundheit, Geschlecht (vgl. ebd.: 25f.). Eine ähnliche Auflistung findet sich bei Lutz/Wenning, in der jedoch vor allem die bipolaren hierarchischen Differenzlinien herausgestellt werden (vgl. Lutz/Wenning 2001b: 20): Die Differenzlinie für die Kategorie Geschlecht folgt dem Dualismus von männlich – weiblich, für die Kategorie Rasse/Hautfarbe dem Dualismus weiß – schwarz oder für die Kategorie Gesundheit dem Dualismus nicht-behindert – behindert. Hierbei erscheinen die Differenzlinien

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zwar komplementär, sie würden aber hierarchisch funktionieren, demnach die linke Seite „als Norm hantiert, die rechte als Abweichung“ (ebd.). In diesem kritisierten, hierarchischen Umgang finden sowohl die Integrations- als auch die Inklusionspädagogik ein wesentliches Moment ihrer Existenz. Die Erörterung des pädagogischen Inklusionsbegriffes hat gezeigt, dass auch der Inklusionsdiskurs einem solchen Verständnis von Heterogenität als relative Heterogenität bzw. relative Differenz folgt: Mit Inklusion geht es explizit nicht um die einzelne und isolierte Betrachtung von Behinderung, sondern sie umfasst „alle Dimensionen von Heterogenität (Fähigkeiten, Geschlechterrollen, Herkünfte, Erstsprachen, ‚races‘ im Sinne von Hautfarben, ‚classes‘ als soziale Milieus, Religionen, sexuelle Orientierungen, körperliche Bedingungen und andere Aspekte) […]“ (Hinz 2015: 69; vgl. u.a. auch 2003: 332; 2006a: 98; 2010: 33). Zwar geht es im Inklusionskonzept darum, dass diese gruppenkategorialen Zuschreibungen nicht nur keiner isolierten Betrachtung und Behandlung unterzogen werden dürfen, sondern sie sollen bei der Beurteilung der Lage überhaupt keine Rolle mehr spielen dürfen. Trotzdem zeigt sich die Verwendung von Heterogenität als relative Verschiedenheit hier deutlich, demnach die jeweilige Dimension ein gemeinsames Merkmal oder eine gemeinsame Kategorie teilt (zum Beispiel Geschlecht, Sprache, körperliche Bedingungen), was ihre Vergleichbarkeit mit anderen Dimensionen ermöglicht. Auch die Verwendung der Kategorien innerhalb der jeweiligen Gruppen (zum Beispiel Mann-Frau; nichtbehindert-behindert) wird mit dem Inklusionsbegriff nicht nur kritisiert oder in Frage gestellt, sondern diese Kategorien sollen mit dem Ansatz der Normalität der individuellen Verschiedenheit radikal überwunden werden. Aber auch hierbei zeigt sich, dass der inklusionspädagogische Ansatz von einer relativen Heterogenität oder Verschiedenheit ausgeht, auch, wenn diese letztlich zugunsten der Normalität überwunden werden soll. Auch die Integrationspädagogik rückt relative Differenzen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen, indem die Pädagogik der Vielfalt danach fragt, wie pädagogisches Handeln der geschlechtlichen oder kulturellen Vielfalt der Menschen gerecht werden kann (vgl. Prengel 2006: 15). Nur geht sie dabei nicht so weit wie die inklusionspädagogische Idee, diese Differenzen in der „Normalität der Verschiedenheit“ aufgehen lassen zu wollen. Aber auch hier kommt Differenz nur als relative Verschiedenheit in Betracht, wenn auch ungleich komplexer als im inklusionspädagogischen Ansatz. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Prengel Verschiedenheit in Abgrenzung von quantitativen Differenzen, die mit dem Begriff der Ungleichheit verbunden sind (vgl. ebd.: 31), als qualitative Differenzen im Sinne von Inkommensurabilität als Unvergleichbarkeit bestimmt (vgl. ebd.: 32).6 Der Begriff der Verschiedenheit steht nach Prengel daher

6

Eine kritische Diskussion dieser Unterscheidung findet sich bei Liesen (2006: 134ff.).

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„im Gegensatz zu all jenen anderen Möglichkeiten, angesichts der Mannigfaltigkeit der Welt Unterscheidungen zu treffen, die diese Mannigfaltigkeit als Hierarchien zu systematisieren, als Dualitäten zu polarisieren bzw. von einem Prinzip abzuleiten versuchen. Die Kategorie der Verschiedenheit markiert damit eine Distanz zum monistischen Denken. Dualistische Welterklärungen neigen dazu, sich monistisch aufzulösen, indem sie Polarität in Hierarchie überführen.“ (Ebd.)

Prengel zufolge seien die „logischen Mittel des Monismus […] verknüpft mit emotionalen Vorgängen des Bewertens in Höherwertigkeitsvorstellungen einerseits und Diskriminierungen andererseits“ (ebd: 33). Sie stellt daher unter Bezugnahme auf Welschs postmoderne Theorie der radikalen Pluralität die unhintergehbare „Eigenart differenter Lebensweisen und Wissens- und Denkformen“ heraus, die jede in ihrer Eigenart hohe Wertschätzung genießen würden (vgl. ebd.: 49). Diese Pluralität sei „der Vision der Gerechtigkeit verpflichtet und ihre Anstrengungen sind ethisch motiviert. Von der Position radikaler Pluralität aus, ist nicht etwa alles beliebig möglich und gleichgültig betrachtbar, sondern sie stellt klare Kriterien der Urteilsbildung zur Verfügung: Alle jene Tendenzen, die monistisch, hegemonial, totalitär die Gleichberechtigung der Differenzen zu zerstören trachten, können aus pluraler Sicht nur bekämpft werden. Insofern ist Vielfalt nicht verwechselbar mit positionsloser Beliebigkeit, sie realisiert sich vielmehr erst in klarer Stellungnahme gegen herrscherliche Übergriffe. Die Wertschätzung von Pluralität bedeutet nicht eine Haltung der Indifferenz [sic!] sondern der Wertschätzung von Differenz!“ (Ebd.)

Dem zugrunde liegt die wesentliche Einsicht der Pädagogik der Vielfalt, „daß sowohl Gleichheit als auch Verschiedenheit ausschließlich in der Lage sind, Aussagen über ein partielles Verhältnis, nie die generelle Beziehung mit allen Aspekten zu machen. Darum ist es erforderlich, einen Maßstab des Vergleichens, die Hinsicht, in welcher etwas gleich oder verschieden sei, zu bestimmen. Es muß ein ‚tertium comparationis‘ klar definiert werden. Die Festlegung des vergleichsentscheidenden Merkmals obliegt dem Urteil der Menschen, es existiert nicht etwa unabhängig schon vor einem menschlichen Urteil. Nur urteilende Subjekte können darüber entscheiden, welches Kriterium als tertium comparationis bei einem Vergleich Gültigkeit haben soll. Damit hängt es von Standpunkten und Gesichtspunkten von Personen ab, wie sie vergleichsentscheidende Kriterien auswählen, ihre Gültigkeit hat keinen objektiv wahren Grund, sondern kann immer auch umstritten sein, da unterschiedliche Personen ganz unterschiedliche Aspekte als wesentlich erkennen.“ (Ebd.: 33)

Die Erkenntnis, dass nichts eindeutig und letztgültig definitiv bestimmbar ist, ist ebenso richtig, wie die Kritik an einem monistischen Denken und hierarchisierenden oder polarisierenden Ordnungsbildungen. Worum es hier aber geht, ist, dass

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Heterogenität/Verschiedenheit bei Prengel trotz – oder eher wegen – der Betonung der Inkommensurabilität von Heterogenität im Sinne von Unvergleichbarkeit relativ gedacht wird (vgl. hierzu auch Wimmer 2014: 226ff.; Dederich 2013c: 45ff.). Ihr Ansatz erweckt jedoch durch den Bezug auf postmoderne Theorien von Welsch und Lyotard und das Konzept radikaler Pluralität den Anschein, als würde hier auch so etwas wie radikale Heterogenität oder radikale Fremdheit mitgedacht. Das ist aber nicht der Fall. So weist Wimmer darauf hin, dass Welsch die „radikale Heterogenitätsbehauptung Lyotards“ kritisiert und „im Sinne einer impliziten Gleichheitsprämisse“ umdeutet, „sodass die Autorin [Prengel; Anm. P.S.] behaupten kann, sowohl Lyotard als auch Welsch hätten erwiesen, dass allem demokratischen Differenzdenken das Gleichheitsprinzip zugrunde liege“ (Wimmer 2014: 227). Prengels Ansatz verbleibt in einem Denkraum der relativen Heterogenität, die stets auf die Idee der Gleichheit bezogen bleibt: „Beide Begriffe sind in einem Abhängigkeitsverhältnis aufeinander bezogen: Gleichheit kann nicht bestimmt werden ohne Verschiedenheit. Die Existenz von Verschiedenheit ist Voraussetzung für das Feststellen von Gleichheit.“ (Prengel 2006: 30) Zugleich seien genaue Aussagen über Verschiedenheit ohne „die Gleichheit eines Kriteriums, auf das wir uns beziehen“ nicht möglich (vgl. ebd.: 31). Verschiedenheit gibt es also nur unter der Voraussetzung eines vorgängigen Vergleichs, der die Gleichheit eines Kriteriums bereits festgestellt hat. Verschiedenheit erfordert bei Prengel stets einen Vergleich, auch wenn dieser immer subjektiv, unvollständig und begrenzt ist (vgl. ebd.: 51). Prengel betont zwar die „Unvergleichbarkeit der Mannigfaltigkeit der Welt“ und die „unhintergehbare Eigenart differenter Lebensweisen“. Es geht ihr aber nicht darum, dass Vergleiche zwischen Differenzen prinzipiell nicht möglich sind; Unvergleichbarkeit ist hier nicht deskriptiv, sondern präskriptiv in dem Sinne gemeint, dass stets ein Wissen erforderlich ist, dass dieser Vergleich niemals absolut sein kann, sondern jeweils der Perspektivität und subjektiven Setzung des Einzelnen unterworfen ist: „Das Wissen um diese Unvollständigkeit und Begrenztheit setzt vielmehr einen Prozeß in Gang, in dem die Aufmerksamkeit für Unbekanntes auch immer anderes Verschiedenes bewußt werden lassen kann.“ (Ebd.: 51) In zutiefst demokratietheoretischem Sinne betont sie daher die Anerkennung von Verschiedenheit auf der Basis gleicher Rechte, die nie abgeschlossen und vollständig sein kann, was der Behauptung der Erfassbarkeit von Totalität gleichkäme (vgl. ebd.). Ihr Ansatz wendet sich gegen eine hierarchische Bewertung von Differenz und gegen deren fixierende Festlegungen, er plädiert aber nicht für die Überwindung der Differenzen selbst, so wie dies mit der inklusionspädagogischen Idee der Normalität der individuellen Verschiedenheit vorgesehen ist. Der entscheidende Punkt, dass Heterogenität – trotz und wegen der Betonung der Unvergleichbarkeit qualitativer Differenzen – auch hier nur im relativen Sinne Verwendung findet, ist, dass auch die Unvergleichbarkeit bereits immer schon einen Vergleich vorausgesetzt hat und auf diesen bezogen bleibt. Das, was nicht ver-

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glichen werden soll, muss vorab durch einen Vergleichspunkt, ein tertium comparationis, bestimmt werden. Um es mit Waldenfels auf den Punkt zu bringen: „Ob man ein Makrozentrum oder eine Vielzahl von Mikrozentren ansetzt, um Zentrierung handelt es sich allemal. Ob man die Vergleichbarkeit von Lebens- und Kulturformen betont oder deren Unvergleichbarkeit, man hält sich hier wie dort an das Vergleichen, also an ein Gleichmachen, das den Unterschied zwischen Eigenem und Fremdem einebnet.“ (Waldenfels 1997a: 50)

Insofern sich Fremdheit durch ihre Unzugänglichkeit bestimmt, ist Fremdes – so sei an dieser Stelle mit Waldenfels vorausgeschickt – hingegen „nicht unvergleichlich, was immer noch eine komparative Qualität wäre, es ist vielmehr dem Vergleich entrückt, es ist über jeden Vergleich erhaben“ (ebd.). Es ist eben genau dieser entscheidende Aspekt der Unzugänglichkeit des Fremden, der den Kern des radikalen Heterogenitätsdenkens ausmacht. Auch und gerade in der Betonung der Unvergleichbarkeit von Lebensformen oder der Mannigfaltigkeiten der Welt findet sich dieser Aspekt nicht berücksichtigt, da hier immer schon ein Vergleich vorliegt. Das sind notwendige Feststellungen, um überhaupt von bestimmten Lebensformen sprechen zu können, aber Fremdheit respektive radikale Heterogenität erschöpft sich nicht in der (Un-)Vergleichbarkeit. Dass Prengels Ansatz eine radikal verstandene Heterogenität nicht in den Blick bekommt, wäre zunächst nicht weiter problematisch. Sie kritisiert ein monistisches und hierarchisierendes Denken und plädiert für einen demokratischen Umgang mit Differenz. Problematisch ist eher, dass ihre Bezugnahmen auf postmoderne Theorien und die Betonung der Unvergleichbarkeit von Lebensformen zu einer Missinterpretation des radikalen Heterogenitätsdenkens führen könnten oder geführt haben. Die große Relevanz, die die Denkfigur der egalitären Differenz im Heterogenitäts- und auch im Integrations- und Inklusionsdiskurs genießt, deckt ein Denken der radikalen Fremdheit zu (vgl. auch Wimmer 2014: 226). Durch die Macht der pädagogischen Inklusionsidee im heil- und sonderpädagogischen Diskurs hat sich diese Problematik nicht nur weiter zugespitzt, sondern mit der Wendung dieser Denkfigur hin zur Normalität der individuellen Verschiedenheit wurde dieses Denken aus dem Diskurs inzwischen nahezu vollständig verabschiedet. Auch Wimmer und Dederich gelangen zu der Einschätzung, dass es sich in Prengels Ansatz der Pädagogik der Vielfalt um relative Heterogenität handelt. Allerdings unterscheiden sich die Einschätzungen darin, dass Wimmer „alles radikal Andere, der Vielheit gegenüber Heterogene“ in der Pädagogik der Vielfalt als „kategorisch ausgeschlossen“ betrachtet. Sie habe daher einer Nivellierung radikaler Heterogenität dadurch Vorschub geleistet, „dass behauptet wird, der Hierarchisierung von Differenzen und allen Komplikationen zwischen Gleichheit und Differenz schon entkommen zu sein“ (ebd.: 227). Dederich hingegen spricht davon, dass der

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Ansatz der Pädagogik der Vielfalt zwar einen Fortschritt gegenüber einem hierarchischen Differenzdenken darstelle, man aber noch einen Schritt weiter gehen müsse: „Denn offensichtlich ist, dass ihr Begriff von Differenz dem Schematismus von Allgemeinem und Besonderen [sic!] verhaftet bleibt und Differenz im Sinne des Nichtidentischen, radikaler Andersheit, Fremdheit oder Singularität (trotz des Rekurses auf diesbezüglich einschlägige Autoren) nicht konsequent mit einbezieht.“ (Dederich 2013c: 46) Dem kann nur zugestimmt werden. Auch wenn Dederich an anderer Stelle betont, dass es sich um zwei unterschiedliche Zugänge handelt (vgl. Dederich 2014: 134), sieht er hier aber anders als Wimmer und ähnlich wie Stinkes (vgl. Stinkes 2012a; 2014) prinzipiell die Möglichkeit einer Erweiterung des Ansatzes der egalitären Differenz um die radikale Fremdheit gegeben. Die Problematik, ob Prengels Pädagogik der Vielfalt ein solches Denken zulässt oder nicht, kommt zwar noch zur Sprache. In erster Linie interessiert hier aber die inklusionspädagogische Sichtweise auf Heterogenität als individuelle Verschiedenheit, der ein solches Denken nicht nur konsequent verschlossen bleibt, sondern die es aus dem Diskurs und den Köpfen befördern will. Nichtsdestotrotz gehen sowohl die Integrations- als auch die Inklusionspädagogik von einem relativen Heterogenitätsverständnis aus, kritisieren anhand der bipolaren Differenzlinien jeweils einen hierarchisierenden Umgang mit Verschiedenheit oder relativen Differenzen und betonen deren Gleichwertigkeit. Allerdings sieht der Ansatz Prengels durch den geforderten nicht-hierarchischen Umgang weiterhin eine notwendigerweise bestehenbleibende Normativität im Handeln vor, wohingegen Hinz einen gänzlich nicht-normativen Umgang mit diesen Differenzen fordert. Prengel verortet ihren Ansatz demokratietheoretisch unter der Perspektive der gleichen Freiheit; Hinz wählt als Perspektive die Normalität der individuellen Verschiedenheit oder die Verschiedenheit als Normalfall. Dass daher der Umgang mit diesen Differenzen beide Male anders ausfällt – Überwindung des Andersseins (Hinz) vs. Anerkennung des Andersseins (Prengel) – wurde ebenso ausführlich thematisiert wie der Widerspruch, dass mit der Denkfigur der Normalität der individuellen Verschiedenheit diese relativen Differenzen letztlich nicht mehr wahrgenommen und benannt werden können – wobei allem Anschein nach auch Hinz sprachlich nichts anderes übrig bleibt. Hieraus resultieren zwar gravierende, unterschiedliche institutionelle, professionelle und intersubjektive Einschätzungen und Konsequenzen. Trotzdem folgen beide Ansätze einem relativen Heterogenitätsverständnis. Die relativen Differenzen und der Umgang mit ihnen werden zwar jeweils unterschiedlich behandelt, aber Ausgangspunkt der Überlegungen sind beide Male „empirische, an Kriterien gebundene Unterschiede […]“ (Dederich 2013c: 33). Die Verschiedenheit zwischen Individuen ist auch in diesen Ansätzen „insofern relativ, als sie auf eine übergreifende, die Vergleichs- und Unterscheidungsmerkmale liefernde Totalität (etwa: die Herkunft, die Sprache oder die Kultur) bezogen bleibt“ (ebd.: 42).

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3.2.3 Diskursinterne Kritik am Verständnis von Heterogenität als relative Verschiedenheit Gegenüber dem hier skizzierten Verständnis von Heterogenität, das von relativen Differenzen als zumeist individuell wertzuschätzenden Ressourcen ausgeht, hat sich inzwischen jedoch auch eine diskurskritische Gegenposition aufgebaut. Die kritischen Einwände sind in sich nicht einheitlich, sondern setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Im Kern nehmen sie aber allesamt mehr oder weniger die Einseitigkeit dieses üblicherweise in Anspruch genommenen Heterogenitätsverständnisses zum Anlass der Kritik. Ohne den Anspruch einer vollständigen und restlos systematischen Analyse des kritischen Heterogenitätsdiskurses, sollen wesentliche Kritikpunkte anhand direkter Aussagen einzelner Autorinnen und Autoren angesprochen werden. Ein besonders hervortretender Strang der Kritik gruppiert sich dabei um die Ausblendung der gesellschaftlichen und politischen Dimension und Eingebundenheit von Heterogenität. Budde bringt dies präzise auf den Punkt: „Inklusion und Heterogenität werden als ‚gut‘ und ‚positiv zu bejahen‘ stilisiert, problematische Effekte dieser Setzung werden unkenntlich gemacht.“ (Budde 2015: 127) Hierzu zählt Budde neben der Verschleierung des Leistungsprinzips als schulisches Differenzkriterium auch die „Omnipotenzfantasie, gesellschaftliche Probleme und bildungspolitische Entscheidungen im Mikrokosmos Klassenzimmer sinnvoll bearbeiten zu können“ (ebd.: 128). Makrostrukturelle sowie institutionelle oder organisationale Bedingungen würden hierdurch ebenso ausgeblendet (vgl. ebd.). Durch die „programmatischen Nebelbomben“ vorgeblich pädagogischer Werte – wie beispielsweise Vielfalt einseitig zu bejahen und wertzuschätzen – können, so auch Trautmann und Wischer, nicht nur „Ressourcenfragen und äußere Rahmenbedingungen […] getrost im Nebel bleiben, sondern […] man erspart sich auch eine weitere Reflexion von tiefer gehenden Problemen und Widersprüchen. Werte fungieren […] als Stoppregeln des Diskurses und setzen auf Konsens, was kritische Rückfragen eher blockiert […]“ (Trautmann/Wischer 2011: 136). Die Deklarierung von Differenz zum „Nonplusultra“ pädagogischer Bemühungen kritisiert auch Bernhard dahin gehend, dass die mit Heterogenität ausgedrückten Phänomene „in der Regel kulturalistisch bzw. individualistisch gefasst und damit aus dem gesellschaftlichen Totalitätszusammenhang und dem konkreten sozialen Bedingungsrahmen herausgelöst [werden]“ (Bernhard 2012: 345). Er kritisiert, dass die Orientierung an Heterogenität ohne eine Theorie und Analyse gesellschaftlicher Organisationsformen von Arbeits- und Lebensverhältnissen auskommt, „die doch die Voraussetzungen disparater Lebensverhältnisse und Lebenschancen überhaupt erst schaffen“ (ebd.). Wie Budde gelangt schließlich auch Bernhard zu dem Schluss, dass diese Ignoranz gegenüber der gesellschaftlichen Grundlage heterogener Lernvoraussetzungen sowie

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die Verklärung von Heterogenität zur Tugend suggerieren würde, dass die Bearbeitung des Problems ausschließlich auf pädagogischem Weg möglich sei (vgl. ebd.). Implizit fällt diese Sichtweise auf Heterogenität, die es von Pädagogenseite uneingeschränkt wertzuschätzen und zu bejahen gilt, damit zugleich einem einseitigen Subjektivismus anheim, worauf insbesondere auch Wimmer aufmerksam macht: „Und die praktisch-normativen Appelle, Heterogenität wertzuschätzen, Differenzen anzuerkennen und tolerant zu sein, unterstellen das Verhältnis zum Anderen und die Erfahrung von Heterogenität dem moralischen Bewusstsein des Subjekts, dem a priori die Entscheidungskompetenz und Freiheit zugeschrieben wird, ob es den Anderen anerkennen will und welche Heterogenitätsausprägung es noch tolerieren kann. Jedes Mal geht die Bewegung vom Subjekt aus, das vergleicht, unterscheidet und entscheidet, das also seine intentionale Verfügung nur auf andere Objektsphären verschieben, sich aber nicht infrage stellen lassen muss.“ (Wimmer 2014: 230)

Ähnlich heißt es auch bei Trautmann und Wischer: „Wer an die Einstellung – quasi an das pädagogische Gewissen – appelliert, der geht davon aus bzw. erweckt den Eindruck, dass jemand es anders machen könnte, wenn er es denn nur wollte. Diese moralische In-die-Pflichtnahme führt aber […] zu einer Engführung auf berufsethische Dimensionen, was andere wichtige Dimensionen pädagogischer Professionalität (wie Wissen und Können) ausblendet.“ (Trautmann/Wischer 2011: 136)

Neben der Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Kontextfaktoren und der subjektivistischen Sicht auf den Umgang mit Vielfalt, rückt ein weiterer Kritikpunkt in den Fokus, der sich vor allem auf den interpersonalen und gesellschaftlichen Umgang des Vielfaltsdenkens richtet. Zwar steht Prengels Pädagogik der Vielfalt weniger als die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ in der Gefahr, das andere Anderseins zu banalisieren oder zu nivellieren. Allerdings kann die Rede von der Wertschätzung von Vielfalt, Heterogenität oder Differenz nicht überzeugend klären, wo die Grenzen der Toleranz für Vielfalt liegen. Anders gesagt: Differenz wird in der Pädagogik der Vielfalt nur insoweit gutgeheißen, als sie der wechselseitigen Verpflichtung auf Toleranz dient bzw. keinem anderen schadet (vgl. Prengel 2001: 103): „Aus einer Option für Differenz lässt sich nicht die Tolerierung der Zerstörung von Differenz ableiten“ (ebd.), so Prengel. Die Zerstörung der Differenz wäre aber selbst noch eine Form der Differenz. Aus sich selbst heraus kann die „Option für Differenz“ nicht erklären, wo sie die Grenzen zur Zerstörung von Differenz setzt; hierzu ist ein weiterer normativer Überbau notwendig, der diese Grenzen an normativ erwünschte Verhaltensweisen bindet. Bei Kastl heißt es in diesem Sinne daher auch: „[S]o viel Spielraum für heterogenes Verhalten wie propagiert, besteht gar nicht.“ (Kastl 2013: 149) Insbesondere die Tugend-

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kataloge des Inklusionismus würden „klassische schulische Verhaltens- und Denknormen nochmals auf die Spitze [treiben]“ (ebd.). Schüler würden die Regel der egalitären Differenz systematisch verletzen: „Das beginnt schon bei den unzähligen kleinen alltäglichen Frotzeleien auf dem Schulhof, jedem ‚voll behindert, eh‘, ‚bist du schwul oder was?‘, ‚fick dich‘, ‚Spast‘, ‚Wixer‘, ‚du Opfer‘. Man denke an die typischen Formate des Schülerhumors, all die kleinen und großen Herabsetzungen, an Dissen und Mobben bis hin zu sogenannten ‚dissozialen‘ Verhaltensweisen, die offenbar zur Institution Schule gehören, seit es sie gibt.“ (Ebd.)

All dies seien Provokationen der Normen eines bürgerlich-zivilen Umgangs von Menschen miteinander und „sie bleiben wundersamer Weise zugleich massive Verletzungen der Ethik der Vielfalt“ (ebd.). Nach Kastl müsse die Tugendlehre inklusiver Pädagogik „diese Formen schulischer Heterogenität als Verstöße gegen die Menschenrechte ausweisen […]“ (ebd.). In Verbindung mit dem „Qualitätsprüfungsinstrument des Index für Inklusion“ resultiert hieraus als Konsequenz, dass die inklusive Pädagogik „ihre Etikettierungen und Stigmatisierungen systematisieren und ihre ureigenen Formen (binnendifferenzierter und handlungsorientierter) pädagogischer Beschämung entwickeln [wird]“ (ebd.). Das Problem sei nicht, dass Schule solche Standards durchsetzen müsse, weshalb ihre Toleranz für Heterogenität auch strukturell begrenzt sei. Aber das Problem für die Pädagogik der Vielfalt bestehe darin, „dass sie dieses Dilemma leugnet und damit zugleich ihre oberste Norm von der Anerkennung von Vielfalt verletzt“ (ebd.: 150). Die Wertschätzung von Vielfalt birgt mehr Konfliktstoff (vgl. Dammer 2014: 1), als die Rede über sie offenlegt. Noch einmal: Woran bemisst sich die Grenze, welche Ausprägungen von Vielfalt noch tolerabel sind und welche es nicht mehr sind? Mit der Pädagogik der Vielfalt verbindet sich ja explizit keine „Haltung der Indifferenz [sic!] sondern der Wertschätzung von Differenz!“ (Prengel 2006: 49). Die Grenze der Tolerierbarkeit liegt laut Prengel bei all jenen „Tendenzen, die monistisch, hegemonial, totalitär die Gleichberechtigung der Differenzen zu zerstören trachten“ (ebd.). Diese Grenze ist manchmal eindeutig zu erkennen und zu bestimmen, wie – um ein Beispiel von Dammer zu bemühen – im Falle der Pädophilie, „die eine anscheinend gar nicht so seltene (problematische) Form der sexuellen Identität ist“ (Dammer 2014: 2) – und damit auch eine Ausprägung von Vielfalt –, mit der aber „eine Identität durch eine andere nachhaltig und manchmal irreversibel beschädigt wird“ (ebd.). Schwieriger wird die Bestimmung dieser Grenze schon bei kulturell verankerten Ausdrucksformen von Vielfalt, die in Widerstreit zueinander geraten können und die vorweg keiner solch klaren moralisch-normativen und rechtlichen Regelung unterliegen. Dies zeigt sich beispielsweise am anhaltenden ‚Kopftuch-Streit‘ oder, noch deutlicher, an der Frage, ob muslimische Schüler in der Schweiz einer weiblichen Lehrperson die Hand geben müssen oder nicht, was

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sie unter der Begründung, der Islam verbiete ihnen den körperlichen Kontakt zu Frauen außerhalb der Familie, verweigert hatten. Zwar können für diese Entscheidungen die in einem bestimmten Land jeweils gültigen kulturellen Umgangsformen zugrunde gelegt werden. Doch welchen dieser unterschiedlichen Umgangsformen folgt die Pädagogik der Vielfalt, um diesen Streit beizulegen und eine offenbar benötigte Entscheidung im praktischen Handeln herbeizuführen? Auch wenn in beiden Fällen inzwischen Gerichtsurteile ergangen sind, stellt sich mit der Pädagogik der Vielfalt die Frage, welche kulturellen Normen und Werte bei der Bestimmung der Grenze der Tolerierbarkeit zugrunde gelegt werden. Dass es in diesen Fällen jeweils überhaupt der Gerichtsurteile bedurfte, zeigt zum einen, dass Ausdrucksformen von Vielfalt in Widerstreit zueinander geraten können, die mit dem Appell zur Wertschätzung von Vielfalt (vgl. auch Dammer 2014: 2) offenbar nicht gelöst werden können. Zum anderen verweist diese Tatsache darauf, dass Grenzen der Vielfalt stets auch verhandelbar sind und sich einer eindeutigen Definition entziehen. Die „Kriterien der Urteilsbildung“ sind also gar nicht so „klar“ (vgl. Prengel 2006: 49), wie es die Pädagogik der Vielfalt unterstellt. Am Beispiel der Forensik stellt sich in diesem Kontext mit Kastl außerdem die Frage, „welche Formen von Anderssein […] die Gesellschaft überhaupt wertschätzen und tolerieren will und auch kann“ (Kastl 2014a: 10). Kastl weist darauf hin, dass es hier „auch berechtigte Schutzinteressen der Gesellschaft geben [kann]“ (ebd.) und er äußert die Befürchtung, dass im Vergleich zu Sinnes- oder Körperbehinderungen die Bereitschaft der Gesellschaft, wertschätzend mit Heterogenität umzugehen, im Falle psychischer Erkrankungen und Behinderungen, geringer ausfällt (vgl. ebd.). Dies habe seinen einfachen Grund darin, dass hinter „der Inklusionsvorstellung und der Ideologie der Pädagogik der Vielfalt […] eine recht rigide und klassische bürgerliche Ethik [steht]“ (ebd.). Das wirft unmittelbar die Frage auf, wie die Ethik der Wertschätzung von Vielfalt diejenigen behandelt, „die ihre freundliche[n] bürgerlich-zivilen Umgangsformen (früher hat man auch mal von ‚repressiver Toleranz‘ gesprochen) in Frage stellen? Meist sind die Grenzen der Wertschätzung von Heterogenität schnell erreicht, wenn Menschen laut werden, auf sich aufmerksam machen oder im Gegenteil sich entziehen, riechen, provozierend sind, andere Leute nicht ausreden lassen, Ängste haben, Menschen misstrauen und beschimpfen, eben nicht offen sind oder sogar Aggressionen äußern“ (ebd.)

– Bereiche also, die zwar nicht nur, aber bei psychischen Erkrankungen und Behinderungen sehr häufig vorkommen. Ein weiterer, wesentlicher Kritikpunkt, der auch für die vorliegende Arbeit einen wichtigen Ansatzpunkt darstellt, richtet sich darauf, dass mit der Rede der Wertschätzung von Heterogenität oder Vielfalt verkannt wird, dass „es verschiedene Formen der Verschiedenheit gibt – und dass nicht alle Verschiedenheiten auf

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derselben Ebene liegen und gleich sind“ (Wimmer 2014: 229). Wimmer ist weiter völlig in der Feststellung zuzustimmen, dass zwar zunehmend zwischen Heterogenität, Diversität und Intersektionalität unterschieden werde, aber „statt den verschiedenen Formen von Verschiedenheit Rechnung zu tragen, wird – verkürzt gesagt – im Diversitätsdiskurs der Buntheit als solcher die Qualität einer Ressource zugeschrieben, und auch im Diskurs um Intersektionalität werden die Bedeutungsdifferenzen von Heterogenitätsmerkmalen weniger den qualitativ differenten Gewichten der Unterschiede zugeschrieben, als vielmehr den jeweils variierenden Kontexten und Kombinationen von Heterogenitätsmerkmalen.“ (Ebd.)

Zwar kommt es weder bei Hinz und noch viel weniger bei Prengel zu einer Verleugnung von Verschiedenheit per se. Bei Prengel tritt diese auch als kategoriale Verschiedenheit auf, wohingegen bei Hinz im konkreten Umgang generell nur noch individuelle Verschiedenheit erscheinen darf, was aber der vollkommenen Leugnung einer unterschiedlichen Verschiedenheit, dem anderen Anderssein, gleichkommt. Prengel macht die Bedeutung unterschiedlicher Verschiedenheit zumindest noch deutlich, wenn sie sagt: „Es ist aber nicht möglich, Leid- und Grenzerfahrungen ungeschehen machen zu können. Möglich ist die Akzeptanz der lebensgeschichtlich erfahrenen ethnozentrischen, geschlechts-spezifischen und behindernden Begrenztheiten im riskanten, schwierigen und schmerzlichen Prozeß der Trauerarbeit.“ (Prengel 2006: 190) Der inklusionspädagogischen Prämisse der Normalität der individuellen Verschiedenheit kann die Einsicht, dass Verschiedenheit jeweils andere und unterschiedliche (Un-)Möglichkeiten und Wirklichkeiten bereithält, die für das Leben des Einzelnen bedeutsam sind, a priori erst gar nicht mehr gelingen. Auch wenn die Pädagogik der Vielfalt von Prengel der unterschiedlichen Verschiedenheit womöglich zu wenig Aufmerksamkeit widmet, kommt es mit ihr, anders als häufig zu vernehmen ist, nicht schon zur Nivellierung unterschiedlicher Verschiedenheit; das passiert erst mit der inklusionspädagogischen Umdeutung der egalitären Differenz hin zur „Normalität der Verschiedenheit“. Nichtsdestotrotz ist im „Differenzen grundsätzlich bejahenden und als gleichwertig entwerfenden Gestus des Begriffes Heterogenität und den an ihn geknüpften Aufmerksamkeitsperspektiven […] die Gefahr begründet, […] diese Verhältnisse [Dominanz- und Ungleichheitsverhältnisse; Anm. P.S.] zu verharmlosen, indem die Relevanz eines Merkmals wie ‚Geschlecht‘ mit der eines Merkmals wie ‚Augenfarbe‘ auf eine Stufe gestellt wird.“ (Rose 2014: 139)

Wird Vielfalt mit der Inklusionspädagogik zum Normalfall ausgerufen, dann zeigt sich hier die Verschärfung dieser Gefahrenlage. Dabei werden Ungleichheitsverhältnisse als unterschiedslose Differenzverhältnisse (vgl. ebd.: 142) tatsächlich

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verwischt und die unterschiedliche Unterschiedlichkeit Einzelner wird im Vergleich zu anderen „nicht nur banalisiert, sondern es gibt auch keine sinnvolle Perspektive des Gemeinsamen, wenn das, was verbindet, einzig der Umstand ist, unterschiedlich zu sein“ (ebd.: 144). Rose spricht daher auch von der Ent-Solidarisierung der Personengruppen und der Ent-Politisierung der Diskussion um Differenz (vgl. ebd.: 142). Die einseitige Wertschätzung von Vielfalt – und noch mehr der inklusionspädagogische Slogan der normalen Verschiedenheit – stehen in der Gefahr, Behinderungen zu verharmlosen und den Leidensdruck der Betroffenen, der mit einer Behinderung immer auch einhergehen kann, zu ignorieren. Auch bei dieser Einschätzung greift allerdings der Unterschied zwischen der egalitären Differenz und der „Normalität der Verschiedenheit“: Denn die Prämisse, Vielfalt wertzuschätzen, begibt sich ‚nur‘ in diese Gefahr, wohingegen beim inklusionspädagogischen Ziel der „individuellen Vielfalt als Normalfall“ – der Überwindung des anderen Andersseins – längst ‚Gefahr im Verzug‘ besteht. Mit der Individualisierung der Normalität und dem wertschätzenden Umgang mit Verschiedenheit kommt nicht mehr in den Blick, dass nicht jede Normalität oder jedes ‚normale Anderssein‘ wünschenswert ist. Kastl verdeutlicht das wiederum am Beispiel psychischer Erkrankungen: „Schwere Depressionen, Phobien und Angststörungen, generell mit einem subjektiven Leidensdruck verbundene psychotische Symptome werden ja oft auch von den Betroffenen als etwas Nicht-Wünschbares, eben als Erkrankung wahrgenommen. Selbstverständlich gibt es auch dann – wie wir aus der jahrzehntelangen Diskussion über Stigma und psychische Krankheit wissen, ein Problem der Etikettierung, Stigmatisierung und damit der sozialen Anerkennung. […] Aber die Depression selbst ist ja deswegen nicht ein ‚Anderssein‘, das wir als wünschbare Form von Vielfalt ‚willkommen heißen‘. Für einen Teil der Menschen mit psychische[n] Erkrankungen ist die Vorstellung [sic!] von der Erkrankung loskommen zu können, geheilt zu werden, wieder ‚normal‘ zu werden, wichtig.“ (Kastl 2014a: 7)

Die These von der Normalität der individuell wertzuschätzenden Verschiedenheit muss denjenigen Menschen, die gerne nicht psychisch erkrankt oder behindert wären, wie der blanke Zynismus erscheinen. Ahrbeck weist daher auf eine notwendige Differenzierung hin „zwischen einer Vielfalt, die als bereichernd und beglückend erlebt werden kann, und einer solchen, die auch zum Leben gehört, aber Leiden und Leid hervorbringt“ (Ahrbeck 2014: 36). Ihm ist zuzustimmen, wenn er feststellt: „Es fällt schwer, beide umstandslos unter die Kategorie einer begrüßenswerten Vielfalt zu subsumieren; dazu sind die Verhältnisse zu komplex.“ (Ebd.) Darüber hinaus verkennt die banalisierende Sichtweise der „Normalität der Verschiedenheit“, dass Verschiedenheit einen jeweils spezifischen Umgang mit ihr erforderlich machen kann, der sich auch auf gemeinsame und nicht bloß individuelle

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Perspektiven stützt. Auch hier sei zur Verdeutlichung auf ein weiteres Beispiel Kastls im Kontext psychisch erkrankter Menschen verwiesen: „Das nett gemeinte Teilhabeangebot ihrer Umgebung, die Einladung zum Stadtteilfest mit Einweihung des neuen Kinderspielplatzes, kann hilfreich sein. Aber es löst nicht das Kernproblem, wenn ich Panikattacken auf öffentlichen Plätzen oder eine schwere Depression habe. Sehr oft sind für diesen ‚Normalisierungsprozess‘ zeitlich befristete Segregationen (Klinikaufenthalte, allein sein, andere Formen des Rückzugs) wichtig. Das ergibt schon mal ein gegenüber einem dauerhaft geh-gehinderten Menschen anders gelagertes Verhältnis von Normalität, Anderssein, Teilhabe und Segregation.“ (Kastl 2014a: 7f.)

Normalität ist eben nichts bloß Individuelles, da ansonsten der von Kastl angesprochene, benötigte „Normalisierungsprozess“ gar nicht erst eingeleitet werden könnte. Für solche Maßnahmen sind Perspektiven notwendig, die das Anderssein nicht als normales, sondern als unterschiedliches oder anderes Anderssein identifizieren, wozu zugleich Kriterien notwendig sind, die ein gemeinsames anderes Anderssein und nicht bloß ein individuelles oder normales Anderssein unterstellen. Und dieses unterschiedliche Anderssein ist darüber hinaus zu benennen, um die davon betroffenen Menschen nicht ihrem eigenen Schicksal zu überlassen, sondern ihnen konkrete Handlungsperspektiven zu eröffnen. Die Denkfigur der egalitären Differenz verschweigt diese Notwendigkeit nicht; die der Normalität individueller Verschiedenheit verschweigt sie nicht nur, sondern sie geht aktiv gegen derartige Identifizierungen vor. Rose benennt aber mit der Gefahr der Stigmatisierung durch Anerkennung von Differenz (vgl. Rose 2014: 139) zugleich einen weiteren Kritikpunkt am Differenzdenken der Pädagogik der Vielfalt. Unter Bezugnahme auf Mecheril und Plößer gelangt sie zu der Einschätzung, dass „wertschätzende Bezugnahmen auf individuelle Differenzen und Besonderheiten – auch – im schulischen Kontext nicht nur in der Gefahr [stehen], sich affirmativ zu den in gesellschaftliche Dominanzverhältnisse eingelassenen Kategorisierungen und zu den in ihnen eingeschriebenen Hierarchisierungen zu verhalten, sondern durch deren Bestätigung sogar selbst ‚normierend und stigmatisierend zu wirken‘ […].“ (Ebd.: 140)

Hiermit ist wiederum das ‚Problem‘ der kategorialen Benennung bzw. Etikettierung angesprochen. Der affirmative Bezug auf Differenz stünde in der Gefahr, Schüler „wirksam auf Identitäten festzuschreiben, mit denen sie gegenüber dem Rest der Klasse distanziert und de-privilegiert werden […]“ (ebd.: 141). Ähnlich heißt es bei Smykalla in machtkritischer Hinsicht: „Durch eine Fokussierung in Diversitätsstrategien auf (Ziel-)Gruppen, welche entlang von ‚Merkmalen‘ konstruiert werden, entstehen Individualisierungen, die Unterschiede zwischen Gruppen und Individuen

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betonen und neue Normen und Normalitäten produzieren – und entgegen der inkludierenden Absicht erneut exkludieren.“ (Smykalla 2014: 179) Aus diesem Grund fordert der inklusionspädagogische Ansatz geradezu den Verzicht auf die Verwendung von gruppen- oder personenbezogenen Kategorien, was ihm jedoch bekanntermaßen selbst nicht gelingt. Auch, um diesem Widerspruch zu entgehen, plädiert Budde, ähnlich wie Smykalla, für eine machtanalytische Betrachtung von Differenz, die „auf die Intersektionalität sozialer Ungleichheit“ verweist, „also auf die Verknüpfung von unterschiedlichen Kategorien, die soziale Ungleichheit produzieren […]“ (Budde 2015: 129). In diesem Sinne spricht sich auch Smykalla für eine „infragestellend-kontextuelle Konstruktion von Differenz“ aus (vgl. Smykalla 2014: 180). Bei dieser „wird Diversität mit anderen gesellschaftlichen Lebenslagen kontextualisiert betrachtet und normativitätskritisch gedeutet. Binäre Konstruktionen von Kategorisierungen werden problematisiert und es wird versucht, in der Verwobenheit von sozialen Kategorien die Gleichzeitigkeit der Überlappungen von Machtverhältnissen zum Ausdruck zu bringen, den Herstellungsprozess von Kategorisierungen selbst zu hinterfragen und damit die Verwobenheit von Diskurspositionen, die die einzelnen Subjekte durchkreuzen, in den Blick zu nehmen.“ (Ebd.)

Diese, im Anschluss an die poststrukturalistisch-feministische Subjektkritik (vgl. ebd.: 171) geführte Diskussion, ist im Vergleich zum inklusionspädagogischen Ansatz mit seiner einseitigen und affirmativen Betonung der „Normalität der Verschiedenheit“ und der rigiden Forderung nach Verzicht auf Kategorien ganz sicher ein deutlicher Fortschritt und bedeutet eine wesentlich differenziertere Perspektive. Allerdings bekommt auch diese intersektionale Perspektive Differenz letztlich wieder nur relativ, nicht aber als radikal in den Blick. Die unterschiedliche Unterschiedlichkeit selbst erfährt deshalb auch hier keine Berücksichtigung. Zwar rückt mit der intersektionalen Perspektive der machtanalytische Zugang zu Differenz stärker in den Vordergrund, aber die Bedeutung von Heterogenität – was es also beispielsweise bedeuten kann, behindert zu sein – wird mit der Haltung, dass Differenzkategorien das machtvolle „Produkt sozialer Konstruktion“ sind (vgl. Budde 2015: 128), nicht nur nicht gesehen, sondern die lebensweltliche Bedeutung von Behinderung wird mit der sozialkonstruktivistischen Sichtweise ganz eindeutig geleugnet. Auch eine bloß machtanalytische Betrachtung von Differenz wird dem Problem der Erfahrung von Differenz nicht gerecht. Abgesehen davon bleibt eine Perspektive notwendig, die – trotz aller Stigmatisierungsgefahren – Merkmale auch in ihrer Exklusivität individuums- oder gruppenbezogen feststellt, damit unter anderem bestimmte und begrenzte Ressourcen möglichst gerecht verteilt werden können. Mit Dammer kann daher allen Ansinnen, die die Dekonstruktion von Kategorien fordern, folgender Einwand entgegengehalten werden: „Unterscheidungsvermögen, so der triviale Einwand gegen diese Diffusion von Kategorien, gehört zu

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den basalen Tätigkeiten des Verstandes, wofür differenzierende Begriffe unverzichtbar sind; oder pointierter gesagt: Eine unbenannte ist auch eine unerkannte Differenz.“ (Dammer 2012: 370) 3.2.4 Zusammenfassung Der kursorische Vergleich des Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurses hat große Ähnlichkeiten hinsichtlich der Diskursorganisation und -situation erkennen lassen. Beide Diskurse zeichnen sich mit unterschiedlichen Strategien durch eine Verunklarung ihres jeweiligen Gegenstandes und fehlende Theoriebezüge aus und sind jeweils normativ und präskriptiv ausgerichtet. Allerdings ist das Inklusionskonzept stärker normativistisch angelegt und sieht klarere Handlungsanweisungen im Umgang mit Heterogenität vor. Zudem haben sich die Diskurse insofern vor dem Hintergrund einer unterschiedlichen Ausgangslage entwickelt, als sich die Rede über Inklusion immer auch auf die originäre pädagogische Inklusionsidee und deren praktische Implikationen bezieht oder davon abgrenzt, wohingegen ein solch eindeutiges Konzept mit dem Begriff der Heterogenität und im Diskurs über sie nicht zu erkennen ist. Die inhaltlich bedeutsamste Übereinstimmung besteht darin, dass sowohl der Heterogenitätsdiskurs selbst als auch die pädagogischen Diskurse um Integration und Inklusion zutiefst von einem Verständnis von Heterogenität im Sinne relativer Verschiedenheit oder relativer Differenz geprägt sind. Die Konzepte der Integration und Inklusion unterscheiden sich im Umgang mit Heterogenität darin, dass mit der Denkfigur der egalitären Differenz eher die Unvergleichbarkeit einzelner Ausprägungen von Heterogenität in den Fokus gerückt wird, wohingegen mit dem inklusionspädagogischen Slogan der Normalität der individuellen Verschiedenheit deren Überwindung angestrebt wird. Beide gehen dabei aber von einem Heterogenitätsverständnis aus, das stets schon einen Vergleich bestimmter empirischer Merkmale vorausgesetzt hat, auch wenn der Umgang mit ihnen unterschiedlich ausfällt. Gemeinsam ist diesen beiden Diskursen mit dem Heterogenitätsdiskurs damit weiterhin ein vorgesehener normativer und präskriptiver Umgang mit Heterogenität, wobei das Inklusionskonzept hierbei die deutlichsten Handlungsanweisungen vorgibt. Alle drei Diskurse begreifen Heterogenität oder Vielfalt hierbei hauptsächlich als Chance und Ressource, weshalb Vielfalt aus dieser Perspektive grundsätzlich wertzuschätzen ist. Dieses üblicherweise anzutreffende Verständnis von Heterogenität, das von relativen Differenzen als zumeist individuell wertzuschätzenden Ressourcen ausgeht, bleibt aber im Diskurs um Heterogenität nicht unwidersprochen. Die Kritik richtet sich im Wesentlichen darauf, dass die affirmative Rede von der wertzuschätzenden und ressourcenbefördernden Vielfalt von einer Ignoranz gegenüber gesellschaftli-

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chen Bedingungen und Kontextfaktoren geprägt ist, einen einseitigen Subjektivismus unterstellt, der die pädagogisch Handelnden in die moralische Verpflichtung und persönliche Haftbarmachung ob der Anerkennung von Vielfalt nimmt sowie weder die Toleranz-Grenzen von Vielfalt ausreichend berücksichtigt noch die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten, die immer auch von Unmöglichkeiten und Leidenserfahrungen geprägt sind. Eine andere Kritiklinie verweist in Anschluss an poststrukturalistische Theoriebildungen auf die unreflektierte Redeweise von Vielfalt, die durch Ausblendung einer machtanalytischen Betrachtung von Differenz gegenüber bestehenden Ungleichheitsverhältnissen affirmativ bleibt und somit weitere Stigmatisierungen und Exklusionen befördert. Plädiert wird aus dieser Perspektive vor allem für eine transformatorische oder intersektionale Betrachtung von Differenz, die von der Verknüpfung von unterschiedlichen Kategorien ausgeht und auf den Herstellungsprozess und die Machtebene von Differenz aufmerksam macht (vgl. Budde 2015: 129). Gegenüber einem bloß relativen Verständnis von Heterogenität, die es zugleich wertzuschätzen gilt, stellt diese Sichtweise zwar einen entscheidenden Fortschritt dar, da mit ihr bestehende Ungleichheitsverhältnisse selbst einer wesentlich differenzierten Analyse zugänglich gemacht werden. Aber auch diese differenziertere und bedeutsame Perspektive kann trotz ihrer relationalen Betrachtung von Differenz das unterschiedliche Anderssein selbst und die Radikalität von Differenz nicht berücksichtigen, da sie (zu) eng mit einer sozialkonstruktivistischen Haltung verknüpft ist und Differenz mit ihr daher hauptsächlich als Produkt sozialer Konstruktion in Augenschein genommen wird. Die Relationalität der Differenzen bleibt hier immer noch auf relative Differenzen im Sinne von (konstruierten) Merkmalen bezogen, nur, dass diese miteinander in Beziehung gesetzt werden. Sowohl ein relatives Verständnis von Heterogenität, das den Anderen nur normativ unter der Perspektive der gleichen Freiheit oder in seiner individuellen Verschiedenheit wahrnimmt, die es als Ressource wertzuschätzen gilt, als auch ein relationales Verständnis von Heterogenität, das von der machtvollen und sozialen Konstruiertheit von Differenz ausgeht, ignorieren den Anderen als solchen sowie konkrete intersubjektive Begegnungen, die stets mit der Erfahrung einer irreduziblen Fremdheit einhergehen. Sie ignorieren die Bedeutung der Erfahrung von Heterogenität oder Differenz für den Einzelnen und im Umgang mit Anderen. In diesem Sinne heißt es auch bei Wimmer hinsichtlich dieses einseitigen Heterogenitätsverständnisses: „Wenn von geschlechtlicher, kultureller, ethnischer oder sprachlicher Heterogenität die Rede ist, handelt es sich nicht einfach um von den Individuen ablösbare Merkmale oder Eigenschaften, die ihnen äußerlich wären. Geschlecht, Sprache, Geschwisterzahl und Haarfarbe z.B. liegen nicht auf derselben Ebene, haben sehr verschiedene Relevanzen und keinesfalls für jeden dieselbe Bedeutung. Die Vorstellung von einem mehrdimensionalen Raster aus ver-

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schiedenen Merkmalen, in deren Schnittpunkt jeweils ein Individuum situiert ist, das von einer kontingenten Kombination von Merkmalen jeweils unterschiedlich konfiguriert wäre, verfehlt die konstitutive Bedeutung dieser Differenzen für die Individuen grundsätzlich und in mehrfacher Hinsicht.“ (Wimmer 2014: 231)

3.3 ZUR DISKUSSION DER RADIKALEN FREMDHEIT IM HEIL- UND SONDERPÄDAGOGISCHEN (INKLUSIONS-)DISKURS Vor dem Hintergrund der thematisierten Kritikpunkte erheben sich daher vor allem mit Koller und Wimmer Stimmen, die auf ein Verständnis von Heterogenität als radikale Heterogenität oder radikale Fremdheit aufmerksam machen. So fragt Koller danach, ob das Verständnis, „wonach Heterogenität die Verschiedenheit der Elemente einer Gruppe hinsichtlich eines gemeinsamen Merkmals darstellt, tatsächlich die einzige Denkmöglichkeit [ist] – oder […] Heterogenität nicht als radikale Inkommensurabilität gedacht werden [müsste], für die ein gemeinsamer Vergleichsmaßstab gerade fehlt?“ (Koller 2014: 16). Und Wimmer stellt fest, dass „in der einschlägigen Literatur [nahezu durchgängig] nur diejenige Form von Heterogenität thematisiert [wird], die man als relative Verschiedenheit im Sinne individueller Besonderheit vor dem Hintergrund eines von allen geteilten Allgemeinen kennt oder als Modifikation desselben“ (Wimmer 2014: 228). Damit aber wird diejenige Verschiedenheit ausgespart, „die nicht im Medium eines Allgemeinen identifiziert und miteinander verglichen werden kann, d.h. diejenige Fremdheit, die […] nicht homogenisierbar ist“ (ebd.). Diese Feststellung trifft ausdrücklich auch auf den Diskurs um Integration und Inklusion zu, und ebenso auf weite Teile des heil- und sonderpädagogischen Diskurses in Gänze. Auch hier wird Verschiedenheit/Heterogenität/Differenz nur in ihrem relativen Bedeutungsgehalt verwendet. Ein Verständnis von Heterogenität als radikale Fremdheit ermöglicht es hingegen, die blinden Flecken des Heterogenitätsverständnisses als relative oder relational-relative Verschiedenheit zu thematisieren und hierbei implizit oder explizit die einzelnen, thematisierten Kritikpunkte aufzugreifen. Zwar erfolgt auch mit dem radikalen Fremdheitsverständnis keine Analyse der gesellschaftlich bedingten Faktoren, die zur Ausgrenzung führen können. Dagegen ermöglicht dieses Verständnis eine Betrachtung der Erfahrung von Differenz, des intersubjektiven Geschehens, das für die Prozesse der Ausgrenzung und Wertschätzung ebenso maßgeblich ist, das aber mit dem gezeigten, einseitigen Heterogenitätsverständnis, und damit auch im Diskurs um Inklusion, nicht oder nicht angemessen berücksichtigt wird. Durch die normative und präskriptive Ausrichtung des inklusionspädagogischen Ansatzes wird das Geschehen selbst nicht mehr wahr-

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genommen, sondern es wird gerade dadurch ausgeblendet, indem es als normatives und präskriptives Geschehen verschleiert wird. Insbesondere trägt dieses Denken der immer auch erfahrungsbedingten Tatsache Rechnung, dass es – anders als im nivellierenden und banalisierenden inklusionspädagogischen Slogan – nicht normal ist, nur individuell verschieden zu sein. Das andere oder unterschiedliche andere Anderssein lässt gerade im Kontext der Wahrnehmung von Behinderung andere und spezifische Erfahrungsansprüche laut werden, die sich der gleichsetzenden und nivellierenden These von der „Normalität der Verschiedenheit“ zugleich entziehen und widersetzen. Diese Einsicht zielt nicht schon auf einen ‚Umgang mit‘ Heterogenität oder Verschiedenheit. Noch viel weniger sieht das Denken der radikalen Fremdheit einen bestimmten, eindeutig definierten und vorentschiedenen, allgemeinen Umgang mit Heterogenität vor, so wie dies im inklusionspädagogischen Ansatz der Fall ist, der Begegnungen mit anderen Menschen nur noch unter dem allgemeinen Maßstab der individuellen Verschiedenheit erfahrbar machen will. Noch bevor dieses Denken auf die Notwendigkeit verweist, zu diesen Erfahrungen, die für uns unzugänglich bleiben, in ein reflexives Verhältnis zu treten, nimmt es Abstand von einem subjektivistisch unterstellten Umgang mit Vielfalt. Es weist darauf hin, dass wir Erfahrungen nicht nur registrieren und selbstherrlich – im Sinne wertzuschätzender Vielfalt – über sie verfügen, sondern Erfahrungen als leibliche Wesen machen, was stets bedeutet, dass wir uns durch den Anderen zuallererst in Frage gestellt sehen, bevor wir überhaupt im Stande sind, uns ihm anerkennend oder wertschätzend zuzuwenden. Die Inklusionspädagogik gibt zwar vor, dass es ihr mit der Wertschätzung und Anerkennung um den Anderen in seiner individuellen Verschiedenheit – und damit auch um intersubjektive Vollzüge – geht. Durch ihre normative und präskriptive Haltung vergisst sie hierbei jedoch sowohl den Anderen als auch die intersubjektive Dimension der Erfahrung von Heterogenität als solche. Was Wimmer als Muster moderner Pädagogik für den aktuellen Heterogenitätsdiskurs beobachtet, „dass die Entdeckung des Anderen mit seiner Verstellung Hand in Hand geht“ (ebd.: 221), trifft daher so – und in radikalisierter Form – auch auf den pädagogischen Inklusionsdiskurs zu. Insbesondere der inklusionspädagogische Grundgedanke der Normalität der individuellen Verschiedenheit bestätigt den Verdacht und die Befürchtung Wimmers, „dass die Frage des Anderen durch den aktuellen Diskurs über die Verschiedenheit der Menschen scheinbar beantwortet wird und somit in Vergessenheit gerät“ (ebd.). Der Gedanke der radikalen Fremdheit bzw. radikalen Differenz ist im heil- und sonderpädagogischen Diskurs jedoch nicht völlig verloren gegangen: „Der bei der radikalen Differenz ansetzende Diskursstrang ist vor allem in der Geistigbehindertenpädagogik entwickelt worden (vgl. Stinkes 1993, Kleinbach 1993, Fornefeld 1995)“ (Dederich 2014: 128), so Dederich. Er selbst (vgl. u.a. Dederich 2014) sowie Stinkes (vgl. Stinkes 2012a; 2012b; 2014) haben den Gedanken der radikalen

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Fremdheit inzwischen auch in den inklusionspädagogischen Diskurs eingebracht. Auch der Verfasser dieser Arbeit hat den Grundgedanken der radikalen Fremdheit im Kontext der pädagogischen Inklusion an unterschiedlichen Stellen bereits aufgegriffen (vgl. Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose 2012a: 12ff.; Singer 2015a; Lelgemann/Singer/Walter-Klose 2015b; Singer/Kienle 2016).7 In der Breite spielt dieses Denken allerdings – trotz seiner vielfältigen Anschlussmöglichkeiten vor allem für die Heil- und Sonderpädagogik – bisher sowohl im heil- und sonderpädagogischen Diskurs in Gänze als auch im Diskurs um Inklusion nur eine sehr marginale und untergeordnete Rolle. 8 Hierfür gibt es sicherlich ganz unterschiedliche Gründe, wovon einer mit der relativ großen Komplexität dieses Denkens selbst zu tun haben dürfte. Der Gedanke der radikalen Fremdheit ist nicht ganz einfach zu fassen, was jedoch mit der Sache (der Fremderfahrung) selbst zu tun hat, über die wir letztlich nur indirekt reden können, da sie sich uns stets entzieht. Eine bloße und direkte, subjektivistische Anerkennung des individuell Anderen verkürzt und banalisiert dieses Geschehen auf unzulässige Weise und in mehrfacher Hinsicht. Ein anderer Grund könnte darin liegen, dass der Gedanke der radikalen Fremdheit keine eindeutigen und vorentschiedenen Antworten verspricht, sondern gewohnte Antwortmuster eher in Frage stellt. Weder hält dieses Denken ein Konzept für Förderung, Diagnostik, Didaktik etc. bereit noch formuliert es irgendwelche 7

Der Gedanke der radikalen Fremdheit wurde im Kontext von Inklusion vom Verfasser erstmals 2009 in einer unveröffentlichten Diplomarbeit mit dem Titel Anspruch des Fremden. Ein kritischer Beitrag zum Umgang mit den Phänomen Fremdheit und Behinderung im Leitmotiv der Inklusion aus der Perspektive der responsiven Phänomenologie bei Bernhard Waldenfels aufgegriffen.

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Abgesehen von den genannten Autoren und Autorinnen finden sich innerhalb und außerhalb der heil- und sonderpädagogischen Disziplin keine weiteren Thematisierungen der radikalen Fremdheit im Kontext der pädagogischen Inklusionsidee. Dass das Thema Fremdheit und Behinderung im heil- und sonderpädagogischen Diskurs allgemein unterbelichtet ist, zeigt sich auch daran, dass diese Thematik in keinem der einschlägigen Handbücher und Einführungswerken zur Heil- und Sonderpädagogik mit einem eigenen Beitrag verortet ist. Lediglich in einem Einführungstext zur Körperbehindertenpädagogik wird von Lelgemann und Moosecker auf „anthropologisch interessante […] Positionen, die sich mit der Fremdheit der Menschen füreinander, der Bedeutung des Anderen für das eigene Menschsein oder einer – nicht institutionell bedingten – Abhängigkeit voneinander beschäftigen […]“ (Lelgemann/Moosecker 2005: 260), hingewiesen. Namentlich findet hier neben Levinas auch Waldenfels Erwähnung (vgl. ebd.). Aus unterschiedlichen Perspektiven widmen sich der Fremdheits-Thematik im Kontext von Behinderung umfangreicher ansonsten lediglich Ntourou (2007), Laubenstein (2008) und teilweise auch Salzberger (2008).

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‚Lösungsstrategien‘ für den Umgang mit Behinderung. Es bietet nicht nur keine solchen intentionalen Strategien an, denen die Heil- und Sonderpädagogik grundsätzlich gerne folgt, sondern hinterfragt diese in ihren Wirkungen und Absichten eher kritisch, ohne sie per se und gänzlich in Frage zu stellen. Aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden können diese intentionalen Absichten als Versuche gelesen werden, die beunruhigende Wirkung der Erfahrung des (nichtpersonalisierten) Fremden in den Griff zu bekommen und – überspitzt formuliert – sich ihrer durch ‚Kolonialisierung‘ habhaft zu machen. Die Anfälligkeit der Heilund Sonderpädagogik für einseitige, intentionale Strategien des Erklärens, Förderns oder Diagnostizierens, die immer auch eine Bändigung der Fremdheit oder von Fremderfahrungen zum Ziel haben, könnte zugleich auch die Aufnahme des pädagogischen Inklusionsbegriffes in die heil- und sonderpädagogische Disziplin erklären. Denn mit Inklusion verbindet sich im pädagogischen Kontext ein Konzept, das ganz eindeutige Lösungen für den praktischen, das heißt institutionellen, professionellen und intersubjektiven Umgang mit diesen Fremderfahrungen vorsieht – nämlich ihre restlose Überwindung. Auch wenn sich innerhalb der Disziplin inzwischen durchaus eine kritische Gegenposition zu den praktischen Forderungen dieses Ansatzes entwickelt hat – die aber häufig eher eine Umdeutung und Entleerung des pädagogischen Inklusionsbegriffes verfolgt – und das inklusionspädagogische Konzept die intentionalen, sonderpädagogischen Strategien ja geradezu ablehnt: Gemeinsam ist ihnen beiden der Versuch, Fremdheit und die mit ihr verbundenen Erfahrungen zu bewältigen oder gar zu bändigen. An eben dieser Gemeinsamkeit und den inklusionspädagogischen Verheißungen zum Umgang mit Fremdheit könnte die anfängliche und unkritische Zuwendung der Heil- und Sonderpädagogik zum pädagogischen Inklusionskonzept gelegen haben, die aber in Teilen auch weiterhin unkritisch fungiert. Das Denken der radikalen Fremdheit scheint also weder für die Heil- und Sonderpädagogik noch viel weniger für die Inklusionspädagogik sonderlich attraktiv zu sein, da es sich geradezu zur Wehr setzt gegenüber einer unmöglichen Vereinnahmung des phänomenal Fremden. Pragmatisch betrachtet dürfte ein letzter hier anzusprechender Grund für die diskursive Ausblendung der Fremdheitsproblematik auch damit zu tun haben, dass es dem politisch korrekten und ‚inklusiven‘ Zeitgeist gegenüber unzeitgemäß ist, Probleme und Schwierigkeiten zu benennen, weshalb erst recht im Kontext von Behinderung eine Sprache vermieden werden soll, die auch nur ansatzweise auf Schwierigkeiten im Umgang mit Behinderung und ‚Behinderten‘ schließen lassen könnte. Und hierzu will die üblicherweise negativ konnotierte Rede von der Fremdheit eben so gar nicht passen. Im Zusammenhang mit Inklusion greifen den Gedanken der radikalen Fremdheit neben eigenen skizzenhaften Ausführungen ansonsten bisher nur Stinkes und Dederich explizit auf. Die Ausführungen von Stinkes und Dederich unterscheiden sich zwar darin, dass Stinkes von einer Ergänzung der egalitären Differenz durch

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die radikale Fremdheit ausgeht (vgl. Stinkes 2012a: 239ff.; Stinkes 2014: 104), wohingegen Dederich mit der radikalen Fremdheit von einem anderen Zugang zu den ethischen und politischen Problemen der Inklusion spricht (vgl. Dederich 2014: 134). Im Kern thematisieren aber beide die radikale Fremdheit unter Bezugnahme auf Levinas und Waldenfels in ihren ethischen Konsequenzen. Aus dieser Perspektive sind die wichtigen sozialethischen Probleme der Anerkennung und Gerechtigkeit von der Verantwortung her zu begreifen (vgl. Dederich 2013c: 55; Dederich 2014: 135), bzw. erfolgt mit der radikalen Fremdheit eine Reformulierung der Ethik der Verantwortung (Stinkes 2012a: 246ff.; Stinkes 2014), in der radikale Fremdheit die ethische Ungleichheit markiert, durch die Verantwortung vor dem Anderen entsteht (vgl. Stinkes 2014: 104). In der vorliegenden Arbeit wird mit dem Gedanken der radikalen Fremdheit demgegenüber die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung selbst – und damit die Grundidee der pädagogischen Inklusionsidee – hinterfragt. Zudem findet er Anwendung in Hinsicht auf die Fremderfahrung im Kontext von Behinderung, womit die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ gleichsam in Frage gestellt wird. Wie bei Stinkes und Dederich wird auch hier davon ausgegangen, dass die Denkfigur der egalitären Differenz die radikale Fremdheit nicht in den Blick bekommt. In theoretischer Hinsicht ist es aber entscheidend, ob ihr dies überhaupt noch gelingen kann oder ob sich diese Zugänge gegenseitig ausschließen. Stinkes geht von einer Ergänzung der egalitären Differenz um die radikale Fremdheit aus. Leider macht sie bisher nicht deutlich, wie diese Ergänzung theoretisch möglich und begründbar wird. Wenn die Ausführungen zum pädagogischen Inklusionsbegriff im vorangegangenen Teil zutreffen, macht es in dieser Frage auf jeden Fall einen Unterschied, ob die Denkfigur der egalitären Differenz im Sinne von Prengel oder in der Auslegung von Hinz als „Normalität der Verschiedenheit“ betrachtet wird. In letzterem Fall ist eine solche Erweiterung definitiv ausgeschlossen, da die zielgerichtete Überwindung des anderen Andersseins die Überwindung von Fremdheit bedeuten würde – auch wenn dies praktisch unmöglich ist. Stinkes greift das im vorangehenden Teil erörterte Problem der Überwindung der Normalität selbst auf: „Wenn es normal ist, fremd, anders oder verschieden zu sein, gibt es keine Fremdheit/Andersheit/Verschiedenheit.“ (Ebd.: 89) Das ist die egalitäre Differenz im Sinne von Hinz, nicht aber von Prengel, die die Verknüpfung der egalitären Differenz bzw. ihre Reduktion auf das „populäre Motto“, „es ist normal, verschieden zu sein“ (vgl. Prengel 2005: 26) selbst kritisch sieht, da hiermit „ein Ausblenden von verbindlichen Normen, Formen, Hierarchien und Begrenztheit sowie von kulturellen Traditionen einher[geht]“ (ebd.). Stinkes macht aber letztlich keinen Unterschied zwischen diesem Motto und der egalitären Differenz, wenn sie sagt: „Der Satz, es ist ‚normal verschieden zu sein‘ verweist auf das der Integration und Inklusion mit zugrunde liegende bildungsphi-

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losophische Konzept der egalitären Differenz.“ (Stinkes 2012a: 248) An anderer Stelle heißt es, dass „die Pädagogik der Vielfalt mit ihrem zentralen Verständnis der egalitären Differenz das zentrale bildungsphilosophische Grundkonzept der Integration und auch der Inklusion dar[stellt]“ (ebd.: 237). Das stimmt zwar auch, aber es ist eben nur die halbe Wahrheit, da dieses bildungsphilosophische Grundkonzept in der Inklusionspädagogik auf das Motto der „Normalität der Verschiedenheit“ reduziert und in diesem Sinne umgedeutet wird. Ohne nach einem theoretischen Unterschied zu fragen, setzt Stinkes Integration und Inklusion in theoretischer Hinsicht miteinander gleich und gelangt sogar zu der Aussage, dass das „Konzept einer vom Fremden ausgehenden (Integrations- und Inklusions-)Pädagogik […] eine grundlegende Orientierung an einem ethischen Motiv [verspricht]“ (Stinkes 2014: 101). Ihrer Schlussfolgerung, dass „die Idee einer im Fremden wurzelnden Pädagogik […] nicht bedeuten kann und darf, dieses Fremde zu tilgen, es zu identifizieren, seiner habhaft zu werden“ (ebd.), ist zwar völlig zuzustimmen. Die Frage, was an einer solchen Pädagogik dann noch ‚inklusiv‘ wäre, bleibt bei Stinkes jedoch offen. Problematischer erscheint jedoch, dass die unumwundene Gleichsetzung der egalitären Differenz und der „Normalität der Verschiedenheit“ nicht nur der Theorie der Integration nicht gerecht wird, sondern die Beantwortung der Frage nach einer Ergänzung der egalitären Differenz um den Gedanken der radikalen Fremdheit die unterschiedlichen Verwendungsweisen dieser Denkfigur berücksichtigen müsste. Auch an dieser Stelle muss zunächst offen bleiben, ob die Denkfigur der egalitären Differenz im Sinne von Prengel um die radikale Fremdheit ergänzt werden kann oder nicht. Klar aber ist, dass das Denken der „Normalität der Verschiedenheit“ im Sinne von Hinz eine solche Erweiterung nicht zulässt. Als Konsequenz bedeutet dies, dass „eine im Fremden wurzelnde Pädagogik“ nichts mit der pädagogischen Inklusionsidee zu tun hat und ihr sogar vehement widerspricht. Anders als Stinkes spricht Dederich hingegen nicht von einer „Erweiterung“, sondern davon, dass das Problem der radikalen Fremdheit einen gegenüber der egalitären Differenz veränderten Zugang (vgl. Dederich 2013c: 55) bzw. eine Korrektur des Zugangs (vgl. Dederich 2014: 134) zu den ethischen und politischen Problemen der Inklusion anzeigt. Auch merkt er an, dass die radikale Andersheit bzw. radikale Fremdheit zu der Frage nötigt, „ob Inklusion die einzig legitime Antwort […] auf die Forderungen einer nicht ausschließenden Ethik ist“ (ebd.: 136). Dederich setzt sich zudem explizit mit dem Verständnis von Heterogenität bei Hinz und Prengel auseinander, um zu zeigen, dass beide einem relativen Heterogenitätsverständnis folgen (vgl. ebd.: 125ff.). In dieser These ist ihm ebenso zuzustimmen wie in seiner Schlussfolgerung, dass „die Entwürfe von Hinz und Prengel den Schematismus von Allgemeinem und Besonderem nicht überwinden“ (ebd.: 128). Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass auch Dederich keine Unterschiede im Heterogenitätsverständnis der Integration (Prengel) und Inklusion (Hinz) annimmt. Für beide setzt er die egalitäre Differenz als „normatives Kernelement“ voraus (vgl.

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ebd.: 122), was von Hinz und Prengel auch so gemacht wird: „Ganz im Sinne des politischen Denkens seit dem Zeitalter der Aufklärung steht auch die Pädagogik der Vielfalt im Zeichen der Gleichheit. Und die Inklusion, darüber sind sich die Verfechter der egalitären Differenz einig, ist die einzig ethisch legitime Form, dieses Prinzip umzusetzen bzw. zu verwirklichen.“ (Ebd.) Versteht man Reiser so, dass auch er die These der egalitären Differenz prinzipiell vertritt, aber eben nur im Zusammenhang der Einbindung des Pädagogischen in die gesamtgesellschaftlichen Funktionen von Schule, dann trifft diese Aussage nicht ohne Weiteres zu. Wie gezeigt tritt er die Perspektive des integrationstheoretischen Verständnisses der egalitären Differenz explizit nicht an die pädagogische Inklusionsidee ab. Genau genommen passiert dies auch bei Prengel nicht. Sie bezeichnet die Pädagogik der Vielfalt, die unter dem Zeichen der Integration entwickelt worden ist, zwar inzwischen als inklusive Pädagogik, sie macht aber nicht deutlich, wodurch dies theoretisch gerechtfertigt ist. Vielmehr verwendet sie die Denkfigur der egalitären Differenz weiterhin im vormaligen integrationstheoretischen Sinne, weshalb unklar ist, wodurch sich ihre jetzige Perspektive von früher unterscheiden soll.9 Zu einer theoretischen Verschiebung kommt es nur bei Hinz, der Inklusion konsequent denkt und mit dem Denken der „Normalität der Verschiedenheit“ zu einem anderen Verständnis von Heterogenität gelangt als die Denkfigur der egalitären Differenz. Es stimmt also zwar, dass Hinz und Prengel die egalitäre Differenz als ‚normatives Kernelement‘ voraussetzen, aber mit dem inklusionspädagogischen Ansatz (Hinz) soll dieses Prinzip anders umgesetzt oder verwirklicht werden als von Prengel ursprünglich vorgesehen. In theoretischer Hinsicht ist das deshalb von großer Bedeutung, da Fremderfahrungen, um die es im Folgenden unter anderem gehen wird, im inklusionspädagogischen Denken der „Normalität der Verschiedenheit“ explizit überwunden werden sollen und nicht mehr denkbar sind, wohingegen das Theorem der egalitären Differenz diese zumindest nicht generell und von vornherein ausschließt – auch wenn ihnen kaum Beachtung geschenkt wird. Dederich selbst weist darauf hin, dass die Idee der egalitären Differenz „mit ihrer Betonung der Gleichheit reale Fremdheitserfahrungen allzu leicht übergeht bzw. annimmt, diese seien durch geeignete inklusionspädagogische Maßnahmen problemlos zu überwinden“ (ebd.: 134). Genau hierin, in dem „bzw.“, liegt der Unterschied zwischen der Idee der egalitären Differenz und der Idee der Normalität der individuellen Verschiedenheit. Der springende Punkt in theoretischer und letztlich auch praktischer Hinsicht ist, ob Fremdheitserfahrungen ‚nur‘ allzu leicht übergangen werden, sie also in der Theorie zu wenig Berücksichtigung erfahren, oder ob die Theorie ihre praktische Überwindung anstrebt. Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz ist die Überwindung von Fremdheitserfahrungen als eine Maxime des praktischen

9

Vgl. hierzu auch die Ausführungen in 2.4.2.

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Handelns und Wahrnehmens vorgesehen, deren Realisierung potentiell in Aussicht gestellt wird. Wenn es bei Stinkes zu einer Gleichsetzung von Integration und Inklusion kommt, so deutet Dederich diesen wichtigen Unterschied mit dem „Übergehen bzw. Überwinden von Fremdheitserfahrungen“ zumindest an. Um diesen Gedanken noch klarer zu fassen, müsste seine Aussage, „dass es in Hinblick auf die Inklusion einen Unterschied macht, von egalitärer Differenz oder radikaler Andersheit zu reden“ (ebd.: 122), dahingehend erweitert werden, dass es in Hinblick auf die Fremdheit auch einen Unterschied macht, von der egalitären Differenz oder der „Normalität der Verschiedenheit“ zu reden. Jedoch stellt sich auch bei Dederich die Frage, wie er Inklusion in dieser Aussage verortet, das heißt, ob sie bei ihm fremdheitsbezogen gefasst oder umgedeutet werden soll oder ob die pädagogische Inklusionsidee hierdurch in Frage gestellt wird. Diese Eingangsüberlegungen sind für einen Zugang zum Problem der Ausgrenzung und Wertschätzung, der sich wie bei Stinkes und Dederich über die Fremdheit definiert, deswegen von großer Bedeutung, weil aus dieser Perspektive entscheidend ist, wie die Ansätze die Fremdheit jeweils gewichten. Auch wenn Fremdheit sowohl in der Integrations- als auch in der Inklusionspädagogik beide Male nur in ihrer relativen Bedeutung Verwendung findet und jeweils als defizitär hervortritt: Es macht bei der Beurteilung dieser Ansätze hinsichtlich ihrer praktischen Bedeutung einen erheblichen Unterschied, ob mit der integrationstheoretischen Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit eine Utopie Konkretion gewinnt, die „die Fremdheiten von Kindern untereinander vermindert“ (Prengel 1990: 282) oder mit dem inklusionspädagogischen Theorem der Normalität der individuellen Verschiedenheit die Überwindung des Andersseins durch Behinderung und damit die Überwindung von Fremdheit angestrebt wird. Im ersten Fall erscheint die Fremdheit zumindest noch als denkbar, im zweiten Fall schließen sich beide Ansätze, sowohl der der Fremdheit als auch der der Inklusion, aus. Die Ausführungen im zweiten Teil können in dieser Frage zu mehr Klarheit verhelfen; eine Gleichsetzung von Integration und Inklusion erscheint bei der Beurteilung der Frage nach dem Umgang mit Fremdheit nicht möglich. Anders formuliert: Die Frage nach dem Umgang mit Fremdheit und deren Beantwortung markiert genau den theoretischen Unterschied zwischen Integration und Inklusion.

3.4 FREMDHEIT IM INKLUSIONSPÄDAGOGISCHEN ANSATZ „Wir sprechen oftmals von ‚Andersheit‘, wenn wir ‚Fremdheit‘ meinen, und in anderen westlichen Sprachen, die über kein so reiches Wortfeld wie das deutsche Wort ‚fremd‘ verfügen,

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wird die Frage nach der Fremdheit zumeist als question oft the Other oder als question de l’Autre verhandelt. Doch oftmals denken wir kaum an etwas anderes als an Verschiedenheit, wenn wir von Andersheit sprechen, und nicht selten flüchten wir in ein begriffliches Dämmerlicht, das eine radikale Frage nach dem Fremden erst gar nicht aufkommen läßt.“ (Waldenfels 2006: 112)

Diese Feststellung von Waldenfels trifft in mehrfacher Hinsicht auch auf den pädagogischen Inklusionsdiskurs zu, der zugleich darüber hinausweist. Inklusion stellt im pädagogischen Kontext ein spezifisches Konzept für den Umgang mit Fremdheit dar. Die Frage nach der Fremdheit wird hierin als das andere Anderssein und dessen Überwindung verhandelt. Das Fremde ist somit zwar ein zentrales Anlassmotiv für die inklusionspädagogischen Überlegungen, es wird jedoch einseitig als Frage der Verschiedenheit und Andersheit des Anderen verhandelt, wodurch die radikale Frage nach dem Fremden auch mit der pädagogischen Inklusionsidee von vornherein zugedeckt wird. Allerdings tut sich im inklusionspädagogischen Ansatz eine komplexe Differenz zwischen Andersheit und Verschiedenheit auf. Verschiedenheit wird hier insofern positiv gesehen, als sie als individuelle und normale Verschiedenheit in den wertzuschätzenden Fokus gerückt wird. Diese Maxime des Handelns und Denkens ist ausdrücklich darauf angelegt, die unterschiedliche Andersheit bzw. das als negativ eingestufte andere Anderssein zu überwinden. Verschiedenheit als normales, individuelles Verschiedensein ist gut, Andersheit als anderes Anderssein ist schlecht. Genauer formuliert: Anderssein ist nur dann gut, wenn es als individuelles und normales Verschiedensein und nicht als unterschiedliches oder anderes Anderssein hervortritt. Andersheit wird im inklusionspädagogischen Ansatz also nur im Lichte der Verschiedenheit zugelassen. Zugleich trifft die Aussage Waldenfels’, dass wir oftmals von Andersheit sprechen, wenn wir Fremdheit meinen, auch auf das inklusionspädagogische Denken zu. Kern dieses Denkens ist sogar explizit die Überwindung von Andersartigkeit, und gemeint ist damit die Fremdartigkeit bzw. die Fremdheit des Anderen. Angedeutet ist dies beispielsweise auch bei Johnstone, der betont, Inklusion diene als Zeichen der Zugehörigkeit sowie als „Quelle der Identität und macht die Welt zu einem weniger angsteinflößenden und fremdartigen Ort“ (Johnstone 2006: 120). Das ist aber noch zu wenig, wenn die Prämisse der Normalität der individuellen Verschiedenheit ernst genommen wird. Der Andere wird hiermit ausdrücklich nur noch als normal verschieden von allen anderen Anderen betrachtet. Wenn „normal“ ausschließlich heißt, dass es normal ist, individuell verschieden zu sein, dann soll damit kategorisch ausgeschlossen werden, dass jemand auch als anders anders oder als fremd in Erscheinung tritt. Wird jedoch keine Unterscheidung zwischen Andersheit als Fremdheit und Andersheit als Verschiedenheit vorgenommen, dann wird die Problematik des Fremden und des Anderen lediglich „als Steigerungsverhältnis gedacht, so dass der Fremde vom Anderen nur graduell unterschieden wird

Der pädagogische Diskurs um Heterogenität und Fremdheit | 225

und als der gilt, der (etwas) ‚mehr anders‘ und (noch) ‚weniger vertraut‘ ist als ‚der Andere‘“ (Ricken/Balzer 2007: 64). Es wird sich noch herausstellen, dass eine radikal verstandene Fremdheit kein solches Steigerungsverhältnis bedeutet und „sich niemals dingfest und sinnfest machen läßt“ (Waldenfels 2006: 54), sondern sie „sich inmitten aller Ermöglichungen, seien sie persönlich-dispositioneller, historisch-kultureller oder auch transzendentaler Art, als Un-mögliches erweist, als Erschütterung oder Infragestellung vorhandener Möglichkeiten“ (ebd.: 55). Das inklusionspädagogische Denken der Normalität der individuellen Verschiedenheit ‚vergisst‘ die Fremdheit nicht nur, sondern sie soll durch einen vorgeblich angemessenen (institutionellen und intersubjektiven) Umgang mit Heterogenität theoretisch und praktisch überwunden werden. Der Fehlschluss dieses Denkens besteht darin, dass Fremdheit nur als Andersheit im Sinne von Verschiedenheit, nicht aber als radikale Fremdheit verstanden wird. Als solche setzt sie sich aber geradezu zur Wehr gegen Versuche, sie auszuschalten, wie dies beispielsweise im Versuch einer inklusiven Ordnungsvorstellung samt der Annahme des völligen Einbezogenseins der Fall ist oder in der präskriptiven Handlungsaufforderung der „Normalität der Verschiedenheit“ angezeigt ist. Abgesehen hiervon lassen sich mit einem Verständnis von Andersheit, das im Denkraum der (normativen) Verschiedenheit verbleibt, keine Fragen mehr nach der sozialen Eingebundenheit und den konkreten Lebensvollzügen menschlicher Existenz stellen. Mit Waldenfels ist daher „zwischen Andersheit als Verschiedenheit (diversité), deren Gegenteil das Selbe ist, und Andersheit als Fremdheit (étrangeté), deren Gegenteil das Eigene wäre“ (Waldenfels 1995a: 288), zu unterscheiden. Verschiedenheit und Fremdheit, so eine erste Ortsbestimmung, liegen also nicht auf derselben Ebene. Oder anders formuliert: Andersheit lässt sich als Verschiedenheit nur auf der Ebene des Gesagten – der theoretischen Bestimmung – überwinden, nicht aber auf der Ebene des Sagens – der praktischen Vollzüge –, auf der die Andersheit als Fremdheit auftritt. Die folgenden Ausführungen haben mit der Konzeption begrenzter Ordnung unter anderem zum Ziel, diesen Unterschied genauer kenntlich zu machen.10

10 Vgl. hierzu vor allem 4.3.

4

Radikale Fremdheit und der Ordnungsbegriff bei Waldenfels Kritik an der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung

Waldenfels legt seiner Phänomenologie des Fremden ein bestimmtes Ordnungsdenken zugrunde, das eine jede Ordnung in ihrem Prozess des Entstehens aufzeigt. Die folgenden Ausführungen zeichnen den Gedanken der radikalen Fremdheit anhand dieses Begriffes von Ordnung nach (4.1). Mit der Beschreibung von Ordnung als einem Prozess der Selektion und Exklusion wird zugleich eine Kritik der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung möglich, die sich vor diesem Hintergrund als Versuch einer Totalisierung erweist und in ihrer eigenen Verabsolutierung die blinden Flecken und Grenzen ihres Denkens verleugnet (4.2). Indem mit der pädagogischen Inklusionsidee Andersheit lediglich als relative Verschiedenheit innerhalb eines übergeordneten Ganzen betrachtet wird, kommt es zu der Illusion einer Überwindung von Fremdheit. Diese Illusion soll durch gezielte Maßnahmen auch praktisch verwirklicht werden, weshalb sich hinter diesem Denken ein gefährliches Potential verbirgt. Es tritt vor allem dann besonders gravierend in Erscheinung, wenn die Wirklichkeits- und Sozialordnung der Illusion der Überwindung von Fremdheit ihre Grenzen aufzeigt und etwas oder jemand trotzdem noch fremd bleibt. Mit dem Begriff der Ordnung bei Waldenfels wird es zudem möglich, den Unterschied zwischen Verschiedenheit und Fremdheit herauszustellen (4.3). Hiermit ist zugleich ein Wechsel der Diskursebenen angezeigt, denn das Denken der Fremdheit verweist auf das Geschehen der Erfahrung selbst und verschleiert dieses nicht als eine normative Angelegenheit, wie es mit der Rede von der wertzuschätzenden Verschiedenheit der Fall ist. Die Annahme der völligen Einbeziehung und Überwindung der Fremdheit des Anderen gerät damit ebenso ins Wanken wie die Hoffnung, dass sich Eigenes und Fremdes in der „Normalität der Verschiedenheit“ vereinen und dort zur Ruhe finden. Dem Denken der Verschiedenheit, das auf eine symmetrische Perspektive von Eigenem und Fremdem angelegt ist, wird mit dem

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Waldenfels’schen Ordnungsbegriff eine unhintergehbare Asymmetrie von Eigenem und Fremdem entgegengehalten. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise auch die Beziehung zwischen ‚Nichtbehinderten‘ und ‚Behinderten‘ weder eine Reversibilität der Standpunkte zulässt noch geht diese Beziehung kongruent mit der indifferenten Annahme, dass Behinderung eine bloße und gleich-gültige Dimension der Verschiedenheit neben anderen ist. Auch diese Beziehung ist von einer grundlegenden Asymmetrie geprägt, die Behinderung nicht als ein gleiches oder normales Verschiedensein, sondern als eine andere, leibliche Perspektive auf sich selbst, Andere und die Welt zu denken ermöglicht. Von der Asymmetrie von Eigenem und Fremdem auszugehen bedeutet nicht, auf Normalität, Vergleiche und notwendige Feststellungen zu verzichten, wie es mit dem inklusionspädagogischen Dekategorisierungsgebot vorgesehen ist (4.4). Vielmehr geht es um ein Sichtbarmachen der jeweils kontingenten Perspektiven all dieser Prozesse. Die folgenden Ausführungen verfolgen damit zwei Ziele: Mit den Überlegungen von Waldenfels zum Begriff der Ordnung wird zum einen eine grundlegende inhaltliche Kritik der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung möglich. Zum anderen ist dieser Ordnungsbegriff auch für das Verständnis des Gedankens der radikalen Fremdheit zentral, der für die nachfolgenden Ausführungen tragend ist.

4.1 DER BEGRIFF DER ORDNUNG Das Denken der radikalen Fremdheit findet seinen Ausgangspunkt im Grundgedanken der Konzeption begrenzter Ordnung. Dennoch wird vorweg eine erste „Ortsbestimmung“ des Fremden vorgenommen, um daraufhin zu zeigen, wie diese Topographie aus dem Gedanken der begrenzten Ordnung hervorgeht.1

1

Vgl. ausführlicher zum Topographie-Verständnis Waldenfels’ dessen Vorwort in der Topographie des Fremden (vgl. Waldenfels 1997a: 9ff.). Der Autor versteht unter Topographie eine „Ortsbeschreibung“, die als Verfahrensweise „auf eine Weise der Beschreibung [verweist], die Wege, Grenzlinien, Verbindungen und Kreuzungsstellen aufzeichnet, also gegenüber jeder systematischen Verknüpfung der Erkundung offener und begrenzter Zusammenhänge den Vorrang gibt“ (ebd.: 12). Aus diesem Grund verwehrt sich Waldenfels auch einem systematischen Zugang zum Fremden im Sinne einer „separaten Methodologie“, die ein formales Gerüst böte (vgl. Waldenfels 2001: 430ff.). So lockt es ihn eher, wie er selbst sagt, „eine indirekte Methode zu erproben, für Seitenblicke und Seitenrede Platz zu schaffen“ (ebd.: 430).

Radikale Fremdheit und der Ordnungsbegriff bei W aldenfels | 229

4.1.1 Topographie des Fremden Woran denken wir bei dem Wort ‚Fremdheit‘ oder seiner adjektivischen Form ‚fremd‘? Waldenfels spricht davon, dass die Rede vom Fremden zur „Hypokrisie“ verführt: „Man redet von ihr und tut gleichzeitig so, als wüßte man nicht, wovon man redet.“ (Waldenfels 1997a: 9) Dieser „schillernde Charakter“ habe mit der Sache selbst zu tun, also mit den Erfahrungen des Fremden (vgl. ebd.). Zumeist – und unter der Voraussetzung der aktuellen geopolitischen Lage vermehrt – dürften uns dabei bestimmte Personen oder Personengruppen wie beispielsweise Migranten oder vor allem sichtbar ‚Behinderte‘, vielleicht auch andere Länder oder andere Sitten, Bräuche und Sprachen in den Sinn kommen, die wir allesamt nicht immer sofort und niemals völlig verstehen. Fremdheit scheint also in einem gewissen Gegensatz zur Vertrautheit zu stehen und mit dem Makel des Unvertrauten und/oder Unverständlichen behaftet zu sein. Dies zeigt sich auch anhand grundlegender Überlegungen zur Fremdheit. „Das Problem des Fremden“, so Waldenfels, „beginnt mit seiner Benennung“ (Waldenfels 2006: 111). Das Fremde sei für uns zunächst etwas Alltägliches, Vertrautes: „Dazu gehört das Gastrecht, das dem Fremden, das Asylrecht, das dem Verfolgten zuteil wird; die Vielfalt fremder Sprachen, aus der sich die Muttersprache aussondert; das Fremdeln beim Kind, wenn es lernt, vertraute von fremden Gestalten zu unterscheiden ; das klinische Phänomen der Entfremdung vom eigenen Körper, in der die eigene Hand wie ein lebloses Ding erscheint, und vieles andere mehr.“ (Waldenfels 1997a: 16)

Um den Bedeutungsgehalt des Phänomens der Fremdheit einzukreisen, lassen sich mit Waldenfels anhand der Übersetzung des Wortes „fremd“ in andere Sprachen drei unterschiedliche Bedeutungsnuancen und entsprechende Bedeutungskontraste erkennen: „Fremd ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt als Äußeres, das einem Inneren entgegensteht […]“ (Waldenfels 2006: 111). Angezeigt ist dies in anderen Sprachen in den Worten externum, extraneum, étranger, stranger, foreigner (vgl. ebd.). Zweitens ist fremd, was Anderen gehört (alienum, alien, ajeno), im Gegensatz zum Eigenen. Hierzu zählt Waldenfels beispielsweise auch das Wort alienatio, das im juristischen Sinne mit „Entäußerung“, im klinischen und sozialpathologischen mit „Entfremdung“ wiedergegeben wird (vgl. ebd.). In einer dritten Bedeutung ist fremd, „was von anderer Art, was fremdartig, unheimlich, seltsam ist ([…] insolitum, étrange, strange), im Gegensatz zum Vertrauten“ (ebd.). Die drei Gegensätze von Äußerem/Innerem, Fremdem/Eigenem sowie Fremdartigem/Vertrautem verweisen in dieser Reihenfolge auf die Aspekte des Ortes des Fremden, des Besitzes sowie die Art des Verständnisses (vgl. ebd.: 111f.). Als Bei-

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spiele dafür, dass es sich hierbei um verschiedene Bedeutungen handelt, weist Waldenfels darauf hin, „daß ein und derselbe Sachverhalt in einem Sinne fremd sein kann, im anderen nicht, so das Haus des Nachbarn, das mir nicht gehört, aber wohlvertraut ist, oder ein ausländischer Kollege, mit dem ich eng zusammenarbeite“ (ebd.: 112). In seinen Studien zur Phänomenologie des Fremden läuft alles darauf hinaus, „daß bei einer radikalen Form der Fremdheit, wie sie unserer Fremderfahrung gemäß ist, der Ortsaspekt den Ton angibt“ (ebd.; vgl. Waldenfels 1995b: 612; 1997a: 20; 1997b: 68f.; 1998b: 37). Angekündigt ist dies bereits im Titel des Werks Topographie des Fremden (vgl. Waldenfels 1997a), das den ersten von vier Studienteilen der Phänomenologie des Fremden bildet. Seinen Fremdheitsstudien legt Waldenfels hier die Annahme zugrunde, „daß das Fremde primär von Orten des Fremden her zu denken ist, als ein Anderswo und als ein Außer-ordentliches, das keinen angestammten Platz hat und sich der Einordnung entzieht. Umgekehrt gilt es den orthaften Raum so zu denken, daß er Eigen- und Fremdorte zuläßt, ohne die Differenz zwischen Eigenem und Fremdem von vornherein einzukreisen oder einzuebnen.“ (Ebd.: 12)

Dieser Grundgedanke, der in Ordnung im Zwielicht (1987) vorgezeichnet und entwickelt worden ist, macht ein Fremdes deutlich, das nicht bloß Verschiedenes meint, sondern die Erfahrung unserer selbst, von Anderen und der Welt selbst betrifft und ausmacht und daher auch nicht zu überwinden ist. Als solches bleibt das Fremde für uns unzugänglich, es lässt sich niemals direkt fassen. Zumeist fungiert Fremdes als Hintergrund dieser Verhältnisse, ohne dass uns dies sonderlich bewusst ist. Das Fremde tritt immer dann besonders deutlich hervor, wenn sich etwas den gewohnten Ordnungen entzieht und dadurch auffällig wird. Beispielhaft wird dies in der Krankheit erfahren, in der sich uns unser Leib entzieht oder eben auch in Begegnungen mit Menschen, die schwerer und sichtbar behindert sind. Die gewohnten Muster der Kommunikation versagen hier und das neuzeitliche Subjekt wird zugleich mit der Unverfügbarkeit seines eigenen leiblichen Daseins konfrontiert. Entgegen dieser phänomenologischen Sichtweise auf Fremdes, das als „Hyperphänomen“ (vgl. Waldenfels 1997a: 18) notwendigerweise und irreduzibel zur Erfahrung selbst gehört, tritt Fremdheit oder Fremdes im allgemeinen Sprachgebrauch – und ebenso im Integrations- und Inklusionsdiskurs – jedoch am häufigsten als etwas in Erscheinung, das es möglichst zu überwinden gilt. Es erscheint eben als ein Mangel an Vertrautheit oder Verständlichkeit, also in der Struktur des ‚noch-nichtVertrauten/Verständlichen‘ bzw. ‚nicht-mehr-Unvertrauten/Unverständlichen‘. So gehört es beispielsweise auch zu den Grundvoraussetzungen einer hermeneutischen Philosophie, „daß Fremdheit nicht unüberwindlich ist“ (Waldenfels 1999a: 71). Zwar betonen Waldenfels zufolge bereits Schleiermacher und Dilthey, „daß Her-

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meneutik sich als unmöglich erwiese, wenn alles schlechthin fremd wäre, und daß sie sich als unnötig erwiese, wenn gar nichts fremd wäre“ (ebd.: 68). Dies erinnere „an die bekannte Aporie aus Platons Menon, derzufolge das Suchen unmöglich ist. Weiß ich, was ich suche, so ist das Suchen unnötig. Weiß ich es nicht, so ist das Suchen unmöglich. Ich würde zufällig auf etwas stoßen […], von dem ich nicht einmal wüßte, ob es das ist, was ich vermißt habe. […] Wie für Sokrates das Suchen in einem wissenden Nichtwissen besteht, das seine Grenzen eingesteht und damit überschreitet, so bestünde das hermeneutische Verstehen in einem verstehenden Nichtverstehen […].“ (Ebd.: 68f.)

Hierbei handelt es sich jedoch „lediglich um eine relative Fremdheit für uns, nicht um eine Fremdheit in sich selbst. Was nicht mehr, noch nicht oder nicht völlig verständlich ist, bleibt doch der Verständlichkeit offen. Selbst die […] Formen des Unsinns und des Widersinns setzen einen Sinn voraus, den sie durchstreichen; sie bleiben eben deshalb auf indirekte Weise verständlich.“ (Ebd.: 71)

Fremdheit im Sinne des Nichtverstehens oder Nichtwissens bildet als verstehendes Nichtverstehen oder wissendes Nichtwissen zwar eine notwendige Voraussetzung für das Verstehen und Wissen; sie kommt aber nicht selbst als fremd in den Blick, sondern zeigt hier nur ein Durchgangsstadium zu etwas Anderem an. Fremdes ist hiermit zwar kein negativ verstandener Mangel, aber immer noch ein Mangel oder ein Unbestimmtes, das auf seine Bestimmung wartet. Hingegen zeichnet sich ein radikal Fremdes gerade dadurch aus, dass es sich der Bestimmung entzieht, indem es als das originär Unzugängliche und originär Unzugehörige erscheint (vgl. Waldenfels 1997a: 27). Das radikal Fremde betrifft nicht bloß dasjenige, was als relativ Fremdes außerhalb einer bestimmten Ordnung liegt, sondern es ist das, „was außerhalb jeder Ordnung bleibt“ (Waldenfels 1997b: 72). Das radikal Fremde bedeutet keine weitere Spielart des Fremden, sondern es zieht sich durch alle Dimensionen des Fremden hindurch. „Radikalität“ verweist hier auf die Irreduzibilität, die unauslotbare Tiefe des Fremden (vgl. Waldenfels 2002: 242), was bedeutet, dass die radikale Fremdheit „weder auf Eigenes zurückgeführt, noch einem Ganzen eingeordnet werden kann […]“ (Waldenfels 2006: 116). Es gilt daher, wie Busch und Därmann festhalten, „die konstruierte Fremdheit des Anderen in ihrem relativen, nämlich überwindbaren Fremdheitscharakter von der radikalen Erfahrung des Fremden zu unterscheiden, die weder hergestellt noch auch gemacht werden kann; sie ist vielmehr eine Erfahrung, die mich betrifft, und mich ganz und gar ausmacht“ (Busch/Därmann 2007a: 8) und die auch unser Verhältnis zum Anderen durchzieht. Seinen Ausführungen zum Fremden legt Waldenfels den Grundgedanken begrenzter Ordnungen zugrunde (vgl. Waldenfels 2001: 434; 1998b: 35), den er vor

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allem in Ordnung im Zwielicht (1987) entwickelt hat.2 Als Hintergrund, von dem sich die Untersuchungen zum Fremden gleichsam abheben, ist das Phänomen der Ordnung mit dem des Fremden somit untrennbar verbunden: „An den Grenzen einer jeden Ordnung taucht Fremdes auf in Gestalt eines Außerordentlichen, das in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet, das aber als Ausgeschlossenes nicht nichts ist. Indem es nicht schlechthin, sondern aus einer bestimmten Ordnung ausgeschlossen ist, bedeutet es mehr als das Grau in Grau bloßer Unbestimmtheit […]“ (Waldenfels 2006: 9). Der wichtige Gedanke begrenzter Ordnungen spielt daher in allen Werken Waldenfels’ eine tragende Rolle, die mal mehr und mal weniger stark in Erscheinung tritt.3 Im Folgenden wird dieser Grundgedanke in Hinblick auf das Phänomen des Fremden sowie auf eine Kritik der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung expliziert. Abseits dieses methodischen Vorgehens bietet das Ansetzen beim Phänomen der Ordnung zugleich die Möglichkeit, einige wichtige Positionsbestimmungen der Waldenfels’schen Philosophie vorzunehmen. Bedeutende philosophische Themen wie Moderne und Postmoderne, der Strang einer Identitätsphilosophie und in besonderer Weise die beiden großen Instanzen, Vernunft und Subjektivität, erfahren durch Waldenfels eine Umarbeitung, ein „langsames Umdenken“ (vgl. Waldenfels 2001: 436).4 Für diese Umarbeitung der Tradition ist Ordnung im Zwielicht mit der „Kritik von Gesamt- und Grundordnungen durch den Erweis der Selektivität und Exklusivität einer jeden Ordnung […] Waldenfels’ Ausgangspunkt“ (Fischer/Gondek/Liebsch 2001b: 8). 4.1.2 Genealogie von Ordnung als Ansatzpunkt Waldenfels kritisiert mit Ordnung im Zwielicht jegliche Art homogener Ordnungskonzepte und Ganzheitsvorstellungen. Gleichzeitig rückt er, vor allem unter Bezug2

In den Grundmotiven der Phänomenologie des Fremden bezeichnet Waldenfels die Ausführungen in Ordnung im Zwielicht auch als „Initialversuche“ seiner Phänomenologie des Fremden (vgl. Waldenfels 2006: 9).

3

Anstatt einer systematischen Theorie des Fremden bilden die Ausführungen von Waldenfels vielmehr ein laterales Geflecht von ineinander spielenden Aspekten. Mit den Worten des Autors lässt sich sein Werk auch als „verstärkte Reliefbildung“ verstehen, „die wichtige Aspekte hervortreten läßt wie Gebirgszüge auf einer Reliefkarte“ (Waldenfels 2006: 13). Damit soll die heuristische Vielfalt der Zugangswege zum Phänomen des Fremden gewahrt bleiben (vgl. ebd.).

4

Wie Waldenfels im Gespräch mit Petra Gehring und Matthias Fischer zu verstehen gibt, ist für ihn diese Umarbeitung „das eigentlich Interessante“ seiner Arbeiten (vgl. Waldenfels 2001: 436). Anstatt eines völligen und auch unmöglichen Abbruchs philosophischer Problemlagen, schwebt ihm vielmehr eine „sanfte Verschiebung von Gewichten [vor] […]“ (ebd.: 437).

Radikale Fremdheit und der Ordnungsbegriff bei W aldenfels | 233

nahme auf Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, das „Andersseinkönnen jeglicher Ordnung“ (vgl. Waldenfels 1998a: 16) in den Vordergrund seiner Überlegungen. Damit gerät unter anderem auch die Deutung des Menschen unter dem Primat der Rationalität in den Blick. Mit seiner „Besinnung auf Herkünfte, Grenzen, Vielfalt, Wandel und Überschreitung gelebter und gedachter Ordnungen […]“ (Waldenfels 1987: 10) will Waldenfels zu einem Umdenken gelangen, „das aus dem Hin und Her von Antithesen wie Einheit und Vielheit, Kontinuität und Diskontinuität, Subjekt und Strukturen, Lebenswelt und System oder Genesis und Geltung herausfindet“ (ebd.). Im Anschluss an Foucaults Ordnungsproblematik5 sowie an Husserls Lebensweltthematik, geht es ihm – getreu dem phänomenologischen ‚Motto‘ des Zurückgehens auf die „Sachen selbst“ (vgl. Merleau- Ponty 1966: 5) – um die Genealogie von Ordnungen, also um den Moment des Entstehens einer Ordnung. Mit seinem Ordnungsgedanken will Waldenfels dem selbstverständlich Gewordenen, das sich nur scheinbar als natürlich Gegebenes gebiert, eine kritische Reflexionsfolie entgegenhalten: Die Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit der Doxa 6 rühre daher, „daß das bestimmte Wissen mit unserer Erfahrung verwächst wie eine Brille, die wir tragen, ohne daß sie uns noch auffällt. Diese Selbstverständlichkeit erzeugt den Schein einer Ordnung an sich […]“ (Waldenfels 2005b: 50). Die großen, allumfassenden Ordnungen der Vernunft und des Subjekts entstammen nach Waldenfels – womit er konform geht mit den Verteidigern einer gebrochenen Moderne – einem „überschwenglichen [sic!] und gewaltsamen Vernunftraum […], dem das moderne ‚Subjekt‘ vergebens nachläuft“ (Waldenfels 1987: 10). Der Autor sieht sich daher mit der Aufgabe konfrontiert, die kontingenten und begrenzten Bedingungen von Ordnung und Rationalität als einen Prozess gleichzeitiger Ermöglichung und Verschließung aufzudecken. Waldenfels arbeitet somit gegen ein tradier5

Beim „Abschied von einer totalen Ordnung“ in Ordnung im Zwielicht hat Foucault eine große Rolle für Waldenfels gespielt (vgl. Waldenfels 2001: 433). Er beruft sich hierbei besonders auf dessen Werk Ordnung der Dinge (Foucault 1971) (vgl. u.a. Waldenfels 1987: 72, 108; 2005b: 51, 123).

6

Waldenfels verwendet den (phänomenologischen) Terminus der „Doxa“ in (kritischer) Bezugnahme auf den ‚Begründer‘ der Phänomenologie, Edmund Husserl, und dessen Krisis-Abhandlungen. Letzterem geht es darin um eine Aufwertung der Doxa gegenüber der Episteme im Sinne der objektiv ausgerichteten Wissenschaften der Neuzeit. Der Begriff der „Doxa“ fungiert sozusagen als „Alltagswissen“ (vgl. Waldenfels 2005b: 34), als Boden der – auch der wissenschaftlichen – Erfahrung; als solcher kommt ihr ein gewisses Eigenrecht zu sowie ein „Vorrecht gegenüber wissenschaftlichen Einsichten, da sie Boden und Fundament abgibt für alle theoretischen Konstruktionen; als Quelle der Sinnbildung ist sie kein bloßer ‚Durchgang‘“ (ebd.: 39). Zur Revision der Husserlschen Auffassung der Doxa vgl. den Aufsatz Die verachtete Doxa. Husserl und die fortdauernde Krisis der abendländischen Vernunft (ebd.: 34-55).

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tes Ordnungsdenken und „rekonstruiert in feinschrittigen Deskriptionen und Analysen die Genealogie von Ordnungen des Sozialen, unserer sinnlichen Natur, der Sprache und des Wissens“ (Lippitz 2003a: 25). Gegenwärtige Theorieformationen wie Diskurs-, Kommunikations- oder Systemtheorie, so Lippitz, „überspringen in ihrer Suche nach universalen Rechtfertigungsmöglichkeiten von Rationalität meistens diese genealogische Dimension, bzw. sie setzen das durch sie Entstandene als vorgegebenes Material zur Klärung von Geltungsansprüchen meistens unreflektiert voraus“ (ebd.). Demgegenüber richtet sich der Blick bei Waldenfels auf das Zustandekommen von Ordnung(en), die der Lebenswelt, Lebensform oder Lebensführung, speziell der europäischen Moderne, zugrunde liegen (vgl. Waldenfels 1998a: 15). Er geht sozusagen an die Wurzeln des Ordnungsgeschehens heran und gibt so den Versuch einer Beschreibung des Phänomens der Ordnung „in statu nascendi“. 7 Dieses Ordnungsgeschehen spielt sich als ein Prozess der Selektion und Exklusion ab (vgl. Waldenfels 1987: 11) und zeigt die Begrenztheit und Kontingenz einer jeden Ordnung an, „die dem, was ist, jede definitive Identität verwehrt“ (Waldenfels 1998a: 8). Somit gerät jegliche Ordnung, die sich als allumfassend ausgibt, ins Wanken, da sie stets auch von dem lebt, was sie als Außer-ordentliches bzw. als Fremdes draußen lässt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein taucht das Fremde jedoch bloß als relativ Fremdes auf, das bis dato in einem kosmischen Ordnungsgefüge gebändigt bleibt. Wie Waldenfels hierzu feststellt, „gibt [es] nur relativ Fremdes, bezogen auf bestimmte Standorte; ein radikal Fremdes, das das Sein als solches und im ganzen unterhöhlt, suchen wir vergebens“ (Waldenfels 1997a: 16). Das (radikal) Fremde wurde als spezifisches Phänomen innerhalb des westlichen Denkens demnach lange Zeit nicht beachtet und bildet daher auch keinen Grundbegriff der klassischen Philosophie (vgl. ebd.: 16). Zur Thematisierung kam es im abendländischen Denken allmählich im 18. und 19. Jahrhundert. Vollends dringt das Fremde jedoch erst im 20. Jahrhundert „ausdrücklich und unwiderruflich in den Kern der Vernunft und in den Kern des Eigenen ein“ (ebd.: 17). Als einen Grund für den genannten Umschwung verzeichnet Waldenfels, darin Hans Blumenberg folgend, einen „Ordnungsschwund“ seit dem ausgehenden Mittelalter (vgl. Waldenfels 1998a: 17). Mit Beginn der frühen Neuzeit lässt sich ein Zerfall der großen Gesamtordnung beobachten, der in besonderer Weise virulent wird, da hiermit zugleich eine veränderte neuzeitliche Vernunft- und Subjektauffassung einhergeht. Nach Waldenfels gehören „diese Zersplitterung der Vernunft und diese Dezentrierung des Subjekts […] zu den Abenteuern der westlichen Moderne“ (Waldenfels 1997a: 16). Der Schwund

7

Wie Waldenfels unter Bezugnahme auf Merleau-Ponty anmerkt, hat es die Phänomenologie „mit einem Sinn in statu nascendi zu tun und nicht mit den Gegebenheiten einer fertigen Welt“ (Waldenfels 1997a: 19).

