Industrie- und Technikmuseen im Wandel: Perspektiven und Standortbestimmungen [1. Aufl.] 9783839402689

Schwerpunkt des Bandes ist die Erschließung ehemaliger Industrieanlagen und industriell überformter Landschaftsräume für

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Industrie- und Technikmuseen im Wandel: Perspektiven und Standortbestimmungen [1. Aufl.]
 9783839402689

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Unbehagen an der Industriekultur
Was bleibt faszinierend an der Museumskultur?
Vor Ort: Museen im Industriedenkmal
Denkmal – Museum – ›Event‹. Industriedenkmalpflege und »Industriekultur«
Den Schornstein im Dorf lassen. Denkmalpflege als Museumskonzept: Die Tuchfabrik Müller in Euskirchen
Das »Museu de la Ciència i de la Tècnica de Catalunya« und das industriekulturelle Erbe
Industrielle Welterbestätten zwischen Musealisierung und Zukunftsorientierung
Musealer Umgang mit einer Stätte des UNESCOWeltkulturerbes. Der Rammelsberg in Goslar
Erhaltung und Nutzung der Hochofenanlage »UNESCO-Weltkulturerbe Völklinger Hütte«
»Was ist Zollverein?«
Neue Inhalte und ihre Vermittlungsstrategien Anmerkungen zum Industriemuseum
Science Center: ›Irrläufer‹ der Edutainment-Welle oder Herausforderung für die Industrie- und Technikmuseen?
»Industriemuseum Chemnitz« – ein neues Museum und sein Konzept
Das Vermittlungskonzept derDeutschen Arbeitsschutzausstellung (DASA)
Wie viel Zukunft verträgt ein Museum? Das neue »Verkehrszentrum« des Deutschen Museums
Industrieregionen und ihre touristische Erschliessung
Vom Regenwald in die Wüste. Die Niederlausitz und die »Musealisierung der Industriekultur«
Die Neuerfindung der Industrie als Touristenattraktion. Mitteldeutsches Braunkohlenrevier – Ruhrgebiet – Rheinisches Braunkohlenrevier
Nachfolgeprojekte der »Route der Industriekultur« im Ruhrgebiet: Stationen der Industrie- und Technikgeschichte in Ostwestfalen-Lippe
Industriekultur im Saarland – Anmerkungen zum Auftrag und den Projekten der »Industriekultur Saar GmbH«
Autorinnen und Autoren

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel Standortbestimmungen und Perspektiven

2005-08-15 15-17-33 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 92107228830

Publikationen der Abteilung Museumsberatung Nr. 20 LANDSCHAFTSVERBAND RHEINLAND Rheinisches Archiv- und Museumsamt

2005-08-15 15-17-33 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

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) T00_02 autoreninfo.p 92107228958

Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.)

Industrie- und Technikmuseen im Wandel Standortbestimmungen und Perspektiven

2005-08-15 15-17-35 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

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) T00_03 innentitel.p 92107228998

Erweiterter Ergebnisband der Tagung »Industrie- & Museumskultur. Tendenzen und Perspektiven« des Fortbildungszentrums Abtei Brauweiler und des Saarländischen Museumsverbandes e.V., 29. Juni/01. Juli 2003 in Saarbrücken und im Weltkulturerbe Völklinger Hütte Herausgegeben von Hartmut John und Ira Mazzoni im Auftrag des LANDSCHAFTSVERBANDES RHEINLAND – Presseamt – Rheinisches Archiv- und Museumsamt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld, Landschaftsverband Rheinland und die Autoren Konzeption: Hartmut John/Ira Mazzoni Organisation: Fortbildungszentrum Abtei Brauweiler, Saarländischer Museumsverband e.V., Weltkulturerbe Völklinger Hütte, IndustrieKultur Saar GmbH Lektorat/Redaktion: Ira Mazzoni Koordination: Fortbildungszentrum Abtei Brauweiler/Rheinisches Archiv- und Museumsamt Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-268-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 92107229094

Inhalt Vorwort Hartmut John

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Unbehagen an der Industriekultur Ira Mazzoni

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Was bleibt faszinierend an der Museumskultur? Hans-Ernst Mittig

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Vor Ort: Museen im Industriedenkmal Denkmal – Museum – ›Event‹. Industriedenkmalpflege und »Industriekultur« Axel Föhl

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Den Schornstein im Dorf lassen. Denkmalpflege als Museumskonzept: Die Tuchfabrik Müller in Euskirchen Detlef Stender

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Das »Museu de la Ciència i de la Tècnica de Catalunya« und das industriekulturelle Erbe Jaume Matamala

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Industrielle Welterbestätten zwischen Musealisierung und Zukunftsorientierung Musealer Umgang mit einer Stätte des UNESCOWeltkulturerbes. Der Rammelsberg in Goslar Reinhard Roseneck

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Erhaltung und Nutzung der Hochofenanlage »UNESCO-Weltkulturerbe Völklinger Hütte« Norbert Mendgen

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»Was ist Zollverein?« Hans Kania

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Neue Inhalte und ihre Vermittlungsstrategien Anmerkungen zum Industriemuseum Susanne Hauser

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Science Center: ›Irrläufer‹ der Edutainment-Welle oder Herausforderung für die Industrie- und Technikmuseen? Wolf P. Fehlhammer

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»Industriemuseum Chemnitz« – ein neues Museum und sein Konzept Jörg Feldkamp

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Das Vermittlungskonzept der Deutschen Arbeitsschutzausstellung (DASA) Gerhard Kilger

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Wie viel Zukunft verträgt ein Museum? Das neue »Verkehrszentrum« des Deutschen Museums Sylvia Hladky

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Industrieregionen und ihre touristische Erschliessung Vom Regenwald in die Wüste. Die Niederlausitz und die »Musealisierung der Industriekultur« Günter Bayerl Die Neuerfindung der Industrie als Touristenattraktion. Mitteldeutsches Braunkohlenrevier – Ruhrgebiet – Rheinisches Braunkohlenrevier Walter Buschmann

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Nachfolgeprojekte der »Route der Industriekultur« im Ruhrgebiet: Stationen der Industrie- und Technikgeschichte in Ostwestfalen-Lippe Heinrich Lakämper-Lührs

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Industriekultur im Saarland – Anmerkungen zum Auftrag und den Projekten der »Industriekultur Saar GmbH« Karl Kleineberg und Delf Slotta

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Autorinnen und Autoren

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2005-08-15 15-17-36 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

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7) T00_05 inhalt.p 92107229158

2005-08-15 15-17-36 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

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) vak008.p 92107229222

Hartmut John ➔ Vorwort

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Vorwort Hartmut John »Industriekultur reicht für die Ankurbelung des Tourismus nicht aus«, sie sei nicht mehr als ein »Marketing-Label«, erkannte kürzlich Dieter Nellen vom Regionalverband Ruhr und gleichzeitig Geschäftsführer der RuhrTourismus GmbH. Besucher und wirtschaftliche Wertschöpfung könne man nur mit modernem Event-Management, spektakulären Sonderausstellungen und Megaveranstaltungen wie der »Extraschicht – Nacht der Industriekultur« generieren. Auch Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers glaubt erkannt zu haben, dass kostenträchtige Industriedenkmäler wie die »Jahrhunderthalle« ohne die hoch subventionierte »RuhrTriennale« kaum zu finanzieren sind (taz Ruhr/NRW vom 12.01. und 20.04.2005). Inzwischen hat der seit Jahren anhaltende Trend rückläufiger bzw. stagnierender Besuchszahlen auch die Industrie- und Technikmuseen erfasst – selbst in einer der vormals imposantesten Landschaften der Montan- und Schwerindustrie Europas. Von seiner früheren Anziehungs- und Strahlkraft hat der Typus des Industriemuseums tatsächlich einiges verloren. In Zeiten der Museumsreform noch als Geburt einer neuen Museumsgattung gefeiert, verliehen die industrie- und technikgeschichtlichen Museen dem Museumsboom seit den 1970er Jahren erhebliche Schubkraft und drückten der Museumsentwicklung hierzulande mit innovativen Ansätzen und Konzepten wesentlich den Stempel auf. Die Probleme, Herausforderungen und Risiken, denen sie sich heute – jenseits deutlich verschlechterter finanzieller und struktureller Rahmenbedingungen ihrer Arbeit – konfrontiert sehen, sind vielfältiger und komplexer Natur. Einige Stichworte in diesem Zusammenhang sind: – schwindendes politisches und öffentliches Interesse an den baulichen und technischen Relikten des vergangenen Fabrikzeitalters; – die Enttäuschung hochgespannter Erwartungen über »Industriekultur« im Kontext regionaler Struktur- und Entwicklungspolitik; – die fortschreitende Verflüchtigung industriell geprägter Arbeit und Technik in der Gesellschaft, die einen neuen Umgang mit diesen zentralen Darstellungsgegenständen im Museum erfordert; – von vermeintlich lästigem ›Geschichtsballast‹ befreite Science Center, die als neue Stars der Edutainment-Szene gehandelt werden und viele Technikmuseen buchstäblich ›alt aussehen‹ lassen; – Brandlands, Themen- und Freizeitparks, die mit aufwendig inszenierten Traum- und Erlebniswelten die Unterhaltungs- (und zum Teil auch Lern-) wünsche breiter Publikumsschichten immer perfekter erfüllen. Vor diesem Hintergrund haben das Fortbildungszentrum Abtei Brauweiler/

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

Rheinisches Archiv- und Museumsamt und der Saarländische Museumsverband im Sommer 2003 eine Tagung unter dem Leitthema »Industrie- & Museumskultur. Tendenzen und Perspektiven« veranstaltet und dabei den Versuch unternommen, Standort und perspektivische Entwicklung der industrieund technikgeschichtlichen Museen am Beginn des neuen Jahrhunderts kritisch zu hinterfragen und zu analysieren. Drei Tage lang diskutierten und stritten etwa 80 Museumsfachleute, Kulturwissenschaftler, Technikhistoriker, Industriedenkmalpfleger und Restauratoren aus ganz Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden in Saarbrücken und Völklingen über konzeptionelle Ansätze und Strategien für eine erfolgversprechende Profilierung und Positionierung dieses Museumstyps unter den Marktbedingungen und Perspektiven der Freizeit- und Erlebnisgesellschaft. Wie unterschiedlich die Vorstellungen und Vorschläge der Fachleute für eine Anpassung der Industrie- und Technikmuseen an die gewandelten Anforderungen, Erwartungen und Interessen von Politik, Öffentlichkeit und Publikum auch immer waren, in einer Einschätzung schienen sie sich weithin einig: Als ›puristische Gattungsmuseen‹ werden sie schwerlich bestehen und überleben können. Rascher und vielleicht weitgehender als andere Museumstypen werden sie sich öffnen und durchlässig machen müssen für die Sichtweisen, Perspektiven, Darbietungs- und Kommunikationsformen anderer Gattungen, Disziplinen und Anbieter auf dem Kultur- und Freizeitmarkt. Die sich abzeichnende inhaltliche, mediale und strukturelle Durchmischung und Hybridisierung der Industriemuseen mag für den einen die Gefahr einer ›Verwässerung‹ des industriekulturellen Erbes heraufbeschwören; andere mögen darin die Tendenz zu postindustrieller Beliebigkeit sehen, mit der die Hinterlassenschaften des Industriezeitalters zur dekorativen Kulisse und Folie für die Inszenierung ganz anderer ›Stücke‹ degradiert werden. Dass solche Entwicklungen mit Gefahren und Risiken für Profil, Identität und Authentizität der industrie- und technikhistorischen Museen verbunden sind, kann kaum in Abrede gestellt werden. Solche Risiken wird man aber immer dort minimieren können, wo Museumsverantwortliche die Stärken ihrer Häuser gezielt nutzen und die Alleinstellungsmerkmale sowie Potenziale – spezifische Architektur, Produktionsmittel und -räume des Industriezeitalters – ins Zentrum zeitgemäßer Kommunikation und ansprechender Vermittlung rücken. Die spannende Frage bleibt, wie die industrie- und technikgeschichtlichen Museen heute und morgen weiter einen prominenten und wirkungsvollen Beitrag dazu leisten können, das industriekulturelle Erbe lebendig zu erhalten und pfleglich zu bewahren. Die Herausgeber hoffen, dass der Band Impulse und Anregungen bei der Suche nach Antworten beisteuern kann. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die ehemals »klassische« Montanregion des Saarlandes; ihre sehr dichte, qualitätvolle Sachüberlieferung und die denk-

2005-08-15 15-17-36 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

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Hartmut John ➔ Vorwort

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malpflegerischen Erhaltungsbemühungen unter den schwierigen Rahmenbedingungen eines kleinen Bundeslandes beanspruchten im Rahmen der Völklinger Tagung breiten Raum. Das Fortbildungszentrum Abtei Brauweiler/Rheinisches Archiv- und Museumsamt dankt auch im Namen des Saarländischen Museumsverbandes e.V. an dieser Stelle noch einmal allen, die zum guten Gelingen der Tagung und zur Realisierung dieses Bandes einen Beitrag geleistet haben. Dieser Dank gilt in besonderem Maße der Mitherausgeberin, Frau Ira Mazzoni, meinem Kollegen im Rheinischen Amt für Denkmalpflege Axel Föhl und nicht zuletzt dem transcript Verlag für die professionelle Betreuung des Projekts und für eine stets angenehme Zusammenarbeit.