Radikale Fremdheit und der Ordnungsbegriff bei W aldenfels | 235

der großen Ordnungen betrifft die klassische Ordnungsformation, die Waldenfels von einem zweiten Typ der Ordnung, dem der modernen Ordnung, unterscheidet.8 4.1.3 Klassische und moderne Ordnungsformation Die klassische Ordnungsformation als Gesamtordnung Der klassische Typ der Ordnung, der am prägnantesten durch den griechischen Kosmos als Gesamtordnung repräsentiert wird, „verkörpert nicht eine Ordnung unter möglichen anderen Ordnungen, er verkörpert die Ordnung schlechthin“ (Waldenfels 2006: 16). Als Alternative lässt diese klassische Ordnungsformation, repräsentiert durch den Kosmos9 als Gesamtordnung, „der für jedes Seiende seinen gebührenden Platz bereithält und ihm seine Bahnen vorzeichnet […] (ebd.: 17), in dem also alles seinen natürlichen Platz hat, nur die ungeordnete Mannigfaltigkeit eines Chaos hervortreten (vgl. ebd.).10 Die Gesamtordnung arbeitet Waldenfels zufolge mit „der uneingestandenen Voraussetzung, daß der Ort, an dem sich das Ganze als Ganzes zeigt und ausspricht, selbst noch als Ort innerhalb des Ganzen gedacht wird“ (ebd.). Wenn jede Ordnung sich dadurch auszeichnet, dass sie zugleich selektiv und exklusiv zustande kommt, das heißt, dass sie bestimmte Perspektiven ermöglicht, indem sie andere verschließt, so „wäre der Gesichtspunkt des Ganzen ebenfalls ein besonderer und kein wahrer Gesichtspunkt. […] Wer hier und jetzt für das Ganze spricht, spricht nicht für das wirkliche Ganze, sondern für das, was ihm als Ganzes gilt“ (Waldenfels 1997a: 170), so Waldenfels im Hinblick auf seine Kritik an jeder totalitären Ordnungsvorstellung.11 Die Ordnung tritt also nur scheinbar ohne ein Außen auf. Dem korrespondiert ein Denken des Innen, ein Denken, das im Ganzen bei sich selbst wäre (vgl. 8

Waldenfels betont, dass die Unterscheidung in einen klassischen und einen modernen Typ der Ordnung heuristisch zu verstehen ist und man nicht erwarten darf, „daß irgendeine Form des Denkens oder Lebens gänzlich in diesem Schema Platz findet. Das Schema ist nicht dazu bestimmt, Fragen zu lösen, sondern solche aufzuwerfen.“ (Waldenfels 2005b: 80)

9

Kosmos bezeichnet seinem ursprünglichen Wortsinne nach „Schmuck“ und „Ordnung“ (vgl. Waldenfels 1987: 32).

10 Zur Geschichte des Chaos vgl. ausführlicher Waldenfels (2002: 276ff.). Im Zuge der kosmologischen Aufklärung kommt es zu einer Verschiebung der Konnotation des Chaos: Bezeichnete es zunächst einen „gähnenden, klaffenden Abgrund“, aus dem die Welt hervorgeht, wird es fortan als das Woraus der Herstellung begriffen, es gilt, das Chaos zu bändigen (vgl. ebd.). 11 Zur Kritik an der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung aus dieser Sicht vgl. 4.2 sowie 4.3.4.

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Waldenfels 2006: 18). Jegliche Schatten einer Ordnung, all das, was eine Ordnung beunruhigte, wären in einer solchen Gesamtordnung getilgt (vgl. Waldenfels 1998a: 18). Genau dieser Punkt ist es, den Waldenfels mit seiner Kritik an der Vorstellung einer Gesamtordnung anprangert. Es kommt ihm nicht darauf an, „dieser Vision ihre Größe und Würde, ihre Erschließungs- und Zugkraft abzusprechen […]“ (Waldenfels 1987: 96). Dennoch gibt er mit Vehemenz zu bedenken, „daß alle Entdeckungen und Erfindungen letzten Endes mit dem Firnis des Unabänderlichen überzogen, daß Fugen und Risse gekittet werden“ (ebd.) und dass bereits „der Gedanke, daß es diese alles versöhnende und alles in sich vereinigende Gesamtordnung gibt, genügt, um alles Fragen und Suchen in eine bestimmte Richtung zu drängen, Differenzen und Konflikte herunterzuspielen und dort, wo dies nicht mehr gelingt und Alternativen unumgänglich werden, auf die große Scheidung von Ordnung und Chaos auszuweichen.“ (Ebd.)

Die moderne Ordnungsformation Als zweiten und neuen Typ der Ordnung führt Waldenfels den modernen an: „Was wir Moderne nennen, läßt sich beschreiben als die Infragestellung dieser Ganzheitsvision.“ (Waldenfels 2006: 19) Die Kritik der Moderne setzt also bei den Grenzen und Zwängen der vorgegebenen und allumfassenden Ordnung an. Dieser neue Typ der Ordnung liegt nicht in fertiger Form vor, sondern er geht auf einen Prozess der Modernisierung zurück, der mindestens bis ins 15. Jahrhundert reicht (vgl. Waldenfels 2005b: 81). Zu diesem Ordnungswandel konnte es zunächst kommen, da sich der Verdacht auftat, „die so unverbrüchlich und allumfassend scheinende Ordnung sei nur eine unter möglichen anderen“ (Waldenfels 1998a: 18). Ordnung macht sich in der Folge nicht mehr als faktisch gegeben bemerkbar, sondern als wandelbar: „[D]ie vorgegebene Ordnung erweist sich als Ergebnis einer Ordnungsstiftung.“ (Waldenfels 2006: 19) Mit dieser Annahme kontingenter Bedingungen jeglicher Ordnung – der Annahme, dass jeder Gesichtspunkt ein Gesichtspunkt unter möglichen anderen ist (vgl. Waldenfels 1997a: 171) – wird deren innere Notwendigkeit bestritten, das heißt, eine Ordnung kann anders sein, als sie ist. Dies bedeutet jedoch nicht, „daß jede einzelne Ordnung beliebig ist. Nicht alles, was nicht notwendig ist, ist damit schon beliebig“ (Waldenfels 2005b: 81), so Waldenfels. Vielmehr bezeugt die Kontingenz jeder Ordnung, „daß immer mehr möglich ist als das, was sich verwirklicht“ (Waldenfels 1997a: 171). Die große und allumfassende Gesamtordnung zerfällt in eine Vielzahl von Ordnungen, die „jeweils auf besondere Weise beschränkt und beschränkend sind“ (Waldenfels 2005b: 82). In der Folge steht nicht mehr nur Vernunftordnung gegen Unordnung, „sondern eine Ordnung gegen die andere“ (ebd.: 120), wodurch „Momente der Kontingenz, der Positivität und des Machtkonflikts in das Vakuum ein[dringen], das durch den Zerfall der einen Vernunftordnung entsteht“ (ebd.). In letzter Konsequenz

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zeichnet sich der moderne Typ der Ordnung dadurch aus, dass er grundlegende Innovationen zulässt (vgl. Waldenfels 1998a: 19). Abweichendes, das sich in der klassischen Ordnungsformation als bloß negative Folie der Ordnung bzw. als Bedrohung der Vernunft erwies, kann im modernen Typ der Ordnung, so einer der tragenden Gedanken der Waldenfels’schen Ordnungskonzeption, „den Durchbruch einer neuen Ordnung einleiten“ (Waldenfels 2005b: 82). Der Singular der Vernunft verwandelt sich durch diese Alternativen in den Plural von Rationalitäten (vgl. ebd.). Dieser Ordnungswandel und Ordnungsschwund bedeutet nicht nur eine Freisetzung von Kräften und eine Pluralisierung von Ordnung, sondern zugleich auch deren Bedrohung. Diese Bedrohung der Ordnung wurde und wird seither immer wieder auf verschiedenste Weisen zu bewältigen versucht. Insbesondere auch das aktuelle gesellschaftspolitische Paradigma der Inklusion stellt einen solchen Bewältigungsversuch dar, der sich aus verschiedenen Formen des Ordnungsersatzes zusammensetzt. 4.1.4 Formen des Ordnungsersatzes: Kritik an der Inklusion als Gesamt- und Grundordnung Die erste und anspruchsvollste Ersatzform, durch die der Ordnungsschwund zu beheben versucht wird, zeigt sich als ein Prozess der Totalisierung. Hierbei wird weiterhin an einer Gesamtordnung festgehalten, nur dass diese dem Werden überantwortet wird (vgl. Waldenfels 1998a: 20): „Die Andersheit wird dem Ganzen einverleibt als relative Andersheit, als Einseitigkeit, die auf die Dauer in die Allseitigkeit des Ganzen aufzuheben ist. Alles könnte auch anders sein – ausgenommen das Ganze, zu dem es keine Alternative gibt.“ (Ebd.) Die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung gibt sich unschwer als ein solcher Totalisierungsversuch zu erkennen. Abgesehen davon, dass sie eine Antwort auf die als defizitär gebrandmarkte integrative Praxis sein soll, kann Inklusion zugleich als Antwort auf eine zunehmende gesellschaftliche Ökonomisierung und De-Solidarisierung sowie den mit diesen Prozessen einhergehenden, verschärften Marginalisierungsgefahren für bereits marginalisierte, gesellschaftliche Gruppen verstanden werden. Allerdings ist sie dabei selbst auf komplexe Weise von einem neoliberalen Entsolidarisierungsparadigma durchdrungen, insofern sie einen dekonstruktiven Ansatz auf gesellschaftliche und pädagogische Gruppierungen verfolgt und die individuelle Normalität als höchstes und allgemeines Ziel anstrebt. Mit der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung wird eben genau der Versuch unternommen, der sich als Totalisierung erweist: Die Andersheit soll – als relative, individuelle Verschiedenheit – der inklusiven Gemeinschaft als dem Ganzen einverleibt werden, zu dem es keine Alternative gibt. Andersheit löst sich in der

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„Normalität der Verschiedenheit“ auf; alles kann zwar anders sein, aber eben nur unter dem totalitären Maßstab der allgemeinen bzw. individuell-allgemeinen Normalität. Bezugspunkt dieses Totalisierungsversuchs bleibt weiterhin eine Gesamtordnung, die der inklusiven Gemeinschaft. Mit der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung zeigt sich der Versuch, das „drohende Chaos“, das der kosmologischen Gesamtordnung noch als widernatürlich erschien, von vornherein nach innen zu verlagern und ihm so sein verstörendes Potential zu nehmen. Allerdings täuscht derjenige, der sich auf das Ganze beruft, etwas vor, was er nicht hat, da das Ganze immer noch aussteht (vgl. ebd.: 20f.) und die Ordnung ein zu suchendes Ganzes bleibt, das niemand jemals besitzt (vgl. Waldenfels 1987: 96). Eine solche Gesamtordnung gewinnt totalitäre Züge, wenn sich jemand anmaßt, „für dieses Ganze zu sprechen und dessen Sprüche durchzusetzen […], und sofern die selegierenden Interessen, die jede Lebensform durchziehen, sich hinter den Belangen des Ganzen verstecken, setzt sich die Idee des Ganzen dem Ideologieverdacht aus“ (ebd.: 97). Trifft beides – die Totalisierung und Ideologisierung – nicht genau so auf die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung zu? Inklusion, so, wie sie im inklusionspädagogischen Sinne verstanden wird, wäre gar nicht erst denkbar ohne ein Ganzes, für das sich hier jemand anmaßt, zu sprechen. Der zu verwirklichende gesellschaftspolitische Fixpunkt ist die inklusive Gesellschaft als totale Gesamtordnung. Zudem passiert hier genau das, wodurch sich eine Ordnung dem Ideologieverdacht aussetzt. Die „selegierenden Interessen“, die mit dem inklusionspädagogischen Ansatz zu Tage treten, verstecken sich auch hier hinter dem Ganzen bzw. der Berufung auf ein Ganzes. Hinzu kommt, dass die „selegierenden Interessen“ jeder Lebensform keinen Eigenwert mehr haben und als solche gar nicht mehr erst hervortreten sollen, sondern sie verschwinden in einem allgemeinen Ganzen, das heißt, in der Verschiedenheit als Normalfall. Das andere Anderssein soll mit geeigneten inklusionspädagogischen Maßnahmen, die sich primär über den Verzicht auf etwas definieren, sogar explizit überwunden werden. Es führt keineswegs zu weit, den von Waldenfels im folgenden beschriebenen Prozess des Totalitarismus auf den pädagogischen Inklusionsgedanken und die Mechanismen seiner Durchsetzung zu beziehen, sondern diese Beschreibung trifft ganz und gar auf ihn zu: „Das Vakuum, das eine zerfallende religiöse oder kosmologische Ordnung hinterläßt, wird mit Surrogaten gefüllt, der verordnete Kosmos, der diesen nachäfft, macht Anleihen bei der Fraglosigkeit und Geschlossenheit der Doxa, bei archaischen Ängsten und Wünschen, doch gleichzeitig werden raffinierte Techniken eingesetzt, um sie in die Bahnen einer neuen Gesamtordnung zu lenken. Da für eine solche Stammes-Philosophie überzeugende Gründe schwerlich beizubringen sind, werden Mittel wie Propaganda, Indoktrination und Drill eingesetzt.“ (Ebd.)

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Wie die Ausführungen im zweiten Teil der Arbeit gezeigt haben, gibt es für die „Stammes-Philosophie“ der pädagogischen Inklusion keine überzeugenden Gründe (vgl. 2.3.2). Was bleibt, sind bloße Postulate oder, um es mit den Worten Waldenfels’ schärfer zu formulieren, Propaganda, Indoktrination und Drill, wobei der sogenannte „Index für Inklusion“ zugleich als heilige Schrift und Instrument ihrer Durchsetzung begriffen werden kann. Er gibt eine klare Wertordnung vor, die alles andere als inklusiv ist, sondern in höchstem Maße exklusive Wertvorstellungen einer bürgerlichen Ethik vorträgt (vgl. auch Kastl 2014a: 10), die in einer inklusiven Schule befolgt und vermittelt werden sollen. Hinzu kommt, dass auch die Lehre der pädagogischen Inklusion mit archaischen Ängsten und Wünschen spielt: In diesem Sinne wird auf das angstauslösende Gefühl gesetzt, dass jeglicher Ausschluss zum sozialen Tod führt; zugleich wird der Wunsch einer alles versöhnenden Ordnung, in der jegliche Marginalisierungen und Stigmatisierungen der Vergangenheit angehören und sich die Weltgemeinschaft in einem friedlichen Beisammensein aller in Allem vereint, als hoffnungsvolle Botschaft vorgetragen und als realisierbar in Aussicht gestellt. Wenn es bei Waldenfels weiter heißt, dass das „Paradox einer künstlich geschaffenen Gläubigkeit [nur] gelingt […], wenn das Machwerk selber als natürlich erscheint“ (Waldenfels 1987: 97), wird deutlich, inwiefern der inklusionspädagogische Ansatz einem weiteren totalitaristischen Prinzip folgt. Auch an dieser Stelle ist der Bezug zur Inklusionsideologie alles andere als weit hergeholt, sondern er tritt im Phasenmodell der Inklusion mit der Phase Vier, in der Vielfalt der Normalfall ist, deutlich hervor: „Inklusion wird überall zur Selbstverständlichkeit, der Begriff Inklusion kann daher in einer fernen Zukunft vergessen werden.“ (Sander 2004: 243; 2003: 317) Das bedeutet nichts anderes, als dass das Machwerk der Inklusion selbst als natürlich erscheinen soll, womit dieses Ansinnen genau diesem wesentlichen Prinzip des Totalitarismus folgt. Die verharmlosende Rede von Inklusion als Vision verdeckt ihr eigentliches ideologisches Ansinnen, das Ziel der Verwirklichung einer neuen Ordnung, die als absolut gesetzt wird. Damit aber werden andere Ansichten und alles, was sich dieser Ordnung widersetzt, stigmatisiert und marginalisiert. Von Totalitarismus können wir nach Waldenfels dann sprechen, „wenn nicht bloß eine Totalität bewahrt oder gesucht, sondern die Totalität zum Prinzip erhoben wird […]“ (Waldenfels 1987: 97). Allein der Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes, als die einzig demokratische Form des Eingehens auf Heterogenität im institutionellen und intersubjektiven Bereich gelten zu wollen, ist alles andere als ein demokratischer Vorgang. Eine inklusive Gemeinschaft wird als totalitäre Ordnungsvorstellung mit diesem Anspruch ja nicht bloß gesucht, sondern Inklusion selbst wird zum (alleinigen) Prinzip des Denkens, Handelns und Wahrnehmens in Hinblick auf das Anderssein und den institutionellen und intersubjektiven Umgang mit diesem Anderssein erhoben. Es handelt sich beim pädagogischen Ansatz der

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Inklusion daher nicht nur um einen ideologischen, da begründungsfreien Ansatz, sondern ebenso um einen totalitaristischen Ansatz. Wie Waldenfels weiter ausführt, fließen in der „Pseudo-Archaik“ dieses Totalitarismus Religion, Wissenschaft, Kunst, Politik und Erziehung ineinander und sind durch funktionale Imperative („alles für…“) gesteuert (vgl. ebd.). Auch wenn zwischen diesen einzelnen Feldern und innerhalb von ihnen kein deckungsgleiches Inklusionsverständnis vorliegt: Augenscheinlich ist doch eine ‚inklusive Allianz‘ zu verzeichnen, die sich zumindest aus den Feldern der Wissenschaft, Politik und Erziehung rekrutiert und die den Imperativ Inklusion vorgibt, durch den die entsprechenden Teildisziplinen und Fachbereiche zugleich selbst gesteuert werden. Wie es abschließend heißt, verdienen nicht diese „sehr dürftigen Ordnungsgehalte [Interesse], wohl aber die Mechanismen ihrer Durchsetzung und mehr noch die Bedürfnisse, die solch artifiziellen Gebilden, solchen Weltanschauungen ohne Anschauung Nahrung geben“ (ebd.: 97f.). Die Mechanismen der totalitären Durchsetzung sind im Fall der Inklusion längst voll im Gange und sie bleiben nicht folgenlos für die Beteiligten: So ist im wissenschaftlichen und auch im zuständigen bildungspolitischen Bereich genau die Schwierigkeit einer Gesamtordnung wie die der Inklusion zu beobachten, dass bereits der Gedanke, „daß es diese alles versöhnende und alles in sich vereinigende Gesamtordnung gibt, genügt, um alles Fragen und Suchen in eine bestimmte Richtung zu drängen, Differenzen und Konflikte herunterzuspielen […]“ (ebd.: 96). Diese Aussage ist im inklusionspädagogischen Kontext in höchstem Maße beachtenswert, weil sie das Grundproblem dieses Denkens widerspiegelt. Zunächst und ganz generell: Der kundige Leser inklusionspädagogischer Lektüre wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass Inklusion im pädagogischen Bereich als Zauberformel für alle Problemlagen fungiert, die jedoch selbst so gut wie nicht oder nur sehr am Rande überhaupt noch erwähnt werden. Inklusion wird so als eine Weltbeglückungsformel gepriesen und verkauft. Derjenige, der Konflikte und Problemlagen allerdings offen anspricht und vielleicht sogar zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, gilt unumwunden als ein Rückständiger und Verhinderer nicht nur der Inklusionsideologie, sondern – und dieser Vorwurf wiegt ungleich schwerer – er wird als derjenige marginalisiert und stigmatisiert, der mit dem Ansprechen von Problemen eine größere Wertschätzung und Teilhabe von ‚Behinderten‘ verhindern würde. Worin unterscheiden sich derartige Vorgänge von Verhaltensmustern, die von einer ideologischen Überzeugung getrieben sind? Die Aussage von Waldenfels greift aber nicht bloß in dieser diskurssemantischen Hinsicht, sondern sie trifft auch in inhaltlicher Hinsicht zu. Auch wenn die thematisierten, heil- und sonderpädagogischen und bildungspolitischen Umdeutungsstrategien eine immer größere Virulenz entfalten: Inhalte und Perspektiven in der behindertenpädagogischen Forschung und Lehre, und ebenso bildungspolitische Diskussionen und Entscheidungen, unterliegen teilweise nahezu ausschließlich der Zentralperspektive der Inklusion und können kaum mehr ohne sie thematisiert wer-

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den. Dies kann dann nützlich und sinnvoll sein, wenn hiermit verkrustete Strukturen aufgebrochen werden und letztlich mehr Teilhabe auch für ‚Behinderte‘ in gesellschaftlichen Bereichen ermöglicht wird. Allerdings führt das totalitäre Prinzip der Inklusion nicht selten dazu, dass andere und insbesondere sonderpädagogische Ansichten als rückständig, defizitär, stigmatisierend, diskriminierend und rassistisch gebrandmarkt werden und aus inklusionspädagogischer Sicht nicht nur zu vermeiden, sondern im Handeln und Denken letztlich zu eliminieren sind. Eine solche rigide und totalitäre Denkweise hat zwar recht wenig mit der vom inklusionspädagogischen Ansatz selbst eingeforderten Haltung der Wertschätzung von Vielfalt zu tun: Es zeigt aber genau die totalitäre Denkausrichtung dieses Ansatzes, demnach alle anderen Perspektiven verurteilt und als rassistisch gebrandmarkt werden, dass hier also demokratische Wege verlassen werden und in höchstem Maße ideologische und totalitaristische Prinzipien am Werk sind. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass Inklusion nach außen hin nicht nur rigide und als exklusives Konzept vertreten wird, sondern dass ihre theoretischen Prämissen andere Umgangsund Denkweisen als die der „Normalität der Verschiedenheit“ gar nicht mehr erst zulassen und nicht mehr zulassen können. Dieser totalitäre Vorgang erklärt außerdem, weshalb sonderpädagogisches Denken und bildungspolitische Entscheidungen inzwischen sehr häufig als inklusiv verkauft werden und die thematisierten Verwässerungsstrategien immer mehr um sich greifen. Zunächst beweist diese Tatsache den enormen Einfluss des inklusionspädagogischen Ansatzes auf das Denken und Handeln der Disziplin der Heil-und Sonderpädagogik und ihre Praxis. Die theoretische und praktische Heil- und Sonderpädagogik wird dem Anderen als solchem durch zuweilen überbordende intentionale und starr-separierende Förderstrategien häufig zwar nicht gerecht; sie hat jedoch viele sinnvolle Ansätze vorzuweisen, die deutlich gehaltvoller sind als die Plattitüden und bloßen Forderungen des inklusionspädagogischen Ansatzes. Aus diesem Grund ist es daher kläglich, dass sich die Disziplin häufig unhinterfragt dem inklusiv-ideologischen Zeitgeist unterwirft und, anstatt sich auf eigene Fachperspektiven und Sichtweisen zu berufen, diese als inklusiv anpreist. Wenn die Ausführungen an dieser Stelle sowie im zweiten Teil der Arbeit zutreffen: Warum muss man sinngemäß sagen, Inklusion braucht auch sonderpädagogische Perspektiven? Warum wird Inklusion immer schon als gut und richtig vorausgesetzt? Es gibt nicht einfach Inklusion, der sich sonderpädagogische Perspektiven umstandslos hinzugesellen könnten, sondern erstere ist ausdrücklich auf die Überwindung dieser Perspektiven angelegt. Die wesentliche Gefahr dieser Strategie besteht darin, dass die Disziplin so selbst zur Verwässerung ihrer eigenen disziplinären Konturen beiträgt, die letztlich in einer völligen Verflüssigung enden könnte. Davon betroffen könnte dann aber nicht nur die Disziplin selbst sein, sondern auch die Praxis, also diejenigen Menschen, denen bisher – zwar nicht immer und oft genug auch nicht angemessen – eine möglichst gebührende Aufmerksamkeit zuteil wurde. Wird der Pra-

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xis jedoch das totalitäre Prinzip der Inklusion übergestülpt, das keine anderen institutionellen und intersubjektiven Umgangsweisen mit Andersheit mehr kennt als die der „Normalität der Verschiedenheit“, dann kann dies verheerende Folgen für die Betroffenen haben, von denen im Folgenden noch die Rede sein wird. Allein jedoch die Tatsache, dass sich etwa jeweils mehr als ein Drittel der im Rahmen eines Forschungsprojektes befragten körper- und mehrfachbehinderten Schüler und ihre Eltern explizit und unabhängig von den Rahmenbedingungen an einer Regelschule auch weiterhin die Förderschule als den Ort schulischer Bildung wünschen (vgl. Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose 2012b; Singer 2015b: 158ff.), weist auf die Unangemessenheit dieses totalitären Ansatzes hin, der Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen nivelliert und ignoriert. Abgesehen von diesen institutionellen Konsequenzen ist es mehr als fragwürdig, was an die Stelle sonderpädagogischen Fachwissens, das der inklusionspädagogische Ansatz – konsequent betrachtet – nicht mehr zulässt, dann treten soll. Dem Ordnungsschwund der Ordnung der Dinge kann aber nicht nur durch eine Totalisierung – der Einbeziehung der relativen Verschiedenheit in ein Ganzes, zu dem es keine Alternative gibt – begegnet werden. Als eine andere Ersatzform, die etwas bescheidener auftritt, findet sich häufig auch eine Universalisierung durch Formalisierung (vgl. Waldenfels 1998a: 21). Hier interessiert nicht der Zerfall der Ordnung der Dinge, sondern der Ordnung in den Dingen. Diese Ersatzform bezeichnet Waldenfels in Abgrenzung zur Gesamtordnung als eine Grundordnung. Auch hier stellt sich die Frage, wie dem drohenden Chaos entgegengetreten werden kann. Handelt es sich bei der Gesamtordnung vorwiegend um die Frage der Wichtigkeit, des Guten, so tritt mit der Grundordnung die Frage nach der Richtigkeit von Verhaltensvorschriften in den Vordergrund. Es geht um die „Regeln, denen wir als Redende und Handelnde zu folgen haben, gleich wie es mit der ‚Ordnung der Dinge‘ […] bestellt sein mag“ (Waldenfels 1987: 98). Die Frage nach der wahren Welt verwandelt sich also in die Frage nach wahren Normen (vgl. ebd.: 99). Für deren Gültigkeit ist die Universalisierbarkeit der allgemeine Maßstab, das heißt, Normen müssen eine Geltung unter allen Umständen und für alle Betroffenen beanspruchen können (vgl. Waldenfels 2005b: 138; 1987: 100). Die Universalisierung besteht also darin, „daß konkrete Normen einem Maßstab unterworfen werden, der universale Gültigkeit verspricht, weil bei seiner Mißachtung jede moralisch-praktische Ordnung zusammenbräche“ (Waldenfels 1987: 102). Streng genommen, so Waldenfels, wird hier jedoch gar nichts universalisiert, „es wird nur ein universaler Gesichtspunkt gewählt, der es […] gestattet, bestimmte Normen zu eliminieren, ohne solche zu generieren“ (ebd.). Dennoch übt die Universalisierung einen Druck aus, „sofern sie alles dem Gesichtspunkt unterwirft, ohne daß dabei die Einseitigkeit und die Herkunft dieses Gesichtspunktes hinreichend bedacht wird“ (ebd.). Die Gültigkeit einer allgemeinen, universellen Norm steht also stets über der konkreten Norm. Damit aber wird der Prozess der Herausbildung von Normen übergangen, die Ent-

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stehungsprozesse von Ordnung verschwinden hinter der allgemeinen Faktifizierung (vgl. ebd.: 104). Unabhängig von all den Implikationen, die sich hier verbergen: Vom Prinzip her betrachtet tritt die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung nicht bloß als eine Gesamt-, sondern auch als eine Grundordnung im hier gezeigten Sinne auf. Genauer: Es handelt sich bei Inklusion um eine Mischform aus Gesamt- und Grundordnung. Der inklusive Kosmos verkörpert nicht nur das einzig Wahre, sondern innerhalb dieses Kosmos existieren ganz klare Verhaltensvorschriften, wie mit der Andersheit des Anderen umzugehen ist. Es geht um das einzig richtige Handeln im Umgang mit dem Anderen, wobei die universelle Norm dieses Umgangs jederzeit und ausschließlich – also unabhängig davon, mit wem wir es situativ zu tun haben – der Gesichtspunkt der „Normalität der Verschiedenheit“ ist, dem alles unterworfen wird. Jemanden als verschiedener oder anders verschieden zu erfahren und zu behandeln, stellt eine ‚Norm‘ dar, die diesem universellen Gesichtspunkt zuwiderläuft und die daher aus dem Wahrnehmen, Denken und Handeln zu entfernen ist. Allerdings sind die „Befugnisse eines Grundgerichtshofs der formalen Vernunft […] höchst begrenzt“ (Waldenfels 1998a: 22). Formale Bedingungen des Handelns können die Organisation von Handlungsfeldern nicht erklären, sie „können bestenfalls dazu beitragen, das Schlimmste zu verhindern“ (ebd.). Das Fremderfahrungsgeschehen im Kontext von Behinderung wird zeigen, wie diese Fremdansprüche, von denen Waldenfels spricht, wirksam werden können und welche Konsequenzen es haben kann, wenn diese situativen und habitualisierten Ansprüche mit dem universellen Maßstab der „Normalität der Verschiedenheit“ ignoriert und nivelliert werden. Die inklusionspädagogische universale Moral und Handlungsvorschrift der „Normalität der Verschiedenheit“ übergeht die intersubjektive Erfahrung im Kontext von Behinderung nicht nur, sondern sie will mit ihrem präskriptiven Charakter zugleich auf diese Erfahrungen einwirken, und zwar so, dass alle anderen Normen im Umgang mit Behinderung ausgeschlossen sind und der Anspruch des Fremden getilgt wird. Sie verkennt und leugnet die je situativ auftretenden Fremdansprüche der Erfahrung. Neben dem illusionären und ideologischen Versuch der Totalisierung, der dem Ganzheitsdenken verhaftet bleibt und der formalisierten Grundordnung, die sich mit ihrem universalen Gesichtspunkt als unzureichend für die Begründung der Herausbildung von Handlungsfeldern herausstellt, zeichnen sich mit dem Traditionalismus und dem Positivismus weitere Spielarten der Bewältigung des Ordnungsschwundes ab, die sich jeweils auf ihre Weise als problematisch erweisen. Als den gemeinsamen Widersacher, „der diese verschiedenen Bewältigungsstrategien zu einer Koalition vereint […]“ (Waldenfels 1998a: 24) und den Ordnungskritiker mundtot zu machen scheint, führt Waldenfels „die Angst auslösende Gefahr eines drohenden Chaos“ (ebd.) an. In der Anarchie verkörpere sich dieses Chaos als die Auflösung jeglicher Ordnung. Alles könnte hier ebensogut auch anders sein, alles wäre gleich-

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gültig, in-different (vgl. ebd.). Dem „reinen Wirklichkeitssinn“, der Berufung auf die Positivität jeglicher Ordnung, tritt ein „reiner Möglichkeitssinn“ als der Versuch einer völligen Entgrenzung der Möglichkeiten gegenüber. Beide zusammen geben in der abendländischen Tradition „vortreffliche Spielpartner“ ab, die dem Prinzip des Alles-oder-Nichts folgen, wie Waldenfels resümiert (vgl. ebd.: 24f.).12 Mit der Konzeption der begrenzten Ordnungen, wie sie Waldenfels erstmalig ausführlich in Ordnung im Zwielicht entwirft, wird eine Alternative aufgezeigt, die aus diesem dualistischen Denken herausführen soll, indem sie Ordnung und Unordnung nicht einfach gegeneinander ausspielt (vgl. ebd.: 25).13 Abgesehen davon, dass diese Ordnungskonzeption das Fremde vorbereitet, das eine alternative Sichtweise auf Heterogenität und den Umgang mit ihr ermöglicht, lassen sich mit der Genese von Ordnung weitere Kritikpunkte am inklusionspädagogischen Denken benennen, die allesamt mit der inklusiven Ordnungsvorstellung zusammenhängen, die als Gesamt- und Grundordnung gedacht ist. 4.1.5 Ordnung als Prozess der Selektion und Exklusion Waldenfels macht die Genese jeglicher Ordnung als einen Prozess der gleichzeitigen Selektion und Exklusion kenntlich, einem Zugleich der Ein- und Ausgrenzung bestimmter Perspektiven und Möglichkeiten. Dadurch wird nicht alles möglich, es ist jedoch immer mehr möglich als das, was sich verwirklicht, so ein tragender Gedanke dieser Ordnungskonzeption. Dasjenige, was sich dabei nicht verwirklicht, ist deswegen nicht irrelevant, sondern das Fremde macht sich sozusagen in seinem Entzogen-bleiben als das Außer-ordentliche einer Ordnung, als Unruhe, bemerkbar. Mit der Ordnungsgenese als einem Prozess der gleichzeitigen Ein- und Ausgren12 Zu bestimmten Folgen dieses Denkens vgl. u.a. die Ausführungen zu den Bereichen „Gewalt“ und „Technik“ in Der Stachel des Fremden, Kapitel 7: Grenzen der Legitimierung und die Frage nach der Gewalt sowie Kapitel 9: Reichweite der Technik (vgl. Waldenfels 1998a). Zur Technik vgl. auch Abschnitt VIII. Technische Eingriffe in die Erfahrung in den Bruchlinien der Erfahrung (vgl. Waldenfels 2002). 13 Waldenfels sieht vielfältige Zeichen für ein solches Umdenken gegeben, das nicht mehr auf das Prinzip des Alles-oder-Nichts rekurriert: „Ob man in der Philosophie und in den angrenzenden Wissenschaften von typischen Lebenseinstellungen und Weltdeutungen, von historisch-konkreten Lebenswelten und Lebensformen […], von wissenschaftlichen Paradigmen, von spezifischen Diskursen, von offen-begrenzten Rede- und Handlungsfeldern […] ausgeht, in all diesen Fällen haben wir es mit begrenzten Ordnungsbereichen und beweglichen Ordnungsvorgängen zu tun, die einem Gesetz des Mehr-oder-weniger an Offenheit und Geschlossenheit, an Innovation und Repetition, an Verwandtschaft und Fremdheit unterliegen, nicht aber einem Gesetz des Alles-oder-Nichts von Ordnungsfülle und Ordnungslosigkeit“ (Waldenfels 1998a: 25).

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zung wird eine bestimmte Grundfigur gezeigt, die sowohl für das Phänomen des Fremden als auch für die Konzeption der Responsivität tragend ist.14 Dieses Grundfaktum der Begrenztheit jeglicher Ordnung verweist zugleich auf die (radikale) Kontingenz einer jeden Ordnung, die eine zweite Bedingung für das Auftauchen des Fremden ist: „Die gleichzeitige Selektion und Exklusion führt dazu, daß es bestimmte Ordnungen gibt, nicht aber eine einzige Ordnung. Diese Kontingenz begrenzter Ordnungen bildet die Vorbedingung dafür, daß es Fremdes gibt, und zwar in dem präzisen Sinne, daß etwas sich dem Zugriff der Ordnung entzieht.“ (Waldenfels 1997a: 20) Das Fremde schimmert bei der Frage nach dem Ordentlichen und dem Außer-ordentlichen also bereits deutlich durch (vgl. Fischer/Gondek/ Liebsch 2001b: 8). Diese Überlegungen spielen sich vor dem Hintergrund ab, dass mit der ‚Entdeckung‘ der Kontingenz von Ordnung eine veränderte neuzeitliche Vernunftauffassung einhergeht, wodurch auch die Stellung des Subjekts als zentrale Ordnungsinstanz nicht unverschont bleibt. Als (minimale) Ausgangsdefinition bestimmt Waldenfels den Begriff der Ordnung wie folgt: „Ordnung […] im allgemeinen Sinne ist ein geregelter (d.h. nichtbeliebiger) Zusammenhang von diesem und jenem“ (Waldenfels 1987: 17). Auch die kosmologischen Ordnungen sind von diesem allgemeinen Ordnungsmuster geprägt. Die Ordnungsfunktion besteht demnach „in einem Zusammenhang, einem syn, einem cum: nur zusammen mit anderem ist etwas, was es ist.“ (Waldenfels 1999a: 171) Diese allgemeine Bestimmung jeglicher Ordnung arbeitet mit zwei wesentlichen Voraussetzungen: einem Vielerlei von Ordnungsgliedern sowie der Wiederholbarkeit der Ordnungsgestalt (vgl. ebd.: 171f.). Wären alle Bezugsglieder völlig gleichförmig, es gäbe nichts zu ordnen und dementsprechend keine Ordnung. Als Beispiel führt Waldenfels die Zahlen 7777 an, die sich nicht in einer Zahlenreihe anordnen lassen, „denn es käme immer dasselbe heraus“ (ebd.: 172). Die unausweichliche Konsequenz besteht darin, dass es ohne mögliche Abweichung keine Ordnung gäbe. Damit es zu diesem Kräftespiel kommt und überhaupt etwas vor sich geht „muß sich etwas von einem Hintergrund abheben und hervortreten“ (Waldenfels 1987: 55), etwas muss aus einem Feld heraustreten. Anderseits „gäbe es nur ein monotones Einerlei, wir hätten nichts, woran wir anknüpfen, worüber wir reden und woran wir uns betätigen könnten“ (ebd.). Am deutlichsten lässt sich das selektive und exklusive Verfahren jedes Zustandekommens von Ordnung unter Zuhilfenahme der Gestalttheorie formulieren. Im Rekurs auf die gestalttheoretischen Begriffe von Figur und Grund, womit Waldenfels an Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung anknüpft, wird etwas erst zur Gestalt oder zum Thema, indem es sich als „etwas, das als dieses auftritt“ (ebd.: 56) von einem Hintergrund abhebt. Für die Gestaltbildung ist anfangs nicht ein Chaos einfacher, isolierter Daten oder Elemente maßgeblich (vgl. Waldenfels 14 Zur Konzeption der Responsivität vgl. 5.2.

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1980: 134), sondern die Urdifferenz von Figur und Grund (vgl. Waldenfels 2000: 67). Ein zutreffendes Beispiel gibt Waldenfels mit dem Hören, wonach etwas hören heißt: „[E]twas tritt hervor, anderes, das ich auch hören könnte, tritt in den Hintergrund.“ (Ebd.) Gestaltbildung läuft also immer auf eine Differenz hinaus: „[I]ch höre etwas oder sehe etwas auf einem Hintergrund. Wenn wir eine homogene Fläche vor uns haben, sehen wir gar nichts.“ (Ebd.)15 Figur und Grund entstehen also gleichzeitig dadurch, dass eine Gestalt im Prozess der Gestaltbildung vor anderen möglichen Gestalten ausgewählt und bevorzugt wird und sich dabei „von einem mehr oder weniger unbestimmten, gleichförmigen, gleichgültigen Hintergrund (z.B. Farbiges gegen Farbloses, warme Farben gegen kalte Farben, Rot gegen Gelb usf.)“ (Waldenfels 1980: 134f.) abhebt. Dabei kommt es zur Organisation oder Ordnung eines Wahrnehmungsfeldes. Ordnung besagt in diesem Sinne eine Reduktion von Beliebigkeit. Der weitere Verlauf der Gestaltbildung geschieht „einmal durch zunehmende Differenzierung einer gegebenen Gestalt (etwa im Aufbau eines Farboder Lautsystems) […]“ (ebd.: 135). Zum anderen geschieht der Fortgang durch „Umgestaltung, also durch Bildung neuer Gestalten […]“ (ebd.). Der Prozess der Gestalt- oder Ordnungsbildung verläuft also als ein Prozess zunehmender Differenzierung, wobei anfangs weder ein unvermitteltes Chaos noch irgendeine Einheit steht, sondern ein gemeinsames Feld, aus dem sich etwas von seinem Hintergrund abhebt und hervortritt. Oder anders gesagt: „Am Anfang steht nicht eine Einheit, sondern eine Differenz. Der Glaube an eine ursprüngliche Einheit entspringt einem Einheitswahn“ (Waldenfels 1997a: 156), wie Waldenfels jeder Ordnung, die mit universalen Ansprüchen auftritt, entgegenhält. Nicht erst im Sprechen über etwas, sondern bereits auf der Ebene der Erfahrung bzw. bei der Organisation der Wahrnehmung kommt es damit zu einer ersten Form von Selektion und Exklusion, von Ein- und Ausgrenzung, da „[d]er Auftritt des einen […] Abtritt oder Nichtauftritt des anderen [bedeutet] […] (Waldenfels 1987: 56). Die Prozesse der Gestaltung und Strukturierung der Wahrnehmung unterliegen also einer gleichzeitigen Selektion und Exklusion, sofern bestimmte Möglichkeiten ausgewählt und andere situativ oder systematisch ausgeschlossen werden (vgl. Waldenfels 2005b: 25). Als Beleg für diesen selektiven und exklusiven Vorgang führt Waldenfels den Gestaltwechsel an, was „die Unmöglichkeit, verschiedene Gestalten bzw. Gestalt und Grund in einer Erfahrung zu realisieren“ (ebd.), bedeutet. Das entscheidende Moment, das als ein durchgängiges Leitmotiv der Waldenfels’schen Analysen fungiert, besteht demnach in einer nicht zu überbrückenden Kluft zwischen den Ordnungen, die aber zugleich auch nicht strikt voneinander getrennt sind:

15 Auch der phänomenologische Begriff des Horizonts würde sich zur Erläuterung dieses Grundgeschehens anbieten (vgl. Waldenfels 2000: 68).

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„Was seine Eigenart gewinnt, indem es sich auf spezifische Weise von anderem abhebt und von einem bestimmten Niveau abweicht, läuft auf keinen Konsens zu. Worin sollte eine Gestalt sich mit ihrem Hintergrund einigen? Umgekehrt zielt die Abweichung auch nicht auf einen Dissens ab, sie ist selbst eine genuine Form von Dissens und kein pervertierter Konsens.“ (Waldenfels 1995a: 9)

Allerdings bedeutet Selektion und Exklusion hierbei nicht „Auswahl aus bestehenden Erfahrungswirklichkeiten, sondern Auswahl aus sich anbietenden Erfahrungsmöglichkeiten, und dies im Sinne einer Verwirklichung des einen, was zugleich Verunmöglichung von anderem ist. Die Auswahl zwischen vorhandenen Angeboten kann erst beginnen, wenn eine Ordnung etabliert ist, auf die man zurückkommt.“ (Waldenfels 1987: 56)

Wie sich mit der Konzeption der Responsivität noch genauer zeigen wird, bedeutet diese Auswahl keinen subjektiven Akt: „Wollte man diesen Wirbel im Erfahrungsfeld, der bestimmte Muster erzeugt, willentlich und wissentlich hervorrufen, so müßte man vorweg schon über das verfügen, woraus man auswählt; man würde so nur fertige Erfahrungen sortieren, keine neuen machen, und von der Differenzierung in Figur und Grund bliebe schlechterdings nichts übrig.“ (Ebd.: 58)

Dass etwas auffällig wird, bedeutet ein spontanes Ereignis, das sich weder in einer vorgegebenen Welt erschöpft noch durch die Tätigkeiten des Subjekt erklären lässt (vgl. ebd.: 58f.). Eine fertige Welt hätte uns nichts mehr zu sagen, wir würden keine Erfahrungen mehr machen, sondern nur noch wiederholen. Was das sogenannte Subjekt betrifft, ist die Auswahl dessen, was relevant wird, nicht nur keine bloß subjektive Tätigkeit; sie ist zudem weder nur instinktiv noch nur durch die „Leitung der Vernunft“ erklärbar: „Im einen Falle hätte die Natur durch Erb- und Lernprogramme die Auswahl getroffen, reguliert durch den Druck des Überlebens, im anderen Falle hätte der Mensch sich als ‚Übertier‘ oder ‚Fast-Gott‘ (Nietzsche […]) seine Welt geschaffen“ (ebd.: 59). Das Zugleich von Ermöglichung und Verunmöglichung, von Einschließen und Ausschließen, meint also keinen versöhnbaren Gegensatz, sondern ist als ein in sich verschobenes Abweichen zu verstehen. Damit ist der Gesamtordnung widersprochen, die alles in sich vereinen will. Zugleich verweist dieses Etwas, das relevant wird, auf anderes, „das mit ihm auftritt und sich mehr oder weniger eng mit ihm verknüpft“ (ebd.: 60). Nur durch dieses Verwiesen-sein auf ein anderes wird ein Etwas zu einem bestimmten Etwas, einem Thema. Damit kommt es zu einer zweiten Ordnungsleistung:

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„Denn etwas, das sich lediglich von einem neutralen Hintergrund abhöbe, wäre ein Etwas überhaupt, aber kein bestimmtes Etwas. Insofern ist die Assoziation gleichursprünglich mit dem Etwas. Dieses erscheint als Knoten im Netz und nicht als einfaches und vereinzeltes Element, aus dem der Demiurg Beliebiges machen könnte, ohne dabei auf etwas anzusprechen. Ohne die ursprüngliche Verknüpfung mit anderem bliebe nur ein dissonantes Vielerlei, es blieben flüchtige Eindrücke, die von Phantomen nicht zu unterscheiden wären […]“ (ebd. : 60f.),

wie Waldenfels in Bezug auf Husserl ausführt. Dieser Prozess des Ordnens stellt einen zentralen und wichtigen Grundgedanken der Phänomenologie des Fremden dar; er bedeutet, dass Anomalien stets auf das Normale bezogen bleiben, ebenso, wie Fremdes nur im Zusammenhang mit Eigenem auftritt. Die Thematisierung des einen hat zur Folge, dass jede Thematisierung, die etwas in den Vordergrund rückt und Zusammenhänge stiftet, die Kehrseite einer Marginalisierung hat. Beides geschieht in eins, mit einem Schlage (vgl. ebd.: 61). Dabei hängt die Thematisierung stets auch vom Umfeld bzw. Kontext ab: „Was für den Bauern lästiges Unkraut ist, kann für den Botaniker ein seltenes, erhaltenswertes Gewächs sein. Das eine ‚gehört dazu‘, das andere nicht.“ (Ebd.) Das Thema gleicht damit „weniger einem Grundstein als einem Ort in der Landschaft, von dem aus sich Wege der Entdeckung und Erschließung öffnen. Die Regelung der Zusammenhänge besteht dann darin, daß bestimmte Verknüpfungs- und Fortführungsmöglichkeiten bevorzugt, andere zurückgedrängt werden. Auf diese Weise reduziert sich die Mehrwertigkeit und Vieldeutigkeit der Ereignisse.“ (Ebd.: 62)

Dieser Prozess der Marginalisierung geht, wie Waldenfels feststellt, „nicht in friedlichem Einvernehmen vonstatten. Ränder, welcher Art auch immer, ob Randerscheinungen, Randgruppen oder ‚Randvölker‘, entstehen dadurch, daß etwas an den Rand gedrängt wird, wo das Licht nicht mehr hinreicht.“ (Ebd.) Die Thematisierung hat eine gleichzeitige Marginalisierung zur Kehrseite. Ebenso wenig wie die Thematisierung, so ist auch die Marginalisierung zunächst kein bloß subjektiver Akt, beide vollziehen sich gemeinsam, mit einem Schlage. Allerdings steht das Marginalisierte stets in der Gefahr, dass ihm in der Folge innerhalb der dominierenden Ordnung kein Mitspracherecht mehr zukommt: „Was als inaktuell, marginal, atypisch, abnormal oder fremdartig beiseite gesetzt wird, rückt in den Schatten einer homogenen Ordnung, die allem ein einheitliches Maß anlegt.“ (Waldenfels 1998a: 248) Dies hat damit zu tun, dass etwas, das als Störung empfunden oder behandelt wird, eine Abwehr in Kraft treten lässt und versucht wird, das Thema gegen ablenkende Kräfte durchzuhalten (vgl. Waldenfels 1987: 62). Das Störende kann sich hierbei als „störendes Thema“ auch durchsetzen (vgl. Waldenfels 1987: 62),

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wenn mir beispielsweise der brachiale Lärm eines Laubsaugers meine Gedanken entrissen hat. Zu der ersten Voraussetzung jeglicher Ordnung, dem Vielerlei von Ordnungsgliedern bzw. der Abweichung oder Differenz, wodurch Ordnungsprozesse zugleich möglich und notwendig werden, muss der Ordnungsgenese als zweite und nicht minder entscheidende Bedingung eine Wiederholbarkeit der Ordnungsgestalt zukommen (vgl. Waldenfels 1999a: 172). Diese Wiederholbarkeit tritt dadurch hervor, dass etwas, das mit anderem auftritt, zugleich „als ein solches auf[tritt]“ (Waldenfels 1987: 63). Indem etwas als ein solches auftritt, tritt es wieder auf, etwas ist schon da, wenn ich von ihm spreche (vgl. ebd.: 64). Das Etwas konstituiert sich mit einem bestimmten thematischen Sinn, es „wird also jeweils im bestimmten Sinne bevorzugt“ (ebd.: 63).16 So leben wir, „je nachdem, wie der thematische Sinn sich modifiziert, […] in einer Welt der Töne, in einer Arbeits- oder Zeichenwelt bzw. in einer Welt der Wahrnehmung, der Erinnerung, der Phantasie oder der praktischen Entschlüsse“ (ebd.). Nur mit dieser Wiederholbarkeit, die jeweils in der Differenz des als auftritt, gelangen wir „zu einem Maß, das eine Konstellation mit der anderen vergleichbar macht. Ohne Vergleichbarkeit wäre wiederum jeder Zustand so gut wie der andere, jeder wäre gleichermaßen gültig, und es wäre gleichgültig, mit welchem Zustand wir es zu tun hätten.“ (Waldenfels 1999a: 172) Dass nirgends ein solcher Zustand der Indifferenz vorliegt, ist bereits auf der Ebene der sinnlichen Erfahrung der Fall, auf der Ordnungsprozesse bei sinnlichen Gestalten oder bestimmten Bewegungsrhythmen in Erscheinung treten (vgl. ebd.). Die Unausweichlichkeit der Ordnungsprozesse zeigt sich, wenn mit Waldenfels folgendes festgestellt werden kann: „Träte etwas nicht jeweils als ein solches auf, so wäre es kein Etwas, das seinen Augenblick überdauerte, es wäre unsagbar, reines Ereignis.“ (Waldenfels 1987: 63) Die Wiederholbarkeit verweist jedoch auf das Paradox, „daß etwas als dasselbe auftritt, obwohl doch dieses Wiederauftreten eine zumindest winzige Differenz ins Spiel bringt. Wiederholung ist die Wiederkehr des Ungleichen als eines Gleichen.“ (Ebd.: 64) In Anlehnung an Husserl, Schütz und Gurwitsch bezeichnet Waldenfels den Vorgang, dass „etwas und jemand auftritt, das stets nur ist, was und wer es ist, indem es auf sich zurückkommt, ohne bei sich anzukommen, und das auf diese Weise Zukunft hat“ (ebd.) – diese „sinnliche Idee“ wie es bei Merleau-Ponty auch heißt – als „Typus“ oder „Umrissgestalt“. Diese ist vergleichbar mit einem Stempelabdruck (vgl. ebd.), der zwar jeweils seine wesentlichen Umrisse, seine Gestalt hervortreten lässt, aber dabei niemals absolut identisch mit sich selbst ist. Was 16 Waldenfels verweist darauf, dass sich ein thematisches Objekt sowohl „in Form einer materialen Differenzierung: etwas als Werkzeug, Naturding, Symbol […]“ als auch „im Sinne einer qualitativen Differenzierung: etwas als Wahrgenommenes, Erinnertes, Vorgestelltes, Beurteiltes, Behandeltes […]“ (Waldenfels 1987: 63), konstituieren kann.

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soeben als Kehrseite von Thematisierung und Marginalisierung beschrieben wurde, entspricht hier einer Entstehung von Atypischem durch Herausbildung eines Typus, einer (wiederholbaren) Umrissgestalt. Die Konsequenz daraus ist, dass es kein schlechthin Atypisches, kein Atypisches an sich gibt, sondern dieses entspringt dem Prozess der gleichzeitigen Selektion und Exklusion, es entsteht jeweils nur in Abhebung von etwas anderem. Sowohl für Thema und Typus als auch für das, was als Atypisches auftritt, gilt also, dass diese jeweils bestimmten Prozessen der Typisierung bzw. in gleicher Weise der Marginalisierung unterliegen. Das Thema „verdichtet sich gleichzeitig zu einer bestimmten wiederholbaren Typik, es unterliegt Bedingungen der Normalisierung und verkörpert sich schließlich in bestimmten Habitualitäten, die dem Erfahrenen die Bekanntheitsstrukturen einer vertrauten Welt verleihen. Das Wahrnehmen selber verdichtet sich zu einem Wahrnehmungsglauben, der zum tragenden Bestand jeglicher Lebensform gehört.“ (Waldenfels 1998a: 247)

Der Typus ist jedoch ein „Wesen auf Zeit“ (vgl. Waldenfels 1987: 66), er ist nicht gegen Änderungen gefeit, weshalb das Atypische somit zum „Herd eines neuen Typus werden“ (ebd.) kann. Ausgeschlossen ist damit, dass es eine allgemeine und wahre Typik gibt, da „etwas als solches oder als anderes auftreten kann […]“ (ebd.: 65). So kann ein Gewässer beispielsweise „als Trinkwasserreservoir, als Fischteich, als Badesee oder als Abwässeraufnahme benutzt werden […]“ (ebd.); je nach Bezugnahme ändert sich also die Typik, also das, was als typisch gilt. Das entscheidende Moment, sowohl für die Begrenztheit der Ordnungen als auch für deren Kontingenz, kündigt sich in diesem eben angeklungenen und unscheinbaren als an. Die Formel des „etwas als etwas“ – von Waldenfels auch als signifikative Differenz bezeichnet 17 (vgl. u.a. Waldenfels 1980: 86, 129; 2002: 28; 2006: 35; 2008: 21) – stellt „gewissermaßen das methodische Nadelöhr der Phänomenologie [dar]“ (Waldenfels 2008: 49). Das „etwas als etwas“ verweist auf das Geschehen der Erfahrung als einen Prozess, „in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge Struktur und Gestalt annehmen“ (Waldenfels 1997a: 19). Es geht also nicht darum, Erfahrungen in methodisierter Form herzustellen und zu sammeln, sondern solche zu machen, was zugleich auch etwas durchmachen bedeutet (vgl. ebd).18 Die phänomenologische Erfahrungskonzeption richtet sich damit 17 Die signifikative Differenz bezeichnet eine Grunddifferenz von Sachbezug und Zugangsweise bzw. Erfassung und Auffassungsweise, zwischen dem, was das philosophische Denken sucht und der Art und Weise, wie es dies tut (vgl. Waldenfels 2008: 48). 18 Es kann mit dieser Arbeit keine gesonderte Erörterung des Erfahrungsbegriffes gegeben werden. Wie Stenger seinen ausführlichen Überlegungen zum Begriff der Erfahrung voranstellt, gibt es wahrscheinlich keinen ungeklärteren Begriff (vgl. Stenger 2006: 267). An dieser Stelle soll deshalb lediglich die Erfahrungsstruktur des „etwas als etwas“ in ih-

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gegen den neuzeitlichen Begriff von Erfahrung, also sowohl „gegen einen Empirismus, der sich auf vorgefundene oder hergestellte Tatsachen verläßt […]“ (ebd.) als auch „gegen einen Rationalismus, der von vorentworfenen Denkschemata und Kategorien ausgeht“ (ebd.). Entgegen diesen beiden Sichtweisen beschreitet die Phänomenologie der Wahrnehmung einen mittleren Weg und geht davon aus, „daß in der Erfahrung selbst immer schon bestimmte Organisationsformen im Spiel sind“ (Waldenfels 2000: 65). Als ein Prozess gleichzeitiger Selektion und Exklusion ist das etwas eben nicht, sondern „[e]s wird zu etwas, indem es einen Sinn empfängt und damit sagbar, traktierbar, wiederholbar wird“ (Waldenfels 2006: 38). Erfahrung im phänomenologischen Sinne besteht demnach nicht darin, „dass jemand oder ein Akt etwas vorstellt, sondern darin, daß sich jemandem etwas als etwas zeigt“ (Waldenfels 1999a: 121). Dass uns etwas als etwas, das heißt in einer bestimmten Bedeutung, einem bestimmten Sinn, einer bestimmten Gestalt, Struktur oder Regelung erscheint (vgl. Waldenfels 1980: 129; 1997a: 19), bezeichnet der phänomenologische Terminus der Intentionalität. Die Intentionalität fungiert somit auch als das Schibboleth der Phänomenologie (vgl. Waldenfels 2006: 34). Das Erfahrungsgeschehen vollzieht sich demnach durchgehend in der intentionalen Struktur des etwas als etwas. Da sich Sinn oder Rationalität in der Erfahrung bildet, so MerleauPonty (vgl. Merleau-Ponty 1966: 17)19, kommt es durch diese grundsätzliche offene Erfahrungsstruktur nicht zuletzt zu einer Entkräftung des Vorurteils einer fertig vorgegebenen Welt. Ordnen als ein Prozess des Gleichsetzens des Nichtgleichen Wenn es also zutrifft, dass jegliche Genese von Ordnung ein Vielerlei der Ordnungsglieder sowie eine Wiederholbarkeit der Ordnungsgestalt voraussetzt, die in der Differenz des Als hervortritt, so bedeutet der Prozess des Ordnens ein „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ (vgl. Waldenfels 1998a: 246). Dieses „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ bringt es mit sich, dass etwas gleichgemacht wird, was nicht selber schon von gleicher Art ist (vgl. ebd.: 246f.), oder mit anderen Worten: Was „gleichgesetzt ist, ist nur gleichgesetzt, es ist nicht gleich (ebd.: 185), „[w]as einem rer Relevanz für die Ordnungsproblematik sowie die daran anknüpfenden Aspekte thematisiert werden. Zum Erfahrungsbegriff aus phänomenologischer Perspektive vgl. neben den durchgängigen Ausführungen von Waldenfels exemplarisch Stenger (2006: v.a. 267303) und Tengelyi (2007). Zum Erfahrungsbegriff in pädagogischen Kontexten, insbesondere in lerntheoretischer Hinsicht, vgl. das grundlegende Werk Bucks Lernen und Erfahrung (1989). 19 „Rationalität bemißt sich […] genau an der Erfahrung, in der sie sich enthüllt“ (MerleauPonty 1966: 17), so Merleau-Ponty, der weiter wie folgt fortfährt: „Die phänomenologische Welt ist nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Gründung des Seins […]“ (ebd.).

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anderen gleichgestellt wird, ist ihm nicht gleich; ohne eine minimale Differenz wäre nichts gleichzustellen“ (ebd.: 26). Das Gleichsetzen des Nicht-Gleichen ist nichts, was uns zur Wahl gestellt wäre, so, als könnten wir uns diesem Faktum spontan entziehen. Vielmehr stellt es eine unausweichliche Bedingung jeglicher Ordnungsgenese und eines jeden Ordnungsprozesses dar: „Ohne solche Ordnungsprozesse gäbe es buchstäblich nichts und niemanden, dem man bestimmte Eigenschaften zuschreiben könnte.“ (Waldenfels 1999a: 172) Der Prozess des Ordnens als ein „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ führt unweigerlich dazu, dass mit jeder Verwirklichung einer Ordnung andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden, dass der Ordnungsprozess immer selektiv und exklusiv verfährt: Das Moment des Zwielichtigen einer Ordnung besteht genau darin, „daß Ordnung Erfahrungen gleichzeitig ermöglicht und verunmöglicht, daß sie aufbaut und abbaut, daß sie ausgrenzt, indem sie eingrenzt, ausschließt, indem sie auswählt, kurz: daß Licht und Schatten ineinanderspielen“ (Waldenfels 1987: 173). Ein eindrückliches Beispiel hierfür gibt Waldenfels immer wieder mit dem Erlernen der Muttersprache, das „eo ipso Fremdsprachen entstehen lässt, die dem eigenen Verstehen mehr oder weniger verschlossen bleiben“ (Waldenfels 2002: 241). Die Kritik Waldenfels` richtet sich demnach in keiner Weise gegen das Gleichsetzen als solchem: „Es geht wohlgemerkt nicht darum, dieses Gleichsetzen zu verdammen, wie Verteidiger einer einheitlichen Gesamt- oder Grundordnung ihren Gegnern so gern unterstellen. Das Gleichsetzen gehört zu jeder Ordnungsleistung, die etwas in eine Ordnung bringt, was nicht schon vorweg dieser Ordnung angehört.“ (Waldenfels 2006: 127f.) Worauf Waldenfels mit den Worten Nietzsches vom Gleichsetzen des Nicht-Gleichen jedoch unermüdlich pocht, ist, „die Genese von Ordnungen und damit auch ihre innere Kontingenz sichtbar zu machen“ (ebd.: 127). Er legt den Schwerpunkt seiner Ausführungen deshalb auf die Genealogie von Ordnung und deren kontingente Bedingungen, um damit das, was als selbstverständlich gilt, seines Scheins von Natürlichkeit zu berauben (vgl. Waldenfels 1998a: 248).20 4.1.6 Die Kontingenz von Ordnung: Ordnung im Potentialis Die Konzeption begrenzter Ordnungen, die sich mit der Genese von Ordnung als einem Prozess der Selektion und Exklusion vehement gegen eine alles integrierende Gesamtordnung stellt, wie dies mit der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung vorgesehen ist, geht mit dem Moment der (radikalen) Kontingenz von Ordnungen noch einen Schritt weiter. Genauer: Die Kontingenz von Ordnung hängt 20 Aus dieser Perspektive ist das inklusionspädagogische Paradigma der Verdammung von jeglichen definierenden Ordnungsprozessen auch im Kontext einer Dekategorisierung von Behinderung kritisch zu betrachten (vgl. hierzu 4.4).

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unmittelbar mit der Selektivität und Exklusivität der Genese von Ordnung zusammen. Um den Aspekt der Kontingenz zu verdeutlichen, ist es zunächst hilfreich, zwischen einer moderaten und einer radikalen Form der Kontingenz zu unterscheiden. Kontingenz, als ein Andersseinkönnen oder Anderstunkönnen, betrifft in ihrer moderaten Form lediglich Spielräume innerhalb einer Ordnung (vgl. Waldenfels 1999a: 173). Wird nur eine solche Form der Kontingenz zugelassen, dann befindet sich die Ordnung einerseits im Streit mit der Unordnung, dem hypostasierten Chaos, wie dies in der Gesamtordnung der Fall ist. Andererseits gibt es einen Streit lediglich innerhalb der Ordnung, „der durch die Orientierung an einem Kosmos, einem Logos, einer allgemeinen Vernunft gebändigt und in Schranken gehalten wird“ (Waldenfels 2005a: 149). Dabei wird – solange sich eine Gesamt- oder Grundordnung aufrechterhält – „alles, was den Spielraum der allgemeinen Ordnung überschreitet, als ordnungslos, vernunftwidrig, böse oder pervers betrachtet […]“ (Waldenfels 1999a: 174). In ihrer radikalen Form, und sie ist es, die hier interessiert, betrifft die Kontingenz die Ordnung selbst: „[N]icht nur etwas innerhalb der jeweiligen Ordnung, sondern diese selbst kann anders sein.“ (Ebd.; vgl. Waldenfels 2008: 52) Diese radikale Form der Kontingenz der Ordnung kündigt sich in der intentionalen Erfahrungsstruktur des „etwas als etwas“ an. Die Kontingenz der Ordnung bezieht sich dabei zunächst auf die Ordnungsgrenzen: „Daß etwas als etwas erscheint besagt eo ipso, daß etwas so und nicht vielmehr anders erscheint.“ (Waldenfels 2006: 36) Etwas wird also in einem bestimmten Sinne bzw. unter einer bestimmten Perspektive bevorzugt.21 Prägnanter: „Eine jegliche Ordnung ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Verkörperung eines bestimmten Gesichtspunktes, als ein Gesichtsfeld, das seine spezifische Optik, seine eigene Perspektive hat: ein so und nicht anders.“ (Waldenfels 2002: 255) Als Kehrseite hat diese immer schon stattgefundene Einnahme eines bestimmten Gesichtspunktes eine Verunmöglichung anderer Perspektiven zur Folge22, wodurch „bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten ausge21 Weitere Beispiele gibt Waldenfels auch an dieser Stelle: „Eine Pflanze wird als Heilkraut verwendet oder als Unkraut abgetan; ein Messer dient als Eßgerät oder als Waffe; eine Geldzuwendung wird als Spende oder als Bestechung bewertet; ein Ausländer wird als Asylbewerber behandelt oder als illegaler Einwanderer.“ (Waldenfels 2006: 37) 22 Dieses Geschehen verweist zugleich auf die Phänomenologie als Lehre von den Gesichtspunkten. Die Phänomenologie nimmt damit selbst – ebenso wie die Hermeneutik – einen okkasionellen Zug an (vgl. Waldenfels 2008: 48; 2006: 37). Dies bedeutet, dass sich der Gesichtspunkt, unter dem etwas erscheint, abhebt von anderen Gesichtspunkten, welche in ein Bezugsfeld eingebettet sind, wonach „etwas […] hier und nicht dort [auftritt], heute und nicht gestern […], als dieses und nicht als jenes, als etwas und nicht als jemand, als Ich und nicht als Du […]“ (Waldenfels 2008: 22). Auf diese unabänderliche

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sondert, andere ausgeschlossen sind“ (Waldenfels 1997a: 20). Die Einnahme des Gesichtspunkts geschieht immer von einem bestimmten, kontingenten Standpunkt aus, der sich dadurch als begrenzt und begrenzend zugleich herausstellt. Jede Perspektive, unter der etwas oder jemand erscheint, ist daher situativ, einem leiblichem Hier und Jetzt verhaftet, was gleichfalls bestimmte historisch-kulturelle Bedingungen mit einschließt. Diese primäre Selektion, die Alternativen schafft, ist dabei „grundlegender als die sekundäre Wahlhandlung, die sich auf vorgegebene Alternativen stützt. Auf diese Weise machen Gesichtspunkte möglich, indem sie unmöglich machen; sie grenzen ein, indem sie ausgrenzen.“ (Waldenfels 2008: 23) Das „indem“ betont dabei die Unmöglichkeit eines Alles-zugleich, eines unversöhnbaren Gegensatzes, der aus dem Zugleich von Ein- und Ausgrenzung resultiert. Erfahrungen verweisen also auf Ordnungen, die in bestimmten Grenzen variieren, die aber niemals alles zugleich möglich werden lassen, womit dem Anspruch einer alles vereinnahmenden Gesamtordnung widersprochen ist. Kurz: Die Grenzen einer jeglichen Ordnung sind durch das „so und nicht anders“ zwar verschiebbar, aber nicht aufhebbar (vgl. Waldenfels 1999a: 175), wie es das Postulat einer völlig entgrenzten inklusiven Ordnung zu sein vorgibt. Die radikale Form der Kontingenz von Ordnung wirkt sich aber nicht nur auf die Ordnungsgrenzen, sondern auch auf entstehende Ordnungskonflikte aus. Nicht mehr nur Ordnung und bloße Ordnungslosigkeit stehen sich fortan gegenüber, sondern eine Ordnung setzt sich gegen eine andere durch, die Ordnung selbst steht als zu erfindende auf dem Spiel und nicht nur als gefährdete und zu erhaltende (vgl. Waldenfels 2005a: 150). Wie im Falle der Organisation der Wahrnehmung, bei der sich eine Gestalt gegenüber anderen durchsetzt, kommt es zwischen den Ordnungen zu einem Widerstreit im Sinne Lyotards, der durch keine vermittelnde Instanz beigelegt werden kann (vgl. Waldenfels 1999a: 175).23 Die Figur des Widerstreits verweist auf das keineswegs einen Mangel bezeichnende Geschehen, dass sich nicht alles zugleich verwirklichen kann, was darauf einen Anspruch erhebt. Uns begegnet in unserer Erfahrung mehr, „als wir mit den Ordnungen unserer Erfahrung Tatsache rekurrierten auch Husserls Begriff des „Nullpunkts“ sowie Karl Bühlers Konzeption des Zeigefeldes als „Hier-Jetzt-Ich-System“ (vgl. ebd.; 2006: 37; 2002: 272). 23 Zur ausführlicheren Darstellung des Widerstreits vgl. zu Jean-Francois Lyotard die Kapitel 8: Widerspruch und Widerstreit in phänomenologischer Hinsicht in Idiome des Denkens (vgl. Waldenfels 2005a: 147-162) sowie Kapitel 16: Ethik im Widerstreit der Diskurse in Deutsch-französische Gedankengänge I (vgl. Waldenfels 1995a: 265-283). Lyotard verlegt den Widerstreit auf die Ebene der Satzbildung in der Rede. In diesem Sinne ist der Widerstreit bei Lyotard ein „Streit zwischen verschiedenen Diskursen, der im Raume kontingenter Satzereignisse immer wieder neu aufflammt“ (Waldenfels 2005a: 148) und der durch keinen universalen Diskurs je beizulegen wäre. Zum Widerstreit aus phänomenologischer Perspektive vgl. u.a. auch Tengelyi (2007: 21-48).

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auffangen, vereinbaren und bewältigen können […] (Waldenfels 1997a: 63). Wie etwas oder jemand erscheint, als dieses oder als dieser, hebt sich auf der Ebene der Erfahrung stets ab von einem Spielraum kontingenter Möglichkeiten. Als kontingent erweisen sich diese Möglichkeiten insofern, da die Ordnung, wie etwas oder jemand erscheint, nicht mehr fest verankert in den Dingen vorliegt. Das Wie ist nicht mehr einem vorgängigen und eindeutigen Was unterworfen, wie im Falle der Gesamtordnung, die bloß die Gegensätze von Ordnung und Chaos kennt. Vielmehr, so Waldenfels, „[wird] [d]ie Einbeziehung des Wie in ein Was […] brüchig, wenn die Art und Weise, wie etwas erfahren, gesagt oder getan wird, die Dinge selbst zugleich enthüllt und verhüllt, vorstellt und verstellt, wenn also der Zugang zu ihnen zugleich ermöglicht und verunmöglicht wird“ (Waldenfels 2008: 52). Die Selektivität und Exklusivität sowie die damit einhergehende Kontingenz der Ordnung führt nun dazu, dass sich eine Gesamtordnung, die sich auf ein scheinbares Ganzes stützt, nicht mehr aufrechterhalten lässt. Wenn es zutrifft, dass jede Ordnung selektiv und exklusiv, keineswegs jedoch komprehensiv im Sinne einer alles umfassenden Einheit auftritt, „dann scheitert“, so Waldenfels, „die Suche nach einem unerschütterlichen Fundament […]“ (ebd.). Weiter stellt er dazu mit Nietzsche fest, dass das Prinzip des zureichenden Grundes einem Abgrund unzureichender Gründe weicht (vgl. ebd.). Weder die kosmische Gesamtordnung noch eine normative Grundordnung sind in der Lage, diese Abgründe, die innerhalb einer einzelnen Ordnung und zwischen verschiedenen Ordnungen aufklaffen, zu schließen (vgl. Waldenfels 1987: 173). Dies begründet sich dadurch, dass die möglichen Welten, die durch die wirklichen Welten ausgeschlossenen werden, „sich keinem einheitlich strukturierten Welthorizont und keinem einheitlich vorgezeichneten Weltablauf eingliedern [lassen], weil sie Alternativen darstellen, die sich nicht gleichzeitig realisieren lassen“ (Waldenfels 1998a: 93). Als Alternativen entziehen sich die möglichen Welten der entstehenden Ordnung als deren Außen. Somit kann eine Ordnung als bestimmte Ordnung nicht die Ordnung schlechthin sein. Gibt sie sich dennoch als eine solche zu verstehen und verleugnet ihre eigene Kontingenz, kommt es zu einer „Gewalt der Vernunft, zu einer ‚Tyrannei des Logos‘ […]“ (Waldenfels 1995a: 19), wie Waldenfels mit Nietzsche resümiert. Die Ausführungen Waldenfels’ spielen damit auf das variable Grundfaktum des „es gibt Ordnung“ an, das zugleich zum Kern der Problematik führt. So lassen sich zwar für jede Ordnung jeweils notwendige und einschränkende Bedingungen anführen, die im Sinne des Gleichsetzens des Nichtgleichen zur Einschränkung der Beliebigkeit führen und aus einem Überfluss an verschiedenartigen Möglichkeiten resultieren (vgl. ebd.: 418).24 Für das Grundfaktum des „es gibt Ordnung“ lassen sich 24 Wie Waldenfels hierzu feststellt, geschieht diese Einschränkung „in verschiedenartigen Ordnungen, die teils natürlich-genetisch, teils kulturell-traditional vorgeprägt sind“ (Waldenfels 1995a: 418). Dies trifft ihm zufolge auf Sprachordnungen ebenso zu wie auf Mo-

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jedoch aufgrund der gleichzeitigen Selektion und Exklusion keine zureichenden Gründe finden. Jeder Ordnung haftet also ein Moment grundloser Positivität an, was bedeutet, dass etwas anders sein kann, als es ist. Dabei kann jedoch nicht alles anders sein und es kann auch nicht ganz anders sein (vgl. Waldenfels 1987: 108). Das „es gibt“ Rationalität (Merleau-Ponty) oder „es gibt“ Ordnung (Foucault) besagt, da es auf keinem zureichenden Grund steht, dass es nicht mehr die eine allumfassende Ordnung, nicht mehr die Rationalität gibt. Die große Gesamtordnung gerät ins Zwielicht, wobei die ‚Entdeckung‘ einer radikalen Kontingenz die Ordnung selbst antastet. Das Ganze, die große allumfassende Ordnung zersplittert und „zerfasert sich in eine Vielzahl von Ordnungen, die nicht länger mehr allumfassend, sondern jeweils auf besondere Weise beschränkt und beschränkend zugleich sind“ (Waldenfels 2005b: 81f.).25 Rationalität und Ordnung treten in den Plural. Es gibt keinen einheitlichen Maßstab im Sinne einer Gesamt- oder Grundordnung mehr, dem sie ein- oder untergeordnet werden. In der Folge des Schwunds der großen Ordnungen stehen sich nicht mehr bloß Ordnung und Unordnung, Rationalität und Irrationalität gegenüber, sondern indem die Ordnung selbst angetastet wird, kann sie in eine andere Ordnung übergehen, sie kann anders sein, als sie ist (vgl. Waldenfels 2006: 19): Die Ordnungen, in denen wir wahrnehmen, denken und handeln, „erweisen sich als Ordnungen im Potentialis“ (ebd.). Hiermit dringen unweigerlich Momente der Kontingenz, der Positivität und des Machtkonflikts in die Kernzone der Vernunft ein (vgl. Waldenfels 2005b: 9, 120). Die Macht schlägt dann in Gewalt um, wenn versucht wird, die unzureichenden Gründe zu schließen, „sei es, daß Ansprüche, Alternativen und Vieldeutigkeiten in ein Ganzes gezwungen werden, sei es, daß sie zur Rettung universaler Maßstäbe entwertet und entkräftet werden“ (Waldenfels 1987: 111). Mit der inklusionspädagogischen Ordnung passiert beides: Das unterschiedliche Anderssein wird vor dem Hintergrund der Vorstellung vom Ganzen bis hin zu seiner völligen Normalisierung zu relativieren versucht; zugleich erfolgt mit dem universellen Maßstab der individuellen Verschiedenheit eine Entwertung eigenständiger Ordnungen leiblichen Daseins.

ralordnungen. Kurz: „Es gibt keinen menschlichen Tatbestand, der nicht in einem bestimmten Deutungsrahmen aufträte.“ (Ebd.) 25 Der Weg der Vernunftkritik, insbesondere in der französischen Denktradition, führt mit Waldenfels von der „Verkörperung der Vernunft“, die bereits bei Husserl angelegt ist, über Merleau-Ponty, der von einer „Erweiterung der Vernunft“ spricht, bis hin zu Foucault und Derrida, bei denen „sich die Sache bis zur Zerstreuung der Vernunft [steigert]“ (Waldenfels 1995a: 40). Differenzierte Auseinandersetzungen mit diesen Autoren finden sich insbesondere in den Deutsch-Französischen Gedankengängen I und II (vgl. Waldenfels 1995a; 2005a).

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Die Kontingenz der Ordnung, die in dem „es gibt“ hervortritt, macht deren Genese als ein Ereignis der Stiftung kenntlich: Das Ereignis der Stiftung ist immer schon geschehen, wenn wir uns darauf beziehen, als Ereignis entzieht es sich der Ordnung, die es entstehen lässt: Es fällt mit dieser nicht zusammen. Kurz: „Die Grenze liegt in der Unmöglichkeit, eine Ordnung in sich selbst zu fassen.“ (Waldenfels 2001: 440) Um diesen Entzug der Ordnungsstiftung – und somit auch das Moment der Grenzziehung – zu verdeutlichen, greift Waldenfels auf das Beispiel der Protokollierung des Vertragsabschlusses zurück, „die alle eingegangenen Verpflichtungen festhält, jedoch so, daß die Einhaltung der Verpflichtung nicht selbst Teil des Vertrags ist“ (Waldenfels 1999a: 176f.). Würde man versuchen, die Einhaltung der Verpflichtung in den Vertrag aufzunehmen, „so wäre dies so, wenn der Standort, an dem jemand sich mit Hilfe des Wegplanes orientiert, zusammenfiele mit dem roten Punkt, der diesen Standpunkt auf dem Wegplan markiert“ (ebd.: 177). Der Vertragsabschluss lässt sich demnach, und dies trifft in gleicher Weise auf die Grenzziehung als das Moment der Ordnungsstiftung zu, nur als Spur fassen, er wird nur „indirekt in der Veränderung meiner Verbindlichkeiten faßbar […]“ (Waldenfels 2006: 26), wie Waldenfels den Selbstentzug der Grenzziehung umschreibt. Diesen Entzug des Moments der Ordnungsstiftung bzw. der Grenzziehung macht auch der „blinde Fleck“ deutlich, der Standpunkt, „an dem das Sehen stattfindet und das als Blickereignis selbst nicht unter das Gesehene fällt […] (Waldenfels 1999a: 196). Zudem ließe sich der Selbstentzug auch mit dem „Nullpunkt“ des leiblichen Hier und Jetzt vergleichen. Letzterer ist dabei weder diesseits noch jenseits der Grenze angesiedelt, weshalb die fungierende Grenze „kein datierbares Etwas […] und auch nicht Nichts [ist], weil es ohne sie weder dieses noch jenes, weder mich noch Anderes gäbe“ (Waldenfels 2006: 26). Der Anschein einer immer schon natur-, gott- oder kulturgegebenen Ordnung entsteht demnach genau dann, wenn das Ereignis der Ordnungsstiftung der Ordnung selbst zugeschlagen wird (vgl. Waldenfels 1997a: 157), wenn also eine Ordnung die kontingenten Bedingungen ihres Zustandekommens verleugnet. Im Namen der Vernunft wird dabei mehr oder weniger gewaltsam versucht, die Kontingenz alternativer Ordnungen bruchlos in die Gesamt- oder Grundordnung einzufügen, „so daß eine Ordnung obsiegt, die in ihrer Allgemeinheit keine Fremdheit mehr kennt“ (ebd.: 81). So stellt sich auch der Totalitarismus einer Gesamtordnung als der Versuch dar, „die Ordnungsstiftung selbst noch in die bestehende Ordnung zu integrieren und sie den Regelungen dieser Ordnung zu unterwerfen“ (Waldenfels1999a: 177). Durch die Verleugnung der eigenen Kontingenz tendiert jedes Ordnungsdenken, das von einer Gesamtordnung ausgeht, dazu, „die Ein- und Ausgrenzung auf den Gegensatz von Ordnung und Chaos, von Vernunft und Unvernunft, von Mäßigkeit und Hybris, von Gut und Böse zu reduzieren“ (ebd.: 192). Der Kosmos bestimmt sich hier als eine Ordnung „ohne Andersartigkeit, ohne Außen,

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ohne Außer-ordentliches“ (ebd.: 193), also ganz so, wie es dem inklusionspädagogischen Ansatz vorschwebt.

4.2 KRITIK AN DER INKLUSIONSPÄDAGOGISCHEN ORDNUNGSVORSTELLUNG Mit der Konzeption begrenzter Ordnungen geht eine vehemente Kritik an einer Gesamtordnung einher, die alles und jeden vereinnahmen und in ein Ganzes einbeziehen will. Die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung konnte als ein solcher Versuch der Totalisierung gekennzeichnet werden. Zugleich entspricht sie den Kriterien einer Grundordnung, insofern sämtliche Ordnungen dem universellen Maßstab der individuellen Verschiedenheit untergeordnet werden, mit dem Ziel ihrer völligen Normalisierung. Die Konzeption der begrenzten Ordnung, die mit dem Moment der Überschreitung von Ordnungsgrenzen sogleich noch erweitert wird, macht jedoch darauf aufmerksam, dass eine Gesamtordnung ausgeschlossen ist, „die alle und alles in einem umfassenden Ziel vereint, und ebenso ausgeschlossen wird eine Grundordnung, die jedermanns Handlung ausnahmslos einer Grundordnung unterwirft. Ausgeschlossen ist schließlich, daß wir uns alle zu einem rein inklusiven Wir vereinen.“ (Waldenfels 2002: 259) Die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung erweist sich nicht nur als ein Totalisierungsversuch, sondern unter der Voraussetzung der kontingenten Genese von Ordnung als einem Prozess der Selektion und Exklusion tritt sie zugleich als völlig illusorisch in Erscheinung. Allerdings haben wir es hier mit keiner harmlosen, sondern einer sehr machtvollen Illusion zu tun, die ihre Potenz aus der großen gesellschaftspolitischen Strahlkraft zieht. Hinter dieser Illusion, und mit ihr einhergehend, verbirgt sich ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotential, das klar zu benennen ist. Dieses Gefahrenpotential ist keineswegs ein Grenzfallargument im Sinne des Aufbaus eines Bedrohungsszenarios, um Inklusion zu erschweren oder zu verzögern (vgl. hierzu Klemm/Preuss-Lausitz 2011: 42); für dieses Bedrohungsszenario sorgt der inklusionspädagogische Ansatz samt seiner Prämissen selbst.26 Die Konzeption begrenzter Ordnung ermöglicht es, die Gefahren des inklusionspädagogischen Denkens und Handelns begründeter Weise offen zu legen. Das illusorische Moment dieses Ansatzes besteht in der Annahme, dass sich alle Ordnungen bruchlos in eine Gesamtordnung einbeziehen ließen. Das selektive und exklusive Zustandekommen einer jeden Ordnung, das bedeutet, dass immer mehr möglich als wirklich ist, verhindert, dass sich alle Ordnungen in einer Gesamtordnung vereinen und hierin zur Ruhe kommen. Eine Gesamtordnung wie die der Inklusion, die alles und jeden umfassen würde, wäre eine völlig entgrenzte Ordnung, 26 Vgl. hierzu und zum folgenden Abschnitt auch Singer (2015a: 69ff.).

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die in ihrer Allgemeinheit keine Fremdheit mehr kennt. Die widerstreitenden Erfahrungen verhindern jedoch ganz grundsätzlich, dass sich die als Alternativen ausgeschlossenen Möglichkeiten in einer Art Synthese vereinen. Jede entstehende Ordnung bringt notwendigerweise ihre eigenen Grenzen mit hervor. Ohne diese intentional verfasste Struktur der Erfahrung könnten wir etwas niemals als etwas wahrnehmen und benennen. Die Auflösung dieses ‚als‘ in einer Gesamtordnung, die alle Möglichkeiten zugleich umfassen würde, würde bedeuten, dass es kein Thema und keine Typik mehr gibt, sprich, dass sich unsere Wahrnehmung selbst überwunden hätte. Das notwendige Gleichsetzen des Nichtgleichen würde sich in ein Nichts verwandeln, wir könnten weder etwas noch jemanden wahrnehmen. Das Skurrile des inklusionspädagogischen Ansatzes besteht jedoch darin, dass die angestrebte Realisierung der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ genau einen solchen Zustand zur Folge hätte. Auch wenn sich Hinz gegen den Vorwurf der Indifferenz zur Wehr setzt (vgl. u.a. Hinz/Köpfer 2016: 38): Die Annahme, alles sei normal verschieden, bedeutet nichts anderes, als dass alles auch beliebig sein könnte. Eine solche Sichtweise verkennt nicht nur das intentional verfasste Geschehen der Erfahrung, sondern damit wird ebenso geleugnet, dass es so etwas wie einen habitualisierten Wahrnehmungsglauben gibt, ohne den wir uns in der Welt nicht bewegen könnten. Dies alles mag zwar zutreffen. Zum Problem – und durch ihr gesellschaftspolitisches Wirken letztlich auch zur Gefahr – wird die inklusionspädagogische Sichtweise aber vollends aus dem Grund, dass mit diesem Ansatz die eigene kontingente Perspektive verabsolutiert und damit zugleich verleugnet wird. Die Kontingenz einer jeden Ordnung besagt, dass eine bestimmte Ordnung nicht die Ordnung schlechthin sein kann. Dies hängt damit zusammen, dass jegliche Ordnung bestimmte Perspektiven ermöglicht, indem andere hierdurch verschlossen bleiben. Jede Perspektive bleibt rückgebunden an ein leibliches Hier, das ‚wir‘ sagt: „Es gibt keine unbedingten Äußerungen und keine unbedingten Handlungen.“ (Waldenfels 1987: 165) Die Formulierung eines Ordnungsanspruchs wird stets unter bestimmten Bedingungen erhoben, „das heißt in einem bestimmten Rahmen, unter bestimmten kognitiven, praktischen und institutionellen Voraussetzungen […], und dies alles zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und mit zu erwartenden Folgen“ (ebd.). Dies hat zur Folge, dass auch der Gesichtspunkt des Ganzen ein besonderer und kein wahrer Gesichtspunkt wäre: „Wer hier und jetzt für das Ganze spricht, spricht nicht für das wirkliche Ganze, sondern für das, was ihm als Ganzes gilt.“ (Waldenfels 1997a: 170) Anders ausgedrückt: „Das Ganze wird selbst zum besonderen Gesichtspunkt, sobald jemand – ein Individuum oder ein Kollektiv – sich unter begrenzten Umständen auf das Ganze beruft. Jemand behandelt etwas unter dem Gesichtspunkt des Ganzen (sub specie totius) und spricht im Namen des Ganzen.“ (Ebd.: 168) Es gibt niemanden, der für das Ganze sprechen kann, ohne dass er dies unter bestimmten Umständen tut. Der Ort, von dem aus sich das Ganze überblicken

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ließe, fehlt deswegen, „weil wir selbst in einer Ordnung leben“ (Waldenfels 1987: 164). Woher also, fragt Waldenfels, nimmt jemand das Recht, für das Ganze zu sprechen, „da er doch das Ganze nicht ist oder hat?“ (Waldenfels 1997a: 168). Diese, von Waldenfels aufgeworfene Frage, muss ganz besonders auch an diejenigen Stimmen gerichtet werden, die sich mit der pädagogischen Inklusionsidee auf eine inklusive Gemeinschaftsordnung berufen. Indem diese Vertreter in Anspruch nehmen, für das Ganze zu sprechen, geben sie vor, für etwas zu sprechen, das sie selbst nicht haben. Der inklusionspädagogische Ansatz beruht damit auf der uneingestandenen Voraussetzung, „daß der Ort, an dem sich das Ganze als Ganzes zeigt und ausspricht, selbst noch als Ort innerhalb des Ganzen gedacht wird“ (Waldenfels 1997b: 78). Der Gesichtspunkt, der mit dem inklusionspädagogischen Ansatz eingenommen wird, ist also selbst ein bestimmter Gesichtspunkt, der seine eigene kontingente Perspektive hat: „Der Gesichtspunkt des Universalen ist selbst nicht universal, so wie der Gesichtspunkt der Totalität nicht selbst zur Totalität gehört.“ (Waldenfels 1999a: 112f.) Jede Rede von einem „Wir“ setzt jemanden oder mehrere voraus, der oder die „wir“ sagen: „Kein Wir sagt ‚wir‘, sondern ich oder sonst jemand sagt ‚wir‘, und zwar zu dir oder zu euch. Kein noch so inklusives ‚Wir‘ kann diese Differenz zwischen eigener und fremder Position aufheben.“ (Waldenfels 2007: 362)27 Die Überlegungen zur Kontingenz begrenzter Ordnung machen also deutlich, dass es die Ordnung weder geben kann noch, dass jemand sich legitimer Weise auf eine solche berufen könnte. Zu einer „Tyrannei des Logos“, von der bereits die Rede war, kommt es immer dann, wenn eine Ordnung als eine bestimmte Ordnung als die Ordnung auftritt, wenn sie also ihre eigene Kontingenz, ihren eigenen Standpunkt verleugnet. Das gewaltige und gewalttätige Moment des inklusionspädagogischen Ansatzes liegt darin, dass mit ihm die unzureichenden Gründe einer jeden Ordnung geschlossen werden sollen und Alternativen in ein Ganzes gezwungen werden bzw. mit dem universalen Maßstab der „Normalität der Verschiedenheit“ entwertet und entkräftet werden. Dass mit Inklusion bewusst eine Ordnung angestrebt wird, die in diesem Sinne als immer schon ‚gottgegebene Ordnung‘ in Erscheinung treten soll, zeigt sich daran, dass sie ihr eigenes Überflüssigwerden anstrebt, indem Heterogenität oder Vielfalt dann tatsächlich zum Normalfall geworden wäre. Der Versuch, die Kontingenz der Ordnung dieser selbst zuzurechnen, lässt eine Ordnung jedoch zu einem –ismus mutieren, sei es ein Moralismus oder eben ein Inklusionismus. Im Falle der Inklusion hätte dann eine Ordnung „obsiegt, die in ihrer Allgemeinheit keine Fremdheit mehr kennt“ (Waldenfels 1997a: 81) 27 An den wenigen Stellen, an denen Waldenfels seine Kritik explizit auf eine inklusive Gemeinschaftsordnung bezieht, spricht er von einer solchen daher auch als einem „Phantom“ (vgl. Waldenfels 2007: 362) oder einem bloßen „Gemeinschaftskonstrukt“ bzw. einer Gemeinschaft, die ihre eigenen Grenzen verleugnet (vgl. Waldenfels 2006: 128f.).

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und in der unser Handeln allgemeinen, moralischen Appellen unterworfen wäre, denen es stets entsprechen würde. Von der Herausforderung durch ein Fremdes, das uns in Frage stellt, noch bevor wir uns fragen können, ob diese Ansprüche berechtigt sind, kann hier keine Rede mehr sein. Die Gefahrenlage, die mit dem inklusionspädagogischen Ansatz einhergeht, tritt deutlich hervor, wenn in diesem Kontext die Frage aufgeworfen wird, ob hinter dem universalen und egalisierenden Anspruch der „Normalität der Verschiedenheit“ nicht doch wieder eine Präferenz auftaucht. Da es kein ‚Wir‘ gibt, das für uns alle sprechen kann, drängt sich unweigerlich die Frage auf, wer im Falle der pädagogischen Inklusionsidee ‚wir‘ sagt und von wo aus diese ‚Wir-Rede‘ erfolgt. Wessen Produkt ist der auf Allgemeinheit bedachte inklusive Logos? Höchste Beachtung verdient in diesem Zusammenhang der Hinweis von Waldenfels, dass sich hinter der Prätention auf Allgemeinheit nur zu oft ein hierarchisches Gefälle verbirgt (vgl. Waldenfels 2006: 113), das er anhand folgender Beispiele verdeutlicht: „Europäer sprechen über Europäer und Nichteuropäer, Männer über Männer und Frauen, Erwachsene über Erwachsene und Kinder, Menschen über Mensch und Tier, Wachende über Wachende und Schlafende.“ (Ebd.) Im Kontext der vorliegenden Arbeit lässt sich nahtlos ergänzen: ‚Nichtbehinderte‘ sprechen über ‚Nichtbehinderte‘ und ‚Behinderte‘. Das ist zwar auch im Kontext von Inklusion nach wie vor sehr häufig der Fall und wird insbesondere mit dem Motto „Nichts über uns – ohne uns!“ von Seiten der Disability-Studies kritisiert.28 Ohne diese zweifelsfrei wichtige Perspektive in Missgunst bringen zu wollen: Wer ist es auch in diesem Fall, der hier ‚wir‘ sagt und mit Inklusion in Anspruch nimmt, für alle ‚Behinderten‘ zu sprechen? Eine ehrliche Antwort hierauf würde offenbaren, dass es diejenigen ‚Behinderten‘ sind, denen die Beteiligung an diesem Diskurs möglich ist, weil ihre Behinderung eine solche Beteiligung nicht verunmöglicht. Eine größere Teilhabe an diesem Diskurs ist zwar auch, aber nicht allein eine Frage der Veränderung von gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, sondern auch eine Frage der Komplexität einer Behinderung. Exemplarisch kann hierfür die Teilhabe geistig ‚Behinderter‘ an empirischer Forschung genannt werden. So weist Molnár-Gebert darauf hin, dass zwar „die Nutzung von Interviewleitfäden oder Fragebögen bzw. die Publikation in Leichter Sprache als wichtiger Schritt im Interesse eines niedrigschwelligen Zugangs für Menschen mit geistiger Behinderung gewertet werden [kann]“ (Molnár-Gebert 2017: 221). Dies könne aber „nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dadurch nur eine Teilgruppe des Personenkreises berücksichtigt wird und bspw. Personen, die unterstützt oder basal kommunizieren, weiterhin von Forschungsprozessen ausgeschlossen sind“ (ebd.).

28 Zu den Disability-Studies und diesem Motto vgl. u.a. den gleichnamigen Buchtitel Nichts über uns – ohne uns! (vgl. Hermes/Rohrmann 2006).

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Es stimmt zwar, dass im Kontext von Inklusion häufig ‚Nichtbehinderte‘ über ‚Behinderte‘ sprechen. Ist es aber nicht zugleich auch so, dass im Falle der Teilhabe ‚Behinderter‘ an diesem Diskurs weniger schwer ‚Behinderte‘ über weniger schwer ‚Behinderte‘ und schwerer oder komplexer ‚Behinderte‘ sprechen? Grundsätzlich muss in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden, ‚worin‘ alle Menschen inkludiert sein sollen? Sonderpädagogische Strukturen können in diesem ‚worin‘ keine Rolle spielen, da diese als selektiv und auf negative Weise diskriminierend abgelehnt werden (vgl. 2.3.1). Aus inklusionspädagogischer Sicht ist „Sonderbeschulung […] Ausdruck von Dominanz, Behindertenpädagogik das Mittel zur Unterdrückung und nur die totale Inklusion kann die Gerechtigkeit und Chancengleichheit herstellen“ (Hollenweger 2003: 156). Hollenweger spricht in diesem Kontext von einem sozialen Einschluss „in eine undefinierbar bleibende, abstrakte ‚Gesellschaft‘ […]“ (ebd.: 155). Die Ausführungen im zweiten Teil der Arbeit haben gezeigt, dass es um ein Einbezogensein in den „üblichen Lebensbereichen“ geht, also um die gängigen Muster der Lebensführung, des Wohnens, Arbeitens oder der Partnerschaft. Der blinde Fleck des inklusionspädagogischen Ansatzes – und hier liegt zugleich seine Gefahr – besteht darin, dass das ‚inklusive Wir‘ von denjenigen Personen ausgesprochen wird, denen diese Aussprache möglich ist. Der universale Anspruch, mit Inklusion werde für alle Menschen in gleicher Weise gesprochen, verleugnet den Ort seiner eigenen Rede. Auch er erfolgt nicht bedingungslos, sondern er unterliegt bestimmten Vorstellungen davon, was für alle Menschen als erstrebenswert angedacht wird. Wer jedoch grundsätzlich für dieses ‚inklusive Wir‘ sprechen kann, kann sich auch dagegen aussprechen; denjenigen, denen eine solche Aussprache nicht möglich ist, ist eben diese Chance verwehrt. Die pädagogische Inklusionsidee wird an dieser Stelle insofern übergriffig, als mit ihr beansprucht wird, für alle zu sprechen, auch für diejenigen, die nicht widersprechen können und die nicht gefragt wurden, ob sie ein solches ‚Hilfsangebot‘ annehmen wollen oder nicht. Ganz abgesehen davon, ob eine solch inklusive Gemeinschaft, in der alle Menschen in die üblichen Formen der Lebensgestaltung einbezogen sind, den Vorstellungen und Wünschen der Nicht-Gefragten entsprechen würde: Dies setzt voraus, dass das tatsächlich auch für jeden einzelnen Menschen möglich ist. Die Vorstellung eines völligen Einbezogenseins aller Menschen in sämtlichen gesellschaftlichen Teilbereichen muss sich daran messen lassen, ob dies nur für einen Teil möglich ist oder für wirklich ausnahmslos alle. Sobald sich das universelle Ziel des inklusionspädagogischen Ansatzes einer stigmatisierungs- und marginalisierungsfreien Gesellschaft sowie der Überwindung des anderen Andersseins und der Fremdheit des Anderen auch nur in einem einzigen Fall nicht bewahrheitet, schlägt die Prätention in eine Exklusion besonderer Art um: „[J]eder Versuch, eine einheitliche und verbindliche Ordnung zu etablieren, auch wenn sie genetisch verflüssigt wird, hat einen erzwingenden Charakter und lebt vom gewaltsamen Ausschluss von Alternativen und von der Marginalisierung dessen, was sich nicht ein-

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fügen lässt.“ (Lippitz 2003b: 102) „Dadurch“, so Lippitz weiter, „bleibt jede Etablierung einer einheitsstiftenden Ordnung nicht nur mit im Inneren rumorenden Ambivalenzen behaftet, sie wird überdies unmenschlich“ (ebd.). Ähnlich scharf heißt es bei Kobi: Inklusion sei „noch einmal eine der ‚Großen Erzählungen‘ vom Zusammensein Aller in Allem, wie sie im 20. Jahrhundert in verschiedenen Farbvarianten vorgetragen wurden: Als Utopien beflügelnd –, in erzwungenen Realisationen zerstörerisch!“ (Kobi 2006a: 29) Bereits vor einigen Jahren fragt auch Fornefeld im Kontext der pädagogischen Inklusionsidee danach, was mit den anderen, der „RestGruppe“ geschieht, zu der sie Menschen mit mehrfachen oder schweren Schädigungen, ebenso Menschen mit geistiger Behinderung und schwierigem Verhalten, Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen, nicht sprechende Menschen mit geistiger Behinderung oder all die anderen zählt, die mehr Unterstützung benötigen (vgl. Fornefeld 2008a: 9f.). Vor einer noch stärkeren Exklusion und Marginalisierung von Kindern und Jugendlichen mit schwerer Behinderung warnt auch Wagner hinsichtlich einer „Schule für alle“, wenn diese dort nicht berücksichtigt würden (vgl. Wagner 2013b: 500). Nicht zuletzt Fischer und Lee weisen darauf hin, „dass manche auch dort in Aussonderung gedrängt werden, wo Inklusion Normalität herbeiführen will“ (Fischer/Lee 2010: 12). Für den angesprochenen Bereich der ‚inklusiven Forschung‘ weist Molnár-Gebert schließlich darauf hin, dass „eine Verabsolutierung der Forderung nach Partizipation an Forschungsprozessen eine bevorzugte Berücksichtigung jener Personen [impliziert], die den hohen Ansprüchen an forschungsrelevante Kompetenzen genügen“ (Molnár-Gebert 2017: 213). Damit riskiere diese Forderung den systematischen Ausschluss der Perspektive von Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen (vgl. ebd.): „Inklusive Forschung kann einerseits dazu beitragen, die Lebenserfahrungen von Menschen mit geistiger Behinderung hörbar zu machen und damit ein verändertes ges ellschaftliches Bewusstsein bewirken. Andererseits zeigen bisherige Projekte, dass Menschen mit schwerer kognitiven Beeinträchtigung von dieser Entwicklung bisher nicht profitieren konnten und Gefahr laufen, auch im Kontext inklusiver Forschung marginalisiert zu werden.“ (Ebd.: 223)

Das Gefahrenpotential der universalen Ansprüche des inklusionspädagogischen Ansatzes – der völligen Einbeziehung aller sowie der Überwindung von Fremdheit – wird im Diskurs also stellenweise durchaus wahrgenommen und erkannt. Das „Bedrohungsszenario“ ist allerdings inzwischen kein Szenario mehr, sondern neue Marginalisierungen und Stigmatisierungen sind längst in vollem Gange, die sich unter Beibehaltung des gesellschaftspolitischen Paradigmas der Inklusion noch verschärfen werden. Hervorgerufen worden sind sie nicht von denjenigen, die darauf aufmerksam machen, sondern durch die ideologische Haltung, die mit der pädagogischen Inklusionsidee einhergeht und die ihre gesellschaftspolitische Verbreitung findet.

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Nicht nur die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik, sondern auch Förderschulen stehen im öffentlichen und medialen Diskurs wie nie zuvor im Kreuzfeuer der inklusionspädagogischen Kritik und erfahren eine nicht gekannte Stigmatisierung. Es stimmt sicherlich, dass sich viele dieser Schulen lange Zeit zu wenig um eine Öffnung hin zur Gesellschaft bemüht haben mögen und auch heute häufig noch einen eigenen Mikrokosmos darstellen. Ebenso ist es gut und wichtig, wenn an Förderschulen im Zuge der Diskussionen um Inklusion Veränderungsprozesse im Sinne einer größeren gesellschaftlichen Teilhabe ihrer Schülerschaft einsetzen und verstärkt verschiedene Wege der Zusammenarbeit mit Regelschulen erprobt und umgesetzt werden. Die pädagogische Inklusionsidee lässt diese exklusiven Wege, die von Schülern und ihren Eltern bei Weitem nicht immer und sehr häufig auch überhaupt nicht als eine Zwangsmaßnahme erlebt werden, nicht mehr zu. Was entgegnen Vertreter des inklusionspädagogischen Ansatzes denjenigen Schülern und ihren Eltern, die sonderpädagogische Strukturen bewusst und unabhängig von den Rahmenbedingungen an Regelschulen aufsuchen, weil sie beispielsweise schwerwiegende ausgrenzende Erfahrungen an Regelschulen erlitten haben oder Eltern aufgrund der Behinderung ihres Kindes eine Beschulung an einer Regelschule explizit ablehnen (vgl. hierzu Singer 2015a: 51ff.; Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose 2012a: 51ff.)? Durch die inklusionspädagogische Ideologie erfahren nicht nur Förderschulen eine unsägliche Marginalisierung, sondern letztlich auch diejenigen Personen, die diese Schulen besuchen bzw. besuchen wollen und die dort arbeiten. Die pädagogische Inklusionsidee kann und will mit der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ diese Strukturen aber nicht mehr zulassen, wenn sie sich nicht selbst ad absurdum führen will, wohingegen die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit derartige exklusive Strukturen nicht per se und von vornherein ausschließt (vgl. 2.4). Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz ist es bereits zu einer immensen und neuartigen Stigmatisierung sonderpädagogischer Strukturen gekommen; die Annahme der völligen Einbeziehung und der restlosen Befreiung von Marginalisierung schafft ihre eigenen Grenzen, die denjenigen, der von der Marginalisierung befreit werden soll, erst recht ins Abseits stellt. In diesem Kontext verdient auch der Gedanke Rösners Aufmerksamkeit, „dass es immer weniger soziale Räume gibt, in denen sich behinderte Menschen möglicher Ausschlusspraktiken durch ‚Behindernde‘ entziehen können. Sie stehen ständig in der Gefahr, ihre Selbstachtung zu verlieren und Gefühle der Nichtzugehörigkeit, Unterlegenheit und sozialer Scham zu entwickeln.“ (Rösner 2002: 312) Generell führt die Ideologie der pädagogischen Inklusionsidee dazu, dass diejenigen Stimmen, die ihr nicht uneingeschränkt folgen oder gar widersprechen, an den Rand gedrängt und diffamiert werden, indem sie als diejenigen verurteilt werden, die die Teilhabe von ‚Behinderten‘ verhindern würden. Eben darin entlarvt sich die pädagogische Inklusionsidee als ein ideologischer Ansatz. Dass die war-

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nenden Stimmen keine bloßen Stimmen sind, zeigt sich an den inzwischen eingetretenen gesellschaftlichen Zuständen, die soeben skizziert wurden. Ihren theoretischen Rückhalt finden sie in der Konzeption begrenzter Ordnung, wie sie hier in Verbindung mit einer Kritik an der pädagogischen Inklusionsidee als einem totalitaristischen und ideologischen Ansatz gezeigt wurde. 29 Die Worte Waldenfels’ zu einem Denken, das, wie die pädagogische Inklusionsidee, auf die Vermeidung jeglicher Fremdheit setzt, können daher als eine große Warnung vor einer gesellschaftspolitischen Ausrichtung am inklusionspädagogischen Ansatz begriffen werden: „Was trotzdem noch fremd bleibt, ist nicht uns fremd, sondern dem rechten Glauben und der rechten Vernunft; es erweist sich als barbarisch, heidnisch oder primitiv, als Bodensatz der Vernunftgeschichte, der getrost eliminiert werden kann.“ (Waldenfels 1997a: 81)

4.3 FREMDHEIT UND VERSCHIEDENHEIT Im Folgenden wird es nun darum gehen, mit dem phänomenologischen Grenzgeschehen, das sich im Gegensatz zur Abgrenzung als Ein-und Ausgrenzung und Überschreitung von Ordnungsgrenzen zeigt, einerseits den Unterschied zwischen Verschiedenheit und Fremdheit zu klären sowie andererseits das radikal Fremde als das zu beschreiben, was einer Ordnung als Außer-ordentliches notwendigerweise entzogen bleibt. Indem der inklusionspädagogische Ansatz lediglich auf die relative Heterogenität bzw. relative Verschiedenheit setzt, bleibt das Fremde unberücksichtigt. Die einseitige Bezugnahme auf relativ Verschiedenes, das in einer allumfassenden Ordnung einbezogen sein soll, gipfelt in dem illusionären Fehlschluss, das andere Anderssein und damit die Fremdheit überwinden zu können. Damit werden Erfahrungsansprüche des Fremden übergangen, die jedoch spätestens in der konkreten Begegnung zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ laut werden und die sich dem nivellierenden Slogan der „Normalität der Verschiedenheit“ widersetzen.30 4.3.1 Der Weg von der Ordnung hin zum Fremden: Fremdes als Außerordentliches Das selektive und exklusive Zustandekommen einer jeden Ordnung wurde als ein Ereignis der Ordnungsstiftung kenntlich gemacht, das dieser selbst entzogen bleibt. Ordnungen weisen insofern hinter sich selbst zurück, als der Zustand des Ungeord29 Diese Kritiklinie wird in 4.3.4 fortgesetzt. 30 Dies wird im Kontext der Fremderfahrung von Behinderung anhand einer eigenständigen Analyse in Kap. 5 gezeigt werden.

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neten im Prozess der Ordnung zwar vorausgesetzt ist, aber mit ihm nie völlig aufgehoben wird: „Das Zu-Ordnende geht in Ordnung über, es geht aber nie völlig in die Ordnung ein, da jede Ordnung dem Gesetz des So-und-nicht-anders unterliegt. Nur eine Gesamtordnung, die das Ereignis der Ordnungsstiftung mit umfassen, und eine Grundordnung, die das Ereignis der Gesetzgebung mit regeln würde, wäre dieser Kontingenz enthoben.“ (Waldenfels 2002: 273)

Das, was der Ordnung entzogen bleibt, lässt sich als Außer-ordentliches bezeichnen, das aber nicht einfach außerhalb einer Ordnung liegt, sondern das Außen einer Ordnung bildet; es ist das, was den Möglichkeitsspielraum einer Ordnung überschreitet, dabei aber „nicht in eine jenseitige Welt führt, sondern in ein Jenseits dieser Welt“ (Waldenfels 2006: 31). Hierbei gelangt nicht etwas von draußen nach drinnen, sondern das, „was die Grenzen einer Ordnung überschreitet oder von deren Maßstäben abweicht, [ist] nirgends zu finden […] als in der Überschreitung und in der Abweichung selbst. […] Was nach innen tritt und innerhalb der Ordnung auftaucht ist nichts weiter als die Differenz selbst.“ (Waldenfels 2002: 268) Das Außer-ordentliche ist deswegen nicht Nichts, sondern das solchermaßen Ausgeschlossene bleibt in der Ordnung virulent: Das Ereignis der Ordnungsstiftung nistet sich im Ordnungsbestand ein, „ohne darin seinen festen Platz zu finden“ (Waldenfels 1999a: 177). Dies hat zur Folge, dass keine Ordnung je völlig etabliert ist (vgl. Waldenfels 2001: 438). Würde alles, was uns in der Erfahrung begegnet, völlig in die gewohnte Ordnung eingehen, es gäbe nichts und niemanden, das oder der uns ein- oder auffällt. Eine Ordnung würde in sich ruhen und im Schlafe der Monotonie und der Indifferenz erst gar nicht als Ordnung hervortreten. Die Frage nach dem Fraglichwerden der eigenen und der fremden Ordnung ließe sich nicht einmal stellen. Mit der Entstehung jeglicher Ordnung kommt es also zu einem unwiderruflichen Entzug, jeder Ordnung ist von Anfang an Fremdheit eingeschrieben und dieser Entzug verhindert, „daß niemand völlig er oder sie selbst und nichts völlig es selbst ist, daß nichts völlig an seinem Ort ist und zu seiner Zeit kommt“ (Waldenfels 2002: 280). Kurzum: „Eine Ordnung im Entstehen lebt von dem, was sie draußen läßt.“ (Waldenfels 1987: 169) Ebenso setzt sich dieses Moment in der bestehenden Ordnung fort, weshalb sich in gewisser Weise jede bestehende Ordnung mehr oder weniger im Prozess des Entstehens befindet, sie ist „ständig im Werden […], selbst wenn sie sich nur wiederholt […]“ (Waldenfels 2002: 235). Wenn es also zutrifft, dass eine bestehende Ordnung niemals völlig etabliert sein kann, so gilt es zu zeigen, wodurch das Ordnungsgeschehen in Gang gehalten wird. Die Frage richtet sich auf die Art und Weise, wie sich das, was jeweils ausgegrenzt wird, artikuliert. Das Ausgeschlossene kann dabei als Außer-ordentliches nicht trotz, sondern gerade wegen seines Entzogen-bleibens als Unruheherd einer

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bestehenden Ordnung fungieren. Um zu verstehen, wie das Ausgeschlossene in seiner Ausgeschlossenheit virulent bleibt und auf gewisse Weise dazugehört, nämlich so, dass es „mitten in der vertrauten Welt haust und nicht abseits von ihr […]“ (Waldenfels 1987: 174), muss der Faden in gewisser Weise ein Stück weit zurückgespult werden. Der Blick richtet sich darauf, was den selektiven und exklusiven Ordnungsprozessen als Ungeordnetes vorausliegt. Eine direkte Herangehensweise reicht hier nicht heran, „weil dieser Zugriff immer schon eine Ordnung voraussetzt, deren Mittel er nutzt“ (ebd.: 173), um das Ungeordnete als solches zu identifizieren. Aus diesem Grund bleibt nur die Möglichkeit, sich dem Zu-Ordnenden auf indirekte Weise zu nähern (vgl. ebd.: 174).31 Dieser indirekte Weg, den Waldenfels in Anlehnung an Merleau-Ponty vorschlägt, „läuft darauf hinaus, das, was der Ordnung vorausgeht, zu thematisieren, als das, was über die Ordnung hinausgeht“ (ebd.). Damit stellt sich jedoch zugleich die Frage, ob der Zustand des Ungeordneten wirklich zurückliegt und nicht vielmehr vor uns, er also jetzt und immer wieder auftritt (vgl. ebd.: 20; 174). Dies ist jedoch „nur möglich, wenn Ordnen bei aller Selektion und Exklusion zugleich auch Transgression, Überschreitung von Ordnung besagt. Das hieße, daß alles, was in eine Ordnung eingeht, sich auf gewisse Weise auch außerhalb ihrer bewegt. Als Außerordentliches verliert das Ungeordnete seinen rein negativen Klang und rückt neben das Ordentliche und Unordentliche, indem es sie überbietet.“ (Ebd.: 174)

Mit dem Prozess des Ordnens als einer gleichzeitigen Selektion und Exklusion wird ein Innen- und Außenbereich geschaffen, eine Differenz von Hier und Dort, von Jetzt und Späterhin. Mit dieser Stiftung geht einher, dass etwas, das in eine Ordnung einrückt, in dieser nicht völlig aufgeht. Das Etwas kommt in der jeweiligen Ordnung, wie Waldenfels es auch formuliert, „in gebrochener Form vor […]“ 31 Der Gedanke der indirekten Rede ist wegweisend für die Rede vom Fremden bzw. die Waldenfels’sche Phänomenologie des Fremden überhaupt. So würde es seinem eigenen Ordnungsgedanken zuwider laufen, wenn die Konzeption begrenzter Ordnungen sich als „Superdiskurs“ gerieren würde, als eine Ordnung über allen Ordnungen (vgl. Waldenfels 1987: 200). Was dem Theoretiker bzw. dem philosophischen Diskurs bleibt, wenn er nicht als Gesamtbeschauer auftreten und sich zugleich von anderen Diskursen unterscheiden will, ist deshalb „die Möglichkeit eines indirekten Diskurses, der sich an andere Diskurse anlehnt, sich in sie einnistet, sie befragt, aufsprengt, zerlegt, wachhält wie ein Salz, das Speisen nicht ersetzt, sondern würzt“ (ebd.). Phänomenologie zeigt sich unter diesen Voraussetzungen immer auch als Störenfried (vgl. Waldenfels 2008: 44) der einzelnen Diskurse, jedoch als einer, der ohne den Anspruch auf letztgültige Wahrheiten auftritt. Ausführlicher zur „Indirekten Rede“ und zum Vorwurf des Selbstwid erspruchs vgl. Waldenfels (1987: 198ff.; 1999a: 9ff.).

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(ebd.: 175), es ist „anwesend und abwesend zugleich, es selber und ein anderes, hier und anderswo, jetzt und anderweitig, mit diesem verbunden und mit anderem“ (ebd.). Diese Gebrochenheit bedeutet weder eine absolute Unverbundenheit noch eine totale Anwesenheit und volle Selbstheit (vgl. ebd.): „Wäre es ganz und gar es selbst, so würde es sich in eine bestehende Ordnung einfügen; wäre es ganz und gar abwesend oder ein ganz anderes, so hätte es mit dieser Ordnung nichts zu tun.“ (Ebd.) Der Zusammenhang zwischen dem Ungeordneten und dem Außerordentlichen besteht darin, dass das Außer-ordentliche mit dem Ungeordneten untrennbar verbunden ist, beide bestehen in einer „osmotischen Verbindung“ (vgl. Waldenfels 2002: 285), wobei sich „Außer-ordentliches […] aus Ungeordnetem [speist]; doch dieses ist […] niemals direkt zu fassen, sondern nur als ein Überschuß […]“ (ebd.). Das Außer-ordentliche macht sich bemerkbar in Form einer Überschreitung der Ordnungsgrenzen. Diese bezieht ihre Nahrung aus einem Überschuss des Ungeordneten. Die Überschreitung der Ordnung, die deren Grenzen nicht überwindet, geschieht dabei zugleich mit deren Stiftung, sie fällt mit der Entstehung der Ordnung zusammen (vgl. ebd.: 255ff.). Begrenzte Ordnungen lassen also in ihrer Doppelbewegung der Ein- und Ausschließung Außer-ordentliches jeweils mitentstehen (vgl. Waldenfels 1997a: 187). Drinnen und Draußen konstituieren sich demzufolge „in eins mit jeder Einführung einer Ordnung, die ein Außen mitentstehen lässt“ (Waldenfels 2002: 241), da das „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ eine Ermöglichung einer Ordnung bedeutet, deren Kehrseite eine Verunmöglichung anderer Möglichkeiten ist. 4.3.2 Der Unterschied zwischen Verschiedenheit und Fremdheit Um diesen Vorgang besser zu verstehen, bietet es sich an, dieses phänomenologische Grenzgeschehen etwas genauer zu betrachten. So äußert sich die Grenzziehung einerseits als Abgrenzung, anderseits als Ein- und Ausgrenzung. Es ist, wie Waldenfels feststellt, „kein Zufall, daß erstere in den alten Kosmologien und vielfach auch heute noch den Ton angibt“ (Waldenfels 1999a: 188), so, wie es auch im inklusionspädagogischen Ansatz der Fall ist. Formal betrachtet bezieht sich das Geschehen der Abgrenzung auf die Unterscheidung zwischen Selbem und Anderem, das Geschehen der Ein- und Ausgrenzung lässt hingegen Eigenes und Fremdes hervortreten.32 32 Im Kontext eines Polymorphismus des Geschlechtsleibes erörtert Waldenfels die zwei Arten der Grenzziehung unter a) der vertikalen Dimension als Problem von Allgemeinem und Besonderem, was das Problem des Selben und Anderen bedeutet sowie b) unter der horizontalen Dimension als Problem von Eigenem und Fremdem (vgl. Waldenfels 2000: 329-364).

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Anhand der zwei unterschiedlichen Formen der Grenzziehung – der Abgrenzung sowie der Ein-und Ausgrenzung – tritt zugleich der Unterschied zwischen einem Heterogenitätsverständnis als relative Verschiedenheit und als radikale Fremdheit deutlich hervor. Es zeigt sich, dass der inklusionspädagogische Ansatz lediglich die Interfiguration der Abgrenzung in Betracht zieht, womit das Fremde samt seiner Ansprüche keinerlei Berücksichtigung mehr erfährt. Andersheit wird mit ihm nur im Sinne von Verschiedenheit, nicht aber im Sinne von Fremdheit verstanden, so dass es zu dem Irrglauben einer alles in sich vereinenden und versöhnenden Ordnungsvorstellung kommt. Mit Waldenfels ist daher „zwischen Andersheit als Verschiedenheit (diversité), deren Gegenteil das Selbe ist, und Andersheit als Fremdheit (étrangeté), deren Gegenteil das Eigene wäre“ (Waldenfels 1995a: 288), zu unterscheiden. Selbes und Anderes durch Abgrenzung Beim Geschehen der Abgrenzung, das einer jeden Ordnung der Dinge zugrunde liegt und in seiner Ausschließlichkeit für jede Gesamtordnung kennzeichnend ist, handelt es sich um ein gleichmachendes Raumstellensystem (vgl. Waldenfels 1998a: 29). In diesem geometrischen Raum, der sich als raumenthobenes Abgrenzungssystem erweist, sind alle Raumstellen gleichrangig. 33 Es gilt das Gesetz partes extra partes; demzufolge gibt es hier keine Vorzugsstellung und kein Ungleichgewicht, da alles drinnen im Raum ist (vgl. ebd.). Bereits hier zeigt sich deutlich, dass auch der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung eine solche geometrische Raumvorstellung zugrunde liegt. Das Problem ist nicht, dass jeder Ordnungsprozess der Dinge auf eine solche Abgrenzung angewiesen ist, damit etwas überhaupt als etwas benannt werden kann. Das Problem besteht vielmehr darin, dass die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung ausschließlich auf diese geometrische Raumvorstellung setzt und dabei vergisst, dass diese sich als gründlich entsozialisiert und entzeitlicht erweist (vgl. Waldenfels 1997a: 202). Der inklusionspädagogische Ansatz übersieht, ebenso wie der integrationspädagogische Ansatz, dass dieser Abgrenzung, die hier als „Normalität der Verschiedenheit“ bzw. als Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit auftritt, eine gelebte Räumlichkeit zugrunde liegt, die nicht Verschiedenes, sondern Eigenes und Fremdes hervorbringt. Beim Geschehen der Abgrenzung wird die Abgrenzung unter der Annahme eines neutralen Mediums des Dritten, einem vorausgesetzten Vergleichsmaßstab vorgenommen. Dieser Maßstab vermittelt zwischen den Gegensätzen und erlaubt es, zwischen zwei Dingen, ‚Selbsten‘ oder Gruppen zu unterscheiden, „sofern wir über sie reden, sie sortieren und klassifizieren“ (ebd.: 21). Die Abgrenzung setzt neben diesem Medium zudem den Standpunkt eines Dritten voraus, der die Unterschei33 Zur Bedeutung der Raumerfahrung im Werk von Waldenfels vgl. auch den Aufsatz Bruchlinien der Raumerfahrung von Busch (vgl. Busch 2007).

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dung fällt (vgl. Waldenfels 1995a: 289; 2000: 340), sie erfolgt sozusagen von außen: „So sind Äpfel und Birnen zu unterscheiden, doch beides sind Obstsorten oder Früchte.“ (Waldenfels 2000: 341) Das Medium des Dritten wäre hierbei die Gattung Frucht. Vom Standort des Dritten aus wird a von b abgegrenzt. Dies hat zur Folge, dass die operationale Unterscheidung von Selbem und Anderem reversibel und symmetrisch ist, so dass sich also sagen ließe, Äpfel sind keine Birnen oder umgekehrt, Birnen sind keine Äpfel. Die Relation von Selben und Anderem ist also prinzipiell umkehrbar, „was rechts von dem Gleichheitszeichen steht, kann auch links stehen“ (ebd.). Eines ist dem Anderen beim Vorgang der Abgrenzung nicht fremd, sondern das „eine ist schlichtweg das andere des anderen, wenn wir es als dieses oder jenes bestimmen“ (Waldenfels 1997a: 21). So würde es uns bei der Unterscheidung zwischen Apfel und Birne oder Tisch und Bett vermutlich nicht einfallen zu behaupten, „daß eines dem anderen fremd ist“ (Waldenfels 1997b: 69). Bei der Abgrenzung ist also eines „von anderem verschieden, weil es von ihm unterschieden wird aufgrund einer ‚spezifischen Differenz‘, nicht aber weil es sich selbst von anderem unterscheidet“ (Waldenfels 1997a: 21). Demgegenüber geht Fremdes, das nicht dem Selben (idem), sondern „dem Selbst (ipse) und seinem Eigenen entgegensteht, aus einem Prozeß der Ein- und Ausgrenzung hervor […]“ (Waldenfels 1995b: 612). Das Abgrenzungsgeschehen ist zwar ein notwendiger Vorgang, damit wir uns verständigen können, es stößt aber an seine Grenzen, „da das Worin der Abgrenzung sich einer schlichten Abgrenzung widersetzt“ (Waldenfels 1999a: 190). Zwar soll mit dem inklusionspädagogischen Ansatz auf jegliches Sortieren und Klassifizieren verzichtet werden. An dessen Stelle tritt aber nicht einfach Nichts, sondern es wird ersetzt durch den universellen Maßstab der individuellen Verschiedenheit, dem alles und alle unterworfen werden. Die Abgrenzung zeigt sich hierin als eine grenzenlose Abgrenzung, als eine völlige Normalisierung, einer Ordnung ohne Differenzen, die selbst noch die notwendigen Abgrenzungsprozesse hinter sich lassen will. Diese Symmetrie ohne Symmetrie bzw. die Normalität ohne Normalität wäre dann tatsächlich einfach ein Nichts. Zugleich weisen gerade die Ausführungen von Hinz an den Stellen, an denen er die einzelnen Heterogenitätsdimensionen benennt und benennen muss, darauf hin, dass unsere Sprache notwendigerweise auf diese Abgrenzungsprozesse angewiesen bleibt. Auch hier werden Abgrenzungsprozesse vorgenommen und vorausgesetzt, nur, dass diese anschließend in der völligen Normalisierung der Verschiedenheit verflüssigt werden sollen. Wird die Differenz von Abgrenzung und Ein- und Ausgrenzung, von Verschiedenem und Fremdem übersehen, kommt es zu einer Bewältigung von Grenzen, in denen diese überspielt und verkannt werden (vgl. Waldenfels 1998a: 28). Diese Grenzenlosigkeit, die in der Gesamtordnung wie der Inklusion ihren Widerhall findet, hat, so Waldenfels, den Nachteil,

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„daß sie, indem sie grenzenlos wird, auch bodenlos wird. Der Übergang von einer raumverhafteten Ein- und Ausgrenzung zur raumenthobenen Abgrenzung verwandelt voluminöse Tiefenwesen, die einander ausgrenzen, in geometrische Flächenwesen, die nur noch aneinander grenzen für einen Blick, der das Gesehene überfliegt und nicht mehr darin verwickelt ist. Abgründe und Klüfte, die eines vom anderen trennen, werden auf Begriffsbrücken überquert. […] Die Differenz von Drinnen und Draußen geht unter in einer grandiosen Tautologie, die am Ende nur noch Binnengrenzen kennt innerhalb einer Identität von Identität und Nicht identität.“ (Ebd.: 34f.)

Dies ist eine sehr treffende Beschreibung dafür, was im inklusionspädagogischen Ansatz geschieht. Die Begriffsbrücke, die hier die Kluft zwischen Eigenem und Fremdem schließen soll, ist die der „Normalität der Verschiedenheit“. In ihrer normativen Ausrichtung zielt diese begriffliche und überfliegende Vorstellung im Kern auf die Überwindung von Andersartigkeit und Fremdheit. Diese grenzenlose Ordnungsvorstellung ist im buchstäblichen Sinne bodenlos, insofern sie das intersubjektive Geschehen nicht mehr selbst betrachtet, sondern als rein normatives und präskriptives Geschehen verschleiert. Die „geometrischen Flächenwesen“, die nur noch aneinander grenzen, die sich aber als „voluminöse Tiefenwesen“ nicht mehr ein- und ausgrenzen, sind eindrücklich dargestellt in dem oft bedienten farbigen Punkte-Schema, das zur Visualisierung der pädagogischen Inklusionsidee herangezogen wird.34 Dieses Schema könnte für die Darstellung der pädagogischen Inklusionstheorie nicht besser gewählt sein. Es verweist auf die naive Vorstellung dieses Ansatzes, demnach sich Menschen nur noch als individuell Verschiedene nebeneinander bewegen, die sich gegenseitig wertschätzen sollen, ohne ineinander verwickelt zu sein, ohne sich gegenseitig ein- und auszugrenzen und die nur noch als bloß intentional verfasste Wesen auftreten, die selbstherrlich und völlig autonom über sich und ihre Welt verfügen könnten. Eigenes und Fremdes durch Ein- und Ausgrenzung Bei der zweiten Art der Grenzziehung, der Ein- und Ausgrenzung, die Fremdes und nicht einfach Anderes (im Sinne des Verschiedenen) hervortreten lässt, handelt es sich um einen Prozess, „der sich nicht zwischen zwei Termen abspielt, sondern zwischen zwei Topoi“ (Waldenfels 1995b: 612.). Mit der These von der „Normalität der Verschiedenheit“ und der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit wird übersehen, dass ein leibliches Wesen, im Gegensatz zum homogenen Raum der Abgrenzung, stets einer gelebten Räumlichkeit unterliegt. Eine Phänomenologie des Fremden, wie sie Waldenfels vor Augen hat, erfordert deshalb auch eine topographische Herangehensweise, da das Drinnen als der Bereich des Eigenen gegenüber dem Draußen als dem Bereich des Fremden „sich nur okkasionell bestimmen [läßt], 34 Vgl. hierzu zum Beispiel Aktion Mensch (2017).

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von Fall zu Fall, ausgehend vom jeweiligen Ort des Sprechers oder Täters […]“ (ebd.). Aufgrund dieser Okkasionalität widersetzt sich das Fremde einer universalistischen Einordnung, da es jeweils an einen bestimmten leiblichen, und insofern auch an einen historischen und natürlich-kulturellen Ort gebunden auftritt. Die Differenz von Eigenem und Fremdem hat also aufgrund ihrer Okkasionalität „als solches nicht das geringste [sic!] zu tun mit der Unterscheidung von Selbem und Anderem“ (Waldenfels 2006: 113), die einem raumenthobenen Abgrenzungssystem entstammt. Gegenüber der Distinktion von Selbem und Anderem, die ihren Rückhalt in einem dialektisch zu vermittelnden Ganzen findet, entstammen Eigenes und Fremdes einem Vorgang, der sich als Diastase bezeichnen lässt, einem originären Auseinandertreten von Eigenem und Fremdem (vgl. ebd.: 20).35 Bei diesem „originären Sichunterscheiden“ (vgl. u.a. Waldenfels 2008: 249) handelt es sich demzufolge nicht um eine Abgrenzung, die von einem Dritten beziehungsweise einem verbindenden Ganzen ausgeht, sondern um eine „Ein- und Ausgrenzung in dem Sinne, daß das eigene Selbst sich bei sich selbst einrichtet, indem es anderes von sich und sich von anderen ausschließt“ (Waldenfels 2000: 353). Im Gegensatz zur Ein- und Ausgrenzung ist bei der Abgrenzung eines „von anderem verschieden, weil es von ihm unterschieden wird aufgrund einer ‚spezifischen Differenz‘, nicht aber weil es sich selbst von anderem unterscheidet“ (Waldenfels 1997a: 21). Es gilt also, das Selbst (ipse; self), das dem Geschehen der Ein- und Ausgrenzung entspringt, nicht zu verwechseln mit einem Selben (idem; same), das vom Standpunkt eines Dritten unterschieden wird (vgl. Waldenfels 2006: 21). Die bei dieser Ein- und Ausgrenzung entstehende Grenze „verbindet, indem sie trennt, ohne daß hierbei ein verbindendes Ganzes vorausginge wie im Falle der bloßen Abgrenzung“ (Waldenfels 1999a: 191). Eigenes und Fremdes ist somit über eine Schwelle hinweg voneinander getrennt und zugleich verbunden: „Die räumlich-zeitliche Verschiebung des Selbst führt also über die klassische Differenz von Selbigkeit und Andersheit hinaus; sie führt zu einem Kontrast von Eigenheit und Fremdheit, 35 Der Ausdruck „Diastase“ bedeutet wörtlich ein „Auseinanderstehen“ oder ein „Auseinandertreten“ (vgl. Waldenfels 2002: 174). Das diastatische Denken gewinnt in besonderer Weise in den Bruchlinien der Erfahrung an Bedeutung. Im Vorwort dieses Werkes stellt Waldenfels die Bedeutung der Diastase heraus. Diese bezeichnet hinsichtlich einer gebrochenen Erfahrung „die Gestaltungskraft der Erfahrung, die etwas oder jemanden entstehen lässt, indem sie auseinandertritt, sich zerteilt, zerspringt“ (ebd.: 9). Untergräbt das Pathos, von dem noch die Rede sein wird (vgl. 5.2), „die Position eines Subjekts, das in Autonomie, Selbstsetzung und Eigenhandlung seine Freiheit sucht“ (ebd.: 10), so bildet die Diastase „den Kontrapunkt zu einem Vernunftdenken, das einzig in der Synthesis, der Komposition, seine ordnende Kraft entfaltet“ (ebd.). Zur Diastase vgl. ausführlicher in den Bruchlinien der Erfahrung das Kapitel Diastase und Differenz (vgl. ebd.: 173ff.).

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der nicht von irgendwoher zu denken ist als bloße Abgrenzung, die auch vom Standpunkt eines Dritten vorgenommen werden kann, sondern als Ein- und Ausgrenzung, bei der ‚ich‘ dadurch ausgezeichnet bin, daß ich auf dieser Seite der Grenze oder Schwelle stehe und nicht auf der anderen Seite oder gar auf beiden Seiten zugleich.“ (Waldenfels 1999b: 30)

Waldenfels hat damit also nicht eine gedachte, sondern eine gelebte Räumlichkeit vor Augen, also eine „radikalisierte Besinnung auf eine Räumlichkeit, die sich von einem bevorzugten Hier aus entfaltet […]“ (Waldenfels 1998a: 28). Das leibliche Hier als der Nullpunkt und als das, was sich aus der Vielfalt der Raumstellen heraushebt (vgl. Waldenfels 2000: 123), ist im Gegensatz zum homogenen und raumenthobenen Raum der Inklusion jeweils raumverhaftet. Anders als bei Dingen, die sich lediglich im Raum befinden und die „im strengen Sinne keine Grenze [haben]“ (Waldenfels 1998a: 30), bewegen wir uns im Raum, wir stehen als leibliche Wesen zum Raum als unserem räumlichen Umfeld in einem Verhältnis. Deshalb ist auch „[e]in leibliches Wesen, das sich in einer Welt befindet und bewegt und sich auf diese Weise eine Welt schafft, […] niemals im Raum wie ein Ding, noch außerhalb des Raumes wie eine bloße Idee. Reines Ding und reine Idee sind nur als Grenzfälle denkbar; mit der Aufhebung der Differenz von Drinnen und Draußen würden Selbst und Welt auf ein Nichts zusammenschrumpfen.“ (Ebd.: 37)

Die leibliche Situierung und Bewegung im sozialen Raum sorgt vielmehr dafür, dass niemals alles in gleicher Weise zugänglich wird. Sie eröffnet eine Situation, einen bestimmten Spielraum, „ein bestimmtes Raumfeld, indem dieses oder jenes nahe liegt, anderes ferner liegt, wieder anderes durch Hindernisse verstellt oder von den Grenzen des Raumfeldes ausgeschlossen ist“ (Waldenfels 2000: 115). Leiblichsein bedeutet, dass sich ein Wesen dadurch, dass es sich im Raum befindet, zugleich in diesem bewegt, wobei es „Handlungseinrichtungen, Handlungszonen und Handlungsmöglichkeiten ausbildet und dabei auf Grenzen und Hindernisse stößt“ (Waldenfels 1998a: 30). Jede Ermöglichung hat von vornherein eine unweigerliche Verunmöglichung zur Kehrseite, jede Eingrenzung eine Ausgrenzung. Eigenes entsteht immer nur dadurch, „daß ein Eigenbereich eingegrenzt und gleichzeitig ein Fremdbereich ausgegrenzt wird“ (Waldenfels 2008: 172). Dies zeigt einerseits die immer nur als begrenzt auftretenden Erfahrungs-, Rede- und Handlungsfelder an. Andererseits verweist das Hier immer schon auf „Möglichkeiten verschiedener Dorts. […] Das Dort ist ein potentielles Hier. […] Dort ist, wo ich sein könnte […]“ (Waldenfels 2000: 123), es gehört also zum Spielraum meiner Bewegung (vgl. ebd.). Die Frage danach, ob und wie etwas oder jemand drinnen oder draußen ist, ist also immer auch abhängig davon, wie eine Situation definiert ist (vgl. Waldenfels 1998a: 37).

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Diese gelebte Räumlichkeit hat unmittelbar Auswirkungen auf die Grenzen eines Umfeldes. Wenn es zutrifft, dass ein leibliches Wesen sich im Raum bewegt und sich ihm dieser dadurch gleichzeitig er- und verschließt, kann dies nur bedeuten, dass die Grenzen seines Umfeldes nicht als bereits ausgeführte vorliegen, sondern sie sind „höchstens vorgezeichnet und angedeutet […]“ (ebd.: 28). Die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen werden demzufolge weder eigenmächtig durch ein leibliches Wesen gesetzt noch werden sie als fest vorliegende vorgefunden. Vielmehr werden die Grenzen durch die Bewegung im Raum konkret gezogen. Für das Draußen als dem Bereich des Fremden ist diese nur angedeutete Grenze insofern von Bedeutung, als andererseits das, „was jenseits unseres Erfahrungshorizontes und jenseits unserer Erfahrungsschwellen liegt, uns nichts angehen [würde] – außer als Störfaktor und Geräusch“ (ebd.: 35). Würde die Grenze schon vorliegen oder völlig autonom von einem leiblichen Wesen gesetzt, es käme in beiden Fällen zu keiner Verwicklung mit der Welt und demnach zu keiner Beunruhigung durch das Fremde. Im ersten Fall könnte keine Grenze gesetzt, im zweiten Fall würde die Grenze nicht einmal bemerkt werden. Gegen beides spricht jedoch, dass der Mensch durchaus von der Welt angegangen wird und diese Herausforderung mit einer auffälligen Ambivalenz dessen einhergeht, was uns beunruhigt (vgl. ebd.). So bergen Möglichkeiten, „die unsere Erfahrungsfelder durchsetzen und sich unserem sicheren Zugriff entziehen […] Chance und Risiko, Günstiges und Widriges, Förderliches und Hinderliches in sich“ (ebd.). Kurz: „Die Herausforderung resultiert zuvörderst aus einer Fraglichkeit der Grenze, die recht eigentlich unsere menschliche Situation ausmacht.“ (Ebd.) Drinnen und Draußen als die Bereiche des Eigenen und des Fremden verhalten sich also als ein „Phänomen des Spielraums“ (vgl. ebd.: 30)36, sie „sind denkbar nur von einem Spielraum der Bewegung aus, der ‚hier‘ entspringt“ (Waldenfels 2000: 118). Das „‚Außen‘ läßt sich nicht denken, wenn man von bloßen Relationen im Raum ausgeht“ (ebd.). Gegenüber dem Ordnungsprozess der Dinge, in dem diese in ihrer Bestimmung als etwas einer Abgrenzung voneinander unterliegen, grenzt sich ein leibliches Wesen, das nicht nur den Raum vorfindet, sondern sich im Raum bewegt, von anderem ab. Mit dem Sich, das in dieser Selbstabgrenzung hervortritt, kommt es zu einer Ein- und Ausgrenzung, das Drinnen als der Bereich des Eigenen grenzt sich von einem Draußen als dem Bereich des Fremden ab. Ein- und Ausgrenzung sind deshalb „nur möglich als ein Sich-ein-und-ausgrenzen […]“ (Waldenfels 1998a: 34). Eigenes entsteht demzufolge „nicht durch bestimmende Abgrenzung, sondern dadurch, daß ein Eigenbereich eingegrenzt und zugleich ein Fremdbereich ausgegrenzt wird“ (Waldenfels 2008: 172).

36 Waldenfels beruft sich mit dem „Phänomen des Spielraums“ auf Erwin Straus (vgl. Waldenfels 2000: 118; 1998a: 30).

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Bei diesem Sich-ein-und-ausgrenzen handelt es sich vor aller Unterscheidung also nicht um eine Abgrenzung, die von einem Dritten beziehungsweise einem verbindenden Ganzen ausgeht, sondern um eine gleichzeitige „Ein- und Ausgrenzung in dem Sinne, daß das eigene Selbst sich bei sich selbst einrichtet, indem es anderes von sich und sich von anderen ausschließt“ (Waldenfels 2000: 353). Das reflexive Sich des Sich-ein-und-ausgrenzens setzt keinen neutralen dritten Menschen voraus, der beispielsweise voraussetzungslos zwischen Mann und Frau unterscheiden könnte. Vielmehr unterscheidet der Mann sich von der Frau und diese unterscheidet sich vom Mann (vgl. exemplarisch ebd.; Waldenfels 1997a: 21; 1997b: 69). Ebenso müssen Europäer sich zunächst von Japanern unterscheiden und diese sich von Europäern, bevor europäische und fernöstliche Kultur äußerlich voneinander unterschieden werden kann (vgl. Waldenfels 1997a: 21f.; 1997b: 69). Bei der Ein- und Ausgrenzung wird also nicht eines vom anderen unterschieden, sondern es handelt sich um ein „originäres Sichunterscheiden“ (vgl. Waldenfels 2008: 249), das anders als das Unterscheiden von etwas „in die Teilnehmerperspektive und nicht in die Beobachterperspektive [fällt]“ (ebd.). Bei diesem originären Sichunterscheiden ist es so, dass das Sich „bei der Grenzziehung förmlich heraus[springt], als eine Höhlung, als ein Innen, das sich selbst von einem Außen absondert und damit eine Präferenz in der Differenz hervorbringt“ (Waldenfels 2006: 27).37 Das, was sich unterscheidet, wird also markiert, wohingegen das, wovon es sich unterscheidet, unmarkiert bleibt (vgl. ebd.). Diese Markierung verleiht der Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem eine unaufhebbare Asymmetrie. Ohne sie gäbe es sodann auch „gar kein Selbst […], das sich auf den Standpunkt eines Anderen stellen oder den Standpunkt eines Dritten einnehmen könnte“ (ebd.). Ausgeschlossen ist demzufolge in jedem Fall, dass alles drinnen ist, wie von den pädagogischen Inklusionsvertretern angenommen wird. Die möglichen Welten, die durch die wirklichen Welten ausgeschlossenen werden, „lassen sich keinem einheitlich strukturierten Welthorizont und keinem einheitlich vorgezeichneten Weltablauf eingliedern, weil sie Alternativen darstellen, die sich nicht gleichzeitig realisieren lassen“ (Waldenfels 1998a: 93). Als Alternativen entziehen sich die möglichen Welten der entstehenden Ordnung als deren Außen. So scheitert „[e]ine Inklusion dieses Außen […] nicht an der Endlichkeit unserer Erfahrung und unserer Lebenshorizonte, sondern an der inneren Begrenztheit jeder Wirklichkeits- und Sozialordnung. Eine Inklusion dieses Außen gliche dem Versuch, den Grund, von dem sich eine Gestalt abhebt, in diese zu integrieren. Die Gestalt würde sich bei diesem Versuch einem Schemen oder einem Phantom nähern, das sich von seinem Hintergrund ablöst, um schließlich die Blaßheit einer bloß gedachten Idee zu erreichen.“ (Waldenfels 1999a: 115) 37 Der Gedanke der „Präferenz in der Differenz“ wird in den Antwortregistern hinsichtlich unterschiedlicher Differenzformen durchgespielt (vgl. Waldenfels 1994a: 202ff.).

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Mit dem Gedanken des radikal Fremden geht es also keineswegs darum, „totalitaristische oder universalistische Ambitionen durch partikulare Traditionen und Praktiken zu ersetzen, die ihrerseits Eigenes gegen Fremdes ausspielen“ (ebd.). Das Fremde bedeutet als Außer-ordentliches keinen Überschuss an eigenen Möglichkeiten, „sondern an fremden Ansprüchen, der sich in Irritationen und Störungen bestehender Ordnungen kundtut“ (ebd.). Da keine Ordnung sich selbst umfasst, ist „jede Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Ordnung von einer abgründigen Nichtzugehörigkeit unterhöhlt […]“ (ebd.: 115f.). Die Annahme, alles wäre drinnen, ist nur solange aufrecht zu erhalten, als die Ebene des gelebten Raumes verleugnet wird. Die inklusive Vorstellung der völligen Einbeziehung des Anderen ist somit eine pure Illusion. Die Fremdheit lässt sich nicht zugunsten einer universalen Weltaneignung aufheben. Versucht man dies doch, so wird der Anspruch des Fremden geleugnet und die Andersheit des Anderen erfährt gerade dadurch Gewalt, dass sie in einem Ganzen vollkommen bewahrt und einbezogen werden soll. Verschiedenheit und Fremdheit liegen auf unterschiedlichen Ebenen, Fremdes lässt sich durch die einseitige Betonung des Verschiedenen aber nicht ausspielen. Dieser Versuch wird allerdings mit der pädagogischen Inklusionsidee und dem Beharren auf der „Normalität der Verschiedenheit“ unternommen. Der überfliegende Blick will alles Andersartige und Fremde einbeziehen; er findet seine eigene Begrenzung aber nicht nur in der Begrenztheit seines eigenen Blickes, sondern auch in den konkreten Handlungsfeldern, die ihrerseits begrenzend-begrenzt auftreten und verhindern, dass sich Fremdes einem universellen Horizont einordnen lässt. Das pädagogische Inklusionskonzept lässt sich daher nicht ohne Weiteres und auch überhaupt nicht um die Idee der radikalen Fremdheit erweitern (vgl. hierzu Stinkes 2012a: 239f.), da es im Kern auf die Überwindung und Leugnung der Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem angelegt ist. Die Berücksichtigung des Grenzgeschehens der Ein- und Ausgrenzung stellt dieses Konzept geradezu unwiderruflich in Frage. Die Inklusivität einer allen offenstehenden Gemeinschaft setzt, so Waldenfels in einer der wenigen Stellen, an der er sich explizit auf eine inklusive Gemeinschaftsordnung bezieht, „auf einer allzu späten Stufe an, auf der über Fragen der Selbstkonstitution und Selbstabgrenzung vorweg schon entschieden ist“ (Waldenfels 1999a: 203). Auch mit der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit kommt die radikal verstandene Fremdheit nicht nur nicht in den Blick, sondern auch hier bleibt sie stets nur als relativ Verschiedenes auf die Idee der Gleichheit bezogen. Das Fremde sprengt jede Dialektik, es untergräbt derartige Positionen auf radikale Weise. Das Tückische am Fremden ist jedoch, dass es, indem es wie im inklusionspädagogischen Ansatz und letztlich auch in der Integrationstheorie verkannt wird, umso stärker in Erscheinung tritt, je mehr es vermieden werden soll.

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4.3.3 Überschreitung von Ordnungsgrenzen und die Asymmetrie von Eigenem und Fremdem Die zweite Art der Ausgrenzung führt nun unmittelbar zur Figur der Überschreitung. Unter der Voraussetzung begrenzter Ordnungen zeigt sich die unausweichliche Notwendigkeit einer Überschreitung der Grenzen einer Ordnung, ohne diese jedoch zu überwinden: „Würden wir die Grenzen einer Ordnung, die Grenzen des Sagbaren, Sichtbaren und Machbaren nicht überschreiten, so wäre diese Ordnung nicht eine Ordnung unter anderen, sondern die Ordnung, in der wir aufgingen wie ein natürliches oder künstliches Tier in seinem Lebens- oder Funktionskreis.“ (Waldenfels 1998a: 27) Die Kontingenz begrenzter Ordnung lässt jedoch die Ordnung nicht zu, sondern die Ordnungen treten in den Plural. Es ist immer mehr möglich als das, was sich verwirklicht. Mit dem Faktum, dass es Ordnung „gibt“ bzw. der Stiftung von Ordnung durch Selektion und Exklusion, muss also eine gleichzeitige Überschreitung dieser Ordnungsgrenzen einhergehen. Dass Überschreitung anderseits jedoch auch keine Überwindung bzw. Aufhebung der Grenzen bedeutet, begründet sich daher, dass in diesem Fall „die Ordnung wiederum nicht eine Ordnung unter anderen [wäre], sondern eine bloße Ordnungsstufe oder Ordnungsetappe auf dem Wege zu der Ordnung“ (ebd.). Die Grenzen von Ordnungen lassen sich demzufolge nicht überwinden, will man nicht wiederum bei einer Gesamt- oder Grundordnung aufschlagen, die alles einem Ganzen einordnen oder universal gültigen Normen unterwerfen will. Entscheidend für die Bewegung des „Über-hinaus“ ist nun, dass die zweite Art der Ausgrenzung zu einer Differenz von Diesseits und Jenseits führt (vgl. ebd.: 31). Diese Differenz ist genau das, was einer Ordnung notwendigerweise als Fremdes entzogen bleibt und als Außer-ordentliches für Unruhe sorgt. Dabei sind Diesseits und Jenseits durch eine Schwelle miteinander verbunden und gleichzeitig getrennt. Der Unterschied zur ersten Art der Ausgrenzung besteht darin, dass dasjenige, was „jenseits der Schwelle lockt und erschreckt, […] nicht mehr zum Spiel mit eigenen Möglichkeiten [gehört], sondern […] eine Herausforderung der eigenen Freiheit durch Fremdartiges [bedeutet], das in der jeweils bestehenden Ordnung keinen Platz findet“ (ebd.). Die Überschreitung durchmisst nicht nur einen Raum, indem sie von hier nach dort führt, vielmehr überquert sie die Grenze, die ein Diesseits vom Jenseits scheidet, die zwischen Drinnen und Draußen verläuft (vgl. Waldenfels 2002: 240). Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie dieses Jenseits der Schwelle, das nicht mehr zu unseren Möglichkeiten zählt, uns so lockt und beunruhigt, dass es nicht bis ins Jenseits diffundiert. Das Ungeordnete, das jeder Ordnung vorausliegt und aus dem das radikal Fremde als Außer-ordentliches seinen Nährboden bezieht, „ist deshalb nur faßbar als dieser Überschuß, der unsere Kräfte überragt, als dieses Mehr, das sich unseren Zugriffen entzieht“ (Waldenfels 1998a: 27). Als jenseits der

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Schwelle Angesiedeltes ist es kein Mehr von puren Möglichkeiten, sondern es „könnte uns nur dann unendlich beunruhigen, wenn das Ausgeschlossene Ansprüche erhöbe, auf die wir antworten, was immer wir tun und sagen“ (ebd.). Hierbei handelt es sich um Fremdansprüche, die über das eigene Anderskönnen hinausgehen, ohne die nur die Wahl zwischen Allmachtswünschen und Selbstbescheidung bliebe (vgl. ebd.). An dieser Stelle deutet sich die Möglichkeit einer responsiven Rationalität an, in der „sich eine offene Regelung [verkörpert], da das, was geordnet wird, nicht selber dieser Ordnung entstammt“ (Waldenfels 1987: 47) und die gleichsam „aus einem antwortenden Reden und Tun erwächst und jede bestehende Ordnung sprengt, ohne sie durch eine umfassendere Ordnung zu ersetzen“ (Waldenfels 1998a: 27).38 Das Fremde bekundet sich als ein „Überanspruch, der über die bestehenden Grenzen hinaustreibt, ohne daß diese zu überwinden wären“ (ebd.: 7). Fremdes befindet sich also nicht einfach ganz anderswo oder nirgendwo; ebenso wenig kann es mit dem Eigenen zusammenfallen, wenn es als Fremdes seine beunruhigende Wirkung entfalten soll. Für das Eigene und das Fremde besagt dieser gebrochene Zusammenhang, dass Eigenes und Fremdes sich in einer bestimmten Form berühren muss, dass es Übergänge zwischen Eigenem und Fremden gibt, „aber keine tragfähige Brücke, auf der man nach Belieben hin- und hergehen könnte“ (Waldenfels 1997a: 141). Die Figur der Überschreitung lässt sich am ehesten mit dem Begriff der Schwelle zeigen, die Waldenfels als „Übergangsphänomen par excellence“ bezeichnet (vgl. Waldenfels 2002: 274). So bildet die Schwelle „einen Ort des Übergangs, einen Niemandsort, an dem man zögert, verweilt, sich vorwagt, den man hinter sich läßt, aber nie ganz“ (Waldenfels 1999b: 9). Die konstitutive Bedeutung der Schwelle liegt darin, dass sie die Bedingung dafür erfüllt, dass „Bereiche von-einander getrennt und zugleich auf-einander bezogen sind. Die Schwelle vermittelt, indem sie die Vermittlung unterbricht. Der Zusammenhang entsteht und besteht in der Differenz selber.“ (Waldenfels 2000: 355) Waldenfels macht vier Merkmale der Schwelle als Übergangsphänomen aus: So ist die Schwelle „keine scharfe Grenzlinie, die man zieht und die man in der einen oder anderen Richtung nach Belieben überschreitet, sondern sie markiert eine Scheidezone […]“ (Waldenfels 1987: 29), wie dies beispielsweise beim Einschlafen und Erwachen angezeigt ist (vgl. ebd.). Zudem zeichnet sich die Schwelle dadurch aus, dass sie keine Übergangs-Synthese zulässt, sondern zwischen den Bereichen ein Sprung besteht, der eine übergreifende Ordnung verhindert (vgl. ebd: 29f.). Der Einzugsbereich der Schwelle sorgt dafür, dass das, was jenseits der Schwelle ist, nicht einfach draußen ist, „sondern es drängt mehr oder weniger heftig über die Schwelle, verlockend oder beängstigend“ (ebd.: 20). Demnach lässt sich das Fremde auch so umschreiben, dass es „sich nicht einfach anderswo [befindet], es ist ähnlich wie Schlafen vom 38 Zur Konzeption der Responsivität vgl. 5.2.

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Wachen, Gesundheit von der Krankheit, Alter von der Jugend durch eine Schwelle vom jeweils Eigenen getrennt“ (Waldenfels 1997a: 21). Die Fremdheit bestünde demzufolge im Wechsel von Wachen und Schlafen, im Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein oder im Ineinanderspielen von Gesundheit und Krankheit (vgl. Waldenfels 2000: 353). Die Schwelle hat nun jedoch nicht das Geringste zu tun mit einem vermittelnden Dritten (vgl. ebd.: 355). Dies zeigt sich daran, dass der Prozess des Sichunterscheidens eine unaufhebbare Asymmetrie mit sich bringt (vgl. Waldenfels 1998a: 34), jedoch so, dass das Sich-unterscheiden besagter Asymmetrie zugleich unterliegt (vgl. Waldenfels 2000: 354). So kommt der Schwelle als weiteres Merkmal selbst eine gewisse Asymmetrie zu. Keiner von uns steht demzufolge jemals auf beiden Seiten der Schwelle zugleich (vgl. Waldenfels 1997a: 21; 1997b: 69). So gibt es beispielsweise keinen neutralen Dritten, der voraussetzungslos zwischen Mann und Frau unterscheiden könnte, sondern die Frau unterscheidet sich zunächst vom Mann und dieser sich zunächst von jener. Ebenso sprechen wir stets vom wachen Zustand aus über das Schlafen und schlafend verarbeiten wir das Wachen (vgl. Waldenfels 2000: 353f.). Beide Seiten verweisen zwar aufeinander, wir stehen aber jeweils auf einer Seite der Schwelle und nicht auf beiden Seiten zugleich: „Wer sich unterscheidet, steht auf einer Seite, das Fremde als das Wovon der Unterscheidung, auf der anderen.“ (Waldenfels 2006: 27) So können wir im Zustand des Schlafens nicht über das Schlafen sprechen, wir können höchstens im Schlaf sprechen. Die besagte Asymmetrie, die hier auftaucht, besteht also darin, dass Wachen und Schlafen nicht einfach umkehrbar sind. Schlafen und Wachen, Mann und Frau verhalten sich nicht reversibel und insofern nicht symmetrisch zueinander, sondern das „Sichunterscheiden unterliegt einer gewissen Irreversibilität und Asymmetrie“ (Waldenfels 2000: 354). So kann man nicht beliebig von einer Seite auf die andere wechseln, weshalb sich die konstitutive Asymmetrie letztlich auch als eine doppelte Asymmetrie darstellt (vgl. ebd.: 356). Demnach verhält sich zwar der Mann zur Frau und diese zum Mann, „doch das eine entzieht sich dem anderen und kann nicht einfach in sein Gegenteil verkehrt werden“ (ebd.). Mann und Frau unterscheiden sich jeweils auf ihre unvertauschbare Weise voneinander (vgl. ebd.: 354).39 Die Beziehung zwischen Mann und Frau bleibt asymmetrisch, „weil Mann und Frau nicht 39 Waldenfels nimmt an dieser Stelle kritisch Bezug auf die gewöhnlichen Dialog- und Kommunikationstheorien, die von zwei Dialogpartnern ausgehen, „die als Sprecher und Hörer auftreten und die jederzeit ihre Rolle vertauschen können“ (Waldenfels 2000: 356). Die Differenz von Eigenem und Fremdem wird in diesen Sender-Empfänger-Modellen also als reversible Funktion betrachtet. In diesem Kontext gibt er hinsichtlich der Geschlechterdifferenz weiter kritisch zu bedenken, dass diese nicht auf die Geschlechterrollen zu reduzieren ist bzw. überhaupt nicht in dieser besteht, da Mann und Frau nicht einfach die Seiten wechseln können (vgl. ebd.).

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einfach verschieden sind, wie es sich für den vergleichenden Blick eines geschlechtlich neutralen Dritten darstellen mag, sondern weil sie sich selbst voneinander unterscheiden, indem sie sich in verschiedener Weise aufeinander beziehen und ebenso aufeinander antworten“ (Waldenfels 1995a: 370). Der Abstand zum anderen Geschlecht wird im aufeinander Antworten verschiedenartig durchlebt und durchlitten (vgl. Waldenfels 2008: 173). Eines ist dem anderen also nicht in gleicher Weise fremd. In der auf Symmetrie abzielenden Rede von der Reversibilität der Standpunkte (Piaget) und einer Austauschbarkeit der Perspektiven (Schütz) (vgl. Waldenfels 1997b: 78) liegt deshalb auch eine Quelle für Missverständnisse begründet (vgl. Waldenfels 2000: 356): „Wenn wir sagen: ‚Einer ist dem anderen fremd‘ (die Frau dem Mann, der Chinese dem Deutschen und umgekehrt), dann tun wir oft so, als sei diese Fremdheit auf beiden Seiten dieselbe, als sei einer dem andern ebenso fremd wie dieser ihm.“ (Ebd.) Hierbei wird jedoch der Umgang mit dem Fremden, der stets kulturell variabel ist und sich in Neugierde, Faszination, Abschirmung und im Spiel von Nähe und Ferne äußern kann, eben „all das, was im Umgang mit dem Fremden eine Rolle spielt […]“ (ebd.: 357), unterschlagen und übergangen. Ausgeschlossen werden damit jedoch von vornherein differenziertere Möglichkeiten des Umgangs mit dem Fremden. Die grundlegende Asymmetrie, „diese Irreziprozität inmitten der zwischenmenschlichen Erfahrung, die Levinas so sehr betont […]“ (Waldenfels 1997a: 141), verhindert also einen einfachen Standortwechsel. Eigenes und Fremdes finden deshalb weder zur Deckung noch lassen sie sich einfach umkehren, sondern sie verhalten sich konstitutiv asymmetrisch zueinander: „Da Eigenes und Fremdes gleichzeitig in einem Prozeß der Ein- und Ausgrenzung entsteht, ist beides aufeinander bezogen, ohne sich zu einer Einheit zusammenzuschließen und ohne daß die gegenläufigen Beziehungen äquivalent wären.“ (Waldenfels 2008: 173) Die Schwelle vermittelt, indem sie trennt. So gliche jeder Versuch, „zwischen Eigenem und Fremdem eine endgültige Symmetrie herzustellen und beide aneinander anzugleichen, […] letzten Endes dem Versuch, Gegenwart und Vergangenheit, Wachen und Schlafen oder Leben und Tod in ein Gleichgewicht zu bringen, als könnte man die Schwelle, die eines vom anderen trennt, nach Belieben in beiden Richtungen überqueren“ (Waldenfels 2006: 66),

wie Waldenfels derartigen Vorstellungen entgegenhält. Aus diesem Grund lässt sich erst auf der Ebene des Gesagten ein Vergleichspunkt einführen, nicht jedoch auf der Ebene des Sagens und Tuns. Es gilt, folgendes festzuhalten: Fremdheit bestimmt sich okkasionell, „bezogen auf das jeweilige Hier, von dem aus jemand spricht, handelt und denkt“ (Waldenfels 1997a: 23). Fremdes ist also immer an bestimmte Kontexte und Ordnungen gebunden, weshalb es „nur dieses oder jenes Fremde [gibt], das auf singuläre Ereig-

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nisse zurückgeht; das Fremde wäre eine Idee, mit der wir uns schon auf die Bahnen einer Verallgemeinerung begeben hätten“ (Waldenfels 2008: 175). Fremdes tritt stets nur im Zusammenhang mit Eigenem auf, wobei dieses durch Fremdes in der Weise angesprochen wird, „indem sich ihm etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig erfahren“ (Waldenfels 2006: 20). Zwischen Eigenem und Fremdem besteht eine unaufhebbare Asymmetrie, das Oder des Sich-unterscheidens von Mann und Frau, „das verschiedenen Unterscheidungsrichtungen entspricht, ist alternativ zu verstehen (aut), nicht fakultativ (vel). Wer sich unterscheidet, steht auf einer Seite, und der, die oder das Fremde ist genau das, was sich auf der anderen Seite befindet. Der Fremdbezug liegt in diesem Fremdentzug.“ (Waldenfels 1999a: 197f.) Jede entstehende Ordnung führt zugleich auch „zu einem Selbstentzug des Ich; das Ich findet nie ganz und gar seinen Ort und ist somit nie völlig es selbst, sondern immer auch ein anderes“ (Waldenfels 1998a: 67). Jedem Selbstbezug ist von Anfang an ein Selbstentzug eingeschrieben, was dazu führt, dass das sogenannte Subjekt nicht Herr im eigenen Haus ist (vgl. u.a. Waldenfels 2006: 28). Radikal Fremdes ist damit kein Mangel oder ein unverstandener Rest, sondern aufgrund der Kontingenz einer jeden Ordnung gehört das Fremde unausweichlich zur Erfahrung von uns selbst, der Anderen und der Welt. Das Fremde zeigt sich nur, indem es sich jeglichem Zugriff entzieht: „Der fremde Anspruch, der sich meinem Zugriff entzieht und die Möglichkeitsradien der diversen Ordnungen überschreitet, tritt nur auf, indem er sich entzieht und über die gegebenen Ordnungen hinausschießt. Er ist nicht etwas, das sich vergleichen ließe. Ent-zug und Über-schuß sind asymmetrische Figuren par excellence.“ (Waldenfels 2005a: 233) Fremdes ist kein Defizit, das es zu überwinden gilt, vielmehr haben wir es mit einer Art „leibhaftiger Abwesenheit“ zu tun (Sartre), einer „originären Form des Anderswo“ (MerleauPonty), mit einem „Nicht-Ort“ (Levinas) (vgl. Waldenfels 2006: 116): „Das Fremde erscheint also als das originär Unzugängliche und originär Unzugehörige; es tritt auf in einer besonderen Art von Bezug, der durch einen gleichzeitigen Entzug charakterisiert ist.“ (Waldenfels 1997a: 26f.) Das Fremde ist jedem Vergleich entrückt, „eben weil es gar nicht etwas ist, das wir vorwegnehmen, erwarten, erfassen oder bestimmen können“ (ebd.: 76). Jeder Vergleich und jedes Gleichsetzen geschieht immer erst „nachträglich vom Standpunkt eines Dritten aus, der abgrenzt und abwägt und vom Denken im Zwischen in ein Denken des Zwischen überwechselt“ (ebd.: 77). Als das, was sich jeder Ordnung entzieht, lässt sich ein radikal Fremdes weder auf Eigenes zurückführen noch einem Ganzen einordnen, und in diesem Sinne ist es irreduzibel (vgl. Waldenfels 2006: 116).

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4.3.4 Die Kontingenz der inklusionspädagogischen Perspektive Gegenüber dem raumenthobenen und gleichmachenden System der Abgrenzung, das der Inklusion zugrunde liegt, verhindert die asymmetrische Beziehung, dass Eigenes und Fremdes je kongruent werden und sich einfach vertauschen ließen. Die inklusive ‚Wir-Sphäre‘ wird diesem Geschehen – ganz im Sinne des ‚großen Dialogs‘ – also vielmehr untergeschoben, als dass eine solche hier bereits vorläge. Um es nochmal zu betonen: „Am Anfang steht nicht eine Einheit, sondern eine Differenz. Der Glaube an eine ursprüngliche Einheit entspringt einem Einheitswahn.“ (Waldenfels 1997a: 156) Die entscheidende Frage, die sich mit Waldenfels daher stellt, ist: „Wird das Dia- des Dia-logs oder des Dis-kurses von einem Logos her gedacht, also einer Sphäre des gemeinsamen Sinnes, gemeinsamer Zwecke, gemeinsamer Regeln, gemeinsamer Praktiken oder Techniken – oder werden umgekehrt die jeweiligen Logoi vom Dia- her verstanden, rückgebunden an Diastasen […], die alle synthetischen Ordnungsmuster unterlaufen?“ (Waldenfels 2002: 215)

Die Antwort findet sich wenige Seiten später: „Was zwischen uns geschieht, läßt sich erst nachträglich einem Wir zuschreiben“ (ebd.: 219), das Zwischen „zeugt von einer Interferenz zwischen dem, was vom Anderen ausgeht und mich trifft, und dem, was von mir selbst erwidert wird, ohne daß eine vermittelnde Instanz dieses Zusammenspiel kontrolliert oder legitimiert. Erst auf der Ebene des Gesagten und Getanen und nicht auf der Ebene des Sagens und Tuns gerinnt das, was zwischen uns geschieht, zu einer gemeinsamen Welt, die wir miteinander teilen und einander streitig machen.“ (Ebd.: 222)

Die Annahme der „Normalität der Verschiedenheit“ zeigt sich daher als ein „pervertierter Konsens“ (vgl. Waldenfels 1995a: 9), der seinen Ausdruck in der Annahme völlig symmetrischer, austauschbarer und reversibler Perspektiven findet. Die appellierenden Aussagen, „Es ist normal, verschieden zu sein“ oder „Heterogenität ist Normalität“, sind – im besten Fall – genauso nichtssagend wie die Sätze „Wir sind alle Fremde“, „Wir alle sind behindert“ oder, um auf ein Beispiel Waldenfels’ zurückzugreifen, „Alle Sprachen sind Fremdsprachen“ (vgl. Waldenfels 2006: 124). So banal es jedoch auch erscheinen mag: Der ‚Behinderte‘ ist dem ‚Nichtbehinderten‘ und der ‚Nichtbehinderte‘ ist dem ‚Behinderten‘ eben gerade nicht in gleicher Weise fremd. Die Perspektiven sind nicht einfach austauschbar. So wird mit der egalitären These der „Normalität der Verschiedenheit“ nicht mehr gesehen, dass sich die Welt und das Selbst für einen geistig oder körperlich ‚Behinderten‘ nicht auf dieselbe Weise erschließt, wie dies bei einem nicht geistig oder

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körperlich ‚Behinderten‘ der Fall ist – wobei natürlich auch hier keine Verallgemeinerungen zulässig sind. Das Problem an einer Sichtweise, die jedoch einseitig die Gleichstellung von ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ fordert, ist, dass sie den ‚Behinderten‘ bloß abstrakt als Rechtssubjekt begreift, womit es zu einer Vernachlässigung des konkret Leiblichen kommt (vgl. Waldenfels 2000: 347). Was Waldenfels für die Gleichstellung von Mann und Frau anführt, trifft demnach ebenso auf die Differenz von ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ zu: „Legt man den Akzent einseitig auf universale Rechte oder Regeln, dann droht die Gefahr, daß mit der Abschaffung der Geschlechtervorherrschaft auch die Geschlechterdifferenz verblaßt“ (ebd.: 348). Die Differenz von ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ wird mit der gleichsetzenden Annahme der „Normalität der Verschiedenheit“ also schlichtweg und auf subtile Art und Weise geleugnet. Im Übrigen: Gleichgültig, ob dabei die Vergleichbarkeit oder die Unvergleichbarkeit betont wird, „man hält sich“, so Waldenfels, „hier wie dort an das Vergleichen, also an ein Gleichmachen, das den Unterschied zwischen Eigenem und Fremdem einebnet“ (Waldenfels 1997a: 50). Letztlich besteht somit die Gefahr, dass „[d]ie Präferenzen und Differenzen […] in der Indifferenz einer aller Unterschiede verwischenden Gleichgültigkeit versinken“ (ebd.: 162). Im inklusionspädagogischen Ansatz zeigt sich dies deutlich, wenn bedacht wird, dass Behinderungen nur mehr als ein Aspekt der Verschiedenheit neben geschlechtlicher, ethnischer, kultureller, rassischer, religiöser und sozialer Verschiedenheit betrachtet werden sollen, also als eine Dimension von Verschiedenheit neben anderen, die sich letztlich in der völligen Normalisierung verflüssigen sollen. Die Grenzen sollen sich nicht nur verwischen, sondern auflösen. Kurzum: Das leibliche ZurWelt-sein einer Behinderung wird gleichgesetzt mit der kulturellen Fremdheit, um nur ein Beispiel herauszugreifen. Mit diesen nivellierenden Verallgemeinerungsprozessen gehen nicht nur pädagogisch-professionelle Perspektiven und spezifische Formen des Umgangs verloren. Ebenso verleugnet eine solche Sichtweise das leibliche Zur-Welt-sein eines beispielsweise ‚Körperbehinderten‘, dem diese kategorisierende Perspektive auch deswegen wichtig sein kann, um bestimmte Erfahrungen einordnen zu können.40 So können einem ‚Körperbehinderten‘ bestimmte Erfahrungshorizonte ‚Nichtbehinderter‘ verschlossen sein, zum Beispiel, weil bestimmte Körperfunktionen eingeschränkt sind und er oder sie im Rollstuhl sitzt. Die Perspektive auf die Welt, sich selbst und andere Menschen ist eine jeweils andere, sie vollzieht sich im Falle einer Körperbehinderung aber immer auch in den Verhältnissen dieser Behinderung. Auch dem ‚Nichtbehinderten‘ bleiben bestimmte Möglichkeitsräume eines ‚Körperbehinderten‘ verschlossen. Es ist sehr empfehlenswert, einen Tag im Rollstuhl zu verbringen. Aber auch, wenn man diese wichtige Erfahrung macht, kann diese Perspektive nie so erfahren werden, dass sie der leiblichen 40 Vgl. zu dieser Perspektive beispielsweise Singer/Kienle (2016).

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Erfahrung eines ‚Körperbehinderten‘ entspricht. Die Welt und der Abstand zum Anderen wird jeweils verschiedenartig und fremdartig und nicht symmetrisch durchlebt und durchlitten. Die symmetrische Perspektive, Vielfalt als Normalfall anzusetzen und Behinderung damit als bloßes soziales Konstrukt zu verorten, ignoriert letztlich auch das Leiden an einer Behinderung, das grundsätzlich damit einhergehen kann. Mit Kuhlmann stellt sich daher „die grundsätzliche Frage nach der Erfolgsaussicht und der Sinnhaftigkeit, die Normalität so weit bekämpfen zu wollen, dass es nur noch individuelle Verschiedenheit gäbe“ (Singer/Kienle 2016: 89). Vor dem Hintergrund seiner eigenen Behinderung weist Kuhlmann darauf hin, dass es so etwas wie eine physische Normalität gibt, „deren Normativität nicht auf sozialen Mechanismen basiert“ (Kuhlmann 2011: 177). Ihm ist völlig darin zuzustimmen, wenn er sagt, dass die Rede über Behinderung jeglichen „Realitätsgehalt verliert, wenn geleugnet wird, dass es in vielen Fällen der Körper ist, der die Betroffenen ‚behindert‘ – der sie herabzieht und ihre Intentionen durchkreuzt, indem die Ausübung bestimmter Funktionen unmöglich gemacht oder das Gesamtbefinden in Mitleidenschaft gezogen wird“ (ebd.: 174). Auch eine intersektionale Sichtweise bekommt die Körperbehinderung nicht als leibliches Zur-Welt-sein in den Blick, das heißt, dass eine Körperbehinderung zu haben, nicht nur bedeutet, diese zu ‚haben‘, sondern Erfahrungen stets auch in den Ordnungen der Körperbehinderung gemacht werden: „Die Grenze zwischen ‚behindert‘ und ‚nichtbehindert‘ beliebig zu setzen, würde nicht nur eine Leugnung der notwendigen und unausweichlichen Prozesse der Normalisierung bedeuten, sondern auch das leibliche Dasein und die Erfahrungsweisen derjenigen Menschen in Frage stellen, die sich selbst, die anderen und die Welt stets in und nicht nur mit ihrer Behinderung erfahren […].“ (Singer/Kienle 2016: 90)

In diesem Sinne lehnt auch Kuhlmann die Sichtweise der pädagogischen Inklusionsidee auf Behinderungen als einem sozialen Konstrukt deutlich ab: „Dass aber Personen die Erfahrung machen, dass sie nicht nur einen Körper ‚haben‘, sondern ein Leib ‚sind‘, wird man kaum als ‚diskursiven Effekt‘ begreifen können. Ebenso wenig wird man sagen können, nachhaltig negative Erfahrungen mit physischer Beeinträchtigung bestünden aus nichts anderem als jenen abwertenden Deutungsmustern, die den Betroffenen von außen aufgenötigt werden.“ (Kuhlmann 2011: 179)

Als Selbstbetroffener sagt er klar, was er von einer solchen Sichtweise hält: Die „ominöse Rede von Behinderung als ‚Effekt‘ von Diskursen und Praktiken [hat] mit der Selbsterfahrung vieler Betroffener wohl nichts gemein. […] Dass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die natürliche Ausstattung des Menschen Normalitätsstandards vorgibt, zeigt

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sich spätestens bei körperlichem Unwohlsein, bei Schmerz, sch ließlich und endlich beim Exitus. In diesen Fällen ist der Körper von der normalen Funktionsweise abgewichen, und die Natur hat mit entsprechenden Sanktionen reagiert.“ (Kuhlmann 2002: 292)

Vielfalt darüber hinaus als individuellen Normalfall zu betrachten, womit jeglichen asymmetrischen Verhältnissen abgeschworen wird, schafft außerdem gemeinsame Perspektiven ab. Eine solche Perspektive kann zum einen für ‚Behinderte‘ selbst wichtig sein, sei es, um bestimmte Erfahrungen einordnen zu können oder sich über (gruppen-)spezifische Erfahrungen austauschen zu können, die einem ‚Nichtbehinderten‘ verschlossen bleiben und wie es im folgenden Beispiel einer körperbehinderten Schülerin anklingt: „Hey, ja, da kannst du toll einen drauf mitnehmen hinten, […] das sind die entscheidenden Dinge, die man wissen will und wenn man halt noch fünf Rollstuhlfahrer um sich hat, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass man einen hat, mit dem man sich so versteht, dass man einfach über die Dinge spricht. Und ja, das ist ganz oft so und ja, da kann mir ein Nichtbehinderter wenig mit helfen mit solchen Problemen.“ (Singer 2015a: 63)

Zum anderen ist eine gemeinsame und nicht bloß individuelle Perspektive zudem bedeutsam für die, auch professionelle, Thematisierung der Möglichkeiten und Wirklichkeiten, die beispielsweise mit einer Körperbehinderung einhergehen und die in professionellen Kontexten spezifische Antworten erfordern, die einen gemeinsamen Bezugspunkt benötigen. Vielfalt lediglich als Normalfall anzusetzen, wird also weder den komplexen Verhältnissen einer Behinderung noch der asymmetrischen Beziehung zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ gerecht. Die Asymmetrie von Eigenem und Fremdem schiebt dieser Annahme einen Riegel vor. Aus dieser Ortsbestimmung des Eigenen und des Fremden und der damit einhergehenden Asymmetrie kommt es zu einer wichtigen Konsequenz. Beide sind in einem ganz besonderen Sinne unvergleichlich (vgl. Waldenfels 1997a: 76).

4.4 DER ORDNUNGSBEGRIFF ALS DEKATEGORISIERUNGSGEBOT? ZUR UNVERGLEICHLICHKEIT DES FREMDEN Das Denken im Zwischen, das einem jedem Vergleich und Feststellen als ein Denken des Zwischen vorausgeht, könnte zu dem Schluss verleiten, dass auf Vergleiche und Kategorisierungen zu verzichten wäre. Verhält es sich also so, dass der Gedanke der radikalen Fremdheit kongruent geht mit der inklusionspädagogischen Forde-

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rung nach Verzicht auf kategoriale Feststellungen? In der Sprache der Konzeption begrenzter Ordnung: Ist auf das „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ zu verzichten? Wie die Ausführungen gezeigt haben, gibt es im Moment der Ordnungsentstehung keinen Dritten, der hier Vergleiche durchführen würde. Das Ereignis der Ordnungsstiftung stützt sich selbst auf keinen Vergleich oder einen vergleichenden Dritten, sondern dieser Prozess tritt als ein originäres Sich-Unterscheiden von Eigenem und Fremdem in Erscheinung. Der Vergleich erfolgt immer erst hinterher, indem der Standpunkt eines Dritten eingenommen werden kann. Es trifft also zu, wenn Stinkes feststellt, dass sich radikal Fremdes keinem Vergleich verdankt (vgl. Stinkes 2014: 102). Stinkes Ausführungen legen jedoch auch nahe, dass das Denken der radikalen Differenz bzw. der radikalen Fremdheit ein Unterscheiden, also ein Gleichsetzen des Nichtgleichen, „verbieten“ würde, wie sie selbst sagt (vgl. ebd.). Dies würde nichts anderes bedeuten, als dass die Konzeption begrenzter Ordnung dem Dekategorisierungsgebot des inklusionspädagogischen Ansatzes entsprechen würde. Doch dies trifft keinesfalls so zu. Eine solche Sichtweise würde das radikal Fremde vielmehr selbst untergraben. Jeder Vergleich, auch derjenige, der – wie dies bei Prengel der Fall ist – die Unvergleichbarkeit betont „geschieht nachträglich vom Standpunkt eines Dritten aus, der abgrenzt und abwägt und vom Denken im Zwischen in ein Denken des Zwischen überwechselt“ (Waldenfels 1997a: 77). Komparatistik sei zwar jederzeit möglich, aber sie verfehlt das Fremde, das jedem Vergleich aufgrund des diastatischen Geschehens zwischen Fremdem und Eigenem, Anspruch und Antwort41 entrückt ist (vgl. ebd.). Das gilt eben auch für diejenige Form des Vergleichens, die die Unvergleichbarkeit von Lebensformen betont: „Diese Form von Unvergleichbarkeit würde bereits einen anfänglichen Vergleich voraussetzen, obwohl dieser sich doch verbietet, wenn eines vom anderen toto coelo verschieden wäre.“ (Ebd.: 76) Prengel spricht zwar von der Inkommensurabilität und der radikalen Pluralität, ihr Ansatz bleibt aber dem Denken der relativen Differenz oder Heterogenität verhaftet. Sie verbleibt durch die Hervorhebung der Unvergleichbarkeit von Lebensformen im Denkraum des Zwischen, wohingegen eine radikal verstandene Inkommensurabilität ein Denken im Zwischen erfordern würde. Ein radikal Fremdes bekommt Prengel durch die und wegen der Betonung der Unvergleichbarkeit von Lebensformen nicht in den Blick, da es sich einer solchen Art der (Un-)Vergleichbarkeit, die bereits einen Vergleich vorausgesetzt hat, gerade entzieht. Eigenes und Fremdes sind unvergleichlich in einem ganz besonderen bzw. radikalen Sinne, und dies nicht deshalb, „weil sie sich beim Vergleich als gänzlich unähnlich herausstellen könnten, was ja die totale Ähnlichkeit nur umkehren würde, sondern weil sie einen Vergleich gar nicht zulassen“ (Waldenfels 1987: 164). Sie sind unvergleichlich, da uns der Ort fehlt, „von dem aus wir sie überblicken und aneinander messen können, und 41 Vgl. hierzu auch 5.2.

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zwar deshalb, weil wir selbst in einer Ordnung leben. Jeder Universalisierungs- und Totalisierungsversuch geht von irgendwo aus, und jeder Vergleich hinkt.“ (Ebd.) Dies bedeutet nun aber weder, dass dieses Denken im Zwischen ein Denken des Zwischen verbietet, noch heißt es, dass auf Vergleiche als ein Gleichsetzen des Nichtgleichen verzichtet werden soll, so, als ob uns eine solche Möglichkeit zur Wahl gestellt wäre. Waldenfels geht es keineswegs um die Verdammung vergleichender Feststellungen und die Leugnung des Dritten. Er will den Anspruch des Fremden nicht gegen die Instanz des Dritten ausspielen (vgl. Waldenfels 1997a: 123f.). Dies würde nämlich bedeuten, „das Außerordentliche vom Ordentlichen, die Anomalie von der Normalität abzusondern […]“ (ebd.). Beide spielen insofern ineinander, als sie sich in dem Punkt überkreuzen, „wo Fremdes und Fremde als etwas und als jemand gefaßt werden“ (Waldenfels 2006: 127), wo es also zum Gleichsetzen des Nichtgleichen kommt. Ein Drittes ist folglich immer mit im Spiel, wenn wir uns redend und handelnd aufeinander oder auf etwas beziehen wollen. Bei der Figur des Dritten handelt es sich nach Waldenfels nicht um ein „zufällig hinzukommendes Individuum, das die Anzahl der Gruppenmitglieder erhöht, sondern wir denken an eine bestimmte Rolle, die immerzu in Anspruch genommen wird, wenn wir miteinander oder gegeneinander etwas tun“ (ebd.: 126). Zwischen uns gäbe es keinerlei Verständigung und kein Handeln, wenn nicht immer schon ein Drittes wirksam würde: „Wir können kein Wort aussprechen, keine Handlungsgeste vollziehen, ohne daß ein Drittes ins Spiel kommt, das sich weder auf das Verhalten des Adressaten noch auf das des Adressanten zurückführen läßt.“ (Ebd.) Positiv formuliert steht der Dritte, „ob als persönliche oder als anonyme Instanz, […] für Regeln, Ordnungen, Gesetze, die es erlauben, etwas als etwas, jemanden als jemanden anzusprechen und zu behandeln“ (ebd.). Anders formuliert: „Im Dritten verkörpert sich jenes Mittelglied, das uns kooperativ oder kompetitiv auf bestimmte Ziele ausrichtet, unser Verhalten gemeinsamen Regeln unterwirft und auf diese Weise ein soziales Band zwischen uns knüpft.“ (Waldenfels 1997a: 124) Die Figur des Dritten ist die Instanz, die „gegensätzliche Kräfte miteinander vereinbar macht“ (Waldenfels 2002: 255), sie zeigt einen generellen Gesichts- und Standpunkt an. Der vergleichende Gesichtspunkt des Dritten, der auch Recht und Gerechtigkeit ermöglicht, ist also unentbehrlich, er ist notwendig für unser Verhältnis zu uns selbst, zu Anderen und zur Welt. Wir sind auf derartige verallgemeinernde Prozesse angewiesen, wenn wir uns auf etwas und aufeinander beziehen wollen. Erweckt die Ordnung der Dinge den Anschein „der Dinge selbst“, kommt es zu einer gewissen Selbstverständlichkeit, mit der wir uns in „der selbstverständlichen Vertrautheit des Ordentlichen […]“ (Waldenfels 1987: 179) bewegen. Wird der vergleichende Standpunkt des Dritten verabsolutiert – wie auch im Falle der pädagogischen Inklusionsidee –, dann verschwindet jedoch die anfängliche Differenz von Eigenem und Fremden (vgl. Waldenfels 2000: 355).

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Dass wir unausweichlich und unaufhörlich auf fremde Ansprüche zu antworten haben, hat damit zu tun, dass uns die Welt weder als fertig gegebene gegenübertritt noch als völlig ungeordnetes Chaos erscheint, sondern als ein Anspruchsfeld, aus dem der Anspruch auf selektive und exklusive Weise hervortritt (vgl. Waldenfels 2002: 256): „Stünde uns nur eine Anknüpfungsmöglichkeit offen oder stünden uns alle zugleich offen, hätten wir es mit den Extremfällen eines notwendigen Zusammenhangs oder einer völligen Zusammenhangslosigkeit zu tun, so gäbe es keine Alternative.“ (Waldenfels 1987: 40) Waldenfels betrachtet den Menschen daher in der Situation eines „nicht festgestellten Tieres“ (vgl. u.a. ebd.: 22ff.). Dem Menschen als nicht festgestelltem Tier ist weder das eine noch das andere, weder nur eine noch alle Anknüpfungsmöglichkeiten zugleich gegeben, er muss deshalb Feststellungen treffen, wenn er „sich nicht völlig dem Wechsel und der Laune des Augenblicks ausliefern will“ (ebd.: 40). In Ermangelung einer fest vorgezeichneten Lebensbahn stehen ihm verschiedene, aber nicht alle Wege offen: „Diese Situation eines sozial ‚nicht festgestellten Tieres‘ zwingt gleichsam zur Feststellung, zur Einführung von Präferenzen und Perspektiven, zum ‚Gleichsetzen des Nichtgleichen‘, zum ‚Vergleichen des Unvergleichlichen‘, zu eben dem, was eine Ordnung zur Ordnung macht.“ (Waldenfels 2002: 256f.) Diesem „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ liegt die besagte Asymmetrie von Fremdem und Eigenem, von Anspruch und Antwort zugrunde. Es gehört „zu jeder Ordnungsleistung, die etwas in eine Ordnung bringt, was nicht schon vorweg dieser Ordnung angehört.“ (Waldenfels 2006: 127f.) Hierbei handelt es sich um jede Ordnung, die sich im Medium von Bild, Wort, Begriff, Sinn und Regel bewegt (vgl. Waldenfels 1997a: 125). Das unausweichliche Gleichsetzen des Nichtgleichen bedeutet jedoch stets ein Dilemma, denn indem der fremde Anspruch einem allgemeinen Gesetz oder einer allgemeinen Regel „unterworfen und derart gleichgesetzt wird, was nicht gleich ist, wohnt der Gerechtigkeit stets ein Moment der Ungerechtigkeit inne“ (Waldenfels 2006: 66). Anders formuliert: „Jeder Form der Gerechtigkeit, die ein Recht des Dritten geltend macht, haftet wohl oder übel ein Moment der Ungerechtigkeit an.“ (Waldenfels 1997a: 126) Mit diesem Dilemma, das jeder Ordnung anhaftet, kann man nun auf verschiedene Weise umgehen (vgl. ebd.: 125). Ganz sicher geht es nach Gesagtem nicht darum, dieses Gleichsetzen und Gleichmachen zu verdammen oder zu vermeiden (vgl. Waldenfels 2006: 127f.). Die Ambivalenz des inklusionspädagogischen Ansatzes besteht in diesem Punkt darin, dass mit der Forderung nach Dekategorisierung – dem Verzicht auf Kategorisierung – zunächst jedes Gleichsetzen ganz und gar vermieden werden soll. Das Gleichsetzen des Nichtgleichen wird demnach scharf verurteilt, indem ausschließlich die Perspektive individueller Verschiedenheiten zum Einsatz kommen und auf jegliche kategorialen Zuordnungen verzichtet werden soll. Zugleich wird das ‚Nichtgleiche‘ jedoch einem Allgemeinsamen, einer allumfassenden Ordnung eingeordnet und dem allgemeinen, individuellen Maßstab der indi-

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viduellen Verschiedenheit damit untergeordnet bzw. mit ihm gleichgesetzt. Verschiedenheit tritt so nur als relative Verschiedenheit auf und dies ausschließlich unter dem Primat einer übergreifenden Ordnung der Gleichheit. Auch wenn mit dem inklusionspädagogischen Ansatz vorgetäuscht wird, jegliche Normalisierung zu überwinden, womit dem Anderen seine gebührende Wertschätzung zuteil werden soll: Mit der Forderung der „Normalität der Verschiedenheit“ wird ein allgemeiner Maßstab eingeführt, mit dem der Andere und seine Ansprüche zugedeckt und nivelliert werden. Fremdes wäre hier mit dem Dritten, einer übergreifenden Ordnung, zusammengefallen, wohingegen das Fremde eine solche Koinzidenz verhindert, indem es sich einer jeden Ordnung entzieht. Die Asymmetrie zwischen Eigenem und Fremdem nötigt zu der Einsicht, dass hier etwas „gleichgesetzt wird, was nicht gleich ist […]“ (vgl. ebd.: 66) und auch nicht gleichgesetzt werden kann, wenn das Fremde nicht verleugnet werden soll. Das Fremde verhindert eine solche Symmetrie. Wenn Waldenfels das notwendige „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ aber nicht verurteilt und die Fremdheit nicht der Rolle des Dritten opfern will, worum geht es ihm dann? Klar ist, dass er mit dem radikal Fremden nicht die naive Idee einer bloßen Dekategorisierung verfolgt. Anders, als vom inklusionspädagogischen Ansatz gefordert, kommt es ihm zufolge „nicht darauf an, einem deutungsfreien Etwas nachzujagen […]“ (Waldenfels 1987: 47). Eine solche Sichtweise würde das radikal Fremde ebenso nivellieren wie die Annahme, dass sich das, worauf wir antworten, letztgültig bestimmen ließe. Die Sichtweise, dass sich das, worauf wir antworten, völlig losgelöst von bestimmten Ordnungen bewegt – wir also, wie inklusionspädagogisch gefordert, einem „deutungsfreien Etwas“ nachzujagen haben – würde allzu schnell bei einem bloßen Konstruktivismus enden. In diesem Fall wäre das Fremde als Pathos42 – als das, wovon wir getroffen sind und worauf wir antworten – „ein bloßer Anlaß für eigenmächtige Sinnbildungen und Zielsetzungen“ (Waldenfels 2002: 101). Von einem solchen Pathos schlechthin ließe sich nichts lernen (vgl. ebd.); es würde uns nicht einmal affizieren und herausfordern, da es entweder unbemerkt an uns vorbeirauschen oder es sich derart vor uns ausbreiten würde, als ob es lediglich auf unsere eigenmächtige Sinngebung wartete. In beiden Fällen kann von einer Herausforderung durch das Fremde, das uns in Frage stellt, keine Rede mehr sein. Das Fremde könnte mit der Sichtweise, dass es losgelöst von jeglichen Ordnungen in Erscheinung tritt, darüber hinaus als radikal Fremdes nicht mehr hervortreten und uns beunruhigen. Vielmehr bleibt es notwendigerweise und von vornherein auf bestimmte Ordnungen bezogen, die es voraussetzt und zugleich überschreitet; ein schlechthin Fremdes oder ein völlig „deutungsfreies Etwas“ kann es nicht geben, da Fremdes stets auf das Eigene verweist. Mit der Annahme kontingenter Bedingungen jeglicher Ordnung wird deren innere Notwendigkeit bestritten, 42 Zum Pathos vgl. die Ausführungen in 5.2.

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das heißt eine Ordnung kann anders sein, als sie ist. Dies bedeutet jedoch nicht, „daß jede einzelne Ordnung beliebig ist. Nicht alles, was nicht notwendig ist, ist damit schon beliebig.“ (Waldenfels 2005b: 81) Vielmehr meint dies, dass „immer mehr möglich ist als das, was sich verwirklicht“ (Waldenfels 1997a: 171). Um es nochmals zu betonen: Mit dem Denken der radikalen Fremdheit kann es ganz sicher nicht darum gehen, die Fremdheit der Rolle des Dritten zu opfern; ebenso wenig geht es mit ihm aber darum, einem deutungsfreien Etwas nachzujagen. Im ersten Fall wäre das Fremde in einer Ordnung verschwunden, im zweiten Fall könnte es uns als solches nicht einmal mehr beunruhigen, geschweige denn in Frage stellen. Das Denken der radikalen Fremdheit ‚verbietet‘ das „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ also nicht, sondern mit ihm kommt es darauf an, „die Genese von Ordnungen und damit auch ihre innere Kontingenz sichtbar zu machen“ (Waldenfels 2006: 128) bzw. „Funktion, Grenzen und Genese des Dritten sachgemäß einzuschätzen […]“ (1997a: 124). Es gilt daher, „die Deutungsraster, ohne die wir gar nicht sprechen könnten, so zu verschieben, daß etwas von dem Ungeordneten durch das Geordnete durchschimmert“ (Waldenfels 1987: 47f.). Dass es Ordnungen gibt, besagt eben, dass es Ordnung stets nur im Plural gibt, es aber nicht die Ordnung gibt. Andersherum bedeutet die Einsicht, dass es nicht die Ordnung gibt, nicht, dass es überhaupt keine Ordnung gibt. Wie bereits thematisiert, tut eine jede Ordnung – wie die allumfassende inklusionspädagogische Ordnung –, die sich als absolut setzt und damit ihre eigenen Grenzen verleugnet, eben jenem fremden Anspruch Gewalt an, den sie zu wahren vorgibt: „Der Satz summum ius summa iniuria betrifft nicht nur die Rechtsordnung, die sich verabsolutiert hat, er läßt sich auf jede Ordnung beziehen, die ihre Herkunft und damit ihre eigenen Grenzen verleugnet. Fremdes läßt sich in keine Ordnung einbeziehen, so offen und flexibel sie sich geben mag.“ (Waldenfels 1997a: 126) Es kommt also nicht darauf an, das gleichsetzende Moment einer Ordnung zu verurteilen, sondern es gilt, die Kontingenz ihres Zustandekommens im Blick zu behalten. Demzufolge kann es auch nicht um eine Entdifferenzierung von Gesundheit und Krankheit oder Behinderung gehen, wohl aber um ein „Achten auf den Prozeß der Differenzierung und Ausscheidung, der stets Gefahr läuft, bei fixen Grenzen zu enden, wo das Dysfunktionale, Kranke, Leidmachende als absolute Negativität, Defizienz und Abnormalität erscheint, obwohl doch jede Lebensform, auch die des Kranken, zunächst nach ihren eigenen, andersartigen Normen zu betrachten – und ebenso zu behandeln wäre.“ (Waldenfels 1987: 72f.)

Auch und gerade die Ordnungen einer Behinderung bedeuten keine starren und unveränderlichen Grenzen, die Eigenes und Fremdes strikt voneinander trennen, sondern Behinderungen verweisen stets auf das Eigene und die Ordnungen einer ‚unversehrten‘ Leiblichkeit und stehen mit ihnen im Bunde. Dies bedeutet aber auch

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nicht, die Grenzen beliebig zu setzen, denn, so Waldenfels, „dies würde uns die Natur bald schmerzlich heimzahlen“ (ebd.: 72). Das Denken radikaler Fremdheit bedeutet keinen Verzicht auf Vergleiche und die Benennung eines etwas als etwas. Es verhindert nicht die Einsicht, dass derartige Feststellungen notwendigerweise zu unserem Selbst- und Weltverhältnis gehören und ein radikal Fremdes stets auf diese Sinnbildungen angewiesen bleibt. Verfällt man nicht einem stumpfen und ignoranten Denken der „Normalität der Verschiedenheit“, sondern geht auch weiterhin von der Annahme aus, dass Ordnungen sich bilden, indem sich eines vom anderen abhebt, dann endet man nicht bei der tautologischen und nichtssagenden Aussage einer allgemeinen Fremdheit oder Verschiedenheit. Das Denken der radikalen Fremdheit macht vielmehr darauf aufmerksam, dass jede Anomalie auf die Normalität bezogen bleibt. Somit kann es weder ein kontext- und ortloses Fremdes geben noch antworten wir aufeinander als bloße deutungsfreie und von jeder Bedeutung befreite Entitäten. Zugleich macht dieses Denken darauf aufmerksam, dass auch die Sinnbildungen im Kontext von Behinderung stets einer bestimmten Perspektive unterliegen und es darauf ankommt, die Raster unserer Wahrnehmung so zu verschieben, dass Behinderungen nicht als das ganz Andere oder völlig Fremde hervortreten. Jedoch bedeutet dieser Spielraum des Antwortens nicht, dass unsere Antworten völlig beliebig ausfallen oder von einer autonomen Vernunft gesetzt werden. Es verhält sich also nicht so, wie es der inklusionspädagogische Ansatz mit seinen Präskriptionen vorsieht. Vielmehr handelt es sich auch und gerade in der Begegnung mit vor allem sichtbar ‚Behinderten‘ um pathische Ereignisse, um ein vorgängiges Getroffensein, das stets die Möglichkeit eines kreativen, aber nicht des beliebigen Antwortens anzeigt. 43 Dies hat damit zu tun, dass sich der fremde Anspruch als das Worauf des Antwortens als ein bestimmter Ort zeigt, an dem wir aber selbst nie waren und nie sein werden. Bevor dieses Fremderfahrungsgeschehen im Kontext von Behinderung aus der Perspektive der responsiven Antwortlogik abschließend betrachtet und die Annahme der „Normalität der Verschiedenheit“ insbesondere auch vor diesem Hintergrund in Frage gestellt wird, sind die wesentlichen Kritikpunkte nochmals zusammenzutragen, die mit der Konzeption begrenzter Ordnung an der pädagogischen Inklusionsidee unweigerlich einhergehen.

4.5 ZUSAMMENFASSUNG Ein radikal Fremdes wurde und wird innerhalb und außerhalb pädagogischer Diskurse kaum oder nicht beachtet. Insbesondere im pädagogischen Heterogenitätssowie im Integrations- und Inklusionsdiskurs findet sich nahezu ausschließlich ein Verständnis von Heterogenität im Sinne relativer und wertzuschätzender Verschie43 Vgl. hierzu 5.2.

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denheit, nicht aber im Sinne einer radikal verstandenen Fremdheit. Fremdheit wird häufig mit Verschiedenheit gleichgesetzt, wodurch sie zum Spezialfall des Anderen herabsinkt, der nur mehr oder weniger fremd ist. Mit Waldenfels ist daher auf den wichtigen Unterschied zwischen Andersheit im Sinne von Verschiedenheit und Andersheit im Sinne von Fremdheit aufmerksam zu machen. Im normativen Diskurs über die relative Verschiedenheit wird durch vergleichende Operationen gleichgesetzt, was nicht gleich ist. Diesem Denken liegt das Prinzip der Abgrenzung zugrunde, bei dem Selbes und Anderes in einem dialektischen Verhältnis miteinander verknüpft werden, so dass die Perspektiven grundsätzlich reversibel und austauschbar sind. Demgegenüber und dem voraus steht das Denken der Fremdheit, das von einem Geschehen der Ein-und Ausgrenzung ausgeht, das Eigenes und Fremdes hervorbringt, die sich voneinander unterscheiden, ohne dass hier eine vermittelnde Instanz dazwischen tritt. Eigenes und Fremdes versperren sich einem symmetrischen Verhältnis, sie sind über eine Schwelle hinweg miteinander verbunden und getrennt zugleich. Mit der einseitigen Betonung der Verschiedenheit gerät ein radikal Fremdes, das die Fremdheit selbst betrifft, aus dem diskursiven Blickfeld. Sowohl die Denkfigur der Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit, die der Integrationstheorie zugrunde liegt, als auch die der „Normalität der Verschiedenheit“, die im inklusionspädagogischen Ansatz das normative und präskriptive Ziel aller praktischen Bemühungen darstellt, gehen lediglich von der relativen Verschiedenheit aus. Die Unterscheidung von Andersheit im Sinne von Verschiedenheit und Andersheit im Sinne von Fremdheit ermöglicht hingegen einen Wechsel der Diskursebenen. Der Diskurs über Heterogenität ist dann nicht als ein normativer Diskurs über die Verschiedenheit zu führen, sondern das Denken der radikalen Fremdheit stellt das einseitige Verschiedenheitsdenken in Frage und die Erfahrung von Heterogenität selbst zugleich in den Mittelpunkt. Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz soll die Andersheit des Anderen zugunsten eines universellen Ganzen, der Normalität der individuellen Verschiedenheit, überwunden werden. Möglich wird dies nur, wenn die Ebene der gelebten Räumlichkeit verlassen wird und ein raumenthobenes, entsozialisiertes und entzeitlichtes Abgrenzungssystem zugrunde gelegt wird, das heißt, wenn Andersheit lediglich im Sinne der relativen Verschiedenheit verstanden wird. Die Ausblendung und Nivellierung der radikalen Fremdheit, die sich auf der Ebene einer gelebten Räumlichkeit bewegt, führt zu der irrigen Annahme der Überwindung von Fremdheit durch Einbeziehung in ein Ganzes. Das Fremde lässt sich jedoch in keine Ordnung einbeziehen, worüber die Konzeption der begrenzten Ordnung, die sich in ihrem Entstehen als ein Prozess der Selektion und Exklusion zugleich erweist, Aufschluss gibt. Beim inklusionspädagogischen Ansatz der „Normalität der Verschiedenheit“, der die Überwindung der Fremdheit in der Allgemeinheit sucht, handelt es sich daher um eine bloße Illusion, die allerdings durch ihr gesellschaftspolitisches Wirken inzwischen großen Einfluss auf das Denken und Handeln in pädagogisch-

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professionellen und politischen Kontexten nimmt. Eben hierin liegt ein Gefahrenpotential begründet, das sich in den inklusionspädagogischen Prämissen selbst verbirgt. Mit der Konzeption begrenzter Ordnung erweist sich der inklusionspädagogische Ansatz als eine totalitäre Gesamtordnung par excellence. Als Gesamtordnung folgt er dem Prinzip der Totalisierung, indem die relative Andersheit in einem Ganzen – der Normalität der individuellen Verschiedenheit – einbezogen sein soll und versucht wird, das Ganze durchzusetzen. Der inklusionspädagogische Ansatz folgt jedoch noch weiteren totalitären Prinzipien im Sinne Waldenfels’: Es zeigt sich, dass überzeugende Gründe für diese Ziele und Annahmen fehlen und durch bloße Postulate und Handlungsaufforderungen, oder schärfer, durch Propaganda, ersetzt werden (vgl. 2.3.2), ein Spiel mit archaischen Ängsten und Wünschen betrieben wird, das Machwerk der Inklusion selbst als natürlich erscheinen soll (Vielfalt ist Normalfall), die Totalität selbst zum Prinzip erhoben wird („Normalität der Verschiedenheit“ als Prinzip des Denkens, Handelns und Wahrnehmens) und dass schließlich verschiedene gesellschaftliche Felder wie Wissenschaft, Politik und Erziehung dem Imperativ Inklusion folgen und ihn mehr oder weniger versuchen, durchzusetzen. Eine Folge dieser totalitären Vorgehensweise ist, dass andere Perspektiven und Ansichten eine Marginalisierung erfahren und verunglimpft werden, worin sich dieser Ansatz zugleich als ideologisch motiviert entlarvt. Die pädagogische Inklusionsidee setzt sich in inhaltlicher Hinsicht zudem insofern einem Ideologieverdacht aus, als die selegierenden Interessen jeder Lebensform hinter dem Ganzen – der Vielfalt als Normalfall – nicht nur zurückzutreten haben, sondern das andere Anderssein soll mit bestimmten inklusionspädagogischen Maßnahmen explizit überwunden werden. Diese inklusionspädagogische Wertschätzungsideologie, die vorgibt, den Anderen zu achten, tut ihm gerade dadurch Gewalt an, dass sie ihn einem Ganzen einverleiben will; die unzureichenden Gründe einer jeden Ordnung werden mit der Idee des inklusionspädagogischen Allgemeinen, das keine Fremdheit mehr kennt, zu überwinden versucht. Wenn sich jedoch eine jede Ordnung durch ihr selektives und exklusives Zustandekommen auszeichnet, dann ist eine solche Gesamtordnung ausgeschlossen. Der inklusionspädagogische Ansatz leugnet somit seine eigenen Grenzen. Jede Ordnung unterliegt einer gewissen Kontingenz, sie hat ihren eigenen Gesichtspunkt und damit ihren eigenen blinden Fleck. Die Ordnung schlechthin kann es damit nicht geben, es gibt immer nur bestimmte Ordnungen, die unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen zustande kommen. Das Ganze lässt sich nicht fassen, da der Ort fehlt, von dem aus sich ein Ganzes überblicken ließe. Jede Ordnung, die sich dennoch als ein solches Ganzes zu verstehen gibt, und dadurch ihre eigene kontingente Perspektive leugnet, entartet daher zu einem –ismus, sei es ein Totalitarismus, ein Moralismus oder ein Inklusionismus. Auch hinter der ‚Wir-Rede‘ der pädagogischen Inklusionsidee steckt ein ‚Ich‘ oder ein ‚Wir‘, das wir sagt. Es gibt

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kein Wir, das für alle sprechen kann. Im Falle der pädagogischen Inklusionsidee liegt die verborgene Präferenz darin, dass es sich lediglich um ein Wir derjenigen ‚Nichtbehinderten‘ und ‚Behinderten‘ handelt, die sich für dieses Wir aussprechen können, was bedeutet, dass sie sich grundsätzlich auch dagegen aussprechen können. Wird, wie mit dem inklusionspädagogischen Ansatz, vorgegeben, für wirklich alle zu sprechen, dann liegt genau hierin eine verborgene Präferenz, die sich als übergriffig erweist. Die Forderungen des inklusionspädagogischen Ansatzes sind in höchstem Maß kontingent, auch hier wird von einem bestimmten Standpunkt aus eine bestimmte Ordnung angestrebt, wohingegen andere Ordnungen keine Rolle mehr spielen sollen. Abseits der Übergriffigkeit dieses Vorgehens besteht die Gefahr hierbei darin, dass das, was trotzdem noch fremd bleiben wird, einer noch viel größeren Stigmatisierung und Marginalisierung ausgesetzt ist. Der Versuch der Vermeidung jeglicher Fremdheit führt dazu, dass diese umso stärker hervortritt, was zu unheilvollen Konsequenzen führen kann. Die pädagogische Inklusionsidee lässt sich nicht um die radikale Fremdheit erweitern. Erstere ist mit der egalisierenden und nivellierenden Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ explizit darauf angelegt, das Fremde durch die Auflösung jeglicher Grenzen so zu bändigen, dass es in einem Ganzen überwunden wäre. Die Asymmetrie von Eigenem und Fremdem verhindert jedoch einen solchen pervertierten Konsens, der sich schon dadurch als ein Nonsens erweist, da die Perspektiven von ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ nicht einfach reversibel und austauschbar sind, ohne dass hier Verallgemeinerungen zulässig sind. Mit dem Leugnen der radikalen Differenz zwischen ‚Nichtbehinderten‘ und ‚Behinderten‘ und einer Sichtweise auf Behinderung als einem sozialen Konstrukt gehen jedoch nicht nur wichtige fachlich-professionelle Perspektiven verloren, sondern auch das leibliche Zur-Welt-Sein von beispielsweise ‚Körper‘- oder ‚Geistigbehinderten‘ und ebenso das Leiden an einer Behinderung werden hierdurch in Frage gestellt. Schließlich führt die Asymmetrie von Eigenem und Fremdem, die die Unvergleichlichkeit des Fremden anzeigt, nicht zu einem Dekategorisierungsgebot bzw. einem Benennungsverbot. Mit dem radikal Fremden geht es nicht darum, einem bedeutungsfreien Etwas nachzujagen, sondern dieses Denken verweist auf die Kontingenz einer jeden feststellenden Ordnung, die damit immer auch anders, aber nicht völlig anders sein kann.

5

Fremderfahrung im Kontext von Behinderung Kritik an der inklusionspädagogischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“

Die pädagogische Inklusionsidee tritt nicht nur als eine solche totalitäre Gesamtordnung, sondern auch insofern als eine formalisierte Grundordnung auf, als jegliches Verhalten und Handeln der universellen Norm der Normalität der individuellen Verschiedenheit unterworfen wird. Der inklusionspädagogische Ansatz will mit der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher, sondern auch auf intersubjektiver Ebene explizit das Konzept des „demokratischen“ Eingehens auf Heterogenität sein. Auch hierin verbergen sich unheilvolle Gefahren, die es im folgenden Teil der Arbeit anhand des Fremderfahrungsgeschehens im Kontext von Behinderung auszuformulieren gilt. Anders als bei Stinkes und Dederich, die den Gedanken der radikalen Fremdheit inzwischen auch im Kontext von Inklusion diskutieren, geht es hier weniger um die ethische Situation oder die ethischen Konsequenzen, auf die die beiden Autoren aufmerksam machen, sondern um die Situation der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung selbst. Zwar spielen bei dieser phänomenologischen Betrachtung gewiss auch psychoanalytische Vorgänge eine Rolle. Entgegen der Unterstellung Ahrbecks (vgl. Ahrbeck 2014: 58), fallen diese beiden Sichtweisen aber nicht zusammen.1 Unübersehbare und sich überschneidende Bezüge zeigen sich insbesondere in Hinblick auf die sogenannten originären Reaktionen (vgl. u.a. Cloerkes 2007: 119). Jedoch besteht auch zwischen den soziologischen und psychologischen Erklärungsansätzen dieser Reaktionen keine Deckungsgleichheit mit dem Gedanken der radikalen Fremdheit. Die von Cloerkes herausgearbeiteten Erklärungsansätze nehmen die Dimension der Intersubjektivität im Kontext von Behinderung nach 1

Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie bzw. Phänomenologie vgl. u.a. Waldenfels (2002: 286-359).

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wie vor am umfangreichsten in den Blick. Da die folgenden Ausführungen eine Analyse eben dieser Dimension aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden anstreben (5.5), sind die Erkenntnisse Cloerkes’ darzustellen (5.4), um daraufhin die Unterschiede zwischen beiden Sichtweisen herauszuarbeiten (5.5.2; 5.5.4). Im Kern haben die folgenden Ausführungen jedoch weniger zum Ziel, diese Abgrenzungsdiskussion zu führen oder eine Erklärung ausgrenzenden Verhaltens zu liefern. Vielmehr ist es ihnen um das Aufzeigen bestimmter Strukturen der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung bestellt, mit denen die normativistischen Ansichten des inklusionspädagogischen Ansatzes zu diesem Geschehen konfrontiert werden müssen. Um die Fremderfahrung im Kontext von Behinderung aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden thematisieren zu können, sind gewisse Vorarbeiten unerlässlich: So ist zunächst grundsätzlich zu klären, wodurch es gerechtfertigt erscheint, die Phänomene Fremdheit und Behinderung überhaupt zusammenzudenken (5.1). Sodann sind bestimmte Grundzüge der Fremderfahrung anhand des Gedankens der radikalen Fremdheit bzw. der Konzeption der Responsivität darzustellen (5.2.1-5.2.4) und eine erste Kritik an der inklusionspädagogischen Grundordnungsfigur der „Normalität der Verschiedenheit“ vorzunehmen (5.2.5). Da das Phänomen der Aufmerksamkeit die Erfahrung des Fremden auf besondere Weise erschließt, und es ebenso im Kontext von Behinderung eine große Relevanz genießt, sind auch dessen Grundzüge herauszuarbeiten (5.3). Von diesen Überlegungen ausgehend schließt sich nach der Darstellung der Erkenntnisse von Cloerkes (5.4) eine Analyse der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung an (5.5.1; 5.5.3). Vor diesem Hintergrund werden abschließend Konsequenzen aufgezeigt, die durch die bloß normative und präskriptive Sichtweise des inklusionspädagogischen Ansatzes auf dieses Geschehen eintreten können und die daher das Ziel einer größeren Wertschätzung und Anerkennung ‚Behinderter‘ gefährden (5.7). Es geht in den folgenden Ausführungen also explizit nicht darum, zu einem gemäßigten oder differenzierten Inklusionsverständnis zu gelangen, sondern um die Infragestellung des Anspruchs dieser Idee selbst, als exklusive Leitvorstellung für den Umgang mit Heterogenität zu gelten. Aufgrund der thematisierten Moralisierung des Diskurses um Inklusion erscheint es notwendig, wiederholt darauf aufmerksam zu machen, dass eine solche Kritik mitnichten das Ziel einer größeren Teilhabe und Wertschätzung ‚Behinderter‘ in Frage stellt, wohl aber, dass – wie es der Anspruch der Inklusionspädagogik ist – ein angemessener und demokratischer Umgang mit Heterogenität nur mit dem „Nordstern“ der pädagogischen Inklusionsidee (vgl. Hinz 2010a: 34) möglich sein soll. Der hier gewählte Zugang zum Problem des Umgangs mit Heterogenität führt über das Phänomen der Fremdheit, das anders als der inklusionspädagogische Ansatz womöglich keine eindeutigen Lösungen verspricht, das aber erstens die Unzulänglichkeiten der pädagogischen Inklusionsidee aufzeigt und zweitens näher an der konkreten Erfahrung von Heterogenität ausgerichtet ist.

Fremderfahrung im Kontext von Behinderung | 297

5.1 FREMDHEIT UND BEHINDERUNG 5.1.1 Normale und strukturale Fremdheit: Behinderung als strukturale Fremdheit Das anhand der Konzeption begrenzter Ordnung explizierte, radikal Fremde macht all unsere Erfahrungen zu uns selbst, unseres Verhältnisses zu Anderen und des Verhältnisses zur Welt aus. Es sorgt dafür, dass wir niemals völlig bei uns selbst, bei Anderen und der Welt sind; wir sind stets nur über eine Kluft hinweg voneinander getrennt und verbunden zugleich. Wären wir völlig bei uns selbst, den Anderen und der Welt, so könnte uns nichts und niemand beunruhigen, ansprechen, affizieren, verstören. Kurzum: Es gäbe so etwas wie Fremderfahrungen mit Anderen und uns selbst gar nicht erst. Das radikal Fremde ist das, was niemals völlig in eine Ordnung einrückt und uns notwendigerweise entzogen bleibt, nur in dieser originären Form der Unzugänglichkeit kann es seine beunruhigende Wirkung entfalten. Ein radikal Fremdes ist also immer mit im Spiel, wenn wir Erfahrungen machen und solche nicht nur wiederholen oder herstellen. Das radikal Fremde ist keine weitere Spielart und bedeutet kein Steigerungsverhältnis der Fremdheit. Es fungiert zumeist unauffällig im Hintergrund unserer Erfahrungen, was nun aber keineswegs ausschließt, dass wir etwas oder jemanden als fremdartiger erfahren als etwas anderes oder jemanden anderen. Im Gegenteil: Das radikal Fremde kann unterschiedlich stark hervortreten, unterschiedliche Tönungen annehmen und in der Attraktion und Repulsion unterschiedliche Richtungen provozieren, so zum Beispiel in der Leidenschaft oder im Zurück- oder Abgestoßensein. Der Entzug des Anderen und unserer selbst kann uns mehr oder weniger bewusst werden, überwinden lässt sich diese Struktur der Erfahrung jedoch nicht. Das, was für uns als mehr oder weniger fremdartig hervortritt, bezeichnet Waldenfels als relative Fremdheit, die stets vom radikal Fremden durchzogen ist. Heuristisch unterscheidet er eine normale oder alltägliche relative Fremdheit und eine strukturelle oder strukturale relative Fremdheit, die auf das Innen und das Außen einer Ordnung verweisen (vgl. Waldenfels 1997a: 35ff.; 2002: 242). Beide sind von der radikalen Fremdheit durchzogen, sie stehen aber derart im Verhältnis zueinander, dass die strukturelle gegenüber der normalen Fremdheit eine Steigerung der Fremdheit anzeigt. Zur normalen oder alltäglichen Fremdheit gehören beispielsweise „Passanten, die ich nicht kenne, Handgriffe, die ich nicht beherrsche, Wörter, die mir nicht geläufig sind, und all die vielen weißen Flecke auf der Landkarte, die sich jederzeit ausfüllen lassen, ohne daß irgendwelche Ordnungsmaßstäbe verrückt werden. Es handelt es sich um

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‚Leerhorizonte‘, die zum Gefüge jeder endlichen Erfahrung gehörten und dazu führen, daß Bekanntes mit Unbekanntem durchsetzt ist.“ (Waldenfels 2002: 242)

Die Fremdheit verbleibt hier innerhalb der eigenen Ordnung, sie bedeutet eine Bewegung „in einem Vertrauenshorizont, selbst wenn dieser immer wieder Leerstellen aufweist“ (Waldenfels 1995b: 615). Der gewohnte Gang der Dinge nimmt in diesen Erfahrungen seinen Lauf, für auftretende Lücken im Erfahrungsfeld gibt es „Nachschlagewerke, Auskunftsbüros und Lernprogramme, die uns im Notfall weiterhelfen, ohne daß wir unseren Lebensstil ändern müßen“ (ebd.). In diesem Sinne spricht Waldenfels hier von einer normalen oder alltäglichen Fremdheit. Die strukturelle Fremdheit betrifft als Steigerungsgrad der alltäglichen oder normalen Fremdheit all das, was nicht innerhalb, sondern „was außerhalb einer bestimmten Ordnung liegt“ (Waldenfels 1997b: 72). Hierzu gehören beispielsweise „der fremde Festkalender, die fremde Sprache, die wir nicht verstehen, das fremde Ritual oder selbst nur der Ausdruck eines Lächelns, dessen Sinn und Funktion uns verschlossen bleibt […]“ (Waldenfels 1997a: 36). Diese Form der Fremdheit verweist auf Husserls Scheidung der Lebenswelt in Heimwelt und Fremdwelt, die der bekannten Unterscheidung in Eigen- und Fremdgruppe entspricht (vgl. ebd.; Waldenfels 1997b: 72). Wie Waldenfels betont, hebt die strukturale Fremdheit nicht erst mit der fremden Sprache an, sondern sie kann bereits mit dem Blickkontakt auftreten, „je nachdem, ob der Gesprächspartner frontal fixiert oder in einer lateralen Blick- und Schutzzone belassen wird“ (Waldenfels 1997a: 36). Auch das Lächeln kann eine solche strukturale Form der Fremdheit hervorrufen, seine Rätselhaftigkeit „verweist nicht nur auf Lebensabgründe, sondern auch auf interkulturelle Ausdrucksdifferenzen“ (ebd.), wobei auftretende Missverständnisse in kritischen Situationen sogar tödlich ausgehen können (vgl. ebd.). Als weitere Beispiele führt Waldenfels die fugitive beauté von Baudelaires Passantin an oder „die Unsicherheit, die ein Farbiger in den nächtlichen Straßen unserer Städte zu spüren bekommt“ (Waldenfels 2002: 242). Die strukturale Fremdheit tritt also immer dann hervor, wenn etwas außerhalb der eigenen Ordnung liegt und der gewohnte Gang der Dinge unterbrochen wird. Anhand dieser Überlegungen wird deutlich, dass sich auch bestimmte Formen einer Behinderung im Bereich der strukturalen Fremdheit bewegen. Hierzu zählen alle Behinderungsformen, die den habitualisierten Gang der Dinge unterbrechen, zum Beispiel die vertrauten und typischen Formen der Motorik, der Kommunikation und Interaktion, des Verhaltens und weitere Beeinträchtigungen, die in bestimmter Hinsicht auffällig werden und von bestimmten Ordnungen abweichen. Eigens Belege dafür anzuführen, dass es dieses Auffälligwerden und Abweichen gibt, erscheint angesichts unserer Erfahrung und vergangener und aktuellerer Umgangsweisen mit diesem Auffälligwerden kaum notwendig. Vor dem Hintergrund der inklusionspädagogischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“, die nicht

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nur auf die Normalisierung des Umgangs mit diesem Auffälligwerden abzielt, sondern mit der Überwindung des anderen Andersseins auch die Normalisierung dieses Aufälligwerdens selbst anstrebt – also seine Überwindung –, wird dies dennoch notwendig. Wie ist es zum Beispiel zu erklären, dass explizit auch die von dem Aufälligwerden einer Behinderung betroffenen Menschen insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus Opfer massenhafter Vernichtungen wurden, wenn es dieses Auffälligwerden nicht geben würde? Aber auch heute noch – und im Zuge einer um sich greifenden Biopolitik im Sinne Foucaults und eines wieder zunehmenden (präferenz-)utilitaristischen Denkens verstärkt – führt dieses spezifische und zuweilen bereits pränatale Auffälligwerden zu sublimeren Formen der Vernichtung und Marginalisierung. Weiterhin ließe sich danach fragen, weshalb es so etwas wie die eingangs dieser Arbeit angesprochenen, originären Reaktionen auf Behinderung gibt? Schließlich ist auf die vielen alltäglichen Ausgrenzungserfahrungen hinzuweisen, mit denen Menschen, die in dieser Hinsicht auffällig werden, konfrontiert sind. Als nur ein Beispiel hierfür sei auf die Biographien von körperbehinderten Schülern verwiesen, deren psychische Belastungssituation an Regelschulen auch aufgrund sozialer Ausgrenzungserfahrungen so groß wurde, dass schließlich ein Wechsel an eine Förderschule eingeleitet wurde.2 In den Erzählungen dieser Schüler und ihrer Eltern wird deutlich, dass nicht irgendein Merkmal den Anlass für diese mobbingähnlichen Situationen bot, sondern dass sich dieses Verhalten der Mitschüler meistens direkt auf die sichtbare körperliche Beeinträchtigung oder ein sehr auffälliges Verhalten bezog oder zumindest mit diesen Auffälligkeiten einherging. Zur Veranschaulichung dieser tatsächlich erfahrenen Situationen sind an dieser Stelle Beispiele aus einer qualitativen Interviewstudie ausgewählt, die explizit die körperliche Auffälligkeit thematisieren (vgl. Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose 2012a: 51ff.): • „Ja, und früher in der Grundschule haben mich sehr viele Kinder wegen den Fin-

gern gefragt. Also was passiert ist. Manche haben auch echt gefragt, ob die abgeschnitten worden sind und ich habe gesagt: ‚Nein.‘ […] Ich habe wegen den Fingern auch früher in der Pause geweint, weil auch viele gefragt haben […].“ (Schülerin) • „Das war auch in der weiterführenden Schule so. Gesamtschule ging die Hanna dann. Da ist sie gemobbt worden, fing dann so langsam an, dass die Mitschüler weggelaufen sind, weil die wussten, die kann nicht so schnell hinterher. Also all solche Sachen, so Kleinigkeiten halt […].“ (Mutter) 2

Vgl. hierzu die Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie, deren Interviews vom Autor dieser Arbeit geführt wurden (Singer 2015a: 51ff.; Lelgemann/Lübbeke/Singer/ Walter-Klose 2012a: 51ff.; 2012b).