2005-08-15 15-17-36 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

9- 11) T01_01 vorwort.p 92107229246

2005-08-15 15-17-36 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

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Ira Mazzoni ➔ Unbehagen an der Industriekultur



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Unbehagen an der Industriekultur

Ira Mazzoni Jahrzehntelang wurde mit »Industriekultur« regionale Entwicklungspolitik betrieben. Es galt, die Härten des Strukturwandels zu kompensieren, historisch gewachsene Identitäten zu prolongieren, zu stärken und aufzuwerten. Doch nun ist der Begriff durch unzählige Events im industriekulturellen Raum überstrapaziert und schal geworden. »Was kommt nach der Industriekultur«, fragte im Juni 2003 das »Kulturwissenschaftliche Institut« (KWI) Essen. Zu diesem Anlass erklärte Ulrich Heinemann vom Ministerium für Schule und Jugend in Nordrhein-Westfalen, die Hochzeit der Industriekultur sei vorbei – und meinte damit weniger die Festivals als die Bemühung der IndustrieDenkmalpflege um den Erhalt alter Anlagen und die anschließende Musealisierung des industriellen Erbes. Nun hofft man in NRW auf eine neue Kultur, »die Geld bringt und zukunftsorientierte Arbeitsplätze«. Industriekultur jedenfalls scheint der Zukunft im Wege zu stehen – trotz der vagen Hoffnungen, man könnte mit ihrer Vermarktung im Tourismussektor reüssieren. Immerhin bewirbt sich das Ruhrgebiet als »Stadt der Städte« um den Titel »Kulturhauptstadt Europas« zum Jahr 2010 mit »200 Museen, 100 Kulturzentren, 120 Theatern, 100 Konzertstätten, 250 Festivals & Feste[n], 3500 Industriedenkmälern, 19 Hochschulen und 1.000.000 Fußballfans« – in dieser Reihenfolge: die Museen an erster Stelle. Dabei wird hervorgehoben, dass der kulturelle Reichtum »nicht ererbt, sondern vor allem erarbeitet« wurde, »errungen in weniger als zwei Jahrhunderten.« Anders ausgedrückt: Ohne die Industrie wäre diese Vielfalt kaum entstanden. Aber so deutlich will man über dieses Erbe nicht sprechen. Deshalb empfiehlt sich das Ruhrgebiet als Modell einer »Region im Wandel«, deren Fortschrittsmotor Kultur sei. Im Klartext der Bewerbungsbroschüre »Entdecken. Erleben. Bewegen« wird das kulturelle Angebot weiter spezifiziert: »eine unglaubliche Vielzahl spektakulärer Bühnen und Schauplätze für Kultur, Entertainment, Sport und die weltweit einzigartige Route Industriekultur, mit der ein gesamtes europäisches Zeitalter begehbar wird.«

Noch einmal erscheint die Industriekultur, verknüpft zum touristischen Geschichtspfad, als Alleinstellungsmerkmal – immerhin. Aber es ist die einzige Stelle im Text, in der Industriekultur überhaupt erwähnt wird. Über Essen wird berichtet: »Die einstige Zeche Zollverein, heute Weltkulturerbe der UNESCO, ist Zentrum internationalen Designs und beherbergt auch das Choreographische Zentrum PACT.« Und in Sachen Stadtentwicklung wird stolz verlautet: »Die Essener City wächst immer mehr in den Kruppgürtel hinein und zaubert aus der Asche des Industrie-Areals einen Phönix aus Musical-

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

theater und Musikschule.« Erfolgversprechende Transformation scheint also ohne Industriekultur auszukommen. Die Frage der Zukunft wird lauten: Was wird aus der Industriekultur, wenn sie ihren politischen Rückhalt weiter verliert, weil dafür keine europäischen Fördermittel mehr zu ergattern sind? Was wird aus den verklärten ›Kathedralen des montanen Zeitalters‹, nachdem schon die örtlichen und regionalen Haushalte keine Mittel mehr bereitstellen, um die in den letzten Jahren mit viel Pomp geschaffenen Erinnerungs-, Geschichts- und Erlebnisorte auf Dauer zu unterhalten und weiterzuentwickeln? Die Frage ist nicht: »Was kommt nach der Industriekultur?«, sondern: »Was wird aus der Industriekultur und ihren musealen Repräsentanten?« Mit Sorge muss die zunehmende politische Skepsis gegenüber musealen Konzepten jenseits des merkwürdigerweise immer noch boomenden Kunstsektors betrachtet werden. Gab es vor Jahren häufig nur eine Lösung für die Umnutzung alter Mühlen, Spinnereien, Gießhallen: ihren nicht immer denkmalverträglichen Umbau zum Museum, so ist heute das entgegengesetzte Extrem zu beobachten: die brüske Ablehnung allen Musealen. Nicht nur die Welterbestätte »Zollverein« in Essen wird paradoxerweise in erster Linie als Zukunftsstandort profiliert. In der Oberpfalz wird gerade die geschichtsträchtige »Maxhütte« größtenteils gewinnbringend verschrottet. Die Hoffnung, das integrierte Hüttenwerk, das ab 1863 alle Eisenbahnschienen Bayerns produzierte, könne in der strukturschwachen Region als monumentales Exponat »Impulse für den Tourismus setzen« und gleichzeitig attraktives Zentrum neuer Gewerbeansiedlungen werden, hat sich zerschlagen. Weder der Freistaat als alter Mehrheitseigner noch der neue Inhaber Max Aicher haben sich ernsthaft mit dieser Möglichkeit auseinander gesetzt. Im »Jahresbericht der Landesstelle für die Nichtstaatlichen Museen in Bayern« 2003 konstatiert York Langenstein: »Das unmittelbare Interesse an Denkmälern der Technik und der Vermittlung historischer Techniken ist – trotz einzelner gegenläufiger Initiativen – insgesamt im Schwinden begriffen.« Gelegentlich wird in Fachkreisen gar schon von der Krise der kulturhistorischen Museen allgemein gesprochen. Erste Schließungen betreffen städtische Geschichtsmuseen. In der »Zeit« vom 21. Oktober 2004 war von Hanno Rauterberg unter dem Titel »Die Boom-Krise« zu lesen, dass die Vorsitzende der Bundestags-Enquetekommission »Kultur in Deutschland«, Gitta Connemann, »realistisch« mutmaßt, es könnte einem Drittel aller Museen ein Aus bevorstehen. Wie steht es also um die Zukunft der angeblich »erfolgreichsten Bildungsinstitution der Moderne« (Gottfried Korff)? Kann sie sich behaupten, wenn sich der Bildungskanon in Schule und Universität radikal ändert, weil Geisteswissenschaften nicht als innovations- und wirtschaftsförderlich gelten? Sind Industrie- und Technikmuseen besser positioniert als andere Ge-

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Ira Mazzoni ➔ Unbehagen an der Industriekultur

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schichtsmuseen? Oder müssen sie sich stärker naturwissenschaftlich orientieren, um zu bestehen? Nun ist es nicht so, dass Kulturhistorisches keine Beachtung mehr findet. Je älter, ferner, fremder, unbekannter die durch Fundobjekte dokumentierten Kulturen sind, desto größer das Interesse, die ›Faszination‹. Wenn diese Gleichung stimmt, dann beginnt für die industriekulturellen Denkmäler eine kritische Zeit des Übergangs: Ihre ursprüngliche Legitimation, örtliche und regionale ›Identifikationsmöglichkeiten‹ zu bewahren und zu stiften, hat sich generationenbedingt erübrigt. Die Frage ist also, wie groß der zeitliche Abstand zum Industriezeitalter werden muss, damit sie quasi archäologische Neugier beim allgemeinen Publikum erweckt. Reicht es, wenn die Industriemuseen ihre Erzählstrategien ändern, wenn sie statt über den alt-vertrauten Ort vom ›fremden‹ Leben berichten? Wird z.B. die »Tuchfabrik Müller« in Kuchenheim bei Euskirchen gar ein Museum der Zukunft, weil es den lebendigen Tod konserviert hat? Müssen sich die Ausstellungsinhalte ändern, müssen sie zeitgemäßer, gar globaler werden? Oder sind es ›nur‹ die Darbietungsformen, die Medien, die zeitgemäßer, jugendgerechter werden müssen? Es verwundert fast, wenn das jüngste Industriemuseum in Chemnitz von Formen der Inszenierung Abstand nimmt, wie sie bis vor kurzem noch state of the art waren. Vielmehr besinnt sich das »Sächsische Industriemuseum« auf die klassischen Ausstellungsmethoden der Kunstmuseen: Sockel und Rahmen. Deutet sich hier nur ein Rückzug aus ökonomischen Gründen an oder zeichnet sich eine Tendenz zum Purismus ab, der die Dinge hervorhebt und die Narration über sie den Medien überlässt? All dies sind Fragen, denen die Autoren dieses Bandes beispielhaft nachgehen. Einleitend setzt sich der Historiker Hans Ernst Mittig mit dem werbenden Begriff ›Faszination‹ auseinander und plädiert dafür, den »Blick für Kulturdistanzen« zu stärken. Der Denkmalpfleger Axel Föhl beleuchtet Bedeutung und Bedeutungswandel des Begriffs »Industriekultur«. Historisch erklärt er die Geburt der Industriemuseen aus der Industriedenkmalpflege, um auch nach 30 Jahren Praxis für die Wahrung des Ungewöhnlichen zu plädieren. Einen solchen außergewöhnlichen, rein denkmalpflegerisch generierten Museumsort stellt Detlef Stender vor und warnt vor medialen Beschädigungen des Originals. Die zum Verband der Rheinischen Industriemuseen zählende »Tuchfabrik Müller« habe Bedeutung als »öffentliche Schatzkammer der authentischen Realien«. Um Authentizität geht es auch in den Beiträgen zu den drei industriekulturellen Welterbestätten in Deutschland. Reinhard Roseneck, Denkmalpfleger und ehemaliger Gründungsdirektor der Welterbestätte »Rammelsberg« entwickelt aus der UNESCO-Nominierung zwingend den Auftrag, die jeweilige Welterbestätte als »Exponat ihrer selbst« zu entwickeln. Über Konzepte der

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

Erschließung und Inwertsetzung im Weltkulturerbe »Völklinger Hütte« berichtet der Leiter der dortigen Bauhütte Norbert Mendgen. Mit Sonderausstellungen wie »GameArt« und »Inka Gold« in der Gebläsehalle sowie der Neueinrichtung eines so genannten Science Centers »Ferrodrom« bietet Völklingen zusätzlich Attraktoren zu dem industriegeschichtlichen Rundgang, der dank fortschreitender Restaurierungsmaßnahmen sukzessive erweitert wird. Dabei soll sich das neue Science Center als außerschulischer, erlebnisorientierter Lernort etablieren. Mediale Präsentationsformen und Spielplattformen mischen sich dort auf neue Weise mit originalen Objekten der Eisen- und Stahlindustrie – auch der aktiv produzierenden in unmittelbarer Nachbarschaft. Mit dem gemischten kulturellen Angebot konnte die Völklinger Hütte 2004 über 200.000 Besucher gewinnen. Über völlig gegensätzliche Erschließungs- und Entwicklungskonzepte berichtet Hans Kania, Unterzeichner des Weltkulturerbeantrags für Zeche und Kokerei »Zollverein«. Dort entsteht zwar in der ehemaligen Kohlenwäsche auch ein Museum, das neue »Ruhrmuseum«, das sich aber weitestgehend von dem maschinellen Erbe vor Ort distanziert. Längst ist der Museumspfad vernichtet, dem jährlich 20.000 Besucher folgten. Die »Entwicklungsgesellschaft Zollverein« setzt auf »zukunftsweisendes« Welterbe-Design. Nichts scheint hier ferner zu liegen, als Zollverein als »Exponat seiner selbst« zu behandeln. Mit der Zukunft der bisher erfolgreichen Industriemuseen beschäftigt sich der Beitrag der Historikerin Susanne Hauser. In ihrem historischen Rekurs setzt auch sie sich kritisch mit der Frage von Erinnerung und Identität auseinander, um zum Schluss mögliche neue Inhaltsschwerpunkte und Präsentationsformen, unter anderem in Anlehnung an die Science Center, anzuregen. Zu den häufig verteufelten Science Center nimmt der ehemalige Leiter des Deutschen Museums in München Wolf P. Fehlhammer explizit Stellung und plädiert für einen intensiven Dialog zwischen Museen und Science Center sowie ihre Verankerung in der Wissensgesellschaft – auch in Hinblick auf PISA. Jörg Feldkamp referiert über sein Konzept des neuen Sächsischen Industriemuseums, das unter anderem auch Schaufenster der regionalen Industrie ist. Gerhard Kilger berichtet über die Erfahrungen mit szenographischen Vermittlungskonzepten der DASA, die gerade überarbeitet werden. Nur eins sei klar: »Man kann nicht nicht-gestalten.« Schließlich fragt Sylvia Hladky, Leiterin des neuen Verkehrsmuseums – einer Dependance des Deutschen Museums – auf der Theresienhöhe in München: »Wie viel Zukunft verträgt ein Museum?« In einem nächsten Teil dieses Sammelbandes werden übergreifende regionale Erschließungskonzepte von Industriekultur und Natur vorgestellt. Günter Bayerl berichtet über die Ansätze, die Braunkohletagebaulandschaft in der Niederlausitz als »totale Industrielandschaft« zu musealisieren. In der Niederlausitz sei, so sein Fazit, eine »idealtypisch transitorische Landschaft«