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• „[…] weil er ja schon ziemlich gemobbt worden ist, aber nicht von den Kindern,

sondern von den Lehrern […]. Sie hatte so Sachen losgelassen: 28 Kinder und dann noch ein Rollstuhl in der Klasse, das wäre ihr zu viel. Das hat die ihm auch zu verstehen gegeben […]. Und die hat ihm auch zu verstehen gegeben, dass er nicht mit auf Klassenfahrt dürfte.“ (Mutter) • „Sie hatte natürlich auch ne Klassenlehrerin, die sie von vornherein von oben bis unten angestarrt hat, dann war’s das eigentlich. Der erste Schultag hat schon viel erklärt […]. Die haben Natalie auch abgeschoben. […] Da wurde auch dementsprechend auch gar nicht eingeschritten und das ist schon heftiger gewesen. […]. Da ist es katastrophal gewesen.“ (Vater) Diese Erfahrungen stammen nicht aus einer weit entfernten Vergangenheit, sondern aus dem Jahr 2012. Natürlich steht es jedem frei, zu sagen: Wenn es dieses Auffälligwerden nicht geben würde, dann würde es auch all diese Situationen und sämtliche Formen der sogenannten originären Reaktionen nicht geben. Ebenso gut könnte man auch sagen: Wenn es keine Krankheit geben würde, dann wären wir alle immer gesund. Das, und noch viel mehr, kann man alles sagen und denken. Das Problem daran ist nur: Wir werden trotzdem krank, auch wenn wir uns wünschen, dies nicht zu werden und auch, wenn wir noch so viele Vorkehrungen dagegen treffen mögen. Es gibt ein Auffälligwerden, das sich um Abweichungen der gewohnten Ordnungen leiblichen Daseins herum gruppiert. Etwas anderes zu behaupten wäre blanker Zynismus angesichts der Erfahrungen der Betroffenen und angesichts der Erfahrungen derjenigen, die mit diesem Auffälligwerden konfrontiert werden. Die Antwort des inklusionspädagogischen Ansatzes ist bekannt: Es geht um die Überwindung des anderen Andersseins, der Auflösung der Fremdheit bzw. des Auffälligwerdens in der Normalisierung der Verschiedenheit. Demgegenüber wird hier mit der Konzeption begrenzter Ordnung die begründete Ansicht vertreten, dass sich im Falle einer Krankheit oder einer Behinderung etwas der Normalisierung entzieht. Dieses Etwas ist als Fremdes genau das, was sich entzieht und das wir nicht zu fassen bekommen. Im Falle einer Behinderung entzieht sich aber etwas hier nicht nur dem Betroffenen selbst, sondern auch dem, der mit dem Phänomen der Behinderung und damit gleichsam mit seiner eigenen Fremdheit und Unverfügbarkeit konfrontiert ist, die sich nicht normalisieren lässt. Hierzu müssten wir uns und unsere leibliche Verletzlichkeit und Vergänglichkeit schon selbst überwinden können. Die Normalisierung des anderen Andersseins findet in dieser Unverfügbarkeit ihre Grenzen. Behinderungen liegen aus Sicht des ‚Nichtbehinderten‘ außerhalb einer bestimmten Ordnung und lassen sich daher dem Bereich der strukturalen Fremdheit zuordnen. Es handelt sich hierbei um ein asymmetrisches Verhältnis, bei dem die Perspektiven nicht einfach austauschbar oder reversibel sind (vgl. auch 4.3.4). Im Falle einer Behinderung wird besonders deutlich, dass diese Ordnungen nicht strikt voneinander getrennt sind, sondern Eigenes und Fremdes stets aufeinander verwei-

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sen. Nichtsdestotrotz fallen die Perspektiven auch hier, und anders als in der Annahme der „Normalität der Verschiedenheit“, nicht zusammen. Ohne verallgemeinern zu wollen, hat beispielsweise ein ‚Körperbehinderter‘ ein anders gelagertes Verhältnis zur Normalität bzw. ist die Normalität für ihn etwas anderes, als dies für einen ‚Nicht-Körperbehinderten‘ der Fall ist. Diese Verhältnisse sind wiederum auch nicht gleichzusetzen mit den anderen Heterogenitätsdimensionen, wie beispielsweise der Dimension der sprachlichen Herkunft. Behinderung ist nicht bloß ein soziales Konstrukt, sondern ein Zustand, in den wir jederzeit geraten können, indem sich uns unser Leib entzieht, und dies manchmal irreversibel; hingegen können wir zwar auswandern, aber deswegen bleibt die eigene Muttersprache immer noch die eigene Muttersprache, auch wenn wir eine andere Sprache perfekt beherrschen oder die eigene Muttersprache irgendwann nahezu verlernt haben mögen. Dass die Muttersprache als eigentlich verlernt geglaubte Sprache in der Demenz wieder zum Vorschein kommen kann oder die erlernte Sprache sogar verdrängen kann, bestätigt diese These umso mehr. 5.1.2 Behinderung als leibliche Erfahrungsweise von Selbst, Anderen und der Welt Die einzelnen Ordnungen entziehen sich einem allgemeinen Ganzen, da sie sich selbst entziehen und entzogen bleiben. Zudem bekommt weder die Perspektive der „Normalität der Verschiedenheit“ noch eine intersektionale Perspektive in den Blick, dass diese Abstände unterschiedlich erfahren und durchlitten werden, vom Betroffenen selbst sowie auch von demjenigen, der als Anderer mit einer bestimmten Heterogenitätsdimension konfrontiert wird. Es ist zwar gut, dass eine intersektionale Perspektive darauf aufmerksam macht, dass wir immer von mehreren Dimensionen von Heterogenität zugleich durchzogen und nicht auf eine dieser Dimensionen zu reduzieren sind. Aber es bedeutet jeweils etwas anderes, die Welt als behindert zu erfahren oder als Migrant, als Frau oder als Mann etc. Ebenso bedeutet es etwas anderes, einem Ausländer oder einem ‚Schwerbehinderten‘ zu begegnen. Eine sichtbare Behinderung kann sich sogar soweit aufdrängen, dass sie alle anderen Dimensionen überlagert, auch wenn dies nicht wünschenswert sein mag. Wobei sich hier auch zugleich kritisch fragen lässt, für wen dies nicht wünschenswert ist und wer hier eigentlich von der Marginalisierung befreit werden soll. Selbstverständlich ist jemand, der oder die eine Behinderung hat, nicht nur behindert, sondern immer auch ein Mann, eine Frau oder intersexuell, ein Einheimischer, ein Ausländer oder ein Asylbewerber etc. Gewiss haben diese Dimensionen und ihre Verwobenheit immer auch eine machtanalytische Bedeutung und bewegen sich stets nur im Rahmen kultureller Ordnungsgrenzen und Deutungsmuster. Noch mehr: Es gibt keine einzige Feststellung, die sich außerhalb einer kulturell und symbolisch

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verfassten Ordnung bewegen würde. Dies alles sei zugestanden. Was mit einer solch einseitigen Sichtweise aber nicht mehr berücksichtigt, sondern gleichsam zugedeckt wird, ist die Selbst- und Fremderfahrung einer Behinderung, die für beide Seiten ein pathisches Ereignis par excellence darstellt.3 Aufgrund der inhaltlichen Bedeutsamkeit, die ungleich mehr ins Gewicht fällt, da Kuhlmann selbst schwer behindert war, soll er an dieser Stelle mit dem bereits Zitierten nochmals zu Wort kommen: „Dass aber Personen die Erfahrung machen, dass sie nicht nur einen Körper ‚haben‘, sondern ein Leib ‚sind‘, wird man kaum als ‚diskursiven Effekt‘ begreifen können.“ (Kuhlmann 2011: 179) Gegen eine solche sozialkonstruktivistische Sichtweise auf Behinderung verwehrt sich Kuhlmann als Selbstbetroffener unmissverständlich: Die „ominöse Rede von Behinderung als ‚Effekt‘ von Diskursen und Praktiken [hat] mit der Selbsterfahrung vieler Betroffener wohl nichts gemein. […] Dass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die natürliche Ausstattung des Menschen Normalitätsstandards vorgibt, zeigt sich spätestens bei körperlichem Unwohlsein, bei Schmerz, schließlich und endlich beim Exitus. In diesen Fällen ist der Körper von der normalen Funktionsweise abgewichen, und die Natur hat mit entsprechenden Sanktionen reagiert.“ (Kuhlmann 2002: 292)

Was es nicht gibt, das ist ein absolut oder total Fremdes, „radikale Fremdheit ist nicht zu verwechseln mit absoluter und totaler Fremdheit; denn alles Außerordentliche bleibt bezogen auf bestimmte Ordnungen, über die es hinausgeht“ (Waldenfels 1997a: 37). Sowohl die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ als auch eine intersektionale Perspektive nivellieren bzw. decken außerdem zu, dass es unterschiedliche Fremdheitsgrade und Fremdheitsformen gibt. Einseitig normative, präskriptive, rechtliche oder sozialkonstruktivistische Sichtweisen sehen nicht, dass es zwischen den Dimensionen von Heterogenität, ebenso wie innerhalb dieser einzelnen Dimensionen, zu unterschiedlichen Fremd- und Fremdheitserfahrungen kommt. Dies macht es, wie Meyer-Drawe zuzustimmen ist, „beinahe unmöglich, über Behinderung im Allgemeinen zu sprechen“ (Meyer-Drawe 1993: 29). Dennoch werden unsere Einschätzungen „dabei zumeist bestimmt von der Behinderungsform, die wir sozusagen im Hinterkopf haben, und unsere Beurteilung der Lage wird anders sein, wenn wir an den Rollstuhlfahrer und den Blinden denken oder an den Autisten und Schwermehrfachbehinderten“ (ebd.). Nochmals anders werden die Einschätzungen sein, wenn wir an einen schwerbehinderten Mann bzw. an eine schwerbehinderte Frau denken und an einen nichtschwerbehinderten Mann bzw. an eine nichtschwerbehinderte Frau, und wieder anders, wenn wir an schwerbehinderte und an schwarze Menschen denken. Diese Einschätzungen verweisen auf ein je anders gelagertes intersubjektives Erfah3

Vgl. zur pathischen Dimension der Erfahrung die Ausführungen in 5.2.

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rungsgeschehen, das jeweils andere Antworten provoziert, deren Urheber nicht wir selbst sind: „Eine Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Betrachtungsweisen“, so Meyer-Drawe im Kontext der Rede über Behinderung weiter, „ist vielleicht darin auszumachen, daß wir jeweils eine Begegnung von Ich und Anderem vor Augen haben, die beunruhigend ist, weil der Andere nicht nur anders, sondern auch fremd ist, weil sich die Register unserer Erfahrungen in unterschiedlichem Ausmaß und allzuoft nur sehr wenig überschneiden. Dabei scheint es so, daß die Fremdheit zunimmt in dem Maße, wie wir uns nicht mehr in einer gemeinsamen Sprache verständigen können.“ (Ebd.)

Es ist selbstverständlich zu respektieren, wie jemand im persönlichen Nahbereich bezeichnet werden will. So gibt es Menschen, die nicht als ‚behindert‘ bezeichnet werden möchten und Menschen, für die dies Anerkennung der Tatsache sein kann, dass sie nicht nur behindert werden, sondern auch behindert sind. Solange wir in unterschiedlichen Kontexten über Behinderung sprechen wollen und Behinderungen keine unspezifische bzw. überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr erfahren sollen, wird dieses Problem nicht vollständig zu lösen sein. Es trifft zu, dass eine Behinderung zu einem negativen Stigma werden kann und sich in eine negative Auszeichnung verwandeln kann. Deswegen ist aber doch nicht die Behinderung selbst bereits ein negatives Stigma. Der inklusionspädagogische Ansatz erweckt mit all seinen Forderungen und der Prämisse „Es ist normal, verschieden zu sein“ den Anschein, dass eine Behinderung etwas nicht sein Sollendes sein soll; Behinderung wird zu einem Problem hochstilisiert, das noch dazu gesellschaftlich konstruiert und zu überwinden wäre. Von einer solchen Einschätzung ausgehend gelangt auch Ahrbeck zu der Frage, wie es „abseits des gängigen Etikettierungsdialogs […] auf Menschen mit Behinderung wirken mag, wenn ein Sprachgebrauch gesucht wird, der vermeidet, was für sie selbst offensichtlich ist. […] Ein weltanschaulich verbrämtes Wahrnehmungsverbot von Behinderungen […] signalisiert, dass etwas, das existiert, nicht sein darf“ (Ahrbeck 2011: 74). Ähnlich wie für Kuhlmann, bedeutet auch für Saal, der selbst schwer körperbehindert war, seine Behinderung hingegen „etwas Selbstverständliches […], für fast alle anderen ein schlimmes Unglück“ (Saal 1990: 5). Er beschreibt seine Behinderung daher auch als etwas, das zu seinem Namen gehört (vgl. Saal 1994: 27), das sich also nicht einfach ablegen lässt: „Der Wunsch, nicht behindert zu sein, steht mir frei. Nur bin ich es nicht! Die Behinderung gehört untrennbar zu mir. Will ich sie loswerden, muss ich mich meines ganzen unaustauschbaren Daseins entledigen.“ (Ebd.) Auch wenn Saal mit der Verwendung des Begriffes „behindert“ die ihm „entgegengebrachte Abwehr beim richtigen Namen nennen“ (ebd.: 21) will, rückt er damit zugleich die Behinderung als Bedingung der Möglichkeit seiner „Teilnahme am Dasein […]“ (Saal 1990: 5) in den Fokus: „Denn sich mit seiner Behinderung nicht abzufinden heißt eigentlich, den ganzen Menschen nicht zu wol-

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len, weil das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Wer mich, Fredi Saal, will, muss auch meine Behinderung wollen.“ (Ebd.: 6) An anderer Stelle heißt es ähnlich und mit kritischem Blick auf einseitige Therapie- und Förderansätze: „Es kann nicht darum gehen, ein ‚halber‘ unbehinderter Mensch zu sein, sondern das Ziel ist ein behinderter ‚ganzer‘. Denn in der Behinderung liegen die Wurzeln meiner Existenz, nicht in der Nichtbehinderung, die ich niemals erreichen werde, auch wenn ich mich bis zum Tode in Richtung ‚Gesundheit‘ therapieren lasse.“ (Saal 1994: 156) Vollends deutlich wird diese leibliche Perspektive auf Behinderung schließlich auch, wenn Saal betont: „Meine Behinderung bin ich; ich bin meine Behinderung. Dies bedeutet keine Leidensverliebtheit. Es ist vielmehr die Respektierung dessen, was ich selbst bin und deshalb auch nur sein kann.“ (Ebd.: 97) Ganz ähnlich fällt auch die Selbsteinschätzung von Kienle aus, die körperbehindert ist und im Rollstuhl sitzt. Mit dieser ausführlichen Beschreibung wird sehr deutlich, dass die Behinderung selbst nicht nur als kein bloßes Problem, sondern als Zugangsweise zum Selbst, zu den Mitmenschen und zur Welt erfahren wird. Wie Kienle sagt, definiert sie sich „ausschließlich durch, mit und vielleicht sogar über meine Behinderung […]: Denn eine andere Möglichkeit habe ich nicht. Ich kann meine Behinderung nicht einfach in einen Schrank schließen und sagen, so und jetzt definiere ich den Rest von mir unabhängig von meiner Behinderung. Ich bin als ganzer Mensch behindert, ja selbst mein Denken ist behindert: Ich meine damit, dass ich nicht anders als eine Behinderte denken kann. Ich kann mir, selbst mit noch so großem Bemühen, nicht vorstellen, wie es ist, nichtbehindert zu sein, genauso wenig wie ich mir anmaßen kann, mir vorzustellen, wie es ist, geistig behindert oder blind zu sein. Daher kann ich auch keinen Teil nichtbehindert betrachten, weder mein Aussehen, meine Außenwirkung noch mein Denken und damit auch weder mich noch mein Leben. Und in meiner Welt bedeutet das, etwas Besonderes zu sein. Denn ich lebe hauptsächlich unter Nichtbehinderten und da ist es etwas Besonderes, behindert zu sein. […] Allein, wenn ich nur im Rollstuhl sitzen würde und die Behinderung sonst keinerlei Auswirkung hätte, selbst dann würde ich mich deutlich von den Anderen unterscheiden. Selbst dann hätte ich ständig eine andere Perspektive, solange die Anderen stehen. Diese Differenz wird es immer geben. Auf mich wirkt ein Hund anders als auf jemanden, der steht. Mein Leben ist sozusagen von unten nach oben. […] Es ist ein ganzes Leben in einem, mit einem, durch einen behinderten Körper. Ich bin nicht Dorothee mit einem behinderten Körper, ich bin die behinderte Dorothee. […] Eine Körperbehinderung betrifft mich, sie ist immer mit dabei, ich kann sie nicht zwischendurch ablegen, ich bin sie, sie prägt das, was ich wahrnehme und wie ich es wahrnehme. Nicht nur die Behinderung bedeutet mir etwas – sie bedeutet mir sogar viel –, sondern durch sie sind auch alle anderen Aspekte meines Lebens (Mitmenschen, Welt, ich selbst) in ihrer Bedeutung geprägt.“ (Singer/Kienle 2016: 78f.)

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Der inklusionspädagogische Ansatz, der dieses andere Anderssein lediglich unter den Scheffel der Normalität stellt – womit er es zugleich banalisiert – und es in dieser zugleich aufgehen lassen will, verkennt eine solche leiblich-behinderte Zugangsweise nicht nur, sondern spricht ihr auch jegliche Existenzberechtigung ab. Nicht zuletzt betont Prengel, mit leicht veränderter Perspektive, dass in „allen pädagogischen Ansätzen, die eine Affinität zu Inklusion aufweisen, […] kindliche Verschiedenheit einschließlich Behinderung als Reichtum angesprochen [wird]“ (Prengel 2010a: 45). Das ist zwar richtig, aber die Behinderung wird zugleich als zu überwindendes Problem dargestellt. Nichtsdestotrotz ist Prengel zuzustimmen, wenn sie sagt, mit einer solchen Perspektive könne es „leicht geschehen, dass das Leiden, das mit der Erfahrung von Krankheit, Unterlegenheit, Beeinträchtigung und Begrenzung einhergeht, ignoriert wird“ (ebd.). Mit der Prämisse „Es ist normal, verschieden zu sein“ geht die Ignoranz dessen einher, dass eine (Körper-) Behinderung ein Phänomen ist, das seine spezifischen und „eigenen Möglichkeiten und Wirklichkeiten hat“ (Stenger 1999: 28). Das ist keine Wertung, sondern die Anerkennung der Tatsache einer anderen leiblichen Perspektive auf die Welt, die nicht nur ein bisschen mehr oder weniger, oder sogar normal verschieden ist, sondern die uns unzugänglich und daher fremd bleibt. Es liegt in der Natur der Sache, dass es manchmal schwer fällt, dies zu akzeptieren. Hierbei macht es jedoch einen Unterschied, welcher Seite diese Akzeptanz schwer fällt. Die universelle inklusionspädagogische Annahme, dass es normal sein soll, verschieden zu sein, will nicht nur die Betroffenen, sondern vor allem auch die Nicht-Betroffenen von der Schwierigkeit befreien, sich mit dieser Unzugänglichkeit auseinandersetzen zu müssen. Zu denken, dass dieses bloße Abschwören einer fremden Perspektive auf sich selbst und den Anderen zu mehr gegenseitiger Anerkennung führt, ist ein fataler Irrtum. Daraus folgt eine wachsende Verständnislosigkeit zwischen einzelnen Gruppen, deren Unmenschlichkeit stets zu Lasten der Schwächeren geht. Für einen ‚Behinderten‘, insbesondere, wenn er von Geburt an behindert ist, ist das Behindertsein insofern etwas Normales, als er sich selbst, Andere und die Welt stets nur in der Ordnung seiner Behinderung erfahren kann. Die Behinderung wird ihm nicht einfach von außen aufoktroyiert, wie es die Rede von einem ‚mit‘ Behinderung nahelegt. Genau aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit auch nicht die politisch korrekte Bezeichnung „Menschen mit Behinderung“ bedient. Hiermit wird einseitig das ‚Haben‘ einer Behinderung betont, womit das ‚Behindertsein‘ nicht nur keine Rolle mehr spielt, sondern mit den inklusionspädagogischen Ansichten auch keine Rolle mehr spielen kann und soll. Dieses ‚mit‘ unterstellt, dass eine Behinderung potentiell und durch geeignete Maßnahmen auch wieder entfernt werden kann. Andererseits suggeriert das ‚mit Behinderung‘ und das ‚ohne Behinderung‘ eine zu strikte Grenzsetzung. Demgegenüber wird hier eine leibphänomenologische Sichtweise auf Behinderung vertreten, die Meyer-Drawe für das Phänomen der geistigen Behinderung folgendermaßen kenntlich macht: „Es

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begegnet uns kein kranker Geist in einem ansonsten gesunden Körper. Der andere ist seine Behinderung, er hat sie nicht lediglich. Dabei ist die Behinderung eine mit unserer Leiblichkeit gegebene Möglichkeit und nicht lediglich ein von außen einfallendes Schicksal.“ (Meyer-Drawe 1999: 35) Es steht außer Frage und wurde auch hier immer wieder angesprochen, dass eine Behinderung zu Stigmatisierungen bis hin zu Tötung oder Mord führen kann. Die Behinderung selbst wird mit einer leibphänomenologisch orientierten Sichtweise aber weder überhaupt als ein ‚Problem‘ betrachtet, und noch viel weniger, nur als ein bloß kulturell erzeugtes Produkt, sondern als eine leibliche Möglichkeit des Erfahrens des Selbst, Anderen und der Welt. Es mag in der heutigen Zeit verstörend oder rückständig anmuten, von ‚behindert‘ oder dem ‚Behinderten‘ zu sprechen. In diesem Kontext ist anzuerkennen, dass Behinderung lange Zeit nur als eine medizinische oder natürliche Tatsache betrachtet wurde, was für die Betroffenen in gleicher Weise diskriminierend war, wie wenn Behinderung heute – und explizit mit der pädagogischen Inklusionsidee – nur noch als ein kulturelles Erzeugnis begriffen werden soll. Ebenso ist anzuerkennen, dass viele Betroffene sich die politisch korrekte Bezeichnung des „mit Behinderung“ wünschen. Demgegenüber gibt es aber, wie in den hier dargelegten Beispielen, auch Betroffene, die explizit und mit gutem Grund die Worte ‚behindert‘ oder ‚Behinderte‘ wählen und die, wie Kuhlmann, auch eine Sprache der Anführungszeichen ablehnen: „Wenn ‚Behinderung‘ in den entsprechenden Äußerungen ständig in Anführungszeichen gesetzt wird und damit signalisiert werden soll, dass es so etwas eigentlich gar nicht gibt, ist dies für die potentielle Solidargemeinschaft äußerst komfortabel. So genau möchten es die meisten Nicht-Behinderten nämlich tatsächlich gar nicht wissen.“ (Kuhlmann 2002: 292) Dass in der vorliegenden Arbeit dennoch die Sprache der Anführungszeichen gewählt wird, bedeutet nicht, Behinderungen verleugnen zu wollen. Im Gegenteil: Vielmehr soll mit der Bezeichnung ‚behindert‘ bzw. ‚Behinderte‘ das Behindertsein wieder zum Ausdruck kommen, wobei die Anführungszeichen der Tatsache Rechnung tragen sollen, dass diese Sprache nicht von allen Betroffenen gut geheißen wird und dass diese Bezeichnung zugleich im Bewusstsein des historischen Begriffswandels und einer veränderten Sichtweise auf Behinderung erfolgt.4 Dies bedeutet keine naive Reduktion der betroffenen Menschen auf ihre Behinderung und stellt sehr wohl auch die kulturelle Dimension von Behinderung in Rechnung. Diese Sichtweise verwehrt sich jedoch gegen eine bloß kulturelle bzw. sozialkonstruktivistische Perspektive auf Behinderung. Sie verfolgt das Anliegen, wieder auf die Dimension des leiblichen Behindertseins aufmerksam zu machen, das immer auch mit der Normativität der Körperprozesse und Körperstrukturen selbst zu tun hat, die 4

Mit dem Ausdruck ‚behinderte Menschen‘ wird im Allgemeinen ein Kompromiss angestrebt, der in der vorliegenden Arbeit ebenso bewusst vermieden wird, da sich mit dieser Bezeichnung die Frage stellt, weshalb hier das Menschsein eigens betont wird.

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zunächst unabhängig von unseren kulturellen Feststellungen fungieren. Um die Phänomenstruktur der Behinderung auf einer allgemeinen Ebene zu beschreiben, bietet sich daher die Sprache des ‚weder-nur/noch-nur‘ an: Behinderungen sind weder nur ein natürliches Ereignis noch nur ein kulturelles Produkt (vgl. hierzu auch Lelgemann 2010: 11). Eine völlige Normalisierung von Behinderung, wie sie der inklusionspädagogische Ansatz anstrebt, würde erstens bedeuten, dass das, was notwendigerweise als typisch erfahren wird, einem völligen Chaos anheim gegeben wird. Wie Waldenfels mit dem Phänomen der Orthoästhesie unter Bezugnahme auf Husserl anmerkt, „gibt es schon in gewöhnlichen Wahrnehmungsabläufen optimale und schlechte Bedingungen, wenn wir an Beleuchtung, Blickwinkel oder Sehabstand denken“ (Waldenfels 1987: 72). Selbst wenn es irgendwann mehr ‚Körperbehinderte‘ als ‚Nichtkörperbehinderte‘ geben würde: Einem Mediziner würde es wohl nicht einfallen zu behaupten, eine ‚Nichtkörperbehinderung‘ als atypisch beiseite zu setzen. So, wie „Funktionsstörungen und Krankheiten nichts rein Naturgegebenes [sind], sondern Prozessen einer selektiven Normalisierung entstammen“ (ebd.), sind auch Behinderungen nichts rein Natürliches. Auch sie stellen sich bis zu einem gewissen Grad als Kulturprodukte dar. Wie mit Waldenfels jedem sozialkonstruktivistischen und inklusionspädagogischen Denken entgegengehalten werden kann, folgt hieraus aber „keineswegs eine beliebige Grenzziehung, denn diese würde uns die Natur bald schmerzlich heimzahlen“ (ebd.). Eine völlige Normalisierung von Behinderung würde aber nicht nur bedeuten, dass diese nicht nur einer jeden, auch medizinisch indizierten Behandlung unzugänglich gemacht würde, was beispielsweise für einen Diabetiker vor allem des Typ-1 den sicheren Tod bedeuten würde. Die mit der inklusionspädagogischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ angestrebte Überwindung jeglicher Normalität würde Behinderung auch nicht mehr als einen spezifischen leiblichen Selbstentzug erfahrbar machen, der stets auch als ein Leiden, als Beeinträchtigung oder als Begrenzung (vgl. auch Prengel 2010a: 45) hervortreten kann. Für den ‚Behinderten‘ ist die Behinderung insofern etwas ‚Normales‘, da sich ihm die Welt und das eigene Selbst immer auch in, und nicht nur mit der Behinderung erschließt. Einer Normalisierung verschließt sie sich jedoch auch für ihn, da sie ein uneinholbares und unüberwindbares pathisches Ereignis anzeigt, das sich in der Körperbehinderung als ein verschärfter leiblich-körperlicher Selbstentzug äußert. Für den ‚Nichtbehinderten‘ ist die intersubjektive Erfahrung einer Behinderung jedoch alles andere als ‚normal‘, und sie wird es auch niemals werden. Auch wenn sämtliche Rückzugsräume und exklusive Strukturen abgeschafft würden und ‚Behinderte‘, ob sie wollen oder nicht, somit ständig im Blick des ‚Nichtbehinderten‘ leben müssten: Zwar würde sich der Umgang miteinander sicherlich – und hoffentlich zum Guten – verändern. Aber der ‚nichtbehinderte‘ Blick selbst würde sich auch in einem solchen Fall niemals völlig normalisieren. Dies hat damit zu tun, dass

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sich eine Behinderung als eine spezifische Anomalie einer solchen Normalisierung deswegen entzieht, weil sie stets einen leiblichen Entzug des eigenen Selbst bedeutet. Nicht nur die vertraute Welt zwischen uns, sondern auch die eigene Welt, die des ‚Nichtbehinderten‘ und die des ‚Behinderten‘, wird hier brüchig. Behinderung ist und bleibt eine spezifische Fremderfahrung par excellence, da sich hier etwas an unserem Leib selbst entzieht, das sich einer völligen Normalisierung und Zugänglichkeit widersetzt. Dieser Selbstentzug durchzieht das leibliche Selbst zwar von Beginn an; er tritt aber in einer Behinderung ganz besonders deutlich hervor. Hiervon betroffen ist nicht nur der ‚Behinderte‘ selbst. Genau aus diesem Grund lässt sich auch der ‚nichtbehinderte‘ Blick, das intersubjektive Geschehen bzw. der Umgang mit Behinderung, niemals völlig normalisieren, insofern sich dieser Blick im behinderten Anderen zugleich widerspiegelt und nicht widerspiegelt. Behinderungen liegen aus Sicht des ‚Nichtbehinderten‘ außerhalb einer bestimmten Ordnung, deren leibliche Möglichkeiten und Wirklichkeiten diesem verschlossen bleiben und sich ihm entziehen. Diese Asymmetrie und der Fremdentzug des Anderen prägen zwar grundsätzlich sämtliche intersubjektive Strukturen. Zugleich erfährt der ‚nichtbehinderte‘ Blick im Blick des behinderten Anderen jedoch seine eigene leibliche Kontingenz und Vulnerabilität. Oder wie es bei Meyer-Drawe heißt: „Lassen Sie es mich provozierend sagen, unser allgemeiner ‚horror alieni‘, der in der Zerbrechlichkeit unserer eigenen Normalität gründet, wird durch bestimmte Behinderte ganz besonders aktiviert.“ (Meyer-Drawe 1993: 30) Mit einer leibphänomenologisch orientierten Perspektive kann es deshalb weder darum gehen, Behinderungen überwinden zu wollen, noch das Auffälligwerden und die damit einhergehenden, spezifischen Fremderfahrungen in einer völligen Normalisierung aufgehen zu lassen. Als eine bestimmte Anomalie, die sich einer Normalisierung entzieht, ist das Phänomen der Behinderung dem Bereich der strukturalen Fremdheit zuzuordnen. Behinderungen entziehen sich sowohl der eigenen Ordnung (intrapersonale Fremdheit) als auch der Ordnung des Anderen (interpersonale Fremdheit). Mit Meyer-Drawe gesprochen ist eine Behinderung stets auch ein intersubjektives Phänomen, „das sich nicht als mangelhafte Verdopplung unserer Existenz begreifen lässt, sondern als spezifische Abweichung innerhalb zwischenmenschlicher Begegnungen“ (ebd.: 29). Behinderungen können zwar im Selbstund Fremderleben zu einem Problem für das Selbst werden, sie stellen jedoch für sich betrachtet kein zu überwindendes Problem dar, sondern repräsentieren eine spezifische Struktur eigen- und zwischenleiblicher Erfahrung. Im intersubjektiven Bereich verweisen Behinderungen als spezifische Abweichungen oder Anomlien auf die Grenzfälle der Normalität und bedeuten nicht nur für das behinderte Selbst, sondern auch für den nichtbehinderten Anderen eine gesteigerte Form der Fremderfahrung. Behinderungen spielen sich als eine spezifische Fremderfahrung daher immer auch vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Normalem und Anomalem ab. Im

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Kontrast zum Eigenen betrifft das Fremde Erfahrungsgehalte und Erfahrungsbereiche, das Fremdartige im Kontrast zum Eigenartigen hat es mit Erfahrungsstrukturen und Erfahrungsordnungen zu tun (vgl. Waldenfels 1998a: 59). Hierbei verhält es sich so, dass das Fremdartige, „das die Grenzen bestimmter Ordnungen überschreitet, […] eine bestimmte Form von Normalität voraus[setzt]“ (ebd.). In der Erfahrung des Fremden und Fremdartigen kann diese Normalität „jederzeit zusammenbrechen, es können sich Schleusen des Unheimlichen öffnen“ (Waldenfels 2002: 242). Doch dass die Normalität zusammenbrechen kann, bedeutet nicht, „daß es die Normalität nicht gibt“ (ebd.), so Waldenfels. Vielmehr könnte Fremdartiges als solches ohne eine bestimmte Form der Normalität gar nicht erst hervortreten; ebenso wenig könnte die Normalität ohne eine Scheidung in Normales und Anomales hervortreten (vgl. Waldenfels 2008: 16). 5.1.3 Das Verhältnis von Normalem und Anomalem: Behinderung als Anomalie Wer Behinderung in der heutigen Zeit allerdings als Anomalie bezeichnet oder auch nur in diese Nähe rückt, der darf sich eines gewissen Sturms der Entrüstung sicher sein. Jedoch gilt es, hier einen differenzierten Blick walten zu lassen. Denn ebenso wenig, wie Behinderungen als das schlechthin Fremde bezeichnet werden können, sind sie auch nicht einfach das Anomale. Andererseits entziehen sich gerade körperliche, geistige oder schwerere Behinderungsformen der völligen Normalisierung im Sinne einer Normalität der individuellen Verschiedenheit, indem sie von bestimmten Ordnungen leiblichen Daseins abweichen, ohne die Prämissen einer generellen Leiblichkeit zu verlassen (vgl. auch Meyer-Drawe 1993: 31). Bereits dieser einleitende Hinweis zeigt, dass Anomalien, wie auch die Fremdheit selbst, üblicherweise als etwas bloß Negatives verstanden werden. Waldenfels gelingt auch hinsichtlich dieses Verständnisses von Anomalien die Revidierung einer solchen Sichtweise. Zum Zusammenhang des Fremden und Anomalen ist vorweg anzumerken, dass Fremdes nicht „kurzerhand mit dem Anomalen zusammenfällt“ (Waldenfels 2008: 9), wie Waldenfels den Grenzen der Normalisierung voranstellt. Jedoch berühren und durchdringen sich Fremdes und Anomales vielfach (vgl. ebd.). Anomalie wird von Waldenfels „als Randerscheinung, Ausnahme oder Extremfall […]“ (ebd.: 13) verstanden. Es handelt sich demzufolge um Phänomene, „die nicht mit den üblichen Erwartungen zusammenstimmen“ (Waldenfels 2002: 33) und die sich daher im Bereich der strukturalen Fremdheit abspielen. Bestimmte Behinderungsformen, insbesondere sichtbare und auffällige Behinderungen, lassen sich daher dem strukturalen Fremdheitsbereich zuordnen; sie liegen außerhalb einer bestimmten Ordnung, indem sie eine bestimmte Möglichkeit leiblichen Daseins darstellen, das eigenen und

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spezifischen leiblichen Ordnungen unterliegt, die zwar nur schwer zu verallgemeinern sind, aber einem nicht ‚Körper‘- oder ‚Geistigbehinderten‘ unzugänglich bleiben. Sie können ebenso als Anomalie im Sinne eines erwartungswidrigen Phänomens verstanden werden. Das heißt wie gesagt nicht, dass sie einfach das Anomale wären. Der Begriff des Anomalen wird – ebenso wie derjenige der Fremdheit – von Waldenfels nicht deskriptiv oder normativ, also jenseits der Problematik von Sein und Sollen gefasst. Mit Autoren wie Husserl, Schütz, Goldstein, Canguilhem, Merleau-Ponty und Foucault hat Waldenfels eine „Normalisierung von unten“ im Sinn (vgl. Waldenfels 2008: 11). Den Grenzen der Normalisierung legt er die Annahme zugrunde, dass der Gegensatz von Faktizität und Geltung in der Genealogie von Normen unterlaufen wird (vgl. ebd.). Mit Merleau-Ponty geht Waldenfels davon aus, dass diese Genealogie bereits auf der Ebene der sinnlichen Gestaltbildung beginnt: „Die Gestalt, so heißt es in der Phänomenologie der Wahrnehmung […], ‚ist nicht Bedingung der Möglichkeit der Welt, sondern Erscheinen der Welt selbst, nicht Erfüllung, sondern Entstehung einer Norm‘“ (ebd.). Dies schließt nicht aus, dass eine solche Art der Normalisierung mit Momenten des Politischen und Technischen und damit des Gewaltsamen durchzogen ist (vgl. ebd.: 11f.). Allerdings sind der Normalisierung auch Grenzen gesetzt: „Würde das Normalisierte schlechthin produziert, fabriziert oder konstruiert, so gäbe es niemanden, der sich normalisiert und sich insofern niemals völlig normalisiert. […] Die Normalisierung wäre dann ein Geschehen, das sich nur von außen und hintendrein erfassen ließe, und dies ad infinitum; denn die Rekonstruktion der Normalität müßte konsequenterweise wieder als eine Art der Normalisierung gedacht werden.“ (Ebd.: 12f.)

Dieser Einwand trifft insbesondere auch auf das inklusionspädagogische Denken zu, das die Normalität als bloßes Konstrukt behandelt und ihre Überwindung anstrebt. Hierbei übergeht dieses Denken, das die völlige Normalisierung des Andersseins zum Ziel hat, nicht nur die Ebene der sinnlichen Gestaltbildung, sondern es übersieht auch seinen eigenen blinden Fleck: „Die Normalisierung holt sich selbst nicht ein, auch nicht in Form einer Selbstnormalisierung, da diese immer noch von etwas abweichen müßte, das sich der Normalisierung entzieht.“ (Ebd.: 15) Worum geht es Waldenfels also in seiner Betrachtung von Anomalien? Der kritische Punkt betrifft ihm zufolge genau das Verhältnis von Normal- oder Regelfall und Anomalie (vgl. ebd.: 13). Er unterscheidet zunächst zwei Varianten des Umgangs mit Anomalien: Zum einen eine „begrenzte Form des Normalismus“, zum anderen einen „Marginalismus“ oder „Extremismus“. Bei der „begrenzten Form des Normalismus“ wird dem Normalfall der Vorzug gegeben:

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„Das Normale erscheint als Urform, als Kernbestand oder als Regelfall. Es genießt einen eigentümlichen Vorrang, weil alle Anomalien, seien es Behinderungen, Pathologien, Absonderlichkeiten […] auf den Normalfall zurückverweisen. Abweichungen, so lautet die Argumentation, setzen etwas voraus, von dem sie abweichen, sei es eine Zielbestimmung, eine normative Regelung oder einfach der funktionsgerechte Ablauf. Der Normalfall stünde also im Zentrum, während Abweichungen an der Rand rückten.“ (Ebd.: 13f.)

Dieser Normalismus kann Waldenfels zufolge in drei Spielarten auftreten, dem Traditionalismus, dem Normativismus und dem Funktionalismus: „Der Normalismus nähert sich einem Traditionalismus, wenn eine bestehende Ordnung sich sozusagen aus sich selbst nährt und sich an sich selbst mißt. Der Normalismus steigert sich zum Normativismus, wenn das Funktionieren faktischer Ordnungen selbst noch einer normativen Grundordnung unterstellt wird […]. Der Normalismus verflacht schließlich zu einem Funktionalismus, wenn das Funktionieren faktischer Ordnungen sich sozusagen tautologisch bestätigt. Eine Ordnung wäre eine Ordnung, weil und solange sie als Ordnung funktioniert.“ (Ebd.: 14)

Für das Fremde bedeutet dies, dass es im ersten Fall in der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Tradition verschwindet, im zweiten Fall reduziert es sich auf eine Variante innerhalb eines allgemeinen Spielregelsystems und im dritten Fall „erscheint das Fremde als Geräusch, als programmwidriger oder auch programmfördernder Störenfried eines sich selbst erhaltenden Systems“ (ebd.). Beim Marginalismus oder Extremismus werden die Dominanzen hingegen vertauscht und der Rand gegen das Zentrum, die Ausnahme gegen den Regelfall, das Extrem gegen den Mittelwert starkgemacht (vgl. ebd.: 15). Das Anomale würde so selbst zur Normalität erhoben: „Diese Umkehrung gliche der exotistischen Vorliebe für das Fremde, die sich als sublimierte Form der Aneignung erweist.“ (Ebd.) Für den inklusionspädagogischen Ansatz gilt, dass er insofern einem Normativismus folgt, als hier alles der normativen Grundordnung der „Normalität der Verschiedenheit“ unterstellt wird. Zugleich kommt hier aber noch die andere Variante des Umgangs mit Anomalien ins Spiel, die des Marginalismus’. Allerdings wird hier nicht einfach die Ausnahme gegen den Regelfall starkgemacht, sondern die Ausnahme wird dem Regelfall gleichsam eingeordnet, sie soll sich normalisieren. Gegenüber diesen beiden Umgangsweisen mit Anomalien, dem begrenzten Normalismus und dem Marginalismus oder Extremismus, macht Waldenfels eine Perspektive auf Anomalien stark, die nicht auf bloße Reaktionen oder Umkehrungen hinausläuft, sondern die sich im Phänomen der Abweichung selbst zeigt (vgl. ebd.). Er wendet sich damit gegen ein Verständnis von Anomalien, das diese „als Abweichung von der Ordnung, mithin als rein negative Form der Ausfallerschei-

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nung, des Defizits, der Unordnung“ (ebd.: 133) konzipiert.5 Waldenfels zufolge lassen sich Anomalien „aber auch anders denken, nämlich als Abweichung von einer bestimmten Ordnung, so daß sie nicht als bloße Negativität, als Unordnung zu bewerten sind, sondern auch als Andersheit, die eine neue Ordnung zu inaugurieren vermag“ (ebd.: 134). Anomalien sind also nicht einfach das Gegenteil des Normalen, sondern Normales und Anomales bleiben stets aufeinander bezogen: „Außer in den Fällen, wo die Abweichung bereits innerhalb eines Ordnungsrepertoires (sei es ein Beichtspiegel, ein militärisches Planspiel oder eine Versicherungspolice) als Abweichungsvariante verbucht ist, gibt es das, wovon man abweicht, nur, indem man davon abweicht. Eine genuine Abweichung beschränkt sich nicht darauf, bestehenden Normalitäten eine neue Variante hinzuzufügen, sie bildet vielmehr eine Art Hohlform. […] Die Abweichung geschieht, indem sie bestehende Verhältnisse unterhöhlt, in Frage stellt, verändert, und sie vollzieht sich gleichzeitig als Selbstabweichung, da sie ein Doppelereignis darstellt, das sich selbst gegenüber verschoben ist.“ (Ebd.: 15)

Normales und Anomales fallen also weder zusammen noch divergieren sie völlig: „Altes und Neues fungieren nicht wie zwei Brückenpfeiler, zwischen denen sich das abweichende Verhalten aufspannt; zwischen beiden gähnt vielmehr ein unüberbrückbarer Abgrund, da der Übergang vom Alten zum Neuen weder nach der alten noch nach der neuen Ordnung vor sich geht.“ (Ebd.: 15f.) Es gibt nicht einfach das Normale, dem sich das Anomale hinzugesellen würde, sondern beide verweisen aufeinander, indem sie sich zugleich voneinander abheben und auseinander hervorgehen. Normales träte ohne Anomales als solches gar nicht erst hervor. Normales und Anomales fallen durch diese Selbstabweichung weder zusammen noch bilden sie zwei getrennte Bereiche: „Die Differenzierung zwischen Normalem und Anomalem setzt nicht zwei Beziehungsglieder miteinander in Bezug, sondern in ihr geht der Bezug Hand in Hand mit einem Entzug.“ (Ebd.: 16) Anomalien bedeuten demzufolge nichts Sekundäres, vielmehr begleiten sie jede Normalität als ein Schatten des Außer-ordentlichen (vgl. ebd.: 174). Sie gewinnen ihre Bedeutung daher nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sie bestehende Verhältnisse unterhöhlen und sich mit ihnen immer auch eine Form der Veränderung bemerkbar macht: „Eine Normativität“, so Waldenfels, „die nicht durch Anormales beunruhigt und durch 5

Hinsichtlich der Therapie, die insbesondere auch im Bereich der Körperbehindertenpädagogik eine große Rolle spielt, merkt Waldenfels an, dass es in diesem Fall dann um die „bloße Wiederherstellung der Ordnung“ ginge (vgl. Waldenfels 2008: 133). Demgegenüber weist er mit Binswanger, Minkowski und Goldstein auf die Konzeption einer Th erapie hin, „die nicht bloß auf Wiederherstellung, sondern auf Neufindung einer Ordnung aus ist“ (ebd.: 134). Vgl. hierzu besonders das Kapitel Der Kranke als Fremder. Therapie zwischen Normalität und Responsivität (vgl. ebd.: 112-144).

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Enormes überschritten wird, erstarrt zu einem künstlichen System, das seiner Antriebskräfte beraubt ist“ (Waldenfels 1987: 189). Die Austreibung des Anomalen, die mit der pädagogischen Inklusionsidee angestrebt wird, wäre genau dies, ein künstliches System ohne jegliche Antriebskräfte. Das, was dann übrig bliebe „wäre kein völliges Schweigen, aber es wäre nicht mehr als ein wortloses Geräusch, das man vernachlässigen kann, solange es nicht zu laut wird und sich womöglich gewaltsam Gehör verschafft“ (Waldenfels 1997a: 176). Normales und Anomales unterliegen zwar stets machtvollen Prozessen der Bewertung, die bis auf die Ebene der Erfahrung hineinreichen können. Normalisierung und Anomalisierung gehören aber unweigerlich zur sinnlichen Ebene der Wahrnehmung und Gestaltbildung, auf der sie als ineinander verschränkt auseinander hervortreten. Slogans wie, „Was ist schon normal?“, „(Geistig) Behindertsein ist auch normal“ oder eben der Slogan der Inklusion, „Es ist normal, verschieden zu sein“, schießen allesamt viel zu weit über ihr Ziel hinaus, indem sie den notwendigen Prozess der Normalisierung und Anomalisierung selbst normalisieren wollen. Die Kategorie der Behinderung wird hier als zu überwindende Anomalie auf dualistische Weise getrennt von der Normalität angesetzt und soll dieser Normalität eingeordnet werden, die sich zugleich selbst überwindet. Abgesehen davon, dass Behinderungen unter dieser Perspektive lediglich als etwas Negatives oder Defizitäres in Betracht genommen werden, das es zu überwinden gilt, wird hiermit nicht nur der sprichwörtliche, sondern der tatsächliche Versuch unternommen, über seinen eigenen Schatten zu springen. Eine Bekämpfung der Normalität, wie sie im inklusionspädagogischen Ansatz mit dem Ziel der völligen Normalisierung von Anomalien betrieben wird, liegt Waldenfels so dann auch fern: Auf die Normalität ist vielmehr „jeder angewiesen […], der nur ein Wort in den Mund nimmt, und die jeder Zugfahrer, der auf Anschlüsse wartet, und jeder Patient, der sich medizinischen Apparaturen ausliefert, zu schätzen weiß“ (Waldenfels 2008: 11). An anderer Stelle beschreibt er diesen Kampf gegen die Normalität wie folgt: „Eine Kritik am Normalen als solchem nähme Züge einer Maschinenstürmerei an, mehr noch, sie gliche dem aussichtslosen Kampf gegen die Grammatik einer Sprache, die sich in ihren eigenen Voraussetzungen verfängt. Jede Anomalie setzt bereits eine Normalität voraus, ein totaler Ausbruch ist undenkbar […]. Wenn also die Normalität einer kritischen Prüfung unterworfen wird, kann dies nur die Art der Normalisierung und ihre Reichweite betreffen.“ (Waldenfels 1997a: 176)

Es geht Waldenfels „einzig und allein um die Voraussetzungen, Folgen und Grenzen der Normalität, um eine entsprechende Gewichtung des Normalisierungsgeschehens“ (Waldenfels 2008: 11). Das Fremde verbirgt sich in diesem Spalt, der Normales von Anomalem trennt (vgl. ebd.: 13). Für die Fremdheit ist daher die Art und Weise entscheidend, wie Normales sich von Anomalem abhebt. Hierdurch ent-

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scheidet sich, „ob Fremdheit mehr bedeutet als etwas, das noch nicht angeeignet und noch nicht einer allgemeinen Vernunft eingemeindet wurde“ (ebd.). Ebenso wenig, wie es das Fremde gibt, gibt es also auch nicht einfach das Anomale oder das Normale. Dies bedeutet wiederum nicht, dass es keine Normalität oder Anomalien gäbe; vielmehr macht dieses Verständnis darauf aufmerksam, dass Anomalien als solche nichts Negatives oder Defizitäres sind, weil sie nichts Sekundäres sind, sondern sie treten zugleich mit dem Normalen auf, das sie als spezifische Abweichung wie ein Schatten begleiten. Der inklusionspädagogische Ansatz geht hingegen von einer Trennung des Normalen und Anomalen aus und will diesen Schatten dem Körper selbst einordnen, der sich hierdurch – durch die Normalisierung der Differenz zwischen Normalem und Anomalem – als körper- und schattenloses Phantom entpuppt. Mit der Sichtweise auf das Verhältnis von Normalem und Anomalem als Prozess der Selbstabweichung gelingt hingegen eine Revision des Verständnisses von Behinderung als Anomalie. Behinderungen bedeuten damit nichts Sekundäres und Defizitäres, sondern bleiben als spezifische Abweichung auf das Normale bezogen und treten stets nur mit diesem zusammen hervor. Damit einher geht gleichzeitig die Erfahrung eines Fremden und von Fremdartigkeit, die in dieser Differenz selbst hervor tritt, und die daher nicht zu überwinden ist. Es kann damit nicht wie im inklusionspädagogischen Ansatz um die Bekämpfung der Normalität gehen, die hier durch die Normalisierung der unwiderruflichen Differenz von Normalem und Anomalem überwunden werden soll, womit dem Fremden Gewalt widerfährt. Die Frage ist vielmehr, wie sich das Anomale vom Normalen abhebt, wie also mit dieser Fremdheit und Fremdartigkeit umgegangen wird, die immer dann explizit wird, „wo Lebensbereiche und Lebenswelten im Persönlichen wie im Gesellschaftlichen ihre Vertrautheit verlieren“ (Waldenfels 1998a: 58). Der folgende Abschnitt thematisiert diese Fremdartigkeit im Kontext von Behinderung, die sich um bestimmte Figuren der Fremdartigkeit herum gruppiert, und zeigt den problematischen Umgang mit ihr. 5.1.4 Fremdartigkeit im Kontext von Behinderung In dem von Waldenfels und Meyer-Drawe gemeinsam verfassten Aufsatz Das Kind als Fremder (Meyer-Drawe/Waldenfels 1988) zeigt Waldenfels die drei zentralen Stufen der Fremdartigkeit auf, die sich mit dem Kind, dem Wilden und dem Irren um drei zentrale Figuren herum gruppieren, „in denen das Problem von Eigenheit und Fremdheit besonders virulent wird […]“ (Waldenfels 1987: 123).6 MeyerDrawe diskutiert daraufhin die Möglichkeiten eines pädagogischen Verstehens zwischen Aneignung und Enteignung.

6

Wiederveröffentlicht ist dies in Stachel des Fremden (vgl. Waldenfels 1998a: 59f.).

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Die Fremdartigkeit kann zunächst „auf gleicher Stufe auftreten, so im Falle ähnlich weit entwickelter Lebensformen oder Kulturen“ (Meyer-Drawe/Waldenfels 1988: 272). Die alltäglichen und selbstverständlichen Strukturen des Denkens, Handelns und Wahrnehmens geraten hier nicht sonderlich ins Wanken. Vergleichbar ist diese Stufe der Fremdartigkeit daher auch mit der normalen oder alltäglichen Fremdheit. Die Fremdartigkeit kann zudem „auf früherer Stufe auftreten […]“ (ebd.), wobei sie sich auf drei unterschiedliche Weisen bemerkbar machen kann: „individualgeschichtlich als Kindheit gegenüber dem Status des Erwachsenen, kollektivgeschichtlich als sogenannte Primitivität gegenüber dem Status des Zivilisierten, stammesgeschichtlich als Animalität gegenüber dem Status des Menschen“ (ebd.). Zu der gleich- und früherstufigen Fremdartigkeit hinzu treten „abartige Zustände, die sich als Anomalien, Heterologien und Pathologien bekunden, so im Traum, in der Ekstase oder im Wahn und in der Krankheit überhaupt“ (ebd.). Das Gravitationsfeld des Fremdartigen gruppiert sich diesen Formen und Zuständen entsprechend „um drei zentrale Figuren, das Kind, den Wilden und den Irren oder den Narren, dazu in schattenhafter Nähe und Ferne das anthropoide Tier. Diese exemplarischen Figuren bevölkern auch das Unbewusste und suchen den Menschen auf vielfache Weise im privaten und öffentlichen Leben heim.“ (Ebd.) Die Begegnung mit ‚Behinderten‘ kann als eine dieser „Heimsuchungen“ aufgefasst werden. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern sich das Phänomen der Behinderung in seiner spezifischen Phänomenstruktur um die Figuren des Kindes, des Wilden und des Narren herum gruppiert.7 Mit Fornefeld ist anzunehmen, dass sich die Fremdartigkeit von bestimmten ‚Behinderten‘ in allen drei Figuren zugleich niederschlägt: „Der behinderte Mensch, vor allem der geistig und körperlich beeinträchtigte, ist Kind, Wilder und Narr zugleich“ (Fornefeld 1994: 28), so Fornefeld mit Bezugnahme auf Waldenfels. Ein Beleg für diese These findet sich bei Waldenfels selbst, insofern er darauf hinweist, dass jede Anomalie etwas Kindliches und Barbarisches an sich hat und das Pathologische streift (vgl. Waldenfels 1987: 194). Bevor auf diese Fremdartigkeit im Kontext von Behinderung eingegangen wird, ist zunächst die Figur des Kindes als Fremden kenntlich zu machen. Der Umgang mit der Fremdheit des Kindes zeigt deutliche Überlappungen zur Sichtweise auf Behinderung. Das Fremde selbst sowie die Fremdartigkeit des Kindes werden erst im 18. Jahrhundert, spätestens mit Rousseau, zum Thema des pädagogischen Diskurses der Moderne und bilden bis heute zentrale Momente pädagogischer Theoriebildung. Wie Lippitz hierzu feststellt, gerät das Kind von nun an

7

Stinkes (1993) sowie Fornefeld (1994; 1999) haben diese Perspektive für die Geistigbehindertenpädagogik fruchtbar gemacht.

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„in den prüfenden und kontrollierenden Blick der pädagogischen und psychologischen Wissenschaft. Das neugeborene Kind ist wie der unzivilisierte Wilde […] außerhalb der Ordnung der Zivilisation. Wie dieser muss es erforscht und ausgekundschaftet werden. Dabei hat die pädagogisch-professionelle Praktik des Verstehens kolonialistische Züge.“ (Lippitz 2003c: 70)

Wimmer zufolge war und ist es das Ziel „bis heute, dem Fremden im Diskurs des Eigenen seine Fremdheit wenigstens so weit zu nehmen, daß man es verstehen kann“ (Wimmer 1992: 156). Dabei ließe sich jedoch die zentrale Frage, „wie man der kindlichen Fremdheit theoretisch und praktisch gerecht werden kann […], solange kaum angemessen beantworten, wie die Paradoxie der Fremderfahrung vermieden und nur auf die Frage des Wissens bezogen wird, wobei zudem Wissen und Nicht-Wissen wie zwei Sphären voneinander getrennt erscheinen“ (ebd.).8 Ein radikal Fremdes wurde und wird vielerorts also auch im pädagogischen Diskurs nicht gesehen. Hinsichtlich des pädagogischen Verstehens betrachtet Meyer-Drawe diese Problematik als aufgespannt zwischen den Polen „der Hoffnungen auf eine aufklärerische Arbeit […]“ (Meyer-Drawe/Waldenfels 1988: 278) einerseits, die durch eine „Resignation von Pädagogen, die zur Nicht-Erziehung aufrufen“ (ebd.), andererseits abgelöst wurde: „Dem Extrem der Pädagogisierung (Aneignung) folgt der Pendelschlag in das Extrem des vergötterten Kindes (Enteignung).“ (Ebd.) Im Prozess des Aneignens durch Verstehen verschwindet das Kind im Spiegelbild des Erwachsenen; in der Enteignung pädagogischen Verstehens verschwindet es hingegen „vor den geschlossenen Augen des Erwachsenen“ (ebd.).9 8

Schäfer sieht die grundlegende Paradoxie des modernen pädagogischen Diskurses in der Aporie von Notwendigkeit und Unmöglichkeit definiert (vgl. Schäfer 2007: 10f.). Im Kontext des Fremden und seiner Bedeutung für die Pädagogik bildet die eine Seite dieser Aporie die „Unmöglichkeit, dem Fremden als Fremden gerecht werden zu können, ohne es zu zerstören […]“ (ebd.); die andere Seite besteht in der „Notwendigkeit, ihm dennoch gerecht zu werden […]“ (ebd.). Das Problem der Begründung des „pädagogischen Geschäfts“ besteht demnach darin, „das Unmögliche für Wissen und Handeln als möglich zu behaupten […]“ (ebd.), was dieses „zu einem äußerst gewagten Unternehmen“ (ebd.) mache. In der Tradition pädagogischen Denkens habe dem Autor zufolge „immer das Vertrauen auf die praktische Auflösbarkeit der paradoxen Ausgangslage […] dominiert“ (ebd.), wohingegen diese vielmehr eine produktive Ausgangslage darstelle (vgl. ebd.). Mit diesen Versuchen der Auflösung zugunsten der Notwendigkeit (vgl. ebd.: 12) habe jedoch zugleich das Vertrauen „auf die Irrelevanz der Aporie von Unmöglichkeit und Notwendigkeit dominiert“ (ebd.).

9

Zu einer solchen Strategie der Enteignung kommt es immer dann, wenn das Kind zum heiligen Kind, zum Retter und „Prototypen nicht-entfremdeter Erfahrung“ (vgl. MeyerDrawe/Waldenfels 1988: 283) hochstilisiert wird.

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Als klassischer Vertreter und als Beispiel für die Strategie der Aneignung durch pädagogisches Verstehen kann der Naturwissenschaftler und Entwicklungspsychologe Piaget angesehen werden. In Piagets Entwicklungslogik erscheint die Eigenwertigkeit kindlicher Erfahrungsweisen als etwas Defizitäres, als ein ‚Noch-nicht‘. Dies begründet sich dadurch, dass „die aufeinander folgenden Phasen als Durchgangsphasen und als Vorstufen in einem Erwachsenenparameter kulminieren“ (Waldenfels 2005a: 96), so Waldenfels. Vorzeitigkeiten gelten dabei als positiv, Verzögerungen hingegen als negativ (vgl. ebd.). Dem Kind bleibt hier „von Anfang an nichts Fremdes“ (Meyer-Drawe/Waldenfels 1988: 280). Hinsichtlich Piagets methodischem Vorgehen spräche laut Waldenfels nichts dagegen, „daß Piaget mit formalen und mathematischen Strukturen arbeitet, […] wohl aber dagegen, daß unter dem Deckmantel einer reinen Logik und im Zuge einer Formalisierung ein Wertmaßstab eingeführt wird, in dem Sinne nämlich, daß wissenschaftliche Rationalität und ebenso die dezentrierte moralische Rationalität höher gewertet werden als die vorausliegende zentrierte.“ (Waldenfels 2000: 175)

Der Umgang mit dem Fremden der Kindheit ist hier deswegen problematisch, weil Piaget Entwicklung als Höherentwicklung bewertet „und nicht als ein bloßes Anderswerden oder als Erwerb neuer Möglichkeiten“ (ebd.). Das Früher und Später wird somit in ein Besser und Schlechter umgedichtet (vgl. Waldenfels 2008: 75). Merleau-Ponty, als Piagets Vorgänger an der Sorbonne, hält dieser Sichtweise eine Vielfalt von Rationalitäten entgegen. Er „sucht“, so Meyer-Drawe, „nach einer für Kinder spezifischen Rationalität, die nicht lediglich eine Fehlform der Erwachsenenvernunft darstellt“ (Meyer-Drawe 2007: 295). Mit Merleau-Ponty muss das Kind daher „in gewisser Weise gegen die Erwachsenen – oder gegen Piaget – Recht behalten, muß, soll es für den Erwachsenen auch eine einzige intersubjektive Welt geben, das barbarische Denken des frühen Kindesalters als unentbehrlicher Erwerb auch dem des Erwachsenen zugrundeliegen bleiben“ (Merleau-Ponty 1966: 407). Der Entwicklungslogik Piagets hält Merleau-Ponty daher den Gedanken einer „stolpernden Logik“ entgegen, die „alle Arten von Entgleisung zu[lässt]“ (MerleauPonty 1994: 98). Dieses „barbarische“ oder „wilde“ Denken ist nicht in einem negativen Sinne zu verstehen, sondern es verweist auf die spezifische Rationalität des Kindes, das heißt, eine bestimmte Möglichkeit der Erfahrung von Welt.10

10 Vgl. zu dieser Sichtweise Merleau-Pontys u.a. die beiden Aufsätze von Meyer-Drawe (1988; 2007). Zur Auseinandersetzung zwischen Piaget und Merleau-Ponty vgl. Waldenfels (2000: 173ff.). Zur weiteren Kritik Waldenfels’ an Piaget vgl. Waldenfels (2005b: 111ff.). Die „stolpernde Logik“ spielt auch für Waldenfels’ Konzeption der Responsivität eine tragende Rolle (vgl. hierzu 5.2.).

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Zur Aneignung der Fremdheit des Kindes durch Verstehen, und zugleich zur Entwertung der kindlichen Eigenperspektive, kommt es hier also deswegen, weil einseitig vom Standpunkt des Erwachsenen aus auf das Kind herunter geblickt wird und dessen Möglichkeiten der Erfahrung von Welt, Anderen und sich selbst als bloße Vorform der Rationalität betrachtet werden. Das Fremde wird aus der Perspektive der Entwicklungslogik insofern bewältigt, als es am Eigenen gemessen wird (vgl. Waldenfels 1998a: 61). Die Konsequenz dieses einseitigen Rationalitätsverständnisses ist, dass Kinder und ihre Fremdheit lediglich als defizitäre Doublette des Eigenen, des Erwachsenen, erscheinen. Bestimmte, andere Möglichkeiten der Erfahrung von Welt werden damit verkannt und abgewertet. Dieser Fehlschluss geht mit der Annahme einer Trennung von Eigenem und Fremdem einher. Die perspektivische Weltsicht des Kindes, das man selbst einmal war, wird als überwunden und das Erwachsenwerden nicht als ein Anderswerden betrachtet. Zugleich übersieht dieses Denken, dass ein Anderswerden immer auch einen Verlust an bestimmten Möglichkeiten bedeutet und somit nicht nur einen bloßen Erfahrungszuwachs. Was haben diese Überlegungen nun mit dem Zusammenhang von Fremdartigkeit und Behinderung zu tun? Zunächst ist auf ein Gebaren gegenüber bestimmten ‚Behinderten‘ hinzuweisen, das häufig dem Umgang mit Kindern oder gar Kleinkindern ähnelt. Ein solches Verhalten ist zwar nicht wünschenswert, es kommt aber dennoch immer wieder vor. Dies könnte damit zu tun haben, dass „‚Behinderte‘ uns durch ihre Abhängigkeit lebenslang als fürsorgebedürftige Kinder erscheinen […]. Die Fähigkeiten des schwerstbehinderten Menschen werden bis ins Erwachsenenalter hinein mit den Fähigkeiten eines Kleinkindes verglichen.“ (Fornefeld 1994: 27f.) So tritt bei ‚Behinderten‘ die individualgeschichtliche Form der Fremdartigkeit, die in der Figur des Kindes ihre Verkörperung findet, oftmals mit hervor. Für sich betrachtet ist diese Form der Fremdartigkeit jedoch noch nicht notwendigerweise problematisch – auch wenn zugestanden sei, dass dieser Gedanke Befremden hervorrufen mag. Die problematischen Aneignungsbemühungen und gleichsam eine abwertende Sichtweise zeigen sich allerdings deutlich, wenn die entwicklungslogische Perspektive auf das Kind als defizitäre Doublette herangezogen wird. Aus dieser Perspektive erscheinen ‚Behinderte‘ dann in der Tat als ‚Kümmerformen‘ normalen Daseins, als ein ‚Noch-nicht‘ im Vergleich zum ‚Nichtbehinderten‘. Ihr leiblich-responsives Antwortverhalten wird dann nicht als spezifische und eigene Form des Antwortens auf fremde Ansprüche begriffen, sondern nur als Vorform oder Fehlform eines einseitigen Vernunftverständnisses oder bestimmter, habitualisierter Verhaltensnormen. ‚Behinderte‘ können aber nicht nur in der individualgeschichtlichen Figur des Kindes in Erscheinung treten, sondern zuweilen auch in den Figuren des Wilden und des Irren oder Narren (vgl. auch Fornefeld 1994: 28). ‚Behinderte‘ treten dann als Wilde hervor, wenn sie aus kollektivgeschichtlicher Perspektive gegenüber dem Status des Zivilisierten als sogenannte Primitive erscheinen. So wird beispielsweise

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oftmals eine geistige Unentwickeltheit, ein geringeres geistiges Niveau angenommen, was sich mit Intelligenztests ja deutlich belegen ließe. Auch in diesem Fall kommen Behinderungen nicht als andere Möglichkeit leiblich-menschlichen Daseins in den Blick, sondern nur als defizitär hinsichtlich des Status des sogenannten (über-)durchschnittlich Intelligenten. Der Maßstab ist wiederum das Eigene, oder wie hier, ein allgemeines Konstrukt. Schließlich bleibt die dritte Ausprägungsform der früheren Stufe der Fremdartigkeit, auf die Waldenfels stammesgeschichtlich mit der Animalität gegenüber dem Status des Menschen hinweist. Legt man auch hier die eigenen und vertrauten Muster der Verständigung als Maßstab zugrunde, so können die jeweils spezifischen Antworten von bestimmten ‚Behinderten‘ als tierisch oder bloß triebhaft in Erscheinung treten und wiederum nicht als spezifische Antworten ihres leiblichen Zur-Welt-Seins. Allgemein lässt sich also feststellen, „daß wir Behinderte mitunter im Vergleich zu unseren Eigenheiten als bloß eingeschränkt wahrnehmen. Sie begegnen uns als defizitäre Doubletten unserer selbst […]“ (Meyer-Drawe 1993: 28). Auch über 20 Jahre später hat sich an dieser Einschätzung kaum etwas Wesentliches geändert, worauf beispielsweise die enorm hohen Abtreibungsquoten behinderter Ungeborener oder die vielen, alltäglichen intersubjektiven und institutionellen Ausgrenzungserfahrungen aufmerksam machen. Behinderungen werden weniger als eine andere Ordnung denn vielmehr als Unordnung bewertet. Die Antwort, die hierauf mit der pädagogischen Inklusionsidee gegeben wird, ist die Normalisierung der Differenz zwischen Normalität und Anomalität. Gegenüber diesen beiden Sichtweisen sind Behinderungen jedoch weder das Anomale oder das vom Eigenen getrennte Fremde noch sind sie einfach normal Verschiedenes. Vielmehr stellen sie eine spezifische Abweichung, eine bestimmte Anomalie dar, die stets auf das Normale bezogen bleibt und nur als mit diesem zusammen verschränkt auftritt. Die Kritik an den Sichtweisen, die Behinderungen in der Folge des Messens am Maßstab des Eigenen oder eines Allgemeinen als etwas Defizitäres oder Unordentliches abwerten, bedeutet nicht, dass die gezeigte dreifache Fremdartigkeit im Kontext von Behinderung nicht virulent würde. Die Reaktionen und abwertenden Deutungsmuster gäbe es ansonsten gar nicht erst, und auch bereits der Versuch, dieses Schema mit dem Phänomen der Behinderung zu kontextualisieren, deutet auf eine gesteigerte Fremdartigkeit hin. Die Kritik kann sich daher nicht gegen die erfahrene Fremdartigkeit als solche richten, die sich auf der Ebene des Sagens vollzieht. Kritisiert werden können hingegen die vielfältigen und oftmals problematischen Aneignungsbemühungen und Abwertungen auf der Ebene des Gesagten. Will man nicht bei der nivellierenden und alle Erfahrung ignorierenden Sichtweise der „Normalität der Verschiedenheit“ landen, dann ist die entscheidende Frage, ob Behinderung als Anomalie als bloße Unordnung oder nicht vielmehr als eine spezifische Ordnung gedacht wird, als Möglichkeit unserer Leiblichkeit (vgl. ebd.: 30f.).

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5.1.5 Zusammenfassung Mit der Annahme der „Normalität der Verschiedenheit“ wird explizit die Überwindung der Anders- oder Fremdartigkeit aller Menschen und insbesondere auch von ‚Behinderten‘ angestrebt (vgl. 2.3.3). Das inklusionspädagogische Denken ist regelrecht befallen von einer Allergie gegen jedes Fremde. Es gibt lediglich vor, den Anderen als solchen zu wahren. Indem dem Anderen durch dessen Einbeziehung in ein übergeordnetes Ganzes – der Vielfalt als Normalfall – jedoch seine Fremdartigkeit vollständig genommen werden soll, wird er als solcher geradezu ignoriert. Eine größere Gewalt gegen die Fremdheit des Anderen ist nicht mehr denkbar, da diese Normalisierung der Differenz von Normalem und Anomalem die restlose Überwindung des Fremden bedeuten würde. Die eigenen Annahmen können dem inklusionspädagogischen Denken nur deswegen als plausibel erscheinen, da es die Ebene der gelebten Räumlichkeit sträflich vernachlässigt und ausschließlich dem Denken einer gedachten Räumlichkeit verhaftet ist. Gegenüber diesem raumenthobenen Verschiedenheitsdenken, dem eine Symmetrie von Selbem und Anderem zugrunde liegt (vgl. 4.3), bewegen sich leibliche Wesen – anders als Dinge – im Raum und bilden dabei Handlungszonen sowie Eigen- und Fremdzonen aus, die niemals alles zugleich möglich werden lassen. Diese gelebte Räumlichkeit lässt nicht Selbes und Anderes, sondern Eigenes und Fremdes hervortreten. Eigenes und Fremdes stehen in einem grundsätzlich asymmetrischen Verhältnis zueinander, indem sich hier jemand eingrenzt und dadurch sich selbst und Andere und Anderes als Fremdes zugleich ausgrenzt. Jede Erfahrung bringt als Entstehung einer bestimmten Ordnung grundsätzlich Fremdes und Eigenes mit hervor, die über eine Schwelle hinweg zugleich miteinander verbunden und getrennt sind. Insofern ist nahezu jede Erfahrung immer auch eine Fremderfahrung des Eigenen und des Fremden. Das Fremde und Fremdartige kann allerdings unterschiedlich stark hervortreten, und dies um so mehr, desto eher die vertraute Welt brüchig wird. Zudem hinterlässt „die Fremdheit, die uns im Anderen begegnet, um so tiefere Spuren bei uns […], je mehr dieses Fremde an verkannte, verdrängte, geopferte Eigenheiten rührt“ (Waldenfels 2006: 120), so, wie es also beim Kind oder – auf andere Weise – in der Begegnung mit bestimmten Formen einer Behinderung der Fall ist. Einige Behinderungsformen, vor allem sichtbare und auffällige Behinderungen, bewegen sich im Bereich der strukturalen Fremdheit, da hier durch das Brüchigwerden einer gemeinsamen Welt auch die eigene Welt auf spezifische Weise brüchig wird und als kontingent hervortritt. Behinderungen bedeuten jedoch weder das Fremde oder das Anomale, sondern sie bleiben als spezifische Abweichung und Anomalie auf eine bestimmte Ordnung bezogen, die sie als Außer-ordentliches überschreiten. Sie entstehen zugleich mit dem Eigenen oder Normalen und sind nichts Sekundäres, als das sie sich dem Eigenen oder dem Normalen nachträglich

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hinzufügen ließen. Ohne auch hier verallgemeinern zu können, sind Behinderungen in diesem Sinne eine spezifische Ordnung und Möglichkeit des leiblichen Antwortens auf das Selbst, Andere und die Welt. Eine solche leiborientierte Sichtweise auf Behinderung erschließt Möglichkeiten der Bedeutungserfassung des Behindertseins und nicht nur des Behindertwerdens. Werden Behinderung hingegen nur als ein zu überwindendes Problem oder ausschließlich als ein soziales oder kulturelles Konstrukt betrachtet, so verunmöglicht dies einen Zugang zur Dimension der leiblichen Selbst- und Fremderfahrung einer Behinderung. Völlig verkannt wird die Perspektive, dass es sich vor allem bei körperlichen und geistigen Behinderungen um eine spezifische Entzugserfahrung des eigenen Leibes handelt, jedoch mit der inklusionspädagogischen Prämisse der Normalisierung der Differenz von Normalem und Anomalem bzw. von Eigenem und Fremdem. Bestimmte Formen einer Behinderung, insbesondere schwerere Ausprägungen einer körperlichen oder geistigen Behinderung, lassen eine spezifische Form der Fremdartigkeit virulent werden, die sich um die Figuren des Kindes, des Wilden und des Narren zugleich herum gruppiert und die sich in definitiven Einschätzungen und Abwertungen als problematisch erweist. Dies und noch mehr verweist auf eine spezifische Fremdartigkeit der „Heterogenitätsdimension“ der Behinderung und nicht auf eine allgemeine Verschiedenheit aller „Heterogenitätsdimensionen“ zugleich. Eine Begegnung mit ‚Schwerstbehinderten‘ wird beispielsweise anders durchlebt und durchlitten als die Begegnung mit einem nichtbehinderten Nachbarn, Mann oder Ausländer. Mit dem denk- und handlungsleitenden Ziel der „Normalität der Verschiedenheit“ wird nicht nur die Fremdheit und Fremdartigkeit an sich verkannt und ignoriert, sondern auch das spezifische (Fremd-)Erfahrungsgeschehen, dem zugleich jegliche Berechtigung abgesprochen wird. Diese Nivellierungen und die Ignoranz gegenüber konkreten Erfahrungen können gefährlich werden und zu unheilvollen Konsequenzen führen. Dies gilt umso mehr, wenn bedacht wird, dass das auf Inklusion ausgerichtete Denken und seine Prämissen im gesellschaftspolitischen Diskurs inzwischen sehr wirkmächtig ist und Einfluss auf das Denken und Handeln vieler Menschen genommen hat und nimmt. Anhand der Konzeption der Responsivität werden nun zunächst wesentliche Grundzüge des Geschehens der responsiv und pathisch verfassten Fremderfahrung aufgezeigt. Anschließend gilt es, diese Überlegungen in den Kontext der Fremderfahrung von Behinderung zu stellen. Der Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes, als exklusive Leitvorstellung für den Umgang mit Heterogenität bzw. Behinderung fungieren zu wollen, muss zurückgewiesen werden, weil diese Leitvorstellung ein gefährliches Potential in sich birgt, das bereits zu unbeabsichtigten und gegenläufigen Konsequenzen geführt hat.

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5.2 GRUNDZÜGE DER FREMDERFAHRUNG UND DER KONZEPTION DER RESPONSIVITÄT Wir können versuchen, der Erfahrung des Fremden bewusst aus dem Weg zu gehen, indem wir uns ins Eigene zurückziehen und die Schotten dicht machen, so wie dies derzeit in vielen europäischen Ländern der Fall ist. Zugleich bereisen viele Menschen gerne fremde Länder oder Kontinente und erlernen Fremdsprachen. Hierdurch setzen wir uns der Erfahrung des Fremden also ganz bewusst aus. Diese Ambivalenz hat mit der Ambivalenz der Erfahrung des Fremden selbst zu tun: Von vornherein erscheint sie „als verlockend und bedrohlich zugleich und kann sich bis zu einem horror alieni steigern. Bedrohlich ist sie, da das Fremde dem Eigenen Konkurrenz macht, es zu überwältigen droht; verlockend ist sie, da das Fremde Möglichkeiten wachruft, die durch die Ordnungen des eigenen Lebens mehr oder weniger ausgeschlossen sind.“ (Waldenfels 1997a: 44) Anhand dieser Ambivalenz der Fremderfahrung zeigt sich mindestens zweierlei: Fremdes verweist zugleich immer auf das Eigene, es zeigt sich nur in Relation zum Eigenen; je nach eigenem Standort und Perspektive kann uns etwas oder jemand als fremd erscheinen oder wir erfahren uns selbst als fremd unter Anderen, wobei diese „Verdoppelung der Fremdheit […] keine bloße Umkehrung der Perspektiven [bedeutet]“ (ebd.: 38), so ein wichtiger Grundgedanke bei Waldenfels: „Dies würde nämlich voraussetzen, daß ich mich wie einen Anderen und den Anderen wie mich selbst und so uns beide mit den Augen eines Dritten betrachte, der zu beiden Positionen in gleicher Weise Zugang hätte.“ (Ebd.) Genau so, wie es im Integrations- und Inklusionsdiskurs der Fall ist, wären in diesem Fall „Fremdheit und Eigenheit […] bloß relative Differenzen innerhalb einer Sphäre des umfassenden Allgemeinen“ (ebd.). Allerdings entfällt diese Möglichkeit der Reziprozität als Umkehrung der Perspektiven sowie die Sichtweise eines „unparteiischen Dritten“, „da keiner die praktische Perspektive des jeweils anderen einnehmen kann, ohne aufzuhören, er selbst zu sein“ (ebd.: 46). Die Annahme bloß relativer Differenzen, die von einem übergeordneten Allgemeinen ausgeht, würde bedeuten, dass von „einer radikalen Form der Fremdheit, die – wie Levinas immer wieder betont – mit einer originären und irreduziblen Form der Asymmetrie einhergeht, […] nichts übrig [bliebe]“ (ebd.: 38). 5.2.1 Verflechtung von Eigenem und Fremdem Die Notwendigkeit, dass Fremdes und die Erfahrung des Fremden stets nur in Verbindung mit dem Eigenen auftritt, Fremdes also in jedem Fall auf den eigenen Standort und die eigene Perspektive verweist, bedeutet, dass es nicht einfach das Fremde gibt, sondern

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„vielmehr verschiedene Fremdheitsstile. Fremdheit bestimmt sich, wie Husserl sagen würde, okkasionell, bezogen auf das jeweilige Hier und Jetzt, von dem aus jemand spricht, handelt und denkt. Ein standortloses ‚Fremdes überhaupt‘ gliche einem ‚Links überhaupt‘ – ein monströser Gedanke, der Ortsangaben mit begrifflichen Bestimmungen vermengt. Im Falle des Eigenen und Fremden handelt es sich also nicht um zwei bloße Terme, sondern um zwei Topoi.“ (Ebd.: 23)

Mit dieser ‚Standortlogik‘ ist zugleich ausgeschlossen, dass es so etwas wie eine absolute oder totale Fremdheit gibt. Fremdes bleibt vielmehr als Außer-ordentliches stets auf bestimmte Ordnungen bezogen, die es voraussetzt und über die es hinausgeht (vgl. ebd.: 37): „Das radikal Fremde läßt sich nur fassen als Überschuß, als Exzeß, der einen bestehenden Sinnhorizont überschreitet.“ (Ebd.) Den Gedanken, dass es keine absolute oder totale Fremdheit geben kann, sondern Fremdes ‚lediglich‘ die Überschreitung einer bestimmten Ordnung bedeutet, verdeutlicht Waldenfels an einem Beispiel aus dem Bereich der Sprache: „[E]ine fremde Sprache, die ganz anders wäre als die eigene Sprache, würde aufhören, eine fremde Sprache zu sein; sie würde als bloßes Geräusch den Bereich möglicher Verständigung hinter sich lassen. Dies schließt nicht aus, daß sich eine besonders fremdartige Sprache einem Vogelgezwitscher annähert. Doch das schlechthin Fremde wäre das Gegenstück zum schlechthin Eigenen und würde wie dieses auf einem purifikatorischen Gewaltakt beruhen.“ (Ebd.)

Eine Sprache, die uns völlig oder absolut fremd wäre, „könnten wir nicht einmal als Fremdsprache vernehmen“ (Waldenfels 2006: 118). Gleiches gilt für den interpersonalen und interkulturellen Bereich (vgl. ebd.), auch hier kann es keine absolute Fremdheit geben, da wir den Anderen in diesem Fall gar nicht erst als Anderen zu erkennen vermögen würden. Solange man keinen übergeordneten Maßstab des Allgemeinen oder des vergleichenden Dritten anlegt, sondern auf der Ebene des Sagens verbleibt, verweisen Fremdes und Eigenes stets aufeinander, ohne ineinander zu verschmelzen oder ohne als völlig getrennt voneinander aufzutreten. Entgegen der Ebene begrifflicher Klassifikationen, auf der Eigenheiten und Fremdheiten getrennt voneinander betrachtet und beispielsweise miteinander verglichen werden können, kann man sich Eigenes und Fremdes als Eigenheits- und Fremdheitserfahrungen nach dem Muster der Verschränkung, Verflechtung oder Überkreuzung vorstellen (vgl. Waldenfels 1997a: 67f.). Diese chiasmatische11 Figur 11 Die Raumfigur des Chiasmus ist nach dem griechischen Buchstaben Chi benannt (vgl. Waldenfels 2000: 286) und bedeutet die kreuzartige Stellung von Satzgliedern (vgl. Waldenfels 1995a: 359). Ausführlicheres zum Chiasmus vgl. u.a. Waldenfels (1995a: 358ff.; 1994a: 423, 447, 491).

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der Verschränkung „widersetzt sich dem extremen Gegensatz von vollständiger Deckung oder völliger Fusion einerseits und vollständiger Disparatheit andererseits“ (ebd.: 67). Angewandt auf den Gegensatz von Eigenem und Fremdem besagt sie „zum einen, daß Eigenes und Fremdes mehr oder weniger ineinander verwickelt sind, so wie ein Netz sich verdichten oder lockern kann, und es besagt zum anderen, daß zwischen Eigenem und Fremdem immer nur unscharfe Grenzen bestehen, die mehr mit Akzentuierung, Gewichtung und statistischer Häufung zu tun haben als mit säuberlicher Trennung. Die Verschränkung widersetzt sich jeder Form von Reinheit, sei es die Reinheit einer Rasse, einer Kultur, einer Idee oder die einer Vernunft, die ‚mit nichts Fremdartigem vermischt ist‘.“ (Ebd.)

Die Denkfigur der Verschränkung beschreibt das Verhältnis von Eigenem und Fremdem nicht als eine symmetrische Beziehung, sondern als ein asymmetrisches Ineinander (vgl. u.a. Waldenfels 1995a: 358ff.), ohne völlige Deckung oder völlige Trennung.12 Verschränkung oder Verflechtung ist „keine Vermischung, in der das Ein-ander sich in einem Einerlei auflösen würde […]. Sowohl im puren Auseinander wie im bloßen Beieinander wäre die Unruhe des Anderen und Fremden zum Stillstand gebracht. Das Ineinander von Eigenem und Fremdem bildet einen Unruheherd, weil die Spannung weder von dem einen noch von dem anderen Pol noch von einem Dritten her zur Ruhe gebracht werden kann. Der Andere wohnt in meinem eigenen Haus, in meiner eigenen Stadt als ein Eindringling, der im Inneren von außen kommt, so daß jede Abwehr des Fremden eine Abwehr des Eigenen einschließt. […] Ich und ich sind niemals völlig bei sich, aber ich und du, wir sind auch niemals völlig bei uns.“ (Waldenfels 1994a: 423)

Eigenes und Fremdes sind im Sinne einer „Zwischenleiblichkeit“ also immer schon auf mannigfache Weise ineinander verwickelt, verschränkt oder verflochten, ohne dass sie miteinander zusammenfielen (vgl. Waldenfels 2008: 175). Zwischenleiblichkeit besagt demnach, „daß jeder von uns in ein Geflecht sozialer Beziehungen eingelassen ist […]“ (Waldenfels 2006: 88). Ich finde mich im Anderen und den Anderen in mir im Zuge eines Wechselspiels vor (vgl. Meyer-Drawe/Waldenfels 1988: 276; Waldenfels 1998a: 67). Aufgrund des leiblichen In- und Zur-Welt-Seins kommt es dabei zur unaufhörlichen Überkreuzung unserer leiblichen Existenzen, wir sind „immer schon in Berührung […], weil wir wahrnehmend und wahrnehmbar sind“ (Meyer-Drawe 1988: 135). Diese synkretistische Situation13 zeigt sich 12 Vgl. hierzu auch 4.3.3. 13 Beim „Synkretismus“ handelt es sich um einen religionsgeschichtlichen Ausdruck, der in der Entwicklungspsychologie verwendet wird „zur Bezeichnung einer kindlichen Ent-

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insbesondere beim Kind, „da das Kind in seinen Introjektionen und Projektionen sowie in seinem mimetischen Nachtun und Mittun von vornherein an den Wünschen und Vorstellungen Anderer partizipiert und in eine Welt der Symbole hineingeboren wird, bevor es sich auf sich selbst besinnt und von Anderen Abstand nimmt“ (Waldenfels 1997a: 69). Deutlich wird dieses asymmetrische Geflecht oder das „Zusammen im Übergang“ unter anderem auch am Beispiel des Gesprächs: So breitet sich in der Erfahrung des Gesprächs zwischen mir und dem Anderen ein gemeinsamer Boden aus. Wie es bei Merleau-Ponty heißt, sind „meine Worte wie die meines Gesprächspartners […] hervorgerufen je durch den Stand der Diskussion und zeichnen sich in ein gemeinsames Tun ein, dessen Schöpfer keiner von uns beiden ist […], unser beider Perspektiven gleiten ineinander über, wir koexistieren durch ein und dieselbe Welt hindurch“ (Merleau-Ponty 1966: 406). Dabei eile ich den Gedanken des Anderen voraus, „wie man in der Musik den Fortgang auf gewisse Weise schon vorwegnimmt […]“ (Waldenfels 2000: 300). Zugleich entreißt mir der Andere Gedanken, „von denen ich nicht wußte, daß ich sie hatte […]“ (Merleau-Ponty 1966: 406). Ich leihe also dem Anderen Gedanken, wie er mich umgekehrt denken lässt (vgl. Waldenfels 2000: 301). Die eigene Rede ist folglich immer schon durch den Anderen mitgeprägt. So hat der Andere, „etwa durch die Erwartung des Hörers, durch den Einwand des Anderen, sogar durch einen möglichen Einwand […]“ (ebd.), stets schon teil an mir: „[I]m Eigenen klingt immer schon Fremdes an.“ (Ebd.: 303) Diese Gleichursprünglichkeit, das ursprüngliche soziale Geflecht, gründet in der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Welt. Wie Waldenfels mit Merleau-Ponty anmerkt, „sind [wir] aus dem ‚Fleisch‘ der Welt, und eben deshalb ist der Andere ‚Fleisch von meinem Fleisch‘“ (Waldenfels 1995a: 380). Die Erfahrung des Fremden verweist nicht nur darauf, dass Eigenes und Fremdes, wie Normales und Anomales, als ineinander verschränkt auftreten, so dass das eine ohne das andere gar nicht erst als solches hervortreten könnte. Die Ambivalenz der Erfahrung des Fremden zeigt außerdem, dass die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem in Bewegung geraten (vgl. Waldenfels 1997a: 44); die Konfrontation mit dem Fremden führt jeweils zu einem Rückschlag auf das Eigene: „Erfahrung, Sprache, Land, Leib, Vernunft und Ich, die als fremd auftreten können, hören auf, schlicht das zu sein, was sie bislang waren. Erfahrung des Fremden, die mehr bedeutet als einen Erfahrungszuwachs, schlägt um in ein Fremdwerden der Erfahrung und ein Sich wicklungsphase, in der Selbst und Andere, eigenes und fremdes Erleben und Verhalten noch nicht deutlich voneinander unterschieden sind“ (Waldenfels 1994a: 431). Genaueres zum sozialen Synkretismus findet sich bei Merleau-Ponty (1994) in dessen Vorlesungen zur kindlichen Sozialität, vgl. hierzu v.a. Kapitel V. Die Beziehungen des Kindes zum Anderen (ebd.: 321ff.). Vgl. außerdem Waldenfels (1997a: 69; 2000: 307f.; 2006: 88f.) sowie Meyer-Drawe (1984: 185ff.; 1988).

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Fremdwerden dessen, der die Erfahrung macht. Fremdheit ist in diesem Sinne ansteckend wie Krankheit, Liebe, Haß oder Gelächter.“ (Ebd.: 9f.)

Diese wichtige Feststellung, dass die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem in der Erfahrung des Fremden in Bewegung geraten, kann in Hinsicht auf die Problematik der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung nicht überschätzt werden. Sie bedeutet zum einen, dass wir Erfahrungen nicht nur oder zunächst überhaupt nicht einfach registrieren, sondern wir machen Erfahrungen, als leibliche und damit als nicht-normativ festgestellte Wesen: „Als leibliche Wesen sind wir mehr als das, was wir aus eigener Kraft und eigener Absicht zustande bringen. Bei der Inszenierung von Rede und Handlung spielt anderes und spielen andere mit.“ (Waldenfels 2008: 11) In ähnlichem Sinne heißt es auch bei Bourdieu: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen.“ (Bourdieu 1987: 127) Dabei verhält es sich nicht so, als ob wir selbst es sind, die diese Erfahrungen zielgerichtet und bewusst angehen; vielmehr geht uns die Erfahrung selbst an, und zwar so, dass wir im Sinne eines pathischen Ereignisses von ihr getroffen werden, noch bevor irgendwelche normativen Ansprüche oder präskriptiven Forderungen greifen könnten. Zum anderen, und damit einhergehend, werden wir uns in diesem Grenzgeschehen selbst fremd, indem uns unsere Erfahrung durch die Erfahrung des Fremden selbst fremd wird. Das Antworten auf Fremdes hat also Konsequenzen für denjenigen, der auf Fremdes antwortet: „Das Antworten auf Fremdes […] stellt ein Doppelereignis dar, an dem ich selbst ebenso beteiligt bin wie Andere; doch diese Beteiligung geschieht nicht pari passu, sondern in der Weise, daß ich selbst nicht bei mir selbst, sondern mit dem Anspruch des Anderen beginne. Die Fremdheit meiner selbst wäre dann keine okkulte Form der Eigenheit, die einem Keller-Ich zuzuschreiben wäre, sie bestünde vielmehr in der Anwesenheit des Anderen in mir, die mit einer Abwesenheit meiner selbst für mich selbst Hand in Hand ginge.“ (Waldenfels 1997a: 30)

5.2.2 Fremdheit im Eigenen Die Fremdheit des Anderen bliebe jedoch „eine bloße Zutat meiner Erfahrung, wäre sie nicht schon angezeigt in der Andersheit meiner selbst“ (Waldenfels 1998a: 53). Anders formuliert: „Weil ich in mir selbst an Fremdes rühre, das außer Reichweite ist und unzugänglich bleibt, habe ich Zugang zu der Unzugänglichkeit der fremden Erfahrung.“ (Waldenfels 1994a: 511)14 Dieser Selbstentzug des Ich ist dem Ich von 14 Zur Fremdheit im Eigenen vgl. ausführlicher und exemplarisch Waldenfels (1997a: 27ff.; 2002: 202ff.; 2006: 75ff.). Der Gedanke einer Fremdheit im Eigenen findet sich bei vielen Autoren, angefangen bei Freud sowie Rimbauds berühmter Formulierung „JE est un

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vornherein eingeschrieben, Fremdheit beginnt nicht außerhalb, sondern im eigenen Haus, wie Waldenfels mit Freud immer wieder betont (vgl. u.a. Waldenfels 1997a: 32; Waldenfels 2006: 28): „Fremdheit löscht all das, was in unserer neuzeitlichen Tradition ‚Subjekt‘ und ‚Rationalität‘ heißt, nicht aus, aber sie führt zu der Einsicht, daß niemand je völlig bei sich selbst und in seiner Welt zu Hause ist. Dies gilt für persönliche Erfahrungen ebenso wie für kulturelle Erfahrungen, in denen unser persönliches Leben seinen kollektiven Ausdruck findet.“ (Waldenfels 2006: 126)

Jeder Selbstbezug schließt von Anfang an einen Selbstentzug ein, das Selbst koinzidiert niemals völlig mit sich selbst. Selbstentzug bedeutet daher, „daß Momente des Fremden im Selbst, Momente der Fremdartigkeit innerhalb der jeweiligen Ordnung virulent sind“ (ebd.: 29). Waldenfels verdeutlicht diese Fremdheit im Eigenen, die besagt, „daß wir selbst niemals völlig bei uns sind“ (ebd.: 118), anhand von vier Schlüsselerfahrungen, die jeder an sich selbst macht: der Geburt, der Sprache, dem eigenen Namen sowie dem Spiegelphänomen. Anhand des Beispiels der Geburt zeigt sich, dass das Ich immer schon ‚zu spät‘ kommt, um dieses Urfaktum in flagranti zu erfassen (vgl. Waldenfels 1997a: 30): „Ich bin leiblich in eine Welt hineingeboren, ohne daß ich dieses Faktum der Geburt je einholen und aneignen könnte […]“ (Waldenfels 2006: 118f.). Auch die Sprache und den eigenen Namen hat das Ich stets schon von Anderen übernommen und kennt sie buchstäblich vom Hörensagen (vgl. ebd.: 119). Waldenfels vergleicht den Empfang des eigenen Namens auch wie ein Brandmal (vgl. Waldenfels 1997a: 30), „zu mir wurde gesprochen, bevor ich zu Anderen sprach. Der Rufname, auf den wir hören, ist früher als die Namensbezeichnung, die wir einer Person oder einer Sache beilegen“ (ebd.). Schließlich verweist auch das Spiegelphänomen darauf, dass das Selbst nicht mit sich selbst zusammen fällt und niemals völlig bei sich selbst ist: So konfrontiert uns der Spiegel „mit einem Bild, in dem wir uns wiedererkennen und doch nicht wiedererkennen, da Sehender und Gesehener nie zusammenfallen. Das Erschrecken vor dem eigenen Bild, das vom Spiegelbild oder vom Foto ausgehen und in extremen Fällen bis zu Suizidversuchen führen kann, wäre unbegreiflich, wenn ‚ich‘ einfachhin ‚ich‘ wäre oder wenn ich je völlig zu mir selbst zurückkehren könnte. Ich begegne mir im Blick der Anderen.“ (Ebd.: 30f.) autre“ (vgl. exemplarisch Waldenfels 1995b: 613). Die Differenz von „I“ und „Me“ taucht sodann bereits bei Lichtenberg und Nietzsche auf und findet bei Mead ihre terminologische Verwendung; ebenso begegnet sie bei Husserl, Sartre und Lacan (vgl. exemplarisch Waldenfels 1998a: 54, 67; 2002: 271). Jeweils soll eine Selbstgewissheit des Ich in Zweifel gezogen werden, das völlig bei sich selbst wäre.

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Dass niemandem „seine Gefühle und Antriebe, seine sprachlichen Ausdrucksformen und seine kulturellen Gewohnheiten ganz und gar zugänglich [sind] […]“ (Waldenfels 2006: 119), wäre nur dann ein Mangel, „wenn wir von der vollendeten Selbsttransparenz eines Wesens ausgingen, das nur aus dem besteht, was es aus sich selbst gemacht hat“ (ebd.). Im Gegensatz zur relativen Fremdheit, bei der ich da bin, wo du nicht bist, und du da bist, wo ich nicht bin (vgl. Waldenfels 1997a: 196), beginnt die radikale Fremdheit „erst dort, wo Eigensinn, Eigenname und also auch der Eigenort selbst durch Fremdheit gezeichnet sind“ (ebd.). Fremdes und Eigenes durchkreuzen sich unaufhörlich, sie schieben sich auf der phänomenalen Ebene ineinander, ohne miteinander zu verschmelzen (vgl. ebd.). 5.2.3 Der Anspruch des Fremden Dass Eigenes stets vom Fremden durchzogen ist, bedeutet aber nicht, dass es nichts Eigenes gibt: „Fremderfahrung ist und bleibt eine Form der Erfahrung, nur eben in der paradoxen Form einer originären Unzugänglichkeit, einer abwesenden Anwesenheit.“ (Waldenfels 1997a: 30) Diese Erfahrung des Fremden und das Fremde selbst bleiben uns unzugänglich, das Fremde erscheint in Anschluss an Husserls Bestimmung des Fremden als „bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ (vgl. Husserl 1963: 144) und findet bei Merleau-Ponty und Levinas seine Radikalisierung, indem beide Autoren „das Anderswo und die Abwesenheit ausdrücklich in die Bestimmung des Anderen und des Fremden aufnehmen“ (Waldenfels 1997a: 27). Das Fremde selbst „erscheint hier also als das originär Unzugängliche und originär Unzugehörige; es tritt auf in einer besonderen Art von Bezug, der durch einen gleichzeitigen Entzug charakterisiert ist, in einer Beziehung, die nicht auf ‚Beziehungsfundamenten‘ ruht […]“ (ebd.: 27). Wichtig zu sehen ist hierbei, dass Fremderfahrung nicht besagt, „daß es etwas gibt, das unzugänglich ist, im Gegensatz zu anderem, das zugänglich ist […]“ (ebd.: 29). Vielmehr verhält es sich so, „daß etwas da ist, indem es nicht da ist und sich uns entzieht“ (ebd.). Die Annahme, Fremdes oder vielmehr Verschiedenes einem Allgemeinsamen einzuordnen – wie dies in der Integrations- und verschärft in der Inklusionstheorie geschieht – geht hingegen von einer Trennung von Eigenem und Fremdem aus, wohingegen beide stets als ineinander verschränkt auftreten. So bildet sich Eigenes, indem es sich von Fremdem abhebt und Fremdes, indem es sich von Eigenem abhebt (vgl. ebd.: 108). Die relativierende Aussage „Wir sind alle Fremde“ stellt nach Waldenfels ein „schlechtes Paradox“ dar, wobei diese Schlechtigkeit „nicht in der Sache liegt, sondern in seiner unzulänglichen Behandlung der Sache“ (ebd.: 29). Sie resultiert daraus, „daß der Anspruch des Fremden, auf den ich antworte, und die Eigenarten des Fremden, über die ich mich äußere, vermengt werden“ (ebd.). Mit dem inklusionspädagogischen Slogan der Normalität der individuellen Verschiedenheit bzw. der

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Aussage, „Wir sind alle individuell verschieden“, passiert dasselbe. Auch mit ihr wird die völlige Relativierung der Fremdheit durch die Überwindung des anderen Andersseins bzw. der Differenz zwischen Normalem und Anomalem angestrebt. Die Annahme der Überwindung des anderen Andersseins bzw. des Fremden durch eine völlige Einbeziehung des Anderen krankt jedoch auch daran, dass hiermit neben der Fremdheit auch die Eigenheit verschwinden würde. Auf der Antwort-Ebene des Sagens bedeutet Fremdheit hingegen kein relatives Phänomen, demnach es eine ‚eigene Fremdheit‘ und eine ‚fremde Fremdheit‘ geben würde, die sich vergleichen und einer bestimmten Ordnung einordnen lassen. Das Fremde ist vielmehr jedem Vergleich entrückt, „eben weil es gar nicht etwas ist, das wir vorwegnehmen, erwarten, erfassen oder bestimmen können. Als etwas, als unbestimmtes X wäre es auf gewisse Weise bereits angeeignet, in Eigenes verwandelt; denn selbst wenn es noch unbestimmt wäre, so wäre es doch bestimmbar und fortbestimmbar. Das Fremde würde sich reduzieren auf noch nicht oder nicht mehr Bekanntes und Bewältigtes. Das Fremde als solches ist dagegen jenes, wovon wir bereits ausgehen, wenn wir fragen, was es ist. Wir gehen vom Fremden aus, bevor wir darauf zugehen. Das Fremde kündigt sich an in Form einer Beunruhigung, eines ‚je ne sais quoi‘, einer Situation, in der wir nicht ein noch aus wissen.“ (Ebd.: 76f.)