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Ira Mazzoni ➔ Unbehagen an der Industriekultur

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zu besichtigen. Ohne Neudefinition des Landschaftlichen, wie sie die »IBA Fürst-Pückler-Park« vorantreibt, ist eine solcher Perspektivwechsel kaum nachzuvollziehen. Lässt sich daraus ein lockendes Reiseland entwickeln? Von enormen Widerständen weiß auch der Denkmalpfleger Walter Buschmann zu berichten, der an einem Tourismuskonzept »Energie-Erlebnis Rheinland« mitarbeitet, das tunlichst unerwähnt lässt, dass es sich dabei um Ausflugsziele im größten geschlossenen und noch immer aktiven Braunkohlerevier Europas handelt. Braunkohle gilt als Unnatur und Unkultur. Gleichwohl kann Buschmann auf die im Südraum Leipzig bestehende »Straße der Braunkohle« als Referenzprojekt verweisen. Leider sind viele der 1998 festgelegten 22 historisch bedeutsamen Stationen beseitigt worden. Über Sinn und Erfolg der Route ließe sich also streiten, zumal es keine Besucherdaten gibt. Trotzdem werden weiterhin ähnliche Ferienstraßen konzipiert. Doch aus der Vielzahl der Besichtigungspunkte lässt sich kaum eine stringente Reiseroute entwickeln. Die so genannte »Straße« ist allenfalls ein Etikett. Wie viel getan werden muss, damit Tourangebote auch wahrgenommen werden, zeigt die neue »Route der Industriekultur Rhein-Main«, deren Organisatoren es nicht nur verstanden, rechtzeitig die regionale und überregionale Presse zu interessieren, sondern auch zur internationalen Licht-Design-Messe in Frankfurt nächtliche Main-Bootsfahrten durch die Industriereviere anzubieten. Neu ist auch die »Route der Industriekultur Rhein-Main«. Eher unbekannt dürfte hingegen das entsprechende Standortmarketing in Ostwestfalen-Lippe sein, das Heinrich Lakämper-Lührs vorstellt. Dabei schaffen die etablierten Museen die Infrastruktur, sind die eigentlichen Tourismuszentralen. Die »Industriekultur Saar GmbH« versteht sich hingegen als »Impulsgeber für Strukturwandel« und ist in erster Linie an der Neuansiedlung innovativer Betriebe an ehemaligen Bergwerkstandorten interessiert. Denkmalpflegerische Belange sind bis auf Einzelfälle erst einmal zurückgestellt, bis sich Interessenten für die Objekte finden. Gleichzeitig arbeitet das Unternehmen aber auch an einem touristischen Masterplan für das gesamte Bundesland mit verschiedenen Tour-Angeboten in Sachen Industrienatur und -kultur. Karl Kleineberg und Delf Slotta referieren ihre Konzepte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Saarland über eine Vielzahl von Industriemuseen verfügt, um deren effiziente Vernetzung sich auch der »Saarländische Museumsverband« kümmert. An ein dezentrales Industriemuseum Saarland nach dem Modell des regional sehr erfolgreichen »Museums der Wissenschaft und Technik von Katalonien« wird dabei wohl nicht gedacht. Auch wenn Jaume Matamala in seinem Beitrag nachdrücklich auf die Notwendigkeit – auch überregional – funktionierender Netzwerke hinweist. Es gilt auf die entlegenen, unbekannten, ganz und gar von unserer Le-

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

benswelt verschiedenen Orte hinzuweisen und ihre individuelle Entdeckung zu ermöglichen. Zielpublikum werden in Zukunft weniger die Menschen der Region sein, die fragen: »Woher komme ich?«, sondern Fremde, die das Unbekannte suchen und etwas ›erleben‹ wollen. Es gilt, die Faszination des spezifischen historischen Ortes und seiner Objekte zu profilieren.

2005-08-15 15-17-37 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S.

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Hans-Ernst Mittig ➔ Was bleibt faszinierend an der Museumskultur?



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Was bleibt faszinierend an der Museumskultur?

Hans-Ernst Mittig Industriekultur und Kunst ›Industriekultur‹ – auf diese Thematik stieß ich als Kunsthistoriker viele einzelne Male, meist bei Versuchen, den Gegenstandsbereich der Kunstwissenschaft weiterzuentwickeln. Ich werde im Folgenden einige der dabei gewonnenen Eindrücke und begonnenen Überlegungen aufgreifen und – versuchsweise – auf das Thema »Industrie- und Museumskultur« beziehen. Gäste aus der Kunstwissenschaft sind beim Reden und Schreiben über Industriekultur längst anzutreffen; häufig auch Gastbegriffe, mit denen industrielle Produktionsanlagen nahe gebracht werden sollen: »Skulptur« (Becher/Becher 1969), »Großplastik« (Kähler 1990: 98), »Ikone« (Saarland 2003), besonders häufig »Kathedrale«, nun auch noch »Nekropole« (Wirtz 2002: 58). Gegen jede dieser Metaphern ließen sich Einwände erheben. Generell haben es die Zeugnisse der Industriekultur nicht nötig, mit solchen alten Bezeichnungen in eine den Kunstwerken zuerkannte Höhe gehoben zu werden. Das lenkt von der Aufgabe ab, Zeugnisse der Industriekultur aus eigener Kraft und eigener Attraktivität weiterwirken zu lassen. Sie sind, wie ein Frankfurter Ausstellungsflyer betont (Deutsches Architektur Museum 2003), eigenständig. Das zeigt sich auch darin, wie sie gegen einige Phrasen des Kunstlobs resistent bleiben. Das schwärmerisch enthistorisierende Prädikat, große Kunst sei zeitlos, wird denkmalgeschützten Industrieanlagen anscheinend nicht aufgenötigt. Sie widersetzen sich auch dem verwandten Topos, die geschichtlichen Entstehungsbedingungen seien großen Kunstwerken letztlich nicht ›wesentlich‹. Diese noch vielfach nachweisbare, idealistische Grundüberzeugung hielt die Kunsthistoriker lange Zeit sogar davon ab, künstlerische Reflexe der Industrialisierung ›für voll zu nehmen‹. Allerdings haben schon die Kunstwerke selbst oft von der industriellen Realität absichtsvoll abgelenkt. Beispiele dieser Negativität können den Blick dafür schärfen, wie – und mit welchen Medien – solche Ablenkung heute betrieben wird und damit auch den Informationsangeboten der Industriemuseen im Wege steht. Schon vor einem Jahrhundert hatte Richard Muther getadelt: »Das ist das Verächtliche in der Kunstpflege der Bourgeoisie. Große, ganz neue Probleme warf das neue Zeitalter auf. Die Welt arbeitete, litt und kämpfte. Unerhörte Umwälzungen auf allen Gebieten des geistigen, industriellen und sozialen Lebens kamen. Die Bourgeoisie wagte es nicht, in ihren Denkmälern von all diesen Großtaten des Jahrhunderts zu künden« (Muther 1914: 61-63).

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Die Gründe und Erscheinungsweisen dieser Enthaltung wurden bereits gründlich mit Blick auf das Industriebild analysiert (Herding 1987). Personendenkmäler galten damals zwar auch manchem Fabrikherrn, aber die Geehrten wurden fast nie als profitorientierte Unternehmer dargestellt, sondern in ihren Rollen als Erfinder, als fürsorgliche Wohltäter, als am Gemeinwohl orientierte Politiker, auch als Kunstförderer (Schmoll gen. Eisenwerth 1972: 259f.). Das 1902 in Neunkirchen errichtete Denkmal zeigt Carl Freiherrn von Stumm-Halberg – durchaus irreführend – in der Rolle eines Schwerarbeiters mit passendem Werkzeug. Nur in kleinen Schritten und in wenigen Fällen wurde das Medium Denkmal dazu genutzt, einem Gesamtbild der Industrie, nämlich der Produktion und den Lebensverhältnissen der daran Beteiligten, näher zu kommen – so mit dem »Denkmal der Arbeit«, an dem Constantin Meunier seit 1884 arbeitete. Die allegorischen Darstellungen der ›Industrie‹, die an Denkmalsockeln vorkommen und auch anderweit häufig waren, lenken von den Mühen der Industriearbeit oft schon dadurch ab, dass sie zur Personifizierung idealisch gewandete Frauen vorführten. Traditionelle Tiersymbolik – zum Beispiel auf einer Medaille zur Weltausstellung in London 1851 mit einem Bienenkorb als Kennzeichen der ›Industrie‹ (Rentmeister 1976: 101 mit Abb. 8) – wurde durch Attribute wie Zahnrad und Pendelregulator abgelöst (ebd.: 100), ohne dass die so ausgerüsteten Personifikationen das Revolutionäre der industriellen Produktionsweise überzeugend ausdrückten. Auch kunsttheoretische Programme, die bis heute gefallen, dienten dazu, die Kunst von vielem reden zu lassen, aber wenig von Industrie. In dem Programmheft einer Sektion »Kunst 1871-1918« des 12. Deutschen Kunsthistorikertages in Köln (1970) steht: »Im ersten Sektionsabschnitt soll das ›Gesamtkunstwerk‹ [...] unter verschiedenen Aspekten dargestellt und kritisch analysiert werden. [...] Dieses Phänomen [...] bestimmt – in Modifikationen – auch unser Denken./ Im zweiten Abschnitt folgen Aspekte von Großstadt und Industrie, die grundsätzlich nicht in die Vorstellung ›Gesamtkunstwerk‹ einbezogen wurden. Die Kunstwissenschaft aber hat sie, der Vorstellung des 19. Jahrhunderts folgend [...], weitgehend aus ihrem Gegenstandsbereich ausgeschlossen« (Mittig/Plagemann 1970: 2).

Seither hat sich dort wie in benachbarten Disziplinen die Entwicklung angebahnt, die in diesem Band vielerorts diagnostiziert wird: »Fördertürme, Hüttenanlagen und Textilfabriken, Fabrikantenvillen und Arbeitersiedlungen sind seit den 1970er Jahren ebenso selbstverständlicher Teil unseres kulturellen Erbes wie Burgen, Schlösser und Bürgerhäuser« (so schon, gegenüber den gleichzeitigen »repräsentativen Hochbauten« aufwertend, Paul Clemen, zit. bei Föhl 1994: 8).

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»Selbstverständlich« ist es nicht für alle. Zwar werden schon Reisen auf Industrierouten angeboten, aber nach wie vor bildet hierzulande die Hinterlassenschaft der feudalen und der frühen bürgerlichen Mächte ein Grundgerüst der Welt, die von Touristen gesucht wird. Auf Reisen soll – wie die Werbung der Reiseunternehmen und der Zielorte unaufhörlich betont oder andeutet – der Tourist aus dem Alltag hinausgeführt werden, indem diese ihm ein besseres Bild zeigen als das von der Industrialisierung geprägte. Dass die berühmten Kunstwerke und die großen Industrieanlagen auf so verschiedene Art ansprechen, verrät zwei verschiedene Richtungen des Wünschens, der Lust zum Reisen, zum Erkunden, zum Szenenwechsel. Beide Neigungen treffen oft in derselben Person zusammen: Einerseits als Bestrebung, den Folgen der Industrialisierung für begrenzte Zeit auszuweichen, andererseits als Wunsch, ihre markantesten Zeugnisse wie zum Beispiel die Völklinger Hütte aufzusuchen. Wie verhalten sich diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Bedürfnisse zueinander? Danach zu fragen ist geboten, wenn die Interessenbasis besprochen werden soll, auf die auch eine Zukunft des Industriemuseums angewiesen ist. Faszination Ich suche eine Antwort mit Hilfe des Begriffes ›Faszination‹, mit dem musealisierte Industrieanlagen ständig bedacht werden. Nach einem Flyer des »Weltkulturerbes Völklinger Hütte« ist auch dieser ein »Ort höchster Faszination«. Und »die spontane Faszination […], die von einem Industriemuseum ausgeht«, gilt der IRPUD-Studie zur Textilregion Nordrhein-Westfalen als die Vorgabe, auf die die Vermittlungsarbeit gestützt werden kann, »um eine Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt hinter dem Denkmal einzuleiten« (IRPUD-Studie 2003). Was für eine Empfindung ›Faszination‹ denn nun ist, sagen Lexika bislang nicht näher. Aber Texte, die sich seit zwei Jahrzehnten in der Wirtschaftswerbung häufen, geben Aufschluss über den Wortsinn, den ›Faszination‹ auch in der Umgangssprache hat. Faszinationsversprechungen häufen sich in der Reklame besonders für Fernreisen, für Kraftfahrzeuge und Schmuck – auch solchen aus Stahl, wie die Zeitschrift »Faszination Stahl« wissen lässt, die im Intercityexpress ausliegt (Stahl-Informations-Zentrum 2003: 17). Das Angebot von ›Faszination‹ verspricht Gefühle, die über eine banale alltägliche Befindlichkeit hinaus führen. Denn faszinierend wird, was sich entzieht – nicht das völlig Vertraute. »Fern und zugleich anziehend« nennt ein Wörterbuch das »Faszinosum« (Brockhaus/Wahrig 1981: 680). Müsste dem Begriff ›Faszination‹ ein Symboltier zugeordnet werden, so wäre es der Saurier, der nun seit Jahrzehnten fasziniert (Herding 1987: 445, 457). Er dient als Metapher für

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Zeitfernes, aber noch durch seine Dimensionen Beeindruckendes – wenn zum Beispiel von der »Internationalen Bauausstellung Emscher Park« berichtet wird, sie habe »restaurierte Industrie-Saurier« hinterlassen (Laurin 1999). Was nah und gewohnt ist, begriffen und durchschaut wurde, fasziniert jedenfalls nicht. In der ›Faszination‹ wird Distanz erlebt (Mittig 1999: 12-15). Auch Texten zum Starkult und zur Kunst lässt sich die Definition abgewinnen: ›Faszination‹ ist das durch ungetilgte Distanz herausgeforderte Empfinden für die Wirkung von Personen oder Gegenständen. Dass diese – ohnehin etwas mühselige – Definitionsarbeit das Verhalten zur Industriekultur erhellen könne, muss allerdings gegen einen denkbaren Einwand verteidigt werden. Traditionell und auch in mancher heutigen, spontanen Äußerung gelten Industriebauten, Großgeräte und unverstandene Maschinen als bedrückend, sogar als nur abstoßend, sehr ungleich besonders den Gegenständen, denen die Warenwerbung Schönheit und faszinierende Wirkung zuschreibt. Aber eine Faszinationskraft auch des Hässlichen zeigt sich schon im Alltag. Angedeutet ist sie in Karl Rosenkranz’ »Ästhetik des Häßlichen«, die sich bemerkenswerterweise dem Gebiet der Baukunst zuwendet. »Die Hässlichkeit«, die Rosenkranz dort oft entstehen sah, »könne« – so führte er aus – »imponieren, reizen, interessant werden« (Rosenkranz 1853: 14). Das sind Facetten des Faszinierens, einer Variante dieses Vorgangs, bei der Anziehung und Abstoßung einander stimulieren (vgl. Kähler 1990: 100). Die jahrhundertealte Klage über Hässlichkeit, Rauch und Schmutz der Stadt- und Industriewelt findet sich noch auf den Internet-Seiten einer poetischen Richtung, die die ›negativen‹ Attribute der Kultur in den Vordergrund rücken möchte und sich doch schon mit ihrem Namen ›Industrial Culture Poetry‹ zu einer Industriekultur hingezogen zeigt (Bowman 2003). Bis heute sind Hinterlassenschaften der Industrie als Exponate willkommen, wo ein verklärender Blick in die Vergangenheit abgelehnt wird und frühere Zeiten nicht mittels Kunst und Kunstliteratur idealisiert, sondern mit kritischer Distanz gesehen werden sollen. Die Ausstellung »Berlin – Berlin. Zur Geschichte der Stadt« setzte im Jahre 1987 schon im Eingangsbereich auf Kunstwerke als Geschichtszeugnisse; sie »›argumentiert[e]‹ mit Hilfe der originalen Kunstwerke und Sachzeugnisse« (Korff/Rürup 1987: 19). Die gleichzeitig stattfindende Ausstellung »Mythos Berlin. Wahrnehmungsgeschichte einer industriellen Metropole« dagegen bezog ihre Bildzeichen aus der Ruine des Anhalter Bahnhofs, dem »Überrest einer großen ›Industriekathedrale‹« (Knödler-Bunte 1987: 14) und aus Wolf Vostells Projekt »Die Schildkröte«, einer auf den Rücken gelegten »Kriegsgüterzuglokomotive« (Baujahr 1944), einer »Erinnerungs-Skulptur an die Desaster und Irrwege in der deutschen Geschichte« (Vostell ebd.: 62/63 und Vostell 1987: 105). Als Joseph Beuys gegen einen seiner Ansicht nach zu engen Kunstbegriff

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opponierte, nutzte er dazu auch Themen und Materialien wie die folgenden: »Doppelaggregat« 1958 (1960), »Transsibirische Bahn« (1961/64), »Erdtelephon« (1968) und »Halbleiter« (1974) (Beuys 1988: Nr. 16, 37, 55, 69). Das waren nicht nur ernüchternde Technizismen, sondern zugleich Motive, die den Erlebnisbereich des Kunstpublikums erweitern sollten. Alle Sinne In größerem Maßstab bieten der Besuch in einem Bergwerk, das Besteigen eines Hochofens und das Betrachten nie gesehener Maschinen Erlebnisse, die über die durchschnittliche Alltagswelt hinausführen. Angesprochen wird besonders ein Bedürfnis, alle Sinne zu betätigen und dadurch zu entwickeln. Dieses kommt, wo die Motive der Industriemuseums-Besucher besprochen werden, meines Erachtens zu kurz. Der Wunsch, alle Sinne zu entwickeln, ist lange vor Beuys bemerkt (so schon Verspohl 1984: 13f. mit Abgrenzung gegen die Praxis der »Mixed Media«) und auch viele Male literarisch bezeugt worden. Aber nicht nur deshalb kann mit dem Fortbestand dieses Grundbedürfnisses gerechnet werden, mit seiner grundlegenden Bedeutung auch für künftige Museumspraxis. Seine Aktualität wird dadurch bewiesen, dass das Internet auf das Suchwort ›alle Sinne‹ mit einer halben Million Nennungen reagiert. Und ein anderes, ständig werbendes Stichwort weist darauf hin, welche Sinne nach Betätigung verlangen: Die Werbung von Firmen, aber auch von Universitäten bietet viele Gegenstände ›zum Anfassen‹ an – und nicht nur Lebensmittel, Tiere, Bauernhöfe, Museen und ganze Länder, sondern auch Politiker und Stars sollen ›zum Anfassen‹ sein. Die Kundenzeitschrift der »Deutschen Bahn AG« empfiehlt »Geschichte zum Anfassen«; ich zitiere weiter: »Im Heerlager wird über dem offenen Feuer gekocht« (v. Klot 2003: 75). Eine über die ›Distanzsinne‹ Gesicht und Gehör laufende Massenkommunikation unterfordert offenbar den Tastsinn samt dem Geruchs- und dem Geschmackssinn, macht ein Defizit fühlbar, das mittels der teilweise illusionären Angebote ›zum Anfassen‹ bedient wird. Der Mangel an nahem Gegenstandserleben hat sich dadurch verschärft, dass die Dinge teilweise dem Zugriff entzogen sind, nur über ihr elektronisch erzeugtes Abbild erfahren werden. Dieser Eindruck wird nicht dadurch widerlegt, dass beim Bedienen eines Computers große manuelle Geschicklichkeit entwickelt werden kann. Die Tastaturen bieten kein je nach Gegenstand variierendes Tastempfinden. Diese Distanz weckt offenbar den Wunsch, Gegenstandskontakt nachzuholen – auch im Museum. Ganz zu tilgen ist die Distanz nicht. Denn ein anderweitig blockiertes Tastbedürfnis lässt sich auch im Industriemuseum nicht ganz ausleben; konservatorische Gründe schränken den Zugriff auch dort ein. Zudem zeigt der Blick auf alte Maschinerie keineswegs ein Dorado allseitiger Sinnesbetäti-

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gung, sondern die bedrohliche Isolierung einzelner Fähigkeiten und die Gefahr der Abstumpfung. Anschauliche Hinweise auf diese aktuell gebliebene Gefahr (Ehrenreich 2001) fordern aber dazu heraus, sich im Industriemuseum eine Betätigung der Nahsinne intensiver vorzustellen als anderswo – und zwar als eigene, aktive Betätigung in einem produktiven Arbeitszusammenhang. Dabei hilft das manchmal eingerichtete hands-on; freiwillig und kurzzeitig wie es ist, bleibt es der dort erinnerten Arbeit allerdings ungleich. Fälle, in denen hergestellte Werkstücke angeeignet werden dürfen, weisen auf einen weiteren gravierenden Unterschied zu der entfremdeten Arbeit, der die Maschinen ursprünglich dienen sollten. Die Nähe zur ›Arbeitswelt‹ bleibt also dosiert. Der Rest von Distanz, der im Industriemuseum garantiert ist, bewahrt den Exponaten ihre Faszinationskraft. Die demonstrative Distanz zum Arbeiten als Tätigkeit bei großer Deutlichkeit der Gegenstände macht ja einen anhaltenden Reiz der Fotografien von Bernd und Hilla Becher aus. Sie haben ein Publikum für die Industriekultur sensibilisiert, aber von der »Arbeitswelt hinter dem Denkmal« (Hartwig 1970: 352) abgelenkt – weniger auffällig noch auf der »documenta« 2002 mit ihrer Sammlung von Wohnhausfassaden. Wer in einem Industriemuseum handgreiflichere Eindrücke sucht, als zweidimensionale Bilder sie bieten können, wird zwar nicht bewusst an der Entwicklung aller eigenen Sinne arbeiten, aber unbewusst den Satz von Karl Marx bestätigen: »Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte« (Marx 1844/1973: 541f.). Bewusst wird Neugier und/ oder Wissbegier zu Relikten der Industriekultur locken, die einen Bereich außerhalb der heutigen Alltagswelt der meisten markieren. Für den Wunsch, damit über die eigene Lebenssphäre hinauszublicken, ließen sich – wenn es nötig wäre – wiederum Zitate und Kunstwerke anführen. Viele Male wurde die Landschaftsmalerei aus einem Bedürfnis nach ›Universalität‹ oder ›Totalität‹ erklärt: Die Darstellung unberührter oder vorindustriell bearbeiteter Landschaft spreche einen Wunsch an, nichtindustrielle, nichtstädtische Lebensbereiche aufzusuchen, weil das über die Produktionssphäre des jeweiligen Individuums hinausführe, den Menschen Anlagen bewusst mache, die sie »im Leben nicht entwickeln können, die auf eine bessere Zukunft, ein harmonisches Dasein deuten« (Goethe, zit. bei Mittig 1974: 21). Auch liegt auf der Hand, dass das sehnsüchtige Verklären des Matrosenlebens, des Zigeunerlebens, des Jäger- und Wildschützenlebens – gerade im Volkslied – den Versuch verrät, Defizite der eigenen, zwar bequemeren, aber beschränkten Stadtwelt wenigstens in der Vorstellung auszugleichen. Ich nehme an, viele Heutige empfinden analog, wenn auch auf den ersten Blick umgekehrt: Mit Bildern von freier Natur und glücklichem Freizeitkonsum werden wir reichlich versorgt. Die relativ komfortable, von Schwerarbeit und unmittelbarer Not entlastete Durchschnittslage lässt solche vergangenen Lebenswelten inte-

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ressant erscheinen, in denen nicht nur zugepackt wurde, sondern Widerstand gegen Lärm, Hitze, Staub und Erschöpfung geleistet werden musste. Abstoßend und fesselnd zugleich erscheint nicht allein die zeitweise hässlich gefundene Form der Maschinen und der Siedlungen, sondern die körperliche und seelische Bedrückung, die sie dem Leben der Arbeitenden aufzwangen – und deren Beendigung uns freut. Denn die Industrierelikte des 19. Jahrhunderts aus sicherem Zeitabstand betrachten zu können, lässt sie befremdlich und zugleich tröstlich fern erscheinen. Der so genannte postindustrielle Blick weckt sogar Genugtuung, wenn wir die damaligen Arbeitsbedingungen für überwunden, ein besseres Wirtschaftssystem für erreicht halten. Alle Länder Aber der distanzierende Begriff ›postindustriell‹ passt allenfalls auf einzelne stillgelegte Werke und »entkernte Industrielandschaften«, wie Rainer Wirtz (2002: 58) sie nannte. Weithin wird hierzulande ja noch industriell gearbeitet, zum Beispiel für die Rüstung in aller Welt. Abgenommen haben allerdings die Mühen der inländischen Eisen- und Stahlgewinnung. Aber gut dokumentiert ist, dass nicht nur an vergangene Produktions- und Arbeitswelten zu erinnern wäre, sondern auch an solche, die nur ins Ausland verlegt worden sind. Nicht in Zeitdistanz, nur in geographischer Distanz herrschen Arbeitsbedingungen, die zum Teil den Scheußlichkeiten frühkapitalistischer Ausbeutung vergleichbar sind, zum Beispiel beim Abwracken von Schiffen in Bangladesch und anderswo. Man weiß es, aber noch gelten die Worte aus einer Filmbesprechung Erich Kästners von 1929: »Das soziale Gewissen will nicht geweckt sein. Es will nur träumen. Und dazu eignen sich geographisch und historisch fernliegende Sujets« (Kästner 1999: 186). Zeitgemäßer als solch ein Appell ans soziale Gewissen wäre es, aus der Globalisierung, von der alle reden, auch die Bereitschaft zu globaler Information abzuleiten, zu einem Blick auch auf andere als die entwickelten Industrieländer, und auf die Bedingungen, unter denen in der Ferne gearbeitet wird. Aber einer »weltweiten Verlagerung von Arbeit« widmet zum Beispiel Wirtz (2002: 57) nur eine halbe Zeile. Eurozentrische Blindheit verrät sich in dem häufig verwendeten Ausdruck »postindustrielles Zeitalter«. Auffallend ist der Kontrast zu dem breiten Interesse an weltweiter künstlerischer Arbeit. Die 9. Kasseler »documenta«-Ausstellung zeigte an zentraler Stelle, wie der Nigerianer Mo Edoga Pagodenähnliches aus Abfallmaterialien aufbaute. Einen Bezug zur realen Arbeitswelt der Entwicklungsländer stellten allerdings weder die Ausstellungstexte noch die ebenso geschwätzigen Artikel in der Zeitschrift »Kunstforum« her. Sie feierten das ›Machen‹ im allgemeinsten Sinne, auch mit verunklärender Naturmetaphorik: »die Realität der menschlichen Handlung, die sich in einem organischen Wachstumsprozeß