Fremdes lässt sich nicht dingfest machen, sein Wesen besteht darin, dass es „uns heimsucht, indem es uns beunruhigt, verlockt, erschreckt, indem es unsere Erwartungen übersteigt und sich unserem Zugriff entzieht […]“ (Waldenfels 2006: 7f.). Das radikal Fremde entzieht sich einem jeden Verstehen und Einbeziehen oder einer praktischen Anerkennung und Wertschätzung. Vielmehr verweist es darauf, „daß unser Reden und Tun anderswo beginnt, daß es von Beunruhigungen, Infragestellungen und Störungen heimgesucht wird, die nicht auf unsere Initiative warten, die nicht unserer Wahl unterliegen und deshalb auch nicht eingefordert oder moralisch geboten werden können“ (Waldenfels 1999a: 10). Das Fremde macht sich vor jeder Thematisierung und vor jeder persönlichen Wahl und Initiative „bemerkbar als Beunruhigung, Störung und Verstörung, die in der Verwunderung oder der Beängstigung verschiedene affektive Tönungen annimmt“ (Waldenfels 2006: 125). An anderer Stelle verdeutlicht Waldenfels diese Unvergleichlichkeit des Fremden wie folgt: „Solange wir fragen, was das Fremde ist und bedeutet, wozu es da ist und woher es kommt, ordnen wir es ein in ein Vorwissen oder Vorverständnis, ob wir es wollen oder nicht. Wir sind so bereits auf dem Weg des Begreifens, Verstehens und Erklärens, auf dem alles Fremde sich in etwas verwandelt, das noch nicht begriffen, verstanden oder erklärt ist, selbst wenn wir bereit sind, einen Rest von Unverständlichem, Unerklärlichem und Unerforschlichem zu dulden oder gar zu verehren.“ (Waldenfels 1997a: 108)

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In der relativen Struktur des „noch-nicht“ bedeutet das Fremde etwas, das einen Mangel und Makel anzeigt und das es aufgrund seiner beunruhigenden Wirkung zu überwinden gilt. So stellt schon die Frage nach der „Antwort worauf“ eine Falle dar (ebd.: 143). Mit Fragen wie „Was ist das Fremde?“ oder „Wie erkenne ich das Fremde?“ würde man das Fremde entweder bereits vorweg einer bestimmten Ordnung unterwerfen, oder man würde voraussetzen, dass es Fremdes gibt, das sich erkennen lässt oder nicht (vgl. ebd.: 25). Im Gegensatz zu solchen relativen Bestimmungen sowie einem soziologischen Fremdheitsbegriff, nach dem als fremd gilt, „wer nicht Teil der eigenen Gruppe ist, wer nicht ‚dazugehört‘“ (ebd.: 24), handelt es sich „bei der Bestimmung des Fremden nicht, wie häufig angenommen […], um eine negative Definition. Das Fremde stellt kein Defizit dar wie all das, was wir zwar noch nicht kennen, was aber auf seine Erkenntnis wartet und an sich erkennbar ist. Vielmehr haben wir es mit einer Art leibhaftiger Abwesenheit zu tun. Das Fremde gleicht dem Vergangenen, das nirgends anders zu finden ist als in seinen Nachwirkungen oder in der Erinnerung.“ (Ebd.: 26)

Der Grundgedanke des responsiven Verständnisses des Fremden besteht darin, das Fremde als das zu nehmen, „worauf wir antworten und unausweichlich zu antworten haben, also als Aufforderung, Herausforderung, Anreiz, Anruf, Anspruch oder wie immer die Nuancen lauten mögen. […] Was Eigenes und Fremdes ist, bestimmt sich im Ereignis des Antwortens und nirgends sonst, das heißt, es bestimmt sich niemals völlig. Wenn ich sagen kann, was mich, uns, ein Volk oder eine Kultur zum Tun und Reden herausfordert, hat sich die Herausforderung schon in eine Selbstherausforderung verwandelt; es ist damit bereits ein Eigenes, über das wir verfügen und das unser Eigenes bleibt, wieweit wir es auch fragend und suchend erweitern mögen.“ (Ebd.: 109)

Zwischen dem, worauf wir antworten und dem, was wir antworten, zwischen Anspruch und Antwort, bleibt stets eine unüberbrückbare Kluft bestehen, es gibt hier „keinen Konsens, keine Einigung, keinen Vergleich, weil Anspruch und Antwort sich in ihrer Performanz auf kein gemeinsames Drittes, sondern aufeinander beziehen“ (ebd.: 77). Diese Differenz zwischen dem Worauf und dem Was der Antwort wird von Waldenfels als responsive Differenz bezeichnet (vgl. u.a. Waldenfels 2008: 105). Immer, wenn versucht wird, Anspruch und Antwort gleichzusetzen, wird diese responsive Differenz eingeebnet, so dass das Fremde seine Fremdheit verliert (vgl. Waldenfels 2006: 58). Das Fremde als das Worauf des Antwortens lässt sich aber nicht bestimmen oder vergleichen. Insbesondere mit der Gesamt- oder Grundordnung wird jedoch der Versuch unternommen, das Fremde völlig zu normalisieren:

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„Normalisierung bestünde dann in einer Tendenz, die Differenz zwischen dem Was und dem Worauf des Antwortens zum Verschwinden zu bringen und sie durch eine fungierende Ordnung zu ersetzen, in der Andersheit nur als andere Möglichkeit, nicht als fremder Anspruch vorkommt.“ (Waldenfels 2008: 136f.) Eben dies passiert im inklusionspädagogischen Ansatz. Das, worauf wir antworten, wird hier immer schon und vorweg als bloße individuelle Verschiedenheit bestimmt, so dass sich jegliches andere Anderssein normalisieren soll und damit seinem beunruhigenden Charakter entkleidet ist; von einem fremden Anspruch, der sich einer solchen Bestimmung entzieht, bliebe nichts übrig. Mit dem normativen und präskriptiven Slogan der Normalität der individuellen Verschiedenheit soll jegliches Einsickern des Fremden in die Erfahrung von vornherein verhindert werden. Damit wird aber nicht nur ein potentielles Anderssehen verhindert, sondern die je situativ auftretenden Ansprüche des Fremden werden zugleich verkannt und das Fremde wie Eigene erfährt einen gewaltvollen Eingriff. Um das Fremde nicht vorschnell zu bewältigen, indem es einer bestimmten Ordnung einbezogen wird, zieht Waldenfels daher eine responsive Form von Phänomenologie in Betracht, „die bei dem beginnt, was uns auf befremdende, erschreckende oder erstaunliche Weise herausfordert, herauslockt, herausruft und unsere eigenen Möglichkeiten in Frage stellt, bevor wir uns auf ein fragendes Wissen- und Verstehenwollen einlassen“ (Waldenfels 2006: 58). Mit der Responsvität werden die geläufigen Grundzüge der Intentionalität und Regularität, „die zur Entstehung einer gemeinsamen Welt unabdingbar sind, […] nicht ersetzt, wohl aber überboten. Responsivität steht für eine ‚Antwortlichkeit‘, die der Verantwortung für das, was wir tun und sagen, unwiderruflich vorauseilt.“ (Ebd.: 57)15 Die Antwortlichkeit (Responsivität) unterscheidet sich also deutlich von jeder Verantwortung (Responsibilität), die sich auf eine gegebene Ordnung stützt. Mit der Responsvität verbindet sich unter anderem auch eine Kritik am psychologischen Verständnis von „Response“, das hier zur bloßen (Verhaltens-)Reaktion abgesunken ist (vgl. Waldenfels 1994a: 14). Dieser Psychologismus reduziert alles auf Vorstellungs- und Verhaltensmechanismen: „Das Fragen wird einmal reduziert auf Vorgänge und Zustände des psychischen Erlebens, die sich als Wünschen, Wollen, Verlangen oder Begeh15 Die Konzeption der Responsivität verweist auf zwei Wissenschaftstraditionen: Damit sind einmal jene Verhaltenslehren gemeint, „in denen die Response nicht als bloße Reaktion auf vorhandene Reize verstanden wird, sondern als Antwort in der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt, zwischen Organismus und Umwelt“ (Waldenfels 2008: 135). Zum anderen bezieht sie sich auf eine bestimmte Ausprägung der Medizin, namentlich auf Goldstein und dessen Werk Der Aufbau des Organismus (1934) (vgl. ebd.). Die Konzeption der Responsivität wird ausführlich in den Antwortregistern entfaltet, auf die in diesem Zusammenhang verwiesen sei (vgl. Waldenfels 1994a). Zur Responsivität vgl. zudem insbesondere Waldenfels (2008: 67-111).

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ren beschreiben lassen, das andere Mal auf ein psycho-physisches Verhalten, das ein Gegenverhalten auslöst, welches vielfach ‚response‘, also Antwort heißt.“ (Ebd.: 35) Waldenfels hat hingegen ein Antworten im Sinn, das sich nicht auf die Rolle eines Erfüllungsgehilfen beschränkt, sondern das als Response ein Sprechen und Handeln „von anderswoher“ meint, ein Ort, wo wir niemals waren und niemals sein werden (vgl. Waldenfels 2005a: 223): „Das Antworten erscheint als die Art und Weise, wie wir auf Fremdes eingehen, ohne es durch Aneignung aufzuheben“ (Waldenfels 1994a: 15), „das Antwortgeben ist von Anfang an mehr als bloßes Weitergeben eines vorhandenen Wissens, schon deshalb, weil eine Antwort verweigert werden kann“ (ebd.: 192). Waldenfels reagiert damit auch auf eine kommunikationslogische und kommunikationstechnische Verengung von Frage und Antwort (vgl. ebd.: 193), bei der das Fragen als Mangel und die Antwort als Füllsel erscheint (vgl. ebd.: 191). Demgegenüber bestimmt er das Fragen als Ermöglichung, „als Angebot von Möglichkeiten und als Anregung, bestimmte Lösungen zu suchen. Bevor es darum gehen kann, Möglichkeiten zu verwirklichen und einem etwaigen Mangel abzuhelfen, muß der Befragte auf bestimmte Möglichkeiten eingehen.“ (Ebd.: 191f.) Allerdings könnte sich der Antwortende Angebote, die aus bloßen Möglichkeiten bestehen, zu eigen machen: „Die Differenz von Eigenem und Fremdem wäre eine vorläufige. Mehr als vorläufig ist sie dagegen, wenn das Fremde nicht bloß als Angebot auftritt, sondern zugleich als Anspruch laut wird.“ (Ebd.: 238) Das Antworten erwächst also nicht „aus einem eigenen Mangel, auch nicht aus einer Selbstermöglichung, sondern aus einem fremden Anspruch, auf den ich antworte und […] zu antworten habe“ (ebd.: 193). Die beiden zentralen Begriffe der Konzeption der Responsivität sind also der fremde Anspruch und das Antworten im Sinne von Antwortlichkeit und nicht von Verantwortung. Den Zusammenhang zwischen beiden zu erkennen ist wichtig, da das Fremde, das in der Differenz zwischen Anspruch und Antwort hervortritt, ansonsten verkannt wird. Das Fremde tritt in actu im fremden Anspruch zutage (vgl. Waldenfels 2006: 59). Dabei bedeutet der fremde Anspruch zweierlei, „nämlich einen Appell, der sich an jemanden richtet, und eine Prätention, die sich auf etwas erstreckt“ (ebd.). Wie Waldenfels immer wieder betont, verquicken sich im fremden Anspruch beide Formen des Anspruchs: „Im Anspruch, den ich vernehme, erhebt sich ein Anspruch, der mir etwas abverlangt.“ (Ebd.) Der fremde Anspruch nötigt mich also dazu, etwas zu sagen und zu tun, wobei das ‚mich‘ stets im Dativ auftritt, als ein ‚mir‘, was im Lateinischen beispielsweise mit dem Satz „mihi dicendum est“ angezeigt ist (vgl. Waldenfels 1994a: 241). Anders formuliert: „Antworten, das vom fremden Anspruch ausgeht, stellt keinen intentionalen Akt dar, der in einem bestimmten Sinne auf etwas ausgerichtet ist, der also etwas als etwas meint. Der fremde Anspruch tritt in der Weise auf, daß uns etwas einfällt, auffällt, befällt, überfällt oder zu-

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fällt, und an diesem Geschehen bin ich nur im Dativ beteiligt: mir fällt etwas ein. Gedanken kommen, wenn sie wollen, nicht wenn ich will, heißt es bei Nietzsche.“ (Waldenfels 2008: 79)

Der Anspruch ist nun „genau das in der Frage, worauf die Antwort antwortet“ (Waldenfels 1994a: 241). Wie der Anspruch nimmt auch das Antworten eine doppelte Form an: „Dem Anspruch auf etwas korrespondiert die Antwort (answer), die erteilt wird.“ (Waldenfels 2006: 60) Mit dieser registrierbaren Antwort wird ein Mangel behoben. Allerdings entspricht dem Anspruch, der sich fordernd an mich richtet, zugleich „ein Antworten (response), das auf Angebote und Ansprüche des Anderen eingeht und nicht bloß Wissens- und Handlungslücken füllt. Ein solches Antworten gibt nicht, was es schon hat, sondern was es im Antworten erfindet.“ (Ebd.) Der fremde Anspruch als das, worauf die Antwort antwortet, ist kein Was, das griffbereit vor uns läge oder das uns vorweg gegeben wäre. Dies hieße, so Waldenfels, „daß es ein antwortendes Hören und Sehen gäbe, das nur von sich selbst ausginge. Ein Selbstbezug, der sich im Frage-Antwort-Geschehen in Eigenund Fremdbezug verzweigt, würde sich nicht auf Fremdes beziehen, wenn er vorweg schon etwas hätte, worauf er sich bezöge.“ (Waldenfels 1994a: 241) Es handelt sich hierbei um die bereits angesprochene responsive Differenz, die unüberbrückbare Kluft zwischen Anspruch und Antwortgeben (response). Wie Waldenfels betont, gehen „die vielfältigen Versuche, das anarchische Ereignis des Sagens in finalen, kausalen, funktionalen oder formalen Ordnungen einzufangen, es zu subjektivieren, zu objektivieren, zu logifizieren oder zu normalisieren, aus einem Vergessen der responsiven Differenz hervor[…]“ (ebd.: 242). Wenn dieses Worauf der Antwort in ein beantwortbares Was verwandelt wurde, haben die Ordnungsmaßnahmen freien Lauf (vgl. ebd.: 242f.). Mit dem inklusionspädagogischen Motto der Normalität der individuellen Verschiedenheit wird diese responsive Differenz nicht nur vergessen, sondern sie soll durch die völlige Normalisierung des Andersseins geradezu überwunden werden. Als Folge antworte ich nicht mehr auf das, „was ich weiß oder nicht weiß, beherrsche oder nicht beherrsche, erwarte oder nicht erwarte […], da es bereits einer bestimmten Ordnung ein- oder untergeordnet ist“ (ebd.: 243). 5.2.4 Momente der responsiven Antwortlogik Die Responsivität ist ein Grundzug menschlichen Verhaltens und unterscheidet sich nach Waldenfels beträchtlich von der Logik intentionaler Akte, von der Logik des Verstehens oder von der Logik kommunikativen Handelns (vgl. Waldenfels 2006: 62). Die vier Momente dieser responsiven Antwortlogik – die Singularität, die Unausweichlichkeit, die Nachträglichkeit und die Asymmetrie des fremden Anspruchs – werden nun abschließend betrachtet. Hierbei treten mit dem Pathos und der Di-

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astase auch die zwei Leitmotive der Phänomenologie einer gebrochenen Erfahrung mit hervor. Singularität des fremden Anspruchs Der fremde Anspruch zeichnet sich zunächst durch eine eigentümliche Singularität aus, die als Singularität im Plural auftritt. Der fremde Anspruch ist kein Teil eines Ganzen oder Fall eines Gesetzes, die Singularität entzieht sich der Distinktion von Besonderem und Allgemeinem (vgl. Waldenfels 1997a: 120; 2006: 62): „Singularität besagt in einem solchen Falle nicht, daß etwas nur einmal vorkommt wie der gerade erklingende Ton oder die soeben begangene Straftat. Singularität besagt auch nicht, daß etwas sich als Einzelfall unter andere Einzelfälle einreiht. […] Vielmehr handelt es sich um eine Singularität von Ereignissen, die als solche auftreten, indem sie von gewohnten Ereignissen abweichen und ein anderes Sehen, Denken und Handeln ermöglichen.“ (Waldenfels 2006: 62f.)

Als Beispiel verweist Waldenfels auf die Französische Revolution, die für „die beteiligten Europäer keine Revolution unter anderen [war], und aus dieser Einzigartigkeit heraus wurde sie zum Kristallisationskern diverser Mythen und Riten“ (ebd.: 63). Erst der vergleichende Blick eines Dritten lässt die Französische Revolution als eine Revolution neben anderen wie der amerikanischen, russischen oder chinesischen erscheinen (vgl. ebd.), „so wie das Kind, einmal erwachsen geworden, die Mutter als eine Frau neben anderen und den Geburtsort als einen Ort unter vielen betrachten lernt“ (ebd.). Die pathische Dimension der Erfahrung und die Unausweichlichkeit des fremden Anspruchs Zweitens tritt der fremde Anspruch, „der etwas zu sehen, zu hören, zu denken, zu tun und zu fühlen gibt […]“ (ebd.), mit einer Unausweichlichkeit auf, „einer necessitudo im wörtlichen Sinne, die sich nicht aus allgemeinen Gesetzen ableitet, sondern als praktische Notwendigkeit zu den unumgänglichen Voraussetzungen unserer weltlich-sozialen Existenz gehört“ (ebd.): Wir können auf den fremden Anspruch, wie es immer wieder heißt, nicht nicht antworten, ähnlich wie man nach Watzlawick nicht nicht kommunizieren kann (vgl. Waldenfels 2006: 63): „Keine Antwort oder eine ausweichende Antwort wäre auch eine Antwort.“ (Waldenfels 1994a: 241) Wir antworten, was immer wir tun, selbst „das Weghören und Wegsehen ist eine Form des antwortenden Hinsehens und Hinhörens“ (Waldenfels 2008: 80). Diese praktische Notwendigkeit steht uns in ihrer Unausweichlichkeit nicht zur Wahl, „weil sie uns vor die Wahl stellt. Wir erfinden bis zu einem gewissen Grade, was wir antworten, wir erfinden aber nicht, worauf wir antworten.“ (Ebd.: 81) Responsivität stellt hierbei einen Grundzug allen Erlebens und Verhaltens dar (vgl.

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Waldenfels 2008: 136), sie „beschränkt sich nicht auf den Bereich sprachlicher Äußerungen, sie durchdringt den gesamten Bereich des Sensoriums und der Motorik und bildet so etwas wie ein leibliches Responsorium“ (ebd.: 137):16 Das „Antworten ist hier in einem weiteren Sinne zu verstehen, so daß nicht nur sprachliche Äußerungen, sondern auch Handlungen und das Spiel der Sinne und Triebe mit einbezogen werden.“ (Ebd.: 78f.) Diese praktische Unausweichlichkeit vollzieht sich nicht auf der Ebene des Vergleiche ermöglichenden Gesagten, sondern auf der pränormativen Ebene des Sagens, der fremde Anspruch fällt „nicht unter die Disjunktion von Tatsachen und Normen, von Sein und Sollen, die seit Hume und Kant das Feld der praktischen Philosophie beherrscht“ (Waldenfels 2006: 63). Dieser „situativ verkörperte Anspruch kommt jedem moralischen oder rechtlich verbürgten Anspruch zuvor; denn die Frage, ob der jeweilige Anspruch berechtigt sei oder nicht, setzt voraus, daß bereits ein Anspruch vernommen wurde. Wir bewegen uns in einer Zone diesseits von Gut und Böse, diesseits von Recht und Unrecht“ (ebd.: 59), so Waldenfels. Diese Ansprüche sind Ansprüche der Erfahrung, sie sind noch nicht abgedeckt durch allgemeine Instanzen, sondern treten auf, indem sie Antworten hervorrufen, provozieren (vgl. Waldenfels 1998a: 7); sie bewegen sich auf einer pränormativen Ebene des Sagens und nicht des Gesagten (vgl. Waldenfels 2008: 80): „Fragen oder Antworten sind als solche weder wahr noch falsch, so wie eine Gabe als Gabe weder berechtigt ist noch unberechtigt. Das Sagen, das etwas zur Sprache bringt, ist nicht zu verwechseln mit dem Gesagten: das Gesagte ist wahr oder falsch, nicht aber das Sagen.“ (Ebd.) Es handelt sich bei fremden Ansprüchen, die sich auf der Ebene des Sagens abspielen, um Aufforderungen, „die noch nicht dem binären Maßstab von gut und schlecht, von richtig und unrichtig unterliegen […]“ (Waldenfels 2002: 141). Jedoch bedeutet diese Tatsache nicht, „daß alles dem Belieben anheimfällt. Der fremde Anspruch, der sich nicht nur in der Rede, sondern auch in der stummen Gebärde kundtut, bedeutet weder eine gleichgültige Tatsache noch eine geltende Norm.“ (Waldenfels 2008: 80) Diesseits von Sein und Sollen begegnet er uns stets als situativer Anspruch, dem wir uns nicht entziehen können (vgl. ebd.); er geht mit einer bestimmten Ordnung einher, die er zugleich überschreitet und uns so in Frage stellt, noch bevor wir uns fragen können, ob wir ihm folgen sollen. In der „Unmöglichkeit, sich dem fremden Anspruch zu entziehen, entdecke ich mich als Adressat dieses Anspruchs und als Respondent, der auf ihn antwortet. Die Frage ‚Soll ich dem fremden Anspruch antworten?‘ gliche der Frage ‚Soll ich leben?‘, ganz zu schweigen von den WarumFragen, die sich anschließen. Wer solche Fragen stellt, hat sie schon beantwortet, wie recht und schlecht auch immer.“ (Waldenfels 2002: 144f.) 16 Differenzierte Ausführungen zum „leiblichen Responsorium“ finden sich in den Antwortregistern (vgl. Waldenfels 1994: 463-538).

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Die diesseits von Sein und Sollen auftretende Unausweichlichkeit, mit der der fremde Anspruch uns zum Antworten nötigt, folgt der Nicht-Struktur eines pathischen Ereignisses. Genauer: Die Unausweichlichkeit tritt selbst als ein pathisches Ereignis zu Tage. Im Laufe der Zeit hat eine solch pathisch grundierte Phänomenologie (vgl. Waldenfels 2006: 34) ein immer stärkeres Gewicht im Werk von Waldenfels eingenommen. 17 Vor allem mit den Bruchlinien der Erfahrung unternimmt Waldenfels, wie er selbst sagt, „einen neuen Anlauf, indem ich von der Sphäre des Pathischen ausgehe, um diesen Ort des Fremden deutlicher zu umschreiben“ (Waldenfels 2002: 14). Wie er seinen Ausführungen voranstellt, stünde das Pathische „vielfach im Schatten epistemischer und praktischer Bestrebungen, die – traditionell gesprochen – auf das Wahre und Gute ausgerichtet sind und die heute in Deutungssystemen und normativen Regelungen befangen sind, ganz zu schweigen von den technologischen Apparaturen und ihrem spezifischen Knowhow“ (ebd.). Das Wort „Pathos“ verwendet Waldenfels für Ereignisse im Sinne von Widerfahrnissen: „Gemeint ist etwas, das uns ohne unser eigenes Zutun zustößt oder entgegenkommt.“ (Waldenfels 2002: 15) Dahinter „steht die grammatische Form des Passivs, die Leideform, die sich von der Tätigkeitsform abhebt […]“ (ebd.). Pathos verweist zudem auch auf das Widrige, „sofern etwas nicht nur ohne unser Zutun und wider Erwarten, sondern auch entgegen unseren Wünschen eintreten kann und überdies in Situationen vorkommt, wo wir nicht mehr Herr der Lage sind“ (ebd.); es kann sich steigern „hin bis zur emphatischen Form des unglücklichen Leidens“ (ebd.: 16). Drittens steht „Pathos“ „für die durchaus ambivalente Steigerungsform der Leidenschaft, die dann eintritt, wenn jemand mit Leib und Seele außer sich gerät […]“ (ebd.), was sich sowohl im Zorn als auch im Eros bemerkbar machen kann (vgl. ebd.). Spuren des Pathischen würden sich in verschiedensten Kontexten finden, „in den Sinnesempfindungen, mit denen die Wahrnehmung beginnt, im Bereich des Strebens, das Angenehmes sucht und Unangenehmes meidet, oder schließlich im Reden und Überreden, das praktische Wirkungen hervorbringt“ (ebd.). Auch zum Hintergrund des Verhaltens gehört das Pathische, „das entsprechend der Verhaltenslage eingestimmt wird, und es erreicht einen Überfluß und Überschuß über alles Gewohnte hinaus in der Ekstase des Eros, aber auch im unermeßlichen Leid, das die Tragödien auf die Bühne bringen“ (ebd.). Nachdem es in der Neuzeit zu einer resoluten Subjektivierung der Gefühle kam, die zu deren Entweltlichung und Entgemeinschaftung geführt hat, unternehmen Waldenfels zufolge im 20. Jahrhundert vor allem Husserl, Scheler, Straus, MerleauPonty und Heidegger den Versuch, die Welthaltigkeit der Gefühle zurückzugewin-

17 Zum Begriff des Pathos vgl. auch Busch/Därmann (2007b). In diesem Sammelband wird der Versuch unternommen, das Pathos als Grundbegriff in den Diskurs der Kulturwissenschaften einzuführen.

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nen (vgl. ebd.: 17ff.). Allerdings, so Waldenfels in teils abgrenzender Hinsicht, ist die „Erneuerung einer Macht des Pathischen […] nicht von einer affektiven Intentionalität zu erwarten, die sich den kognitiven und praktischen Bestrebungen und Regelungen als sozusagen dritte Kraft beigesellt. Vielmehr ist zu erwarten, daß sich das Pathische als besondere Modalität herausstellt, als die Art und Weise nämlich, in der wir auf das ansprechen, was wir meinen und erstreben, was wir verstehen und behandeln.“ (Ebd.: 22)

Das „Etwas“, „das uns als Pathos zustößt, das uns im Extremfall überwältigt, lähmt und vernichtet […]“ (ebd.: 33), erscheint nicht als etwas, sondern es entzieht sich „den geläufigen Sinnerwartungen und Regelungen, es übersteigt deren Fassungskraft bis hin zu dem Punkt, wo für uns eine Welt zusammenbricht. Das Pathos, das hier inmitten des intentional gerichteten und geregelten Geschehens auftaucht als ein être sauvage, zeigt, daß etwas, das als etwas aufgefaßt und gedeutet wird, mehr oder weniger ist, als das, was es bedeutet. Es zeigt sich jeweils mehr und anderes, als sich sagen läßt.“ (Ebd.)

Kurzum: „Das als Widerfahrnis zu verstehende Pathos ist nicht intentional verfaßt.“ (Ebd.) Wie kein Anderer zuvor nimmt Waldenfels das Pathische zum Anlass seiner differenzierten Überlegungen. Seiner Lesart zufolge bedeutet Pathos „nicht, daß es etwas gibt, das auf uns einwirkt, es bedeutet aber ebensowenig, daß etwas als etwas verstanden und gedeutet wird. Es bedeutet zugleich weniger und mehr als das, es entzieht sich der Alternative von Kausalität und Intentionalität in all ihren traditionellen Formen.“ (Waldenfels 2006: 43) Bloße Kausalität würde bedeuten, aus einer Beobachterperspektive zu urteilen, „gleich dem Polizisten, der eine Blutprobe abnimmt, oder gleich dem Arzt, der Krankheitskeime entdeckt, Ansteckungsgefahren bekämpft und Todesursachen feststellt“ (ebd.). Sich auf reine Prozesse des Auffassens, des Verstehens und Deutens zu verlassen, würde umgekehrt bedeuten, dass „wir uns bereits auf der Ebene der sinnhaften Verarbeitung von Erfahrung [befänden] mit der Folge, daß die Bruchstellen der Erfahrung durch Sinndeutung übertüncht würden“ (ebd.). Demgegenüber versteht Waldenfels Pathos im Sinne von Widerfahrnissen: „Pathos bedeutet, daß wir von etwas getroffen sind, und zwar derart, daß dieses Wovon weder in einem vorgängigen Was fundiert, noch in einem nachträglich erzielten Wozu aufgehoben ist.“ (Ebd.) Das Pathos verweist auf ein Lernen durch Leiden (vgl. ebd.: 42); es erscheint „als etwas, wovon wir getroffen, affiziert, gereizt, überrascht und auf gewisse Weise verletzt werden“ (Waldenfels 2006: 73). Uns wird im Pathos etwas an-getan, was wir nicht selbst hervorbringen; das An- der Af-fekte und Af-fektionen meint hier keinen privaten Gefühlszustand, sondern ein Antun oder ein Angehen (vgl. ebd.: 42). Diese Ereignisse treten nicht als abrufbares

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Etwas auf, „als warteten sie bloß auf unser Stichwort oder auf unseren Tastenbefehl […]“ (ebd.: 42), sondern es handelt sich um Ereignisse, „die uns vielmehr widerfahren, zustoßen, zufallen, uns überkommen, überraschen, überfallen […]“ (ebd.). Neben der noch anzusprechenden, geläufigen Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt durchbricht das Pathos die soeben thematisierte Unterscheidung zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen, zwischen Sein und Sollen oder Sein und Wert (vgl. ebd.: 46): „Was uns zustößt und in den wechselnden Farben des Erschreckenden, Verwunderlichen, Verlockenden oder Beunruhigenden seine Wirkung entfaltet, ist weder eine Tatsache, die wir registrieren, noch unterliegt es einer Norm, der wir zu folgen haben, noch stellt es einen Wert oder Unwert dar, der aus unserer Einschätzung erwächst.“ (Ebd.)

Denn, wie Waldenfels sagt, käme jede Rechtfertigung, Billigung oder Bewertung ‚zu spät‘; bei dem, was uns widerfährt, handelt es sich um etwas, „von dem wir nolens volens ausgehen und immer schon ausgegangen sind, wenn wir zustimmend oder ablehnend, unterstreichend oder durchstreichend dazu Stellung nehmen“ (ebd.). Paradigmatisch zeigt sich dies bei Unglücksfällen, die alle Beteiligten überraschen und erschrecken, doch schon bald setzen die gewohnten Verarbeitungs- und Abwehrmaßnahmen ein und es bleibt schließlich nur noch „statistischer Flugsand“ zurück (vgl. ebd.). Diese Widerfahrnisse spielen sich nicht auf der Ebene von Moral und Gesetz ab, sondern als pränormative Vorgänge sind sie unausweichlich in dem Sinne, dass sie vor allem ausdrücklichen Ja und Nein auftreten (vgl. ebd.: 47): „Es sind Vorgänge, die den normativen Stellungnahmen eine Handhabe bieten, ohne sich ihrerseits auf sie zu stützen.“ (Ebd.) Widerfahrnisse sind als pathische Ereignisse jedoch keine bloße Vorstufe aktiver Sinn- oder Moralbildung, sondern sie zeugen von einer radikalen Form der „Urpassivität“, „die der Af-fektion entspringt und insofern stets ‚Ichfremdes‘ ins Spiel bringt, wenn man sie also einer Erfahrung zuschreibt, die aus dem Widerfahrnis hervorgeht“ (ebd.: 48). Für diese Ereignisse lassen sich keine zureichenden Möglichkeitsbedingungen angeben, sie finden sich nicht nur „in der großen Geschichte, sondern auch im Alltag, wo sie uns in Form von objets trouvés und personnes trouvées überraschen […]“ (ebd.). Alle Begründungsversuche für diese Ereignisse stoßen auf unüberwindliche Grenzen (vgl. ebd.). Moralisten hingegen – und dies richtet sich explizit auch gegen einen inklusiven Moralismus, der einseitig die Wertschätzung und ausschließliche Wahrnehmung individueller Verschiedenheit predigt – „tun so, als ließe sich das, was jemand tut, gänzlich absondern von dem, was jemandem geschieht“ (ebd.: 47). Waldenfels bringt mit dem Pathos aber nicht nur die Distinktion von Sein und Sollen, sondern auch die zwischen Subjekt und Objekt, von objektivem Vorkommnis und subjektivem Akt, ins Wanken (vgl. ebd.: 44). Pathische Ereignisse, in denen uns etwas zustößt, „fallen weder unter eine Erste-Person-Perspektive wie subjektive

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Akte, die wir vollziehen, noch gehören sie zu einer Dritte-Person-Perspektive wie objektive Prozesse, die von außen zu registrieren oder herbeizuführen sind“ (ebd.: 73). Das Pathos ist „ein Ereignis besonderer Art, das jemandem zustößt. Der oder die Betroffene tritt im Dativ auf, in einem ‚Adressendativ‘ […], nicht aber im Nominativ des Täters;18 mir widerfährt etwas, zu dem ich mich so oder so verhalte, und dir geschieht Entsprechendes. Dieses Wovon des Getroffenseins verwandelt sich in das Worauf des Antwortens, indem jemand sich redend und handelnd darauf bezieht, es abwehrt, begrüßt und zur Sprache bringt.“ (Ebd.: 44f.)

Anders formuliert: „Ich bin von Anfang an im Spiel, aber nicht als verantwortlicher Autor oder als Agent.“ (Ebd.: 73) Unermüdlich arbeitet Waldenfels an einer Revision eines modernen Subjektverständnisses, das das Selbst als Urheber und Initiator seiner eigenen Taten begreift. Mit der Responsivität versteht er das Selbst als Patient und Respondent, „also in der Weise, daß ich beteiligt bin, aber nicht als Initiator, sondern als jemand, der buchstäblich bestimmten Erfahrungen unterworfen ist […]“ (ebd.: 45). Das Wort Patient verwendet Waldenfels hierbei „im buchstäblichen Sinne, um den passiven VorStatus des sogenannten Subjekts hervorzuheben. Dieser geht über in den Status eines Respondenten, der auf das antwortet, was ihn oder sie trifft. Das Wodurch, also das, wovon wir affiziert sind, erscheint als solches nur in Form eines Worauf, also als etwas, auf das wir antworten“ (ebd.: 73), und das sich unserer Verfügbarkeit und Bestimmung entzieht. Am Beispiel von Lust und Schmerz verdeutlicht Waldenfels diesen gebrochenen Zusammenhang: Lust und Schmerz „sind keine Zustände oder Ereignisse, die sich Dingen in der Welt zuschreiben ließen. Schmerzen ohne jemanden, der sie spürt, sind nur als pathologische Spaltprodukte denkbar, und selbst sie setzen einen minimalen Zusammenhang voraus zwischen dem Patienten und seinem ihm entfremdeten Körperzustand. Lust und Schmerz sind aber auch keine subjektiven Akte, für die der Leidende verantwortlich ist, die ihm als eigene Leistung zugerechnet werden können und die in einen Verständigungshorizont eingebettet sind.“ (Ebd.: 44)

Diese Sichtweise einer pathisch grundierten Situation allen Verhaltens schiebt jenen Versuchen einen Riegel vor, die das Subjekt als alleinigen Urheber seiner Taten und als Konstrukteur seiner Welt begreifen. Als Beispiele sei hier auf eine wahrnehmungspsychologische Sichtweise hingewiesen, nach der ein Reiz seine Bestimmung allein durch die Verarbeitung durch die Sinne erhalten würde, oder auf eine konstruktivistische Sichtweise, der zufolge die Bestimmung eines Dings aus18 Die bayerische Sprache hält für diese dativische Struktur des Pathischen im Ausspruch „mia hod dramd“ („mir hat geträumt“) beispielsweise ein beredtes Zeugnis bereit.

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schließlich auf konstruktive Operationen eines Subjekts zurückgehen würde (vgl. Waldenfels 2002: 102). Von dem, was mir widerfährt und mich affiziert, kann in einem solchen Psychologismus und Konstruktivismus keine Rede mehr sein: Die Frage nach Affektion und Appell ist hingegen keine bloße psychologische Frage, „sondern eine durchaus ontologische. Es geht um die Ordnung der Dinge und nicht um bloße psychologisch-physiologische Mechanismen.“ (Ebd.) Mit Waldenfels ist daher nicht von einer Trennung in Objekt und Subjekt, von Aufforderung und Erwiderung, von Widerfahrnis und Response auszugehen, sondern von einem Zwischengeschehen, in dem es zu einem Oszillieren zwischen Aufforderungs- und Erwiderungsinstanz kommt: „Zwischen dem Wovon der Affektion und dem Worauf der Responsion, zwischen dem, was mir widerfährt, und dem, was ich zur Antwort gebe, geschieht etwas, das sich weder der einen noch der anderen Dimension zuordnen läßt. Was hier geschieht, ist genau die Umwandlung des Wovon in ein Worauf, die Umwandlung des erleidenden in ein antwortendes Selbst. Aus dem ‚Patienten‘ wird ein Respondent, das heißt jemand, der von anderswoher spricht und handelt, aber dies selbst tut. Diese Umwandlung beschränkt sich nicht auf eine einmalige Genese der Dinge und des Selbst, sondern sie geschieht immer wieder, wenn wir neue Erfahrungen machen und nicht nur fertige Erfahrungen wiederholen.“ (Ebd.: 102f.)

Was es jedoch gibt, ist, dass sich dieses Zwischengeschehen zwischen Aufforderungs- und Erwiderungsinstanz „mehr dem fremden Widerfahrnis oder mehr der eigenen Antwort annähern kann. Erfahrung gestaltet sich auch als ein offenes Kräftespiel.“ (Ebd.: 103) Die diastatische Struktur der Erfahrung und die Nachträglichkeit und Asymmetrie des fremden Anspruchs Doch wie lässt sich dieser Zusammenhang zwischen objektivem und subjektivem Moment, zwischen Aufforderung und Erwiderung, Pathos und Response genauer erklären, wenn beide Seiten weder getrennt voneinander auftreten noch kongruent sind? Um diesen gebrochenen Zusammenhang zu verdeutlichen, greift Waldenfels auf die ungewöhnliche Denkfigur der Diastase zurück. Mit der Diastase treten zugleich die zwei noch ausstehenden Momente einer responsiven Antwortlogik hervor, die Nachträglichkeit der Antwort und die Asymmetrie zwischen Anspruch und Antwort. Neben dem Pathos bildet die Diastase das andere Leitmotiv der Phänomenologie einer gebrochenen Erfahrung: „Das seltenere Wort Diastase bezeichnet die Gestaltungskraft der Erfahrung, die etwas oder jemanden entstehen läßt, indem sie auseinandertritt, sich zerteilt, zerspringt.“ (Waldenfels 2002: 9) Auch hier geht es Waldenfels wiederum um ein Infragestellen gewohnter Denkmuster der modernen Philosophie: Wo das Pathos die Position eines Subjekts untergräbt, „das in Auto-

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nomie, Selbstsetzung und Eigenhandlung seine Freiheit sucht“ (ebd.: 10), bildet die Diastase „den Kontrapunkt zu einem Vernunftdenken, das einzig in der Synthesis, der Komposition, seine ordnende Kraft entfaltet“ (ebd.). Die Diastase bezieht sich auf die Erfahrung des Pathischen selbst und macht sie ganz und gar aus und verweist damit auf die Genese der Erfahrung. In der Erfahrung eines pathischen Widerfahrnisses verhält es sich nicht so, als ob hier ein etwas auftritt, das den Bedingungen der Erfahrung einfach vorausliegen würde (vgl. ebd.). Dies würde, so Waldenfels, „in einen schlichten Empirismus ausarten […]“ (ebd.). Dennoch verhält es sich so, dass sich Widerfahrnisse dadurch auszeichnen, dass sie ‚zu früh‘ kommen und die Response dadurch, dass sie ‚zu spät‘ kommt. Ein Ereignis, das sich nicht auf eine bloße Wiederholbarkeit beschränkt, lässt sich nicht in flagranti erfassen (vgl. Waldenfels 2006: 49); wir kommen mit unserer Response immer schon ‚zu spät‘, um Widerfahrnisse zu begrüßen oder abzuwehren, das Getroffensein von etwas wäre ansonsten kein Getroffensein mehr, sondern etwas, das aufgrund von Gewohnheit zu erwarten war und auch so eingetreten oder auch nicht eingetreten ist, wie der einfahrende Zug, auf den wir warten – wenn auch manchmal vergebens. Auch das Nicht-Eintreten setzt eine Erwartbarkeit dessen voraus, von dem wir hoffen, dass es eintritt. Es handelt sich dann nicht um ein pathisches Ereignis im Sinne eines Widerfahrnisses, das uns zustößt, sondern um ein erwartbares Ereignis, das im strengen Sinne kein Ereignis mehr ist. Widerfahrnisse hingegen zeichnen sich durch ein Getroffensein aus und in diesem „Getroffensein steckt ein perfektivisches Moment, ein Moment zeitlicher Vorgängigkeit. Was uns zustößt oder zufällt, ist immer schon geschehen, wenn wir darauf antworten. Eben deshalb hat jede Bezugnahme auf Widerfahrnisse einen indirekten Charakter, sie geschieht aus einem zeitlichen Abstand heraus. Widerfahrnisse sind keine Wunderdinge, auf die wir einladend oder warnend mit dem Finger zeigen können. Einladung und Warnung kämen entweder zu früh oder zu spät. Widerfahrnisse gleichen einer Wunde, die wir schon empfangen haben, wenn wir sie vorweisen.“ (Waldenfels 2002: 56)

Wenn Pathos und Response aber nicht einfach zwei getrennte Ereignisse darstellen, die aufeinander folgen, dann ist die entscheidende Frage: Woran bemisst sich das ‚zu früh‘ und ‚zu spät‘? An dem Ereignis selbst gewiss nicht, so Waldenfels, da es ja „gerade in dieser zeitlichen Verschiebung hervortritt und nirgends sonst“ (Waldenfels 2006: 49). Pathos und Response sind daher nicht als zwei getrennte Ereignisse zu denken, die aufeinander folgen, sondern es handelt sich „um eine einzige gegenüber sich selbst verschobene Erfahrung, eben um eine genuine Zeitverschiebung“ (ebd.: 50). Diese zeitliche Verschiebung entspricht damit nicht dem linearen Zeitschema, „das der Kausalitätsauffassung der klassischen Physik zugrunde liegt […]“ (ebd.). Ebenso wenig gerät die Zeitlichkeit erst gar nicht in den Blick, „wenn wir uns vorweg auf einen dialogischen Boden begeben, wo eigene und

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fremde Beiträge mittels einer Reziprozität und Reversibilität von Standpunkten synchronisiert werden“ (ebd.: 49), so der kritische Blick auf dialogisch verfasste Kommunikationstheorien. Vielmehr sind Erfahrungen „gegenüber sich selbst verschoben in Form einer Vorgängigkeit dessen, was uns affiziert, und einer Nachträglichkeit dessen, was wir darauf antworten“ (Waldenfels 2002: 10). Diese zeitliche Verschiebung bezeichnet Waldenfels als Diastase oder Urdiastase (vgl. ebd.), „das heißt als ein originäres Auseinandertreten, das zwar einen Zusammenhang erzeugt, aber einen gebrochenen. Vorgängiges Pathos und nachträgliche Response sind zusammenzudenken, aber über einen Spalt hinweg, der sich nicht schließt und der eben deshalb nach erfinderischen Antworten verlangt.19 […] Versucht man, das Spannungsverhältnis in die eine oder die andere Richtung aufzulösen, indem man das Pathos von der Response oder umgekehrt diese von jenem ablöst, so gerät man einerseits auf die Bahnen eines Fundamentalismus, andererseits auf die eines Konstruktivismus, wobei der eine Part jeweils aus der Minimierung seines Gegenparts Nutzen zieht.“ (Waldenfels 2006: 49f.)

Waldenfels sagt, dass es zwar stimmt, dass wir auf das antworten, wovon wir getroffen sind und dass wir von dem getroffen sind, worauf wir antworten, „doch beides geschieht in eins, wenngleich in einer zeitlichen Verschiebung, die eben aus der Antwort ein nachträgliches, aus dem Widerfarhnis ein vorgängiges Ereignis macht. Die Scheidung vollzieht sich in dieser Verschiebung und sie erklärt, daß das Antworten auf sich selbst rekurriert und eben darin seine freie Initiative entfaltet.“ (Waldenfels 2002: 60)

Es kommt also nicht nur zwischen dem Was und dem Worauf des Antwortens zu einer Differenz, sondern die Diastase lässt zwischen dem Wovon des Widerfahrnisses und dem Worauf der Antwort einen Spalt entstehen, der dafür sorgt, dass das Worauf des Antwortens nicht mit dem Wovon des Widerfahrnisses zusammenfällt; das „Worauf des Antwortens nimmt im Wovon des Widerfahrnisses eine pathische Färbung an. […] Hier klafft ein Spalt auf inmitten des Geschehens, dem eine Welt, Andere und ich selbst entspringen.“ (Ebd.) Das Worauf des Antwortens ist also nur als ein gebrochenes Worauf zu denken, es findet in sich selbst nicht zur Ruhe und verlangt nach kreativen Antworten. Neben der Singularität des fremden Anspruchs und der Unausweichlichkeit des Antwortens auf ihn, die diesseits der Problematik von Sein und Sollen sowie von objektivem Vorkommnis und subjektivem Akt angesiedelt sind und als pathisches Ereignis in Erscheinung treten, ist die responsive Antwortlogik also auch durch eine 19 Das diastatische Geschehen entspricht vom Grundprinzip her dem bereits thematisierten Chiasmus, „einem Überkreuz von Eigenbewegung und Fremdbewegung, von eigenem Erleiden und fremdem Tun […]“ (Waldenfels 2002: 176).

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uneinholbare Nachträglichkeit singulärer Ereignisse charakterisiert (vgl. u.a. Waldenfels 2006: 65): „Die Antwortlogik ist nicht denkbar ohne jene Form der Zeitlichkeit, die wir als Diastase gekennzeichnet haben.“ (Ebd.) Diese Form der Zeitlichkeit verhindert, dass Anspruch und Antwort zusammenfallen, ohne dass sie voneinander getrennt auftreten. Dass die genuine Nachträglichkeit der Antwort das Primat einer ursprünglichen Gegenwart untergräbt, bedeutet nicht, dass die Gegenwart nicht nichts ist, „aber sie begnügt sich nicht mit sich selbst. Das Antworten geschieht hier und jetzt, doch es beginnt anderswo.“ (Ebd.) Waldenfels verweist hierfür beispielhaft „auf jene traumatischen Unfälle, die laut Freud einzig in ihren Nachwirkungen faßbar sind, so etwa der Vorfall aus der Kindheitsgeschichte des Wolfsmannes“ (ebd.). Die Nachträglichkeit taucht aber nicht nur in traumatischen Ereignissen auf, nur tritt sie hier besonders deutlich in Erscheinung. Als Moment der Responsivität bildet sie einen Grundzug menschlichen Verhaltens und ist beispielsweise auch in der Verzögerung einer Antwort angezeigt: „Das Phänomen des Zögerns weist darauf hin, daß jede Handlung, die nicht schon routiniert abläuft oder sich in einem Kurzschluß entlädt, sich selbst vorauseilt.“ (Waldenfels 2008: 93) Für das sogenannte Subjekt bedeutet diese uneinholbare Nachträglichkeit, dass es nicht bei sich selbst anfängt, sondern dass man anderswo anfängt: „Wer glaubt, bei sich selbst anfangen zu können, wiederholt nur, was schon ist und was er schon kann; er fängt also gerade nicht an. Antwort bedeutet den Verzicht auf ein erstes – und somit auch auf ein letztes Wort.“ (Waldenfels 2006: 65) Mit der als Diastase bezeichneten zeitlichen Verschiebung von Anspruch und Antwort geht nicht nur eine uneinholbare Nachträglichkeit des Antwortens, sondern zugleich „eine unaufhebbare Asymmetrie Hand in Hand“ (Waldenfels 1997a: 122). Mit Levinas weist Waldenfels darauf hin, dass diese Asymmetrie keine ungleiche Verteilung von Rollen in einem Dialog bedeutet, sondern „daß Anspruch und Antwort nicht auf ein Gemeinsames hin konvergieren. Zwischen Frage und Antwort gibt es ebensowenig einen Konsens wie zwischen Bitte und Erfüllung. Sie prallen aufeinander wie zwei Blicke, die sich kreuzen.“ (Waldenfels 2006: 66) Auch an dieser Stelle fungiert die responsive Differenz zwischen dem Worauf und dem Was des Antwortens im Hintergrund. In die Sprache des Eigenen und Fremden übersetzt, bedeutet diese Asymmetrie von Anspruch und Antwort – wie bereits anhand der Raumfigur des Chiasmus erörtert wurde –, dass Eigenes und Fremdes in einem weder symmetrischen noch reziproken Verhältnis zueinander stehen, sondern gegeneinander verschoben sind (vgl. Waldenfels 2008: 94): „Auf fremde Ansprüche antworten heißt nicht Fremdes und Eigenes mit den Augen eines Dritten beobachten, eines mit dem anderen vergleichen oder eines gegen das andere aufrechnen. Dies besagt nicht, daß Eigenes und Fremdes sich beim Vergleich als unvergleichlich herausstellen, vielmehr besagt es, wie Levinas immer wieder betont, daß der fremde An-

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spruch dem Vergleich entrückt ist. Wer vergleicht, antwortet nicht, und wer antwortet, vergleicht nicht.“ (Ebd.)

Das Paradox einer kreativen Antwort Von dieser diastatisch-zeitlichen Struktur der Erfahrung ausgehend eröffnet die responsive Antwortlogik die Möglichkeit eines sogenannten kreativen Antwortens. Die zeitliche Verschiebung, die einen Spalt zwischen Widerfahrnis und dem Worauf des Antwortens entstehen lässt, ist genau der „Ort jenes Mangels, der sich jeder Sinngebung und Zielsetzung entzieht und doch bewirkt, daß es etwas zu sagen und zu tun gibt“ (Waldenfels 2002: 60). Aus diesem Grund „begegnet uns das Pathos zunächst nicht als etwas, das wir meinen, verstehen, beurteilen, abwehren oder begrüßen, sondern es bildet den Zeit-Ort, von dem aus wir all dies tun, indem wir darauf antworten. All das, wovon ich getroffen bin und worauf ich antworte, hat als solches keinen Sinn und unterliegt keiner Regel.“ (Waldenfels 2006: 50) Waldenfels verdeutlicht dies anhand der Beispiele der Überraschung, des Staunens und der Angst: „Das Bestehen auf einer richtigen Überraschung, auf einem berechtigten Staunen oder einer falschen Angst unterschöbe der Erfahrung Kriterien, die erst ihrer Verarbeitung entstammen. Eine Überraschung bleibt Überraschung, Staunen bleibt Staunen, Angst bleibt Angst, es sei denn, wir hätten es nur mit Ignoranz, Naivität oder Phantasmen zu tun, die sich mit zunehmender Meisterung der Erfahrung in Nichts auflösen.“ (Ebd.: 50f.)

Entgegen der inklusionspädagogischen Meinung einer völligen Normalisierung pathischer Ereignisse fällt „das, was von dem Geschehen gesagt und verstanden wird, nicht mit dem zusammen[…], was geschehen ist“ (ebd.). Vielmehr tritt uns das „Pathos, das sich nicht in einem pathetischen Ausdruck erschöpft und nicht einmal auf ihn angewiesen ist, […] entgegen als nie völlig zu verwertender Überschuß, als etwas, das als sinn- und ziellos zu bezeichnen ist, sofern es die Sinnesnetze zerreißt, das Regelwerk unterbricht und auf diese Weise das Ereignis dekontextualisiert“ (ebd.). Der hierbei hervortretende Spalt zwischen dem Wovon des Widerfahrnisses und dem Worauf des Antwortens ermöglicht uns erst ein Antworten im Sinne der Response und nicht nur der Answer; ein Antworten, das sich nicht im Schließen einer Wissenslücke erschöpft, sondern auf fremde Ansprüche eingeht, ist darauf angewiesen, dass sich das Wovon des Widerfahrnisses nicht im Worauf des Antwortens erschöpft. Zugleich bleibt eine unüberbrückbare Kluft, eine responsive Differenz bestehen zwischen dem, worauf und dem, was wir antworten. Das Fremde ist als fremder Anspruch im Sinne des Pathos zu denken, das uns widerfährt (vgl. ebd.: 131) und uns als nie völlig zu verwertender Überschuss gegenüber tritt; es ist ein atopischer Ort, der sich jeder Sinngebung und Zielsetzung entzieht, ein „dort, wo wir nicht waren und nie sein werden“ (ebd.). Der fremde An-

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spruch lässt sich nie einholen, er rumort in mir wie ein Fremdkörper (vgl. Waldenfels 1995a: 382); er tritt stets als ein Überanspruch auf, „da jede Antwort hinter dem erhobenen Anspruch zurückbleibt“ (Waldenfels 1987: 176) und nur so jeder Anspruch „etwas vom Stachel eines Anreizes [behält], der nicht voll zu legitimieren ist“ (ebd.: 179). Das radikal Fremde steht dann für „jenen nicht einzuverleibenden Anspruch, der verhindert, daß Eigenes sich im Fremden und Fremdes sich im Eigenen spiegelt und daß eines im anderen zur Ruhe kommt“ (Waldenfels 1995a: 382). Eigenes und Fremdes sind niemals deckungsgleich, sie stehen notwendigerweise in einem asymmetrischen und chiasmatischen Verhältnis zueinander, da das, worauf wir antworten, ein Fremdes ist, das sich der jeweiligen Ordnung entzieht (vgl. Waldenfels 2008: 136). Nur so wird ein Antworten möglich, das sich nicht in der Answer erschöpft, sondern auf fremde Ansprüche eingeht. Die einzelnen Momente dieser responsiven Antwortlogik führen dazu, dass die Antwortlogik in dem Paradox einer kreativen Antwort gipfelt (vgl. ebd.), das an Merleau-Pontys Paradox eines kreativen Ausdrucks angelehnt ist (vgl. Waldenfels 2006: 67): „Die Antwort ist als Antwort kreativ. Der Anspruch gehört nicht einer Ordnung an, in die das Antworten eingefügt oder der es unterworfen ist. Der Anspruch wird vielmehr erst zum Anspruch in der Antwort, die er hervorruft und der er uneinholbar vorausgeht.“ (Ebd.) Anders als bei der reproduktiven Antwort, bei der die Antwort mehr oder weniger parat liegt, steht es mit produktiven oder kreativen Antworten (vgl. Waldenfels 2008: 92): „Solche Antworten greifen auf fremde Angebote zurück und gehen auf fremde Ansprüche ein, das heißt auf Ansprüche, die nie völlig einzuprogrammieren sind. Antworten auf fremde Ansprüche liegen nicht bereit, sie sind zu erfinden“ (ebd.: 92f.), eben weil sich das, was ich antworte, niemals völlig mit dem deckt, worauf ich antworte. An anderer Stelle heißt es: „Berücksichtigen wir die Möglichkeit, daß im Antworten nicht bloß ein bereits existierender Sinn wiedergegeben oder vervollständigt wird, sondern daß im Gegenteil Sinn im Antworten selbst entsteht, so stoßen wir auf das Paradox einer kreativen Antwort, in der wir geben, was wir nicht haben.“ (Waldenfels 1997a: 53) Dieses Waldenfels’sche Paradox einer kreativen Antwort ist von einer reinen Produktion ebenso weit entfernt wie von einer reinen Reproduktion (vgl. Waldenfels 2008: 94), das heißt, das kreative Antworten geschieht zwar nicht ohne Erfindung, es bedeutet jedoch auch keine bloße Erfindung: „Wir erfinden, was wir antworten, wir erfinden aber nicht, worauf wir antworten. Das, worauf wir antworten, bleibt uns bis zu einem gewissen Grade fremd. Es bekundet sich als eine bestimmte Unruhe, die das Handeln umtreibt, als ein Anspruch, der nur im Antworten selbst laut wird. […] Der Angelpunkt, um den die Ordnungen des Handelns sich drehen, findet innerhalb dieser Ordnungen keinen Platz. Auch der Konsens, der sich im Horizont einer gemeinsamen Ordnung bewegt, versagt hier. Responsives Handeln läßt sich daher niemals in ein kommunikatives Handeln integrieren“ (ebd.),

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so der kritische Seitenblick auf Habermas. Anders formuliert: „Das Antworten bleibt zurück hinter dem Überschuß an Ansprüchen, da das Worauf des Antwortens jede bestehende Ordnung sprengt.“ (Waldenfels 1994a: 356) 5.2.5 Zusammenfassung und Kritik an der inklusionspädagogischen Grundordnung der „Normalität der Verschiedenheit“ Mit diesen Überlegungen ist dem Gedanken der „Normalität der Verschiedenheit“ klar widersprochen. Die universelle Forderung, dass es normal sein soll, nur noch verschieden zu sein, unterstellt unser Handeln und Denken lediglich noch reproduktiven oder vorgefertigten Antworten, wohingegen das Fremde als Worauf des Antwortens einen solchen allgemeinen Maßstab sprengt. Genauer: Die normative Handlungsaufforderung der „Normalität der Verschiedenheit“ ist die stets schon vorgefertigte Antwort auf sämtliche Ansprüche des Fremden, die mit ihr zugleich getilgt werden sollen. Wie bereits auch die Überlegungen zur gedachten und gelebten Räumlichkeit gezeigt haben, handelt es sich hierbei um nichts anderes als ein bloß künstliches System. Diesem Gedankenkonstrukt fehlt jeglicher Rückhalt in der Lebenswelt, die ohne Ansprüche des Fremden nicht zu haben ist. Ein solches System ohne Fremdansprüche wäre nicht einmal wünschenswert, weil nicht die bloßen „Verschiedenheiten“, wie es bei Fornefeld heißt, das „Salz in der Suppe“ wären (vgl. Fornefeld 1994: 32), sondern geradezu die Fremdheit des Eigenen und des Anderen dafür sorgt, dass wir uns selbst und anderen und andere uns etwas zu sagen haben und wir einander angehen. Mit der responsiven Antwortlogik sind zwar sämtliche normative Grundordnungen in Frage gestellt. Bei der inklusionspädagogischen Grundordnung handelt es sich jedoch insofern um eine besondere Grundordnung, als mit der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ die Normalisierung der signifikativen Differenz zwischen Anspruch und Antwort sowie die Symmetrierung der Asymmetrie zwischen Normalem und Anomalem selbst anvisiert wird. Getilgt wird damit jedes Fremde, das in dieser Differenz selbst hervortritt, und damit auch jede Erfahrung des Fremden. Es ist keine andere Ordnung als die inklusionspädagogische Ordnung denkbar, die alles Fremde derart rigide in einem Ganzen aufgehen lassen will. Mit ihr wird explizit die völlige Normalisierung des Wahrnehmungs- und Erfahrungsgeschehens auch im Kontext der intersubjektiven Begegnung zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ angestrebt. Was noch zählen soll und darf, das ist die bloße Verschiedenheit bzw. noch mehr bzw. weniger: die bloße individuelle Verschiedenheit. Dies bedeutet nichts anderes als die völlige Normalisierung jeglicher Fremdartigkeit, was ihre Überwindung und Auslöschung bedeuten würde.

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Gerade das intersubjektive Geschehen im Kontext von Behinderung verweist jedoch auf eine gesteigerte Fremdartigkeit, die als solche unumgänglich ist, da Behinderungen stets einen spezifischen und – insbesondere im Falle von körperlichen oder geistigen Behinderungen – verschärften leiblichen Selbstentzug bedeuten. Die Begegnung mit dem Phänomen der Behinderung stellt ein besonderes pathisches Ereignis dar, weil die eigene Ordnung hier brüchig wird, und zwar auf spezifische und nicht auf allgemeine Art und Weise, wie letzteres mit dem Denken und Ziel der Vielfalt als Normalfall unterstellt wird. Kurzum: Behinderungen bewirken eine andere Fremdartigkeit als andere Heterogenitätsdimensionen, wie beispielsweise die des Geschlechts. Die Kontingenz der vertrauten Muster leiblicher Erfahrung von Selbst und Welt wird hier anders durchlebt und durchlitten, als wenn sich Mann und Frau begegnen. Mit der einseitigen Betonung der normativen und rechtlichen Gleichheit aller Heterogenitätsdimensionen wird die Erfahrung von Fremdartigkeit zwar bereits verkannt. Ihre angestrebte Normalisierung bedeutet aber zugleich ihre Überwindung und damit die Überwindung der Fremdansprüche der Erfahrung. Dieser Wunsch oder diese Hoffnung entspricht ungefähr dem Wunsch und der Hoffnung auf ein völlig leidfreies Leben. Wenn Leiden jedoch immer auch den kritischen Punkt eines Umlernens bedeutet, in dessen Folge es zu einer anderen Perspektive auf sich selbst und die Welt kommt, so stellt sich auch bei diesem Wunsch die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer solchen Perspektive. 20 Beim Wunsch nach einer Welt ohne jegliche Erfahrung des Fremden und von Fremdartigkeit stellt sich zudem die Frage, ob es wirklich die ‚Betroffenen‘ sind, denen hiermit zu ihrem Recht verholfen werden soll oder ob nicht vielmehr auch die ‚Nichtbetroffenen‘ von derartigen Erfahrungen befreit werden sollen. Die anvisierte Normalisierung der Fremdartigkeit bedeutet aber nicht nur die Verleugnung der Ansprüche des Fremden und der Erfahrung von Fremdartigkeit, sondern auch die der responsiven Grundstruktur unseres Verhaltens, Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Damit einher geht zugleich eine Ignoranz gegenüber jeglichem Pathos der Erfahrung. Die normative Handlungsaufforderung, den Anderen wertzuschätzen, und dies außerdem im vorgeblich demokratischen Sinne des normalen Verschiedenseins, unterstellt erstens einen einseitigen Subjektivismus und, damit einhergehend, zweitens ein restlos autonom handelndes Subjekt. Die Bewegung geht immer vom Subjekt aus, das etwas oder jemanden wertschätzen soll, ohne dass es durch Fremdes affiziert und beunruhigt würde und so, als ob diese Wertschätzung allein in seiner eigenen Verfügungsmacht liegen würde. Von der pathischen Dimension der Erfahrung, dem Antworten auf fremde Ansprüche, die uns diesseits von Gut und Böse, richtig und unrichtig in Frage stellen, ist im inklusionspädagogischen Ansatz bewusst keine Rede mehr. Dies würde nämlich die geforder20 Zu dieser Perspektive des Lernens als einem „Umlernen“ durch Leiden vgl. v.a. Meyer Drawe (1996; 2003; 2005; 2008).

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te Überwindung der Anders- oder Fremdartigkeit selbst in Frage stellen. Das inklusionspädagogische Denken unterstellt ein Verhältnis zum Anderen, in dem das autonome Subjekt lediglich programmierbaren und vorgefertigten Antworten – oder vielmehr einer vorgefertigten Antwort – folgt und auf die es jederzeit zurückgreifen kann, die es ohne Weiteres und maschinenartig anwendet. Diese, dem Subjekt zugeschriebene Freiheit, bedeutet jedoch zugleich seine größte Unfreiheit, denn es darf keine Antworten mehr geben, die sich abseits des, im buchstäblichen Sinne, sehr beschränkten inklusionspädagogischen Horizonts bewegen. Die Last und Verantwortung, die dem Subjekt hiermit aufgebürdet wird, ist enorm und angesichts der Ansprüche des Fremden nicht zu unterschätzen. 21 Das Antworten wäre mit dem Konstrukt der pädagogischen Inklusionsidee lediglich noch ein Antworten im Sinne der „Answer“, die Leerstellen füllt oder richtige Antworten gibt. Von einem Antworten im Sinne der „Response“, die auf fremde Ansprüche eingeht, durch die das Antworten herausgefordert wird, ist in diesem Denken nicht nur nichts mehr zu erkennen, sondern ein solches, kreatives und responsives Antworten ist von vornherein erst gar nicht mehr erwünscht. Die pathische und diastatische Dimension der Erfahrung sorgt jedoch dafür, dass es insbesondere im inter- und intrasubjektiven Bereich so etwas wie letztgültige Antworten nicht gibt; zum anderen macht diese pathisch grundierte Phänomenologie einer gebrochenen Erfahrung darauf aufmerksam, dass wir nicht auf vorgefertigte Antworten und normative Sollensappelle – wie dem des universellen Denk- und Handlungsimperativs der „Normalität der Verschiedenheit“ – festgelegt sind. Pathische Ereignisse setzen uns der Erfahrung des Fremden und Fremdartigen aus. Die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem geraten hier auf beunruhigende Weise und umso mehr in Bewegung, je mehr uns das Fremde an verdrängt geglaubte Eigenheiten erinnert. Dies macht ein responsives Antworten erst möglich, das sich weder auf die Erfüllung geforderter Antworten beschränkt und beschränken lässt noch tritt es völlig losgelöst in Erscheinung, da wir nicht erfinden, worauf wir antworten. Pathische und singuläre Ereignisse können die normativen und präskriptiven Ansprüche geradezu untergraben, sie verweisen auf eine Antwortlichkeit, die jeder Verantwortung und Gehorsamkeit vorauseilt: „Was uns […] die Spannung von Antwort und Anspruch lehrt, ist eine ständige reprise, die für eine surprise empfänglich bleibt, weil keiner die ursprüngliche prise in den Griff bekommt und auf den Begriff bringt“ (Waldenfels 1994a: 269). Gegenüber der Verdrängung alles Pathischen und der völligen Aneignung des Fremden, wie beides mit der pädagogischen Inklusionsidee zum Vorschein kommt, hat, so Waldenfels, die

21 Vgl. hierzu u.a. 5.7.

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„Debatte um das Fremde […] nur dann Aussicht, sich aus dem Hin und Her von Aneignung und Enteignung, von Vereinnahmung des Fremden und Auslieferung an das Fremde zu befreien, wenn das Fremde vom Pathos her gedacht wird als Beunruhigung, als Störung, als Getroffensein von etwas, das sich niemals dingfest und sinnfest machen läßt. Dies gilt für persönliche Verhältnisse so gut wie für den intra- und interkulturellen Austausch. Fremderfahrung beginnt weder mit dem guten noch mit dem bösen Willen, eben weil es jene Sinnerwartungen und Regelvorbehalte, von denen der Wille sich nährt, durchbricht. Pathos ist nicht bloß das Unwillentliche, sondern das nicht Wollbare. Philosophisch betrachtet ist Fremdes etwas, das sich inmitten aller Ermöglichungen, seien sie persönlich-dispositioneller, historisch-kultureller oder auch transzendentaler Art, als Un-mögliches erweist, als Erschütterung oder Infragestellung vorhandener Möglichkeiten.“ (Waldenfels 2006: 54f.)

Mit der Aufmerksamkeit wird nun noch ein Phänomen eingeführt, das in gewisser Weise das Einfallstor des Fremden bildet, das mit den inklusionspädagogischen Prämissen jedoch gleichsam verkannt wird. Die Wirk- und Zugkräfte dieses Phänomens entfalten im Kontext der Intersubjektivität von Behinderung eine besondere Virulenz. Zum einen sind von hier aus sowohl die Sichtweise auf die sogenannten „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ als auch deren Erklärungsansätze zu hinterfragen; zum anderen gilt es, abschließend auf das gefährliche Potential der inklusionspädagogischen Handlungsprämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ hinzuweisen.

5.3 DAS PHÄNOMEN DER AUFMERKSAMKEIT ALS EINFALLSTOR DES FREMDEN Das Phänomen der Aufmerksamkeit ist mit der Erfahrung des Fremden untrennbar verbunden. Mit ihm ist gleichsam ein Schlüsselphänomen benannt, das „die Erfahrung auf ganz spezifische Weise erschließt“ (ebd.: 99). Waldenfels bezeichnet die Aufmerksamkeit als „eines der wichtigsten Einfallstore, durch die Fremdes zu uns dringt“ (ebd.: 92).22 Im Folgenden werden die Grundzüge dieses Phänomens kenntlich gemacht und diese nach einer Betrachtung der „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ (vgl. 5.4) in den Kontext intersubjektiver Erfahrung von Behin22 Waldenfels widmet der Aufmerksamkeit mit der Phänomenologie der Aufmerksamkeit sogar ein eigenes Werk (vgl. Waldenfels 2004), was den Stellenwert dieses Phänomens für die Phänomenologie des Fremden erkennen lässt. Zum Phänomen der Aufmerksamkeit vgl. neben diesem Werk zudem insbesondere das Kapitel Aufmerksamkeitsschwellen (vgl. Waldenfels 2006: 92-108) sowie das Kapitel Leibliches Responsorium (vgl. Waldenfels 1994a: 463-538) und teilweise das Kapitel Von der Affektion zum Appell (vgl. Waldenfels 2002: 98-113).

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derung gestellt (vgl. 5.5). Eine phänomenologische Betrachtung dieses Geschehens kann Aufschluss darüber geben, weshalb diese Begegnungen häufig nicht auf allgemeine, sondern auf sehr spezifische Weise als sehr beunruhigend erfahren werden. Den psychologischen, soziologischen und anderen Erklärungsansätzen der „sozialen Reaktionen“ auf ‚Behinderte‘ ist ein intersubjektives Geschehen vorgelagert, das sich als spezifisches und prä-normatives Antworten diesseits von Norm und Tatsache bewegt. Der Zugang zu den „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ über das Phänomen der Aufmerksamkeit ergänzt diese Erklärungsansätze damit nicht um einen weiteren Zugang, sondern er macht auf ein Geschehen aufmerksam, das sich eher diesseits als jenseits dieser Erklärungsansätze bewegt. Die Stimmigkeit dieser Zugänge und Erklärungsansätze wird damit keineswegs angezweifelt. Ebenso spielen die in diesen Ansätzen benannten psychologischen Prozesse und normativen Erwartungen stets in die intersubjektive Erfahrung von Behinderung mit hinein. Es besteht jedoch die Vermutung, dass sie mit ihren Erklärungsmustern in gewisser Weise allesamt auf einer zu späten Stufe einsetzen, um dieses Geschehen sozusagen möglichst in statu nascendi zu erfassen. Im Vordergrund steht hier jedoch die inklusionspädagogische Sichtweise dieses Ansatzes auf die Intersubjektivität im Kontext von Behinderung, die aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden in Frage gestellt und zurückgewiesen wird (vgl. 5.7). Alles Wahrnehmen beginnt als Form des Antwortens auf Fremdes „damit, daß mir etwas auffällt, daß sich etwas aufdrängt, daß uns etwas anzieht oder abstößt, indem es uns affiziert“ (Waldenfels 2006: 99). Waldenfels unterscheidet zunächst zwischen einer primären, kreativen oder originären und einer sekundären oder repetitiven Form der Aufmerksamkeit. Dem entspricht die Unterscheidung zwischen einem produktiven oder kreativen und einem reproduktiven Antworten (vgl. exemplarisch Waldenfels 2008: 92f.). Gegenüber der sekundären Form der Aufmerksamkeit, bei der man lediglich bemerkt, was man schon kennt, wird die primäre Form der Aufmerksamkeit von Überraschendem heimgesucht: „Die originäre Form der Aufmerksamkeit, in der die Erfahrung über sich selbst hinauswächst, bedeutet eine Form der Ermöglichung, die anderes und weiteres möglich macht und nicht lediglich verwirklicht, was bereits potentiell angelegt ist.“ (Waldenfels 2004: 117) Die primäre Form der Aufmerksamkeit geht also mit dem Antworten auf einen fremden Anspruch einher. Sie antwortet auf unerwartete Einfälle, auf das, was auffällig wird. Ohne die primäre oder kreative Aufmerksamkeit ist das kreative Antworten unmöglich. Hingegen nähern sich die Antworten bei der sekundären Aufmerksamkeit dem reproduktiven Antworten an. Hinzu kommt, dass ohne das Auffälligwerden kein originäres Aufmerksamwerden möglich wäre und dementsprechend auch kein kreatives Antworten.

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Die Aufmerksamkeit ist in ihrer primären Form entgegen anderweitiger Annahmen kein Willensakt, sie entspringt keinem subjektiven Bestreben. 23 Sie wird vielmehr hervorgerufen durch eine ‚Störung‘ des Wahrnehmungsfeldes, indem sich der fremde Anspruch als pathisches Ereignis kundtut: „Das Unerwartbare im Erwarteten ist genau das, was uns aufhorchen oder aufschrecken läßt.“ (Ebd.: 92) Die Phänomene des Fremden und der Aufmerksamkeit sind somit untrennbar miteinander verbunden. Das Phänomen der Aufmerksamkeit verweist auf die pathische Dimension der Erfahrung, in der mir etwas auffällt, was mich aufmerken lässt. Bei diesem Geschehen des Zweitakts von Auffallen und Aufmerken bin ich beteiligt im Dativ als derjenige, dem etwas zustößt und zugleich im Akkusativ als derjenige, den etwas aufmerken lässt. Zwischen Auffallen und Aufmerken besteht – wie zwischen Pathos und Response, fremdem Anspruch und eigener Antwort – ein Hiatus im Sinne einer unüberbrückbaren Kluft. Das (nachträgliche) Aufmerken, das stets auf das (vorgängige) pathische Auffälligwerden verweist, bedeutet dabei zunächst noch keineswegs das Bemerken eines erfassbaren und benennbaren Etwas (vgl. ebd.: 66). Noch bevor etwas als etwas aufgefasst wird, tritt etwas oder jemand hervor, indem es, er oder sie auffällig wird. Das Auffallen selbst unterliegt somit noch keiner Qualifizierung und Bestimmung. Auffallen und Aufmerken sind keine getrennten Bereiche im Sinne eines objektiven Vorkommnisses und eines subjektiven Aktes. Vielmehr ist „die Doppelbewegung des Auffallens und Aufmerkens […] eine oszillierende Bewegung, die in sich selbst keinen Halt findet; denn sie gründet weder in etwas, das auffällt, noch in jemandem, der aufmerkt“ (ebd.: 113). Waldenfels zufolge zwingt das Phänomen der Aufmerksamkeit geradezu zu der Annahme, „daß sich etwas zwischen mir und den Dingen, zwischen mir und den Anderen abspielt, das seinen Ursprung nicht einseitig in mir hat, obwohl ich daran beteiligt bin […]“ (Waldenfels 2006: 100). Dieses Zwischen lässt sich als ein offenes Kräftefeld beschreiben, in dem Aufforderungen im Sinne des Widerstreits miteinander um einen Platz im Aufmerksamkeitsfeld konkurrieren. Die Aufmerksamkeit bildet, wie Waldenfels in Rekurs auf Husserl anmerkt, ein „affektives Relief“ (vgl. ebd.: 100). Der Übergang vom Aufmerken auf etwas zum Bemerken von etwas vollzieht sich sozusagen als Reliefbildung, indem etwas aus einem Hintergrund hervortritt, was zugleich ein Zurücktreten von Anderem bedeutet. Dem entspricht auf Seiten des Aufmerkenden das Vorziehen 23 Waldenfels merkt hierzu an, „daß die Aufmerksamkeit bei Augustinus primär als Willensausrichtung, als intentio voluntatis begriffen wird“ (Waldenfels 2004: 19). Mit Descartes erhält die Aufmerksamkeit sodann eine dualistische Lesart im Sinne einer mentalen Innenwelt und einer physischen Außenwelt: Als Willensakt fällt sie dem Bereich des Cogito zu und unterliegt anderseits physisch-physiologischen Bedingungen (vgl. ebd.: 20). Waldenfels geht es auch beim Phänomen der Aufmerksamkeit um eine Revidierung dieser einseitigen und dualistischen Sichtweisen.

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und Zurückstellen. Durch diese Doppelbewegung von Reliefbildung und Vorziehen wird etwas zum Thema, wodurch anderes zugleich an den Rand gedrängt wird (vgl. Waldenfels 2004: 102).24 Zu- und Abwendung vollziehen sich in einem Schritt. Diese Bevorzugung ist nicht im Sinne eines Höheren oder Besseren zu verstehen, so, als ob wir etwas nur bewusst und allein aus Gründen der Vorliebe bevorzugen: „Zu Beginn meiner selbst bin nicht ich es, der den Anderen oder die Andere vorzieht – oder eben nicht vorzieht, es ist vielmehr die Erfahrung selbst, die vor-zieht. So wie jeder Affekt, solange er nicht normalisiert und kanalisiert ist, uns überrascht, so überkommt uns auch die Affektion durch Andere.“ (Waldenfels 2006: 91) Das als Pathos auftretende Auffallen bedeutet, dass uns etwas affiziert. Die Ausprägungsgrade dieses pathischen Geschehens variieren zwischen den Polen, bei denen die Aufmerksamkeit das eine Mal gegen Null tendiert und sich das andere Mal im schockartigen Ereignis dem „Gelähmtsein“ annähert. Ohne dieses Affiziertwerden gäbe es kein Auffallen. Selbst eine Haltung der Apathie oder Ataraxie befreit nicht vom Pathos (vgl. Waldenfels 2002: 105): „Was uns auffällt, läßt uns nicht gleichgültig, als wären wir eine bloße menschliche Spielart von Registriergeräten und Steuerungsinstanzen“ (Waldenfels 2004: 261), wie Waldenfels in kritischer Absicht gegenüber mechanistischen Aufmerksamkeitsmodellen zu bedenken gibt, und wie sich dies auch dem normativen und wertschätzenden Verschiedenheitsdenken entgegenhalten lässt. Dieses Affiziert-werden geht damit einher, dass das Auffallen ein Aufmerkenmüssen nach sich zieht. In der Sprache der Antwortlogik: Man kann nicht nicht antworten oder nicht nicht aufmerken. Dem unausweichlichen Dass des Anspruchs und dem Wie des zu erfindenden Antwortens „kommt das Ja oder Nein [hinzu], das sich im Eingehen oder Nichteingehen auf das Fremde, im Entgegenkommen oder Nichtentgegenkommen äußert“ (ebd.: 274). Dem Ereignis, dass sich etwas zeigt und nicht zeigt, entspricht hier ein vorgängiges Ja vor dem Gegensatz von Ja/Nein (vgl. Waldenfels 1998b: 9). Auch das Ja/Nein ist jedoch „nicht als Stellungnahme und Einstellung zu bestimmen und nicht auf der Ebene des willentlich-wissentlichen Aufmerkens anzusetzen […], sondern [entspringt] dem bipolaren Aufmerksamkeitsgeschehen […]“ (Waldenfels 2004: 273). Das Ja/Nein ist weder bereits dort vorhanden, wo etwas auffällig wird, noch existiert es bereits in demjenigen, den etwas aufmerken lässt. Auch das Nein gehört somit nicht dem Gesehenen, Gehörten, Gesagten und Getanen an, sondern dem Hinsehen, Hinhören, dem Anreden und Antun (vgl. ebd.: 280). Wie Waldenfels die (Nach-) Wirkungen pathischer Ereignisse verdeutlicht, lässt es sich „nur in einem Paradox fassen als Ausweichen vor dem Unausweichlichen. Etwas, das sich bemerkbar macht, wird nicht wirkungslos und unwirklich dadurch, daß wir unsere Augen ver-

24 Vgl. zu diesem Vorgang auch die Ausführungen zum selektiven und exklusiven Zustandekommen jeder Ordnung (4.1.5).

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schließen und unsere Ohren verstopfen, so wie unbewußte Abwehrmechanismen den abzuwehrenden Triebkonflikt nicht auslöschen.“ (Ebd.: 274f.) An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob es dann vielleicht sogar gleichgültig ist, was zur Antwort gegeben wird, wenn jede Antwort, auch die ‚Nicht-Antwort‘ des Übersehens eine Antwort auf fremde Ansprüche ist. Die Konzeption der Responsivität ist sodann nicht ohne einen ethischen Einschlag denkbar: „Das ‚Man muß antworten‘ oder ‚Man kann nicht nicht antworten‘ bezeichnet genau den Punkt, wo ethische Forderungen entspringen […]“ (Waldenfels 1994a: 358). In diesem Kontext spricht Waldenfels auch vom Ethos der Aufmerksamkeit (vgl. Waldenfels 2004: 275), das eng mit der Beachtung, Achtung und Achtsamkeit zu tun hat (vgl. Waldenfels 2006: 98).25 Das Phänomen der Aufmerksamkeit weist also nicht zuletzt darauf hin, dass es eine Ethik gibt, „die nicht allein aus dem Streben, Wollen, Sollen oder Können erwächst, sondern aus Ansprüchen, auf die wir antworten“ (Waldenfels 1994a: 557). Mit der Responsivität geht es demzufolge nicht um die Begründung moralischer Gesetze, sondern um die „Stiftung eines ethischen Anspruchs, der jeder Gesetzesmoral vorausliegt“ (ebd.: 309). Das Nein als Nichteingehen auf das Fremde verweist dabei auf die Verweigerung einer Antwort auf fremde Ansprüche, die aus den Widerfahrnissen der Erfahrung erwachsen (vgl. Waldenfels 2004: 280). Dieses Sichabschließen gegen Fremdes beginnt nicht mit einem intentionalen Akt: „Es ist keineswegs so, als hinge alles an der inneren Intention, an der Gesinnung, vielmehr hängt alles an der Attention, die vom Anderen und Fremden angestachelt wird.“ (Ebd.) Kurzum: Der Mensch ist auch als Aufmerkender nicht Herr im eigenen Haus und der Lage. Das Sichabschließen gegen Fremdes beginnt damit, dass alles, was uns entgegenkommt, als bloßes Etwas angesehen und betrachtet wird. Das Auffallen reduziert sich somit auf bloße Auffälligkeiten (vgl. ebd.). Die Konsequenz dieses Sichabschließens gegen Fremdes ist nicht, „daß da nichts ist, sondern daß da nur etwas ist, das zur Disposition steht, und dieses Etwas kann auch ein Jemand sein“ (ebd.). Da bestimmte Formen der Behinderung so stark auffällig werden können, dass sie alles andere zu überlagern scheinen, besteht hier die Gefahr, dass ein ‚Behinderter‘ lediglich unter den Vorzeichen seiner Behinderung auffällt und anschließend auf diese reduziert wird. Besonders problematisch wird dies dann, wenn die Behinderung als etwas Nichtseinsollendes eingestuft wird. Dieses zur Disposition stehende Etwas tritt in neu entfachten Lebensrechtsdebatten hinsichtlich ‚Behinderter‘ zu Tage und bekommt unter den Vorzeichen der Pränatal- und Präimplantati25 Mit Nachdruck ist darauf hinzuweisen, dass es Waldenfels mit der Konzeption der Responsivität nicht um die Begründung einer neuen Ethik geht. Mit der Responsivität soll vielmehr die Frageebene gewechselt und gezeigt werden, dass es einen Anspruch des Fremden gibt, der als situierter Anspruch diesseits von Norm und Tatsache liegt (vgl. u.a. Waldenfels 1994a: 566).

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onsdiagnostik erneut subtilen Aufwind; es gibt jedoch, wie Sartre und MerleauPonty in ähnlicher und doch unterschiedlicher Weise versichern, bereits so etwas wie einen verobjektivierenden Blick des Anderen (vgl. Merleau-Ponty 1966: 413; Sartre 1993: 457ff.). So leben wir zwar ständig im Blickfeld des Anderen. Dieser Blick kann allerdings in Scham umschlagen, wenn der Andere mich auf meine Möglichkeiten festzulegen scheint und man sich demzufolge als bloßes Etwas erfährt. Bereits der alltägliche Blick des Anderen kann also problematische Konsequenzen nach sich ziehen. Der ‚Behinderte‘ ist dabei in hohem Maße der Gefahr ausgesetzt, durch den Blick des Anderen degradiert zu werden, wenn mit Waldenfels folgendes angenommen werden kann: „Im erschreckten Blick entdecke ich Schreckenerregendes. Im abschätzigen, unterwürfigen oder mißtrauischen Blick begegnet mir der verschiedenartige Gegenblick des Anderen, mit dem er auf Andere antwortet. Was der Andere sieht, sehe ich nur teilweise oder beiläufig; doch indem ich den Anderen sehe, sehe ich, worauf der Blick des Anderen anspricht und in welcher Weise er es tut.“ (Waldenfels 1994a: 504)26

Ich erfahre mich sozusagen im Blick des Anderen, indem ich mich als jemand erfahre, worauf der Blick des Anderen antwortet. Nimmt man nun das ‚Anstarren‘, das vermutlich als eine der häufigsten Antworten auf das Auffälligwerden einer Behinderung fungiert und das sich bis hin zum Ekel steigern kann, so zeigt sich, welch drastischen Ausmaße eine solche zwischenleibliche Situation für den ‚Behinderten‘ haben kann. Die pathischen (Zwischen-)Ereignisse des Auffallens und Aufmerkens lassen unterschiedliche Pole respektive Stärkegrade hervortreten. Die jeweiligen Relevanzkriterien, die sich gegenüber anderen herausbilden, sind dabei affektiv besetzt, sie bekommen ihr spezifisches attentionales Gewicht, indem sie uns affizieren (vgl. Waldenfels 2002: 104). Die Attentionalität im Sinne der originären Aufmerksamkeit entspringt dabei der diastatischen Verzögerung, also jenem Aufschub, der den direkten Zugriff unterbricht und etwas fraglich werden lässt. Durch den Hiatus zwischen Auffallen und Aufmerken kommt es zu einem Überschuss an fremden und eigenen Möglichkeiten, zu einem Spielraum, der unterschiedliche Antwortmöglichkeiten hervorbringt. Dieser Aufschub bedeutet immer auch ein Risiko für den Aufmerkenden, da dieser immer dann in Frage gestellt wird, wenn ihm etwas in unerwarteter Weise zustößt, das die gewohnte Welt aus den Fugen geraten lässt. Der Aufschub führt also zu einer Beunruhigung und Aufmerksamkeitsspannung (ten26 Schönwiese weist auf folgende „Typologien des Blicks“ auf ‚Behinderte‘ hin: der staunende und medizinische Blick, der vernichtende Blick, der mitleidige Blick, der bewundernde Blick, der instrumentalisierende Blick sowie der ausschließende Blick (vgl. Schönwiese 2006).

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sio), die die Aufmerksamkeit (attentio) durchzieht (vgl. Waldenfels 2006: 103). Es ist hierbei jedoch noch nicht entschieden, ob diese Beunruhigung als Verlockung oder Bedrohung erfahren wird. Die erste Funktion der Aufmerksamkeit wurde mit dem Vorgang der Reliefbildung bereits benannt, bei dem sich eine Gestalt von einem Hintergrund abhebt. Waldenfels bezeichnet dies auch als Weckung der Aufmerksamkeit, die sich auf der Ebene der Ereignisse abspielt und daher keinen intentionalen Akt darstellt (vgl. Waldenfels 2004: 96): „Die Kraft der Weckung richtet sich gegen die Kraftlosigkeit des Schlafes, in dem alles in der Gleichgültigkeit eines monotonen Rauschens zu versinken droht. Dies gilt mutatis mutandis für alle schlafähnlichen Zustände, auch für den Schlaf der Gewohnheit […]“ (ebd.). Hierbei kommt es zu unterschiedlichen Stärkegraden der Weckung: „Den extremen Stärkegraden der Weckkraft entsprechen Zustände der Überwachheit und der Schläfrigkeit, die in der Wachsamkeit und Verschlafenheit zu festen Einstellungen gerinnen.“ (Ebd.: 97) Ihre Steigerungsform findet die Auffälligkeit in der Aufdringlichkeit (vgl. ebd.: 96). Der Spielraum des Aufmerkens verringert sich hierbei, wobei sich der Verhaltensspielraum im Schockerlebnis schließlich „der Nullgrenze wie im Falle eines Handlungsnotstandes“ (ebd.: 97) annähert. Die Auffälligkeit tritt im Schockerlebnis überfallartig auf, es kommt hier „nicht bloß etwas auf uns zu, etwas überkommt uns in der Weise, daß die Umsetzung des Aufmerkens in Zu- oder Abwendung an einen toten Punkt gelangt und die Erfahrung stockt“ (ebd.: 97). Der Aufschub tritt also in solchen Augenblicken eklatant zu Tage, „wo es uns die Stimme verschlägt, wo wir wie gelähmt sind, wo die gewohnte Welt aus den Fugen gerät und die gewohnten Antworten versagen“ (Waldenfels 1994a: 537f.). Die Welt schrumpft hier zu einem Jetzt zusammen (vgl. Waldenfels 2004: 97), man wird aus der gewohnten Erfahrung herausgerissen, indem etwas oder jemand in unvorbereiteter Weise in das Erfahrungsfeld tritt und das Eigene sozusagen überfallartig trifft. An dieser Stelle zeigt sich unverkennbar eine große Überschneidung zu den Forschungsergebnissen der „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ (vgl. Cloerkes 2007). Auch hier wird häufig von einem Schockerlebnis in der Konfrontation mit sichtbar auffälligen Abweichungen im körperlichen Bereich berichtet. Bevor der Zugang zur Fremderfahrung im Kontext von Behinderung über das Phänomen der Aufmerksamkeit weiter verfolgt wird, müssen diese Forschungsergebnisse und Erklärungsansätze genauer beschrieben werden. Der Rückgriff auf Cloerkes geschieht aus dem einfachen Grund, da Cloerkes die bisher umfassendsten Analysen zu diesem Forschungsbereich vorgelegt hat. Mit der Perspektive der Phänomenologie des Fremden ist jedoch auf eine bisher weitgehend unberücksichtigt gebliebene Lücke in diesem Forschungsfeld hinzuweisen. Zugleich deutet sich mit der Konzeption der Responsivität ein anderes Verständnis der „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ an.

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5.4 DIE „SOZIALEN REAKTIONEN“ IM KONTEXT VON BEHINDERUNG Der „Reaktionsansatz“ von Cloerkes war nicht nur in den 1970er und 1980er Jahren das bestimmende Paradigma der Soziologie der Behinderten in Deutschland (vgl. Kastl 2010: 165), sondern er steht im heil- und sonderpädagogischen Diskurs auch heute noch paradigmatisch für die Erkenntnisse über die Interaktion zwischen ‚Nichtbehinderten‘ und ‚Behinderten‘. Dass dieses Thema heutzutage kaum mehr größere Beachtung findet, hat, wie mehrfach betont wurde, auch und vor allem mit den inklusionspädagogischen Prämissen zu tun. Sie folgen einem vorwiegend sozialen bzw. sozialkonstruktivistischen Modell von Behinderung und unterliegen einer einseitig normativen und präskriptiven Perspektive auf diese Interaktionsprozesse. Die Forschung zu diesem Bereich ist seit den 80er Jahren nicht nur ins Stocken geraten, sondern sie gerät im Zuge einer verstärkt sozialkonstruktivistischen und inklusionspädagogischen Ausrichtung des behindertenpädagogischen Diskurses zunehmend auch in Verruf. 27 Damit wird zwar ein politisch korrekter Zeitgeist bedient, der mit der Erfahrung Betroffener wie Nicht-Betroffener allerdings recht wenig zu tun hat. In eben dieser Ausblendung des Leiblichen findet die sozialkonstruktivistische wie inklusionspädagogische Sichtweise ihre ideologischen Scheuklappen. Der sogenannte „Reaktionsansatz“ ist daher nicht als veraltet anzusehen, sondern er lieferte erstmals wichtige, umfassendere Erkenntnisse zur Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘, die jedoch im Zuge des Wirkens der pädagogischen Inklusionsidee sowohl im gesellschaftspolitischen als auch im pädagogisch-disziplinären Diskurs nahezu verdrängt wurden und werden. „Das Problem der ‚sozialen Reaktion‘ auf physisch abweichende Personen ist so alt wie die Menschheit und so aktuell für die modernen Sozialwissenschaften wie kaum ein anderes“ (Cloerkes 1979: 1), schreibt Cloerkes zu Beginn seiner Dissertation Einstellungen und Verhalten gegenüber Körperbehinderten aus dem Jahr 1979. Dieses Problem ist – nicht sonderlich überraschend – auch heute noch aktuell und es wird die Menschheit noch solange begleiten, wie es sie gibt. Zum einen zeigt sich diese Aktualität geradezu anhand der Debatten um Inklusion selbst, mit der es im Kern um die institutionelle und intersubjektive Anerkennung und Wertschätzung des behinderten Anderen geht, die nach wie vor als ungenügend und unzureichend eingeschätzt wird. Von Interesse sind hierbei jedoch nicht mehr das ‚Problem‘ 27 Zu einer kritischen Diskussion der sozialkonstruktivistischen Perspektive auf Behinderung im Kontext der „sozialen Reaktionen“ vgl. Kastl (2014c). Kastl setzt sich hier vor allem mit den sozialkonstruktivistischen Positionen Waldschmidts auseinander und weist ihr nicht nur eine Missinterpretation des Habituskonzepts von Bourdieu nach, sondern auch die Unhaltbarkeit ihres Naturalismus-Vorwurfes an Goffman und an die interaktionistische Sichtweise der Soziologie der Behinderung.

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selbst und dessen spezifische Problemlagen sowie mögliche Ursachen, sondern das Problem der sozialen Reaktion wird als eine rein normative Angelegenheit der subjektiven Anerkennung des Anderen verschleiert. Für die Aktualität des Themas sprechen zum anderen auch aktuellere empirische Forschungsergebnisse im schulischen Bereich, die explizit die soziale Dimension sogenannter inklusiver Prozesse berücksichtigen. Von den Ergebnissen seien an dieser Stelle nur einige wenige auf kursorische Weise angeführt, die sich mit Abweichungen bzw. Auffälligkeiten im ‚Verhaltensbereich‘ sowie im ‚körperlichen‘ und ‚geistigen‘ Bereich beschäftigen. Dieses Spannungsfeld findet im Diskurs über die pädagogische Inklusion kaum Beachtung. Hinsichtlich der sozialen Dimension integrativer Prozesse hat in jüngster Zeit die Studie von Huber (2006) die größte Beachtung gefunden, die sich mit der sozialen Integration von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht beschäftigt, ohne jedoch nach einzelnen Förderschwerpunkten zu differenzieren. Huber und Wilbert kommen zu dem Ergebnis, „dass auch unter scheinbar inklusionsfreundlichen Rahmenbedingungen besonderer Förderbedarf zu sozialer Ausgrenzung führen kann. So waren Dritt- und Viertklässler, deren Förderbedarf von den Lehrkräften als hoch eingestuft wurde, signifikant häufiger von sozialer Ausgrenzung betroffen als Schüler mit geringem oder normalem Förderbedarf. Insgesamt war das Ausgrenzungsrisiko bei Schülern mit hohem Förderbedarf etwa doppelt so hoch wie bei Schülern mit normalem oder geringem Förderbedarf.“ (Huber/Wilbert 2012: 161)

Für die Schülergruppe mit Verhaltensauffälligkeiten haben Ellinger und Stein anhand einer vergleichenden Analyse empirischer Studien „deutlich problematische Erkenntnisse im Hinblick auf soziale Integration und die Wirkung auf die Mitschülerinnen und Mitschüler ohne Förderbedarf“ (Ellinger/Stein 2012: 104) dieser Schülergruppe feststellen können. Dieses Ergebnis findet unter anderem Bestätigung in einer aktuellen Studie, die die Befragung aller bayerischen Schulleitungen zur schulischen Inklusion zum Ziel hatte (vgl. Singer/Walter-Klose/Lelgemann 2016). Die Schulleitungen berichten in dieser Studie hinsichtlich der Schülergruppe mit Verhaltensauffälligkeiten von den größten Schwierigkeiten im sogenannten inklusiven Unterricht (vgl. ebd.: 21). Umschulungen von einer allgemeinen Schule an eine Förderschule erfolgten somit am häufigsten an ein Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung bzw. an ein Sonderpädagogisches Förderzentrum. Als häufigster Grund für diese Schulwechsel wurde ein allgemein zu hoher Förderbedarf der Schüler angegeben; relativ oft wurden für Schülerinnen und Schüler aller Förderschwerpunkte dabei „Probleme im sozialen Bereich“ benannt: So kam es bei einigen Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf „an den allgemeinen Schulen zu ‚sozialen Ausgrenzungen‘, ‚Stigmatisierungen‘ und ‚Mobbing‘“ (ebd.).

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Auch im Rahmen einer Studie zur schulischen Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung berichten viele Schüler und ihre Eltern „im Zusammenhang mit dem Abbruch der inklusiven Schulsituation überwiegend von Ausgrenzungen und Hänseleien, die bis hin zu mobbingähnlichen Situationen und teilweise gewalttätigen Übergriffen reichten“ (Singer 2015b: 53). Ebenso berichten auch einige Schulleitungen von Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung davon, dass sie an ihren Schulen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf hätten, „die aus dem allgemeinen System gewechselt sind, weil sie da gemobbt wurden und das wird zunehmend zum Problem. Ich denke, das ist fast schon eine Zeiterscheinung, aber es trifft die Schüler mit irgendwelchen Einschränkungen besonders.“ (Ebd.) Einige Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern stellen im Rahmen der qualitativen Interviewstudie die körperliche Behinderung in den Fokus, wenn sie – wie die Mutter einer Schülerin – von ausgrenzenden Situationen an allgemeinen Schulen berichten: „Dazu kam natürlich die leichte körperliche Behinderung, aber deshalb hatte sie eine Sonderstellung und wurde entweder total verwöhnt oder eben gemobbt. Es gab nichts zwischendrin […]. Es gab immer Kinder, die auf ihre körperliche Behinderung, weil man die gesehen hat, da sie ja amputierte Finger hat, geguckt haben. […] Im Grunde traf bei dem Körperlichen alles zusammen: Das eine Extrem, dass sie klein und zierlich ist und von den anderen verwöhnt wurde und von denen, die sie aus Nachbarklassen oder von der Schule her kannten, wurde sie eben gehänselt. Beim Töpfern, beim Zeichnen, verschiedene Kleinigkeiten, die man so nicht bedenkt und nicht beachtet.“ (Ebd.: 53f.)

Für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung stellt Preiß anhand einer Analyse empirischer Befunde zur sozialen Dimension dieser Schülergruppe ebenso fest: „Was sich beim Vergleich der sozialen Akzeptanz in inklusiven Settings als klare Tendenz zeigt, ist, dass sich Schüler mit dem FgE [Förderschwerpunkt geistige Entwicklung; Anm. P.S.] einer geringeren Akzeptanz als nichtbehinderte Schüler gegenüber sehen bzw. eher abgelehnt werden […]“ (Preiß 2016: 148). 5.4.1 Begriff und Formen der „sozialen Reaktionen“ Auch wenn es selbstredend viele positive Beispiele zur sozialen Dimension integrativer Prozesse gibt (vgl. u.a. Singer 2015b: 169ff.; Lelgemann/Lübbeke/Singer/ Walter-Klose 2012a: 183ff.; Walter-Klose 2012: 153ff.), zeigt sich anhand dieser empirischen Beispiele, dass eine Auffälligkeit im körperlichen und geistigen Bereich oder hinsichtlich des Verhaltens nach wie vor sowohl auffällig wird als auch häufig ausgrenzende Reaktionen nach sich zieht. Diese Reaktionen bezeichnet Cloerkes als „soziale Reaktionen“, die er wie folgt definiert: „Der Begriff ‚Soziale Re-

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aktion‘ beinhaltet neben formalen Definitionsvorgängen, z.B. durch Diagnostik, insbesondere die Gesamtheit der Einstellungen und Verhaltensweisen auf der informellen Ebene der zwischenmenschlichen Interaktionen.“ (Cloerkes 2007: 103) Cloerkes wählt bewusst den Begriff des Verhaltens und nicht den des Handelns, um damit die unbewusste und emotional-affektive Dimension der Reaktionen auf ‚Behinderte‘ herauszustellen (vgl. Cloerkes 1979: 89). Kastl stellt zu Cloerkes Konzept der „sozialen Reaktionen“ fest: „‚Innere‘ Reaktionsbereitschaften (Haltungen) gegenüber behinderten Menschen, die sich auch als (Verhaltens-)Reaktionsbereitschaften interpretieren lassen, kommen ebenso in den Blick wie manifeste, beobachtbare Reaktionen, also faktisches Sich -Verhalten (einschließlich: Handeln); ‚spontane‘ affektive Reaktionen ebenso wie institutionalisierte Formen des Umgangs mit Behinderung; quasi-unbewusste Haltungen/Verhaltensweisen ebenso wie explizite und elaborierte Deutungsmuster von Behinderung.“ (Kastl 2014c: 146f.)

Bevor dieser Begriff der sogenannten „sozialen Reaktionen“, die Cloerkes als Verhaltensweisen ‚Nichtbehinderter‘ gegenüber ‚Körperbehinderten‘ versteht (vgl. Cloerkes 1979: 440), aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden hinterfragt wird, werden neben den „typischen Reaktionsformen“ sowie deren „Determinanten“ auch die vorliegenden Erklärungsansätze grob skizziert. Anschließend werden auch diese einer kritischen Prüfung unterzogen. Auf einer heuristischen Ebene unterscheidet Cloerkes drei Arten von Reaktionen auf ‚Behinderte‘: „originäre Reaktionen“, „offiziell erwünschte Reaktionen“ sowie „überformte Reaktionen“ (vgl. Cloerkes 2007: 119ff.).28 Originäre Reaktionen bestimmt er als ursprünglich, spontan und affektiv (vgl. ebd.: 119); sie fänden sich typischerweise bei kleinen Kindern, wo „das Element der Neugierde mit den Erscheinungsformen ‚Anstarren‘ und ‚Ansprechen‘ (manchmal auch ‚Anfassen‘) [überwiegt]“ (ebd.). Hierzu zählen auch sogenannte „originär psycho-physische Reaktionen“, die Cloerkes als „Verhaltensäquivalente von Angst“ versteht (vgl. Cloerkes 1979: 424). So ist die „unmittelbare Reaktion auf eine sichtbare Körperbehinderung […] durch eine hochgradige und weitgehend unkontrollierbare Erregtheit beim Nichtbehinderten [gekennzeichnet]“ (ebd.: 411). Diese psychischen Erregungszustände, die als Angst oder Stress erfahren werden (vgl. ebd.), äußern sich im Falle der Konfrontation mit einem ‚Körperbehinderten‘ beispielsweise in einem geringeren Hautwiderstand, einer signifikant größeren Herzschlagfrequenz, in motorischer Starrheit oder in der Starrheit der Gestik und Mimik, wie verschiedene experimentelle Untersuchungen gezeigt haben (vgl. ebd.: 411f.). Als affektive Zustände der Abwehr gegenüber psycho-physisch erlebter Angst bedeuten sie nach Cloerkes eine „Störung von Gleichgewichtszuständen“, die ihren Ausdruck in Erre28 Zu den „offiziell erwünschten“ und „überformten Reaktionen“ vgl. 5.4.4.

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gung und Ekel finden kann, bis hin zu körperlicher Übelkeit als Reaktion auf physische Abweichungen (vgl. Cloerkes 2007: 119). Zu den originären Reaktionen zählt Cloerkes zudem auch aggressive Reaktionen, die in der sozialen Realität allerdings nur selten offen zum Tragen kommen, so bei kleinen Kindern oder unter extremen politischen Verhältnissen (vgl. ebd.: 121). Anhand einer Analyse von 403 Einzelstudien sowie eigener Fallstudien zu „Dysmeliekindern“ gelangt Cloerkes zu einer Systematisierung typischer Einzelformen dieser Reaktionen, die als Formen der Triebabfuhr Distanz schaffen sollen (vgl. ebd.: 106): Als eine sehr häufige Reaktionsform nennt er „die Starrheit der visuellen Wahrnehmung, das ‚Anstarren‘ der physisch abweichenden Person“ (Cloerkes 1979: 441). Beispielhaft sei hier auf die bereits zitierte Interviewäußerung einer Schülerin verwiesen, der an jeweils einer Hand und an einem Fuß die Finger bzw. Zehen amputiert werden mussten: „Ja, und früher in der Grundschule haben mich sehr viele Kinder wegen den Fingern gefragt. Also was passiert ist. Manche haben auch echt gefragt, ob die abgeschnitten worden sind und ich habe gesagt: ‚Nein.‘ […] Ich habe wegen den Fingern auch früher in der Pause geweint, weil auch viele gefragt haben und alle wollten halt eine Antwort von mir wissen.“ (Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose 2012a: 52)

Die Mutter dieser Schülerin spricht ebenso davon, dass es Kinder gab, „die auf ihre körperliche Behinderung, weil man die gesehen hat, da sie ja amputierte Finger hat, geguckt haben. Die Kinder gucken natürlich immer mehrmals hin und sie hat das dann immer versteckt. Es gab immer Kinder, die gesagt haben: ‚Guck mal Mama, die hat keine Finger.‘ Oder wenn die meistens barfuß geturnt haben, denn sie hat ja am rechten Fuß keine Zehen.“ (Ebd.)

Anhand dieser beiden Äußerungen wird zugleich die zweite Reaktionsform deutlich, die Cloerkes als ein „Ansprechen und taktloses Fragen“ bezeichnet (vgl. Cloerkes 1979: 443; 2007: 106), die er aber als nicht ganz so verletzend wie das „Anstarren“ einstuft (vgl. Cloerkes 1979: 443). Als weitere negative Reaktionsformen nennt Cloerkes „diskriminierende Äußerungen“, die auch indirekt ablaufen können (vgl. ebd.: 445), sowie „Witze“, „Verspotten und Ärgern“ und ebenso die angesprochenen „Aggressionen und Vernichtungstendenzen“ (vgl. ebd.: 447ff.), die selten offen zu Tage treten. Diesen negativen Reaktionsformen stellt Cloerkes solche Reaktionsformen gegenüber, die auf den ersten Blick zwar positiv erscheinen würden, aber „letzten Endes fast immer der Abgrenzung [dienen], so etwa“ (Cloerkes 2007: 106): Äußerungen von Mitleid, aufgedrängte Hilfe, unpersönliche Hilfe (Spenden), Scheinakzeptierung (vgl. ebd.: 107; 1979: 457ff.). Auch in der hier immer wieder heran-

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gezogenen Interviewstudie mit körperbehinderten Schülerinnen und Schülern sowie ihren Eltern konnten sämtliche dieser ‚negativen‘ und einige der vordergründig ‚positiven‘ Reaktionsformen beobachtet werden, einschließlich offener Aggressionen (vgl. Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose 2012a: 28ff.). 5.4.2 Determinanten und Entstehung der „sozialen Reaktionen“ Die Visibilität oder Sichtbarkeit einer Behinderung ist nach Cloerkes diejenige Determinante, die die Interaktion am meisten bestimmt: „Die Visibilität einer Behinderung ist […] in ihren Konsequenzen von größerer Tragweite als ihre absolute Schwere oder die von ihr ausgehende Funktionsbeeinträchtigung“ (Cloerkes 1979: 178). Eine weitere Determinante, die die Einstellung gegenüber ‚Behinderten‘ beeinflusst und die mit der „Art der Behinderung“ zusammenhängt, ist nach Cloerkes die Funktionsbeeinträchtigung durch die Behinderung bzw. die Beeinträchtigung gesellschaftlich hochbewerteter Funktionsleistungen (Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Mobilität, Flexibilität, Intelligenz, Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit) (vgl. ebd.: 175ff.; 2007: 105). Die Schwere der Behinderung ist hingegen kein wesentlicher Einstellungsfaktor, leichter behinderten Personen werden negativere Einstellungen entgegengebracht als schwerer behinderten Personen (vgl. Cloerkes 1979: 172). Allerdings trifft dies nicht auf geistige Behinderungen zu, die in jeglichen „Rangordnungen“ am negativsten beurteilt werden (vgl. ebd.: 167ff.). Erklärt wird dies unter anderem damit, dass „in unserem Kulturkreis Intelligenz vor Sprachfähigkeit, diese vor Sinnestüchtigkeit, diese vor Handgeschicklichkeit und diese schließlich vor Fortbewegungsfähigkeit [rangiert]“ (ebd.: 173). So werden beispielsweise „Abweichungen im geistigen oder psychischen Bereich […] deutlich ungünstiger bewertet als solche im körperlichen Bereich“ (Cloerkes 2007: 105). Hinsichtlich sozio-ökonomischer und demographischer Variablen besteht nach Cloerkes nur für die Geschlechtszugehörigkeit und das Lebensalter eine Beziehung zu den Einstellungen. Demnach scheinen Frauen ‚Behinderte‘ eher zu akzeptieren als Männer und ältere Personen ab 50 Jahren sind etwas negativer eingestellt als jüngere Personen (vgl. Cloerkes 1979: 208; 2007: 105). Keine Zusammenhänge „bestehen zwischen den Einstellungen gegenüber Behinderten und den Variablen Beruf, ethnische Herkunft, Konfessionszugehörigkeit, Wohnort und Familienstand“ (Cloerkes 1979: 208). Für die Variablen des schichtspezifischen Einflusses, des Wissens und des formalen Bildungsgrads lassen sich keine klaren Aussagen treffen, aber immerhin ließe sich sagen, dass „ein höherer Bildungsgrad und sozioökonomischer Status in Verbindung mit viel Faktenwissen über Behinderte noch lang nicht eine positive Haltung zu bewirken braucht“ (Cloerkes 2007: 105). Der Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen wie Angst, Aggressivität, Autoritarismus lässt sich Cloerkes zufolge nicht ohne Weiteres bestätigen (vgl. ebd.), jedoch liegt

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ein Zusammenhang nahe, „daß besonders ich-schwache, ängstliche, dogmatische und ambiguitätsintolerante Personen tendenziell dazu neigen, Behinderte eher abzulehnen als Personen ohne solche Eigenschaften […]“ (ebd.). Die Variable des Kontakts mit ‚Behinderten‘ wird häufig als die wichtigste Determinante für die Qualität der Einstellungen ‚Nichtbehinderter‘ eingeschätzt (vgl. Cloerkes 2007: 145). Auch mit dem inklusionspädagogischen Ansatz wird Kontakt durch die Abschaffung exklusiver, behindertenspezifischer Strukturen und Einrichtungen per se als gut und richtig eingestuft. Die sogenannte Kontakthypothese besagt, dass „Personen, die über Kontakte mit Behinderten verfügen, […] günstigere Einstellungen gegenüber Behinderten zeigen [werden] als Personen, die keine derartigen Kontakte haben oder hatten“ (ebd.: 146). Zudem besagt diese Hypothese, dass die Einstellung um so positiver sein wird, je häufiger Kontakt mit ‚Behinderten‘ bestanden hat (vgl. ebd.). Cloerkes kommt zu dem Ergebnis, dass Kontakt per se „jedenfalls keinen positiven Einfluß auf die Einstellungen zu Behinderten [hat], ja, er kann unter Umständen sogar negative Auswirkungen haben. Worauf es ankommt, ist ohne Frage die Art des Kontakts, seine Qualität, die soziale Situation, in die er eingebettet ist […]“ (Cloerkes 1979: 254).29 Hierzu zählen unter anderem die Intensität der Beziehungen, denen „positive Gefühle“ und Freiwilligkeit zugrunde liegen müssen und die „die Möglichkeit eines ‚Ausweichens‘ in andere Sozialbeziehungen nicht ausschließen“ (Cloerkes 2007: 147). Weitere günstige Bedingungen sind: relative Statusgleichheit, die Erwartung einer gewissen „Belohnung“ aus der sozialen Beziehung sowie die Verfolgung gemeinsamer wichtiger Aufgaben und Ziele (vgl. ebd.). Ein weiteres Prinzip in der Beziehung zwischen Einstellung und Kontakt sieht Cloerkes mit Park und Burgess darin, dass eine ursprüngliche Einstellung dazu tendiert, „sich bei Kontakt mit dem Einstellungsobjekt zum Extrem hin zu verstärken. Eine primär negative Einstellung kann durch Kontakt noch unterstrichen werden. Eine primär positive Einstellung wird hingegen durch Kontakterfahrungen weiter bestärkt.“ (Ebd.) So garantiert beispielsweise beruflicher Kontakt „keineswegs günstigere Einstellungen“ (ebd.: 149).30 Auch familiäre Kontakte seien nicht zu überschätzen und ebenso wenig würden Kontakte zwischen nichtbehinderten und behinderten Schülerinnen und Schülern unumwunden zu positiven Kontakten führen, wie dies auch anhand der vorangegangenen Interviewäußerungen immer wieder deutlich wurde. Zwar sind Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten hiervon auf besonders negative Weise betroffen (vgl. auch Singer/Walter29 Zu einer ausführlichen Diskussion der „Kontakthypothese“ vgl. Cloerkes (1979: 209ff.; 2007: 145ff.). 30 Dies zeigt sich beispielsweise auch in der qualitativen Interviewstudie mit körperbehinderten Schülern, die häufig negative und stigmatisierende Erfahrungen gemacht haben, die auch von den Lehrkräften an der vormaligen allgemeinen Schule ausgingen (vgl. u.a. Singer 2015b: 54f.).