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weiterentwickelt [...], wie ein Baum nach oben wächst« (Hoet et al. 1992: 228). Zu »großen, ganz neuen Problemen« außerhalb der Kunstwelt wurde so wenig weitergedacht, wie es der oben zitierte Richard Muther (1914: 61-63) bei der Bourgeoisie vermisst hatte. Aber die 11. »documenta« 2002 betonte endlich nicht nur in der Dritten Welt entstandene Gegenwartskunst, sondern thematisierte die Probleme des dortigen Lebens und Arbeitens in einer Weise, die für die Industriemuseen anregend sein könnte (documenta 2002: insb. 44f., 117-119). Die deutschen Industriemuseen wären allerdings überfordert, wenn sie auch noch Zeugnisse des Arbeitens aus aller Welt beschaffen und ausstellen sollten; sie müssen sich derzeit auf das konzentrieren, was am jeweiligen Ort erhalten, bedroht oder schon beschädigt ist. Immerhin können die jeweils angebotenen Begleitmedien auch ohne Sachzeugnisse aus anderen Teilen der Welt zu einem Blick dorthin einladen. Das wäre besonders von der Institution zu erwarten, die in ihrer Selbstdarstellung mehr auf den Titel »Weltkulturerbe« als auf den Namen »Völklinger Hütte« setzt. Vielleicht renne ich offene Türen mit dem Vorschlag ein, Bildschirme zum Beispiel mit Fotografien aus den Dokumentationen von Sebastião Salgado zu beschicken und zu betonen, dass deren Untertitel »Zur Archäologie des Industriezeitalters« (Salgado 1993) verfrüht ist. Kulturdistanz Aber schon die einheimischen Exponate lenken den Blick auf Konflikte und fordern den aufmerksamen Betrachter zum Widerspruch auf. Wenn ein Teil der Industriekultur zum Beispiel im Untertitel eines Hamburger Ausstellungsbuches »Arbeiterkultur« (Kulturbehörde Hamburg 1982) genannt wurde, so ist das zunächst nur ein terminologischer Hinweis auf eine Antinomie innerhalb des Sammelbegriffs »Industriekultur«. Sie kann in einer einigermaßen kontextbewussten Vorstellung von Industriekultur nicht übersehen werden. Zwischen der gern auch so genannten ›Welt der Arbeit‹ und einer von Lohnarbeit entlasteten Lebensweise bestand eine Distanz, die betont und anschaulich gemacht wurde, nicht nur indem die Kunst – wie gesagt – weitgehend von der ›Arbeitswelt‹ schwieg. Auch großbürgerliches Mobiliar war dazu geeignet, den Gedanken an die Not anderer beiseite zu schieben. Mobiliar wird zum Beispiel im Spessartmuseum Lohr am Main dazu genutzt, an die Unterschiedlichkeit von Lebensbedingungen und Lebensweisen zu erinnern – gerade jetzt (2003) auch in der Ausstellung »Interieur-Exterieur« des Opelvillenzentrums Rüsselsheim. Eine Kontrastierung solcher Exponate zu Werkstätten und Arbeitsgeräten wurde im Hamburger Museum der Arbeit nur aus Platzmangel aufgeschoben.

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Literatur und darstellende Kunst enthalten viele Belege dafür, dass der Abstand zwischen ›Hochkultur‹ und ›Arbeitswelt‹ mit wohligem Schauer genossen wurde. Zum Beispiel nutzte Gaston Leroux in seinem Roman »Das Phantom der Oper« (1911) auch die an feurigen Öfen arbeitenden Heizer als unterweltliches Motiv. Oder ein durch Eisenindustrie-Bezirke rollender Nachtzug führt in einem Reisebericht von 1903 zum Operntext-Zitat: Da »kann man überall, rechter Hand, linker Hand lodernde Flammen, eine ›wabernde Lohe‹ erblicken, als stände die Erde in Flammen« (Lehmann-Felskowski 1903: 4f.). Wenn der so zitierte Richard Wagner (Die Walküre, Finale) den unterdrückten Mime schuften ließ (Das Rheingold, »unterirdische Kluft«), so war zugleich klar, dass das Publikum auf dem Bayreuther »Grünen Hügel« aus einer von Arbeitern separierten Schicht stammte. Kulturunterschiede bis zur Separierung innerhalb ein und derselben Gesellschaft wurden sichtbar und hörbar. Wenn heute – wie Petra Schuck-Wersig und Gernot Wersig 1996 in einem museologischen Aufsatz resümierten – die »Segmentierung [...] in gegeneinander zunehmend sprachlose Kulturbereiche« (ebd.: 151) Sorgen macht, so kann der Rückblick auf vergangene Industriekultur Vergleichsmöglichkeiten eröffnen. Von ›Kulturdistanz‹ wird meistens da gesprochen, wo Immigration oder Auslandsaufenthalte eine Berührung mit außerdeutschen Kulturen verursachen. Ist »Kulturdistanz« aber laut Gerhard Maletzke »die erlebte Distanz zwischen Kulturen und Völkern« (1996: 33), so wird sie schon beim Zusammentreffen verschiedener genuin inländischer Gesellschaftsschichten erlebt, an den »Schnittstellen der Gesellschaft«, denen nach der zitierten IRPUD-Studie auch der Diskurs im Industriemuseum gilt. Wo von Kulturdistanz oder einem »Weltkulturkonflikt« (vgl. Huntington 1998) gesprochen wird, folgt meist die Frage, wie die Kluft zu überbrücken sei; am häufigsten eben, wenn zwischen Einheimischen und Einwanderern eine möglichst gegenseitige Angleichung oder eine möglichst konfliktfreie ›Multikulturalität‹ erstrebt wird, selten auch da, wo das Miteinander inländischer differierender Schichten verbessert werden soll. Die Kunstwissenschaftler kennen dergleichen als geschichtsreiche Devise: »Kunst für alle«. In der Begegnung mit Technik wird anscheinend ein gemeinsamer Objektbezug gefunden. »Eine Weltattraktion für alle Menschen« – mit diesen übertreibenden Worten endete 2003 ein Fernsehbericht aus dem Münchner Deutschen Museum (ARTE 2003). Beobachtungen zur Attraktivität von Technik belegen aber nicht, dass auch Kulturfaszination schichtübergreifend oder sogar -verbindend wirkt. Darin liegt – so glaube ich – ein Problem, aber auch eine Zukunftschance von Industriemuseen, die eben über Technisches hinaus technikbedingte Kultur zeigen. Kultur trennt auch. Die Identität, die sie einer ihr zugehörigen, zugewandten Gruppe verschaffen kann, wird mit

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ebenso viel Absonderung erkauft; je mehr sie ihre Teilhaber verbindet, desto stärker sondert sie sie auch von anderen ab. Nicht als verbindend, sondern als trennend und ausgrenzend provozierte im Jahr 2000 die Rede von der »deutschen Leitkultur«, auf die sich die Immigranten einlassen müssten. Wie viele Träger eine »deutsche Leitkultur« unter den Deutschen selbst habe, wurde kaum gefragt, obgleich ständig implizit davon die Rede ist, besonders im Blick auf die Schule, die als eine kulturelle Schnittstelle gilt. Dort – und nicht im Museum – zeigt das Problem der Kulturdistanz innerhalb einer Bevölkerung, auch zwischen Deutschen verschiedener Sozialisierung, seine ganze Schärfe. Sogar innerhalb der Gelehrtenrepublik werden Kulturkonflikte geahnt. Karl Rohe bemerkte in seinem Jahresbericht 1990 aus der Studiengruppe »Revierkultur – Zeitgeschichte und Zukunft« am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen-Heisingen, bei der Zusammenarbeit von Forschern unterschiedlicher Disziplinen sei »gelegentlich spürbar« geworden, »dass Disziplingrenzen so etwas wie Kulturgrenzen darstellen können« (Rohe 1990: 46). Dort ist übrigens der Hinweis zu finden, »Region, Kultur und Identität« seien »grenzziehende Begriffe« (Bericht 1991: 53; fundiert dazu Kuczynski 1988). Industriemuseen für alle? Kulturelle Unterschiede, die die Thematik des Industriemuseums berühren, wurden erst kürzlich als Merkmale heutiger unversöhnter Ungleichheit zitiert. Der Vorsitzende des DGB reimte am 1. Mai 2003: »Die einen bluten, schwitzen und weinen. Die anderen golfen, segeln und greinen.« Man kann darüber streiten, ob Michael Sommers Rede noch so treffend ist, wie sie es in der großen Zeit der Industrialisierung und des Klassenkampfes gewesen wäre. Die Erinnerung an die damaligen Antagonismen kann jedenfalls auch heute kaum einigend wirken, bei ihr werden nicht »alle Menschen« Brüder. Dass die »Stätten des Malochens« (Wirtz 2002: 55) auch heute nicht jeden und jede anziehen, findet sich oft bestätigt. Die »Industrial Culture« im Umfeld der Rock-Band »Throbbing Gristle« sollte nicht verbindende Sympathien schaffen, sondern »Schockieren. Um jeden Preis« – so ein heutiger Fan der »Industrial Music« in der »Tageszeitung« vom 6. Juni 2003. Schockiert wird mit allem, »was man gern aus dem kulturellen Gedächtnis streichen würde«, auch zum Beispiel mit dem Stück »Live from the Death Factory« und mit einem Outfit ähnlich dem von Soldaten und Arbeitern (Hartmann 2003). Kürzlich schürten die Weltkassenfilme »Matrix Reloaded« und »Terminator 3« wieder Maschinenangst (zu Angst-Faszination siehe Herding 1987: 456). Wenn Industriemotive also schocken können und manchmal sollen, eignet sich die Praxis des Industriemuseums meines Erachtens nicht zum Stiften von Identität. Aber gerade das wird derzeit beschworen, wenn Denkmäler geplant wer-

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den oder wenn Firmen versuchen, Zeichen einer ›Corporate Identity‹ bauen zu lassen. Als sich die eben zitierte, rührige Essener Studiengruppe »Revierkultur – Zeitgeschichte und Zukunft« (Rohe 1990) »die Frage nach der Identität der Region und in der Region in historischer und gegenwartsbezogener Perspektive« stellte, kam – jedenfalls in ihren ersten Jahresberichten – kein Museumsbesuch vor. Museen jedoch empfehlen ihre Präsentation von Industriekultur regelmäßig als Beitrag zur »Identitätsbildung und Verbindung der Region«; so seit kurzem wieder das Deutsche Architekturmuseum zur »Region-Rhein-Main« (Deutsches Architektur Museum 2003). Näher an der heutigen Wirklichkeit und sogar fesselnder wäre ein Museumskonzept, das außer tatsächlich Verbindendem auch Konflikte hervorheben würde, die sich an den Zeugnissen der Industriekultur ablesen lassen. Im Kunstausstellungswesen finden sich Ansätze dazu, traditionelle Konfliktscheu zu überwinden; die 50. Biennale in Venedig stand unter dem Motto »Träume und Konflikte«. Einen Beitrag zur ›Leitperspektive‹, nämlich »Industriegeschichte für die Gestaltung zukünftiger gesellschaftlicher Strukturen einzubeziehen« und damit eine Vorarbeit »für die Gestaltung zukünftiger [!] gesellschaftlicher Strukturen« zu leisten, kann das Industriemuseum meines Erachtens nicht durch Harmonisieren gesellschaftlicher Gegensätze erbringen. Da aber auch künftige gesellschaftliche Strukturen nicht ohne sinnliches Rezeptionsvermögen und klaren Blick auf Kulturdistanzen auskommen werden, bleibt es wichtig, dass das Industriemuseum Fähigkeiten ansprechen kann, die im heutigen Alltag zu wenig entwickelt werden. An alle Sinne appelliert zwar auch die zeitgenössische Kunst; die Angebote des Industriemuseums werden aber weniger ›abgehoben‹ zelebriert. Verglichen mit älterer Kunst sind Exponate aus älterer Industriegeschichte weniger in Gefahr, nur als Ziel der Flucht in eine vermeintlich heile Welt konsumiert zu werden. Darum können sie – das sei der letzte Punkt in diesem Versuch einer Zusammenfassung – eher für unausgestandene innergesellschaftliche Konflikte sensibilisieren. Ich halte auch das für eine Aufgabe aller Museen. Aber nicht alle Museen haben dazu solche geeigneten Mittel wie das Industriemuseum. Literatur ARTE (2003): Sendung Archimedes vom 29.04.2003. Becher, Bernd/Becher, Hilla (1969): Anonyme Skulpturen, Düsseldorf. Bericht (1991): Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Kulturwissenschaftliches Institut Essen. Darin o. Vf.: Alte Industrieregionen im Vergleich – Gesellschaftliche kulturelle und ökonomische Potentiale, S. 4760.

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➔ Vor Ort: Museen im Industriedenkmal

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Axel Föhl ➔ Denkmal – Museum – ›Event‹



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Denkmal – Museum – ›Event‹. Industriedenkmalpflege und »Industriekultur«

Axel Föhl Vielleicht ist ja die Situation ›mit dem Rücken zur Wand‹, in der sich kulturelle Einrichtungen und ›Dienstleister‹ wie die Denkmalpflege und die historischen Museen augenblicklich befinden (um nur diejenigen zu nennen, von denen hier die Rede sein soll), ganz gut geeignet, um von hier aus einen Blick zurück auf die Entwicklung der vergangenen gut 30 Jahre und einen Blick voraus auf die überschaubare Zukunft zu tun. Fette Jahre schaffen Überfluss – aber vielleicht haben sie hier und da auch Überflüssiges geschaffen. Die Beschäftigung mit der »Industriekultur« hat sich, wie viele andere Prozesse nach dem Beginn der »Industriellen Revolution« auch, nach einer eher langsamen Anlaufphase seit etwa 1910 bis zum Zweiten Weltkrieg hin ein wenig beschleunigt, um seit etwa 1960/70 in raschere Bewegung zu geraten – gerade so wie die industrielle Entwicklung selbst, deren Innovationsrate sich ja auch exponentiell beschleunigte. »Das Industriezeitalter […] produziert seine Vergangenheit schneller als vergangene Zeiten« zitierte der »Spiegel« 1983 den Autor (Der Spiegel 1983: 176). Man könnte auch sagen, es produziert Vergangenheit mit industrieller Geschwindigkeit. Die Sachwalter der Historie in Hochschulen, Denkmalämtern und Museen haben sich ihrerseits mit unterschiedlicher Geschwindigkeit auf diesen Umstand eingestellt. Unter Berufung auf ältere Vorbilder, etwa die Schule der »Annales« im Frankreich der 1930er Jahre,1 schwenkte auch die deutsche Geschichtswissenschaft Ende der 1960er Jahre mehr auf die Felder Sozial-, Wirtschafts-, Technik- und Alltagsgeschichte über und lieferte so den wissenschaftlichen Hintergrund für eine Methodologie der Industriedenkmalpflege. Auf ähnliche Weise war die sich entwickelnde Kunstwissenschaft im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts zur Mutterwissenschaft der »Bau- und Kunstdenkmalpflege« geworden. »Industriekultur« Im Verlauf dieses Prozesses tauchte ab etwa 1970 der Begriff »Industriekultur« auf. Weder in der sechsten (1905) noch in der neunten (1980) Auflage von »Meyers Konversationslexikon« ist dieses Lemma zu finden. Etwas mehr als 20 Jahre später dagegen, im Jahr 2004, verzeichnet das Internet nicht weniger als 47.800 Belege für diesen Begriff (vgl. Parent 2004: 55). Diese Zahl weist bereits auf einen inflationär gewordenen Umgang mit Wort und Inhalt hin. Es ist heute nahezu unmöglich, noch einen präzisen Bedeutungskern dieses Begriffes auszumachen. Das Spektrum reicht vom Titel eines Volkshochschulseminars zur Arbeiterkultur bis zum Abspielen eines Hin-

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demith-Konzertes in der Abstichhalle eines stillgelegten Hochofens. Als »Industriekultur« wird auch eine »Konzertgrubenfahrt« auf die 1062-MeterSohle des Halterner Bergwerkes »Auguste-Viktoria« im nördlichen Ruhrgebiet angeboten, bei der man sich die »Meister von Morgen« musikalisch zu Gemüte zu führen kann (FAZ vom 07.06.2004). All dies verrät eine Bedeutungsbreite, die dem Begriff interessanterweise von Anfang an innewohnte. Grundlagen zur Definition des Begriffes legte Hermann Glaser, Schul- und Kulturdezernent Nürnbergs von 1964 bis 1990. Die Reihe seiner Publikationen und seine Etablierung eines »Centrums Industriekultur« in Nürnberg zeigen bereits, dass es von vornherein um eine extrem breite Auslegung dieses Terminus ging. Studiert man die von ihm gegründete Buchreihe,2 so wird deutlich, dass es eigentlich um die gesamte Kulturgeschichte des Industriezeitalters gehen sollte. Der Herausgeber des Hamburg-Bandes 1984 zählte selbst noch die Musikkultur des Hamburger Biedermeier dazu (vgl. Plagemann 1984). Mit einer solchen Begriffsweite konnte die Denkmalpflege nicht arbeiten, geht es bei ihr doch stets primär um die dingliche, dreidimensionale und authentische Hinterlassenschaft – und hier wieder im engeren Sinn um die gebaute und fest mit den Bauten verbundene historische Substanz. So kristallisierte sich ab 1970 ein Arbeitsbegriff in der Denkmalpflege heraus, der die schützenswerten Zeugnisse der Industriekultur in den dinglichen Hinterlassenschaften aller am Industrialisierungsprozess Beteiligten, vom Konzernherrn bis zum Schrankenwärter, sah – die Bauten, Anlagen und Produkte also, die in Deutschland ab etwa 1835, der von Walt Rostow so bezeichneten »take-off-Phase«, die jede Industrialisierung einleitete, entstanden waren. »Technische Denkmale« können auch vorindustriellen Epochen entstammen, das »Industriedenkmal« hingegen trägt eindeutig den Stempel seiner Entstehungszeit im Begriff selbst. Demzufolge ist klar, dass auch eine »Industriekultur« ein Terminus post quem sein muss. Es scheint dringlich, diesen Begriff in Zeiten, da er inflationär zu werden droht, analytisch anzugehen und die allzu diffuse Aura, die ihn mittlerweile umgibt, zu reduzieren. »Industriekultur« ist – als Resultat von Erforschung und Erhaltung – die Summe von für die Entwicklung industrieller Lebensformen spezifischen Objekten, seien es Strukturen, Gebäude, Archivalien oder Produkte. Die verschiedenen Arten des Umgangs mit den unter diesen Gesichtspunkten ausgewählten Objekten können schlechterdings nicht ebenfalls »Industriekultur« heißen, spielen sie sich doch per definitionem in postindustriellen Epochen ab. Objekte von Schutz und Erhaltung werden diese Strukturen, Bauten und Produkte ja in aller Regel erst dann, wenn sie aus ihren bisherigen Nutzungsformen entlassen worden sind. Die Tätigkeit der Ausfindigmachung, Erforschung und Erhaltung von Zeugen der Industrieepoche wurde in Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch (»Indus-

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Axel Föhl ➔ Denkmal – Museum – ›Event‹

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trial Archaeology«) lange Zeit »Industriearchäologie« genannt, wenn man auch einräumen muss, dass dieser Terminus außerhalb Großbritanniens nie zur alltäglichen Vokabel geworden ist. Bereits im oben erwähnten »Spiegel«Artikel von 1984 wird der Begriff in jene Anführungsstriche gesetzt, die er bis heute auf dem europäischen Kontinent nicht hat loswerden können und dies ungeachtet der Tatsache, dass er in der Fachsprache sowohl der germanischen als auch der romanischen europäischen Länder verwendet wird. Vorläufer einer Industriedenkmalpflege An anderer Stelle wurde dargelegt, wie sich seit der Wende zum vorletzten Jahrhundert die Erhaltung »technischer Denkmäler« oder auch »technischer Kulturdenkmäler« entwickelt hat (vgl. Föhl 1994: 29-38; Föhl 2000: 9-22). Vor allem der Ingenieurstand war bemüht, mit seinen Leistungen in den Kanon des gesellschaftlich Anerkannten aufgenommen zu werden. Mit Blick auf die Gründung des »Deutschen Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik« im Jahre 1903 (eröffnet 1925) stellt Ulrich Linse 1986 fest: »Die kulturelle Integration der Technik durch ihre Erhöhung zum museumswürdigen Thema diente dabei nicht zuletzt der sozialen Anerkennung der Ingenieure« (Linse 1986: 202). Vor diesem Hintergrund wurden in ganz Europa einzelne Objekte technischer und ingenieurmäßiger Leistungsfähigkeit erhalten: Das 1849 vollendete Dampfpumpwerk »Cruquius« am Haarlemer Polder gehörte 1939 ebenso dazu wie die Translozierung des ebenfalls dampfgetriebenen Schwarzenberg-Gebläses von 1831 auf die Halde des Freiberger Lehrbergwerks »Alte Elisabeth« im Jahr 1938 (vgl. Föhl 2000: 20). Nicht ganz unerheblich war dabei die Tatsache, dass beide technischen Großaggregate neben der selbstverständlichen Erfüllung ihrer Funktionen zusätzlich aus der Architektur des 19. Jahrhunderts entlehnte Gestaltungsformen aufwiesen: Sie trugen deutlich neugotische Züge. Die gleiche Eigenschaft des gestalterischen ›Mehrwerts‹ erleichterte 30 Jahre später die Erhaltung der Maschinenhalle der Schachtanlage »Zollern 2/4« in Dortmund: sie wurde als »Jugendstilhalle« dem Überleben anempfohlen. Ansonsten widmete sich der Denkmalschutz bis zum Zweiten Weltkrieg eher der vor-industriellen Technikwelt mit Objekten wie Weintorkeln, Notställen, Wind- und Wassermühlen. Industriedenkmalpflege nach 1945 Wie oben ausgeführt, bereitete der Paradigmenwechsel der Geschichtswissenschaft ab etwa 1965 den Boden für die Frage, ob denn neben Schlössern und Kirchen – also den »Kunstdenkmalen« – nicht auch Fabriken, Zechen und Bahnhöfe zum Erhaltenswerten gehörten. Die Verzögerung dieser Erweite-

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rung des Denkmalbegriffes ist erstaunlich (vgl. Sauerländer 1975), denn bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts hatten ›Kirchenheilige‹ einer Denkmaltheorie (wie Alois Riegl) die Doppelnatur des Denkmals als Zeugnis des Ästhetischen, aber auch Historischen beschrieben. Ganz zu schweigen davon, dass mit dem Begriff des »Alterswertes« bereits damals eine frühe Mahnung an alle Rekonstruktivisten erging, die nicht mehr erhaltene Vergangenheiten heute so eifrig wiedererstehen lassen wollen. Denn diese Rekonstruktionen müssen dann naturgemäß bar jeden »Alterswertes« sein. 1970 war der Schritt getan. Auf dem Deutschen Kunsthistorikerkongress in Köln wurden Referate über Arbeitersiedlungen gehalten. Seit Ende der sechziger Jahre hatte bereits der Kunsthistoriker und Inventarisator Roland Günter vom Landeskonservatoramt Rheinland Fabriken in die Oberhausener und Mülheim/Ruhrer Denkmalliste eingeschrieben. Seit 1973/74 gibt es »Industriedenkmalpfleger« in Nordrhein-Westfalen: Die Denkmal-Erfassung richtet sich seitdem definitiv auf die Zeugen der Industrialisierung diesseits des Windmühlenzeitalters (vgl. Föhl 1983a, 1995, 2002a), also auf Bauten ab etwa 1830. Mit einer gewissen inhärenten Logik schritt die Industriedenkmalpflege, die auch außerhalb Nordrhein-Westfalens bald von Spezialisten betrieben wurde, analog zum Gang der historischen industriellen Entwicklung nun voran: vom Wasserturm und der Seidenweberei hin zu den Zeugen der Großund Schwerindustrie mit ihren flächenkonsumierenden Gebilden wie Hüttenwerken und Steinkohlezechen. Die Geburt der Industriemuseen aus dem Geist der Industriedenkmalpflege In den Karteikästen der Denkmalämter sammelten sich nun Objekte aller Gattungen und Größenordnungen. Landesweite Fragebogenaktionen hatten den Anfang gemacht und erste Hinweise darüber geliefert, wie viel trotz Weltkriegszerstörungen und Modernisierungswahn der 1960er Jahre doch noch übrig geblieben war. Bislang unbekannte Werke namhafter Architekten im Felde des Industriebaus wurden entdeckt3 – ein Prozess, der übrigens bis heute nicht abgeschlossen ist (vgl. Rossmann 2003). Immer wieder stießen die Inventarisatoren der Fachreferate auf komplette Werksensembles, die unbeschadet die Zeitläufe überdauert hatten, fanden beispielsweise unversehrte Jugendstil-Maschinenzentralen. Eine gewerbliche Weiter- oder Neunutzung, gewissermaßen moderne Produktion mittels historischer Maschinerie, schied in solchen Fällen meist aus. Hingegen lag der Gedanke nahe, einige besonders aussagekräftige Anlagen zu begehbaren Industriedenkmalen, also zu einer Art Industriemuseum im Industriedenkmal werden zu lassen. Das Grundkonzept dabei war, dass