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Klose/Lelgemann 2016: 20f.), aber auch körperbehinderte Schüler sind häufig nach wie vor Stigmatisierungsprozessen ausgesetzt. Mit dem Symbolischen Interaktionismus geht Cloerkes davon aus, dass Einstellungen bzw. „soziale Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ erlernt werden (vgl. Cloerkes 1979: 298; 2007: 114). Entwicklungspsychologisch betrachtet würden „sehr kleine Kinder (etwa bis zum dritten oder vierten Lebensjahr) noch unbefangen und neugierig auf alles Fremdartige […] zugehen, auch auf Menschen mit einer Behinderung“ (Cloerkes 2007: 114); im Alter von acht Jahren ließen sich „dann bereits massive Vorurteile nachweisen“ (ebd.), so Cloerkes in Anschluss an Allport. Den Lernprozess der Werte, die diesen „sozialen Reaktionen“ zugrunde liegen, beschreibt Cloerkes als einen Weg der Verinnerlichung über Sozialisationsinhalte (körperliche, geistige, seelische Abweichung wird mit böse oder schlecht verknüpft, wie beispielsweise in vielen Märchen) und Sozialisationspraktiken (z.B. Krankheit oder Behinderung als Druckmittel zur Erziehung) (vgl. ebd.). Diese installierten Vorurteile würden dann später kontinuierlich verstärkt: „Man denke nur an die Bösewicht-Funktion von behinderten und mißgestalteten Personen in der Literatur, auf der Bühne, in Kino und Fernsehen […]“ (ebd.). Die heutigen Einstellungen zu Krankheit und Behinderung beruhen Cloerkes zufolge zudem insbesondere auf fünf historisch bedingten Ansichten und Überzeugungen: hebräisch (Behinderung als Strafe Gottes für begangene Sünden; griechisch (Krankheit und Behinderung bedeuten soziale Inferiorität); christlich (Krankheit und Behinderung dienen der Läuterung und sind ein Weg zur Gnade Gottes); calvinistisch (Fehlen materiellen Erfolges, auch durch Krankheit oder Behinderung bedingt, als Zeichen für den Entzug göttlicher Gnade); wissenschaftlich (‚Behinderte‘ kann nichts für seinen Zustand und wird daher nicht dafür zur Rechenschaft gezogen, was über die Pathologisierung der Betroffenen zu neuen Vorurteilen führen kann) (vgl. ebd.: 115; 1979: 309f.). Weiterhin beeinflussen frühere christliche Lehren (behinderte Kinder als Strafe Gottes) sowie exorzistische Praktiken (Quälen des ‚Behinderten‘) abwertende Einstellungen gegenüber ‚Behinderten‘ (vgl. Cloerkes 2007: 116). Schließlich spielt auch die Frage nach der Schuld immer noch eine Rolle im Verhältnis zu ‚Behinderten‘: „Zurechnung von Schuld seitens der Nichtbehinderten läßt sich mit der Entlastung von eigenen Schuldgefühlen und Ängsten erklären […]. Die Stabilisierung über Ablehnung ist nur vorübergehend; sie erzeugt gleichzeitig neue Schuldgefühle und Schuldangst und führt so zu einem verhängnisvollen Kreislauf […]“ (ebd.: 117). 5.4.3 Interkultureller Vergleich der „sozialen Reaktionen“ Cloerkes geht davon aus, „daß wir es vermutlich mit einer relativ starren und offenbar grundlegenden Einstellung zu tun haben“ (Cloerkes 1979: 254), die unabhängig

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vom sozialen und kulturellen Hintergrund wirkt (vgl. ebd.: 255). Die Frage nach dem interkulturellen Vergleich der „sozialen Reaktionen“ drängt sich damit unweigerlich auf. Cloerkes selbst und Neubert haben hierzu eine interkulturell vergleichende Sekundäranalyse ethnologischer Feldstudien zu 24 weltweit ausgewählten Kulturen durchgeführt, die heute überwiegend nicht mehr existieren (vgl. Cloerkes 2007: 124; Neubert/Cloerkes 2001). Da das, was in einer bestimmten Kultur als Behinderung angesehen wird, interkulturell variabel sein könnte, legen Neubert und Cloerkes ihrer Untersuchung den Begriff der Andersartigkeit zugrunde, den Cloerkes wie folgt definiert: „Andersartigkeiten sind überdauernde Merkmale im körperlichen, geistigen oder physischen [sic!] Bereich, die häufig Spontanreaktionen auslösen und/oder Aufmerksamkeit hervorrufen. Es sind also Merkmale mit Stimulusqualität. […] Die Bewertung von Andersartigkeit ist nicht festgelegt: sie [sic!] kann negativ, ambivalent oder positiv sein. Nur völlige Gleichgültigkeit ist durch das Definitionskriterium ‚Stimulusqualität‘ ausgeschlossen.“ (Cloerkes 2007: 127)

Wie die Begriffswahl des Anomalen oder Abweichenden, impliziert auch der Begriff „Andersartigkeit“ „nicht per se eine negative, diskriminierende Sichtweise, auch wenn dies von unserem Sprachgebrauch her assoziiert werden könnte […]“ (ebd.). Es ist Cloerkes völlig darin zuzustimmen, dass der häufig anzutreffende Begriff „Vielfalt“ den gemeinten Sachverhalt der Andersartigkeit verschleiert (vgl. ebd.: 127f.); warum dies aber auch für den Begriff der „Fremdheit“ zutreffen sollte, ist zumindest aus der hier gewählten Perspektive nicht nachvollziehbar und wird von Cloerkes darüber hinaus auch nicht weiter erläutert (vgl. ebd.: 128). Vielmehr ist Andersartigkeit ohne Fremdheit gar nicht erst denkbar und andersherum verweist Fremdes immer auch auf Andersartiges. Sinnvoll und nachvollziehbar erscheint es hingegen – insbesondere auch vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Normalem und Anomalem –, von Behinderung erst dann zu sprechen, „wenn eine Andersartigkeit in einer bestimmten Kultur entschieden negativ bewertet wird“ (ebd.). Mit den skizzierten Überlegungen zu einem leibphänomenologischen Verständnis von Behinderung kann diese Sichtweise allerdings auch begründeter Weise angezweifelt werden. Worum es hier aber geht, sind die Ergebnisse dieser explorativen Studie zum interkulturellen Vergleich der „sozialen Reaktionen“ auf Behinderung bzw. Andersartigkeit, die Cloerkes in sechs Thesen vorträgt: So gibt es interkulturell einheitlich negativ bewertete Andersartigkeiten, „z.B. extreme körperliche Deformationen, Blindheit, Unfruchtbarkeit“ (ebd.: 129). Zweitens variiert die Reaktion auf Menschen mit diesen Andersartigkeiten interkulturell; jedoch „gibt es gegenüber Menschen mit bestimmten Andersartigkeiten auch universelle Reaktionstendenzen (z.B. Infantizid bei Neugeborenen mit extremen Deformationen; häufig Einschränkungen der Partizipation bei unfruchtbaren Frauen)“ (ebd.: 129ff.). Innerhalb einer Kultur

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gibt es drittens nur selten große Variationen bei der Bestimmung von Behinderung, allerdings kann – viertens – die „Reaktion auf Menschen mit einer bestimmten Andersartigkeit […] intrakulturell erheblich variieren (z.B. bei Körperbehinderten mit starken Funktionseinschränkungen, bei psychisch oder geistig Behinderten). Es gibt aber auch Kulturen, in denen gegenüber Menschen mit einer bestimmten Andersartigkeit kulturell uniform reagiert wird. Variabilität der Reaktion ist möglich, jedoch nicht zwangsläufig.“ (Ebd.: 131)

Fünftens finden sich Extremreaktionen wie Tötung oder Verstoß „nur in Ausnahmefällen bei Altersbehinderung, extremer psychischer Andersartigkeit oder bei kontinuierlichen Regelverstößen […]“ (ebd.). Sechstens gibt es in den meisten Kulturen schließlich „ein Spektrum möglicher Reaktionen auf Menschen mit Andersartigkeiten. Die Breite des Spektrums variiert von Kultur zu Kultur.“ (Ebd.) Als wichtiges Ergebnis hält Cloerkes demnach fest: „Viel Übereinstimmung gibt es interkulturell und besonders intrakulturell in der Bewertung von Andersartigkeiten, die Reaktion auf Menschen mit unerwünschten Andersartigkeiten ist dagegen interkulturell und auch intrakulturell variabel, denn sie hängt von zahlreichen Einflußvariablen ab, ist vielschichtig und nicht eindeutig determiniert.“ (Ebd.: 132)

Ein weiteres zentrales Ergebnis ist, „daß die soziale Reaktion auf behinderte Menschen durchaus nicht beliebig ist […]. Die Möglichkeit, beliebig zu reagieren, wird durch ein kulturspezifisches Reaktionsspektrum eingeschränkt, also: Variabilität, aber nicht Beliebigkeit.“ (Ebd.) Die Überlegungen zum interkulturellen Vergleich der „sozialen Reaktionen“ auf Behinderung bestätigen damit geradezu die Annahme der Kontingenz einer jeden Ordnung: Auch hier gilt, dass zwar alles auch anders, aber eben nicht völlig anders oder beliebig sein kann (vgl. 4.1.6): „Die Variationsbreite dessen, was noch als normal gilt, ist interkulturell höchst unterschiedlich. Der interkulturelle Vergleich zeigt zugleich eine Reihe von Gemeinsamkeiten, und zwar immer dann, wenn es um ‚gattungsspezifische Eigenschaften‘ geht, also etwa die Grundelemente des Körpers (Kopf mit Augen, Nase, Mund und Ohren, Arme und Beine), daneben die Geschlechtszugehörigkeit, die Fortpflanzungsfähigkeit, psychische Grundstrukturen.“ (Ebd.: 133)

Cloerkes zutreffendes Fazit lautet wie folgt: „Zahlreiche deutlich sichtbare und schwerwiegende Andersartigkeiten betreffen gattungsspezifische Eigenschaften, widersprechen damit universell erlernten Normalitätserwartungen und haben deshalb regelmäßig Stimulusqualität.“ (Ebd.) Aus der Sicht der Phänomenologie des

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Fremden bedeutet das nichts anderes, als dass wir uns dem Auffälligwerden einer Behinderung oder einer körperlichen, geistigen und psychischen Auffälligkeit nicht entziehen können. Auffällig wird hier keine normal verschiedene Auffälligkeit – die dann keine mehr wäre – und ebenso wenig verlaufen die Weckungskräfte der Aufmerksamkeit im Konfrontationsereignis mit sichtbar ‚Behinderten‘ auf normal verschiedene Weise. Wir sehen uns in diesen Begegnungen auf eine bestimmte Art und Weise in Frage gestellt und herausgefordert, weshalb sowohl das responsive Antwortereignis als auch unser nachträgliches Antwortgeben anderen Zug- und Wirkkräften unterliegt als dies in denjenigen alltäglichen Begegnungen der Fall ist, die sich im normalen Fremdheitsbereich bewegen. Aus diesem Grund können unsere Antworten auch und gerade in Begegnungen mit auffällig ‚Behinderten‘ nicht beliebig ausfallen. Zu eben diesem zentralen Ergebnis gelangen auch Cloerkes und Neubert anhand ihrer interkulturellen Vergleichsstudie, die damit die Überlegungen zum Geschehen der Aufmerksamkeit im Kontext von Behinderung indirekt bestätigt. Sofern der behindertenpädagogische Diskurs die Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ heutzutage überhaupt noch problematisiert und damit nicht im Normativen und Gewünschten stecken bleibt, gibt es an den Erkenntnissen von Cloerkes nicht nur kein Vorbeikommen, sondern diese bilden nach wie vor die fundierteste und umfassendste Analyse zu diesem Interaktionsgeschehen. Die Ausführungen hierzu haben bisher gezeigt, dass eine Andersartigkeit im körperlichen, geistigen oder psychisch-emotionalen Bereich immer eine bestimmte ‚Stimulusqualität‘ besitzt, die sich aus phänomenologischer Sicht vielmehr als eine Aufforderung und Herausforderung, als ein Appell verstehen lässt, der uns in Frage stellt und uns etwas zu tun gibt, das wir weder selbst hervorbringen noch einfach ablehnen können. Aus Sicht des „Reaktionsansatzes“ rufen diese Stimuli typische Formen der Reaktion hervor, die jedoch nicht natürlich vorgegeben sind, sondern durch Sozialisationsprozesse erlernt werden und durch bestimmte, individuelle Dispositionen und kulturelle Gegebenheiten beeinflusst und bedingt sind. Abschließend wird nun danach gefragt, wie diese Reaktionen aus der Sicht des „Reaktionsansatzes“ abseits dieser Determinanten erklärt werden, um daraufhin aus der Sicht der Phänomenologie des Fremden auf ein Geschehen hinzuweisen, das diesen psychologischen und soziologischen Erklärungsansätzen in gewisser Weise vorgelagert ist. 5.4.4 Erklärungsansätze der „sozialen Reaktionen“ Zur Erklärung der typischen Reaktionsformen gegenüber ‚Behinderten‘ zieht Cloerkes zunächst unterschiedliche psychologische Ansätze heran und entwickelt

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daraufhin mit dem Ansatz der „widersprüchlichen Normen“ einen eigenen, soziologisch orientierten Erklärungsansatz (vgl. u.a. Cloerkes 1979: 411ff.).31 Aus seiner Sicht ist in den psychologischen und psychoanalytischen Erklärungsansätzen „Angst vorm behinderten Menschen und vorm Behindertwerden die zentrale Kategorie“ (Cloerkes 2007: 109). Neben der „Schuldangst“, die bereits angesprochen wurde („Die unerlaubte Ablehnung Behinderter führt zu Schuldangst vor dem verinnerlichten Über-Ich (Gewissen). Der Gedanke wird verdrängt und bewirkt gegen den Behinderten gerichtete Abwehrmechanismen“ (ebd.)), sind es vor allem der „Body-Concept-Ansatz“, die „Bedrohung der eigenen physischen Integrität“ sowie die „Kognitive Dissonanz“, die Cloerkes zur Erklärung der „sozialen Reaktionen“ aus psychologischer Sicht heranzieht (vgl. ebd.; 1979: 21ff.). „Der Body-Concept-Ansatz geht davon aus, daß jeder Mensch ein bestimmtes Bild von sich selbst (‚self-image‘; ‚self-concept‘) sowie von seinem eigenen Körper (‚body-image; bodyconcept‘) hat. Das Selbstbild wie – im engeren Sinne – das Bild vom eigenen Körper bestimmen mit die Einstellungen gegenüber physisch abweichenden Personen.“ (Cloerkes 1979: 350)

Dabei wird davon ausgegangen, „daß zwischen der Struktur des Selbstkonzepts, insbesondere der auf die eigene Körperlichkeit bezogenen Teile desselben (bodyimage) und den Einstellungen zu physisch abweichenden Personen ein ausgeprägter Zusammenhang besteht“ (ebd.: 28). Entgegen der Vermutung, dass vor allem Menschen, die eine bewusst positive Haltung zum eigenen Körper als ein Gefühl der Stärke und Gesundheit aufweisen („body satisfaction“), physisch abweichenden Personen negativ gegenübertreten, verhält es sich so, dass, je größer das Ausmaß an body satisfaction ist, diese Menschen umso positivere Einstellungen gegenüber ‚Körperbehinderten‘ zeigen (vgl. ebd.: 352). Personen, die also relativ unzufrieden mit der eigenen Körperlichkeit sind, „werden nämlich wegen der eigenen Schwächen und Unsicherheiten eher zu einer abweisenden Haltung gegenüber Personen mit körperlichen Mängeln neigen“ (ebd.: 353). Nach Durchsicht der empirischen Studien zum „Self-Concept“ bzw. zum „Body-Concept-Ansatz“ gelangt Cloerkes zu dem Fazit, dass diese Ansätze zwar einen gewissen Erklärungswert für die Entstehung von negativen sozialen Reaktionen auf ‚Behinderte‘ haben (vgl. ebd.: 355). Jedoch würde sich auch hier „die Verflochtenheit mit anderen Persönlichkeitsvariablen, insbesondere mit Angst und Ich-Schwäche […]“ (ebd.) zeigen.

31 In seiner Dissertationsschrift nimmt Cloerkes eine Einteilung in psychoanalytische, psychologische, sozialpsychologische und soziologische Ansätze vor, wobei es sich hierbei, wie er sagt, um eine „idealtypische Aufteilung“ handelt (vgl. Cloerkes 1979: 20) und sich die Ansätze „in vielfacher Hinsicht ergänzen und überschneiden“ (ebd.: 80).

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Die Annahme, dass „Body-Concept“ und „Self-Concept“ in einem engen Zusammenhang stehen, gründet auf der These von der Bedrohung der eigenen körperlichen Integrität (vgl. ebd.: 28), die Cloerkes zugleich als einen eigenständigen, psychologischen Erklärungsansatz der negativen Reaktionen herausstellt: „Die Begegnung mit sichtbar behinderten Menschen aktiviert entsprechende Ängste, die ansonsten (ähnlich wie beim Tod) sorgfältig verdrängt werden.“ (Cloerkes 2007: 109) Zur Kontaktvermeidung kommt es diesem Ansatz zur Folge auch wegen einer magischen Furcht vor Ansteckung (vgl. ebd.). Die Angstreaktionen, die auch physisch zu Tage treten können, sind, so Cloerkes, nicht angeboren oder instinktiv, sondern sie gründen auf „kognitiven Dissonanzen“ „zwischen bekannten und fremdartigen Wahrnehmungen. Dies gilt bereits für vier Monate alte Säuglinge, die in Experimenten mit Angst auf die Präsentation abnormer Gesichtsmodelle reagierten […]“ (Cloerkes 1979: 25). Das Konzept der kognitiven Konsistenz wird „wiederholt zur Erklärung abweisender Reaktionsformen gegenüber behinderten Personen herangezogen […]“ (ebd.: 30). Mit der „Gleichgewichtstheorie“ (Heider) sowie der „Dissonanztheorie“ (Festinger) gehen diese Erklärungen nach Cloerkes von „einer Störung eines positiven psychologischen Gleichgewichtszustands der Kognitionen angesichts der Konfrontation mit dem als andersartig empfundenen Behinderten […] aus“ (ebd.: 84). Der „Gleichgewichtstheorie“ liegt die Annahme zugrunde, dass Ähnlichkeit und Vertrautheit die Herstellung eines positiven Gleichgewichtszustands fördern, „Andersartigkeit und Fremdartigkeit – typisch für die Wahrnehmung von physisch abweichenden Personen oder Angehörigen ethnischer Minoritäten – hingegen verursachen interaktionsstörende Unausgewogenheit“ (ebd.: 31). Nach Heider ist eine „nichtvertraute Situation voll von Möglichkeiten, die für eine unsichere Person hinreichend bedrohlich sind, um sie dagegen einzunehmen. Eine nichtvertraute Situation ist kognitiv unstrukturiert, d.h. die für das Erreichen eines Ziels nötige Folge von Schritten ist nicht genau bekannt. […] Zusätzlich gibt es einen zweiten Faktor, der mit Unsicherheit oder Gefahr wenig zu tun hat. Es ist eine eher intellektuelle oder ästhetische Komponente des Widerstands gegen das nicht Vertraute, Fremdes wird als zur Struktur der Matrix des Lebensraums nicht passend erlebt, es paßt nicht zu den eigenen Erwartungen, die zur Bewältigung des nicht Vertrauten nötig ist, verlangt Energie.“ (Heider 1977: 229)

In der „Dissonanztheorie“ sind kognitive Dissonanzen „verbunden mit physiologischen Anzeichen von Spannung. Sie werden als unangenehm empfunden und das betreffende Individuum wird daher versuchen, die Dissonanz zu verringern und Konsonanz zu erreichen“ (Cloerkes 1979: 32). Sie resultieren aus nicht zueinander passenden kognitiven Elementen (Informationen, Kenntnisse, Meinungen), wobei eine Reduktion der Dissonanz durch Verhaltens- oder Einstellungsänderung erfolgen kann (vgl. ebd.): „Dissonanzreduktion erleichtert den Spannungszustand (Bei-

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spiel: Spende für Behinderte statt direkter Kontakt).“ (Cloerkes 2007: 109) Diese Erklärungsansätze berücksichtigen zwar die Wahrnehmung von Fremdartigkeit. Hierdurch kommen sie dem Fremderfahrungsgeschehen im Kontext von Behinderung einerseits recht nah. Andererseits handelt es sich hierbei nicht um primär kognitive oder reflexive Prozesse.32 Gegenüber diesen psychologischen Erklärungsansätzen gehen soziologische Erklärungsansätze „von den Rollen und Erwartungen der Beteiligten aus“ (ebd.: 108). Cloerkes benennt insbesondere die folgenden drei Erklärungsansätze: Irrelevanzregel, Interrollenkonflikt und uneindeutige Verhaltensregeln. Unter Bezugnahme auf Davis beschreibt er die Irrelevanzregel so, dass dem Interaktionspartner „eine allgemeine, nichtwertende Aufmerksamkeit entgegenzubringen [ist]. Besondere Merkmale, wie eine sichtbare Behinderung, die sich der Aufmerksamkeit aufdrängen, sind höflich zu ‚übersehen‘, sie haben ohne Bedeutung (irrelevant) zu sein. Das ist schwer durchzuhalten, führt zu einer ‚Scheinnormalität‘ der Begegnung und zu Interaktionsspannungen.“ (Ebd.)

Im Rückblick auf die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ wird sehr deutlich, dass mit der pädagogischen Inklusionsidee eben diese „Irrelevanzregel“ außer Kraft gesetzt werden soll. Es geht mit dieser Idee nicht nur darum, dass ‚Behinderten‘ eine nichtwertende Aufmerksamkeit entgegengebracht werden soll, sondern die Behinderung bzw. Anomalie selbst soll sich der Aufmerksamkeit gar nicht mehr erst aufdrängen, weil jegliche Vielfalt dann der Normalfall ist. Angestrebt wird der Zustand einer völligen und universalen „emischen Normalität“, das heißt, dass eine Anomalie keine Stimulusqualität mehr besitzt (vgl. Neubert/Cloerkes 2001: 52; Kastl 2010: 176). Eine körperliche, geistige oder sonstige Abweichung ist dann keine Abweichung mehr, sie ist im inklusionspädagogischen Zustand der „Normalität der Verschiedenheit“ als solche weder wahrzunehmen noch zu benennen. Der Ansatz des „Interrollenkonflikts“ besagt, dass die Behinderung „als niedriges, diskreditierendes Statusmerkmal wahrgenommen [wird]. Andere Statusmerkmale des Behinderten können dem entgegenstehen. Der Widerspruch verunsichert und wird meist dadurch aufgelöst, daß alles dem Merkmal ‚Behinderung‘ […] untergeordnet wird“ (Cloerkes 2007: 108). Schließlich führen „uneindeutige Verhaltensregeln aufgrund mangelnder Erfahrungen im Umgang mit Behinderten […] zu Unsicherheit und Unbehagen in ‚gemischten Interaktionen‘ […]“ (ebd.).33 32 Vgl. hierzu 5.5.3. 33 Einen weiteren Erklärungsansatz benennt Cloerkes mit dem Verlust der „ideomotorischen Identifikationsfähigkeit“. Dieser Ansatz geht davon aus, dass das normale menschliche Erscheinungsbild und normale menschliche Bewegungsabläufe als kommunikationsauslösende Schemata angeborenen sind (vgl. Cloerkes 2007: 110): „Der Verlust dieser

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Mit dem Modell der „widersprüchlichen Normen“ hat Cloerkes einen eigenen Ansatz der „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ entwickelt (vgl. ebd.: 109). Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich dieser Ansatz so beschreiben, dass das Verhalten gegenüber ‚Behinderten‘ gekennzeichnet ist „durch einen Widerspruch zwischen ‚originären‘, affektiven Reaktionen und offiziell erwünschten, positiven Reaktionen. Der Konflikt läßt sich im allgemeinen [sic!] nur teilweise durch vordergründige Scheinakzeptanz auflösen.“ (Ebd.) So stehen den bereits beschriebenen originären Reaktionen offiziell erwünschte Reaktionen als gesellschaftliche Normen oder Vorschriften gegenüber: „Behinderte muß man akzeptieren und als gleichberechtigt anerkennen.“ (Ebd.: 121) Dieser Widerspruch führt zu „überformten Reaktionen“, die einen „Ausweg aus dem normativen Konflikt zwischen originärer und offiziell erwünschter Reaktion“ (ebd.) darstellen: „Die überformten Reaktionsweisen sind Ausdruck der widersprüchlichen Normen und der Ambivalenz zwischen affektiver Abwehr und sozial vorgeschriebener Akzeptanz von Behinderten.“ (Ebd.: 122) Ungefähr bis zum 11. Lebensjahr werden die originären Reaktionen im Sinne der sozialen Erwünschtheit nach und nach überformt (vgl. ebd.: 121): „Mit Anpassung an die ‚offiziellen‘ Standards der Gesellschaft hinsichtlich der ‚richtigen‘ Einstellung gegenüber Behinderten beginnt für den Nichtbehinderten der permanente Ambivalenzkonflikt zwischen ‚originärer‘ und ‚sozial erlaubter‘ oder ‚überformter‘ Haltung zum behinderten Menschen.“ (Ebd.) Die Interkation ist geprägt durch die Irrelevanzregel, demnach man angehalten ist, „so zu tun, als existiere ihr Handicap gar nicht, als sei es ‚irrelevant‘. Man muß also in der Interaktion so handeln, als sei man an der ganzen Person orientiert, nicht nur an einem bestimmten Merkmal von ihr, – egal wie wichtig oder bemerkenswert dieses auch sein mag. Nun ist es häufig so, daß sich die Tatsache einer Behinderung geradezu aufdrängt und die totale Aufmerksamkeit des Nichtbehinderten auf sich zieht, was die Einhaltung der Irrelevanzregel zu einem kaum lösbaren Problem macht. Es kommt zu Verhaltensunsicherheiten und Interaktionsspannung (Unbehagen, Streß, Angst, Peinlichkeit, gekünstelte krampfhafte Heiterkeit etc.).“ (Ebd.: 122)

Identifikationsmöglichkeit hat beim Nichtbehinderten Verunsicherung zur Folge.“ (Ebd.) Weitere Erklärungsansätze finden sich auch bei Tröster (1990). Kastl weist mit der „Theorie der Liminalität“ zudem auf einen interessanten Ansatz hin, den Murphy und Kollegen in Anschluss an Turner auf die Situation von ‚Behinderten‘ in der modernen Gesellschaft übertragen haben (vgl. Kastl 2010: 197ff.). Behinderung wird hier als „eine Art dauerhafter ‚in-between-state‘ (betwixt and between) […]“ (ebd.: 200) gefasst, wodurch sich ‚Behinderte‘ nicht zuletzt von vielen anderen stigmatisierten Gruppen unterscheiden würden (vgl. ebd.: 197).

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Kurzum: Die Interaktion ist „pathologisch“, so Cloerkes mit Goffman (vgl. Cloerkes 1979: 414); der ‚Nichtbehinderte‘ ist „in der Begegnung mit dem physisch Andersartigen gezwungen, sich ‚zusammenzureißen‘, die Situation trotz manifester affektiver Abwehrreaktionen in sozial möglichst akzeptabler Form durchzustehen. […] Es ist diese Ambivalenz, die den Ablauf von Interaktionen zwischen Körperbehinderten und Nichtbehinderten bestimmt: Starrheit, Spannung, Stress, Angst und Unbehagen prägen das Verhalten, ‚normale‘ soziale Beziehungen werden geradezu unmöglich […].“ (Ebd.)

Es kommt folglich lediglich zu einer Schein-Akzeptanz des behinderten Interaktionspartners, die sich als ein Ausweg aus Schuldgefühlen und Ängsten häufig in Mitleid, unpersönlicher oder aufgedrängter Hilfe ihren Weg bahnt (vgl. Cloerkes 2007: 121f.): „Alle ‚überformten Reaktionen‘ stehen in Beziehung zu Schuldangst und stützen letztlich die Ablehnung und Isolation von behinderten Menschen.“ (Ebd.: 122) Nach Cloerkes handelt es sich hierbei also um einen „normativen Konflikt, der psychische Phänomene wie Angst, Aggressivität und Schuldgefühle verstärkt und dazu führt, daß insbesondere Personen mit wenig stabiler Persönlichkeitsstruktur Entlastung durch Mobilisierung von Abwehrmechanismen suchen, die letztlich ihre Reaktionen auf den Behinderten in ungünstiger Weise bestimmen.“ (Cloerkes 1979: 490)

Die Folgen dieses Konflikts äußern sich entweder in den nur vordergründig positiven Reaktionen des Mitleids und der unpersönlichen oder aufgedrängten Hilfe oder in der Isolation ‚Behinderter‘ und der Interaktionsvermeidung mit ihnen (vgl. ebd.: 494). 5.4.5 Strategien zur Einstellungsänderung Die entscheidende Frage, die sich nach der Betrachtung der sozialen und problematischen Reaktionen auf ‚Behinderte‘ stellt, ist, wie diese Reaktionen so verändert werden können, dass es zu einer ‚ehrlicheren‘ Anerkennung und Wertschätzung von Menschen kommt, die in einer bestimmten Hinsicht auffällig werden und hierdurch nach wie vor negativen Stigmatisierungen ausgesetzt sind. Die Rezeptologie des inklusionspädagogischen Ansatzes hierzu ist bekannt: Angestrebt wird ein Zustand der restlosen Überwindung des spezifischen Auffälligwerdens und der Andersartigkeit und Fremdartigkeit ‚Behinderter‘. Erreicht werden soll dies durch den normativen und präskriptiven Appell der „Normalität der Verschiedenheit“, der als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprämisse im Umgang mit Behinderung fungiert. Es ist davon auszugehen, dass diese ideologisch aufgeladene Prämisse im ge-

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sellschaftspolitischen Raum und im Denken des Einzelnen durchaus bereits eine relativ starke Wirkmächtigkeit entfaltet hat. Allerdings verlässt man sich mit der pädagogischen Inklusionsidee nicht nur auf diese Appelle an unser Gewissen und unsere Moral, sondern zur Zielerreichung des entleiblichten und entsozialisierten Zustandes der Vielfalt als Normalfall sind weitere Maßnahmen vorgesehen, die bereits auf vielfältige Weise um sich greifen. Zu nennen wäre hier der geforderte Verzicht auf jegliches gruppenbezogenes Kategorisieren, wovon nicht nur die Sprache, sondern auch institutionell-praktisches Handeln betroffen sind oder auch die Abschaffung und Stigmatisierung exklusiver, gesellschaftlicher Räume und Strukturen, die sich gezielt der Heterogenitätsdimension von Behinderung zuwenden, wie beispielsweise Förderschulen oder die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik. Die Hoffnung all dieser und weiterer Vorgehensweisen besteht darin, das Andersartige und Fremdartige einer Behinderung zu überwinden. Behinderungen oder spezifische Abweichungen im körperlichen, geistigen oder in sonstigen Bereichen sollen gar nicht mehr erst als solche auffällig werden und sich sozusagen und buchstäblich unbemerkt in die als angenehm herausgestellte Vielfalt der Heterogenitätsdimensionen einfügen, und zwar so, dass es keine spezifischen Auffälligkeiten mehr gibt, sondern nur noch normal und individuell verschiedene Auffälligkeiten. Damit aber werden diese Auffälligkeiten nicht nur einer jeglichen, praktisch-professionellen oder disziplinären Reflexion unzugänglich gemacht und entzogen, sondern auch die leiblichen Erfahrungsmomente der von diesen spezifischen Auffälligkeiten Betroffenen und nur vorgeblich Nicht-Betroffenen werden schlichtweg geleugnet und nivelliert. Cloerkes gelangt nach seinen sehr differenzierten und vielseitigen Forschungen hingegen zu einer sehr verhaltenen Einschätzung, was die Veränderung der „sozialen Reaktionen“ auf ‚Behinderte‘ anbelangt: „Angesichts der außerordentlichen Starrheit, die wir in den Einstellungen der Nichtbehinderten nachgewiesen haben, sind die Chancen einer kurz- bis mittelfristigen Veränderbarkeit der sozialen Reaktion eher pessimistisch einzuschätzen.“ (Cloerkes 1979: 496) Eine weitere, wesentliche Voraussetzung, die die Veränderung erschwert, ist seiner Ansicht nach die Tatsache, dass die „sozialen Reaktionen“ weitgehend irrational und affektiv bestimmt sind, „was eine hohe Änderungsresistenz zur Folge hat“ (Cloerkes 2007: 137). Eine prinzipielle Chance sieht Cloerkes in der kulturellen Bedingtheit dieser Reaktionen gegeben, die eine außerordentlich große Variabilität zeigen (vgl. ebd.). Als konkrete und bekannte Maßnahmen zur Veränderung der „sozialen Reaktionen“ führt er die folgenden an, die von ihm allerdings teilweise auch sehr kritisch eingeschätzt werden: Informationsstrategien, Kontakt, Simulation des Behindertseins bzw. Rollenspiel, Einwirkung auf persönlichkeitsspezifische Merkmale, Zulassen von originären Reaktionen, Kombination verschiedener Strategien sowie Veränderung des normativen Kontextes (vgl. ebd.). Neben der Kontakthypothese, die bereits thematisiert wurde, wird häufig den Informationsstrategien ein außeror-

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dentlich hoher Stellenwert eingeräumt (vgl. ebd.: 138). Cloerkes hält hierzu kritisch fest: „Informationsprogramme sind nicht grundsätzlich als ineffektiv abzulehnen, sofern gewährleistet ist, daß eine Reihe von überaus komplexen Wirkungsbedingungen sorgfältige Beachtung finden. Informationsvermittlung über Behinderungen und Behinderte dürfte allerdings bestenfalls als ergänzende Maßnahme ihre Berechtigung haben. Insofern wird der Nutzen dieser Strategie zur Veränderung von Einstellungen gegenüber behinderten Menschen bei weitem überschätzt, von der Gefahr gegenteiliger Effekte ganz zu schweigen.“ (Ebd.: 145)

Die Simulation der Rolle des ‚Behinderten‘ scheint als eine „Desensibilisierungsstrategie“ günstige Auswirkungen auf die Einstellung ‚Nichtbehinderter‘ zu haben (vgl. ebd.: 151). Für das Einwirken auf persönlichkeitsspezifische Merkmale durch psychoanalytisch fundierte Konzepte scheinen Modifikationen möglich zu sein, allerdings setze dies eine grundsätzliche Bereitschaft voraus, die eigenen Einstellungen kritisch zu hinterfragen (vgl. ebd.: 152). Aus der hier verfolgten Perspektive der Fremderfahrung von Behinderung erscheint zudem die Strategie des Zulassens von originären Reaktionen interessant, die experimentell untersucht wurde: „Hier wurden Information und indirekter Kontakt über das Medium ‚Photographien von sichtbar physisch abweichenden Personen‘ eingesetzt, um dem bekannten Interaktionsstreß bei direkter Konfrontation mit Behinderten und der damit verbundenen Gefahr von Bumerang-Effekten entgegenzuwirken. Die Gelegenheit zum sonst nicht erlaubten ‚Anstarren‘ abweichender Merkmale von behinderten Menschen […] scheint Ambivalenz und Unbehagen bei direkten Kontakten deutlich zu verringern […].“ (Ebd.)

Sinnvoll scheint auch die Kombination verschiedener Strategien zu sein, so zum Beispiel „Informationen, die in direktem Kontakt von einer glaubwürdigen behinderten Person selbst präsentiert werden“ (ebd.: 153). Cloerkes diskutiert im Kontext der Einstellungsänderung schließlich auch die Veränderung des normativen Kontextes, dem hierfür ein nicht zu bestreitendes Potential zukommt: „Einstellungsänderung ohne Berücksichtigung der vorgegebenen Werte- und Normenstruktur hat keine Chance!“ (Ebd.: 154) Neben Gesetzgebungsmaßnahmen, die im Rahmen der Vorurteilsbekämpfung umstritten sind, nennt er hier Sozialisationsinhalte und -praktiken bzw. die Kompetenz zur Bewältigung widersprüchlicher Normen sowie Verschiebungen in der gesellschaftlichen Wertestruktur. Von einer Abkehr des Leistungsprinzips, die nach eigener Einschätzung nicht zu erwarten ist, würden ‚Behinderte‘ zwar profitieren; andererseits „scheinen die ökonomischen Bedingungen mitsamt Leistungsfetischismus keine so entscheidende Variable zu sein, denn der interkulturelle Vergleich traditioneller Kulturen offenbart alle Formen der sozialen Reaktion auf Behinderte, unabhängig von Wirt-

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schaftsform und Reichtum der Ethnien“ (ebd.: 155). Wichtig wäre in diesem Kontext – und das wird auch mit dem hier gewählten Zugang nachdrücklich unterstützt – die „Notwendigkeit von nicht diskriminierenden Sonderrollen“ (vgl. ebd.: 156): „Sonderrollen bieten die Chance, dem Anpassungszwang der Normalität zu entgehen. Dies ist aber erst ein Gewinn, wenn behinderte Menschen trotzdem gesellschaftliche Anerkennung erfahren: ‚Anderssein‘ darf nicht gleichgesetzt werden mit ‚weniger wert sein.‘“ (Ebd.) Eine solche Sichtweise bleibt dem inklusionspädagogischen Ansatz nicht nur verschlossen, sondern das inklusionspädagogische Denken zieht seine Existenz und Legitimation ja geradezu aus den als negativ eingestuften Sonderrollen und dem zu überwindenden anderen Anderssein; beides stellt sozusagen die Grundfeste dieses Ansatzes dar. Nicht zuletzt sieht Cloerkes in der Stärkung der Handlungskompetenz ‚Behinderter‘ einen der wichtigsten Schritte für einen Abbau negativer Einstellungen und Handlungstendenzen (vgl. ebd.).34 Dazu gehören auch Kenntnisse über „die Grundlagen der ablehnenden sozialen Reaktion, insbesondere über die Schwierigkeiten des Nichtbehinderten in gemischten Interaktionssituationen. Der Behinderte sollte in die Lage versetzt werden, die Steuerung der Interaktion zu übernehmen und damit den Nichtbehinderten von seiner Verhaltensunsicherheit zu befreien“ (Cloerkes 1979: 496). Dies stellt sicherlich eine wichtige Perspektive dar, dürfte aber zum Beispiel für schwerer ‚Behinderte‘ oder stark verhaltensauffällige Menschen kaum oder nicht zu bewerkstelligen sein. Nichtsdestotrotz sind die grundsätzliche ZurKenntnisnahme der „pathologischen Interaktion“ – die sich eher als eine in höchs34 Dafür spricht auch das Ergebnis der qualitativen Interviewstudie mit körperbehinderten Schülerinnen und Schülern sowie ihren Eltern und Lehrkräften. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Schülerpersönlichkeit einen relativ großen Einfluss auf das Gelingen der integrativen Schulsituation hat (vgl. u.a. Singer 2015: 156ff.). Die Äußerung einer Förderschullehrkraft, die seit vielen Jahren beratend an allgemeinen Schulen tätig ist, bringt dies beispielhaft wie folgt zum Ausdruck: „Ich merke das in der Regelschulberatung: Geglückte Integration oder Inklusion oder diese Einzelsachen erfolgen eigentlich immer nur bei extrem psychisch stabilen Kindern […]. Das sind die Kinder, die irgendwie einfach eine Ausstrahlung haben, vielleicht das Glück hatten, dass sie so sind, von ihren Eltern, von der Familie irgendwie dahingebracht werden, die trotz wirklich größeren Handicaps es schaffen, ihre Stellung auch in so einer Gruppe zu haben. Die packen’s. Und die setzen sich auch gegen so Ignoranz von Lehrern durch. Und die haben den Mut, selber zu sagen: ,Ich brauche die Zeitverlängerung, ihr seht doch: Und dann fängt der Arm an zu zittern‘. Die sagen so was selber.“ (Ebd.: 157) Andererseits wurden diejenigen Schülerinnen und Schüler, bei denen es zu einem Abbruch der integrativen Schulsituation kam, „überwiegend entweder als ‚durchaus verhaltensauffällig, eher wenig interessiert an Gruppenprozessen oder auch provokativ‘ oder als ‚zurückgezogen, still, wenig belastbar und mit weniger Selbstvertrauen versehen‘“ (ebd.: 158), beschrieben.

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tem Maße pathische Erfahrung erweist – und die „Information“ des ‚Nichtbehinderten‘ hierüber sowie über die dahinter liegenden Gründe ein zentraler Ansatzpunkt zur Änderung der sozialen und häufig ausgrenzenden oder abwertenden Reaktionen. Ein generell anderer Weg wird mit der pädagogischen Inklusionsidee verfolgt, mit der dieses Geschehen insofern ignoriert und verschleiert wird, als es nur noch aus einer normativen Perspektive der wertschätzenden und subjektiven Anerkennung des Anderen betrachtet wird, die zugleich auf höchst appellative, präskriptive und moralisierende Art und Weise eingefordert wird. Cloerkes geht von relativ starren Reaktionen und Einstellungen gegenüber ‚Behinderten‘ aus, die mit der Stimulusqualität sichtbarer Behinderungen zu tun haben und zu einem großen Teil erlernt werden. Die interkulturelle Variabilität der Reaktionen verweist jedoch zugleich auf die Kontingenz dieser Reaktionen. Im Kern beschreibt er die Interkation zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ als pathologisch, die von Unsicherheit, Spannung, Stress und im günstigsten Fall von einer Schein-Normalität geprägt ist. Kennzeichnend für diese Interaktionen ist seiner Ansicht nach eine Ambivalenzerfahrung als ein normativer bzw. kognitiver Konflikt zwischen originären und sozial erwünschten Reaktionen, die zu überformten Reaktionen führt. Auch hier wird davon ausgegangen, dass sich die Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ nicht soweit normalisieren lässt, dass es keinen Unterschied mehr macht und keine unterschiedliche Bedeutung mehr hat, ob ‚Nichtbehinderte‘ einem sichtbar oder auffällig ‚Behinderten‘ begegnen oder anderen nichtbehinderten Nachbarn, Passanten, Frauen, Männern, Ausländern etc. In diesen Interaktionserfahrungen spielen kulturell erlernte Verhaltensweisen, Einstellungen und Erwartungen ganz sicher eine wesentliche Rolle. Auch diejenigen Momente, die mit den psychologischen (Angst, kognitive Dissonanz, Bedrohung körperlicher Integrität) und soziologischen (Irrelevanzregel, Interrollenkonflikt, uneindeutige Verhaltensregeln, Problematik widersprüchlicher Normen) Erklärungsansätzen skizziert wurden, sind in diesem Geschehen mehr oder weniger am Werk. Dass es in diesen Begegnungen jedoch überhaupt zu einer spezifischen Beunruhigung und manchen der genannten originären Reaktionen kommt, hat zu tun mit einer spezifischen Struktur der Fremderfahrung, die in diesen Begegnungen wirksam wird. Der Ambivalenzkonflikt tritt deutlich früher auf, als mit den psychologischen und soziologischen Erklärungsansätzen angenommen wird, die diesen Konflikt letztlich als einen normativen Konflikt im Subjekt bzw. seinen kognitiven Strukturen verorten. Als ein prä-normativer und prä-reflexiver Konflikt der Erfahrung entzieht sich dieser Konflikt umso mehr unserer Verfügbarkeit, weshalb er sich niemals völlig in den Griff bekommen lässt, erst recht nicht im Sinne einer „Normalität der Verschiedenheit“. Cloerkes selbst benennt mit der „Fremdheit“ einen weiteren „interessanten theoretischen Zugang, der Interaktionsprobleme aufgrund von Behinderung wie die da-

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hinter stehenden Vorurteile zu Recht nicht isoliert, sondern als generelles Phänomen von Fremderleben deutet […]“ (Cloerkes 2007: 109). Mit Schäffter (1991) spricht er an dieser Stelle zwar unterschiedliche Arten des „Fremderlebens“ an und stellt heraus, welche dieser Arten im Kontext der Interaktion mit ‚Behinderten‘ zum Tragen kommen können; dieser Ansatz wird von Cloerkes aber nicht weiter verfolgt, wobei er betont, dass der Ansatz der Fremdheit „in der Behindertenforschung angemessene Beachtung finden [sollte]“ (ebd.: 110).35 Die vorliegende Arbeit hat den Zusammenhang zwischen Fremdheit und Behinderung in Anschluss an Waldenfels sowie Stinkes und Fornefeld bereits ausführlich herausgestellt und thematisiert (vgl. 5.1). Behinderungen wurden hier nicht dem normalen, sondern dem strukturalen Fremdheitsbereich zugeordnet und zeigen zugleich eine dreifach gesteigerte Fremdartigkeit an. Ebenso wurden sie als eine bestimmte Anomalie gekennzeichnet, die stets mit dem Normalem im Bunde steht. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zu den Grundzügen der Fremderfahrung (vgl. 5.2) sowie des Phänomens der Aufmerksamkeit (vgl. 5.3) ist das Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ nun abschließend als ein spezifisches Geschehen der Fremderfahrung kenntlich zu machen, das in gewisser Weise auch den benannten Erklärungsansätzen der „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ zugrunde liegt und sich als eine Erfahrung zwischen Attraktion und Repulsion abspielt. Von hier aus ergibt sich ebenso ein veränderter Blick auf das Verständnis der „sozialen Reaktionen“. Aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden bewegen sich diese weder in einer Struktur von objektivem Vorkommnis und subjektivem Akt noch sind sie bloße irrationale oder individuell-affektive Reaktionen. Vielmehr können sie als ein Antworten auf den Anspruch des Fremden verstanden werden, das sich zwischen fremden Anspruch und eigener Antwort bewegt.

5.5 FREMDERFAHRUNG IM KONTEXT VON BEHINDERUNG Abschließend ist nun danach zu fragen, was die grundlegenden Überlegungen zur Fremderfahrung sowie zum Phänomen der Aufmerksamkeit für die Fremderfahrung im Kontext von Behinderung bedeuten können. Nach einer Betrachtung des „Auffallens und Aufmerkens“ im Kontext von Behinderung (5.5.1) wird das Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ aus Sicht ‚Nichtbehinderter‘ als eine spezifische Entzugserfahrung des eigenen Selbst kenntlich gemacht, das sich als Fremderfahrung par excellence zwischen den Polen der Attraktion und Repulsion bewegt 35 Auch Schäffter, der von Cloerkes für diesen Ansatz herangezogen wird, stellt seine Ausführungen zur Fremdheit nicht explizit in den Kontext von Behinderung (vgl. Schäffter 1991).

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(5.5.3). In zwei Zwischenkapiteln erfolgt aus dieser Perspektive jeweils ein Rückblick auf das dargelegte Verständnis der „sozialen Reaktionen“ und die inklusionspädagogischen Blickbemühungen (5.5.2) sowie auf die Erklärungsansätze dieser Reaktionen (5.5.4). Von zentralem Interesse wird sein, ob sich das nichtbehinderte Selbst den pathischen Erfahrungen und den Kräfteverhältnissen der Aufmerksamkeit überhaupt entziehen kann, wie es mit dem inklusionspädagogischen Ansatz unterstellt und gefordert wird. Diese Sichtweise und Präskription ist mit dem Zugang der Phänomenologie des Fremden in höchstem Maße fragwürdig. Es stellt sich daher die Frage nach den Konsequenzen, die eine solche handlungsauffordernde Perspektive auf das intersubjektive Geschehen im Kontext von Behinderung haben kann (vgl. 5.7). Mit der Konzeption der Responsivität deutet sich hingegen ein anderer Umgang mit ‚Behinderten‘ und dem Phänomen der Behinderung an. Weder ignoriert dieser Umgang den Boden der Lebenswelt noch hofft er allein auf die Kraft des Normativen und universeller Präskriptionen. Mit den Überlegungen zur Fremderfahrung im Kontext von Behinderung werden die normativen Ansprüche und Handlungsaufforderungen des inklusionspädagogischen Ansatzes nicht nur aufgrund ihrer Weltlosigkeit – ihrer totalitären Weltanschauung ohne Anschauung – verworfen, sondern sie sind insbesondere auch aufgrund eines virulenten Gefahrpotentials, das mit dieser Anschauung und ihrem ideologischen Wirken einhergeht, scharf zurückzuweisen. 5.5.1 Auffallen und Aufmerken im Kontext von Behinderung Im Vorwort der Broschüre einer Fachtagung mit dem Titel Inklusiver Sozialraum. Familienpolitische Herausforderungen im Land Brandenburg heißt es: „Ich habe einen Traum: Darin stelle ich mir Brandenburg als ein ‚Land der Buntgemischten‘ vor – ein Land, in dem niemand mehr auffällt, dass er anders ist, weil es normal ist, ‚anders‘ zu sein.“ (Baaske 2012: 2) Das Auffälligwerden als solches ist für den inklusionspädagogischen Ansatz ein absolutes No-Go, da das Auffälligwerden – sei es einer Behinderung oder einer anderen Heterogenitätsdimension – der Prämisse der Normalisierung des Andersseins bzw. der Überwindung von Fremdartigkeit vehement widersprechen würde. Demgegenüber liegt den folgenden Ausführungen die Annahme zugrunde, dass Behinderungen als spezifische Auffälligkeiten sich nicht im normalen, sondern im strukturalen Fremdheitsbereich bewegen, da hier vertraute und leiblich zutiefst inkorporierte Maßstäbe des Wahrnehmens und Handelns unweigerlich brüchig werden (vgl. 5.1.1). In diesem Sinne stellen Behinderungen jeweils eine bestimmte Anomalie dar. Sie sind weder das Fremde oder das Anomale, sondern treten nur in Verbindung mit dem Eigenen oder Normalem her-

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vor (vgl. 5.1.3). Zudem kann es bei bestimmten Formen der Behinderung zu einer dreifach gesteigerten Fremdartigkeit kommen (vgl. 5.1.4). Wie anhand der Genealogie von Ordnung gezeigt werden konnte, ist das Zustandekommen einer jeden Ordnung notwendigerweise auf die Prozesse der Typisierung und Atypisierung angewiesen, die eine Wiederholbarkeit der Ordnungsgestalt als eine Wiederkehr des Ungleichen als eines Gleichen voraussetzen (vgl. 4.1.5). Ohne diese Prozesse der Typisierung und Atypisierung könnten wir uns in der Welt weder orientieren noch auch nur ein Wort aussprechen, alles wäre beliebig, gleich-gültig. Das, was sich als Thema oder Typus herausbildet, verkörpert sich anschließend in bestimmten Habitualitäten, die neben der Ordnung der Dinge auch den gesamten Bereich leiblicher Ordnungen, der Motorik, Gestik, Mimik, Körperhaltung, des ‚angemessenen‘ Verhaltens etc., umfassen. Das Wahrnehmen selbst verdichtet sich zu einem Wahrnehmungsglauben (vgl. Waldenfels 1998a: 247), der die Kontingenz einer jeden Ordnung in den Hintergrund treten oder vergessen lässt. In Begegnungen mit sichtbar auffälligen Abweichungen im körperlichen, geistigen oder im Verhaltensbereich tritt die Kontingenz der gewohnten und habituellen Ordnungen leiblichen Daseins unwiderruflich hervor. Das aufmerkende Denken, Sehen und Hören beginnt damit, dass etwas vom erwarteten und habitualisierten Vertrauenshorizont abweicht (vgl. Waldenfels 2006: 106). Für den Menschen als einen Antwortenden bedeutet dies insofern eine Beunruhigung, als die gewohnten und vertrauten Ordnungen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns aus den Fugen geraten und brüchig werden. Der Index des Selbstverständlichen verliert seine Gültigkeit und die Kontingenz einer bestimmten Ordnung wird offenbar. Der Zusammenstoß fremder Welten zeigt dies, so Waldenfels, zur Genüge (vgl. Waldenfels 2005b: 23f.). Zu nennen wären hier beispielsweise die Zusammenstöße zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen ethnischen Gruppen und sozialen Milieus oder zwischen sogenannten Normalen und Anormalen (vgl. ebd.: 24). Gerade auch der Zusammenstoß zwischen ‚Nichtbehinderten‘ und ‚Behinderten‘ lässt auf eklatante Weise ein Geschehen zu Tage treten, in dem das als selbstverständlich und vertraut Erscheinende seine Selbstverständlichkeit und Vertrautheit einbüßt. Das Auffälligwerden einer Behinderung weckt unsere Aufmerksamkeit, weil hier etwas in spezifischer Hinsicht vom Erwarteten abweicht; die vertrauten Raster unserer Wahrnehmung werden brüchig und wir werden zu einer Antwort genötigt. Kastl ist neben Dederich und in Anschluss an Cloerkes einer der sehr wenigen, der sich diesem Geschehen im heil- und sonderpädagogischen Diskurs heutzutage überhaupt noch verstärkt zuwendet. Er bezeichnet die Wahrnehmung körperlicher Abweichung eines Anderen als Inbegriff der Behinderungserfahrung nicht selbst betroffener Menschen bzw. als eine „Urszene“ der sozialen Alltagserfahrung von Behinderung (vgl. Kastl 2010: 15). Kastl beschreibt das Auffälligwerden einer Behinderung, das stets eine Störung des Gewohnten und Vertrauten ist, sehr plastisch:

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„Solange die Einbeziehung der memo-perzepto-motorischen Systeme in die soziale Praxis gesichert ist [sic!] bleiben sie ohne gesellschaftliche Relevanz. Aber es ist klar, sie ermöglichen dadurch die gesellschaftliche Praxis. Sobald sie auffällig werden, liegt meistens eine unwillkommene ‚Störung‘ vor. Ein Schluckauf, ein Husten, ein starker Geruch, die Sekretion der Nasenschleimhäute, ein ungewöhnliches Aussehen wegen eines Pickels sind noch die harmlosesten Varianten. Ein Ohnmachtsanfall, eine [sic!] plötzlich eintretender Atemstillstand, ein diabetisches Koma, aber auch Verhungern und Verdursten verhindern auf dramatische Weise eine weitere Beteiligung an sozialer Praxis. Der Körper soll die soziale Praxis ermöglichen oder/und sie zumindest nicht wahrnehmbar stören. Tut er es doch, sind die kleinen und großen Störungen umgehend normalisierungsbedürftig. Das beginnt bei dem Niesen, für das es Verhaltensanweisungen sowohl für davon Betroffene wie auch die Umstehenden gibt (Hand vorhalten, Gesundheit wünschen). Das geht bis zur Ausgliederung komplexer gesellschaftlicher Subsysteme zur Deutung und Behandlung von ungewöhnlichen Körperprozessen (Medizin).“ (Ebd.: 101)

Kastl betrachtet den Körper daher immer auch als normativen Bezugspunkt gesellschaftlicher Handlungsanforderungen und Handlungserwartungen, „die nicht selten erst dann artikuliert und bewusst werden, wenn sie durchbrochen werden“ (ebd.: 102). Als ein eindrückliches Anschauungsbeispiel hierfür bezieht er sich auf einen Bericht, der sich wie folgt bei Goffman findet: „Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Mann in einem Gartenrestaurant in Oslo. Er war sehr verkrüppelt, und er hatte seinen Rollstuhl verlassen, um eine ziemlich steile Treppe zur Terrasse, wo die Tische waren, hinaufzusteigen. Weil er seine Beine nicht gebrauchen konnte, mußte er auf den Knien kriechen, und als er anfing, die Stufen auf diese unkonventionelle Weise zu ersteigen, stürzten die Kellner ihm entgegen, nicht um ihm zu helfen, sondern um ihm zu sagen, daß sie einen Mann wie ihn in diesem Restaurant nicht bedienen könnten, da die Leute es besuchten, um sich zu vergnügen, und nicht, um durch den Anblick von Krüppeln deprimiert zu werden.“ (Goffman 1975: 150)

Eben weil es uns so sehr vertraut ist, dass wir auf zwei Beinen gehen, drängt sich die hier geschilderte Gangart der Aufmerksamkeit umso mehr auf. Die Fortbewegung auf zwei Beinen beobachten wir aber nicht nur am Anderen, sondern sie ist den allermeisten Menschen selbst leiblich inkorporiert. Sie fungiert daher umso mehr als Selbstverständlichkeit dessen, wie wir uns in der Welt bewegen. Auch Waldenfels selbst beschreibt diesen Prozess als Habitualisierung im Sinne Bourdieus: „Sind Verhaltensstil, Sprech- oder Gangart einmal in Fleisch und Blut übergegangen, so tauscht man sie nicht mehr aus wie eine Krawatte. Der inkarnierten Bedeutung entspricht ein inkarniertes Verhalten. Gewohnheit als Eingewöhnung in einen Tätigkeits- und Lebensbe-

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reich führt uns zurück auf die Organisation von Rede- und Handlungsfeldern. So wie ein wiederkehrendes Thema die aktuelle Situation überdauert und sich zu einem vertrauten Thema verfestigt, so formen sich wiederholte Äußerungen und Handlungen zu einer Haltung, einem Habitus, und das Geflecht sozialer Habitualitäten bildet spezifische Tätigkeits- und Berufsfelder, überdauernde Milieus und schließlich umfassende Lebensformen und Lebenswelten, in die das aktuelle Reden und Tun eingebettet ist. Diese Habitualisierung bedeutet eine Verkörperung von Ordnung, eine unter wechselnden Bedingungen erfolgende ‚Einverleibung von Strukturen‘ (Bourdieu), die selber weder auf mechanische Abläufe noch auf Regelanwendung reduziert werden kann. Der Erwerb eines know how bedeutet ein Können, das alles Kennen übersteigt.“ (Waldenfels 1987: 79)

Die Erfahrung von ‚Heterogenität‘ verläuft im Falle der Konfrontation mit Behinderungen – wie immer wieder betont werden muss – nicht auf normal verschiedene, sondern auf bestimmte und sehr spezifische Art und Weise. Wir erfahren den Anderen nicht nur als verschieden von uns, sondern als fremd, da hier eine bestimmte und nicht irgendeine beliebige Habitualität in Frage gestellt und diese nicht nur zur Kenntnis genommen wird. Auch und gerade im Kontext eines Zusammenstoßes zwischen ‚Nichtbehinderten‘ und ‚Behinderten‘ gilt, dass die Weckung oder Erregung der Aufmerksamkeit verschiedene Stärkegrade erreichen kann. So wird die Aufmerksamkeit durch nicht sichtbare und nicht immer sofort wahrnehmbare Behinderungen weniger erregt werden als durch sehr auffällige und sichtbare Behinderungen oder ‚Abweichungen‘. Die Visibilität oder Sichtbarkeit einer Behinderung wurde bereits als diejenige Determinante benannt, die die Interaktion am meisten bestimmt. Goffman wählt für eine solche Auffälligkeit bekanntermaßen den Begriff des Stigmas, als ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen kann (vgl. Goffman 1975: 13). Neben „individuellen Charakterfehlern“ (Willensschwäche etc.) und „phylogenetischen Stigmata“ (Rasse, Nation, Religion) nennt er als einen dritten Typus von Stigma „die verschiedenen physischen Deformationen“ (vgl. ebd.: 12). Goffman verwendet den Begriff des Stigmas „in bezug [sic!] auf eine Eigenschaft […], die zutiefst diskreditierend ist […]“ (ebd.: 11). Überaus wichtig zu erkennen ist dabei, dass das Stigma als solches aber bereits weder kreditierend noch diskreditierend ist, sondern stets einer Relationalität unterliegt (vgl. ebd.). Wie bereits aus dem Ordnungsgedanken bekannt ist, erscheint etwas immer nur als etwas vor dem Hintergrund spezifischer Kontextbedingungen. In diesem Sinne heißt es auch bei Goffman: „Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt […]. Zum Beispiel zwingen einige Jobs in Amerika diejenigen ihrer Inhaber, die nicht die erwartete Collegeausbildung haben, diese Tatsache zu verheimlichen; andere Jobs jedoch können die wenigen Inhaber, die eine Hochschulbildung ha-

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ben, dazu führen, gerade dies geheimzuhalten, um nicht als Versager oder Außenseiter gekennzeichnet zu werden.“ (Ebd.)

Auch Goffman sieht in der Sichtbarkeit einen entscheidenden Faktor dafür, ob ein Stigma evident wird (vgl. ebd.: 64). Genau genommen müsste man ihm zufolge daher nicht von der Sichtbarkeit, sondern von der Wahrnehmbarkeit oder, noch genauer, von der Evidenz sprechen (vgl. ebd.): „Ein Stottern ist schließlich doch ein sehr ‚sichtbarer‘ Defekt, aber in erster Linie wegen des Tons, nicht wegen des Anblicks.“ (Ebd.) Die Weckung der Aufmerksamkeit verläuft unterschiedlich stark. Ob und wie etwas, das abweicht, das Geschehen beeinflusst, hängt auch mit dem Grad der Aufdringlichkeit zusammen, der sich immer auch situativ bestimmt und verändern kann. Zudem kann, so Goffman, die gleiche Abweichung „verschiedene Ausdrücke haben […], deren jeder einen anderen Grad von Aufdringlichkeit besitzt. Zum Beispiel legt eine blinde Person mit einem weißen Stock ein sichtbares Zeugnis davon ab, daß sie blind ist; aber dieses Stigmasymbol kann, nachdem einmal Notiz davon genommen wurde, manchmal im Zusammenhang mit dem, was es bezeichnet, belanglos werden. Aber das Versagen der blinden Person darin, ihre Augen auf die Augen ihres Gesprächspartners zu richten, ist ein Vorgang, der die Kommunikationsetiquette wiederholt verletzt und die Feed-back-Mechanismen gesprochener Interaktion wiederholt unterbricht.“ (Ebd.: 65f.)

Die Unruhe, die durch etwas hervorgerufen wird, das vom Gewohnten und Vertrauten abweicht, findet ihren sichtbaren Ausdruck im Kontext von Behinderung sehr häufig im Phänomen des ‚Anstarrens‘ von ‚Behinderten‘. Dem ist ein Sehen vorgelagert, das, entgegen anderweitiger Meinungen, kein Akt des Sehens ist, sondern ein responsives Antworten auf einen ungewohnten Anspruch. Ihre Steigerung erfährt diese Unruhe in Hilflosigkeit, Verlegenheit, Angst, Abscheu bis hin zu Ekelgefühlen und hochgradiger Erregtheit (vgl. Cloerkes 2007: 108). Kastl zufolge könne man vermuten, dass in diese originären Reaktionen „grundlegende wahrnehmungspsychologische Strukturen einfließen“ (Kastl 2010: 168). Diese Vermutung findet Bestätigung, wenn sich mit Waldenfels auf so etwas wie eine Orthoästhesie und Orthokinese hinweisen lässt (vgl. Waldenfels 1987: 72), „die den normativ auf Orthodoxie und Orthopraxie angelegten Verhaltensweisen vorausliegen“ (ebd.). Der folgende Vorwurf richtet sich keinesfalls gegen Waldenfels, der ganz sicher keinem einseitigen Biologismus frönt; weniger spekulativ als die Annahme, „dass es beim Menschen angeborene biologische Programme der Gestalterkennung und Wahrnehmung von menschlichen Gesichtern gibt, wie manche (sozio)biologisch argumentierenden Autoren vertreten“ (Kastl 2010: 168), sei laut Kastl aber eine Art „Gewöhnungsargument, das in jedem Fall plausibel sein dürfte. Ein Gesicht mit einem Loch bleibt einfach eine ungewohnte Ausnahme, die zudem die Kommunikation mit dem Kind erschwert, da der Affektausdruck im kindlichen Gesicht, aber

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auch das Essverhalten (insbesondere das Stillen) dadurch beeinträchtigt wird.“ (Ebd.) Hätten wir es bei der Wahrnehmung von Behinderungen jedoch nur mit einer bloßen Gewöhnung bzw. Störung des Gewohnten oder einer reinen Konstruktion zu tun, so ließe sich in diesem Beispiel neben der Kommunikation auch das Ess- bzw. Stillverhalten völlig normalisieren. Wie Waldenfels widerspricht jedoch auch Kastl letztlich einem bloß kulturellen oder gar sozialkonstruktivistischen Menschenbild.36 Er folgt dabei einem grundlegenden Gedanken der leiblich orientierten Phänomenologie, die den Leib als Umschlagstelle zwischen Natur und Kultur charakterisiert, „d.h. er läßt sich weder eindeutig dem Bereich des Geistes und der Kultur noch dem Bereich der Natur zuordnen, sondern beide Momente sind in ihm verschränkt“ (Waldenfels 2000: 247). Insofern Kastl diesen Gedanken explizit auch auf Behinderungen anwendet, seien seine konkretisierenden Überlegungen hierzu etwas ausführlicher widergegeben: „Auf die leicht parteiliche Frage, ob der Körper Physis sei, natürliche Gegebenheit, oder menschen- und kultur-gemacht (soziale Konstruktion), müssen wir nun antworten: er [sic!] ist immer beides zugleich und das geht in jede, schlechterdings jede menschliche Erfahrungsmöglichkeit ein, wenn man nur den richtigen Abstand hat, um diese Tatsache zu sehen. […] Die Physis macht dabei – das verkennt der Konstruktivismus – sehr wohl Vorgaben für die Kultur und die Gesellschaft und damit auch die Möglichkeiten der sozialen Konstruktion des Körpers, einschließlich seiner ‚Behinderungen‘. Diese Vorgaben liegen einmal in der unreduzierbaren Kontingenz des Körperlichen. Menschen haben nicht die grundlegenden Strukturen ihres Körpers ‚gemacht‘, nicht seine Anatomie, nicht seine Organe als solche, und nicht die Beschaffenheit seiner Prozesse und Verhaltensmöglichkeiten. Das geht bis in die Vorgänge hinein, die wir normalerweise als ‚geistig‘ bezeichnen. Deren inhaltliche Strukturen sind immer zugleich soziokulturelle Realität, nur da, weil es diese Gesellschaft mit dieser spezifischen Geschichte gibt. Zugleich aber geht darin ein Naturhaftes ein. Was beispielsweise Affekte und Gefühle sind, eigentümliche und differenzierte mit Inhalt ‚aufladbare‘ Spannungsund Entspannungsempfindungen, dass und wie Denken und Wahrnehmen funktioniert, dass wir überhaupt über Sprache als Medium verfügen, ja selbst unsere Fähigkeit etwas zu ‚konstruieren‘ – das alles ist zwar gesellschaftlich modulierbar, aber zugleich immer auch eine kontingente, physische Realität, die wir nicht im mindestens produziert oder konstruiert haben. […] Auch in Bezug auf Phänomene der Behinderung genügt es infolgedessen nicht zu sagen, sie seien auf ihren Charakter als soziale Konstruktionen oder als soziale Barrieren reduzierbar, durch und durch kulturelle Realität. Weil nichts ausschließlich kulturelle Realität ist, sondern immer zugleich Natur (Physis), trifft das auch auf Behinderung zu. Es ist in jedem Einzelfall eine offene Frage, wie sich bei Behinderungen physische Kontingenzen und 36 Vgl. zu einer Kritik an der sozialkonstruktivistischen Sichtweise auf Behinderung auch 5.1.2.

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soziokulturelle Dimension ineinander verschränken. Schädigungen bzw. Verletzungen der Physis sind niemals neutral gegenüber der soziokulturellen Realität der Menschen und umgekehrt deren sozio-kulturelle Realität ist niemals neutral gegenüber dem Körperlichen und auch nicht gegenüber der Bedeutung, die eine Schädigung oder/und Verletzung des Körpers hat – einfach deshalb, weil das Physische sozial ist und das Soziale physisch ist.“ (Kastl 2010: 103ff.)

Aus diesen Überlegungen folgt unter anderem, dass auch das, was uns auffällt, weder nur eine natürliche Tatsache ist noch ist das Auffälligwerden eine bloße soziale Konstruktion. Unsere Wahrnehmung ist durchtränkt mit normativen oder kulturellen Deutungsmustern; sie jedoch einseitig nur auf diese kulturelle Dimension zu beschränken, würde bedeuten, dass wir eigenmächtig über uns und die Welt verfügen könnten, so, als gäbe es keinerlei Ansprüche der Erfahrung und des Fremden, auf die wir unweigerlich antworten müssen und die sich auch und gerade im Bereich des Körperlichen bemerkbar machen. Wird alles bloß einer kulturellen Deutung und Konstruktion anheimgestellt, so hätte das zur Konsequenz, dass wir das Aufmerksamkeitsgeschehen potentiell völlig in den Griff bekommen könnten, wir durch Fremdes nicht herausgefordert und in Frage gestellt würden. Dass etwas auf normale oder normal verschiedene Weise auffällig würde – wie es die Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ unterstellt, indem sie alle Heterogenitätsdimensionen durch deren Normalisierung miteinander gleichsetzt – ist jedoch ein Widerspruch in sich, da etwas dann ganz einfach nicht mehr als etwas auffällig würde; hiergegen sprechen nicht nur die Prozesse der Habitualisierung und der notwendigen (kontingenten) Typisierung, sondern auch der spezifische leibliche Selbstentzug, der im Falle einer (körperlichen) Behinderung sowohl für den Betroffenen als auch für den Nicht-Betroffenen auf besondere Weise virulent wird.37 Eben darin lässt sich eine körperliche Behinderung beispielsweise von der Heterogenitätsdimension der migrationsbedingten Fremdheit unterscheiden, bei der andere spezifische Wirkkräfte der Aufmerksamkeit hervortreten, die wiederum andere Prozesse der Zu- oder Abwendung bewirken können. Etwas wird, wie auch im Falle des Konfrontationsereignisses mit ‚Behinderten‘, immer auf bestimmte Weise auffällig und dies immer im Rahmen und unter der Voraussetzung einer Verschränkung von kulturellen und natürlichen Gegebenheiten. Die Weckung der Aufmerksamkeit erreicht ihre obere Grenze im Schockerlebnis (vgl. Waldenfels 2004: 97). Die Auffälligkeit steigert sich hier bis zur Aufdringlichkeit, unser Verhaltensspielraum nähert sich der Nullgrenze wie im Falle eines Handlungsnotstandes (vgl. ebd.: 97). Etwas oder jemand „überkommt uns in der Weise, daß die Umsetzung des Aufmerkens in Zu- oder Abwendung an einen toten 37 In ähnlicher Weise verortet Kastl die „Körpergebundenheit“ als Kriterium für die Abgrenzung von zum Beispiel sozialer Benachteiligung (vgl. u.a. Kastl 2010: 111).

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Punkt gelangt und die Erfahrung stockt“ (ebd.: 97). Dieser Aufschub der Erfahrung tritt in solchen Augenblicken eklatant zu Tage, „wo es uns die Stimme verschlägt, wo wir wie gelähmt sind, wo die gewohnte Welt aus den Fugen gerät und die gewohnten Antworten versagen“ (Waldenfels 1994a: 537f.). Ganz sicher lösen nicht alle Begegnungen mit ‚Behinderten‘ einen solchen schockartigen Zustand aus. Verhält es sich nun aber nicht so, dass diese Charakterisierung der schockartigen Erfahrung auf präzise Weise das Ereignis der Konfrontation mit bestimmten Formen einer Behinderung beschreibt? Denkt man beispielsweise an schwere Formen einer geistigen Behinderung oder an Autisten, die auf einen Grenzfall intersubjektiver Normalität verweisen (vgl. Meyer-Drawe 1993: 29), dann zeigt sich sehr deutlich, dass es hier zu jener schockartigen Erfahrung kommt, die im „Versagen der gewohnten Antworten“ ihren Ausdruck findet. Aber auch bei sehr auffälligen, sichtbaren Behinderungen kann es zu einer solchen Schockerfahrung kommen. Bestätigung findet diese Überlegung auch in den empirischen Untersuchungen Cloerkes’: „Bei Nichtbehinderten mit seltenen Kontakten zu physisch abweichenden Personen kann eine plötzliche Konfrontation durchaus die Qualität eines Schocks erreichen.“ (Cloerkes 1979: 413) Unter dem Hinweis auf die Studie von Jansen (1972) merkt Cloerkes in diesem Kontext jedoch ebenso an, dass auch „Personen mit jahrelangen intensiven beruflichen Kontakten zu Körperbehinderten bekannten, durchaus nicht frei von Reaktionen wie Abscheu, Ekel und Unsicherheit zu sein […]“ (ebd.: 412). Was Waldenfels als ein Stocken der Erfahrung bezeichnet, beschreibt Cloerkes so, dass das „Ausmaß widerstreitender Emotionen bei einer unvorhergesehenen Begegnung […] mitunter zu einer kurzfristigen Handlungsunfähigkeit [führt]“ (ebd.).38 Er zitiert hierzu aus einer Tiefeninterviewstudie von Jansen mit ‚Nichtbehinderten‘: „Ich konnte immer nur die Armstümpfe sehen. Wie ein Kaninchen von der Schlange fixiert und gelähmt wird, mußte ich immer auf die Armstümpfe gucken.“ (Jansen 1972: 116) Anhand dieser Aussage wird sehr deutlich, was Waldenfels als ein Gelähmtsein angesichts einer schockartig eintretenden Auffälligkeit bezeichnet, als ein Stocken der Erfahrung. Die folgende Frage erübrigt sich zwar ein weiteres Mal nahezu von selbst, sie muss aber angesichts des inklusionspädagogischen Postulats der „Normalität der Verschiedenheit“ dennoch auch hier gestellt werden: Ist es tatsächlich genauso normal verschieden, wenn sich Mann und Frau bzw. Erwachsene und Kinder begegnen und wenn sich ‚Nichtbehinderte‘ und sichtbar oder auffällig ‚Behinderte‘ begegnen? Die Prämisse der Vielfalt als Normalfall verkennt völlig die unterschiedlichen Weckungskräfte des Aufmerksamkeitsgeschehens, die zu unterschiedlichen Erfahrungen und Konsequenzen führen können.

38 Dabei macht es für die Beurteilung der Lage allerdings einen Unterschied, wie und wo diese Emotionen verortet werden, in einem sogenannten Subjekt oder im Zwischenbereich von Auffallen und Aufmerken (vgl. hierzu 5.5.2).

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Diesem Geschehen des Zweitakts von Auffallen und Aufmerken (vgl. 5.3) können wir uns nicht entziehen, es handelt sich auch und gerade in der Konfrontation mit bestimmten Formen der Behinderung um ein pathisches Ereignis im Sinne eines Widerfahrnisses, das unsere Verfügungskräfte übersteigt, da das vertraute Wahrnehmungs- und Handlungsfeld hier auf besondere und überraschende Weise gestört wird: „Das erste Bemerken, bei dem etwas auffällt und sich dem Blick aufdrängt, ist noch kein Akt des Sehens […]“ (Waldenfels 2002: 197), so Waldenfels. Nicht ich bin es, der im Falle des Auffälligwerdens einer Behinderung etwas oder jemand vorzieht, sondern die Erfahrung selbst zieht vor (vgl. Waldenfels 2006: 91). Das Aufmerken vollzieht sich diesseits der Struktur von Wollen und Sollen, ebenso unterliegt das, was „uns zustößt und in den wechselnden Farben des Erschreckenden, Verwunderlichen, Verlockenden oder Beunruhigenden seine Wirkung entfaltet […] einer Norm, der wir zu folgen haben, noch stellt es einen Wert oder Unwert dar, der aus unserer Einschätzung erwächst“ (ebd.: 46). Die Norm der „Normalität der Verschiedenheit“ kollidiert im Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ aufs Heftigste mit den prä-normativen Ansprüchen der Erfahrung und Aufmerksamkeit, die sich niemals völlig kanalisieren und normalisieren lassen. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich Behinderungen jemals so weit normalisieren, dass es dieses spezifische Auffälligwerden nicht mehr gibt. Auch wenn sämtliche exklusiven Rückzugsräume für ‚Behinderte‘ abgeschafft würden: Zwar könnte sich der Umgang mit ‚Behinderten‘ bis zu einem gewissen Grad und potentiell normalisieren, aber eine körperliche Anomalie bleibt für den ‚Nichtbehinderten‘ immer noch eine Abweichung von gewöhnlichen und vertrauten Sehgewohnheiten, da ihm diese noch dazu am eigenen Selbst zutiefst leiblich eingeschrieben sind. Dies meint keine Wertung einer Behinderung im Sinne von gut oder schlecht, sondern es verweist auf die Ereignishaftigkeit der Erfahrung, auf ein amoralisches Pathos, das sich unserem Wollen oder Nicht-Wollen ebenso entzieht wie unserem Sollen oder Nicht-Sollen. Eine Normalisierung der Wahrnehmung von Behinderung im Sinne der „Normalität der Verschiedenheit“ erscheint zwar allein schon wegen der leiblichen und habitualisierten Eigenerfahrung des Körperlichen ausgeschlossen zu sein; damit untrennbar verbunden ist jedoch, dass dem nichtbehinderten Selbst im Konfrontationsereignis mit auffällig ‚Behinderten‘ schlagartig die Kontingenz seines eigenen leiblichen Daseins vor Augen geführt wird. Zu eben dieser Einschätzung gelangt auch Kastl, wenn er sagt, dass uns gerade im Anblick des Anderen die Kontingenz der eigenen Körperlichkeit bewusst wird (vgl. Kastl 2010: 83): „Unsere eigene (relative) Unversehrtheit, ja unsere körperliche Gestalt als solche ist keine Notwendigkeit, aber auch nicht Resultat einer freien Entscheidung.“ (Ebd.) Über beides einfach hinwegzusehen ignoriert nicht nur die Ansprüche der Erfahrung und des Auffälligwerdens, sondern auch den ‚Behinderten‘, dem seine Behinderung Ausgangspunkt der leiblichen Erfahrung von sich selbst und Anderen ist, sowie den ‚Nichtbehinderten‘, der

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hier auf pathische Weise von etwas getroffen wird, worüber er nicht selbst bestimmen kann. Die sogenannten originären und „sozialen Reaktionen“ im Kontext der Interaktion mit ‚Behinderten‘ setzen in eben diesem Zwischenbereich von Auffallen und Aufmerken ein, der sich nicht in der Struktur von objektivem Vorkommnis und subjektiven Akt abspielt. Diese Reaktionen, die zugleich mehr als und weniger als bloße Reaktionen sind, können sich in der Zu- oder Abwendung niederschlagen, wobei Zu- und Abwendung ebenso nicht dem Bereich des Gesagten und Subjektiven zuzuordnen sind, sondern im Antwortereignis selbst hervortreten. Es handelt sich auch bei Zu- und Abwendung zunächst immer noch um eine amoralische Situation diesseits von Können, Sollen und Wollen oder von Kognition und Emotion. 5.5.2 Einschätzung der „sozialen Reaktionen“ und der inklusionspädagogischen Blickhaltung Die Ausführungen zur Responsivität (vgl. 5.2) machen auf ein Geschehen aufmerksam, das sich diesseits kognitiver und/oder emotional-affektiver Zustände bzw. subjektiver Akte abspielt. Die Reaktionen gegenüber ‚Behinderten‘, seien sie originärer oder sonstiger Art, sind aus dieser Perspektive nie nur subjektiver bzw. affektivsubjektiver Natur oder Sache der Einstellung, sondern sie spielen sich als ein responsives Antwortereignis im prä-normativen Zwischenbereich des Auffallens und Aufmerkens bzw. des Antwortens auf fremde Ansprüche ab, einem Zwischengeschehen zwischen mir und Anderen (vgl. Waldenfels 2000: 288). Als ein solches Zwischengeschehen sind sie keine bloßen subjektiven Reaktionen auf Stimulusqualitäten, sondern Antworten im Sinne der „Response“, die auf fremde Ansprüche eingeht. Es gilt daher, auch und gerade im Kontext der Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘, von einer Responsivität auszugehen, „die in der Antwort auf Anderes und Fremdes das Selbst und das Selbsteigene übersteigt“ (Waldenfels 1994b: 71). Die originären und „sozialen Reaktionen“ dem affektivsubjektiven Bereich zuzuordnen, unterschlägt dieses Zwischengeschehen und verkürzt das zwischenleibliche Antwortgeben auf subjektive (kognitive, affektive oder konative) bzw. psychische (Erregungs-)Zustände (vgl. hierzu Cloerkes 1979: 411). Demgegenüber macht eine phänomenologische Sichtweise auf das intersubjektive Geschehen39 deutlich, „daß Gefühle keine […] bloßen Zustände sind, die dem Einzelnen zugeschrieben werden, etwa so: einer ist traurig, d.h. er befindet sich in einem Zustand, den man nach Bedarf auch messen kann, z.B. über den Blutdruck oder über Hormonausschüttungen“ (Waldenfels 2000: 289).40 Vielmehr lassen sich 39 Vgl. zur Intersubjektivität auch 5.2.1. 40 Ein solches Verständnis liegt unter anderem auch den originär-physischen Reaktionen zugrunde, die zum Beispiel über den Hautwiderstand gemessen werden (vgl. hierzu 5.4).

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Gefühle aus dieser Sicht auffassen „als die Art und Weise, sich auf die Dinge zu beziehen, und daran sind die Anderen von vornherein elementar beteiligt. Die Freude ist nicht ein Zustand, in dem ich mich befinde oder den ich herbeiführe, sondern ein Sichbefinden mit den Anderen in der Welt. Damit verlieren die Gefühle den Anflug bloßer Subjektivierung.“ (Ebd.) Das „Fühlen ist nicht bloß ein Zustand, in dem ich mich befinde, sondern es bringt mich mit Anderen in Kontakt, es ist auf Andere gerichtet und bezogen“ (ebd.: 326). Wie im Falle des Erotischen ist der Leib des Anderen auch in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ nicht ein Etwas, das durch bestimmte Eigenschaften bestimmte Reaktionen auslöst; vielmehr gibt es ein „Sichrichten auf den anderen Leib, das über die bloße Vorstellung hinausgeht“ (ebd.). Ist der Leib des Anderen im Falle des Erotischen „das Woraufhin eines Begehrens, das sich unmittelbar auf den anderen Leib richtet, dessen Nähe sucht, dessen Ferne verspürt“ (ebd.: 327), scheint es sich nach Lage der Dinge im Falle des Leibes, der von einer körperlichen Anomalie gezeichnet ist, nicht um das Woraufhin eines Begehrens zu handeln, sondern eher um ein Woraufhin des Fliehens. Auch dieses ist unmittelbar auf den anderen Leib gerichtet, weshalb es umso stärker in Erscheinung tritt. Dieses zwischenleibliche Geschehen trifft nicht nur auf das Fühlen, sondern auch auf das Handeln zu, das sich nach Waldenfels mit dem Begriff der Synergie charakterisieren lässt: „‚Synaisthesis‘ heißt wörtlich Mit-wahrnehmen und dies bezogen auf die verschiedenen Sinnesmodalitäten. ‚Synergie‘, heißt wörtlich Mit-tätigkeit (ergon = Werk, Tätigkeit). […] Synergie im Handeln bedeutet ein Ineinandergreifen von eigenem und fremdem Tun. […] Synergie bedeutet jedoch keine Verkoppelung individueller Apparate, sondern sie besagt wiederum, daß das Handeln sich zunächst in einer Zwischensphäre abspielt, in der ich nicht eindeutig entscheiden kann, was auf Konto meiner Handlung und was auf Konto einer fremden Handlung geht. Entscheidend ist, daß das Zwischen sich differenziert und nicht aus Einzelleistungen zusammensetzt.“ (Ebd.: 289f.)

Grundlegend für diese Sichtweise ist die Annahme einer „gelebten Gemeinsamkeit“, einer Ebene, „die der ausdrücklichen Gemeinschaftsbildung durch Vertrag oder Einführung von Regeln vorausliegt. […] Husserl spricht von einer vorprädikativen Erfahrung. Prädikation heißt, daß ich etwas über etwas aussage, daß ich Stellung nehme, daß ich mit Ja und Nein antworte, während die vorprädikative Erfahrung noch viel flüssiger abläuft. Sie bewegt sich in Sinnzusammenhängen, die noch nicht aus aktiven Stellungnahmen hervorgehen. Wahrnehmen heißt nicht urteilen, sondern es besagt, daß etwas vor meinen Augen, vor meinen Ohren und unter meinen Händen Gestalt gewinnt. Dies läßt sich auf den sozialen Bereich übertragen: es gibt eine vorinstitutionelle Gemeinsamkeit und eine solche, die durch Satzungen und Regelungen

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zusammengehalten wird. Aufmerksamkeit läßt sich nicht auf gleiche Weise einklagen wie eine ausstehende Zahlung.“ (Ebd.: 291f.)

Ebenso wenig wie das Wahrnehmen sind auch die „sozialen Reaktionen“, die sich auch als originär-physische Reaktionen äußern, weder irrational noch nur individuell-affektiv (vgl. hierzu Cloerkes 1979: 91ff., 495). Auch hier gewinnt ja etwas Gestalt in der Wahrnehmung selbst, die als solche stets bereits sinnhaft ist. Nur verhält es sich im Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ so, dass diese primordiale Sphäre der Intersubjektivität hier auffällig wird, wohingegen sie ansonsten zumeist als unauffälliger Hintergrund unseres miteinander Umgehens fungiert. Ebenso wenig wie sich die Aufmerksamkeit einklagen lässt, lässt es sich verhindern, dass jemandem etwas oder jemand auffällt. Unbestritten handelt es sich bei der Konfrontation mit ‚Behinderten‘ um ein affektives Wirkgeschehen; der „emotional-affektive Aspekt“ ist aber nur dann „als bedeutsamster Bestimmungsfaktor für die soziale Reaktion auf Behinderte […]“ (Cloerkes 1979: 92) anzusehen, wenn er nicht einseitig in ein Subjekt verlagert wird, sondern als ein Antworten auf den Anspruch des Fremden betrachtet wird, das sich nicht in der klassischen Struktur von objektivem Vorkommnis und subjektivem Akt vollzieht, sondern als Ausdifferenzierung eines gemeinsamen, vorprädikativen Feldes. Eine phänomenologische Betrachtung des intersubjektiven Geschehens der Begegnung zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ bewahrt davor, die originären Antworten auf ‚Behinderte‘ zu subjektivieren. Cloerkes identifiziert diese Begegnungen zwar als „pathologisch“ und deckt den Konflikt zwischen originären und sozial erwünschten Reaktionen auf. Ebenso stellt er die originären Reaktionen als „unbewusst“ und „irrational“ heraus; er überantwortet sie damit jedoch letztlich wiederum einseitig dem affektiv-individuellen Bereich bzw. dem Subjekt. Es geht bei den originären Reaktionen zunächst jedoch noch nicht darum, dass diese „Distanz schaffen sollen“ (Cloerkes 2007: 106). Gegenüber dieser Subjektivierung wären die originären Reaktionen aus der hier gewählten Perspektive als ein leibliches und responsives Antwortverhalten zu verstehen, das sich nicht einseitig dem Subjekt zurechnen lässt. Die originären Reaktionen zielen noch nicht auf etwas ab, sondern sie sind Ausdruck eines Infragegestelltseins angesichts des pathischen Konfrontationsereignisses. Den stellungnehmenden sozialen Reaktionsformen, die sich in einem Ja oder Nein bekunden, geht ein vorgängiges Ja voraus, ein Anspruch, auf den man unweigerlich antworten muss. Zur Veranschaulichung der Wahrnehmung einer Behinderung sind in diesem Zusammenhang zwei Blickarten aufschlussreich, die Waldenfels anhand einer Episode der Figur des Herrn Palomars von Italo Calvino verdeutlicht – der „Blick ins Leere“ sowie der „überfliegende Blick“:

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„Herr Palomar geht müßig den Strand entlang und stolpert dabei über das Tabu der Nacktheit. Ein ‚nackter Busen‘ ist es, an dem sein Blick hängenbleibt. Diesem ‚Partialobjekt‘, in dem sich ein weibliches Wesen verkörpert, sucht er so gut wie möglich gerecht zu werden. Er versucht es in vier Anläufen. Zunächst läßt er seinen Blick ins Leere gleiten; er verspricht sich davon eine ‚bürgerliche Achtung vor der unsichtbaren Grenze, die Personen umgibt‘. Doch alsbald ist ihm klar, daß das Wegsehen ein Hinsehen einschließt, wenn auch nur eines aus den Augenwinkeln, und ihm wird bewußt, daß das Sehbegehren anwächst, je mehr es verdrängt wird.“ (Waldenfels 2006: 96f.)

Dieses „Hängenbleiben“ des Blicks dürfte den meisten Menschen bekannt sein, wenn sie einem sichtbar ‚Behinderten‘ begegnen. Die verinnerlichte Sehtradition, ‚Behinderte‘ nicht über das gewöhnliche Maß hin anzusehen, führt sicherlich ebenso häufig zu dem „Blick ins Leere“, wie das daraufhin einsetzende Gefühl eines Anwachsens des Sehbegehrens. Auch der „überfliegende Blick“ steht paradigmatisch für diese Situation: Nachdem Herr Palomar mit einem „fixierten Blick“ versucht hat, sich dem weiblichen Partialobjekt auf gebührende Weise zu nähern 41, entschließt „der gutwillige Voyeur sich zu einem überfliegenden Blick, der mit unvoreingenommener Sachlichkeit das heikle Sehobjekt umkreist und, sobald er bei ihm angekommen ist, stockt, zusammenzuckt, auf eine zugleich ausweichende wie schonende Distanz geht und schließlich weitergleitet, ‚als sei nichts gewesen‘. Mißlich ist nur, daß dieser despektierliche Blick, der von oben herab kommt, den weiblichen Busen geringschätzt und somit abermals die nötige Achtung vermissen läßt.“ (Ebd.: 97)

Auf treffliche Weise ist hier die von Cloerkes in den Fokus gestellte Irrelevanzregel beschrieben, demnach man in der Begegnung mit sichtbar ‚Behinderten‘ gehalten ist, „so zu tun, als existiere ihr Handicap gar nicht, als sei es ‚irrelevant‘“ (Cloerkes 2007: 122); eine Haltung, die von Herrn Palomar als despektierlich und geringschätzend eingestuft wird. Nach Cloerkes kommt es zum Ambivalenzkonflikt zwischen originären und offiziell erwünschten Reaktionen (vgl. 5.4.4). Er geht davon aus, dass das „eine […] 41 Die Gefahr des „fixierten Blicks“, dem „es an Diskretion fehlt“ und der „die Andere auf die Ebene bloßer Dinge herabzudrücken droht“ (vgl. Waldenfels 2006: 97), ist immer dann vorhanden, wenn nur noch etwas beachtet, aber nicht mehr auf etwas oder auf jemanden geachtet wird. Ohne die Notwendigkeit diagnostizierender Feststellungen anzuzweifeln: Latent ist diese Gefahr hier immer gegeben. Sie wird immer dann virulent, wenn die „ethische Dimension des Sehens ausgeblendet“ (Rösner 2002: 208) wird, ohne dass es an dieser Stelle um eine Moralisierung der Sinne geht (vgl. Waldenfels 2000: 388).

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keineswegs das andere [ersetzt], sondern beide bestehen nebeneinander!“ (ebd.: 121). Es stimmt, dass die normativen Erwartungen die originären Reaktionen nicht ersetzen können. Die Verinnerlichung der ‚Sehtradition‘, ‚Behinderte‘ nicht ‚anzustarren‘, beginnt bereits im Kleinkindalter. So wird bereits dem kleinen Kind mitgeteilt wird, es dürfe ‚da nicht hinsehen‘. Wenn die ‚Sehtradition‘, ‚Behinderte‘ nicht anzusehen, bereits ab dem Kleinkindalter jedoch so sehr verinnerlicht wird, ist davon auszugehen, dass sie die Wahrnehmung mit durchzieht. Es ist daher nicht von einem „Nebeneinander“ der originären Reaktionen und der „sozial erlaubten Haltung“ auszugehen (vgl. ebd.), sondern von einem Ineinander-verschränkt sein. Allerdings, und dies ist nun entscheidend für die einsetzende Beunruhigung, ersetzen die normativen Erwartungen nicht bloß nicht ‚unsere‘ originären, psychischen Reaktionen, sondern die Fremdansprüche der Erfahrung widersetzen sich derartigen Appellen. Anhand dieser Begegnungen wird sehr deutlich, dass der Anspruch des Fremden stärker ist als jeder normative Appell; zugleich tritt der Anspruch des Fremden früher auf als jeder normative Appell, aber jegliches Wahrnehmen unterliegt immer auch kulturellen Deutungsschemata. Die auftretende Verhaltensunsicherheit hat sicherlich auch mit dem Wirken der Irrelevanzregel oder den mangelnden Interaktionserfahrungen zu tun. Cloerkes rückt berechtigterweise ebenso den Ambivalenzkonflikt in den Mittelpunkt seiner Analysen. Das Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ bedeutet zunächst jedoch noch keinen normativen oder psychisch-subjektiven Konflikt. Der Ambivalenzkonflikt tritt nicht erst als ein „normativer Konflikt“ (vgl. Cloerkes 1979: 490) auf, also nicht erst dann, nachdem man sich der Unmöglichkeit bewusst geworden ist, die angesprochene Irrelevanzregel zu befolgen. Ebenso wenig lässt sich die auftretende Beunruhigung als rein psychischsubjektives Phänomen bzw. als Reaktion auf eine bestimmte Qualität eines Stimulus deuten. Der Ambivalenzkonflikt tritt vielmehr bereits auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung auf, das heißt, in einem Zwischenbereich zwischen mir und Anderen. Es handelt sich um jenes prä-reflexive Auffallen und Aufmerken, das jeder Willensausrichtung vorausgeht. Das Antworten vollzieht sich, als leiblich-präreflexives Antworten, zwischen dem ‚behinderten Partialobjekt‘ und den eigenen ‚Blickübungen‘. Die Fremderfahrung, das sinnliche Wahrnehmen selbst, ist im Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ bereits in höchstem Maße ambivalent und wird als bedrohlich und verlockend zugleich erfahren. Dies hat mit einer „Entregelung der Sinne“ zu tun (vgl. Waldenfels 1987: 181; 1999b: 10), die im Falle dieser Begegnungen besonders stark einsetzen kann. So gibt es eine „Heteroästhesie, die als ‚Entregelung aller Sinne‘ (Arthur Rimbaud) in der aisthesis wirksam ist. Wir sind niemals so völlig bei Sinnen, daß wir nicht in ‚Schwellenerfahrungen‘ (Walter Benjamin) außer uns geraten können.“ (Waldenfels 1999b: 2) Kommt es zu solchen Einbrüchen des Fremdartigen respektive Schwellenerfahrungen, in denen man jeweils ein Anderer wird, versagen die gewohnten Regelungen. Im Kontext der

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Wahrnehmung von auffällig ‚Behinderten‘ wäre hier als Beispiel eben der Blick anzuführen, der in der Regel ungestört dahingleitet, oder auch die Kommunikation, die sich für gewöhnlich primär als ein verbal-sprachliches Geschehen abspielt. Die Ambivalenzerfahrung macht sich nicht erst auf einer kognitiv-reflexiven oder rein psychischen Ebene bemerkbar, sondern bereits „im Bereich der Sinne […] in Form von Abweichungen, Störungen, Beunruhigungen […], in all dem, was aus dem Rahmen fällt, den uns eine autonome Ästhetik vorgibt“ (ebd.: 14f.). Hierbei handelt es sich um ein zutiefst leiblich verankertes, prä-normatives Geschehen im Zwischenbereich von Eigenem und Fremdem. Dies zeigt sich auch daran, dass alle Affekte wie Staunen, Verwunderung, Angst, Erschrecken, Entsetzen und Ekel darauf hindeuten, dass man dort, wo Fremdartiges aufbricht, die Initiative verliert (vgl. Waldenfels 1987: 159). Die Affekte sind also „gemeinhin umgeben von einer besonderen Aura der Leiblichkeit“ (Waldenfels 2006: 83). Die Register des Leibes treten je nach Qualität der Erfahrung in unterschiedlicher Manier zu Tage, von Schwindelgefühlen bis hin zur Lähmung und dem Ekel, wobei letzterer wie kein anderer Affekt „so aus den Tiefen der Eingeweide des Menschen […] [kommt]“ (Liessmann 1997: 102). Die sogenannten sozialen und originären Reaktionen gegenüber ‚Behinderten‘ sind damit nicht einem Subjekt zuzuordnen, sondern dieses tritt gerade auch in der Begegnung mit auffällig ‚Behinderten‘ besonders stark als Patient und Respondent in Erscheinung. Im Bereich des Auffallens und Aufmerkens kann nicht entschieden werden, was auf wessen Konto geht. Das Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ wäre damit zunächst noch nicht als „pathologisch“ einzuschätzen, sondern als eine pathische Erfahrung zu charakterisieren. Auch und gerade die Begegnung mit ‚Behinderten‘ stellt eine Aufforderungssituation dar, bei der „das Eingehen auf die Aufforderung, das Antworten darauf kein Akt ist, den ich aus freien Stücken ausführe. Es beginnt mit dem Ereignis, daß mir etwas entgegentritt, mich anreizt, mich lockt […]. Dieser Anreiz steht nicht in meiner Macht, sondern er ist etwas, worauf antwortend ich überhaupt in Aktion trete. […] Schon die Wahrnehmung beginnt damit, daß mir etwas auffällt, auf das ich eingehe.“ (Waldenfels 2000: 377)

Auch die Fremderfahrung „beginnt weder mit dem guten noch mit dem bösen Willen, eben weil es [das Fremde als Pathos; Anm. P.S.] jene Sinnerwartungen und Regelvorbehalte, von denen der Wille sich nährt, durchbricht. Pathos ist nicht bloß das Unwillentliche, sondern das nicht Wollbare.“ (Waldenfels 2006: 54f.) Aufmerksam macht diese Perspektive deshalb darauf, dass dem häufig anzutreffenden ‚Anstarren‘ von ‚Behinderten‘ ein antwortendes Sehen vorgelagert ist, das keinen intentionalen Akt bedeutet, wobei mehr als fraglich ist, ob das ‚Anstarren‘ in diesem Fall selbst überhaupt einen solchen Akt darstellt:

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„Ähnlich wie beim Hören stoßen wir auf ein Ereignis: etwas fällt in den Blick, fällt mir auf. Was im Blick geschieht, ist mehr als ein Sehakt, den ich vollziehe. Wir leben in einem Blickfeld, das heißt nicht: da gibt es Subjekte, die Akte vollziehen, die hingucken, weggucken und die Sache steuern. Sehakte gehen immer schon auf bestimmte Arten von Normalisierung und Aneignung zurück, durch die der ‚wilde‘ Blick gebändigt wird.“ (Waldenfels 2000: 387)

Vielmehr beginnt das Sehen damit, „daß etwas sichtbar wird und an unser Sehen appelliert. […] Wenn etwas mir auffällt, so ist dies kein Akt, den ich vollziehe. […] ‚Etwas fällt mir auf‘ heißt nicht: am Anfang steht ein Akt der Beobachtung, sondern in der Beobachtung versuche ich das, was mir auffällt, zu bestimmen, es einzukreisen.“ (Ebd.: 387f.) Der Blick bedeutet keinen subjektiven Akt, „er bedeutet auch kein Ereignis, das ihm zustößt, sondern er gehört zu jenen Zwischenereignissen, in denen etwas auftritt, indem es an Fremdes anknüpft. Pathische und aktive Momente sind im Blick auf unzertrennliche Weise miteinander verquickt.“ (Waldenfels 1994a: 505) Wie auch Cloerkes feststellt, drängt sich eine Behinderung geradezu auf und zieht die „totale Aufmerksamkeit des Nichtbehinderten auf sich […]“ (Cloerkes 2007: 122), und dies geschieht auf unvermeidliche Weise. Das antwortende Sehen, das nicht von einem Sehenden ausgeht, lässt sich nicht vermeiden. Gerade an diesem Blickgeschehen zeigt sich sehr deutlich, dass die inklusionspädagogische Annahme und Forderung der „Normalität der Verschiedenheit“ einem Subjektivismus frönt und unterliegt, an dem der Einzelne immer wieder nur scheitern kann. Dem Einzelnen wird mit dieser Sichtweise eine Macht zugeschrieben, die über jegliches Pathos erhaben zu sein scheint. Zugleich wird von ihm jedoch auch vehement eingefordert, dass er dieser vorgeblichen Macht, in deren Besitz er nicht ist, auch konkrete Taten im Handeln folgen lässt. Er oder sie soll jeden einzelnen Menschen nur noch als individuell und normal verschieden wahrnehmen dürfen. Von einem antwortenden Sehen, pathischen Einbrüchen in die Erfahrung und einem Infragestelltwerden durch fremde Ansprüche ist im inklusionspädagogischen Denken keine Spur mehr zu erkennen. All dies soll im Zielzustand der Vielfalt als Normalfall der Vergangenheit angehören. Demgegenüber verhelfen die voranstehenden Überlegungen zu der Erkenntnis, dass es gilt, den Blick zu entsubjektivieren und damit anzuerkennen, dass nicht wir es sind, die autonom darüber entscheiden könnten, wer oder was und wie es uns auffällt und wie es uns vielleicht beliebt. Um ein bloßes ‚Anstarren‘ von ‚Behinderten‘ geht es mit dieser Perspektive ganz sicherlich nicht, wohl aber um ein Anderssehen, „ein Blicken, das nicht nur etwas beachtet, sondern auf etwas achtet“ (Waldenfels 1994a: 532). Es ist beispielsweise nicht davon auszugehen, dass Kinder bis zum Alter von drei Jahren bewusst ‚starren‘, vielmehr zeigen sie einen recht unbefangenen Umgang mit fremdartigen Wahrnehmungen (vgl. Cloerkes 2007: 119), der sich in eben diesem antwortenden Sehen äußert. Wie Cloerkes schlüssig aufzeigt, kommt es im Laufe der So-

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zialisation zu überformten Reaktionen, die lediglich eine Scheinakzeptierung bewirken (vgl. 5.4.4). Dies geschieht eben auch aus dem Grund, dass sich ein antwortendes Sehen, das auf Fremdansprüche antwortet, nicht vermeiden lässt. Die RückSicht auf den fremden Blick – und damit ein Anderssehen – erfordert daher auch die Möglichkeit und das Zulassen eines antwortenden Sehens. Ein solches antwortendes Sehen soll durch die inklusionspädagogische Prämisse der Normalisierung der Differenz des Normalen und Anomalen jedoch sowohl regelgerecht wie auch regelrecht verhindert werden, womit die nicht vorhandene Freiheit eines subjektivierten Blickens gegenüber bisherigen Ansätzen, wie dem der Integration, nochmals auf die Spitze getrieben wird. Die pädagogische Inklusionsidee ist aus dieser Perspektive auch als eine neuartige Blickhaltung zu beurteilen, die von jeglichem Pathos befreit und mit der jegliches Fremdartige endgültig und endlich überwunden wäre. Der alles umfassende Blick, der mit der pädagogischen Inklusionsidee anvisiert ist, konnte bereits als völlig illusionär und ideologisch motiviert identifiziert werden (vgl. Kap. 4). Auch Herr Palomar zieht diesen „umfassenden Blick“, der ganz im Zeichen der inklusionspädagogischen Blickweise steht, indem er „gleichsam alle Welt umarmt“ (Waldenfels 2006: 97), als einen letzten Versuch in Erwägung, sich dem Sehobjekt mit der notwendigen Achtung zu nähern: „Diesmal wird sein Blick, der flüchtig über die Landschaft dahin streicht, mit besonderer Achtsamkeit (riguardo) bei dem Busen verweilen, aber er wird sich beeilen, den Busen sogleich in eine Woge von Sympathie und Dankbarkeit für das Ganze mit einzubeziehen: für die Sonne und für den Himmel, für die gekrümmten Pinien, die Düne und den Sand, für d ie Klippen, die Wolken und die Algen, für den Kosmos, der um jene aureolenverzierten Knospen kreist.“ (Ebd.)