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die historischen Fabriken selbst das Exponat darstellten, dass sie durch die komplette Erhaltung zu aussagekräftigen Zeugen der Vergangenheit einer Branche, einer Herstellungstechnik oder spezifischer Arbeits- und Lebensformen des Industriezeitalters werden. Ende der 1970er Jahre war beispielsweise die letzte westdeutsche Celluloidfabrik außer Betrieb gegangen. Wie kaum eine andere Produktionsstätte repräsentierte sie den Beginn des Kunststoffzeitalters mit der Herstellung eines der ältesten synthetischen Materialien, das zum Leitwerkstoff des 20. Jahrhunderts wurde: Plastik (vgl. Föhl 1983b). Hier war alles erhalten geblieben: vom Safe des Werksdirektors bis zum Stehpult der Versandabteilung, selbstverständlich alle Maschinen und Gebäude und – ebenso wichtig – das durch die Beschäftigten repräsentierte Know-how von Betriebsabläufen und Werksalltag. Nicht, dass das Konzept der musealen ›Käseglocke‹ über einem wichtigen historischen Industriezeugnis so neu war: In Großbritannien, das mit der Industriellen Revolution wie mit der historischen Aufarbeitung dieser Epoche dem Kontinent voraus war, diskutierte man seit den 1960er Jahren Konzepte wie »Living Museum«, in dem man in authentischer Umgebung authentische Werksprozesse vorführen wollte. In Ironbridge bei Birmingham entstand, quasi als ›Nebeneffekt‹ der Gründung der englischen »New Town« Telford (übrigens nach dem berühmten Ingenieur Thomas Telford benannt), der »Ironbridge Gorge Museum Trust«: eine Mischung aus Freilichtmuseum technischer Denkmale und Originalstandort historischer Industrien – und damit in Teilen ein begehbares Industriedenkmal. Ähnliches geschah in Schweden mit dem Hüttenwerksstandort Engelberg und in Frankreich mit der Etablierung des »Ecomusée Le Creusot«. Das Konzept vom Industriemuseum im Industriedenkmal lag sozusagen in der Luft. Ein Ansatz in Westdeutschland war die Suche des seit 1954 provisorisch in einer Essener Villa untergebrachten Ruhrlandmuseums nach einem neuen Domizil. Der damalige Direktor Walter Sölter entwickelte zusammen mit der rheinischen Industriedenkmalpflege ein Konzept zur Unterbringung des Museums in der stillgelegten Steinkohlenzeche »Carl Funke« am Baldeneysee, die Industriedenkmal, Ruhrgebietslandschaft und die Aussage des Museums zur Erd- und Industriegeschichte des Ruhrgebietes optimal hätte vereinen können. Aber weder die Stadt Essen noch die zustiftende »Alfried-Krupp-Stiftung« konnten sich damals für das Konzept erwärmen. So zog das Ruhrlandmuseum in einen nicht eben atemberaubenden Neubau an der Essener Bismarckstraße, aus dem es sich heute, nach nur gut 20 Jahren, mit dem Konzept eines in seinen zukünftigen Konturen noch nicht eindeutig definierten »Ruhrmuseums« bereits wieder verabschieden will. Es soll ausgerechnet in ein Industriedenkmal einziehen, nämlich in die seit 2001 auf der UNESCOWeltkulturerbe-Liste stehende Zentralschachtanlage »Zollverein XII« in Es-

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sen-Katernberg – und dort ausgerechnet in den Anlagenteil »Kohlenwäsche«, der bis vor kurzem noch mit dem komplettesten historischen Maschinenbesatz der gesamten Schachtanlage versehen war. Die auf Zollverein beheimatete Stiftung gleichen Namens hatte bislang pro Jahr immerhin nicht weniger als 62.000 Besucher durch das technisch-architektonische Gesamtensemble von Kokerei und Zeche führen können. Zurück zu den Anfängen: Tatsächlich realisiert werden konnten ab 1979 die zahlreichen – mittlerweile insgesamt 14 – Standorte des »Westfälischen« und (ab 1984) des »Rheinischen Industriemuseums«. Einige dieser Standorte entsprachen dabei genau dem von der Industriedenkmalpflege entwickelten Konzept des Industriemuseums im integral erhaltenen Industriedenkmal. Dies trifft in besonderem Maße auf die »Tuchfabrik Müller« in der Voreifel und die »Gesenkschmiede Hendrichs« in Solingen zu. Andere, so die älteste mechanisierte Baumwollspinnerei des Kontinents in Ratingen bei Düsseldorf oder die frühe Steinkohlenzeche »Nachtigall« in Witten an der Ruhr, erwiesen sich als leere Hüllen und mussten zur Aufnahme eines Museumsbetriebes erst gefüllt werden. Das der Denkmalpflege entstammende Konzept hatte sich während der späten 1970er Jahre zum Konzept eines netzwerkartigen, alle maßgeblichen historischen Branchen und Technologien umfassenden Industriemuseums mit zahlreichen Einzelstandorten entwickelt. Nicht immer war es dabei möglich, der jeweiligen Sparte ein ideales Sachobjekt zuzuweisen. Im westfälischen Bocholt, einem Landstrich, in dem es vor historischen Textilfabriken nur so wimmelte, errichtete man zum Beispiel eine funkelnagelneue, aber in altem Gewande daherkommende, »historische« Betriebsstätte, der erst in allerjüngster Zeit eine bestehende Textilfabrik zugesellt werden konnte. Die ›fetten Jahre‹ Möglich geworden war die peu à peu erfolgende Einrichtung von nicht weniger als 14 »Schauplätzen«, wie sie heute im Rheinland heißen, also von 13 Industriemuseen in Industriedenkmälern, durch die Generosität einer Landesregierung, die als erste in Deutschland bereits 1970 in ihre politische Fünf-Jahres-Agenda die Erhaltung technischer Denkmale eigens eingeschrieben hatte (vgl. Landesregierung Nordrhein-Westfalen 1970: 118f.). In der Trägerschaft der Landschaftsverbände wurden mit einer mindestens 80-Prozent-Förderung durch das Land NRW schrittweise die einzelnen Standorte in Angriff genommen. Die Landschaftsverbände existieren so nur in Nordrhein-Westfalen, ihnen obliegt unter anderem auch die regionale Kulturpflege (vgl. Landschaftsverband Rheinland 1999). Im Rückblick ist diese Situation nahezu paradiesisch zu nennen. Sie war nur vor dem Hintergrund der ›fetten Jahre‹ einer wirtschaftlich prosperierenden Bundesrepublik möglich.

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Zudem galt es in NRW auch, die seit 1958 chronisch werdenden Schrumpfungskrisen der Schwerindustrie abzufangen. Diese Schrumpfprozesse waren einerseits Voraussetzung dafür, dass es nötig wurde, denkmalpflegerisch in den stillgelegten Betrieben des Ruhrgebiets und den ebenfalls niedergehenden Zonen der Textilindustrie tätig zu werden. Sie beflügelten andererseits die politische Motivation, durch die Erhaltung signifikanter Zeugnisse vergangener wirtschaftlicher Leistungen und Erfolge an den Zukunftsoptimismus der eingesessenen Bevölkerung zu appellieren. Nichts anderes geschah übrigens zu dieser Zeit in anderen europäischen Altindustriezonen. Dem daniederliegenden Hafen Liverpool und der ebenso maladen Stadt verordnete man mit den Aktivitäten einer »Merseyside Development Corporation« ab 1980/81 eine Restaurierungs- und Neunutzungskur. Damit war die Hoffnung verbunden, von diesem Ansatzpunkt aus die Geschicke der von sozialen Unruhen geplagten Region wieder zum Besseren zu wenden (vgl. Jarvis/Smith 1999). Es war die Zeit der produktiven Utopien, wie sie im Titel einer 1975 abgehaltenen Tagung in Kassel deutlich wurden: »Denkmalpflege ist Sozialpolitik« (Burkhardt et al. 1977) – aus heutiger Sicht scheinen alle diese Ansätze schon unendlich weit zurückzuliegen. Produktive Utopien in Zeiten der Hochkonjunktur kann man auch, wenn man will, in einer Unternehmung der Landesregierung am Werke sehen, die zeitlich auf die Etablierung der zahlreichen nordrhein-westfälischen Industriemuseen folgte: 1989 wird nach Berliner Vorbild (1984-1987) eine diesmal auf zehn Jahre konzipierte »IBA« ins Leben gerufen. Das erklärte Ziel der »Internationalen Bauausstellung Emscher Park« war es, im Zuge der städtebaulichen und ökologischen Strukturverbesserung des Ruhrgebiets auch die Aufwertung des »industriellen Erbes« dieser Region zu betreiben (vgl. MSWKS 1999). Nötig war das schon. Trotz der Bemühungen der Industriedenkmalpflege war es im Ruhrgebiet wieder und wieder zum Abbruch fulminanter Zeugen des Industriezeitalters gekommen: »Hauptverwaltung Krupp« in Essen, Zeche »Jacobi« in Oberhausen oder Zeche »Scharnhorst« in Dortmund. Diese Vernichtungsaktionen mögen stellvertretend für das stehen, was einer der ersten Industriedenkmalpfleger schon 1970 »eine Kette von Vatermorden« (Günter 1970) genannt hatte. Das Ruhrgebiet als wichtigstes nordrhein-westfälisches Industrie-Ballungsgebiet unterlag seit den Krisenzyklen der frühen 1960er Jahre einer kollektiven Verdrängungspsychose. Im veröffentlichten Leitbild dieser Region kam alles vor: Parks, Schauspiel- und Opernhäuser oder High-Tech-Institute, alles zusammengefasst unter dem Oberbegriff »ein starkes Stück Deutschland« (vgl. Nellen 2004). Nur eines kam nicht vor: das Alleinstellungsmerkmal einer einzigartigen Ballung industriehistorischer Anlagen und Strukturen aus einem Zeitraum von über 150 Jahren.

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Quantensprung »IBA Emscher Park« Was immer im Urteil einer ferneren Nachwelt als Leistung der »IBA Emscher Park« bestehen bleiben mag: Ihr ist eine positivere Positionierung des industriellen Erbes der Schwerindustrie im Bewusstsein der in und außerhalb dieser Ballungszone Lebenden gelungen, und dadurch hat sie wohl unumkehrbar eine weniger verdrängungsselige Haltung zur eigenen Vergangenheit geschaffen. IBA-Leiter Karl Ganser und Städtebauminister Christoph Zöpel nutzten die Phase der vollen Kassen und stellten mittels eines beträchtlichen Geldsegens aus Düsseldorf die Weichen auf Toleranz und Duldung, vielleicht sogar auf Annahme von Teilen des bislang ungeliebten Erbes von 150 Jahren Schwerindustrie. Damit verbunden war auch der Versuch, das nach monostruktureller Vergangenheit nun vor ungewisser Zukunft stehende Ruhrland in Bewegung zu bringen. Eine bisweilen nahezu aufoktroyierte liberale und plurale Planungskultur entfaltete sich in IBA-Regie und ein hartnäckig vorgetragener Qualitätsanspruch ließ eine ganze Reihe von Wunschträumen der Industriedenkmalpflege nach Erhaltung auch großmaßstäblicher Montandenkmale Wirklichkeit werden. Bislang war ein solches Projekt in der Bundesrepublik nur ein einziges Mal angegangen worden: die Erhaltung eines nicht weniger als sechs Hochöfen umfassenden Hüttenwerks in Völklingen an der Saar (vgl. den Beitrag von Mendgen in diesem Band). Nach 1988 wurde dies erneut möglich, als die rheinische Denkmalpflege die Hütte »Meiderich« auf Befragen von Minister Zöpel als integrales Industriedenkmal bezeichnete. Allenfalls die Schachtanlage »Zollern 2/4« in Dortmund hatte im Revier bis dahin solche Größenordnungen gestreift. Diese Steinkohlezeche wurde 10 Jahre nach ihrem drohenden Abbruch in den Aufbau des Westfälischen Industriemuseums integriert und deshalb in großem Umfang erhalten. Ab 1989 wurde die Meidericher Hütte, wie viele andere Großbauten des Montanwesens, zum IBA-Projekt und damit finanziell und planerisch auf neue Füße gestellt. Die Einbeziehung der Großkomplexe in Landesvorhaben neutralisierte zunächst die anfangs alles andere als begeisterte Haltung der Kommunen zur Frage der Erhaltung dieser Industriedenkmale. Stand der Debatte war nun folgende Dimension des Projektes: je ein markantes Montanobjekt in jeder Kommune, die ihre Geschichte auf Hütte und Zeche gegründet hatte, ja vielfach durch das Wachstum dieser industriellen Unternehmen erst auf der Landkarte erschienen war. Schlagartig wurde das Ruhrgebiet eine Art Eldorado der Industriearchäologie. Architekturhochschulen bundes- wie europaweit pilgerten zu den Großvorhaben wie Meidericher Hütte, Duisburger Innenhafen, zum Gasometer Oberhausen, zu Zeche und Kokerei Zollverein in Essen, »Consolidation« in Gelsenkirchen oder der Zeche »Sachsen« in Hamm. Mit der Suche nach einer tragfähigen Zukunftsnutzung war dabei stets