Wie reagiert die so Betrachtete auf diesen allumfassenden Blick? Sie „hat nicht viel übrig für diesen alles versöhnenden kosmischen Blick. Sie wirft sich ein Handtuch über und schüttelt den lästigen Betrachter ab ‚mit einem verärgerten Achselzucken‘, das alles mögliche ausdrückt, jedenfalls keine Blickerwiderung.“ (Ebd.: 97f.) Herrn Palomars Fazit fällt ernüchtert aus: „Das tote Gewicht einer Tradition schlechter Sitten verhindert die gebührende Einschätzung noch der aufgeklärtesten Intentionen […]“ (ebd.: 98). Der Betrachteten wird bewusst, „daß kein Blick umfassend genug ist, um sich den An-blick des Einzelnen einzuverleiben. Die ‚Einbeziehung des Anderen‘ scheitert schon auf der Ebene des Blicks.“ (Ebd.) Der inklusionspädagogische Ansatz gibt geradezu vor, dem oder der Anderen durch eine völlige Einbeziehung in ein Ganzes gerecht zu werden, was für die hier Betrachtete aufgrund dieser Zudringlichkeit und Übergriffigkeit nichts weniger als eine ärgerliche Tatsache darstellt. Hinzu kommt, dass dieser überfliegende Blick, indem er alles gleichermaßen und unter gleichem Maßstab wertschätzen will, eben jenen Blick verkennt, der ihm

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als singulärer Blick entgegenblickt. Der Einzelne erfährt somit letztlich eine ungewollte Degradierung auf einen Objektstatus. Anhand dieser Episode wird jedoch auch deutlich, dass sich Herr Palomar in ein Blickgespräch einübt, „das nur durch Abbau einer Sehtradition zu erreichen ist“ (Waldenfels 1994a: 531), so Waldenfels an anderer Stelle. Damit ist kein „dekonstruktivistisches Sehen“ gemeint (vgl. ebd.) und eben so wenig der Aufbau einer neuen Sehtradition, zu der es nach der pädagogischen Inklusionsidee mit der Blickhaltung der „Vielfalt als Normalfall“ kommen soll: „Herr Palomar trachtet vielmehr nach einer Form des Anderssehens, die nicht zu erreichen ist, wenn man methodisch von allem Störenden absieht oder es auf sublime Weise übersieht. Im ersten Falle bliebe das Sehen auf ‚partiale Objekte‘, im anderen Falle aufs Ganze gerichtet“ (Ebd.) Beides würde die weibliche pars pro toto missachten (vgl. ebd.: 531f.), beides trifft jedoch so besehen unverkennbar auf das inklusionspädagogische Denken zu. Zum einen tangiert dieses Denken die „Haltung eines libidofreien Alltagsforschers, der nur noch mit schmalem Blick beobachtet und von allem Anstößigen absieht […]“ (ebd.: 531), indem das intersubjektive Geschehen nur noch rein normativ betrachtet und eine solche Haltung vom Einzelnen im praktischen Handeln zugleich vehement eingefordert wird; zum anderen bringt es die „Haltung eines Alltagsvisionärs […]“ (ebd.) zum Ausdruck, „der mit weitgeöffneten Augen schaut und alles Heikle übersieht“ (ebd.). Die ‚Sehtradition‘, ‚Behinderte‘ nicht anders als alle anderen Menschen anzublicken, wird mit dem inklusionspädagogischen Ziel der Normalisierung des Fremd- und Andersartigen bis zum Äußersten getrieben. Diese normativen und präskriptiven Appelle, ‚Behinderten‘ ‚richtig‘ zu begegnen, greifen angesichts der pathischen Dimension dieses Ereignisses nicht nur zu kurz, sondern das Pathos untergräbt diese normativen Ansprüche geradezu. Es lässt sich weder disziplinieren noch kanalisieren. Gerade anhand der Kluft zwischen dem normativen Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes und der Erfahrungswirklichkeit einer Behinderung, zeigt sich, dass der Mensch nicht auf Gesolltes festgelegt ist, sondern im Antworten selbst eine gewisse Freiheit besteht, auch wenn sich diese zur Hybris steigern kann. Zugleich verhindern eben diese normativen Ansprüche ein Anderssehen, das den fremden Blick mitbeachtet, ein Blicken also, das nicht nur etwas beachtet, sondern auf etwas oder auf jemanden achtet und insofern eng mit der Rücksicht, dem Respekt verbunden ist (vgl. Waldenfels 2006: 103). Das inklusionspädagogische Denken gibt zwar vor, den Anderen in seiner individuellen Verschiedenheit zu achten; genau hierin liegt jedoch das Problem, da der Andere nur noch als verschieden, nicht mehr aber als fremdartig auftreten darf und diese Verschiedenheit zugleich immer auf ein Ganzes bezogen gedacht ist, der Vielfalt als Normalfall. Es ist nicht mehr der fremde Blick, der hier Beachtung und Achtsamkeit erfährt, sondern über allem thront die normative Idee der Gleichheit und der „Normalität der Verschiedenheit“, die den fremden Blick missachtet. Mit dem Blick, der den

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fremden Blick achtet, geht es nicht darum, die Sinne zu moralisieren, sie einzugemeinden oder zu disziplinieren (vgl. Waldenfels 2000: 388). Dieser Blick erfordert vielmehr eine Offenheit für den Anspruch des Anderen und dieser ist früher „als alle Normen, Werte und Beurteilungen, als alles Pochen auf Geltungen“ (ebd.: 389). Fazit Dieses Zwischengeschehen von Auffallen und Aufmerken erweist sich im Kontext von Behinderung als eine pathische Fremderfahrung par excellence. Der Ansatz der „sozialen Reaktionen“ thematisiert viele, wichtige Wirkfaktoren dieses Geschehens; das Geschehen selbst bekommt diese Zugangsweise jedoch nicht in den Blick, insofern es letztlich als eine Problematik „widersprüchlicher Normen“ verstanden wird (vgl. Cloerkes 2007: 118ff.) und die „Reaktionen“ allzu sehr im subjektivaffektiven Bereich eines Subjekts verortet werden. Demgegenüber lassen sich die „Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ zunächst als ein pränormatives und responsives Antworten verstehen, die sich im Zwischenbereich von Auffallen und Aufmerken, Pathos und Response, fremdem Anspruch und eigener Antwort bewegen. Mit der pädagogischen Inklusionsidee und seit ihrem diskursiven Wirken erfahren die wichtigen Erkenntnisse und Analysen zur Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘, die vor allem auf Cloerkes zurückgehen, nahezu keine Beachtung mehr im disziplinären und gesellschaftlichen Diskurs über Behinderung. Diese Idee hat sich endgültig vom sinnlichen ‚Bathos der Erfahrung‘ verabschiedet, indem sie die Dimension der Intersubjektivität nur noch als ein normatives Wirkgeschehen begreift. Der Mensch ist in ihrer Perspektive ein normativ „festgestelltes Tier“, als das er Geltungsansprüche bloß noch zu befolgen braucht, ohne durch Ansprüche des Fremden in Frage gestellt zu sein, beunruhigt und verunsichert zu werden. Aus der Perspektive der pädagogischen Inklusionsidee ist das allerdings nur konsequent, da intersubjektive Prozesse aufgrund der gesetzten Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ nicht mehr abseits normativer Ansprüche thematisierbar werden. Die sozialkonstruktivistische Sichtweise dieses Ansatzes auf Behinderung verunmöglicht einen Zugang zur Problematik der Wertschätzung und Anerkennung, der die Ebene der Erfahrung auch nur irgendwie mit berücksichtigen würde und könnte. Wird eine solche Perspektive auf Behinderung angesetzt, dann ist es nur zu verständlich, dass das Subjekt die Macht erhält, sich alles Fremdartige vom Leibe zu halten, die es allerdings im konkreten Handeln dann auch um- und einsetzen muss. Zulässige Antworten sind bloß noch diejenigen, die sich im Denkraum der normativen und normalen Verschiedenheit bewegen, nicht mehr aber solche, die auf Fremdartiges, Andersartiges, Widerständiges antworten und das Eigene herausfordern und in Frage stellen. Aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden ist das Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen abschließend nun als eine spezifische Fremderfahrung zu erörtern, die zu einem ge-

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steigerten Entzug des eigenen Selbst führt und die sich zwischen der Ambivalenz von Attraktion und Repulsion abspielt. Sowohl die psychologischen als auch die soziologischen Erklärungsansätze der „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ (vgl. 5.4.4) setzen jeweils ‚zu spät‘ an, um die Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ ihrer ereignishaften Dimension der Fremderfahrung zugänglich zu machen. 5.5.3 Das Phänomen der Behinderung zwischen Attraktion und Repulsion Um das Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ als eine spezifische Entzugserfahrung des eigenen Selbst kenntlich zu machen, ist es vorweg notwendig, nochmals auf das Phänomen der Aufmerksamkeit zurückzugreifen. So geht mit den Weckkräften der Aufmerksamkeit eine Polarität von Anziehung und Abstoßung aufseiten des Auffälligen einher, der aufseiten des Aufmerkenden eine Polarität von Zuwendung und Abwendung entspricht (vgl. Waldenfels 2004: 99). Auch bei Anziehung und Abstoßung handelt es sich nicht um „Wertqualitäten“ im Sinne von beispielsweise Stimuli- oder Reizqualitäten, sondern um „Kräfte in actu, die als Wirkkräfte nur in ihren Wirkungen faßbar sind. Diese Wirkungen sind die der Zu- und Abwendung, des Suchens und Fliehens, die den Zug- und Stoßkräften eine eigenständige Wendekraft entgegensetzen.“ (Ebd.) Um dieses Wirkgeschehen der Aufmerksamkeit zu verstehen, ist zum einen zu klären, wie sich die Pole des Kräftepaars von Anziehung (Attraktion) und Abstoßung (Repulsion) sowie der einsetzenden Zuwendung und Abwendung jeweils zueinander verhalten; zum anderen ist zu klären, in welchem Verhältnis diese beiden Funktionspaare zueinander stehen. Bei Anziehung und Abstoßung handelt es sich nicht um Kraft und Gegenkraft im Sinne eines bloßen Kräftevergleichs oder gar Kräfteausgleichs und ebenso wenig um ein bewertendes Ja und Nein (vgl. ebd.). Es handelt sich zwar um ein Ja und Nein, doch dieses entspringt „keiner Bewertung oder Normierung, die ein Subjekt in eigener Regie vornimmt, es geschieht, indem ich mich zu- oder abwende“ (ebd.). Die Zu- und Abwendung stellt ein Ereignis dar, das jeder ausdrücklichen und persönlichen Stellungnahme vorausgeht. Waldenfels bezeichnet diese Ereignishaftigkeit der Zu- und Abwendung als einen unhintergehbaren, naturgeschichtlich vorbereiteten Vorgang, in dem sich Wohl- und Missbefinden ausdrückt (vgl. ebd.). Wie er sagt, gäbe es „ohne eine solche Lebenslust und Lebensunlust […] kein leibliches und lebendiges Selbst“ (ebd.). Das nicht-voluntative Ja und Nein tritt zudem nicht als ein Gegensatz auf. Wie thematisiert, ist die Erfahrung des Fremden von einer Ambivalenz geprägt; sie tritt als verlockend und bedrohlich zugleich hervor: „Pathische Ereignisse haben nie nur etwas Verlockendes, sondern immer auch et-

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was Erschreckendes und Gefährdendes, das einen Abwehrreflex auslöst und bei dem es um die leibliche Integrität geht und nicht nur um ein Wohlbehagen oder Mißbefinden.“ (Ebd.: 136) Die anziehenden und abstoßenden Kräfte wirken in ein und demselben pathischen Ereignis zusammen (vgl. Waldenfels 2002: 197). Diese Ambivalenz des amoralischen Pathos geht jeder binären Kodierung in ein bewertendes Ja oder Nein voraus. Anziehung und Abstoßung sowie Zuwendung und Abwendung verschränken sich jeweils, da „dem Verlockenden Abstoßendes, dem Abstoßenden Verlockendes beigemengt ist […]“ (Waldenfels 2004: 99). Waldenfels macht diese Ambivalenz an Platons Beispiel der Nekrophilie deutlich. In diesem Beispiel wird jemand von dem Anblick der Leichen so angezogen, dass er zugleich Lust bekommt, sie zu sehen, zugleich aber auch Abscheu empfindet und sich abwendet (vgl. Waldenfels 2002: 197). Dieser „Seelenkampf“ endet mit einem Sieg der Sehbegierde (vgl. ebd.). Noch bevor es jedoch zu einem gezielten Hinsehen kommt, bemerkt hier jemand die Leichen: „Das erste Bemerken, bei dem etwas auffällt und sich dem Blick aufdrängt, ist noch kein Akt des Sehens, der aus dem Kampf hervorgeht, sondern eine Bi-affektion.“ (Ebd.) Mit dem Zusammenwirken von Attraktion und Repulsion in ein und demselben Ereignis geht eine Zu- und Abwendung zugleich einher. Das Zusammenwirken beider Seiten spielt sich als ein Zwischenereignis ab, in dem es zu einem Komplex aus Entzug, Anziehung und Abstoßung kommt (vgl. ebd.: 198). Beide Seiten, die der Attraktion und Repulsion sowie die der Zu- oder Abwendung, treten sich nicht einfach als Objekt und Subjekt gegenüber: „Sowenig das Auffälligwerden, das seine Attraktions- und Repulsionskräfte ausspielt, einen bloß objektiven Vorgang darstellt, sowenig ist die Zu- oder Abwendung als ein rein subjektiver Erkenntnis- oder Willensakt zu betrachten.“ (Waldenfels 2004: 100) Zwischen beiden Seiten besteht vielmehr ein beidseitiger, gebrochener Zusammenhang (vgl. ebd.). Anders gesagt: „Die Zu- und Abwendung ist als Autokinese mit Momenten einer Heterokinese durchsetzt, die Eigenbewegung bedeutet zugleich ein Bewegtwerden. Mein Machen ist ein Mitmachen, und dies nicht nur dort, wo ich Verlockungen nachgebe, sondern auch dort, wo ich ihnen mein Nein entgegensetze. In diesem Sinne bilden Zug- und Stoßkräfte einerseits, Wendekräfte andererseits ein widerstreitendes Gefüge aus Fremdkraft und Eigenkraft, aus Ichstärke und Ichschwäche, wobei die entscheidende Ichstärke eben daran liegt, daß das Ich Fremdes aushält, es an sich herankommen läßt und nicht nur in allem, was es erhält, sich selbst erhält .“ (Ebd.)

Dass uns überhaupt etwas oder jemand affiziert und es zu diesem widerstreitenden Gefüge aus Fremdkraft und Eigenkraft kommt, in dem die Eigenbewegung zugleich ein Bewegtwerden bedeutet, setzt zwar ein Selbst voraus, doch dieses ist niemals völlig bei sich selbst. Das Selbst bewegt sich weder völlig aus sich selbst heraus noch unterliegt es einfach einer bloßen Fremdbewegung. Vielmehr ist es sich selbst

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voraus und bleibt zugleich hinter sich zurück, „ausgesetzt einer Fernwirkung, die alle potentielle Eigenwirkung übersteigt“ (Waldenfels 2002: 195). Infrage gestellt ist damit sowohl ein Subjekt, das sich selbst genug wäre als auch ein Subjekt, das lediglich von anderem gesteuert würde. Dies alles schließt nun allerdings keineswegs aus, „daß es zu einer Polarisierung der Kräfte kommt und das eine Mal das Mitmachen, das andere Mal das Mitmachen überwiegt. Es kann sein, daß wir besonders stark mitgerissen werden oder umgekehrt eine besonders starke Eigenbewegung entfalten.“ (Waldenfels 2004: 100) Die Zwischenbewegung, in der sich das Selbst befindet „kann in den Sog einer reinen Fremdbewegtheit geraten und in der reinen Eigenbewegung ihren Halt suchen […]“ (Waldenfels 2002: 195). In extremen Fällen erreicht das Mitgerissenwerden „den Zustand der Faszination; man ist von einem Anblick oder einer Melodie gefesselt, die eigenen Kräfte sind wie gelähmt. Im entsetzlichen Haupt der Gorgo und im verführerischen Gesang der Sirenen haben diese Kräfte ihren mythischen Ausdruck gefunden.“ (Waldenfels 2004: 100) Gerät das Selbst in den Sog der Fremdbewegtheit, so ist es umso mehr buchstäblich nicht mehr Herr seiner Sinne. Das erleidende Selbst gerät in dieser Zwischenbewegung, die als ein Widerfahrnis im Sinne des Pathos zu verstehen ist, außer sich (vgl. Waldenfels 2002: 188): „Nicht etwas ist draußen, sondern ich selbst. Dieses Anderswo wird nicht durch einen bloßen Orts- oder Standortwechsel herbeigeführt. Dieser Außenbezug, der nicht auf Ent-äußerung oder auf Ent-fremdung beruht, läßt sich kennzeichnen als Entzug […]“ (ebd.: 188f.). Dieser Entzug des eigenen Selbst geht mit den Bewegungen der Anziehung, der Attraktion, und der Abstoßung, der Repulsion, einher (vgl. ebd.: 189f.). Bei diesem Ereignis des Sichentziehens handelt es sich um ein Zwischenereignis, „sofern es sich zwischen zwei Orten abspielt, einem Abzugsbereich, aus dem etwas verschwindet, und einem Entzugsbereich, in den es entschwindet“ (ebd.: 191). Zu diesem Zwischencharakter des Entzugs gehören untrennbar „zusätzlich zwei Instanzen, nämlich was sich entzieht und wem sich etwas entzieht“ (ebd.). Hierbei handelt es sich um kein symmetrisches Verhältnis, demnach dem „weg von…“ kein „hin zu…“ entspricht (vgl. ebd.): „Vielmehr verwandelt sich Nähe in Ferne, Anwesenheit in Abwesenheit.“ (Ebd.) Dieser Entzug setzt einen Bezug voraus, „der abbricht, eine Entfernung, die aus der Nähe erwächst, ein Band, das verbindet und entbindet […]“ (ebd.: 193), wie Waldenfels das eigentliche Rätsel des Fremden mit Heidegger benennt. Ohne eine gewisse Nähe dessen, was sich entfernt, gibt es keinen Entzug (vgl. ebd.: 194). Als Gegenbewegung wohnt diesem Entzug die Anziehung oder Attraktion inne: „Das Präfix Ent-, das wir aus anderen Wortprägungen wie Entkommen, Entgleiten, Entschwinden kennen […], steht dem Präfix An- gegenüber, das mit einer Wortreihe wie Anreiz, Anblick, Anrede, Anspruch oder Angehen einer eigenen Dimension angehört […]“ (ebd.). Wie gezeigt, muss sich etwas oder jemand von einem Hintergrund abheben, so dass es auffällig wird. So kann die Anziehung im Gefühlsaus-

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bruch ein Maximum, in der Gleichgültigkeit oder Langeweile ein Minimum erreichen (vgl. ebd.: 196). Die Anziehung lässt sich daher auch als der dynamische Aspekt des Pathos bezeichnen: „In der Attraktion gewinnt die Affektion ihre Zugkraft.“ (Ebd.) Entscheidend ist nun, wie diese Attraktion oder Anziehung gedacht wird. Die Zwischenbewegung, in der sich das Selbst befindet, entzieht sich den gängigen Bewegungsursachen (vgl. ebd.: 195): „Die Attraktion ist keine Gestalt, die wir erfassen, kein Ziel, das wir verfolgen, sondern eine Kraft, aber keine Kraft, deren bloße Wirkung wir erleiden wie von einer Wirkursache, die a tergo auf uns einwirkt, sondern eine merkwürdige vis a fronte, die in uns eine Bewegung auslöst und verstärkt, indem sie uns anstachelt, verlockt, mitreißt, mitzieht.“ (Ebd.: 194)42

Unter der Voraussetzung einer hohen affektiven Besetzung des Fremden kann von einem Jemand oder einem Ding eine besonders hohe Attraktion ausgehen. Das Selbst gerät in den Bannkreis eines Jemands oder eines Dings, sobald es von Fremdem besonders stark affiziert wird. Das Selbst gerät folglich außer sich, indem das Mitgerissenwerden das Geschehen bestimmt. Ist Fremdes also in hohem Maße affektiv besetzt, indem vertraute Ordnungsmaßstäbe brüchig werden, und sind dementsprechend die Anziehung und das Affiziertwerden erhöht, kommt es zu einem gesteigerten Entzug des Selbst: Die „Erfahrung des Fremden […] schlägt um in ein Fremdwerden der Erfahrung und ein Sich-Fremdwerden dessen, der die Erfahrung macht“ (Waldenfels 1997a: 10). Fremderfahrung besagt demzufolge nicht bloß, dass ein Selbst Fremdes erfährt, sondern dass es sich selbst fremd wird: „Nehmen wir das Fremde […] als etwas, das nicht dingfest zu machen ist, nehmen wir es als etwas, das uns heimsucht, indem es uns beunruhigt, verlockt, erschreckt, indem es unsere Erwartungen übersteigt und sich unserem Zugriff entzieht, so bedeutet dies, daß die Erfahrung des Fremden immer wieder auf unsere eigene Erfahrung zurückschlägt und in ein Fremdwerden der Erfahrung übergeht.“ (Waldenfels 2006: 7f.)

Diesem Geschehen kann sich das Selbst nicht verweigern: „[D]as Aufmerksamwerden geschieht mir, je mehr ich in den Wirkungskreis des Weckrufs und der Anziehungskraft gerate.“ (Waldenfels 2004: 249) Der Mensch ist als Aufmerkender und Antwortender in der Erfahrung des Fremden somit nicht Herr der Lage: „Wer über Fremdes staunt und vor ihm erschrickt, ist seiner selbst nicht mächtig.“ (Waldenfels 2006: 120) Wäre er es, „er könnte sich das Fremde und Unheimliche vom Leibe halten und sich ins Heimische flüchten“ (ebd.). Dies geschieht immer dann, wenn die Erfahrung den Index ihrer Selbstverständlichkeit einbüßt, indem etwas wider Erwarten eintritt und die vertraute Welt brüchig 42 Die „vis a fronte“ kann als Anziehungskraft verstanden werden.

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wird. Die Grenzen der gewohnten Erfahrung werden gesprengt, durch den Entzug des eigenen Selbst kommt es zu einer Beunruhigung, die als verlockend und bedrohlich zugleich hervortritt. Dies schließt wie gesagt nicht aus, dass eine Seite das Geschehen dominiert. Im Gegenteil: In der Zu- oder Abwendung zeigt sich die Wirkung dieses amoralischen, pathischen Ereignisses, wobei jede Abwendung eine anfängliche Zuwendung bereits vorausgesetzt hat. In der Zu- oder Abwendung tritt hervor, ob diese Leiden-schaft im Sinne eines Mitgerissenwerdens als verlockend oder als bedrohlich erfahren wird, wobei dem Bedrohlichen auch hier eine anfängliche Verlockung vorausgeht. Dass es überhaupt zu diesen beunruhigenden bis hin zu schockartigen Erfahrungen und einer derart gesteigerten Affektion kommen kann, die auch und gerade in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ virulent werden kann, hat unterschiedliche Voraussetzungen: Es beginnt damit, dass wir uns selbst notgedrungen immer auch fremd bleiben, wodurch wir zugleich in ein Verhältnis zu uns treten können und offen für die Erfahrung und Ansprüche des Anderen sind (vgl. 5.2.2). Eigenes und Fremdes sind im Sinne einer Zwischenleiblichkeit miteinander verschränkt, so dass ich mich im Anderen und den Anderen in mir im Zuge eines asymmetrischen Wechselspiels vorfinde (vgl. 5.2.1). Entscheidend für die Erfahrung des Fremdartigen – und dies trifft auf Behinderungen in besonderer Weise zu –, ist nun, dass das Fremdartige „seine provokative Kraft nur dort [entfaltet], wo es dem Eigenartigen so nahe rückt, daß es als mögliche Eigenart und Abwandlung des Eigenen erscheint“ (Waldenfels 1987: 180). Nur, weil das Fremdartige dem Eigenartigen nicht gänzlich fremd ist, überschneiden sich die verschiedenen Ordnungen mehr oder weniger und die eine weckt in der anderen ein Echo (vgl. ebd.): „Das Verlockende und Bedrohliche wird umso größer, je näher das Fremdartige rückt. Madame Verdurin wird nicht beunruhigt durch die Geschichten, die im vornehmen Faubourg Saint-Germain passieren, sondern von Einbrüchen und Ausbrüchen, die ihren petit clan gefährden, und ein ‚monströser Zwilling‘ (Leroi-Gourhan) wie der Affe erschreckt und belustigt uns mit seinen Grimassen mehr als der Anblick einer wiederkäuenden Kuh oder der ferne Blick einer Katze. Solche Überschneidungen und Überkreuzungen, solche Resonanzen und Konsonanzen sorgen dafür, daß die verschiedenen Ordnungen nicht durch scharfe Grenzen voneinander geschieden und auch nicht nahtlos aneinander geknüpft sind, daß sich vielmehr Zwischenzonen, Krisenherde und Übergangsbereiche ausbilden […].“ (Ebd.: 180f.)

Bei Behinderungen kommt es, beispielsweise im Vergleich zur Begegnung zwischen Mann und Frau, zu einer unterschiedlichen und gesteigerten Affektion durch das Fremdartige, weil das Fremdartige einer Behinderung hier als mögliche Eigenart erscheint. Das Fremdartige überschneidet sich hier außerdem mehr mit der eigenen Ordnung, als dies beim Fremdartigen zwischen Mann und Frau der Fall ist. Zwar wird hiermit nicht das Phänomen der Intersexualität bestritten, aber es ist un-

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wahrscheinlich, ebenso schnell in diesen Zustand geraten zu können, wie in den Zustand einer Behinderung. Das Fremdartige rückt dem Eigenartigen im Kontext von Behinderung also deutlich näher und kann das Eigene sozusagen blitzartig überwältigen. Diese Kontingenz der eigenen leiblichen Ordnungen „kann uns das provozierend unähnliche Spiegelbild, das ‚ärgerliche‘ Doppelgängertum der Behinderung vor Augen führen“ (Kastl 2010: 206). Die besonders hohe Affektion, die mit dem Fremdartigen und Auffälligen einer Behinderung einhergehen kann, zeigt sich zudem daran, dass bereits „Blicke, Gesten oder Gerüche [genügen], um eine Fremdheitssphäre zu erzeugen“ (Waldenfels 2006: 121f.). Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, welch gesteigertes attentionales und affektives Wirkgeschehen im Konfrontationsereignis mit bestimmten Formen einer Behinderung eintreten kann. Hier von einem Zustand der Faszination, einer fesselnden Wirkung zu sprechen, bei der das Selbst außer sich gerät, ist zutreffend. Es kann in diesem Konfrontationsereignis also zu einer besonders starken Zugkraft des Attentionalen kommen, die „vis a fronte, die in uns eine Bewegung auslöst und verstärkt, indem sie uns anstachelt, verlockt, mitreißt, mitzieht“ (Waldenfels 2002: 194), ist hier ganz besonders wirksam am Werk. Das Selbst gerät im Konfrontationsereignis mit bestimmten Formen der Behinderung daher in den Sog einer Fremdbewegtheit, bei der das Mitmachen in ein Mitmachen kippt, der „bewegte Beweger“ wird zum „bewegten Beweger“.43 Diese besonders hohe Affektion und Anziehung, die von einer Behinderung ausgehen kann, bedeutet einen erhöhten Entzug des eigenen Selbst, das sich im Zuge dessen besonders fremd wird. Halten sich Eigenes und Fremdes im normalen Bereich der Fremdheit, also in alltäglichen Begegnungen zwischen Mann und Frau, Erwachsenen und Kindern, in Begegnungen mit Passanten oder Nachbarn in etwa die Waage, ohne dass es auch hier jemals zu einer Symmetrie käme, so kippt diese Zwischenbewegung von Eigenem und Fremdem im Konfrontationsereignis mit bestimmten Behinderungsformen hin zu einer Bewegungsrichtung, bei der die Zugkraft des affektiv besetzten Fremdartigen das Eigenartige förmlich mitreißt. Gerade anhand der Begegnung mit ‚Behinderten‘ wird dieser verschärfte Selbstentzug deshalb so deutlich, weil das Fremdartige hier dem Eigenartigen so nahe rückt. Das Spiel zwischen Nähe und Ferne gerät hier außer sich, die Nahferne und Fernnähe des Anderen (vgl. Waldenfels 2004: 44) schlägt um in eine schier unerträgliche Nähe, die das Band der Verständigung zum Eigenen nahezu abbrechen lässt: Das Fremde ist insbesondere im Falle der Begegnungen mit einer Behinderung „nicht ungefährlich, es droht uns von uns selbst zu entfremden“ (Waldenfels 2006: 7). Der spezifische Entzug des eigenen Selbst ist aufgrund der gezeigten Voraussetzungen des Zusammenhangs von Fremdheit und Behinderung in diesen Begegnungen unvermeidlich. Diese Beunruhigung muss jedoch nicht notwendigerweise 43 Zur Denkfigur des „bewegten Bewegers“ vgl. Dörpinghaus (2003).

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zur Abwendung führen, sondern sie kann beispielsweise in der Libido auch eine gesteigerte Zuwendung bewirken. Weshalb die durch das eigene Fremdwerden hervorgerufene Beunruhigung in der Konfrontation mit bestimmten Formen einer Behinderung keine Zuwendung, sondern jahrhundertelang und nach wie vor vorwiegend eine Abwendung auslöst, hat nicht notwendigerweise mit der Fremderfahrung selbst, sondern mit unterschiedlichen Deutungsmustern des Menschen von sich selbst zu tun: „Der Kriterienkatalog ist bekannt: er umfaßt mit verschiedener Gewichtung allgemeine Rationalität, individuelles Selbstbewußtsein, eigene Wünsche und Interessen, Freiheit als Selbstbestimmung und Zukunftssinn; letzterer ist besonders relevant, wenn es um Überlebenswünsche geht, während Empfindungs- und speziell Schmerzempfindlichkeit ausscheiden, weil damit die Grenzen zu tierischen Lebewesen sich verwischen würden.“ (Waldenfels 2002: 435)

In einem abschließenden Ausblick (vgl. 6.3) ist daher zu zeigen, worauf es aus Sicht der Phänomenologie des Fremden ankommen würde, damit es nicht bei der von Cloerkes so benannten „Schein-Akzeptanz“ ‚Behinderter‘ oder abwertender Sichtweisen auf Behinderungen bleibt. Wenig zielführend, ja sogar kontraproduktiv, ist es hingegen, die in diesen Begegnungen auf unvermeidliche Weise auftretende Fremdheit des Anderen und des Selbst in einer allgemeinen individuellen „Normalität der Verschiedenheit“ aufgehen lassen zu wollen. Das spezifische Entzugsgeschehen im Kontext der Fremderfahrung von Behinderung geht sowohl den thematisierten psychologischen als auch den soziologischen Erklärungsansätzen voraus und liegt ihnen zugrunde. 5.5.4 Beurteilung der Erklärungsansätze der „sozialen Reaktionen“ aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden Die psychologischen und soziologischen Erklärungsansätze benennen aus unterschiedlichen Perspektiven allesamt wichtige Aspekte der Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ (vgl. 5.4.4); das Fremderfahrungsgeschehen selbst bekommen sie jedoch deshalb nicht oder nur unzureichend in den Blick, da sie allesamt ‚zu spät‘ ansetzen, um dieses Geschehen möglichst in actu zu erwischen. Dies muss aber notwendigerweise auch der hier gewählten Perspektive versagt bleiben. Dass die Erklärungsansätze in gewisser Weise ‚zu spät‘ ansetzen, hat damit zu tun, dass die originären und „sozialen Reaktionen“ entweder als Konflikt im psychisch-affektiven oder kognitiven Bereich des Subjekts oder in gesellschaftlich-normativen Erwartungen der Beteiligten verortet werden bzw. als Mischform

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aus beiden Perspektiven, wie im Ansatz von Cloerkes. Damit werden zwar Erklärungen der Zu- und Abwendung möglich, nicht aber des Fremderfahrungsgeschehens im Kontext von Behinderung selbst, das sich primär als Verschränkung von Zug- und Wirkkräften, von Attraktion und Repulsion sowie Zu- und Abwendung zugleich erweist. Anders gesagt: Die vor allem abwendenden ‚Reaktionen‘, zu denen es im Kontext der Begegnung mit ‚Behinderten‘ zumeist kommt, können nicht isoliert von den dargestellten Zugkräften des Aufmerksamkeitsgeschehens betrachtet werden. Am eindrücklichsten lassen sich der Kontrast und die Kluft zwischen dem hier gewählten Zugang über das Phänomen der Fremdheit und den erörterten Erklärungsansätzen anhand des Erklärungsansatzes der kognitiven Dissonanz zeigen. Dieser geht von einer „Störung eines positiven psychologischen Gleichgewichtszustands der Kognitionen angesichts der Konfrontation mit dem als andersartig empfundenen Behinderten […] aus“ (Cloerkes 1979: 84). Die Wahrnehmung einer Behinderung wird hier subjektiviert, indem sie als ein Konflikt des Subjekts beschrieben und noch dazu in den Bereich der Kognitionen verlagert wird. Demgegenüber zeigt sich die Wahrnehmung einer Behinderung zunächst noch nicht als ein ‚Konflikt‘ eines bestimmten Jemands, sondern als ein pathisches Ereignis, das sich als eine Störung der präreflexiven Erfahrung erweist, bei der zudem nicht erst die Kognitionen, sondern bereits die sinnliche Erfahrung selbst zutiefst berührt wird. Dieses Ereignis folgt keinem Reiz-Reaktions-Schema im Sinne eines objektiven Vorkommnisses und eines subjektiven Aktes, sondern es bringt sich als ein Zusammenwirken von Fremdem und Eigenem hervor, bei dem nicht klar ist, welche Handlungen auf wessen Konto gehen. Der „Body-Concept-Ansatz“ und die „Bedrohung der eigenen physischen Integrität“ kommen dem hier gewählten Zugang am nächsten. Beide Aspekte legen der Wahrnehmung von Behinderung jedoch bereits einen bestimmten normativen Bezugspunkt zugrunde, der diese sicherlich mit durchzieht, der aber das Geschehen selbst wiederum nicht betrachtet und dieses nicht erklären kann. Die Wirkkräfte des Konfrontationsereignisses mit ‚Behinderten‘ hängen ganz sicher mit bestimmten Einstellungen und Wertvorstellungen zusammen; das Ereignis selbst samt seiner Zugkräfte ist jedoch keine Sache der Einstellungen oder von Vorstellungen, sondern primär des Getroffenseins durch ein amoralisches Pathos, dem wir uns nicht entziehen können, auch wenn die Einstellungen noch so günstig ausfallen mögen. Der Ansatz der Bedrohung der physischen Integrität bringt einen äußerst wichtigen Punkt zur Sprache, der in diesen Begegnungen virulent wird. Zunächst kommt es in diesem Ereignis aber noch zu keiner „Aktivierung“ einer bestimmten, „normativen“ Angst, sondern zuvörderst zu einem Getroffensein und einer Affektion durch Fremdes, was mit einem Entzug des Selbst, einem eigenen Fremdwerden einhergeht. Dieser Entzug bedeutet zwar eine Beunruhigung, aber zunächst noch keine spezifische Angst, die notwendigerweise einen Fluchtreflex auslöst. Dass in diesem Ge-

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schehen genau die Angst vor der Bedrohung der physischen Integrität hervortritt, trifft zwar zu; dies hat allerdings noch nicht notwendigerweise mit der Begegnung selbst zu tun, sondern mit den jahrhundertelangen Deutungsrastern der Vorstellungen des Vernünftigen oder Gesunden. Würde sich das Geschehen der Fremderfahrung primär über diese spezifische Angst erklären lassen, so hieße dies im Umkehrschluss, dass eine Veränderung der kulturellen Vorstellungen auch eine Überwindung der Beunruhigung durch das Fremdartige zur Folge hätte, das im Falle von Behinderungen durch eine Störung vertrauter Wahrnehmungsschemata hervortritt, die sich nicht bloß kulturell erklären lassen. Die Wirkkräfte dieses Geschehens wären dann zwar mit sehr großer Wahrscheinlichkeit andere und hätten womöglich eine stärkere Zuwendung zur Folge; die Zugkräfte des Aufmerksamkeitsgeschehens wären jedoch damit trotzdem nicht außer Kraft gesetzt. Der Zugang über das Phänomen der Fremdheit kann darüber hinaus erklären, dass es sich hierbei nicht um eine bloße Aktivierung von Ängsten im Sinne eines einfachen Stimulus-ReaktionsPrinzips handelt. Vielmehr ist Eigenes und Fremdes auf einer primordialen Sphäre der Intersubjektivität stets schon ineinander verflochten, weshalb der fremde Leib immer schon auf die kontingenten Ordnungen des eigenen Leibs verweist bzw. unmittelbar auf diese gerichtet ist, ohne dass hier erst eine vermittelnde Instanz dazwischen tritt oder in einem Subjekt spezifische Deutungsmuster aktiviert werden müssten. Auch die soziologischen Erklärungsansätze benennen mit der „Irrelevanzregel“, dem „Interrollenkonflikt“ und den „uneindeutigen Verhaltensregeln“ wichtige Aspekte, die in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ wirksam werden. Dies tut ebenso Cloerkes Ansatz der „widersprüchlichen Normen“. Es wurde bereits thematisiert, dass es zwar zu einem Ambivalenzkonflikt kommt, sich dieser aber zunächst nicht als ein normativer Konflikt widersprüchlicher Normen, sondern als ein präreflexiver Konflikt der Erfahrung des Fremden zeigt, die noch vor jeglicher Stellungnahme und Beurteilung der Situation als ein pathisches Ereignis in Erscheinung tritt. Dass die Irrelevanzregel nicht durchgehalten werden kann, verweist geradezu darauf, dass es sich primär nicht um einen normativen Konflikt handelt, sondern um ein vorgängiges, pathisches Getroffensein durch etwas, das auffällig wird und das sich daher dem eigenen Blick entzieht, der sich diesem Ereignis nicht entziehen kann. Eine Behinderung wird zudem zunächst weder als Behinderung wahrgenommen noch viel weniger als ein „niedriges, diskreditierendes Statusmerkmal […]“ (Cloerkes 2007: 108), wie es der Ansatz des Interrollenkonfliktes besagt. Derartige Bestimmungen und Deutungen sind nachträgliche Zuschreibungen des vorgängigen, pathischen Getroffenseins. Das Stigma selbst ist zunächst weder kreditierend noch diskreditierend, wie es auch bei Goffman heißt (vgl. Goffman 1975: 11), sondern etwas drängt sich der Aufmerksamkeit hier zunächst auf, und das, was sich aufdrängt oder auffällig wird, stellt keine Wertqualität dar. Zu guter Letzt sind es nicht erst „uneindeutige Verhaltensregeln“ (vgl. Cloerkes 2007: 108), die zu Unsi-

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cherheit führen, sondern vielmehr eine Entregelung der Sinne, mit der wir es in diesem Ereignis zu tun haben und die das Eigene verunsichern und in Frage stellen. Der Zugang zu intersubjektiven Prozessen über das Phänomen des Fremden macht diese Erklärungsansätze weder überflüssig noch stellt er sie in Frage. Allerdings macht er auf eine Dimension aufmerksam, die all diesen Erklärungsansätzen gewissermaßen vorausliegt. Deutlich wird, dass es sich in der Konfrontation mit ‚Behinderten‘ um ein Ereignis handelt, das sich weder als ein bloß normativer noch als ein subjektiv-affektiver oder subjektiv-kognitiver Konflikt beschreiben lässt. Vielmehr bedeutet die Begegnung zwischen ‚Behinderten‘, deren Behinderung in irgendeiner Weise auffällig wird, und ‚Nichtbehinderten‘ ein aufeinander Antworten, das sich primär nicht als ein subjektives Antworten oder als Ausdruck gesellschaftlich-normativer Erwartungen zeigt, sondern als ein Zwischenereignis, in dem die Rollen nicht klar verteilt sind und eigener und fremder Leib als ineinander verschränkt auf- und hervortreten. Diese vorprädikative und pathische Dimension der Erfahrung bleibt außen vor, wenn die Interaktionsprozesse lediglich als affektiver bzw. kognitiver Konflikt des Subjekts oder als normativer Konflikt betrachtet werden bzw. als ein Konflikt, der sich aus einem Zusammenwirken von originären und sozial erwünschten Reaktionen speist. Verabschiedet und unzugänglich gemacht wird dieser erfahrungsbasierte Zugang jedoch, wenn Erfahrungen zu machen lediglich noch bedeuten soll, Geltungsansprüche anzuwenden, wie es im inklusionspädagogischen Ansatz vorgesehen ist und gleichsam erhofft und erwartet wird. Allerdings bedeutete die Berücksichtigung der pathischen Dimension der Erfahrung, dass die inklusionspädagogischen Prämissen unwirksam und unhaltbar würden, weshalb keine Vereinbarkeit beider Ansätze gegeben sein kann, wie dies von Stinkes angenommen wird (vgl. Stinkes 2012a; 2014).44

5.6 ZUSAMMENFASSUNG (5.3-5.5) Wir können uns den Erfahrungsansprüchen und dem Auffälligwerden von etwas oder jemandem nicht entziehen, vielmehr müssen wir antworten, egal, was wir tun oder was wir versuchen, dagegen zu unternehmen. Entgegen der Vorstellung, Aufmerksamkeit als einen subjektiven oder voluntativen Vorgang aufzufassen, versteht Waldenfels diese als ein Zwischenereignis, das sich zwischen mir und den Dingen abspielt und bei dem ich als ein Erleidender zunächst im Dativ auftrete, dem etwas auffällt, das mich als Respondenten aufmerken lässt. Das Aufmerken ist damit kein Prozess eines autonomen Subjekts und ebenso wenig haben wir es bei dem, was auffällt, mit objektiven Vorkommnissen oder Wertqualitäten zu tun. Was auffällt, entzieht sich einer endgültigen Bestimmung, da es sich unserem Blick entzieht. Der 44 Vgl. hierzu auch 5.2.5.

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Zweitakt von Auffallen und Aufmerken bedeutet ein vorgängiges, pathisches Ereignis, das sich nicht verhindern lässt. Hierbei gibt es unterschiedlich starke Weckungskräfte der Aufmerksamkeit, die uns mehr oder weniger in Anspruch nehmen und die in der Affektion durch Fremdes die Zug- und Stoßkräfte der Attraktion (Anziehung) und Repulsion (Abstoßung) entwickeln, die stets als ineinander verschränkt auftreten. Ohne eine irgendwie gelagerte Attraktion durch Fremdes gäbe es keine Repulsion; ebenso sind dem Moment der Attraktion stets repulsive Momente beigemengt, da das, was uns auffällt und anzieht, immer mit einer Beunruhigung des Eigenen einhergeht, indem gewohnte und vertraute Ordnungen brüchig werden. Eben deshalb tritt auch die Zu- und Abwendung nicht erst im Nachhinein auf, sondern bereits im Ereignis von Attraktion und Repulsion. Die Zu- und Abwendung ist kein rein subjektiver und nachträglicher Prozess, sondern diese Bewegung geht einher mit dem, was uns in der Affektion anzieht oder zurückstößt. Dieser Ambivalenzkonflikt zwischen Attraktion und Repulsion sowie Zu- und Abwendung durchzieht jede Erfahrung des Fremdartigen von vornherein. Dies schließt nicht aus, dass es zu einer Polarisierung der Kräfte kommt. Je nachdem, wie und wie stark die Affektion durch Fremdes ausfällt, kann die präreflexive Zwischenbewegung zwischen Eigenem und Fremdem in die eine oder andere Richtung kippen. So kann das Selbst in den Sog einer Fremdbewegtheit geraten oder in der Eigenbewegung seinen Halt suchen. Ausgeschlossen ist damit eben so wenig, dass die Affektion durch Fremdes vorwiegend ihre attraktiven oder repulsiven Kräfte ausspielt. Die Sichtbarkeit oder Auffälligkeit einer Behinderung ist eine besonders wirksame Determinante in der Interaktion zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘. Sie drängt sich der Aufmerksamkeit auf, ohne dass wir das wollen oder nicht wollen können. Wir sind an diesem Geschehen beteiligt, „aber nicht als Urheber oder Gesetzgeber“ (Waldenfels 2006: 99). Dabei kann sich diese Weckung der Aufmerksamkeit im Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ bis hin zur schockartigen Erfahrung steigern, in der es uns buchstäblich die Sprache verschlägt und die gewohnten Sinnesordnungen insbesondere des Sehens und Hörens, zuweilen auch des Riechens, entriegelt werden. Die Affektion durch Fremdes ist hier deswegen so erhöht, weil es sich um Ordnungen des Leiblichen handelt, die wir nicht nur beim Anderen erwarten, sondern die uns am eigenen Leib in Fleisch und Blut übergegangen sind und die uns daher umso vertrauter sind. Das Affiziertwerden durch eine Behinderung bringt den eigenen Leib unwiderruflich mit der Kontingenz seiner eigenen leiblichen Ordnung in Berührung; eigener und fremder Leib sind hier aufeinander gerichtet, noch bevor kulturelle und normative Deutungen und Erwartungen einsetzen und greifen könnten. Der eigene Leib ist stets schon vom fremden Leib durchwirkt, ehe dessen wir uns dieser Tatsache bewusst werden oder auf normative Regelungen zurückgreifen können. Nur, weil Behinderungen dabei nicht das Fremde oder das Anomale sind, sondern stets mit dem Eigenen und Normalen verbunden

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sind, können sie eine derart hohe Affektion bewirken und das Eigene herausfordern. Das nichtbehinderte Selbst gerät in diesen Begegnungen in den Sog einer Fremdbewegtheit, Eigenes droht hier durch Fremdes überwältigt zu werden. Dieses Mitgerissenwerden sorgt dafür, dass wir uns selbst fremd werden, indem Fremdes nicht nur von außen einfällt, sondern im eigenen Haus auf- und hervortritt. Die Nähe zum Eigenen droht damit abzureißen, indem die scheinbare Ferne des Fremden in eine schier unerträgliche Nähe umschlägt. Dass diese Beunruhigung durch Fremdes nicht notwendigerweise eine Abwendung zur Folge hat, zeigt sich daran, dass der gesteigerte Selbstentzug in der libidinösen Leidenschaft auch zu einer gesteigerten Zuwendung führen kann. In der Begegnung mit ‚Behinderten‘ sind es jedoch zumeist nicht die Zugkräfte der Attraktion, sondern die Stoßkräfte der Repulsion, die im Affiziertwerden durch Fremdes wirksam werden. Dies hat vor allem mit verdrängt geglaubten Eigenheiten zu tun, die eben besonders die Vorstellungen des Körperlichen und Vernünftigen betreffen und deren erfahrene Kontingenz und Unverfügbarkeit dem neuzeitlichen Subjekt als Demütigung seiner selbst erscheinen müssen. Die originär-physischen Reaktionen des Anstarrens oder des Ekels sind aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden Ausdruck der Verschränkung von erfahrener Nähe des Fremden und Ferne des Eigenen; sie sind kein bloß affektiver oder gar kognitiver Zustand eines Subjekts, das auf einen Stimulus reagiert, sondern eines vor-reflexiven und synkretistischen Sich-Mitbefindens mit Anderen in der Welt. Das Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ bedeutet primär einen unvermeidbaren Ambivalenzkonflikt der Erfahrung des Fremdartigen, der sich zwischen Attraktion und Repulsion abspielt und der nicht erst als ein subjektiver Konflikt der Kognitionen oder des Konfligierens widersprüchlicher Normen auftritt. Auflösbar wäre dieser ambivalente Konflikt der Erfahrung des Fremdartigen nur dann, wenn Behinderungen mit dem Eigenen zusammengefallen wären und somit keinen spezifischen leiblichen Selbstentzug mehr bedeuten würden. Solange der Mensch aber weiterhin leiblich existiert und biopolitische Maßnahmen leiblich-körperliche oder leiblich-geistige Beeinträchtigungen nicht zum Verschwinden gebracht haben, wird der Zustand, dass es nur noch normal ist, verschieden zu sein, nicht eintreten. Der Ambivalenzkonflikt der Fremderfahrung verweist insbesondere im Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ auf die pathische Dimension der Erfahrung, die noch nicht per se „pathologisch“ ist. Dieses Geschehen ist weder dem ‚Behinderten‘ noch dem ‚Nichtbehinderten‘ anzulasten; auch findet es seine Virulenz nicht in der Identifizierung einer Behinderung als solcher oder allein in normativen Vorstellungen und Kontextfaktoren. Vielmehr kommt es auf einer zwischenleiblichen Ebene zu einer Störung und Ausdifferenzierung eines gemeinsamen, vorprädikativen Feldes. Indem die psychologischen und soziologischen Erklärungsansätze der originären und „sozialen Reaktionen“ gegenüber ‚Behinderten‘ den Konflikt stets in ein Subjekt verlagern und/oder als ein Zusammenwirken psychischer und normati-

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ver Faktoren beschreiben, setzen sie bereits ‚zu spät‘ an, um das Geschehen der Fremderfahrung selbst, als ein präreflexives Zusammenwirken von Eigenem und Fremdem, berücksichtigen zu können. Das Auffallen und Aufmerken ist auch und gerade im Kontext der Wahrnehmung von Behinderung kein Akt eines Subjekts. Dies hat damit zu tun, dass das Auffälligwerden einer Behinderung kein rein natürliches oder rein kulturelles Ereignis ist. Jegliches menschliches Wahrnehmen vollzieht sich selbstverständlich immer nur im Rahmen bestimmter kultureller Ordnungen und Vorstellungen. Würde es sich jedoch beim Ereignis des Auffälligwerdens – ganz generell – nur um einen bloß kulturellen Vorgang handeln, so hieße dies, dass wir uns potentiell jegliche Ansprüche des Fremdartigen vom Leibe halten könnten und ganz bei uns selbst wären; wir würden in diesem Fall weder von uns selbst noch von Anderen angesprochen werden können. Dies ist bereits dadurch ausgeschlossen, dass wir uns selbst notwendigerweise immer auch fremd bleiben (vgl. 5.2.2). Insbesondere eine sogenannte körperliche oder geistige Behinderung deutet auf einen gesteigerten Entzug des eigenen Leibes hin. Das, was sich hier am eigenen Leib selbst entzieht, beruht nicht auf ‚unseren‘ kulturellen Erzeugnissen oder Produkten. Aus eben diesem Grund kann auch das Auffälligwerden einer Behinderung und die damit einhergehende Beunruhigung nicht als ein bloßer kultureller oder subjektiv-normativer Vorgang gedeutet werden. Würden wir uns dem fremden Leib nur über kulturelle Deutungsschemata annähern, es gäbe weder so etwas wie ein libidinöses Mitgerissenwerden noch ein mehr oder weniger heftiges Zurückgedrängtwerden durch den Leib des Anderen. Das Fremde tritt stets als verlockend und bedrohlich zugleich hervor. Der verzweifelte Versuch eines Sozialkonstruktivismus, den das inklusionspädagogische Denken mit der Prämisse der Vielfalt als Normalfall nochmals radikalisiert hat und auf die Spitze treibt, besteht darin, eben diese Ambivalenz der Fremderfahrung auszuschalten. Ausgeschaltet wäre damit aber nicht nur jegliches Leiden an der eigenen und an der fremden Welt, sondern überhaupt auch jegliches Angesprochenwerden von der eigenen und fremden Welt. Es steht selbstverständlich jedem zu und frei, eine solche, sozial konstruierte Weltsicht einzunehmen. Den Fremdansprüchen, die im Falle einer Behinderung am eigenen Leib als Entzug des eigenen Leibes auftreten und die in der Begegnung mit diesem fremden Leib als potentielle Eigenansprüche des eigenen Leibes laut werden, wird mit dieser verordneten Sichtweise jedenfalls nicht Genüge getan. Vielmehr bringt dieses Denken eine Ignoranz gegenüber jeglichen leiblich gemachten Erfahrungen zum Ausdruck, die sich eben auch als ein Leiden bekunden können, bei dem sowohl der ‚behinderte Leib‘ als auch der ‚nichtbehinderte Leib‘ in Mitleidenschaft gezogen werden. Solange insbesondere körperliche und geistige Behinderungen einen gesteigerten Selbstentzug des eigenen Leibes bedeuten, ist es unausweichlich, dass es zu dieser

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spezifischen Form der Fremderfahrung kommt, von der sowohl der ‚Behinderte‘ wie der ‚Nichtbehinderte‘ betroffen ist. Die Fremdansprüche sind bei der ‚Heterogenitätsdimension‘ der Behinderung demnach anders gelagert und entwickeln eine andere Virulenz, als dies bei anderen Heterogenitätsdimensionen der Fall ist. Eine Außenbetrachtung der einzelnen Dimensionen von Heterogenität ist zwar möglich und sie ist insofern wichtig, als mit ihr auf die normative und rechtliche Gleichwertigkeit aller Ausprägungen von Verschiedenheit oder auf gesellschaftliche Benachteiligungsvorgänge hingewiesen werden kann. Für das behinderte und nichtbehinderte Selbst ist eine solche heuristische Trennung aber nicht vorgesehen. Jemand, der oder die behindert ist, erfährt sich ja nicht als behindert und als Mann oder Frau, sondern als Mann oder Frau, dessen oder deren Leib sich ihm oder ihr selbst entzieht. Die Behinderung ist kein von außen einfallendes Schicksal (vgl. auch Meyer-Drawe 1999: 35; 5.1.2), sondern eine „Körperbehinderung betrifft mich, sie ist immer mit dabei, ich kann sie nicht zwischendurch ablegen, ich bin sie, sie prägt das, was ich wahrnehme und wie ich es wahrnehme“ (Singer/Kienle 2016: 79). Die Ordnungen der Behinderung sind immer wirksam, wenn ich mich als Mann oder Frau erfahre. Es macht einen Unterschied für die Wahrnehmung des Selbst, der Anderen und der Welt, ob ich mich als behinderter oder als weitgehend nichtbehinderter Mann erfahre. Zudem entzieht sich zwar auch das fremde Geschlecht dem eigenen Geschlecht, aber dieser Entzug bedeutet für das Selbst etwas anderes, als wenn sich im Falle einer Körperbehinderung der Körper am eigenen Leib umso mehr entzieht, als dies bereits bei einer körperlich weitgehend unversehrten Leiblichkeit der Fall ist. Eben deshalb verläuft auch das präreflexive Auffälligwerden und Aufmerken im Kontext der Wahrnehmung von Behinderung auf unterschiedliche und nicht auf normal verschiedene Weise. Das Fremdartige rückt dem Eigenartigen in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ besonders nah und dies geschieht auf andere Weise, als es beispielsweise beim Verhältnis von Mann und Frau der Fall ist oder in der alltäglichen Begegnung mit (nichtbehinderten) Passanten oder Nachbarn. Die Weckungskräfte der Aufmerksamkeit entwickeln hier jeweils unterschiedlich starke Zug- und Stoßkräfte. Es gibt keine Symmetrie zwischen den einzelnen Dimensionen von Heterogenität, die Hinz und das gesamte inklusionspädagogische Denken immer wieder behaupten und deren asymmetrisches Verhältnis mit der „Normalität der Verschiedenheit“ in einen amorphen Zustand versetzt werden soll, ob gewollt oder nicht. Einen solchen illusionären Zustand kann es im zwischenmenschlichen Bereich nur unter der Voraussetzung geben, dass die Fremdansprüche der Erfahrung und die Aufmerksamkeitskräfte verkannt und geleugnet werden. Anders gesprochen: Dieser Zustand kann nur auf der Ebene einer gedachten, nicht aber einer gelebten Räumlichkeit existieren, das heißt, wenn das Gleichsetzen des NichtGleichen mit der Wahrnehmungs- und Erfahrungsperspektive selbst verwechselt oder vertauscht wird. Ebenso, wie der vermeintlich positive Effekt kaschierender

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Begriffe auf einer virtuellen Ebene angesichts des realen Kontaktes verblasst (vgl. Moosecker 2012: 244), so zerschellt auch das normative Postulat der „Normalität der Verschiedenheit“ angesichts der Ansprüche der Erfahrung und Aufmerksamkeit im Kontext von Behinderung. Bereits eine bloß normative Sichtweise auf Intersubjektivität bekommt dieses Geschehen als solches nicht zu fassen. Die inklusionspädagogische Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsprämisse der Vielfalt als Normalfall, die die Überwindung der Erfahrung des Fremdartigen durch die Normalisierung der Differenz des Normalen und Anomalen zum Ziel hat, ignoriert das intersubjektive Fremderfahrungs- und Aufmerksamkeitsgeschehen jedoch bis aufs Äußerste. Indem dieser Denkansatz inzwischen bei weitem kein isoliertes Schattendasein mehr führt, sondern auf vielfältige Weise im gesellschaftspolitischen Bereich virulent geworden ist, ist in einer abschließenden Kritik umso dringlicher auf die potentielle Gefahrenlage hinzuweisen, die sich mit diesen Prämissen unweigerlich auftut.

5.7 ABSCHLIESSENDE KRITIK AM INKLUSIONSPÄDAGOGISCHEN ANSATZ Die Kritik an der inklusionspädagogischen Grundordnung der „Normalität der Verschiedenheit“ (vgl. 5.2.5) kann nun vor dem Hintergrund der Ausführungen zum Geschehen der Aufmerksamkeit und Fremderfahrung im Kontext von Behinderung erweitert werden. Dieses Geschehen wird mit der inklusionspädagogischen Perspektive ebenso verkannt und geleugnet wie die responsive Grundstruktur unseres gesamten leiblichen Wahrnehmens und Verhaltens sowie auch das selektive und exklusive Zustandekommen jeder Ordnung (vgl. 4.2; 4.4). Der inklusionspädagogische Denkansatz erweist sich damit nicht nur als eine totalitäre und illusionäre Ordnungsvorstellung. Auch der persönliche Nahbereich, der insofern den Kern dieses Ansatzes ausmacht, als sich dessen Geltungsansprüche eben hier verwirklichen müssten, entzieht sich diesem Denken durch die einseitig normative und präskriptive Betrachtung dieses Geschehens. Im Folgenden wird die bisherige Kritik mit dem Aspekt der Aufmerksamkeit und Fremderfahrung im Kontext von Behinderung um einen Kritikpunkt erweitert, der die Unzulänglichkeit dieses Ansatzes offenbart, die intersubjektive Dimension sogenannter inklusiver Prozesse angemessen zu berücksichtigen. Zugleich will die inklusionspädagogische Grundordnung der „Normalität der Verschiedenheit“ als eine präskriptive Handlungsregel für den Umgang mit Behinderung und ‚Behinderten‘ fungieren. Das dominante Wirken dieser Idee im gesellschaftspolitischen und disziplinären Bereich zeigt an, dass dieser Anspruch nicht erst noch auf seine Einlösung wartet. Vielmehr ist aktuell von einem Zustand auszugehen, in dem der inklu-

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sionspädagogische Anspruch, als die demokratische und angemessene Handlungsregel für sämtliche Facetten des Umgangs mit gesellschaftlicher Heterogenität zu gelten, und damit auch mit Behinderung, auf vielfältige Weise bereits Einfluss auf das Denken, Handeln und Wahrnehmen des Einzelnen genommen hat. Hiervon sind nicht nur professionell oder bildungspolitisch Tätige, Studierende der Heil- und Sonderpädagogik oder die empirische Forschung im Kontext von Behinderung betroffen, sondern ganz konkret auch die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft, die mit diesen Prämissen insbesondere auf medialen Kanälen konfrontiert werden. 45 In der Kluft zwischen den inklusionspädagogischen Prämissen und den konkreten Erfahrungen und Begegnungen mit dem Phänomen der Behinderung tritt in Verbindung mit der medialen Inszenierung dieser Prämissen letztlich ein Potential hervor, das sich gefährlich auswirken kann. 5.7.1 Der inklusionspädagogische Ansatz zwischen Aneignung des Fremden und Entgrenzung von Eigenem und Fremdem Die angestrebte Normalisierung des Aufmerksamkeitsgeschehens, die die bloße Wahrnehmung individueller Verschiedenheit zum Ziel hat, geschieht aus der Angst heraus, dass uns Fremdartiges beunruhigt oder verstört. Das Fremde ruft auch und vor allem im Kontext von Behinderung „nach Maßnahmen und Methoden der Eindämmung, Einschränkung und Ausschließung, kurz: nach Bewältigung“ (Waldenfels 1998a: 60). Hinsichtlich der Methoden der Bewältigung des Fremden erweist sich die Aneignung des Fremden als die vermeintlich wirksamste Form dieser Abwehr (vgl. Waldenfels 1997a: 48f.): Die – auch vom inklusionspädagogischen Ansatz – in Aussicht gestellte Normalisierung gehört dabei „zu den vorzüglichen Bewältigungs- und Beruhigungsstrategien […], mit denen man dem Fremden zu Leibe rückt […]“ (Waldenfels 2008: 9).46 Die folgende Einschätzung Waldenfels’ zum 45 Beispielsweise ließe sich hier auf die Werbeaktionen der Aktion Mensch zu Stoßzeiten im TV hinweisen, auf die Slogans der Lebenshilfe, großflächige Plakatierungen im öffentlichen Raum oder gegenüber den inklusionspädagogischen Prämissen als unkritisch auftretenden Printmedien, womit häufig lediglich ein politisch korrekter Zeitgeist bedient wird. 46 Auch das „Normalisierungsprinzip“ wäre, wie es der Name ankündigt, unter genau dieser Hinsicht kritisch zu befragen. Beim „Normalisierungskonzept“, das auf den Dänen BankMikkelsen sowie das „Gesetz über die Fürsorge für geistig Behinderte“ aus dem Jahr 1959 zurückgeht (vgl. exemplarisch Biewer 2010: 117ff.), geht es um die Normalisierung folgender acht Lebensbereiche: normaler Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus, normale Erfahrungen im Ablauf des Lebenszyklus, normaler Respekt vor Wünschen und Bitten geistig ‚Behinderter‘, normale sexuelle, ökonomische und soziale Lebensmuster (vgl. ebd.). Der Maßstab der Normalisierung ist also jeweils die Welt des ‚Nichtbehinderten‘.

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Umgang mit dem Fremden trifft auf keinen anderen Denkansatz in pädagogischen Kontexten, die der Lauf der Geschichte bisher hervorgebracht hat, mehr zu, als auf die pädagogische Inklusionsidee: „Der Umgang mit dem Fremden ist so sehr durch das Ziel der Aneignung bestimmt, daß ‚Aneignung‘ vielfach als Synonym für ‚Erkennen‘, ‚Erlernen‘ oder ‚Befreiung‘ gebraucht wird. […] Fremdheit scheint mit einem Makel behaftet, den es zu tilgen gilt.“ (Waldenfels 1997a: 49) Eben genau darin, die Fremdheit des Anderen tilgen zu wollen, findet das inklusionspädagogische Denken ein zentrales Axiom, das sämtlichen seiner Prämissen und Forderungen zugrunde liegt. Die Aneignung, „die das Fremde zu wahren verspricht, indem sie es verarbeitet und absorbiert“ (ebd.: 49), beginnt damit, „daß das Fremde, das uns anspricht, unterderhand zu etwas wird, das sich besprechen läßt […]. Das Unberechenbare wird berechenbar […]“ (ebd.: 51). Die (nachträgliche) Qualifizierung des einbrechenden Ereignisses „erlaubt es, Bedrohlichem aus dem Wege zu gehen, sich abzuschirmen und Vorsorge zu treffen […]“ (Waldenfels 2002: 125). Im Hinblick auf die abendländische Tradition spricht Waldenfels gar von einem Sog zur Aneignung (vgl. Waldenfels 2008: 132).47 Dieser Sog zur Aneignung macht üblicherweise auch vor Krankheiten und Behinderungen nicht halt: „Der Weg der Aneignung nimmt seinen Weg über die Bestimmung der Krankheit, die […] unter bestimmten historischen Bedingungen als Anomalie gefaßt wird, das heißt als Abweichung von einer Norm“ (ebd.: 133). Hierbei verhält es sich so, dass „das, was eine Ordnung erschüttert, in diese Ordnung ein[rückt], indem es benannt, klassifiziert, datiert, lokalisiert und Erklärungen unterworfen wird“ (Waldenfels 2006: 51). Dieser Weg der Aneignung wird mit dem inklusionspädagogischen Ansatz jedoch explizit abgelehnt, indem mit der Kritik an der Zwei-Gruppen-Theorie und dem Dekategorisierungsgebot der Verzicht derartiger Benennungen und Klassifizierungen gefordert wird (vgl. v.a. 2.3; 4.4). Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass sich der Bewältigungsversuch des Fremden im inklusionspädagogischen Ansatz vielmehr als ein komplexes Zusammenspiel aus Aneignung des Fremden und Enteignung als Entgrenzung von Eigenem und Fremdem verhält. Die Pole, zwischen denen sich dieser Bewältigungsversuch bewegt, sind die inklusive Gemeinschaft als Gesamtordnung sowie die „Normalität der Verschiedenheit“ als formale Grundordnung. Zur besseren Abgrenzung von den üblichen Aneignungsstrategien des Fremden im Kontext von Behinderung, sei der Blick vorweg kurz auf den heil- und sonderpädagogischen Umgang mit dem Fremden gerichtet. Einschränkend anzumerken ist hierzu jedoch, dass sich durch die Abkehr vom sogenannten medizinischen Modell und der Zuwendung 47 Zu den Strategien der Aneignung, die Waldenfels auch als einen Prozess der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ bezeichnet, zählt er ausdrücklich Erziehung und Heilung (vgl. Waldenfels 1998a: 62). Diesen käme eine heute insgesamt technisch verfeinerte Apparatur zur Hilfe (vgl. ebd.).

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zum ICF-Modell von Behinderung (International Classification of Functioning, Disability and Health) auch in der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik ein Wandel im Umgang mit dem Fremden eingestellt hat.48 Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene betrachtet, zeigte sich der Bewältigungsversuch des Fremden im Kontext von Behinderung in früheren Zeiten häufig durch offensive Strategien der Aussetzung oder Tötung ‚Behinderter‘. Heutzutage sind es hingegen vielfach subtilere Aneignungsformen, mit denen ihnen vor allem auch pränatal zu Leibe gerückt wird. Die Aneignungsbestrebungen des Fremden, denen auf unterschiedliche Weise tendenziell sowohl die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik als auch der inklusionspädagogische Ansatz unterliegen, gehen stets „mit bestimmten Formen der Zentrierung einher […]“ (Waldenfels 1997a: 49). Von Interesse sind an dieser Stelle die Formen der Egozentrik und der Logozentrik (vgl. ebd.; 1998a: 61): Im Egozentrismus, „der vom individuellen Eigenen ausgeht […], wird das Fremde auf Eigenes zurückgeführt, auf eigene Bilder, Vorstellungen und Wertschätzungen […]“ (Waldenfels 1997a: 49). Die Bewältigung des Fremden verläuft hier so, dass „es am Eigenen gemessen wird, als Dublette (alter ego), als Abwandlung […]“ (Waldenfels 1998a: 61). In der Disziplin und Praxis der Heil- und Sonderpädagogik, aber auch und vor allem in der medizinischen Praxis, greift diese egozentristische Bewältigungsform des Fremden immer dann, wenn Behinderungen als ein ‚Noch-nicht‘ im Vergleich zu einem universalen Konstrukt (zum Beispiel Intelligenztestverfahren oder allgemeine entwicklungspsychologische Stufen) oder im Vergleich zum Maßstab des Eigenen begriffen werden und intentionale Förderstrategien einseitig an einer solchen Perspektive ausgerichtet werden. Dies bedeutet keinen völligen Verzicht auf intentionale Strategien der Förderung oder des Diagnostizierens; es bedeutet aber, dass eine derartig einseitige Orientierung dazu führt, Behinderungen immer nur als eine ‚Fehlform‘ des Geistigen, Körperlichen oder des Verhaltens aufzufassen und nicht als eine eigenständige Daseinsform, die ihre eigenen Maßstäbe und Kriterien hat. Vor allem bei geistigen Behinderungen ist die hierbei zugrundeliegende Sinnesausrichtung meistens recht eindeutig: „Was sich nicht verstehen läßt, läßt sich zumindest erklären […]“ (Waldenfels 1999a: 81). Die Disziplin der Heil-und Sonderpädagogik ließe sich in diesen Fällen dann als eine

48 Die ICF wurde 2001 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Klassifikation menschlicher Funktionsfähigkeit und Behinderung herausgegeben und löste das bis dahin gültige Stufenmodell von Behinderung der WHO ab (vgl. hierzu u.a. Lelgemann 2010: 41ff.). Behinderung wird mit der ICF nicht mehr einseitig als medizinische Schädigung gefasst, sondern „als das Ergebnis oder die Folge einer komplexen Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seinen personenbezogenen Faktoren einerseits und den externen Faktoren, welche die Umstände repräsentieren, unter denen das Individuum lebt, andererseits“ (Weltgesundheitsorganisation 2005: 22).

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„Normalisierungswissenschaft“ bezeichnen, wenn mit der Foucault’schen Perspektive Waldenfels’ Folgendes in den Fokus gerückt wird: „Eine Wissenschaft, die sich darauf beschränkt, zu rekonstruieren, zu reparieren und eventuell zu verbessern, wird – ob sie will oder nicht – zu einer Normalisierungsinstanz unter anderen, und dies in dem doppelten Sinne, daß sie Normalisierung voraussetzt und solche (wieder-)herstellt. Wo sie produktiv wird, erzeugt sie neue Normalitäten. […] Als spezielle Form der Psycho- und Sozialtechnik wäre sie Teil eines umfassenden Macht-Wissens (pouvoir-savoir), einschließlich einer Art von Biopolitik, die nicht erst aus einer vermeidbaren Politisierung der Wissenschaft erwächst, sondern zu deren eigenen Effekten gehört.“ (Waldenfels 2008: 101)49

Gegenüber diesem Egozentrismus setzt die Form des Logozentrismus hingegen „auf ein Eigenes und Fremdes übergreifendes Allgemeines […]“ (Waldenfels 1997a: 49). Eigenes und Fremdes werden hier „einem Allgemeinsamen eingegliedert“ (ebd.). Der inklusionspädagogische Ansatz zeigt sich nach all den bisherigen Ausführungen daher als eine logozentristische Aneignungsstrategie des Fremden par excellence, indem Eigenes und Fremdes in einer totalen, allumfassenden Gesamtordnung einbezogen sein sollen (vgl. Kap. 4). Zugleich lässt sich an diesem Denkansatz nun allerdings auch die gegenläufige Bewältigungsstrategie des Fremden beobachten, die Waldenfels als Enteignung zugunsten des Fremden kenntlich macht (vgl. Waldenfels 1998a: 62). Diese Bewältigungsform schätzt er hinsichtlich des Umgangs mit dem Fremden als ebenso problematisch ein, „sofern sie bloß eine Umkehrung bedeutet, in der alle Mängel sich in ihr spiegelbildliches Gegenteil verwandeln“ (ebd.). Die Enteignung als eine Auslieferung an das Fremde (vgl. ebd.) tritt auf zwei unterschiedliche Weisen hervor, die ihren Gegenspieler in der Egozentrik und Logozentrik finden: „Die Egozentrik wird beseitigt, indem das Fremde und Fremdartige an die Stelle des Eigenen und Eigenartigen tritt. Das Kind wird zum rettenden Kind, der Wilde zum guten Wilden, Krankheit zur heiligen Krankheit. Was dabei herauskommt, sind Exotik und Konventikelbildung.“ (Ebd.: 63) Seinen Ausdruck findet diese Bewältigungsform des Fremden beispielsweise in Äußerungen wie „Behindertsein ist schön“ oder „Celebrate diversity“ und ähnlichen Umkehrungen, also Äußerungen, die dem inklusionspädagogischen Denken zumindest sehr nahe stehen. Auf die Folgen einer solchen Sichtweise weist beispielsweise auch Prengel hin: 49 Waldenfels hat hier die Disziplin der Psychologie im Blick. Seine Ausführungen treffen an dieser Stelle jedoch ebenso auf die Disziplin der Heil- Sonderpädagogik zu, insofern sich insbesondere die Körperbehindertenpädagogik lange Zeit auf eine solche Sichtweise beschränkt hatte (vgl. hierzu Lelgemann 2010: 45).

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„In allen pädagogischen Ansätzen, die eine Affinität zu Inklusion aufweisen, wird kindliche Verschiedenheit einschließlich Behinderung als Reichtum angesprochen. Auch die Interpretationen der Behindertenrechtskonvention unterstützen diese Auffassung. Dabei kann es leicht geschehen, dass das Leiden, das mit der Erfahrung von Krankheit, Unterlegenheit, Beeinträchtigung und Begrenzung einhergeht, ignoriert wird.“ (Prengel 2010a: 45)

Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz kommt es aber nicht nur zu einer solchen, das Fremde verherrlichenden Umkehrung und zu der logozentristischen Aneignungsform des Fremden in einer totalen Gesamtordnung. Paradoxerweise tritt mit diesem Denken zugleich auch der Gegenspieler einer Logozentrik hervor, „indem die Zentrierung in einem Logos durchbrochen wird durch die Zerteilung in eine Vielfalt von Logoi. […]: man steuert auf […] eine Entgrenzung zu, die zur Auflösung der Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem führt“ (ebd.). Dieser Bewältigungsversuch wurde bereits breit thematisiert (vgl. 2.3): An die Stelle der Verflechtung von Normalität und Anomalität treten zigmilliarden individueller Verschiedenheiten. Diese sind nun wiederum allesamt aufgehoben in einem Logos. Der paradoxe Bewältigungsversuch des Fremden liegt im inklusionspädagogischen Ansatz demnach in der Verflechtung von Gesamtordnung und Grundordnung, der Inklusion von Eigenem und Fremdem in einer umfassenden Ordnung, die sich zugleich als eine völlig entgrenzte Grundordnung verhält, demnach es in dieser Gesamtordnung keine Normalitäten und Anomalitäten mehr geben soll. Mit der pädagogischen Inklusionsidee wird also zugleich sowohl die Strategie der Aneignung durch Aufhebung des Fremden in einer umfassenden Ordnung verfolgt als auch die Strategie der Enteignung durch die völlige Entgrenzung von Eigenem und Fremdem. Die Bewältigung des Fremden gipfelt mit dem Ziel der Vielfalt als Normalfall in einer restlosen Normalisierung der Differenz von Eigenem und Fremdem, Normalem und Anomalem innerhalb einer totalitären Gesamtordnung. Deutlich wird also eine mindestens dreifache Absicherung der Breschen, an denen Fremdes eindringen kann: Der Bewältigungsversuch des Fremden führt im inklusionspädagogischen Ansatz über die Aneignung des Fremden durch Einbeziehung in eine totale Gesamtordnung sowie der doppelten Enteignungsstrategie, die sich tendenziell und zuweilen in der Form einer Umkehrung als Verherrlichung des Fremdartigen, zumeist aber als völlige Entgrenzung von Eigenem und Fremdem erweist. All diese Strategien finden sich vereint im Konglomerat der Normalität der individuellen Verschiedenheit. Diese mehrfach verdickten Mauern gegenüber dem Fremden mögen noch so hoch und undurchdringlich erscheinen; die Abschirmung des Fremden misslingt dennoch, da es sich bereits immer schon innerhalb dieser Mauern eingenistet hat, sobald diese errichtet werden. Gerade auch am historischen Umgang mit Behinderung zeigt sich jedoch, dass die hier erfahrene Fremdartigkeit und Beunruhigung zu unterschiedlichen und teils grausamen Maßnahmen geführt hat, mit denen diese Fremdartigkeit gebändigt wer-

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den soll. Die offensive Strategie der direkten Tötung hat sich mit fortschreitender Entwicklung biotechnischer Möglichkeiten in subtilere Formen der Bekämpfung dieser Fremdartigkeit gewandelt, die letztlich immer auch das Eigene betreffen. Aber auch einseitig separierende Maßnahmen müssen aus dieser Perspektive kritisch betrachtet werden. Sie können als eine Strategie verstanden werden, die erfahrene Fremdartigkeit im Eigenen, die in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ auf besondere Weise hervorgerufen wird, bestimmten Professionen zu überantworten, um sich diese Fremdartigkeit damit im wahrsten Sinne des Wortes vom eigenen Leibe zu halten. Insofern ist die mit dem inklusionspädagogischen Ansatz zu Tage tretende Angst, dass die erfahrene Fremdartigkeit im Kontext von Behinderung häufig und nach wie vor viel zu oft zu derartigen und anderen Strategien der Ausgrenzung führt, nicht nur verständlich, sondern auch berechtigt. Nur: Ebenso wenig, wie sich Angst einfach hinweg reden lässt, trifft dies auch auf die Erfahrung von Fremdartigkeit zu. Der Andere ist grundsätzlich mehr als bloß ein Anwendungsfall von Normen (vgl. Waldenfels 2001: 447), er wirft uns sozusagen auf uns selbst zurück. Im Kontext der Wahrnehmung von Behinderung gilt dies umso mehr, da Behinderungen nicht einfach das ganz Andere oder völlig Fremde sind, sondern Möglichkeiten unserer eigenen leiblichen Existenz, die sich außerhalb unserer Verfügungsmacht bewegen. Der inklusionspädagogische Ansatz ist ein bloßes Gedanken-Konstrukt, das die Erfahrung des Fremden, das stets im eigenen Haus beginnt, ausblendet und damit den Boden der Lebenswelt ignoriert. Zum Problem wird dieser Denkansatz jedoch durch seine präskriptive Ausrichtung, indem im gesellschafts-, bildungspolitischen und wissenschaftlichen Bereich zugleich vehement versucht wird, auf eben diese Erfahrungen einzuwirken, ohne ihnen abseits normativer Geltungsansprüche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Dieser totalitäre Anspruch auf den Umgang mit Heterogenität hat bereits zu Stigmatisierungen von institutionellen Strukturen und Professionen sowie anderen wissenschaftlichen Zugängen zum Phänomen der Behinderung geführt. Dies wäre bereits gravierend genug. Verhängnisvoll wird dieser normative und präskriptive Denkansatz jedoch endgültig damit, dass er die größere Wertschätzung und Anerkennung ‚Behinderter‘ insofern gefährden kann, als die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsregel der Normalität individueller Verschiedenheit in eben diesen Bereichen virulent wird. Auch wenn sich dies zugegebenermaßen schwer beweisen lässt, ist aufgrund der relativ großen Wirkmächtigkeit dieses Ansatzes von einem aktuellen gesellschaftspolitischen Zustand auszugehen, der bereits von den Prämissen inklusionspädagogischen Denkens durchzogen ist.

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5.7.2 Zum Gefährdungspotential der inklusionspädagogischen Sichtweise auf Fremdheit Ganz offensichtlich findet die Frage nach der Fremderfahrung mit der pädagogischen Inklusionsidee keine direkte Thematisierung mehr; ebenso wenig nehmen die Darstellungen, die unter dem Vorzeichen dieser Idee erfolgen, überhaupt noch Bezug auf Erkenntnisse zu diesem Bereich, wie sie im Kontext von Behinderung vor allem von Cloerkes vorgelegt wurden. Im Kern geht es mit der pädagogischen Inklusionsidee aber um eben diese intersubjektiven Prozesse, wenn Inklusion keine rein formale und rechtliche Verordnung bleiben soll. Dass diese Dimension auch für den inklusionspädagogischen Ansatz ein initiatives Motiv darstellt, zeigt sich bereits daran, dass es mit Inklusion im pädagogischen Kontext um die Wertschätzung und Anerkennung des Anderen geht. Eine solche kann zwar mit bestimmten Gesetzen und Verordnungen auch ihren rechtlichen Widerhall finden. Der inklusionspädagogische Ansatz strebt aber eine Wertschätzung des Anderen an, die weit über diesen Bereich hinausreicht und tief in das Denken, Wahrnehmen und Handeln des Einzelnen hinein wirken soll. Nicht zuletzt anhand des sogenannten „Index für Inklusion“ offenbart sich, dass es mit der pädagogischen Inklusionsidee im Kern um die intersubjektive Wertschätzung und Anerkennung des Anderen geht. Hierfür ist die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ die normative und präskriptive Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsvorlage, die exklusive Wertvorstellungen und Ansichten vertritt. Die Frage nach der intersubjektiven Dimension inklusiv-pädagogischer Prozesse wird allerdings nur indirekt verhandelt, und zwar unter dem Gesichtspunkt der normativen Anerkennung des Anderen, der nur noch als individuell verschieden, nicht mehr aber als fremdartig auftreten und erfahren werden soll. Es gibt jedoch einen guten Grund dafür, dass das Geschehen der Fremderfahrung selbst ausgeblendet wird und die Thematisierung intersubjektiver Prozesse bloß noch auf diese indirekte Weise erfolgt. Die Gründe hierfür sind nicht allein darin zu suchen, dass es nicht mehr zeitgemäß erscheint, auf so etwas wie die originären Reaktionen noch hinzuweisen oder Behinderung im Kontext von erfahrener Fremdheit zu thematisieren. Die Gründe für die Ausblendung des intersubjektiven Geschehens und derartiger Reaktionen und Prozesse haben vor allem mit den Prämissen des inklusionspädagogischen Ansatzes selbst zu tun: Denn erstens sollen mit dem Denken der Normalität der individuellen Verschiedenheit spezifische oder gruppenspezifische Fragen, wie die Frage nach der Behinderung, nicht nur explizit vermieden werden, sondern derartige Fragen können mit der anvisierten Normalisierung der Differenz von Normalem und Anomalem nicht mehr gestellt werden. Zweitens führt die Fokussierung auf genau dieses Ziel dazu, dass die Erfahrung des Fremdartigen von vornherein nicht nur zugedeckt wird, sondern sie soll mit dem Endziel der Vielfalt

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als Normalfall auch praktisch völlig überwunden sein. Als Konsequenz gäbe es dann keinerlei Formen der originären Reaktionen mehr; ebenso wären das spezifische Auffälligwerden und Aufmerken im Kontext der Wahrnehmung einer sichtbaren oder auffälligen Behinderung sowie die damit einhergehenden Prozesse der Fremderfahrung völlig versiegt. Eine solche Perspektive wird dann gefährlich, wenn sie als bestimmendes Regulativ der Praxis greifen soll, wie es mit der pädagogischen Inklusionsidee gefordert wird, wobei die Umsetzung dieser Präskription ins Handeln immer schon als möglich vorausgesetzt wird. Konsequent besehen hat das inklusionspädagogische Gedankenkonstrukt also keinen Begriff der Erfahrung. Wenn überhaupt, dann ist dies ein äußerst schwacher und einseitiger Begriff, mit dem Erfahrung lediglich als ein normatives Wirkgeschehen und maschinelles Abwickeln von Geltungsansprüchen verstanden wird, das seinen Ausgangspunkt immer in einem autonomen Subjekt findet. Mit dem Verkennen pathischer Ereignisse und den Ansprüchen der Erfahrung wird gleichsam auch das Geschehen der Aufmerksamkeit und der damit einsetzenden Fremderfahrungsprozesse im Kontext der Wahrnehmung von Behinderung ignoriert. Von einer Weckung der Aufmerksamkeit, die sich unserer Verfügbarkeit entzieht und sich zuweilen bis hin zur Aufdringlichkeit steigert, kann und soll mit der angestrebten Normalisierung der Differenz von Normalem und Anomalem keine Rede mehr sein. Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz wird der Versuch unternommen, die Weckungs-, Zug- und Stoßkräfte der Aufmerksamkeit derart im Zaum einer Normalisierung zu halten, dass uns nichts Fremd- und Andersartiges mehr zustößt, sondern nur noch Verschiedenes begegnet. 50 Es gilt – und dies gesamtgesellschaftlich betrachtet momentan mehr denn je – den Anderen nur noch in seiner bloßen Verschiedenheit freudig willkommen zu heißen. Davon, dass uns der Andere in Anspruch nimmt, unser Eigenes herausfordert, beunruhigt oder verstört, und wir uns in den Begegnungen mit dem Phänomen der Behinderung in spezifischer Hinsicht selbst fremd werden, verschließt dieses Denken die Augen. Es unterliegt damit der naiven Vorstellung, dass etwas verschwindet, nur, weil wir es nicht mehr sehen oder wahrhaben wollen. Psychoanalytisch gesprochen entspricht dies in etwa den Abwehrmechanismen der Verdrängung und Verleugnung gegenüber traumatischen Ereignissen, die das Trauma aber selbst nicht beseitigen. Fremderfahrungen zwischen Kulturen, Geschlechtern oder sozialen Gruppierungen lassen sich nicht vermeiden und keinem gemeinsamen Welthorizont einordnen. Dies scheitert bereits daran, dass die eigene Rede immer schon einen bestimmten, kontingenten Standort voraussetzt, von dem aus diese Weltordnung gefordert wird. Die Unvermeidbarkeit von Fremderfahrungen trifft im Kontext von Behinderung umso mehr zu. In diesen Begegnungen handelt es sich nicht um eine allgemeine oder normal verschiedene Erfahrung von Verschiedenheit, sondern der leiblichen 50 Zum Unterschied von Fremdheit und Verschiedenheit vgl. insbesondere 4.3.2.

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Erfahrung des eigenen, kontingenten leiblichen Zur-Welt-Seins. Diese spezifische Erfahrung des Fremdartigen im Eigenen bedeutet im Falle von Behinderungen einen gesteigerten Entzug des Körperlichen oder Geistigen am Leib selbst, weshalb sich derartige Erfahrungen auch nicht gleichsetzen lassen mit sämtlichen anderen Heterogenitätserfahrungen. Gegenüber dem doppelten inklusionspädagogischen Bewältigungsversuch, der sich als Aneignung des Fremden und gleichzeitige Enteignung durch Entgrenzung von Eigenem und Fremdem entpuppt, lässt sich Fremdes niemals völlig integrieren oder aneignen, „weil es die Kehrseite des Eigenen darstellt“ (Waldenfels 1997a: 142). Vielmehr sprengt die „Fremdheit als Unzugänglichkeit und Nichtzugehörigkeit […] alle Vermittlungs- und Aneignungsversuche“ (Waldenfels 2006: 125). Die Verflechtung von Eigenem und Fremdem sorgt dafür, dass sich Fremdes weder auf Eigenes zurückführen lässt noch, dass es sich in ein Ganzes integrieren oder universalen Gesetzen unterwerfen lässt (vgl. ebd.: 110): „Das Ineinander der Fremderfahrung“, so Waldenfels, „läßt sich in keine umfassende Synthese und keinen endgültigen Vertrag überführen. […] Jeder Bemächtigungsversuch führt zu einer gewaltsamen Rationalisierung, die sich vergeblich bemüht, dem Selbst und der Vernunft ihre Kontingenz und ihre Genese auszutreiben.“ (Ebd.: 125) Die Überwindung des Fremd- und Andersartigen durch dessen völlige Normalisierung würde auch im Kontext von Behinderung die Überwindung der Fremdheit und Kontingenz im Eigenen voraussetzen, das heißt, den Vorgang, dass sich im Falle einer Behinderung etwas am eigenen Leib selbst entzieht und es im Zuge dessen zu einer gesteigerten Fremdheit im Eigenen kommt. Der inklusionspädagogische Ansatz verkennt durch sein einseitiges Verständnis von Heterogenität im Sinne von Verschiedenheit, dass uns Andere und wir uns selbst nicht nur als verschieden begegnen, sondern Andere uns und wir uns selbst notwendigerweise immer auch fremd bleiben. Diese Fremdheit des Anderen und Eigenen tritt insbesondere im Falle einer sogenannten körperlichen oder geistigen Behinderung in gesteigerter Form hervor, indem es hier zu einem erhöhten leiblichen Selbstentzug kommt. Dies gilt sowohl für den ‚Behinderten‘, dem sich hier etwas am eigenen Leib selbst entzieht, als auch für den ‚Nichtbehinderten‘, der sich durch die hohe Affektion des Fremdartigen in diesem Konfrontationsereignis selbst fremd wird und der zugleich auf die eigene leibliche Kontingenz zurückgeworfen wird. Das pathische Konfrontationsereignis, das in diesen Begegnungen wirksam wird, unterscheidet sich nicht nur von Erfahrungen im normalen Fremdheitsbereich (Passanten, Nachbarn etc.), sondern auf spezifische Weise auch von anderen Erfahrungen im strukturellen Fremdheitsbereich (andere Dimensionen von Heterogenität wie beispielsweise migrationsoder religionsbedingte Fremdheit, Fremdheit zwischen den Geschlechtern oder zwischen Erwachsenen und Kindern). Das Selbst kann sich auch und gerade in der Begegnung mit sichtbar oder auffällig ‚Behinderten‘ weder gegen das einbrechende pathische Ereignis und die Weckungskräfte der Aufmerksamkeit abschirmen noch

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gegen die Fremderfahrung, mit der hier ein spezifisches Fremdwerden des Eigenen einsetzt. Eben diese Möglichkeit und Macht wird dem Selbst mit der inklusionspädagogischen Antwortlogik aber zugeschrieben, die nur die Erfüllung normativer Geltungsansprüche im Sinne der richtigen Antwort kennt. Gleichzeitig wird die Umsetzung dieser vorgeblichen Macht vom Selbst auch erwartet und eingefordert. Die normative und moralisierende Vorschrift und Devise hierbei lautet, dass es normal zu sein hat, nur noch individuell verschieden zu sein und dass der Andere ebenso nur noch unter dieser Perspektive wahrzunehmen und zu erfahren ist. Die Erfahrung und Wahrnehmung des Anderen soll ohne Fremdartiges auskommen. Unter all den gezeigten Voraussetzungen wird dieser Versuch vergeblich bleiben und der Einzelne kann an diesen Ansprüchen nur immer wieder scheitern. Die an unser Denken und Wahrnehmen gerichteten, appellierenden Aussagen, „Es ist normal, individuell verschieden zu sein“ oder „Heterogenität ist Normalität“, sind genauso nichtssagend wie die Sätze „Wir sind alle Fremde“, „Wir alle sind behindert“ oder, um auf ein Beispiel Waldenfels’ zurückzugreifen, „Alle Sprachen sind Fremdsprachen“ (vgl. ebd.: 124). Zwar kommt hiermit bereits der vergebliche Versuch zum Ausdruck, die erfahrene Fremdheit aufzuheben; die Problematik zeigt sich jedoch in verschärfter Form, wenn mit Waldenfels angenommen werden kann, dass diese Verallgemeinerung „den Sachverhalt [verschleiert], daß eine Sprache durchaus fremder sein kann als die andere“ (ebd.). Die Handlungs- und Wahrnehmungsregel der Normalität individueller Verschiedenheit macht nichts anderes, sie verschleiert und leugnet, dass es im zwischenmenschlichen Bereich zu unterschiedlichen Fremderfahrungen kommt, die jeweils anderes im Eigenen hervortreten lassen. Die sogenannte Irrelevanzregel, die besagt, eine sichtbare Behinderung „höflich zu übersehen“ (vgl. Cloerkes 2007: 108), erfährt durch die inklusionspädagogische Aufmerksamkeitsregel der Normalität individueller Verschiedenheit nochmals eine deutliche Radikalisierung. Eine Behinderung als ein Ereignis, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängt, kann und soll dann überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden, geschweige denn, dass es unter den inklusionspädagogischen Voraussetzungen in derartigen Ereignissen noch zu so etwas wie spezifischen Fremderfahrungsprozessen kommen kann und darf. Derartige Appelle verblassen jedoch angesichts aller Momente, die im Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ virulent werden. Der präskriptive Charakter, mit dem die Prämissen des inklusionspädagogischen Ansatzes vorgetragen werden, erzeugt nicht nur für den ‚Nichtbehinderten‘ einen enormen Handlungsdruck, der dem pathischen Ereignis der Begegnung mit ‚Behinderten‘ aber nicht Stand halten kann. Auch an den ‚Behinderten‘ ergeht mit diesen Voraussetzungen unweigerlich die Forderung, sich nicht mehr als fremdartig erfahren zu dürfen. Dieses Befreiungsszenario, der Versuch, die Fremd- und Andersartigkeit, die mit bestimmten Formen einer Behinderung einhergeht, durch ihre Normalisierung zu bändigen, impliziert in seinem notwendigen und verhängnisvollen Scheitern unweigerlich die

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Gefahr des Widerstands gegen derartige Forderungen, weil sie sich vom sinnlichen Bathos der Erfahrung weit entfernt haben, von allem Störenden krampfhaft absehen und visionär, illusionär und ideologisch motiviert auf das Geschehen herabblicken. Wie sich mit Waldenfels daher resümierend festhalten lässt, ist es unvermeidlich, „daß die systematische Bändigung der Lebensfülle ebenfalls neue Leiden schafft, verbunden mit einer Käfigangst, die jederzeit explosiv werden kann“ (Waldenfels 1998a: 130). Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass mit der inklusionspädagogischen und gesellschaftspolitischen Prämisse der Normalität der individuellen Verschiedenheit gezielt Einfluss auf das Denken, Handeln und Wahrnehmen genommen wird. Im Falle der Diskrepanz zwischen den inklusionspädagogischen Geltungsansprüchen und den Ansprüchen der Erfahrung muss es zwar nicht gleich zu einem explosionsartigen Ausbruch aus den unhaltbaren Einschränkungen der Erfahrung kommen. Um das Postulat der Normalität individueller Verschiedenheit entschieden zurückzuweisen, genügt es bereits, darauf hinzuweisen, dass derartige Vorstellungen zu einer prädisponierten Vermeidungshaltung der Begegnung mit ‚Behinderten‘ führen können. Dies wird immer dann der Fall sein, wenn sich für den ‚Nichtbehinderten‘ in der Begegnung oder bereits in der Vorstellung herausstellt, dass die inklusionspädagogischen Handlungsregeln nicht in die Tat umzusetzen sind. Noch bevor es damit überhaupt zu einer Zuwendung zum Anderen und einem potentiellen Anderssehen kommen könnte, das den fremden Blick mit beachtet, bewirkt der universale Anspruch, den Anderen nur noch als individuell Verschiedenen wahrzunehmen, eine Abwendung. In einem ähnlichen Sinne, aber auf anderen theoretischen Wegen, heißt es auch bei Prengel: „Der moralische Druck, z.B. ‚ihr müßt alle lieb zueinander sein‘, führt zu hohen heimlichen Aggressionen, die Kinder mit Behinderung zu spüren bekommen.“ (Prengel 1993: 165) Und auch Speck erkennt diese Gefahr, wenn er davon spricht, dass der „Erfolg […] u.U. gefährdet werden [kann], wenn Gefühle überfordert oder irritiert werden“ (Speck 2011b: 286). Kritisch heißt es in dieser Hinsicht auch bei Tenorth: „Allein der Überschwang der guten Ziele kann doch die Skepsis nicht dispensieren – wenn man selbst weiß, dass die Probe aufs Exempel die Praxis und die eigenen Handlungsmöglichkeiten sind, nicht die Anrufung der Menschenrechte.“ (Tenorth 2013a: 36f.) Die in dieser Arbeit angestellten Überlegungen zur Phänomenologie des Fremden geben diesen Mutmaßungen ein theoretisch begründetes Fundament. Die inklusionspädagogische Prämisse der Normalität der individuellen Verschiedenheit verhindert somit von vornherein ein Anderssehen, das dem Anderen möglichst gerecht würde. Ein solches würde die Ansprüche des Anderen nicht vorschnell einem Allgemeinen einordnen, sondern nach Antworten auf das stets singuläre und pathische Ereignis der Konfrontation mit ‚Behinderten‘ suchen und dem fremden Blick Achtsamkeit und Respekt gegenüber walten lassen, anstatt diesen im vorgängigen und als universal auftretenden Denkraum der „Normalität der Ver-

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schiedenheit“ zu nivellieren. Sowohl die völlige Einbeziehung in eine Gesamtordnung als auch die Entgrenzung von Eigenem und Fremdem missachten den fremden Anspruch, der sich gegen diese Bewältigungsversuche zur Wehr setzt. Denkt man zudem beispielsweise an den bildungspolitischen Inklusionsdiskurs, dann zeigt sich, dass die uneingeschränkte Anwendung des Diktats der „Normalität der Verschiedenheit“ bereits dazu geführt hat, dass das, was trotzdem noch fremd bleibt, einer noch viel größeren Stigmatisierungsgefahr ausgesetzt wird, indem insbesondere Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem Pflegebedarf und/oder geistigen Behinderungen nur in den seltensten Fällen Zugang zu einer sogenannten inklusiven Schulsituation finden (vgl. Singer 2015b: 156; Singer/Walter-Klose/Lelgemann 2016: 16f.). Zugleich müssen sich jedoch aus der hier zugrunde gelegten Perspektive auch solche Maßnahmen und Strukturen kritisch hinterfragen lassen, mit denen die erfahrene Fremdartigkeit im Kontext von Behinderung vom Eigenen möglichst ferngehalten werden soll. Auch hiermit wird ein Anderssehen, das den fremden Blick beachtet, nicht nur nicht ermöglicht, sondern ebenso von vornherein verhindert. Nach allem Gesagten kann das inklusionspädagogische Denken samt seiner Prämissen und Ansprüche, als die demokratische Form des Umgangs mit Heterogenität bzw. Behinderung gelten zu wollen, nur entschieden zurückgewiesen werden. Durch die einseitig normative Ausrichtung dieses Denkansatzes wird genau das übersehen, worum es letztlich in praktischen Anerkennungsverhältnissen geht, die Intersubjektivität derartiger Verhältnisse und Prozesse. Diese spielen sich eben nicht als ein normatives Geschehen, sondern primär als eines der (Fremd-) Erfahrung ab, das sich mit normativen Forderungen nicht in den Griff bekommen lässt. Vor jeder persönlichen Anerkennung des Anderen steht ein responsives Eingehen, ein ‚Antwortenmüssen‘ auf den fremden Anspruch: Die Verständigung „beginnt mit dem Antworten auf einen fremden Anspruch, der meiner eigenen Anerkennung zuvorkommt und nicht aus ihr resultiert“ (Waldenfels 2008: 175). Auch die inklusionspädagogische Theoriebildung müsste diese prä-normative oder präreflexive Erfahrungsebene damit berücksichtigen. Die gesetzten Prämissen und anthropologischen Grundannahmen lassen eine solche Thematisierung jedoch nicht mehr zu. Wissenschaftlich oder theoretisch betrachtet, stellt das auf vielfache Weise eine unzulässige Verkürzung der Thematik der Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘ dar. Verhängnisvoll wird der inklusionspädagogische Ansatz jedoch vor allem deswegen, weil er als normatives Regulativ der Praxis auftritt, die sich als eine Erfahrung des Fremden derartigen Nivellierungen und Verkürzungen widersetzt. Der Versuch der Beseitigung und Überwindung der Fremdheit führt letztlich nicht nur dazu, dass damit das Eigene verkannt wird, sondern dieser Versuch führt zu einer zusätzlichen und potenzierten Beunruhigung durch Fremdes, dem dann, auf unterschiedlichen Wegen, erst recht aus dem Weg gegangen wird. Demgegenüber kann uns die Toleranz des Andersseins und der Fremdheit des Anderen darüber belehren, „daß wir etwas nicht verstehen, nicht weil der andere

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außerstande ist, sich verständlich zu machen, sondern weil wir versagen im Hinblick auf eine Frage, die ihm eine Antwort allererst möglich macht“ (Meyer-Drawe 1993: 32). Diese Fragen werden verunmöglicht, wenn immer schon vorentschieden ist, wie wir dem Anderen begegnen sollen, um der Fremdheit aus dem Weg zu gehen, ohne dass sie hierdurch überwunden wäre. Fremdes ist kein Mangel, den man unbeschadet beseitigen könnte; es lässt sich höchstens verdrängen, abwehren, herabmindern oder an den Rand einer Ordnung drängen, völlig überwinden lässt es sich jedoch nicht. Die folgende Äußerung Waldenfels’ lässt sich daher auch und insbesondere nochmals als eine zusammenfassende Kritik am inklusionspädagogischen Ansatz lesen: Das „Fremde bedeutet entweder ein Defizit, das zu beseitigen ist, oder ein relatives Moment, das in einem Ganzen allzu gut aufgehoben wäre. Die Möglichkeit eines radikal Fremden […] kommt so erst gar nicht in den Blick. Dies hat zur Folge, daß die Kontingenz des ‚es gibt‘ […] überspielt wird zugunsten einer vorgegebenen Ordnung, die […] alles umfaßt. Die Breschen, an denen das Fremde eindringt und sich als Außer-ordentliches und Außergewöhnliches bemerkbar macht, werden immer wieder geschlossen; sie lassen sich jedoch nicht schließen, außer man schließt die Augen.“ (Waldenfels 1999a: 85)

Angebracht wären stattdessen der Mut der Anerkennung der Fremdheit des Anderen und ebenso der Mut, sich der Herausforderung durch Fremdes auszusetzen, ohne es auf Eigenes zurückzuführen oder einem Allgemeinsamen einzuordnen. Mit Merleau-Ponty ginge es letztlich darum, „zu lernen, wie man das, was unser ist, als fremd, und das, was uns fremd war, als unsriges betrachtet“ (Merleau-Ponty 1986: 20). Nur so wird sich auch die Sichtweise auf Behinderungen verändern.

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Resümee und Ausblick

Dieser letzte Teil der Arbeit verfolgt drei Anliegen: Zunächst werden der methodische Zugang der Analyse des inklusionspädagogischen Ansatzes über den Weg der Phänomenologie des Fremden in Anschluss an Waldenfels diskutiert und Einschränkungen dieses Vorgehens benannt (6.1). Anschließend erfolgt eine Zusammenfassung der wesentlichen Überlegungen zur pädagogischen Leitidee der Inklusion sowie zu den hieran vorgetragenen Kritikpunkten (6.2). Insofern die Sichtweise dieser Leitidee auf Fremdheit klar zurückgewiesen wird, stellt sich abschließend die Frage nach einem anderen Umgang mit dem Phänomen der Fremdheit. Ein solcher ist in mindestens dreierlei Hinsicht angezeigt (6.3): Eine fremdheitsphänomenologische Perspektive führt zu einer anderen Sichtweise auf die Intersubjektivität von ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘, als dies mit dem nivellierenden und banalisierenden Postulat der „Normalität der Verschiedenheit“ der Fall ist. In diskursiver Hinsicht verhilft das Denken der radikalen Fremdheit in Abgrenzung zum Denken der Verschiedenheit zu mehr Klarheit, um normative Ansprüche und intersubjektive Verhältnisse voneinander abzugrenzen. Zugleich ist mit ihm ein anderes Verständnis von Behinderung angezeigt, das sich von dem der pädagogischen Inklusionsidee grundlegend unterscheidet. Schließlich ist danach zu fragen, was die Ausführungen für den weiteren disziplinären Umgang der Heil- und Sonderpädagogik mit dem Phänomen der Fremdheit sowie mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff bedeuten.

6.1 DISKUSSION DES METHODISCHEN ZUGANGS DER ANALYSE UND EINSCHRÄNKUNGEN DER ARBEIT Das Werk Waldenfels’ wurde als methodischer Zugang der Analyse des inklusionspädagogischen Ansatzes gewählt. Dieser methodische Zugang hat sich für die Analyse der pädagogischen Inklusionsidee insbesondere deswegen angeboten und als ertragreich erwiesen, da hiermit die intersubjektive Ebene, auf der sich sogenannte

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Anerkennungs- und Wertschätzungsverhältnisse primär vollziehen, als ein Geschehen der zwischenleiblichen (Fremd-)Erfahrung thematisiert werden konnte. Zudem hat sich gezeigt, dass die Phänomene der Fremdheit bzw. des Normalen und Anomalen sowie der Aufmerksamkeit auf besondere Weise mit dem Phänomen der Behinderung verschränkt sind (vgl. Kap. 5). Gleichermaßen hätten sich auch andere Zugänge zu dieser Problematik angeboten, in besonderer Weise vor allem ein habitustheoretischer Zugang in Anschluss an Bourdieu. Dieser sehr vielversprechende Zugang der Analyse konnte mit dieser Arbeit keine vertiefte Berücksichtigung erfahren und wurde nur sehr am Rande gestreift. Unterbleiben musste hier ebenso eine Analyse der sozialstrukturellen oder gesellschaftlichen Kontextfaktoren, innerhalb derer sich auch die intersubjektiven Prozesse der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung bewegen. Eine machttheoretische Erörterung der inklusionspädagogischen Prämissen in Anschluss an Foucault wäre in dieser Hinsicht sicherlich ein lohnenswertes Unterfangen. Nicht zuletzt bieten sich soziologisch fundierte Analysen des pädagogischen Inklusionskonzepts an, wie diese im heil- und sonderpädagogischen Diskurs vor allem von Kastl vorgelegt wurden, dessen Überlegungen an entsprechenden Stellen immer wieder Raum gegeben wurde. Im Kontext der Fremderfahrung von Behinderung hätten sicherlich auch explizit psychologische oder psychoanalytische Zugänge eine eingehendere Betrachtung verdient gehabt; sie wurden jedoch im Rahmen der Darstellung und Analyse der „sozialen Reaktionen“ bei Cloerkes mit thematisiert (vgl. 5.4; 5.5.2; 5.5.4). Die relativ große Komplexität der Problematik zum Weg hin zu mehr Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘ aus einer fremdheitsphänomenologischen Perspektive hat umfangreichere, voraussetzungsreiche Vorarbeiten und Ausführungen notwendig werden lassen. Diese konnten trotzdem teilweise nur in ihren Grundzügen dargestellt werden. Dies gilt sowohl für die einzelnen Darstellungen der inhaltlichen Aspekte als auch für die Voraussetzungen der spezifischen Kritik, wie sie hier in Anschluss an Waldenfels durchgeführt wurde. Aus dem sehr umfangreichen Gesamtwerk Waldenfels’ wurden nur diejenigen Aspekte verstärkt herausgegriffen, die für die hier zu behandelnde Thematik als wesentlich erschienen. Neben dem radikal Fremden selbst (vgl. v.a. 4.3; 5.2) und der Konzeption der Responsivität (vgl. 5.2) waren dies vor allem der Ordnungsbegriff (vgl. 4.1), das Verhältnis von Normalem und Anomalem (vgl. 5.1.3) sowie das Phänomen der Aufmerksamkeit (vgl. 5.3). Eine weitere Einschränkung ergibt sich dahin gehend, dass die inzwischen vorliegende Literatur im Kontext von Inklusion und Heterogenität von einem Einzelnen nicht mehr komplett zu überschauen ist. Mit der vorliegenden Arbeit sollten zwar möglichst viele Stimmen zur Sprache kommen, die sich in diesem Diskurs äußern (vgl. v.a. 2.1; Kap. 3); es konnten aber bei Weitem nicht alle vorliegenden Arbeiten überblickt und berücksichtigt werden. Für das Vorhaben war dies aber auch nicht zwingend notwendig, da sich die Ausführungen zum pädagogischen Inklusi-

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onsbegriff auf Hinz konzentrierten und in Anschluss an die Phänomenologie des Fremden eine spezifische Kritik an diesem Ansatz entwickelt wurde. Die Arbeit hätte sowohl nur auf die theoretische Auseinandersetzung zum pädagogischen Inklusionsbegriff (vgl. Kap. 2) als auch nur auf die Betrachtung des Fremderfahrungsgeschehens im Kontext von Behinderung beschränkt werden können (vgl. Kap. 5). Das vorgelegte Ziel war es jedoch, die Prämissen des inklusionspädagogischen Ansatzes, dem es ja geradezu um die größere intersubjektive Anerkennung und Wertschätzung auch von ‚Behinderten‘ geht, mit den fremdheitsphänomenologischen Überlegungen zur Intersubjektivität im Kontext von Behinderung zu konfrontieren, die sich als eine spezifische Fremderfahrung vollzieht. Abseits dieses Blickwinkels hat sich mit dem Ordnungsbegriff, wie er sich bei Waldenfels dargestellt findet, eine spezifische Kritik an der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung geradezu aufgedrängt (vgl. Kap. 4). Diese Darstellungen zur inklusionspädagogischen Vorstellung von Intersubjektivität und Ordnung finden sich in dieser Form weder bei Waldenfels selbst noch im heil- und sonderpädagogischen Diskurs. Waldenfels kommt zwar an wenigen Stellen auf eine ‚inklusive Gemeinschaft‘ in Anschluss an Habermas zu sprechen; er hat damit aber nicht die inklusionspädagogische Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ im Sinn, auch führt er keine explizite Kritik am Inklusionsbegriff durch. Ebenso wenig finden sich bei ihm explizite Überlegungen zum Phänomen der Behinderung. Wie er selbst sagt, soll sein Werk für vielfältige Anschlussüberlegungen herhalten (vgl. Waldenfels 2006: 13). Diese Möglichkeit sollte hier genutzt werden, indem zentrale Momente seines Denkens mit dem Ordnungsbegriff des inklusionspädagogischen Ansatzes sowie dessen Umgang mit Fremdheit bzw. Fremderfahrungen in Zusammenhang gebracht wurden. Auch im heil- und sonderpädagogischen Diskurs findet sich bisher keine umfangreichere Erörterung der Frage nach der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung aus einer phänomenologischen Perspektive. Ebenso wenig liegt bisher eine spezifische und umfassende Kritik an der inklusionspädagogischen Sichtweise auf Intersubjektivität aus einer fremdheitsphänomenologischen Perspektive vor. Felders Überlegungen zur Dimension sogenannter inklusiver Anerkennungsprozesse gehen wohl bisher am weitesten, jedoch geschieht dies bei ihr mit einer rechtlichen Perspektive aus einer völlig anderen Blickrichtung. Sie kommt teilweise zu ähnlichen Ergebnissen, wenn es bei ihr abschließend heißt: „Niemand kann gezwungen werden, eines Anderen Freund zu werden. Und auch das Empfinden von Liebe, von Freundschaft wie auch von Glück liegt nicht im Einflussbereich der Träger von Pflichten. Damit ist ein großes Dilemma in der faktischen Lebenswelt behinderter Menschen angesprochen. Denn gerade das, wonach sich die meisten Menschen – nicht nur Menschen mit Behinderung – sehnen, kann nicht über Rechte abgesichert werden. Und es lässt sich darüber hinaus auch nicht oder nur schwer pädagogisch oder technisch herstellen.

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Damit ist ein ernüchterndes Fazit zu ziehen, insofern nämlich den Ansprüchen und dem Selbstverständnis vieler inklusionspädagogischer Ansätze zu Inklusion, aber auch den Intuitionen vieler Menschen sowie den Wünschen von Betroffenen und ihren Angehörigen eine Absage erteilt wird. Diese Absage ist insofern unerbittlich und hart, als sie aussagt, dass das, was gefordert wird, in vielen Fällen unrealistisch oder gar antiliberal ist.“ (Felder 2012: 301)

Felder kommt damit zu einer sehr ähnlichen Einschätzung der inklusionspädagogischen Sichtweise auf intersubjektive Anerkennungsprozesse. Zu dieser Erkenntnis gelangt sie jedoch über einen anderen methodischen Weg, nämlich denjenigen der Frage nach dem Recht behinderter Menschen (vgl. ebd.: 11). Der hier gewählte methodische Zugang der Phänomenologie des Fremden macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die inklusionspädagogischen Wünsche nicht nur unrealistisch oder antiliberal sind, sondern zum Gegenteil des Erhofften und Geforderten führen können. Die Frage nach intersubjektiven Anerkennungsverhältnissen ist zwar auch, aber nicht nur eine Frage des Rechts oder der Möglichkeit der Durchsetzung von Rechten, sondern vor all diesen wichtigen Fragen nimmt das Aufmerksamkeits- und Fremderfahrungsgeschehen das Selbst dermaßen in Anspruch, dass es sich im Ereignis der Konfrontation mit ‚Behinderten‘ auf spezifische Weise selbst fremd wird. Die Gefahr des Widerstands gegenüber der inklusionspädagogischen Hoffnung und Forderung, die Fremd- und Andersartigkeit auch von ‚Behinderten‘ zu beseitigen, liegt genau in dieser Forderung begründet. Zur zusätzlichen Verunsicherung, die schließlich in einer völligen Vermeidung der Begegnung mit ‚Behinderten‘ münden kann, wird es immer dann kommen, wenn die Spezifik des Aufmerksamkeits- und Fremderfahrungsgeschehens im Kontext von Behinderung der inklusionspädagogischen Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsmaxime der Normalität individueller Verschiedenheit nicht nur enge Grenzen setzt, sondern diese Forderungen in der faktischen Begegnung mit ‚Behinderten‘ gleichsam aufgesprengt werden und sich die Erfahrung stärker als jeder normative Appell erweist. Im engeren thematischen Umfeld der hier verfolgten Trias von Fremdheit, Behinderung und Inklusion bewegen sich bisher ansonsten nur Dederich und Stinkes (vgl. 3.3); zum jetzigen Zeitpunkt liegen hierzu jedoch noch keine umfangreicheren Erörterungen vor, die zudem aus der fremdheitsphänomenologischen Perspektive explizit eine kritische Befragung der inklusionspädagogischen Prämissen durchgeführt hätten. Zu diesem Schluss gelangt auch Dederich, der innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage gegeben sieht, ob „Inklusion tatsächlich die einzig legitime Antwort auf die Forderung nach NichtAusschluss [ist]?“ (Dederich 2013a: 42). Mit der vorliegenden Arbeit wurden in Anschluss an Waldenfels eine solche Befragung der eigentlichen inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung und eine kritische Erörterung der Grundidee der Normalität individueller Verschiedenheit vorgenommen. Das hier von Dederich benannte Desiderat kann in diskursiver Hinsicht damit als ein Anlass der Arbeit ver-

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standen werden. Stinkes nimmt das inklusionspädagogische Paradigma der „Normalität der Verschiedenheit“ explizit in den Blick (vgl. Stinkes 2012a; 2012b). Sie geht jedoch von einer notwendigen Erweiterung oder Ergänzung des inklusionspädagogischen Ansatzes um das Denken der radikalen Fremdheit aus, was mit den hier angestellten Überlegungen jedoch, wie gezeigt, nicht für möglich gehalten wird. Mit der expliziten Thematisierung des Aufmerksamkeitsgeschehens und der ausführlichen Betrachtung der Spezifik der Fremderfahrungsprozesse im Kontext von Behinderung wurde hier unter anderem auch an die bisherigen Ausführungen von Dederich und Stinkes angeknüpft. Mit der vorliegenden Arbeit ist damit die Hoffnung verbunden, die fremdheitsphänomenologische Perspektive verstärkt in den Diskurs um Inklusion einzubringen und den Diskurs über Fremdheit und Behinderung damit weiter zu führen. Neben der Einschränkung des methodischen Zugangs besteht – zumindest auf den ersten Blick – eine weitere Einschränkung der Arbeit in der Wahl der inklusionspädagogischen Bezugstheorie. Ganz grundsätzlich ließe sich hierzu zunächst sagen, dass wissenschaftliches Fragen notwendigerweise immer selektiv vorgehen muss, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Diese Einschränkung geschah in diesem Fall jedoch weder willkürlich noch aus pragmatischen oder sonstigen Gründen, sondern dies hat mit immanent inhaltlichen Gründen zu tun, die zu Beginn der Arbeit relativ breit erörtert wurden (vgl. v.a. 2.1). Mit Hinz wurde der Arbeit ein Verständnis vom pädagogischen Inklusionsbegriff zugrunde gelegt (vgl. 2.3), das für Anschlussfähigkeit des wissenschaftlichen Diskurses sorgt und nicht eines, das in Folge dieses Verständnisses aus unterschiedlichen Gründen immer weiter bis nahezu zur Unkenntlichkeit verwässert wurde (vgl. 2.1). Diese Möglichkeit sollte hier explizit genutzt werden, um einen kritischen Diskurs über die inklusionspädagogischen Prämissen führen zu können und hierüber in ein wissenschaftliches Gespräch zu kommen, das mit den Umdeutungsstrategien verunmöglicht wird (Umdeutungen im Sinne der UN-BRK; gemäßigtes bzw. weites sowie bildungspolitisches oder sonderpädagogisches Inklusionsverständnis). Weder ist das Verständnis von Hinz besonders radikal noch vertritt er damit irgendwelche besonderen oder abwegigen Positionen im Diskurs um Inklusion. Vielmehr nimmt er den Begriff in seinem pädagogischen Bedeutungsgehalt und seinen Konsequenzen ernst. Den Vorwurf der Abwegigkeit müssen sich diejenigen Diskurs-Positionen gefallen lassen, die sich, zumeist aus politischen Gründen, der Strategie der Verwässerung dieses Begriffes bedienen. Ein solches Vorgehen schafft nicht mehr Klarheit, sondern es transportiert vor allem Unklarheit in den Diskurs, die letztlich zur Verunsicherung nicht nur der wissenschaftlich, sondern auch der praktisch Tätigen führt. Abgesehen davon wird mit der vorliegenden Arbeit die Aufgabe einer Wissenschaft nicht darin gesehen, Politik zu machen. So scheint im heil- und sonderpädagogischen und ebenso im bildungspolitischen Diskurs um Inklusion häufig nicht das wissenschaftliche und fachliche Interesse an einem Begriff im Vordergrund zu stehen, sondern ein

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System der Verschleierung, das dazu führen soll, einen Begriff zu entwerten, der die eigene Disziplin bedroht oder klare bildungspolitische Entscheidungen erfordern würde. Von einem solchen Vorgehen distanziert sich diese Arbeit ausdrücklich, indem hier eine theoretische Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Begriff und Konzept der Inklusion gesucht wurde. Die Arbeit gelangt zu dem Fazit, dass die inklusionspädagogischen Prämissen, entgegen dem eigenen Anspruch dieses Ansatzes, nicht nur nicht tragfähig sind für die Gestaltung intersubjektiver Prozesse, sondern diese sich angesichts der Spezifik dieser Prozesse im Kontext von Behinderung sogar als absolut kontraindiziert erweisen können. Nicht zuletzt aufgrund der moralisch in höchstem Maße aufgeladenen Situation um Inklusion ist auch an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, dass mit dieser Arbeit das eigentliche Anliegen des inklusionspädagogischen Ansatzes nicht im Geringsten angezweifelt wird, nämlich die größere persönliche und gesellschaftliche Wertschätzung und Anerkennung ‚Behinderter‘. Allerdings vertritt diese Arbeit den klaren Standpunkt, dass diesem Ziel mit den inklusionspädagogischen Prämissen und Lösungsansätzen nicht Genüge getan wird; vielmehr wird dieses Ziel durch sie in höchstem Maße gefährdet. Der inklusionspädagogische Ansatz konnte als ein ideologischer Ansatz identifiziert werden, der die eigene, kontingente Perspektive verleugnet, wodurch neue Stigmatisierungen und womöglich noch viel schwerwiegendere oder existentiellere Exklusionen befördert werden (vgl. Kap. 4). Die folgenden Ausführungen nehmen im Sinne eines Resümees Bezug auf die wesentlichen Überlegungen zum pädagogischen Inklusionsbegriff sowie auf die Kritikpunkte am inklusionspädagogischen Ansatz aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden.

6.2 RESÜMEE Anhand bestimmter Problemfelder des (sonder-)pädagogischen Diskurses um Inklusion wurde zunächst der Versuch unternommen, die hochkomplexe diskursive Ausgangslage der Diskussion der pädagogischen Inklusionsidee zu skizzieren. In methodischer Hinsicht konnte hiermit für Transparenz hinsichtlich der eigenen argumentativen Voraussetzungen gesorgt werden. Die Arbeit ging davon aus, dass sich das inklusionspädagogische Denken inzwischen zu einem Paradigma des Umgangs mit Heterogenität oder vielmehr der Fremdheit des Anderen entwickelt hat, das auf vielfältige Weise gesellschaftlich wirksam geworden ist. Dieses Denken beherrscht nicht nur weite Teile des heil- und sonderpädagogischen Diskurses. Auch im Feld der Bildungspolitik ist Inklusion als Schlagwort längst angekommen, um das sich die Diskussionen ranken. Nicht zuletzt tritt dieses Denken im gesell-

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schaftspolitischen Raum immer dann mit hervor, wenn – wie dies in letzter Zeit immer häufiger der Fall war – einer sogenannten Wertschätzungskultur einseitig das Wort geredet wird. Dass eine solche Rede- und Sichtweise, die Problemlagen nicht mehr offen thematisiert oder diese verschweigt und nivelliert, Widerstände und Gegenreaktionen hervorruft, lässt sich derzeit auf höchst ungute Weise im europäischen Raum beobachten. Sie bewirkt eine Radikalisierung oder einen Extremismus bei denjenigen Bevölkerungsgruppen, deren Ängste und Sorgen auf teilweise herablassende Art und Weise nicht ernst genommen werden und die sich hierdurch noch mehr an den Rand gedrängt fühlen oder deren Grundeinstellungen durch die ihnen entgegengebrachte einseitig ignorante Haltung eine zusätzliche und unnötige Verstärkung erfahren. Im Großen zeigt sich hier also genau das, was auch als Gefahr des inklusionspädagogischen Ansatzes für den Umgang mit Behinderung und ‚Behinderten‘ ausgemacht werden konnte. Der überfliegende inklusionspädagogische Blick, der von allem Störenden absieht und einseitig dessen Überwindung fordert, führt genau dazu, dass alles Störende umso heftiger an unsere Sinne und eine entleiblichte Vernunft appelliert, woraufhin Abwehrreaktionen in Gang gesetzt werden. Zugleich ist auf die große Kluft und die Ambivalenz zwischen der inklusionspädagogischen Forderung der Wertschätzung individueller Verschiedenheit und bestimmten gesellschaftlich-normativ herrschenden Paradigmen hinzuweisen. Die Fremd- und Eigenerfahrung einer Behinderung vollzieht sich in einer Zeit, in der das ökonomische oder neoliberale Denken den Ton und Takt vorgibt, an denen sich der Einzelne möglichst auszurichten hat, sofern er sich nicht dem Verdacht einer politischen Abseitigkeit aussetzen will. Der Mensch kommt nicht mehr nur als Ressource in den Blick, sondern er begreift sich selbst zunehmend als eine Ressource, die es hinsichtlich sämtlicher leiblicher Dimensionen kontinuierlich zu optimieren gilt. Die Fremderfahrung einer Behinderung bewegt sich damit zwischen den Polen des gesellschaftspolitisch vorgegebenen Dispositivs der Inklusion als Wertschätzung individueller Verschiedenheit und des zugleich vorgegebenen Dispositivs der Nutzenmaximierung und der Ästhetisierung des Selbst. Es stellt sich hierbei jedoch die Frage, ob das Dispositiv der pädagogischen Inklusion nicht selbst insofern als ein Ausdruck neoliberalen Denkens begriffen werden kann, als die Wertschätzung individueller Verschiedenheit den höchsten Rang in diesem Gedankengebäude einnimmt. Dies bedeutet nicht, dass auf eine Perspektive, die auf die Individualität des Einzelnen hinweist, verzichtet werden sollte. Die Gefahr eines solchen einseitigen Denkens ist aber, dass das Selbst durch die Verabschiedung gruppenkategorialen Denkens dann nur noch als seines eigenen Glückes Schmied gilt, das bei unzureichender Sorge um sich in die alleinige Verantwortung oder Haftbarmachung genommen werden kann. Die große disziplinäre und gesellschaftspolitische Virulenz inklusionspädagogischen Denkens hat auch damit zu tun, dass dieser Ansatz sehr einfache Lösungen

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für den Umgang mit Heterogenität oder Fremdheit anbietet. Allerdings verbirgt sich hinter dieser Einfachheit auch großer Konfliktstoff, der sich vor allem am institutionell vorgesehenen Umgang mit Heterogenität entladen hat und nach wie vor entlädt. Interessanterweise hat der unvereinbare Konflikt zwischen sonderpädagogischen und inklusionspädagogischen Ansichten jedoch nicht zu einer Infragestellung des Inklusionskonzepts durch die Heil- und Sonderpädagogik geführt, sondern zur Übernahme des Inklusionsbegriffes ins eigene Fachgebiet. Die Disziplin musste und muss seither den fadenscheinigen Weg begriffsverwässernder Strategien beschreiten, da es sich bei Inklusion in pädagogischen Bezügen um einen Begriff handelt, der nicht nur den disziplinären Gegenstand der Behinderung bedroht, sondern die gesamte Fachdisziplin der Heil- und Sonderpädagogik selbst. Anstatt eine grundlagentheoretische Diskussion über die Prämissen des inklusionspädagogischen Ansatzes zu führen, die in der Breite nicht erkennbar ist, verliert sich die Disziplin entweder in diesen Strategien oder in der Diskussion bloß praktischer Konsequenzen. Für die Bildungspolitik mag all dies noch angehen. Die Orientierung der wissenschaftlichen Heil- und Sonderpädagogik an dieser politischen Strategie der Umdeutung, womit wohl einem gewissen Zeitgeist entsprochen werden soll, zeugt von keiner allzu großen wissenschaftlichen Vorgehensweise. Mehr noch: Die Disziplin läuft hierdurch sowie durch die Ausrichtung an einem ideologischen Paradigma letztlich Gefahr, sich selbst überflüssig zu machen. Ein wissenschaftliches Interesse am inklusionspädagogischen Ansatz sollte sich nicht nur der Ideologisierung, sondern auch der Moralisierung der Thematik in den Weg stellen. Dies gilt umso mehr aufgrund der großen Wirkmächtigkeit dieses Ansatzes, der in seiner präskriptiven Ausrichtung zum Umgang mit Heterogenität und Fremdheit eine Gefährdung des Ziels einer größeren Wertschätzung und Anerkennung ‚Behinderter‘ darstellt. Vor diesem Hintergrund hat sich die Arbeit die Frage vorgelegt, ob die pädagogische Inklusionsidee ihrem eigenen Anspruch gerecht wird, als eine sinnvolle und demokratische Leitvorstellung für den Umgang mit Heterogenität und Fremdheit im Kontext der Intersubjektivität von Behinderung herhalten zu können. Letztlich entscheidet die Beantwortung dieser Frage auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Leitvorstellung für die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik. Es galt also, die Prämissen des inklusionspädagogischen Ansatzes hinsichtlich des disziplinären Gegenstands der Behinderung zu prüfen. Der gesetzte Fokus lag hierbei auf der praktischen Dimension der Intersubjektivität. Diese Verknüpfung ergibt sich aus dem Anspruch des inklusionspädagogischen Ansatzes, eine gute und sinnvolle Leitvorstellung für den praktischen Umgang mit Heterogenität und Fremdheit anzubieten, deren Umsetzung zugleich vehement eingefordert wird. Im Folgenden werden die wesentlichen Erkenntnisse der Arbeit unter Bezugnahme auf die eingangs aufgestellten Thesen zusammengefasst.

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Der inklusionspädagogische Ansatz kann auf einer allgemeinen Ebene als Antwort auf die nach wie vor bestehenden, vielfältigen gesellschaftlichen und intersubjektiven Ausgrenzungen nicht nur von ‚Behinderten‘, sondern aller marginalisierten Menschen begriffen werden. Mit dem Inklusionsbegriff verbindet sich im pädagogischen Kontext ein Ansatz, der insofern streng normativ ausgerichtet ist, als die formulierten Zielsetzungen des gesellschaftlichen, institutionellen und intersubjektiven Umgangs mit Heterogenität ohne eine eingehendere Analyse dieser Verhältnisse auskommen. Zugleich werden klare Handlungsvorgaben dazu gemacht, wie diese Verhältnisse aussehen sollen, ohne dass die Zielsetzungen hierbei eine direkte Begründungsleistung erfahren (vgl. 2.3.1; 2.3.2). Die Forderungen des inklusionspädagogischen Ansatzes bewegen sich damit in einem illusionären und ideologischen Rahmen und kommen über den Status bloßer Postulate zur Veränderung der Wirklichkeit nicht hinaus. Der überfliegende inklusionspädagogische Blick verkennt neben den gesellschaftlichen und strukturellen Kontextfaktoren und der Eingebundenheit seiner Forderungen in diese insbesondere auch die Dimension des zwischenleiblichen, intersubjektiven Handelns abseits normativer Ansprüche. Mit dem Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsdispositiv der Normalität individueller Verschiedenheit soll Vielfalt oder Verschiedenheit Normalität werden; angestrebt wird die restlose Überwindung des Andersseins bzw. der Andersartigkeit und Fremdheit des Anderen durch die Normalisierung der Differenz bzw. des Verhältnisses zwischen Normalem und Anomalem (vgl. 2.3.3; 5.1.3). Die theoretische Grundannahme der Normalität individueller Verschiedenheit, die diesem Ansatz zugrunde gelegt wird und die zugleich seine Zielsetzung ist, geht hierbei kongruent mit der Vorstellung einer inklusiven Gesellschaft und mit dem exklusiven Primat der institutionellen Gemeinsamkeit. Das Ziel der positiven Wertschätzung individueller Verschiedenheit lässt sich aus dieser Annahme hingegen nicht ableiten, weshalb der inklusionspädagogische Ansatz mit diesem Postulat einen zusätzlichen normativen Überbau benötigt (vgl. 2.3.4.1). Widersprüche tun sich in diesem Gedankengebäude immer dann auf, wenn einzelne Dimensionen von Heterogenität weiterhin benannt werden, auch und gerade dann, wenn diese Kategorien nur noch zum gesellschaftskritischen Einsatz kommen sollen oder auf transformatorische Weise uminterpretiert werden. Bereits die theoretische Grundannahme der Normalität individueller Verschiedenheit verhindert jegliches perzeptives und sprachliches Kategorisieren (vgl. 2.3.4.2). (Gruppen-)Spezifische Fragen, wie beispielsweise die nach einer Behinderung und der Bedeutung dieser für das Selbst- und Fremderleben, sollen explizit nicht mehr gestellt werden, was mit der Prämisse der Vielfalt als Normalfall a priori geradezu verhindert wird. Ihren Widerhall findet die inklusionspädagogische Sichtweise auf Behinderung als normale, individuelle Verschiedenheit damit auch in einer sozialkonstruktivistischen Sichtweise, demnach Behinderungen zu überwinden sind, da sie aus dieser Perspektive lediglich als ein stigmati-

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sierendes und diffamierendes Produkt gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse betrachtet werden. Mit der theoretischen Grundannahme der Normalität individueller Verschiedenheit geht – anders, als dies von Hinz behauptet und im Diskurs kaum gesehen wird – zugleich eine theoretische Verschiebung gegenüber dem integrationspädagogischen Verständnis von Integration einher, sprich: Integration und Inklusion unterscheiden sich nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie. Markiert ist dieser theoretische Unterschied durch ein deutlich verändertes Verständnis von Heterogenität und Fremdheit (vgl. 2.4). Wohingegen die integrationstheoretische Denkfigur der egalitären Differenz Spannungsverhältnisse auf gesellschaftlicher, institutioneller und intersubjektiver Ebene noch beschreibbar und analysierbar macht, werden diese Spannungsverhältnisse mit der Denkfigur der Normalität individueller Verschiedenheit auf allen Ebenen einkassiert. Die Beibehaltung der integrationstheoretischen Perspektive der egalitären Differenz, die die gleiche Freiheit und den nichthierarchischen Umgang mit Heterogenität verfolgt, wird zwar auch im inklusionspädagogischen Ansatz nach wie vor behauptet; die demokratische Denkfigur der egalitären Differenz wird hierin aber durch das totalitäre Ordnungsprinzip der Normalität individueller Verschiedenheit ersetzt, ohne dass dies von Hinz gesehen oder zumindest klar so benannt würde. Mit dieser Wandlung verändern sich auch die Einschätzungen der Zielperspektiven gegenüber der Integrationstheorie (totale Einbeziehung Aller in Allem versus Integration in gesellschaftliche Teilbereiche; Ausschließlichkeit der Forderung einer Schule für alle versus potentielle Möglichkeit unterschiedlicher Schulformen; restlose Überwindung der Fremdheit versus Anerkennung der Fremdheit des Anderen). In eben dieser theoretischen Veränderung der Beurteilung der Zielperspektiven, die sich durch die Ersetzung der Denkfigur der egalitären Differenz durch die Grundannahme der „Normalität der Verschiedenheit“ ergeben, liegt das originäre Moment der pädagogischen Inklusionsidee, ohne das es auch die teils hitzigen Diskussionen nicht gegeben hätte und nicht geben würde. Andere Verständnisse eines pädagogischen Inklusionsbegriffes sind zwar offensichtlich möglich, sie haben mit dieser originären Idee jedoch nichts zu tun und sorgen nur für diskursive Unklarheiten und praktische Verunsicherung bei allen Beteiligten. Zudem werden durch diese Wandlung mit der pädagogischen Inklusionsidee auch praktische und praktisch-professionelle Handlungs- und Analysemöglichkeiten aufgegeben. Das ‚gemeinsame Menschsein‘ löst das Anderssein durch Behinderung im integrationstheoretischen Ansatz nicht absolut auf; dies soll lediglich mit der Denkfigur der „Normalität der Verschiedenheit“ geschehen. Kurzum: Behinderungen werden mit der pädagogischen Inklusionsidee sowohl der Wahrnehmung als auch der Reflexion entzogen, was demgegenüber mit dem integrationstheoretischen Ansatz explizit noch als eine praktische und notwendige Handlungsperspektive beibehalten wurde. Mit der inklusionspädagogischen Denkfigur der Normalität der in-

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dividuellen Verschiedenheit wird nicht nur dem professionellen Handeln die Grundlage entzogen. Ebenso wenig lassen sich dann noch gesellschaftliche Exklusionsprozesse ‚Behinderter‘ beschreiben und analysieren. Schließlich kann auch die Bedeutung einer Behinderung für das behinderte und nichtbehinderte Selbst a priori nicht mehr erfragt werden, die sich zudem nicht bloß darauf beschränkt, eine Dimension der normalen Verschiedenheit zu repräsentieren, sondern die stets auch als eine Erfahrung der Fremdheit des Eigenen und des Anderen hervortritt. Der Fehlschluss der Annahme einer Überwindung des Anders- und Fremdartigen hat mit einem sehr einseitigen Verständnis von Heterogenität zu tun. Dieses Verständnis fokussiert ausschließlich die normative Dimension der relativen Verschiedenheit, wodurch die prä-normative Erfahrung von Heterogenität als eine Erfahrung des Fremden im Eigenen aus dem Blickfeld gerät (vgl. Kap. 3; 4.3). In weiten Teilen unterliegen sowohl der Heterogenitätsdiskurs selbst als auch die integrations- und inklusionstheoretischen Annahmen einem solchen einseitigen Heterogenitätsverständnis. Vielfalt oder Verschiedenheit kommt in all diesen Diskursen zumeist oder ausschließlich als eine wertzuschätzende Ressource in den Blick; die Sichtweise auf Heterogenität unterliegt damit einem bloß normativen und präskriptiven Blickwinkel. Zwar mehren sich die kritischen Stimmen an einem solchen Verständnis von Heterogenität (vgl. 3.2.3), insgesamt betrachtet wird ein Verständnis von Heterogenität als radikale Differenz bzw. radikale Fremdheit jedoch kaum gesehen. Umso mehr trifft dies auf den heil- und sonderpädagogischen Diskurs und – verstärkt – auf den inklusionspädagogischen Diskurs zu. Im heil- und sonderpädagogischen Diskurs finden sich mit Dederich und Stinkes immerhin zwei prominente Kräfte, die ein Verständnis von Differenz bzw. Fremdheit in der radikalen Dimension auch im Kontext von Inklusion stark machen. Ansonsten wird Fremdheit in der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik implizit fast immer nur als etwas betrachtet, das es durch unterschiedliche Maßnahmen in den Griff zu bekommen gilt, womit die Fremdheit des Anderen bewältigt werden soll. Der integrationstheoretische Ansatz spricht zumindest nur von einer „Verminderung“ der Fremdheit des Anderen, womit eine radikale Bestimmung von Fremdheit jedoch ebenso ausbleibt (vgl. 3.3). Im inklusionspädagogischen Diskurs wird diese Perspektive allerdings völlig verabschiedet, indem die Überwindung der Fremdheit des Anderen ein zentrales Motiv dieses Ansatzes darstellt (vgl. 3.4). Inklusion kann im pädagogischen Kontext daher als ein spezifisches Konzept für den Umgang mit der Fremdheit des Anderen gelesen werden, das den Anderen aufgrund der rein normativen Betrachtung intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse als solchen letztlich vergisst und ignoriert. Mit der Phänomenologie des Fremden, wie sie insbesondere von Waldenfels ausgearbeitet und in Anschluss an Husserl sowie die französische Phänomenologie mit verstärktem Augenmerk auf die pathische Dimension der Erfahrung weiter ge-

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dacht wurde, wird demgegenüber ein Zugang zur Problematik der Intersubjektivität auch im Kontext von Behinderung möglich, der diese Ebene nicht als eine bloß normative Angelegenheit missversteht. Vielmehr macht dieser Zugang darauf aufmerksam, dass sich die Begegnung zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ als ein Geschehen der (Fremd-)Erfahrung abspielt, das sich normativ niemals völlig in den Griff bekommen lässt. Wie auch Dederich feststellt, ist das Handeln leiblicher Subjekte im heil- und sonderpädagogischen und, noch viel mehr, im inklusionspädagogischen Diskurs zunehmend bzw. völlig aus dem Blickfeld geraten (vgl. Dederich 2013c: 257). Mit der pädagogischen Inklusionsidee geht es jedoch nicht nur um rechtliche oder institutionelle Fragen, sondern im Kern dieser Idee stehen intersubjektive Anerkennungsverhältnisse. Diese Dimension wird im Diskurs über den pädagogischen Inklusionsansatz, wenn überhaupt, zumeist nur als eine Frage der Haltung und Einstellung verhandelt. Das intersubjektive Geschehen selbst wird allerdings so gut wie ausgeblendet. Im inklusionspädagogischen Ansatz erfährt dieses Geschehen wiederum lediglich eine sehr indirekte Behandlung, indem intersubjektive Prozesse als eine normative Frage der Anwendung von Geltungsansprüchen missinterpretiert werden. Zugleich haben wir es hierbei mit einem sehr präskriptiven Ansatz zu tun. Die Anwendung der inklusionspädagogischen Prämissen im konkreten Handeln wird vom Einzelnen vehement eingefordert, ohne dass das Geschehen selbst analytisch zugänglich gemacht würde. Eine solche Analyse kann durch die gesetzte Prämisse der Normalität individueller Verschiedenheit allerdings a priori nicht mehr gelingen. Aufgrund dieser immensen Kluft zwischen den normativen inklusionspädagogischen Ansprüchen und der Erfahrung von Heterogenität oder Fremdheit sind im Kontext der Wahrnehmung von Behinderung in Verbindung mit der handlungsauffordernden Rede kontraproduktive und letztlich gefahrvolle Momente für ‚Behinderte‘ indiziert. Mit dem fremdheitsphänomenologischen Zugang wurde das intersubjektive Geschehen zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘ hingegen als ein pathisches Ereignis der Erfahrung verhandelt. In Anschluss an Dederich und Stinkes ist damit der Anspruch verbunden, im heil- und sonderpädagogischen Diskurs überhaupt wieder ein Problembewusstsein für diese Dimension intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse zu erzeugen. Dederich und Stinkes diskutieren mit dem phänomenologischen Zugang in erster Linie das Problem der Verantwortung unter Bezugnahme auf Waldenfels und Levinas. Der fremdheitsphänomenologische Zugang ermöglicht ebenso eine umfassende Ordnungskritik an der inklusionspädagogischen Grundidee, so, wie sie hier durchgeführt wurde. In Anschluss an Waldenfels konnte zudem die Unhaltbarkeit des inklusionspädagogischen Anspruchs nachgewiesen werden, als Leitvorstellung für den intersubjektiven Umgang mit ‚Behinderten‘ fungieren zu wollen. Zugleich hat die Analyse dieses Geschehens aus einer fremdheitsphänomenologischen Perspektive die gefährliche Virulenz dieses Denkansatzes offenbart. Der Anspruch dieses Ansatzes, als die demokratische Leitvorstellung für

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den intersubjektiven Umgang mit ‚Behinderten‘ gelten zu wollen, ist daher eindeutig zurückzuweisen. Aus der Perspektive der Phänomenologie des Fremden wurden in unmittelbarem Anschluss an Waldenfels insbesondere mindestens drei Stränge verfolgt: Neben der Kritik der Grundidee des inklusionspädagogischen Ansatzes, die sich als eine totalitäre Gesamtordnung zeigt (vgl. Kap. 4), konnte ebenso die formale Grundordnung der Normalität individueller Verschiedenheit in Zweifel gezogen werden (vgl. Kap. 5). Ausgehend vom Zusammenhang von Fremdheit und Behinderung (vgl. 5.1) wurde anhand der Konzeption der Responsivität (vgl. 5.2) und des Phänomens der Aufmerksamkeit (vgl. 5.3) zudem eine Analyse des Geschehens der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung durchgeführt (vgl. 5.5). Die Ausführungen von Cloerkes bieten nach wie vor die tragfähigsten und ausführlichsten Erkenntnisse zu diesem Bereich an (vgl. 5.4), weshalb sie an dieser Stelle Berücksichtigung erfuhren. Die fremdheitsphänomenologische Perspektive stellt diese Überlegungen nicht in Frage. Sie revidiert diese jedoch teilweise und erweitert die Erklärungsansätze um den Aspekt der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung, der all diesen Erklärungen in praktischer Hinsicht vorausgeht (vgl. 5.5.2; 5.5.4). Abschließend sind die wesentlichen Überlegungen dieser Stränge sowie die damit verbundenen Kritikpunkte am inklusionspädagogischen Ansatz auf resümierende Weise zusammengetragen. Im inklusionspädagogischen Zielzustand der Vielfalt als Normalfall wären Normalitäten und Anomalitäten restlos überwunden, das heißt, es läge ein Zustand des Nichts vor, der völligen Indifferenz bzw. des beliebigen Chaos. Die Frage wäre dann, wie und mit welchen Mitteln dieses entstandene Vakuum gefüllt wird und was an die Stelle der heute erreichten Standards treten soll, wenn diese leichtfertig aufgegeben und einem solchen Vakuum anheim gegeben werden. Der inklusionspädagogische Ansatz tritt diesem Zustand der Indifferenz, der durch ihn unweigerlich selbst angestrebt wird, zugleich mit dem totalitären Grundordnungsprinzip der „Normalität der Verschiedenheit“ entgegen. Das indifferente Vakuum wird mit der moralisch-universellen Forderung der absoluten Wertschätzung individueller Verschiedenheit gefüllt. Das heißt: Das anvisierte Vakuum wird mit eben dem Vakuum wieder gefüllt, durch das es selbst hervorgerufen wird; zugleich bekommt dieses Vakuum mit der Forderung der Wertschätzung individueller Verschiedenheit eine normative Außenhülle übergestülpt (vgl. 2.3.4.1), die alles, was sich innerhalb dieses Vakuums abspielt und regt, im Zaum halten soll. Die Analyse und Kritik der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung, die als eine Gesamtordnung par excellence in Erscheinung tritt, wurde anhand grundlegender Überlegungen von Waldenfels zum Prozess des Entstehens von Ordnung durchgeführt (vgl. Kap. 4). Die Überlegungen von Waldenfels zielen in diesem Punkt explizit auch auf eine grundlegende Kritik an jeglicher Vorstellung von Ordnung als einer Gesamtordnung; sie werden jedoch von ihm nur stellenweise auf den

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Inklusionsgedanken bei Habermas angewendet und zudem gänzlich nicht in den Kontext inklusionspädagogischer Theoriebildung gestellt. Das Anliegen dieser Kritiklinie war es daher, den Ordnungsbegriff bei Waldenfels mit der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung zu konfrontieren. Hierbei hat sich herausgestellt, dass die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung genau denjenigen Momenten entspricht, die Waldenfels für totalitäre Gesamtordnungen kenntlich macht. Als eine Form des Ordnungsersatzes folgt sie den Prinzipien der Totalisierung und Ideologisierung, und dies sowohl in ihrem Anspruch als auch in den Mechanismen ihrer Durchsetzung (vgl. 4.1.4). Deutlich erkennbar wird die Angemessenheit einer solchen Verortung sowohl anhand der Prüfung der theoretischen Grundannahmen als auch an deren praktischen Auswirkungen, demnach das inklusionspädagogische Denken unter anderem bereits zu neuen und vielfältigen Stigmatisierungen, Marginalisierungen und Exklusionen auf unterschiedlichen Ebenen führt. In allererster Linie betrifft dies diejenigen Menschen, die in unterschiedlichen Kontexten trotz – oder gerade wegen – aller Bemühungen noch fremd bleiben. Vom inklusionspädagogischen Totalisierungsversuch sind aber auch diejenigen Sichtweisen betroffen, die nicht kongruent gehen mit der zeitgemäßen Ideologie eines pädagogischen Inklusionsdenkens, seien sie professionell-praktischer oder theoretischer Art (vgl. 4.1.4; 4.2). Insofern sich jeder Ordnungsprozess als ein Prozess der Selektion und Exklusion vollzieht und die Asymmetrie von Eigenem und Fremdem die Einbeziehung alles Fremdartigen in ein Ganzes verhindert, erweist sich die inklusionspädagogische Ordnungsvorstellung, die eben hierauf angelegt ist, zudem als völlig illusorisch. Dadurch dass die inklusionspädagogische Wir-Rede den eigenen kontingenten Standpunkt verleugnet, entartet dieser Denkansatz zu einem Inklusionismus und Moralismus. Er wird insofern übergriffig, als diese Stimmen lediglich vorgeben können, für alle zu sprechen, auch und besonders für diejenigen, die seinen Anliegen und Zielsetzungen nicht widersprechen können (vgl. 4.2). Indem dem inklusionspädagogischen Ansatz nur die Vorstellung eines raumenthobenen und entsozialisierten Abgrenzungsgeschehens zugrunde gelegt wird, das im gleichsetzenden Verschiedenheitsdenken hervortritt, kommt es zudem zu einem Vergessen der asymmetrischen Differenz von Eigenem und Fremdem (vgl. 4.3). Dies führt zu der irrigen Annahme symmetrischer Beziehungen auch zwischen ‚Behinderten‘ und ‚Nichtbehinderten‘. Damit einher geht ein Verlust an praktischprofessionellen Perspektiven sowie die subtile Leugnung des leiblichen Zur-WeltSeins von ‚Behinderten‘ und der spezifischen Fremderfahrung einer Behinderung durch ‚Nichtbehinderte‘ (vgl. 4.3.4). Das radikal Fremde widersetzt sich einer solchen Symmetrierung der Perspektiven allerdings, es lässt sich weder auf Eigenes zurückführen noch einem Ganzen einordnen und in diesem Sinne ist es irreduzibel oder unvergleichlich. Insofern der inklusionspädagogische Ansatz im Kern auf die Überwindung der Differenz von Eigenem und Fremdem bzw. des Fremd- und Andersartigen durch Einbeziehung in ein Ganzes angelegt ist, lässt er sich nicht um

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das Denken radikaler Fremdheit ergänzen. Dies würde sämtliche inklusionspädagogischen Prämissen obsolet werden lassen. Die Diskurse um Heterogenität, Integration und Inklusion nehmen lediglich die Vergleichbarkeit, Unvergleichbarkeit oder Gleichsetzung von Lebensformen in den Blick. Hierdurch bleibt ihnen ein Denken des radikal Fremden verschlossen; das Verschiedenheitsdenken verbleibt hier – auch bei Prengel – im Denkraum des Zwischen, wohingegen das Denken der radikalen Fremdheit ein Denken im Zwischen erforderlich macht. Mit der Unterscheidung von Verschiedenheit und Fremdheit ist somit ein Wechsel der Diskursebenen angezeigt. Das Denken der radikalen Fremdheit ermöglicht es, nicht nur die normative Dimension intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse zu berücksichtigen, sondern die heterogenen Verhältnisse vorwiegend vor dem Hintergrund ihres Erfahrungsgehaltes zu thematisieren (vgl. 4.3.2). Die Betonung der Irreduzibilität oder Unvergleichlichkeit des Fremden bedeutet dabei keinen Verzicht auf Vergleiche oder definierende Feststellungen, ohne die wir uns in der Welt gar nicht erst bewegen könnten. Ohne bestimmte Ordnungen gäbe es auch kein Fremdes und ohne Fremdes gäbe es nur noch die Ordnung, aber keine Ordnungen im Plural mehr. Das Denken radikaler Fremdheit führt daher nicht zum inklusionspädagogischen Dekategorisierungsgebot bzw. zu einem Verzicht auf jegliches Benennen von etwas als etwas, wie dies bei Stinkes zumindest anklingt (vgl. Stinkes 2012a: 92ff.). Mit ihm geht es vielmehr darum, die innere Kontingenz einer Ordnung sichtbar zu machen. Das Denken radikaler Fremdheit macht darauf aufmerksam, dass eine Ordnung – so auch die Ordnung einer Behinderung – anders sein kann, als sie ist, sie zugleich aber nicht völlig beliebig sein kann (vgl. 4.4). Auch die Sinnbildungen im Kontext von Behinderung unterliegen stets einer bestimmten Perspektive, die weder nur natürlich noch nur kulturell verortet werden kann. Mit der Phänomenologie des Fremden ergeht der Anspruch, die Raster unserer Wahrnehmung nicht dahingehend zu verschieben, dass es im Kontext der Wahrnehmung von Behinderung nichts Fremdartiges mehr gibt, sondern es gilt, zu der Einsicht zu gelangen, dass Behinderungen aus dieser Perspektive weder das Fremde noch das Anomale sind, sondern stets auf das Eigene und Normale verweisen, ohne mit diesen zusammenzufallen (vgl. 5.1.3). Als Außerordentliches überschreiten Behinderungen die Ordnung des Eigenen, ohne diese Grenzen deshalb zu überwinden. Die dualistische Sichtweise von Normalem und Anomalem, die auch dem inklusionspädagogischen Ansatz zugrunde liegt, führt hingegen dazu, dass Anomalien nur als etwas Sekundäres oder Defizitäres wahrgenommen werden. Zudem kommt es damit zu dem Irrglauben der Überwindung der Differenz von Normalem und Anomalem. Der Waldenfels’sche Anomaliebegriff ist für die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik daher auch deshalb so ertragreich, da durch ihn eine Reformulierung des dualistischen Verständnisses des Verhältnisses von Normalität und Anomalität gelingt. Ähnlich wie bei Goffman das Stigma selbst weder kreditierend noch

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diskreditierend ist, kommen Anomalien bei Waldenfels nicht als etwas Defizitäres daher, sondern nur im Sinne einer Verschränkung mit dem Normalen, auf das sie stets bezogen bleiben. Mit einem solchen Verständnis kann es nicht um die Überwindung der Normalität oder Anomalität gehen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie Normales sich von Anomalem abhebt. Hier entscheidet sich, „ob Fremdheit mehr bedeutet als etwas, das noch nicht angeeignet und noch nicht einer allgemeinen Vernunft eingemeindet wurde“ (Waldenfels 2008: 13). Behinderungen unterhöhlen als bestimmte Anomalien aber nicht nur die üblichen und vertrauten Ordnungen leiblichen Daseins, die als solche ansonsten gar nicht hervorträten. Aus einer leibphänomenologischen Perspektive heraus betrachtet bedeuten sie eine spezifische Form der Fremderfahrung für das behinderte wie für das nichtbehinderte Selbst, die sich als Entzug des Eigenen am Leib selbst bemerkbar macht (vgl. 5.1.2). Mit der inklusionspädagogischen Grundordnung soll diese spezifische Form der Fremderfahrung überwunden werden, indem es nur noch normal sein soll, verschieden zu sein. In der Konsequenz bedeutet das, dass die eigene leibliche Kontingenz überwunden werden müsste, um von einem solchen Zustand ausgehen zu können. Gegenüber dieser, wie auch sämtlichen anderen Sichtweisen, die Behinderung lediglich als ein zu überwindendes Problem oder als ein bloßes soziales oder kulturelles Produkt begreifen, wurde hier eine andere Sichtweise auf Behinderung vertreten. Der leibphänomenologische Zugang begreift Behinderung als eine Ordnung mit eigenen Möglichkeiten und Wirklichkeiten, die in der Übernahme der Prämissen einer generellen Leiblichkeit (vgl. Meyer-Drawe 1993: 31) immer auf das Eigene verweist, deren Ordnung dem nichtbehinderten Selbst aber entzogen bleibt. Behinderung bedeutet aus dieser Sicht eine spezifische Erfahrungsstruktur der Verhältnisse des Selbst zu sich, zu Anderen und der Welt (vgl. 5.1.2). Der besondere Zusammenhang von Fremdheit und Behinderung ist primär in diesem verstärkten Selbstentzug des Eigenen zu suchen. Auffällig werdende Behinderungen konnten zudem dem strukturalen Fremdheitsbereich zugeordnet werden, der sich vom normalen Fremdheitsbereich dadurch unterscheidet, dass hier Ordnungsmaßstäbe verrückt werden, indem es zu einer Störung des Vertrauenshorizontes kommt (vgl. 5.1.1). Begegnungen mit auffällig ‚Behinderten‘ vollziehen sich nicht in den Ordnungen einer normalen Verschiedenheit, sondern einer gesteigerten Fremdartigkeit (vgl. 5.1.4), die nicht nur wegen sichtbaren Abweichungen, sondern vor allem auch wegen der Phänomenstruktur der leiblichen Selbstentzugserfahrung unvermeidlich ist. Das Problem bei alledem ist nicht, dass es diese erfahrene und unvermeidliche Fremdartigkeit gibt, sondern die Frage ist, wie unser Umgang mit ihr aussieht. Der inklusionspädagogische Umgang mit der Fremdheit des Anderen krankt daran, dass er diese nicht zu überwindende Fremdheit durch eine Normalisierung aller Erfahrungen von Heterogenität bzw. Fremdheit so gut zu bewältigen anstrebt, dass mit dem Fremden auch das Eigene abgeschafft wäre.

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Der Analyse der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung (vgl. 5.5) wurden neben der Klärung des Zusammenhangs von Fremdheit und Behinderung auch die Grundzüge der Fremderfahrung und der Konzeption der Responsivität (vgl. 5.2) sowie des Phänomens der Aufmerksamkeit vorangestellt (vgl. 5.3). Von hier aus konnte zum einen der „soziale Reaktionsansatz“ von Cloerkes (vgl. 5.4), der dieses Geschehen nach wie vor am umfangreichsten berücksichtigt, beurteilt und um den Aspekt der Fremderfahrung erweitert werden (vgl. 5.5.2; 5.5.4); zum anderen wurde anhand dieser Grundzüge vor allem das Geschehen der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung selbst analysiert (vgl. 5.5.1; 5.5.3) und der mit der inklusionspädagogischen Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ verbundene Anspruch, als handlungsleitende Regel für den Umgang mit Intersubjektivität fungieren zu wollen, hinterfragt und zurückgewiesen (vgl. 5.7). Die Überwindung der nicht zu überwindenden Normalisierungs- und Anomalisierungsprozesse, die mit der Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ angestrebt wird, leugnet neben dem selektiven und exklusiven Zustandekommen jeder Ordnung und der eigenen kontingenten Perspektive ebenso die pathischen Ansprüche der Erfahrung sowie das Phänomen der Aufmerksamkeit samt seiner virulenten Wirk- und Zugkräfte. Der inklusionspädagogische Ansatz bekommt das Geschehen der Fremderfahrung und Aufmerksamkeit selbst nicht in den Blick bzw. nur auf sehr normative Art und Weise. Dies führt in Verbindung mit der präskriptiven Forderung der Überwindung der Fremdheit zur Gefährdung des Ziels der Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘. Der intersubjektiven Dimension wird mit der handlungs-, denk- und wahrnehmungsleitenden Prämisse der „Normalität der Verschiedenheit“ eine Antwortlogik unterstellt, die lediglich von der unidirektionalen Anwendung und Umsetzung normativer Geltungsansprüche im konkreten Handeln ausgeht. Der Andere ist stets und unumwunden ausschließlich in seiner individuellen Verschiedenheit anzuerkennen und wertzuschätzen; er kommt damit nur noch als ein bloßer Anwendungsfall von Normen in den Blick. Diese einseitig normative und präskriptive Sichtweise geht von Intersubjektivität als einer normativen Zone aus, die ohne Ansprüche und Herausforderungen durch Fremdes auszukommen scheint. Mit der anvisierten Normalisierung der Differenz des Normalen und Anomalen soll Fremd- und Andersartiges unwiderruflich getilgt werden. Die signifikative Differenz zwischen Anspruch und Antwort, die ein responsives Antworten ermöglicht und nicht bloß eines im Sinne der ‚richtigen‘ und geforderten „Answer“ (vgl. 5.2.4), soll zugunsten der denk-, handlungs- und wahrnehmungsleitenden Prämisse der Normalität individueller Verschiedenheit eingeebnet werden. Ein kreatives und responsives Antworten ist mit dieser universal anzuwendenden und einzig legitimen Antwort auf die Erfahrung von Heterogenität respektive Fremdheit von vornherein nicht mehr vorgesehen und auch nicht erwünscht.

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In der inklusionspädagogischen Ordnungsvorstellung wäre der Mensch somit nur noch auf Gesolltes festgelegt, wohingegen die Konzeption der Responsivität geradezu zeigt, dass der Mensch als Antwortender nicht der unbefragten Verbindung von Gesolltem und Handeln unterliegt (vgl. auch Dörpinghaus 2008: 42). Die pathischen Ereignisse und die diastatische Struktur der Erfahrung verhindern eine solch normative Festlegung des Menschen auf Gesolltes, indem sie derartige Ansprüche durchkreuzen und uns zunächst selbst in Frage stellen, noch bevor normative Forderungen greifen können. Die inklusionspädagogische Sichtweise auf die Dimension intersubjektiver Erfahrungen unterstellt damit zugleich, dass wir uns den Fremdansprüchen der Erfahrung entziehen und uns, ohne eigenen Schaden zu nehmen, davon abwenden könnten. Die Ausführungen zur Responsivität haben hingegen gezeigt, dass wir nicht nicht antworten können und jede Abwehr des Fremden eine Abwehr des Eigenen bedeutet. Antworten als responsives Antworten bedeutet, dass wir immer schon von Fremdem durchwirkt sind und das Antworten auf fremde Ansprüche jedem moralischen Anspruch zuvor kommt. Weder erfinden wir unsere Antworten losgelöst vom fremden Anspruch noch folgen sie allein einer formalen Grundordnung, wie sie mit der normativ-universellen These der Normalität der individuellen Verschiedenheit behauptet wird: „Die Befugnisse eines Grundgerichtshofs der formalen Vernunft sind höchst begrenzt“ (Waldenfels 1998a: 22), wie sich der inklusionspädagogischen Grundordnung der Normalität individueller Verschiedenheit mit Waldenfels entgegnen lässt. Die präskriptive Handlungsaufforderung, den Anderen nur noch in seiner individuell-normalen Verschiedenheit wertzuschätzen und ihn somit nicht mehr als fremd- oder andersartig zu erfahren, ist damit Ausdruck eines normativistischen Denkansatzes. Zudem unterstellt diese Prämisse einen einseitigen Subjektivismus (vgl. 5.2.5). Die Hoffnungen auf die Wertschätzung jedes Einzelnen sowie eine stigmatisierungsbefreite Gemeinschaft beruhen allein auf der Kraft des Normativen und einem völlig autonom handelnden Subjekt, dem unumwunden die uneingeschränkte Freiheit und Macht zugeschrieben wird, diesen Geltungsansprüchen konkrete Taten folgen zu lassen, die diesen Ansprüchen entsprechen. Von einem Infragegestelltsein des Eigenen durch den Anderen und durch die Fremdansprüche der Erfahrung kann und soll in der inklusionspädagogischen Grundordnung keine Rede mehr sein. Die anerkennende Bewegung wird allein in einem Subjekt verortet, das von jeglichem Pathos befreit wäre. Damit erhält das Subjekt jedoch nicht nur die Macht, sondern es wird auch in die Pflicht und Verantwortung genommen, die geforderten Antworten zu geben. Diese Antwort-Macht und die einseitige Freiheit, die dem Subjekt im inklusionspädagogischen Ansatz zugeschrieben werden, bedeuten jedoch zugleich seine größte Unfreiheit: Das vorgeblich demokratische Eingehen auf Heterogenität erfordert die Wahrnehmung des Anderen als bloß individuell und normal Verschiedenen. Jegliches Wahrnehmen und Erfahren des Anderen, das sich abseits dieser Prämisse bewegen würde, gerät mit diesen Annahmen damit in den

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Verdacht und in die Gefahr, als ein moralisches Versagen des als autonom ausgewiesenen Subjekts gebrandmarkt zu werden. Es wird immer dann zur Rechenschaft gezogen, wenn seine Antworten anders ausfallen, als es die auf totalitäre Weise geforderte Antwort der Normalität der individuellen Verschiedenheit vorsieht, wenn also jemand Andere oder sich selbst trotzdem noch als fremdartig erfährt. Diese Haftbarmachung betrifft nicht nur den persönlichen Nahbereich oder institutionelle Strukturen. Seinen Ausdruck findet dieser totalisierende Denkansatz gerade auch in diskursiver Hinsicht, demnach wissenschaftliche Fragestellungen, die sich abseits des inklusionspädagogischen Paradigmas bewegen und hierbei auf Schwierigkeiten hinweisen oder dieses Paradigma gar in Frage stellen, als moralisch verwerflich gebrandmarkt werden. Wenn wissenschaftliches Fragen jedoch selbst als eine eigene Form des Antwortens auf die Ansprüche der Lebenswelt fungiert, so kann es keinen Supradiskurs geben, als der sich der inklusionspädagogische Ansatz hervortut. Gegen solche Totalisierungsversuche sollte sich auch eine wissenschaftliche Disziplin wie die der Heil- und Sonderpädagogik zur Wehr setzen; das sogenannte Subjekt allerdings wird dies im persönlichen Nahbereich unweigerlich tun. Die große Gefahr dieses Denkens besteht darin, dass sich der Einzelne oder eine Gesellschaft, auf welchem Wege auch immer, zur Wehr setzen wird gegen derartige Forderungen, deren Erfüllung ihm oder ihr angesichts der Ansprüche der Erfahrung gar nicht erst möglich sein kann (vgl. 5.7.2). Das Auffälligwerden einer Behinderung ist weder der Akt eines Subjekts noch können wir uns ihm entziehen. Vielmehr weist dieses Ereignis eine zutiefst pathische Struktur auf. Das Auffälligwerden hat nichts mit einer sozialen Konstruktion zu tun, sondern es kündigt sich als ein Anspruch des Fremden an, der uns in Frage stellt, noch bevor wir dazu Stellung nehmen können (vgl. 5.5.1). Das Selbst gerät im Konfrontationsereignis mit ‚Behinderten‘ in den Sog einer Fremdbewegtheit, die die Nähe zum Eigenen nahezu abreißen lässt und das Fremde im Eigenen umso stärker hervortreten lässt; es wird sich in diesem Geschehen auf spezifische Weise selbst fremd (vgl. 5.5.3). Insofern das neuzeitliche Subjekt diese hervortretende Fremdheit im Eigenen von sich selbst möglichst fernhalten will und weitestgehend verdrängt hat, entwickelt das Selbstfremdwerden in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ oder in der bloßen Vorstellung hiervon zumeist seine repulsiven Stoßkräfte. Es kommt zur Abwehr und Vermeidung dieser Begegnungen. Dieses Geschehen bedeutet noch keinen subjektiv-affektiven oder, noch weniger, subjektiv-kognitiven Konflikt und ebenso wenig einen Konflikt widersprüchlicher Normen bzw. des Zusammenwirkens von psychischen und normativen Faktoren. Es zeigt zuallererst einen Ambivalenzkonflikt der Erfahrung an, der bereits selbst für eine Beunruhigung sorgt. Dieser spielt sich nicht in einem Subjekt oder als bloßes Reagieren des Subjekts auf einen Reiz ab, sondern als ein Zwischenereignis, das sich zwischen mir und Anderen im Zwischenfeld des Auffallens und Aufmerkens als eine Ausdifferenzierung eines gemeinsamen Feldes vollzieht. Von hier aus betrachtet wird Be-

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hinderung dann als ein intersubjektives Phänomen begreifbar (vgl. auch MeyerDrawe 1993: 29), das sich diesseits natürlicher oder kultureller Verortungen bzw. objektiver Vorkommnisse und subjektiver Akte abspielt. Auch die Zu- und Abwendung findet in diesem Zwischenereignis ihren Halt und ist daher nicht als eine alleinige Bewegung des Subjekts zu verstehen. Die bisherige Sichtweise auf die sogenannten „sozialen Reaktionen“ im Kontext von Behinderung verkürzt dieses Geschehen auf subjektive Akte (vgl. 5.5.2). Unbestritten werden zwar viele derjenigen Momente, die in den psychologischen und soziologischen Erklärungsansätzen dieser Reaktionen benannt werden, in diesem Geschehen wirksam. Allerdings bekommen sie es selbst nicht in den Blick, da diese Ansätze entweder von einem psychologischen oder normativen Standpunkt bzw. einer Gemengelage aus beiden ausgehen und damit ‚zu spät‘ ansetzen, um dieses prä-reflexive und prä-normative Zwischengeschehen fassen zu können (5.5.4). Dieses Geschehen bedeutet ein pathisches Ereignis und noch keine per se pathologische Interaktion. Nichtbehindertes und behindertes Selbst antworten hierin aufeinander, ohne dass sich dieses Antworten auf subjektive Akte verkürzen lässt oder allein auf normative Regelungen und Erwartungen beschränken würde. Mit einer fremdheitsphänomenologischen Perspektive erfolgt also sowohl eine Revidierung der Sichtweise auf die „sozialen Reaktionen“ selbst als auch eine Erweiterung der bisherigen Erklärungsansätze dieser Reaktionen. Das Affiziertwerden durch Fremdes und der damit einhergehende Selbstentzug unterliegen insbesondere im Falle der Konfrontation mit ‚Behinderten‘ nicht der Ordnung einer normalen Verschiedenheit, sondern einer spezifischen Struktur der Fremderfahrung. Die Weckungs-, Zug- und Wirkkräfte des Aufmerksamkeitsgeschehens entfalten hier eine andere Virulenz, die nicht mit anderen Heterogenitätserfahrungen gleichgesetzt werden können. Dies beginnt bereits beim Eintreten des Phänomens der Behinderung in das Erfahrungsfeld, demnach sich eine auffällige Abweichung im Bereich des Leiblichen auf andere Weise aufdrängt, als dies bei anderen Dimensionen von Heterogenität der Fall wäre (vgl. 5.5.1). Mit dieser Konfrontation ergeht zudem ein anderer Anspruch an das Eigene, der dieses auf besondere Weise in Frage stellt und dafür sorgt, dass die Fremdheit im Eigenen auf spezifische Weise virulent wird. Gleichsetzen lassen sich die einzelnen Dimensionen von Heterogenität ausschließlich auf einer normativen Ebene; als ein Geschehen der Erfahrung entziehen sie sich jedoch einem solchen Vergleich, sie sind nicht bloß unvergleichbar, was bereits einen gemeinsamen Bezugspunkt oder anfänglichen Vergleich vorausgesetzt hätte. Vielmehr sind sie unvergleichlich in einem radikalen, asymmetrischen Sinne. Die normative und rechtliche Perspektive auf Heterogenität ist in einem sozialethischen Sinne zwar wichtig; was damit aber nicht mehr in den Blick kommt, ist die Erfahrung von Heterogenität. Mit dem inklusionspädagogischen Ansatz erfolgt jedoch keine Beschränkung auf eine solche rechtliche oder sozialethische Perspektive. Er tut sich vielmehr zugleich als ein präskriptiver Ansatz

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auch für den intersubjektiven Umgang mit Heterogenität hervor, wobei mit der Prämisse der Normalität individueller Verschiedenheit der klare, normative Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsimperativ vorgegeben wird. Dies führt dazu, dass die Erfahrung von Heterogenität als ein normatives Geschehen verschleiert wird. Die unheilvolle Wirkung dieses Gedankengebildes zeigt sich immer dann, wenn die Umsetzung dieser normativ-präskriptiven Handlungsregel nicht gelingt. In allererster Linie sind hiervon Begegnungen – oder bereits die bloße Vorstellung davon – betroffen, in denen die Ansprüche der Erfahrung einen Einsturz der inklusionspädagogischen Prämissen evozieren. Folge dieses erfahrenen Konfliktes ist eine Vermeidung dieser Begegnung und eine einsetzende Abwehr derjenigen Menschen, die trotz aller Beschwörungen immer noch als fremdartig erfahren werden. Wenn zudem bedacht wird, dass jede Abwehr des Fremden eine Abwehr des Eigenen bedeutet, dann hat dies insofern auch Konsequenzen für den ‚Nichtbehinderten‘, als dieser sich auch weiterhin nicht mit seiner eigenen leiblichen Kontingenz befassen muss. Der vom inklusionspädagogischen Ansatz vorgesehene Umgang mit Heterogenität ist daher als eine sinnvolle Strategie für diesen Umgang klar abzulehnen. Zudem befördert er nicht nur keine tragfähige Einstellungsänderung, sondern er verhindert eine solche geradezu dadurch, dass mit der angezielten Überwindung der Fremdheit des Anderen auch die Einsicht verhindert wird, dass die Fremdheit im eigenen Haus beginnt. Zwischen den inklusionspädagogischen Ansprüchen und der Lebenswelt tut sich im Kontext von Behinderung damit eine enorme Kluft auf. Die inklusionspädagogischen Bewältigungsstrategien der Aneignung (inklusive Gemeinschaft als Gesamtordnung) und der Entgrenzung (Grundordnung der „Normalität der Verschiedenheit“) des Fremden (vgl. 5.7.1) missachten das selektive und exklusive Zustandekommen von Ordnung und damit die Notwendigkeit, dass wir Feststellungen bzw. Ordnungen benötigen, um uns der Welt, Anderen und uns selbst nicht auf völlig chaotische Weise zuwenden zu können. Der kontingente Standort der eigenen Rede wird bei alledem verleugnet und verharmlost. Mit der normativen und präskriptiven Ausrichtung dieses Denkansatzes werden zugleich sämtliche Momente des Erfahrungsgeschehens ignoriert. Durch die bloße Subjektivierung von Handlung und Wahrnehmung geraten Widerfahrnisse, die responsive Grundstruktur unseres leiblichen Verhaltens und das Phänomen der Aufmerksamkeit als ein nichtvoluntatives Ereignis völlig aus dem Blickfeld der Überlegungen. Im Kern führt dies zur radikalen Ausblendung der Struktur der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung, die sich als ein spezifischer, gesteigerter leiblicher Selbstentzug zeigt und die daher nicht mit sämtlichen anderen Dimensionen von Heterogenität gleichgesetzt werden kann. Allerdings ist der inklusionspädagogische Handlungs- und Denkraum genau darauf angelegt, dass all diese, in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ unvermeidlich hervortretenden (Fremd-)Erfahrungsmomente der Vergangenheit angehören sollen.

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Verwehrt man sich den vielfältigen, begrifflichen Verwässerungen und Umdeutungsstrategien und wird der Begriff der pädagogischen Inklusion ernst genommen, um zu einer diskursiven Verständigung zu gelangen, dann repräsentiert das inklusionspädagogische Paradigma keine bloße, harmlose Vision oder Utopie. Vielmehr ist und bleibt es ein völlig illusionäres Vorhaben, das aufgrund fehlender Begründungsleistungen darüber hinaus ideologisch motiviert ist. Dabei ist das Kernanliegen des inklusionspädagogischen Ansatzes mitnichten anzuzweifeln. Die alleinige Hoffnung auf eine Verbesserung der Zustände und die Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen und intersubjektiven Bedingungen bildet jedoch keine tragfähige Strategie auf dem Weg hin zu mehr Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘. Sie verkehrt sich dort in ihr Gegenteil, wo die soziale Praxis den einseitigen und vehementen inklusionspädagogischen Präskriptionen zuwiderläuft und unweigerlich Abwehrmechanismen in Gang setzt. Der inklusionspädagogische Ansatz verspricht mit der inklusiven Gesellschaft und dem Handlungsdispositiv der „Normalität der Verschiedenheit“ die exklusive Lösung für institutionelle und intersubjektive Ausgrenzungs- und Marginalisierungserfahrungen auch von ‚Behinderten‘. Dabei wird jedoch ein zu hoher Preis gezahlt. Der Einzelne erhält im inklusionspädagogischen Ansatz zwar scheinbar die Freiheit, über seine gegebenen Antworten autonom verfügen zu können. Erkauft ist diese Freiheit jedoch durch den Preis einer normativen Geiselhaft, bei der kein Ausbruch aus dem geforderten Antwortverhalten mehr vorgesehen ist. Die zutiefst menschlichen – und daher immer auch unerwarteten – Antworten erfahren eine radikale Einschränkung, so dass der Andere nur noch als individuell und normal verschieden wahrzunehmen ist. Eine argumentativ nicht haltbare Verstärkung und Absicherung erfährt diese moralische Inpflichtnahme durch die Kontextualisierung und Einbettung dieses Anspruches in menschenrechtliche Bezüge. Bereits ein unwillentlicher Ausbruch aus dem geforderten Antwortverhalten erzeugt somit Gewissensbisse. Wer jedoch das inklusionspädagogische Handlungs- und Wahrnehmungsdispositiv der „Normalität der Verschiedenheit“ offen in Frage stellt, kann sich nahezu sicher sein, als derjenige gebrandmarkt zu werden, der sowohl die Menschenrechte als auch die Wertschätzung ‚Behinderter‘ in Frage stellt. Das totalitäre Ordnungsprinzip der „Normalität der Verschiedenheit“ erzeugt damit von vornherein neuartige Exklusionen und Marginalisierungen, die es zuvor so nicht gab. Diese wiegen für diejenigen Menschen ungleich schwerer, die trotz aller Bemühungen fremd bleiben. In Anschluss an diese ernüchternde Analyse stellt sich abschließend sowohl die Frage nach einem veränderten Umgang mit der Fremdheit des (behinderten) Anderen als auch die Frage nach den Konsequenzen, die nach allem Gesagten für den weiteren Umgang der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff zu ziehen sind.

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6.3 AUSBLICK: ZUM UMGANG MIT INKLUSION UND FREMDHEIT IN INTERSUBJEKTIVER, DISKURSIVER UND DISZIPLINÄRER HINSICHT Intersubjektive Verhältnisse Die pädagogische Inklusionsidee ist aufgrund der gezeigten Unzulänglichkeiten für das Problem der Intersubjektivität und des ihr inhärenten Gefährdungspotentials als Leitvorstellung für den Umgang mit Behinderung entschieden zurückzuweisen. Eine letztgültige und eindeutige Strategie oder Lösung kann und darf es insbesondere für intersubjektive Anerkennungsverhältnisse nicht geben, wenn wir uns auch weiterhin als Menschen betrachten wollen, die aufeinander antworten und die nicht bloß blindlings von außen gesetzten Geltungsansprüchen Folge leisten. Der fremde und singuläre Anspruch des Anderen kommt der ubiquitären Wertschätzungslogik allemal zuvor, er stellt uns in Frage, noch bevor wir auf derartige Absicherungssysteme zurückgreifen könnten. Zudem kann er derartige Forderungen geradezu durchkreuzen. Wir sind daher stets umso mehr in die Verantwortung genommen, eigene Antworten zu (er-)finden und solche nicht bloß anzuwenden. Nichts und niemand nimmt uns diese Notwendigkeit ab. Die responsive Grundstruktur unseres Verhaltens ermöglicht ein solches Aufeinander-Antworten, das manchmal schmerzhaft für den Anderen oder uns selbst ist, wenn wir uns voneinander abwenden, das zugleich aber stets auch die Möglichkeit gegenseitiger und ehrlich gemeinter Zuwendung enthält. Beides muss notwendigerweise in Rechnung gestellt werden, sofern wir uns weiterhin als leibliche Wesen aufeinander beziehen und einlassen wollen. In einem ähnlichen Sinne heißt es auch bei Felder in kritischer Absicht zu den inklusionspädagogischen Ansprüchen: „Man kann […] zwar keine Welt wollen, die durch Ignoranz für die Gefühle anderer, mitmenschlicher Kälte oder Vernachlässigung geprägt ist. […] Man kann aber mit guten Gründen auch keine Welt wollen, in der Menschen anderen gegenüber nur aus dem Grund Empathie, Mitgefühl, Solidarität und Freundschaft zeigen, weil sie es müssen.“ (Felder 2012: 65)

Gerechtigkeitsansprüche decken diesen Bereich nicht ab, andernfalls, so Felder, „bestünde hier die Gefahr einer Zwangsvergemeinschaftung respektive die Gefahr eines Zwangs, bestimmte Gefühle empfinden und erwidern zu müssen“ (Felder 2013: 107f.). Da es kein Recht auf diese Form der Inklusion geben könne, bleibt nach Felder nur „die Utopie einer guten Gesellschaft, […] in der Tugenden der Inklusion auf freiwilliger oder supererogatorischer Basis umgesetzt werden“ (Felder 2012: 266). Freiwilligkeit genießt ohne Zweifel einen hohen Stellenwert für die empathische Zuwendung zum Anderen. Insbesondere ‚Behinderte‘ stehen in der Gefahr, diese Freiwilligkeit verweigert zu bekommen. Zuwendung erfahren sie au-

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ßerhalb familiärer Strukturen allzu häufig nur über institutionalisierte Anerkennungsverhältnisse. Aufgrund vielfältiger Ausgrenzungen ‚Behinderter‘ aus institutionellen und intersubjektiven bzw. gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Verhältnissen erscheinen die inklusionspädagogischen Forderungen zwar durchaus verständlich; eine freiwillige und empathische Zuwendung auch außerhalb dieser Strukturen wird aber gerade dadurch nicht bewirkt, dass die Anerkennung und Wertschätzung des Anderen mit dem Pochen auf Inklusion nun vehementer als jemals zuvor eingefordert wird. Die Gefahr des Widerstands gegenüber diesen Ansprüchen liegt aber nicht nur in der stark appellierend und moralisierend vorgetragenen Forderung nach Wertschätzung des Anderen begründet, sondern insbesondere in deren inhaltlichem Gehalt, demnach es normal sein soll, verschieden zu sein. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zur Fremderfahrung im Kontext von Behinderung ist anzunehmen, dass in der Begegnung mit ‚Behinderten‘ eine spezifische Form der Fremdheit virulent wird, die sich der Wahrnehmungslogik der normalen Verschiedenheit versperrt. Hervorgerufen wird diese Fremdheit durch das Brüchigwerden vertrauter Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die die soziale Praxis ansonsten zumeist unbewusst strukturieren. Das Fremde, das in diesem Brüchigwerden hervortritt, verlockt und erschreckt zugleich, es spielt sowohl seine attraktiven als auch repulsiven Kräfte aus. Wie die Beispiele aus der Interviewstudie sowie die Ausführungen zu den „sozialen Reaktionen“ und ebenso die einleitende Darstellung der Arbeit gezeigt haben, bewirkt der Sog der Fremdbewegtheit in der Konfrontation mit Behinderung jedoch meistens keine Zuwendung. Vielmehr kommt es häufig zu einer Abwendung, die sich als Interaktionsvermeidung, der gesellschaftlichen Isolation oder gar der Tötung ‚Behinderter‘, die heutzutage vor allem im pränatalen Bereich verstärkt auftritt, äußern kann. Das widerstreitende Gefüge von Attraktion und Repulsion, das jede Fremderfahrung durchzieht, erfährt in der Konfrontation mit Behinderungen demnach häufig einen Umschlag hin zur Repulsion. Der Sog der Fremdbewegtheit und der damit einhergehende Selbstentzug wird in diesem Fall als abstoßend oder lästig durchlitten, was stets eine nachträgliche Abwendung vom und Abwehr des Fremden zur Folge hat (vgl. Waldenfels 2004: 136). Das Spezifische, wodurch sich diese Begegnungen von anderen Heterogenitätserfahrungen unterscheiden, ist, dass dem Selbst hier die eigene Fremdheit in Form der Unverfügbarkeit über sich selbst und seine Leiblichkeit im Innersten vor Augen geführt wird. Der erhöhte Selbstentzug und die erfahrene Fremdartigkeit im Eigenen stellen im Falle von Behinderungen für den Betroffenen wie Nicht-Betroffenen eine unüberwindbare Erfahrungsstruktur dar. Die spezifischen Fremderfahrungen ließen sich im Kontext von Behinderung nur dann überwinden, wenn das leibliche Selbst bzw. seine leibliche Kontingenz abgeschafft wäre. Trotz vielfältiger biotechnischer Maßnahmen ist nicht anzunehmen, dass dieser Zustand jemals eintreten wird. Die Fremdartigkeit des (behinderten) Anderen überwinden zu wollen, ist daher eine Il-

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lusion, die immer wieder nur scheitern kann. Andererseits kann es selbstverständlich nicht darum gehen, diese Feststellung missbräuchlich zu verwenden, indem man sich Begegnungen mit ‚Behinderten‘ unter Berufung auf ihre Fremdartigkeit entzieht oder ‚Behinderte‘ als das Fremde oder das Anomale von sich fernzuhalten versucht. Der Gedanke der radikalen Fremdheit verhilft demgegenüber zu der Erkenntnis, dass wir Fremdes und Anomales immer wieder brauchen, weil sie uns von der Begrenztheit und Einseitigkeit unseres So-Seins befreien. Er klärt er uns über die Unmöglichkeit des Versuchs auf, sich gegenüber Fremdem und Anomalem abschirmen zu wollen, da Fremdes und Anomales stets auf das Eigene und Normale verweisen. Genau um diese Einsicht muss es letztlich auch im Kontext der Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘ gehen. Abgesehen von illusionären und gefährlichen Versuchen der Überwindung der Fremdheit des (behinderten) Anderen, reicht es daher bei Weitem nicht aus, die Wertschätzung und Anerkennung des (behinderten) Anderen auf direkte Art und Weise zu fordern, um ungünstige oder abwertende Reaktionen gegenüber ‚Behinderten‘ zu verändern. Felder hat Recht, wenn sie sagt, dass Freiwilligkeit für das Eingehen intersubjektiver Beziehungen ein zentrales Motiv darstellen muss. Das Einlassen – und noch dazu das freiwillige Einlassen – auf den behinderten Anderen erscheint aufgrund sehr spezifischer leiblicher Ausdrucksformen jedoch häufig nicht möglich oder für das Eigene zu sehr beunruhigend zu sein. Das bloße Setzen auf Freiwilligkeit könnte daher zu wenig sein, damit außerhalb familiärer und institutioneller Strukturen tragfähige und empathische Beziehungen eingegangen werden. Eine fremdheitsphänomenologische Perspektive, die sich gegenüber der inklusionspädagogischen Nivellierung der Fremdheit des Anderen klar verwehrt, bringt hier einen indirekten Weg ins Spiel, der die Möglichkeit eines freiwilligen Einlassens auf diese Beziehungen zumindest erhöht. Eine solche Perspektive sieht weder die erfahrene und unvermeidlich hervortretende Fremdartigkeit noch das Auffälligwerden einer Behinderung als Problem an. Vielmehr zeigt sie die Notwendigkeit an, einen Umgang mit der Fremdheit des Anderen zu finden, der diesen nicht als das ganz Andere oder absolut Fremde zurückweist. Ebenso wenig unterliegt sie aber dem Fehlschluss, dass dem Fremden sein verstörendes Potential durch Eingemeindung in ein Allgemeinsames genommen werden könnte. Ein Umgang, der die Fremdheit des Anderen wahrt, ohne den Anderen deshalb von sich fernzuhalten, erfordert die Einsicht, dass Fremdes stets mit dem Eigenen im Bunde steht und im Fremden immer auch Eigenes vorgefunden wird. Die Fremdheit des behinderten Anderen meint damit keine von mir geschiedene Zone, sondern sie betrifft mich selbst zutiefst in meinem eigenen leiblichen Dasein, ohne dass diese Ordnung mit der eigenen Ordnung zusammenfallen würde. Die Ordnung einer Behinderung ist nicht das ganz Fremde, sie ist aber auch nicht das Eigene oder das Normale bzw. normal Verschiedene, sondern sie zeigt die kontingenten Möglichkeiten eigener Ordnungsstrukturen auf. Wie es bei Kastl heißt: „Unsere Körper-

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lichkeit und damit unsere Existenz insgesamt ist kontingent. Damit ist zwar auch gemeint, dass sie durch materielle Zufälle verletzbar ist. Aber diese Kontingenz geht weiter, sie erstreckt sich auf unser (körperliches) Dasein und Sosein als solches.“ (Kastl 2010: 206) Begegnungen mit ‚Behinderten‘ können deswegen so beunruhigend sein, da sie das Fremde im Eigenen zum Vorschein bringen, das sich auch durch noch so große Vorsorgemaßnahmen niemals völlig in den Griff bekommen lässt. Wenig oder sogar Gegenteiliges vermag es da auszurichten, diese Beunruhigung zu leugnen oder zu versuchen, dieser Beunruhigung durch beschwichtigende und beschwörende Formeln, wie die der Normalität individueller Verschiedenheit, beizukommen. Um dem behinderten Anderen so zu begegnen, dass es zu einer wirklichen Zuwendung kommt, wäre es zunächst vielmehr notwendig, sich diese Beunruhigung sowie die eigene Fremdheit einzugestehen und in ein Reflexionsverhältnis zu sich selbst einzutreten. Die Anerkennung des behinderten und fremden Anderen führt somit über den Weg des Umgangs mit der eigenen Fremdheit. Auch wenn der gesundheitspolitische und gesellschaftliche Selbstoptimierungszwang eine andere Sprache spricht: Wer die eigene leibliche Unverfügbarkeit und damit die Fragilität eigener Ordnungsstrukturen erkennt und anerkennt, der wird womöglich auch im Umgang mit der Fremdheit ‚Behinderter‘ weniger abwehrend oder sogar mit Zuwendung reagieren. Der inklusionspädagogische Ansatz verhindert eine solche Einsicht geradezu, indem er die Spezifik der Fremderfahrung im Kontext von Behinderung im Lichte der Normalität individueller Verschiedenheit aufgehen lassen will. Wenn es nur noch normal ist, individuell verschieden zu sein – wodurch die Fremdheit überwunden wäre –, ist es ganz einfach nicht mehr möglich, über Behinderung und Fremderfahrungen auch nur nachzudenken. Das dualistische Verständnis von Eigenem und Fremdem sowie Normalem und Anomalem, dem der inklusionspädagogische Ansatz folgt, verunmöglicht es, Fremdes als Eigenes und Anomales als zum Normalen zugehörig zu begreifen, ohne dass beide Seiten jemals koinzidieren. Die inklusionspädagogische Prämisse der Normalität individueller Verschiedenheit ermöglicht – im besten Falle – lediglich eine oberflächliche Toleranz des Andersseins, jedoch keine vertiefte Zuwendung zum fremden Anderen, die eine reflexive Arbeit an sich selbst voraussetzen würde. Eine solche Arbeit an sich selbst macht allerdings Eingeständnisse hinsichtlich der Fremdheit des Anderen erforderlich, die mit den inklusionspädagogischen Prämissen nicht mehr möglich sind. Vielmehr torpediert dieser Ansatz ein solches Reflexionsverhältnis, indem er ein Befreiungsszenario von jeglicher Fremdheit entwirft, das die Menschen jedoch letztlich nur auf Distanz hält. Der Weg der Anerkennung der Fremdheit des Anderen und des Eigenen mag der unbequemere und deutlich weniger zeitgemäße Weg sein als die Beschwörung der wertzuschätzenden individuellen Vielfalt. Mit dem Zugang der Phänomenologie des Fremden werden die Erfahrungen von Fremdheit im Kontext

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von Behinderung jedoch nicht einfach ignoriert und nivelliert. Damit es nicht bei der von Cloerkes so benannten „Schein-Akzeptanz“ ‚Behinderter‘ bleibt, müssen diese beunruhigenden Erfahrungen zur Sprache kommen. Nur dann kann ein Umgang mit dem behinderten Anderen als Fremden gefunden werden, der diesen weder als völlig Fremden auf Distanz hält noch ihn dadurch verfehlt, dass ihm seine Fremdheit genommen werden soll. Diskursbezogene Perspektive Der pädagogische Diskurs um Inklusion und damit auch um die Wertschätzung und Anerkennung des (behinderten) Anderen wird hauptsächlich als normativer und, in inklusiven Kontexten, zudem als sehr präskriptiver Diskurs geführt (vgl. Kap. 2). Die Frage nach der Anerkennung des (behinderten) Anderen wird in diesen Bezügen sehr häufig unter Rückgriff auf die Notwendigkeit der Umsetzung von Bürgeroder Menschenrechten thematisiert, womit der Forderung nach der Wertschätzung auch von ‚Behinderten‘ Nachdruck verliehen werden soll. Diese Forderungen und der gesamte pädagogische Inklusionsdiskurs folgen dabei einem sehr einseitigen Verständnis von Heterogenität, das lediglich die normative Ebene der relativen Verschiedenheit berücksichtigt. Ein Verständnis von Heterogenität als (radikale) Fremdheit spielt in diesem Diskurs bis auf wenige Ausnahmen keine Rolle (vgl. Kap. 3). Das einseitige Verschiedenheitsdenken betont lediglich die Unvergleichbarkeit unterschiedlicher Ausprägungen von Heterogenität, die in normativer und rechtlicher Hinsicht gleichgesetzt werden. Die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer solchen Perspektive stehen im gesellschaftspolitischen und rechtlichen Kontext völlig außer Frage. Was jedoch im Zuge dessen im Diskurs um Inklusion zunehmend aus dem Blick geraten ist, ist die Dimension des leiblichen und intersubjektiven Handelns und damit diejenige Ebene, auf der Anerkennungs- und Wertschätzungsverhältnisse eine konkrete Bedeutung für den Anderen gewinnen. Diese Kerndimension bleibt der inklusionspädagogischen Blickhaltung aufgrund der einseitig geforderten Wertschätzung individueller Verschiedenheit verschlossen. Der pädagogische Inklusionsdiskurs zeigt auf beispielhafte Weise, inwiefern ein einseitiges Verständnis von Heterogenität als relative Verschiedenheit zur irrigen Annahme und zum Versuch der Überwindung der Fremdheit des Anderen führt. Die normativ-rechtliche und die intersubjektive Ebene werden im pädagogischen Inklusionsdiskurs umstandslos miteinander gleichgeschaltet, indem das Heterogenitätsverständnis der gleichen oder normalen Verschiedenheit auf beiden Ebenen zur Anwendung kommen soll. Es gilt jedoch, die Ebene normativer Geltungsansprüche und die der intersubjektiven Erfahrung auseinander zu halten. Intersubjektive Verhältnisse bedeuten keine rein normative Zone der Befolgung von Geltungsansprüchen, auch wenn diese in die konkreten Begegnungen hineinwirken. Erfahrungsansprüche treten in gewisser Weise früher auf als die normativen Forderungen und können diese sogar durchkreuzen. Gerade in der Begegnung mit sichtbaren oder

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wahrnehmbaren Formen einer Behinderung werden die Ansprüche der Erfahrung oftmals besonders laut, da vertraute Wahrnehmungsstrukturen brüchig werden. Dieser Vorgang meint keine bloße Erfahrung einer relativen Verschiedenheit, die es ohne Verunsicherung des Eigenen unumwunden wertzuschätzen gelte. Vielmehr kommt es hierbei zu einer verstärkten Erfahrung radikaler Fremdheit, die aufgrund der spezifischen Phänomenstruktur einer Behinderung als leibliche Selbstentzugserfahrung nicht zu überwinden ist. Heterogenität ausschließlich im Sinne und im Lichte der normativen Verschiedenheit bzw. Gleichheit zu betrachten, verstellt den Blick auf die leibliche Selbstund Fremderfahrung von Heterogenität. Ein Denken von Heterogenität im Sinne der radikalen Fremdheit macht die Erfahrungsebene auch im Kontext von Behinderung wieder abseits der normativen inklusionspädagogischen Ansprüche thematisierbar. Zugleich führt die Beachtung dieses Heterogenitätsverständnisses dazu, dass das Postulat der Inklusionspädagogik, die Normalität individueller Verschiedenheit als handlungsleitende Regel für den intersubjektiven Umgang mit und die Sichtweise auf Behinderung anzusetzen, scharf zurückgewiesen werden muss. Dieses Postulat, das die restlose Überwindung der Fremd- und Andersartigkeit zum Ziel hat, lässt sich nicht um die Perspektive der radikalen Fremdheit ergänzen, die die unzugängliche Fremdheit des Anderen zum Anlass nimmt, in ein ihr gemäßes Verhältnis zu treten. Auch das integrationstheoretische Konzept der egalitären Differenz folgt einem Heterogenitätsverständnis als relative Verschiedenheit. Insofern es mit ihm jedoch nicht um eine absolute Auflösung der Fremdheit geht, erscheint eine Ergänzung dieses Konzepts um das Denken radikaler Fremdheit nicht prinzipiell ausgeschlossen zu sein. Entgegen der im Diskurs vorherrschenden Ansicht theoretisch unterschiedsloser Konzepte, markiert eben diese Verschiebung im Verständnis von Heterogenität als egalitäre Differenz und als normale Verschiedenheit den wesentlichen theoretischen Unterschied zwischen dem pädagogischen Integrations- und Inklusionskonzept (vgl. 2.4). Diese beiden Sichtweisen haben einen unterschiedlichen Umgang mit der Fremdheit des Anderen zur Folge. Zwar bekommt auch die pädagogische Integrationstheorie ein radikales Fremdheitsverständnis nicht in den Blick, aber sie führt nicht per se zur Nivellierung der Fremdheit des (behinderten) Anderen. Die Rede von theoretisch unterschiedslosen Konzepten verwischt diesen entscheidenden Unterschied im Umgang mit der Fremdheit des Anderen. Das Denken radikaler Fremdheit ermöglicht es, die theoretischen Differenzen zwischen dem pädagogischen Integrations- und Inklusionsansatz zu analysieren und zu benennen. Dieses Denken macht darauf aufmerksam, dass es in pädagogischen Kontexten einen genuinen Begriff von Inklusion gibt, der im pädagogischen Diskurs um Inklusion allerdings zusehends verwässert wurde. Das Verständnis von Heterogenität als radikale Fremdheit erweist sich für den pädagogischen Diskurs um Integration und Inklusion aber auch deshalb als sehr hilfreich, da sich mit ihm die Dimension intersubjektiven Handelns sowie die Er-

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fahrung von Heterogenität von den mit diesen Konzepten verbundenen normativen und rechtlichen Ansprüchen unterscheiden lässt. Die Wertschätzungs- und Anerkennungsthematik ist im Kontext von Behinderung somit weniger als ein rein normatives, gerechtigkeitsethisches oder rechtliches Problem der Anerkennung des Anderen zu verhandeln, sondern zunächst als ein Fremderfahrungsgeschehen, das ein reflexives Selbstverhältnis notwendig werden lässt, das die Fremdheit des (behinderten) Anderen stets auch als die eigene Fremdheit begreift. Soll das Konzept der pädagogischen Inklusionsidee nicht aufgegeben werden, dann sind dessen Ansprüche klar auf die Ebene rechtlicher oder struktureller Verhältnisse einzuschränken. Sie sollten aufgrund des inhärenten Gefahrenpotentials nicht länger als eine pädagogische Idee oder ein pädagogisches Konzept und noch viel weniger als Leitvorstellung für intersubjektives Handeln und den Umgang mit Behinderung herangezogen werden. Allerdings fehlt diesem Konzept auch für die Verortung auf der Ebene gesellschaftlicher Strukturen nach wie vor die legitimatorische Basis, weshalb dieser Ansatz weniger einem wissenschaftlichen Anspruch gerecht wird, als vielmehr einen bloßen sozialpolitischen Impetus darstellt. Verständnis von Behinderung Eine fremdheitsphänomenologische Perspektive hat neben einem veränderten Heterogenitätsbegriff sowie der gänzlich anderen Betrachtungsweise von Fremdheit und dem Umgang mit ihr auch ein anderes Verständnis von Behinderung zur Folge, als dies im inklusionspädagogischen Ansatz der Fall ist (vgl. 5.1.2). Gegenüber der einseitigen inklusionspädagogischen Betonung des – zu überwindenden – Behindertwerdens rückt mit ihr das Behindertsein wieder in den Vordergrund der Betrachtung. Dies hat nichts mit einer reaktionären Haltung zu tun, sondern mit einem Ernstnehmen der Erfahrung einer Behinderung am eigenen Leib. Es steht außer Frage, dass es gesellschaftliche Strukturen sowie Haltungen gibt, die einen Menschen in seinem leiblichen Dasein behindern können. Behinderung jedoch als ein bloßes soziales Produkt oder Konstrukt zu begreifen, das es zu überwinden gilt, geht völlig an den Erfahrungen derjenigen Menschen vorbei, die sich tagtäglich in ihrem leiblichen So-Sein als behindert erfahren. Eine leibphänomenologische Perspektive auf Behinderung klärt darüber auf, dass sich hier etwas am Leib selbst entzieht, das nichts mit äußeren Zuschreibungsprozessen zu tun hat. Das, was sich in der Behinderung oder Krankheit entzieht, ist der Leib selbst. Einem schwer körperlich ‚Behinderten‘ zu sagen, er werde nur von außen bzw. durch gesellschaftliche Praktiken behindert, oder gar, es sei genauso normal, diese Behinderung zu haben, wie sie nicht zu haben, hat – um an dieser Stelle nochmals auf Kuhlmann zurückzugreifen – „mit der Selbsterfahrung vieler Betroffener wohl nichts gemein“ (Kuhlmann 2002: 292). Eine Behinderung zu haben, bedeutet für den Betroffenen eine spezifische Form der Fremderfahrung aufgrund des leiblichen Selbstentzugs, bei dem von außen

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nichts zwischengeschaltet ist oder kategorisiert wird. So heißt es auch bei Kastl: „Eine Behinderung ist einfach nicht dasselbe wie ein Verkehrsstau, ein zu großer Treppenabsatz oder eine unleserliche Schrift, sondern sie hat in einem eminenten Sinn mit mir selbst zu tun, sie ist ein Bestandteil meines körperlichen So-Seins.“ (Kastl 2010: 116) Gewiss kann eine Behinderung für einen ‚Behinderten‘ selbst auf gewisse Weise ‚normal‘ sein oder ‚normal‘ werden, weil er sein leibliches Dasein entweder nicht anders erfahren hat oder lernt, mit der Behinderung zu leben. Dies gilt aber eben nur in diesem Selbstverhältnis und nicht im Vergleich mit Anderen oder anderen Ausprägungen von Heterogenität, wie zum Beispiel der Geschlechtlichkeit oder anderen körperlichen Merkmalen. Trotzdem bleibt auch in diesem Selbstverhältnis ein Spalt bestehen, der mehr oder weniger hervortritt, je nachdem, wie sehr sich der Leib in einer Behinderung bemerkbar macht. Es besteht keine andere Möglichkeit, als sich und Andere in der Behinderung zu erfahren und nicht nur mit einer Behinderung, die von außen auferlegt würde. Diffamierend ist es hingegen, wenn diese Erfahrungen, die mitunter auch schmerzhaft und leidvoll sein können, unter dem Hinweis auf das normale Verschiedensein abgetan werden. Wenn beides normal verschieden wäre – behindert oder nicht behindert zu sein – bzw. Behinderungen überwunden wären, wie es mit der Prämisse der Normalität der individuellen Verschiedenheit vorgesehen ist, dann bliebe es dem ‚Behinderten‘ verwehrt, in ein reflexives Verhältnis zu seiner eigenen Behinderung zu treten. Ihm bliebe nur noch die Kategorie des individuellen und normalen Verschiedenseins. Über Behinderung kann mit dieser Prämisse nicht mehr nachgedacht und gesprochen werden, was zur Folge hat, dass auch keine fachspezifischen Fragen mehr erörtert und möglichst sinnvolle Antworten gegeben werden können. Aus einer leibphänomenologischen Perspektive wird Behinderung zudem noch nicht als ein medizinisches, soziales, individuelles oder intersektionales Problem oder als besonderer Förderbedarf verstanden. Selbstverständlich kann eine Behinderung dazu führen, dass die Partizipation an der Gesellschaft erschwert ist. Aber das Phänomen der (Körper-)Behinderung selbst ist deshalb noch kein Phänomen, bei dem die Partizipation an der Gesellschaft aufgrund der Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen erschwert ist (vgl. hierzu Jennessen/Lelgemann 2016: 20). Eine leibphänomenologische Sichtweise macht Behinderung zunächst vielmehr begreifbar als eine spezifische leibliche Erfahrungsweise von sich selbst, Anderen und der Welt, als existenzielle Möglichkeit unseres leiblichen Daseins, ohne dass hiermit eine normative Wertung verbunden wäre. Eine solche Sichtweise ermöglicht es, auch weiterhin nach der Bedeutung einer Behinderung für das Selbst-, Fremd- und Welterleben zu fragen. Sie bedeutet darüber hinaus keine subjektzentrierte Sichtweise auf Behinderung, sondern macht Behinderung stets nur als ein intersubjektives Phänomen beschreibbar. Ausgeschlossen ist damit keineswegs, medizinische Fragen zu erörtern, auf Schwierigkeiten sozialer Zuschreibungsprak-

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tiken hinzuweisen, partizipative Hindernisse zu benennen oder die auch machttheoretisch bedeutsame Verflechtung der Kategorien Körper oder Behinderung mit der des Geschlechts in den Blick zu nehmen (vgl. hierzu u.a. Jennessen 2016). Das Phänomen der Behinderung selbst lässt sich aber auf keine dieser Perspektiven reduzieren. Bevor all diese normativen und – abgesehen von denjenigen Positionen, die Behinderungen überwinden wollen – berechtigten Sichtweisen greifen, fokussiert ein leibphänomenologischer Blick die Dimension des Behindertseins, ohne damit die normative und gesellschaftliche Ebene des Behindertwerdens auszuschließen oder gar zu verleugnen. Mit einer solchen Sichtweise auf Behinderung kann trotzdem noch danach gefragt werden, inwiefern das dreifache Verhältnis des behinderten Selbst zu sich selbst, Anderen und der Welt durch Andere oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinträchtigt wird. Die Behinderung selbst ist aber noch nicht notwendigerweise ein Problem und noch viel weniger eine Angelegenheit, die es zu überwinden gilt. Disziplinärer Umgang der Heil- und Sonderpädagogik mit dem pädagogischen Inklusionsbegriff und mit Fremdheit Der pädagogische Inklusionsbegriff wurde nach seinem Aufkommen zu Beginn der Jahrtausendwende relativ zügig ins Gedankengebäude der Heil- und Sonderpädagogik aufgenommen. Spätestens seit der Verabschiedung der UN-BRK im Jahr 2009 spielt er eine nach wie vor zunehmend große Rolle innerhalb der deutschsprachigen Disziplin. Diese Virulenz geht so weit, dass die Erörterung sonderpädagogischer Themen kaum mehr ohne Bezüge zum Inklusionsbegriff auszukommen scheint. Die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik hat es bisher jedoch im Großen und Ganzen unterlassen, eine grundlegende und grundlagentheoretische Befragung der pädagogischen Inklusionsidee vorzunehmen. Anstatt die mit ihr verbundenen zentralen Annahmen und Thesen in der Bedeutung für den genuinen fachwissenschaftlichen Gegenstand der Behinderung kritisch zu prüfen, beschritt und beschreitet die Disziplin allzu oft den Weg begriffsentleerender Verwendungsweisen (vgl. 2.1). Der Begriff und seine Inhalte werden so weit relativiert, dass am Ende häufig nur ein ominöser begrifflicher Zustand bleibt, demnach irgendwie alles ‚inklusiv‘ ist – sogar die Disziplin und Profession der Heil- und Sonderpädagogik selbst. Inklusion ist im (sonder-)pädagogischen Kontext damit heutzutage häufig nicht mehr als ein Mode- oder ein Schlagwort, das in die eigenen Ausführungen eingeflickt wird, ohne dass auf theoretische Grundlagen und Bezugstheorien näher eingegangen wird. 1 Dieses Vorgehen verhindert nicht nur eine wissenschaftliche Diskussion der Beiträ1

So schreibt beispielsweise auch Gasterstädt davon, dass in einem Sammelband mit dem Titel Sonderpädagogik und Inklusion (vgl. Breyer u.a. 2012) in „fast allen […] Beiträgen unklar [bleibt], was unter dem Stichwort Inklusion zu verstehen ist“ (Gasterstädt 2014: o.S.).

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ge in ihrer ‚Inklusivität‘, sondern es sorgt letztlich auch für Verunsicherung bei den in der Praxis Tätigen. Selbst wenn sich inhaltliche und berechtigte Kritik am pädagogischen Inklusionsbegriff regt: Der Begriff und dessen theoretische Grundlagen werden weder genauer hinterfragt noch viel weniger in Frage gestellt. Vielmehr wird Inklusion trotz aller berechtigten Kritik als Bezugspunkt sonderpädagogischen Handelns und Denkens beibehalten.2 Die Ausführungen haben die theoretischen Grundlagen und Prämissen des pädagogischen Inklusionsbegriffes ernst genommen, die Spezifik dieses Begriffsverständnisses herausgearbeitet und eine Prüfung der inhaltlichen Konsistenz der Aussagen vorgenommen. Von hier aus wurden diese theoretischen Grundlagen aus einer fremdheitsphänomenologischen Perspektive kritisch hinterfragt. Dies alles könnte als eine begriffliche oder bloß theoretische Spielerei abseits praktischer Bedeutung und empirischer Bezüge abgetan werden. Eine pädagogische Disziplin hat jedoch hauptsächlich Begriffe als Handwerkszeug, die das praktisch-professionelle Handeln beeinflussen oder bestimmen. Auf den pädagogischen Inklusionsbegriff 2

Zwei Beispiele müssen an dieser Stelle genügen: So lehnt Ackermann Inklusion als einen pädagogischen Begriff begründeterweise ab und verortet ihn als einen politischen Begriff, der als solcher hinsichtlich der „Fragen des Bedingungszusammenhanges der Institutionalisierung […]“ (Ackermann 2012: 96) einen Ort im pädagogischen Grundgedankengang hat (vgl. ebd.: 98). Der Verortung von Inklusion als politischem Begriff ist zwar zuzustimmen; wird jedoch von einem „inklusionspädagogischen Kontext“ ausgegangen (vgl. ebd.: 96), dann ist es aber keine „spannende Frage“, ob die Prozesse, die durch Inklusion in der Gesellschaft angestoßen werden, Prozesse im sonderpädagogischen Sinne sind (vgl. ebd.). Ein inklusionspädagogisches Begriffsverständnis hätte über diese Frage immer schon entschieden und zwar so, dass es aufgrund der theoretischen Prämissen keine sonderpädagogischen Strukturen mehr geben kann. Ackermann lehnt Inklusion als einen pädagogischen Begriff zwar ab, er will sie aber als eine sehr relevante „Leitvorstellung hinsichtlich gesellschaftlich-institutioneller Rahmenbedingungen für Bildungssysteme […]“ (ebd.: 98) auch im sonderpädagogischem Kontext beibehalten wissen. Auch Bergeest/Boenisch/Daut (2015) formulieren sehr berechtigte Kritikpunkte am pädagogischen Inklusionsbegriff, arbeiten die Widersprüche zu einer sonderpädagogischen Sichtweise deutlich heraus (vgl. ebd.: 40ff., 268f.) und plädieren für eine Vielfalt der Förderorte (vgl. ebd.: 265). Nichtsdestotrotz soll „das Inklusionsmodell“ weiterhin eine „Orientierung ohne Alternative und die Leitidee für die Körperbehindertenpädagogik“ (ebd.: 269) sein, obwohl sich das pädagogische Inklusionsmodell völlig konträr zu diesen wichtigen Fachperspektiven verhält. In diesem Sinne sei auch an ein sogenanntes „gemäßigtes“ Inklusionsverständnis bzw. an einen „weiten“ Inklusionsbegriff erinnert (vgl. 2.1). Wie bereits mehrfach betont, sind in begriffstheoretischer Hinsicht auch eigene Forschungsvorhaben zur Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (Lelgemann/Singer/Walter-Klose 2015) kritisch zu betrachten.

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trifft dies umso mehr zu, da dieser explizit darauf angelegt ist, eine – inzwischen relativ wirkmächtig gewordene – Leitvorstellung für die pädagogische und soziale Praxis zu sein, die in seinem Sinne zu verändern ist. Die theoretische Arbeit an diesem Begriff ist daher nicht nur notwendig, um zu einer wissenschaftlichen Verständigung und zu einer größeren begrifflichen Klarheit zu gelangen, sondern auch aufgrund seines unmittelbaren und machtvollen Wirkens in pädagogischen und sozialen Praktiken. Einer solchen Diskussion sollte sich insbesondere die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik nicht länger aus Gründen des Zeitgeistes oder aus der Angst, als rückständig bzw. als Verhinderer der Teilhabe ‚Behinderter‘ oder gar der Umsetzung der Menschenrechte zu gelten, verschließen. Anstatt diesem moralischen Druck nachzugeben, sollte sie sich fragen, ob sie sich weiterhin auf einen Begriff wie den der pädagogischen Inklusion beziehen will, der, werden seine theoretischen Prämissen beachtet, • sämtliche Reflexionsprozesse über die Selbst- und Fremderfahrung einer Behin-

derung a priori verhindert, • professionstheoretisches Wissen über den genuinen fachspezifischen Gegenstand

der Behinderung unzugänglich macht, • den Gegenstand der Behinderung und die Disziplin selbst in Frage stellt, • institutionell nur noch eine „Schule für alle“ ermöglicht, aber keine sonderpäda•



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gogischen Strukturen und Einrichtungen mehr erlaubt, die nicht zu überwindende Fremdheit im Kontext von Behinderung überwinden will, anstatt einen Umgang mit ihr zu finden, der der Fremdheit des Anderen und Eigenen möglichst gerecht wird, in dem Versuch und der Forderung der Überwindung der Fremdheit des (behinderten) Anderen das Ziel einer größeren Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘ gefährdet, keine pädagogische Handlungsperspektive bietet, sondern einen gesellschaftspolitischen Imperativ darstellt, nicht wissenschaftlich ausgerichtet ist, sondern totalitären Prinzipien folgt und ideologisch motiviert ist.

Es ist richtig und es ist auch gut so, dass die Diskussion um Inklusion die gesellschaftliche Debatte über eine größere Teilhabe ‚Behinderter‘ an allgemeinen Strukturen und Systemen neu entfacht hat. Ebenso zwingt der pädagogische Inklusionsbegriff die Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik zu einer sinnvollen Selbstreflexion und letztlich auch zu einer Selbstvergewisserung über ihre professionsspezifischen Wissensbestände und praktischen Handlungsperspektiven. Um jedoch für mehr gesellschaftliche Teilhabe und Gleichberechtigung sowie eine größere intersubjektive Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘ einzutreten oder pädagogisch begründet zu handeln, ist eine wissenschaftliche Bezugnahme auf den

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Inklusionsbegriff nicht zwingend notwendig. Erstens sind der Anspruch auf Teilhabe und die rechtlichen Ansprüche sowohl im Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“) als auch im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) auf demokratische Weise und gesetzlich verankert geregelt. Durch die UN-BRK werden zudem die allgemeinen Menschenrechte aus der Perspektive ‚Behinderter‘ konkretisiert und Zugangsrechte geschaffen, aber kein Menschenrecht auf Inklusion. Zweitens kann es auf die intersubjektive Anerkennung und Wertschätzung keinen normativen oder rechtlichen Anspruch geben, der diese eher verhindert oder gefährdet. Drittens wird pädagogisches Handeln nicht erst durch Inklusion bzw. ein inklusionspädagogisches Heterogenitätsverständnis „demokratisch“ und es wird hierdurch auch nicht legitimiert. Vielmehr gibt es hierfür seit Langem genuin pädagogische Grundbegriffe wie die der Bildung und Erziehung. Eine Rückbesinnung auf ihr Kerngeschäft, der Bildung und Erziehung ‚Behinderter‘, würde einer pädagogischen Disziplin wie der Heil- und Sonderpädagogik sehr gut tun, wenn sie sich nicht im Dunstkreis sozial- und gesellschaftspolitischer Imperative verlieren will (vgl. auch Ackermann 2012). Vielleicht ist genau dies auch eine wesentliche Aufgabe der Heil- und Sonderpädagogik in Theorie und Praxis: Im Diskurs unbequem zu sein und gesellschaftspolitische Vorgänge, die, wie derzeit der inklusionspädagogische Ansatz, auf die Überwindung der Fremdheit abzielen, mit eigenen Begriffen und Sichtweisen kritisch in den Blick zu nehmen. Ein radikal verstandener Fremdheitsbegriff ermöglicht der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik auf dem Weg zu einer größeren Anerkennung und Wertschätzung ‚Behinderter‘ nicht nur eine sinnvolle Abgrenzung vom inklusionspädagogischen Paradigma. Er eröffnet der heil- und sonderpädagogischen Theoriebildung und Praxis darüber hinaus auch ein breites Spektrum an Möglichkeiten bei der Suche nach Antworten auf die Bildung und Erziehung ‚Behinderter‘, die deren Fremdheit nicht vorschnell bewältigen wollen. Dabei dient er zugleich auch als eine kontinuierliche und kritische Reflexionsfolie heil- und sonderpädagogischen Denkens und Handelns. Wenn sich die heil- und sonderpädagogischen Disziplinen und Professionen nicht länger in grundsätzliche Widersprüche verwickeln oder sich nicht selbst überflüssig machen wollen, sondern im Sinne einer anwaltschaftlichen Funktion für ‚Behinderte‘ weiterhin darauf bedacht sind, eigene Fachperspektiven und Sichtweisen zu verfolgen und weiterzuentwickeln, dann wäre Abstand vom inklusionspädagogischen Paradigma der „Normalität der Verschiedenheit“ zu nehmen. Der inklusionspädagogische Ansatz ist versucht, die wenigen Lücken, in denen der Andere in der Integrationstheorie noch als Fremder auftauchen kann (vgl. Meyer-Drawe 1993: 32), zu schließen. Jedoch kann eine Reflexion über den Umgang mit der Fremdheit des (behinderten) Anderen auch innerhalb der heil- und sonderpädagogischen Disziplin und Profession als Korrektiv gegen ein Denken und Handeln wirken, das die-

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se Fremdheit durch einseitige Maßnahmen des Förderns und Diagnostizierens sowie durch einseitige institutionelle Zuweisungspraktiken allzu gut in den Griff bekommen und sich ebenso ihrer bemächtigen will. Auch für die heil- und sonderpädagogische Theorie- und Praxisentwicklung wäre ein Umgang mit der Fremdheit des (behinderten) Anderen angezeigt, der sich durch diese prinzipiell beunruhigen lässt und der sie nicht auf das Eigene zurückführen will oder daran bemisst. Wenn Fremdheit mehr bedeuten soll als etwas, das noch nicht angeeignet ist, dann ist die Art und Weise entscheidend, wie Normales sich von Anomalem abhebt (vgl. Waldenfels 2008: 13). Das Normale bedeutet dann keinen Regelfall, von dem Anomales abweichen würde; ebenso wenig ist Anomales als solches zu verteidigen oder zu überwinden. Als handlungsleitende Sichtweise für einen nicht aneignenden Umgang der Fremdheit des (behinderten) Anderen fungiert ein Verständnis des Verhältnisses von Normalem und Anomalem, das keine dualistische Trennung vornimmt. Vielmehr begreift es beide Seiten stets als ineinander verflochten und verwickelt, ohne dass sie miteinander zusammenfielen oder völlig voneinander getrennt wären. Eindeutige und letztgültige institutionelle Antworten sind mit dem Denken der radikalen Fremdheit jedoch nicht zu haben. Vielmehr kommt es in dieser Hinsicht darauf an, institutionelle Wege zu finden, die weder eine zu klare Trennung von Eigenem und Fremdem vornehmen noch versuchen, beides miteinander zu verschmelzen. Ein immer schon vorentschiedener Umgang mit der Fremdheit des behinderten Anderen verfehlt diesen auch in institutioneller Hinsicht. Entscheidend ist letztlich der Umgang mit den singulären Ansprüchen der Fremdheit des (behinderten) Anderen und dies ist in erster Linie eine professionelle und keine institutionelle Frage. Ebenso wenig, wie es um die Verwehrung von Zugängen zu allgemeinen Strukturen gehen kann, sollten auch weiterhin Zugänge zu spezifischen Strukturen möglich sein. Beides kann prinzipiell erforderlich sein, wenn der Fremdheit des behinderten Anderen keine Gewalt widerfahren soll. Dies zeigen nicht zuletzt Biografien von körperbehinderten Schülerinnen und Schülern, die und deren Eltern den Wechsel von einer allgemeinen Schule zu einer Förderschule als notwendigen, sinnvollen und gewinnbringenden Schritt beschreiben (vgl. Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose 2012a: 69ff.). Die Wahrnehmung singulärer Ansprüche im Kontext von Behinderung sollte aus professioneller Sicht heraus nicht hinter ideologischen Vorhaben verschwinden. Mit dem Denken der radikalen Fremdheit ist eine deutlich größere Verflechtung der Strukturen als bisher angezeigt, aber kein einseitiger Versuch der Überwindung von Fremdheit im Allgemeinen. Professionelles und sonderpädagogisches Denken und Handeln sollte die Erfahrung des Behindertseins – und damit auch die Erfahrung der Fremdheit im Eigenen und des Anderen – auch in Zukunft ernst nehmen und anerkennen. Nur dann lässt sich diese Dimension leiblichen Daseins in ihrer Bedeutung für das Selbst und hinsichtlich der Wechselwirkung mit Anderen und der Welt erfragen. Und nur dann

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werden auch weiterhin (professionelle) Antworten möglich, die bei aller notwendigen Betonung der Veränderung einschränkender Rahmenbedingungen das leiblichbehinderte Selbst nicht vergessen. Nur wenn Fremderfahrungen im Kontext von Behinderung in Rechnung gestellt werden, kann darüber hinaus auch ein Weg der Anerkennung des behinderten Anderen gefunden werden, der Fremdes als Eigenes begreift. Das Problem der pädagogischen Inklusionsidee ist, dass mit ihr ein sozialpolitischer Impuls gegeben wird, dessen Ziele nachvollziehbar, erstrebenswert und begeisternd erscheinen und die es teilweise auch sind; der Weg dahin, der mit dieser Idee vorgeschlagen wird, macht es aber im Äußersten unwahrscheinlich, ja unmöglich, dass man jemals dahin gelangt. Es ist eine Idee, die sich in der Praxis selbst ad absurdum führt, denn zur Verwirklichung von mehr Wertschätzung und Teilhabe ‚Behinderter‘ braucht es mehr als sozialromantische Ideologien. Neben theoretisch fundierten Analysen, die diese Verhältnisse abseits von ideologischen Scheuklappen und aus einem spezifischen Blickwinkel betrachten, sind dies engagierte, gut ausgebildete Fachkräfte, die sich die Mühe machen, unter benötigten Rahmenbedingungen auf den Einzelnen und seine spezifischen Problematiken einzugehen. So einfach, wie es die Ideologie der pädagogischen Inklusionsidee vorspiegelt, wird man eine Lösung zur Verbesserung der Lebensumstände von ‚Behinderten‘ nicht finden. Unmöglich, eine zu finden, ist es nicht.

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Danksagung

Während der Erstellung dieser Arbeit haben mich einige Menschen fachlich und persönlich begleitet. Ihnen allen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Besonders bedanken möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Reinhard Lelgemann für seine fachliche und menschliche Unterstützung während und vor der Erstellung dieser Arbeit. Er hat mir sowohl den nötigen Freiraum im Denken gewährt als auch immerzu Zeit gefunden, die Arbeit kritisch und konstruktiv zu diskutieren. Ebenso gilt mein besonderer Dank Herrn Prof. Dr. Erhard Fischer für seine Bereitwilligkeit, die Arbeit zu begutachten und dafür, dass er mir während der Erstellung stets unterstützend zur Seite stand. Aus dem privaten Umfeld möchte ich mich insbesondere bei Ruth Hanke für die viele Zeit bedanken, die sie mir und dieser Arbeit auf vielfältige Weise geschenkt hat. Gleichermaßen gilt mein Dank meiner Familie, die mich auf diesem Weg in vielerlei Hinsicht begleitet hat, sowie Martina, die mir stets liebevoll den Rücken freigehalten und auf sehr viele gemeinsame Stunden verzichtet hat. Nicht zuletzt möchte ich mich bei meinen ehemaligen und aktuellen Kollegen sowie bei meinen Freunden für ihre Unterstützung bedanken, insbesondere bei Marina Neumeier, Julia Bultjer, Dr. Holger Preiß, André Grandl, Lennart Heinemann und ebenso bei Jakob Hilber und Franz Kurz für ihren motivierenden Impetus. Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich Susanne Hanke für die vielen anregenden Diskussionen und dafür, dass sie mir stets kritischer Prüfstein meiner Gedanken ist. Gewidmet ist diese Arbeit meinem Vater.

Pädagogik Anselm Böhmer

Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1

Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel

Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis 2016, 248 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7

Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)

Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule Juni 2017, 726 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7

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Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering

Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven (unter Mitarbeit von Linda Leskau, Kathrin Lohse, Arne Malmsheimer und Jens Schröter) März 2017, 304 S., kart., zahlr. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3053-8

Juliette Wedl, Annette Bartsch (Hg.)

Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung 2015, 564 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2822-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2822-1

Peter Bubmann, Eckart Liebau (Hg.)

Die Ästhetik Europas Ideen und Illusionen 2016, 206 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3315-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3315-7

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