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die Forderung nach erhaltender Einbeziehung der Kernbauten der jeweiligen themengebenden Montanbauten verbunden. Unversehens überholte der Westen Deutschlands so die zeitlich vorgelagerten Erfolge einer englischen Industriearchäologie, ähnlich wie Deutschland um 1900 die Stahlproduktion des Mutterlandes der industriellen Revolution überflügelt hatte. Geschickt verpackte IBA-Leiter Karl Ganser die notwendige Investition vieler Millionen D-Mark in das Konzept vom »Generationenvertrag«: Die jetzt fälligen Entscheidungen sollten erst einmal das Überleben der Giganten der Industrialisierung für die Spanne einer Generation sichern, also eine Art »Minimalprogramm« darstellen. Weiteren Epochen bliebe dann die Entscheidung überlassen, wieder aufs Neue zu investieren oder gegebenenfalls zu dem Schluss kommen zu können, das Weiterleben der Industriedenkmale zu beenden. Diese Phase der IBA war auch durch einen durchaus defensiven Umgang mit der Substanz der Bauten und Anlagen charakterisiert. Neue Nutzungen sollten behutsam integriert werden, die Authentizität der historischen Arbeitsstätten der Schwerindustrie hatte Priorität. Denkmalpfleger saßen gern an den Planungstischen der »IBA Emscher Park«. Zum Beispiel beschloss man, in der gewaltigen Kraftzentrale der Hütte Duisburg-Meiderich Veranstaltungen in großer Zahl abzuhalten, denn sie bot sich wegen ihrer riesigen Dimension und der imponierenden Stahlfachwerkkonstruktion dazu an. Um aber schwerwiegende Eingriffe in die Substanz zu vermeiden, sah die Planung eine Nutzung während der nicht heizungsbedürftigen Sommermonate vor, so dass die Halle vor größeren Veränderungen bewahrt bleiben konnte. Die IBA 1994-1999 Mit der Halbzeit der IBA war ein Umschwung zu beobachten. Politische Befürchtungen wurden laut, die Nutzbarkeit der Großobjekte stünde in keinem Verhältnis zu den investierten Erhaltungsmitteln. Begehrlichkeiten aller Art auf Vereinnahmung der mit Landesmitteln verwendbar gemachten Anlagen kamen auf. Um das Jahr 1994 herum wechselte die Terminologie der IBA in signifikanter Weise. War zuvor von Industriedenkmalen als Repräsentanten der »Industriekultur« im Sinne einer eigenen Geschichte des Ruhrreviers die Rede, so sprach man nun plötzlich von »Spielstätten«, die diese Denkmale (auch) zu sein hätten. Die Debatte erinnerte in gewisser Weise an die Gründungsphase der Industriemuseen ab 1979. Auch damals stand der Begriff einer rentierlichen Nutzbarkeit der Standorte im Raum, bis hin zu der kühnen Annahme, die Museums-Außenstellen könnten sich ihren Lebensunterhalt durch die Produktion von allerlei Gütern in historischer Manier als »SchauMuseen« selber verdienen. Für Kenner der Szene hatte sich diese Debatte bereits im England der 1960er Jahre von selbst erledigt – das Experiment war

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negativ ausgegangen. Nun also war das Denkmodell von den »Spielstätten« im Raum und nahm auf den Fortgang der Ereignisse Einfluss. Der Begriff »Industriekultur« wurde umdefiniert. Fortan war darunter die Abhaltung mehr oder weniger hochkultureller Darbietungen vor der Kulisse der alten Industrie zu verstehen. Die IBA verabschiedete sich mit einer Reihe nicht eben bescheidener Großveranstaltungen, darunter auch die interessante Schau zur Geschichte des Ruhrgebietes (»Feuer und Flamme«), eindrucksvoll im Riesenzylinder des Gasbehälters der ehemaligen »Gutehoffnungshütte« inszeniert (vgl. Borsdorf 2000). 1999 erschien eine zusammenfassende Programmschrift »Industriekultur. Mythos und Moderne im Ruhrgebiet« (vgl. Ganser/Höbel 1999). Dort wurde unter dem Titel »Denkmal und künstlerische Verfremdung« ausgeführt: »[D]ie künstlerische Verfremdung will ein Denkmal als Spielort oder Ausstellungsort verwenden, wie z.B. den Gasometer in Oberhausen, der damit eine ›Umcodierung‹ von einem Industriemonstrum (Hervorhebung d. Verf.) in ein ›Hoffnungssymbol‹ erfährt.« (Sieverts 1999: 26)

Unerläutert bleibt hier, aus wessen Blickwinkel der Gasbehälter ein »Monstrum« ist, ob darin eine kritische Position steckt oder nur kolloquialer Sprachgebrauch herrscht. Falls mit »Monstrum« die Dimensionen montaner Großtechnik gemeint sind, so ist es ja gerade denkmalpflegerische Zielsetzung, eben diese möglichst eindrucksvoll sichtbar zu halten, charakterisiert doch genau diese Größenordnung das industrielle Geschehen des 19. und 20. Jahrhunderts. Als beratende Agentur empfahl die »IBA Emscher Park« z.B. im brandenburgischen Kohlerevier, eben nicht alle gigantischen Geländeeingriffe der Braunkohletagebaue in Freizeitgewässern verschwinden zu lassen. Das Industriezeitalter schuf seine Vergangenheit nicht nur mit industrieller Geschwindigkeit, sondern auch in industrieller Größenordnung. Diese ist Teil ihrer Erhaltungswürdigkeit und nach Überzeugung der Industriedenkmalpflege auch Teil ihrer Attraktivität für den Besucher solcher Anlagen und Areale. Wie also die Umwandlung von einem »Monstrum« in ein »Hoffnungssymbol« vonstatten gehen soll, muss der Verfasser obiger Zeilen wohl erst noch erläutern. Das Zitat ist aber bezeichnend für die Spätphase der IBA. So verlautbarte ein in IBA-Projekte eingebundener Architekt um diese Zeit, dass man, wenn man das Ruhrgebiet attraktiv machen wolle, »wohl nicht umhinkäme, es zu inszenieren«. Es ist dies wohl exakt der Punkt, an dem der Industriedenkmalpfleger sein Veto einlegen muss, in der Erkenntnis und Erfahrung, dass die Objekte auch ohne weitgehende »Inszenierung« ihre Kraft und Wirkung zu entfalten vermögen. Wer beim ersten Tag des »Offenen Denkmals«, den die Bundesrepublik 1993 abhielt (andere Länder kennen diese Einrichtung bereits jahr-

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zehntelang), jene 4000 Menschen erlebt hat, die auf die thüringische »Maxhütte« gekommen waren, bekommt einen etwas gelasseneren Eindruck von der Inszenierbedürftigkeit der Großzeugen des Industriezeitalters. Wenn Inszenieren Zugänglichmachen und Erschließen heißt, dann zählen solche Maßnahmen zur Überlebensstrategie von Industriedenkmalen. Wenn darunter aber Teildemontagen und Installationen sensationsheischenden Charakters zu verstehen sind, kann dies keine verantwortungsvolle Denkmalpflege gutheißen. Wer für die zerstörerische Wirkung solcher Aktionen ein Beispiel braucht, kann sich das »nabenlose Riesenrad« ansehen, das in die Ofenbatterie der Kokerei Zollverein eingefräst wurde und das nach den Auflagen der UNESCO spätestens 2003 hätte verschwinden sollen. Neben dem nahezu blendend aufwendigen Feuerwerk der Schlussausstellungen in der Meidericher Kraftzentrale, dem Gasometer Oberhausen und der Kokerei Zollverein (inklusive Riesenrad) stieß das ›Mutterschiff IBA‹ kurz vor dem Verglühen noch eine Reihe von Satelliten in den Raum des Ruhrgebietes, in der verständlichen Hoffnung, einige ihrer Bestrebungen auf diese Weise perpetuieren zu können. Den Industriedenkmalpfleger freute dabei naturgemäß die Gründung der in Dortmund auf der Kokerei »Hansa« ansässigen »Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur« am meisten. Sie wird, als landesweite Unternehmung angelegt, bislang von ihrem Partner »Ruhrkohle« mit Montanobjekten im Revier ›eingedeckt‹. Eine weitere zukunftsgerichtete Unternehmung mit dem Arbeitstitel »Nationalpark Ruhrgebiet« ist inzwischen eingestellt. Das ehemalige Personal der IBA findet sich, ähnlich wie die Angehörigen der abtretenden Administration abgewählter amerikanischer Präsidenten, in Agenturen wieder, die in und außerhalb des Ruhrgebietes an verwandten Vorhaben arbeiten – beispielsweise im Saarland, wo unter der Expertise Karl Gansers eine Kampagne namens »IndustrieKultur Saar« ins Leben gerufen worden war (vgl. Saarland Staatskanzlei 2000). ›Events‹ Seit 1999 hat sich in den Zonen der historischen Industrieareale ein vielfältiges Leben entfaltet, das – analog zu den auf Wirtschaftsbelebung abzielenden Aktivitäten anderer europäischer Regionen – darauf hinarbeitet, mit eventartigen Initiativen Menschen, zahlende Besucher und womöglich Investoren ins Ruhrrevier zu ziehen. Ein früher Versuch dieser Art war ab 1981 die Abhaltung einer Gartenschau in Teilen des daniederliegenden Hafenareals von Liverpool an der englischen Westküste (»Britain’s first International Garden Festival«; vgl. Merseyside Development Corporation 1983). Eine Folge dieser Initiativzündung war die denkmalpflegerisch mustergültige Wiederinbetriebnahme des be-

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rühmten »Albert Dock« von 1845 durch die Einrichtung von Museen, Ladengalerien, Wohnungen und Büros. Die Wahrnehmung des Architektur- und Technikensembles des Hafenbeckens nahm dabei keinerlei Schaden. Eine besonders üppig alimentierte Unternehmung im Gefolge der IBA im Ruhrgebiet ist eine zyklische Veranstaltung namens »Ruhrtriennale«, deren erste Runde von 2002 bis 2004 lief. Mit dem damit in die (Ruhr-)Welt gebrachten Anspruch auf weltklassefähiges Kulturangebot und dem Konzept, dieses in den zuvor als Industriedenkmale geretteten Montanbauten stattfinden zu lassen, eskalierte ein Veränderungsdruck, dem diese Bauten seit der Halbzeit der IBA ab etwa 1994 in steigendem Maße ausgesetzt waren. Noch Anfang der 1990er Jahre hatte man im Zusammenhang mit Nutzungsmöglichkeiten großer Anlagenteile des IBA-Projektes Hütte Meiderich als Themenkern des »Landschaftsparks Duisburg-Nord« überlegt, bestimmte Hallen nur bei geeigneter Witterung zu nutzen, um ihnen drastische Veränderungen zu ersparen (s.o.) – also quasi vom Denkmal her argumentiert. Als Folge des neuen Konzeptes stiegen die Ansprüche an Komfort, Ausstattung, Technik und Dekor. Die von weit her geholten Stars des gehobenen Entertainments projizierten ihre Gewohnheiten und Erwartungen an ein adäquates Ambiente auf die nicht allein historischen, sondern vom historischen Gebrauch auch gezeichneten Industriedenkmale. Die Hoffnung auf möglichst hohe Einnahmen aus den kulturellen Darbietungen drückte die Anforderungen auf Sitzplatzzahl, Klimatisierung und Catering nach oben. Eindrucksvolles Beispiel der damit verbundenen Veränderungen an Baudenkmalen ist die »Jahrhunderthalle« in Bochum, wo der Besucher heute nachgerade Mühe hat, den historischen Kern der Anlage, ein für die große Düsseldorfer Industrieausstellung von 1902 konzipiertes Hallenbauwerk, überhaupt noch auszumachen. Eine kühn gewinkelte Lobby aus Glas und Stahl auf der einen und ein titanzinkverkleidetes Funktionsgebäude auf der anderen Hallenseite maskieren die Industrievergangenheit an diesem Ort nahezu vollständig. War die Dampfgebläsehalle der Meidericher Hütte – um ein anderes Beispiel zu nennen – am Beginn ihrer Karriere als Konzertraum noch knapp dem Schicksal entgangen, ihre von Maschinenarbeit gezeichneten Wände schneeweiß gepinselt zu bekommen, führte ihr Einbezug in »Triennale«-Veranstaltungen und der damit verbundene erhöhte Sitzplatzbedarf dazu, dass ihre zuvor unveränderte Innenraumgestalt durch eine schwere Zwischenebene massiv umgestaltet wurde. So wich z.B. die zuvor in schlanken Stahlprofilen und demontierbar gehaltene Getränkebar im Vorraum bei dieser Gelegenheit einer edelholzverkleideten Version, deren Tresen gar so breit gehalten ist, dass der Gastronom Mühe hat, seine Getränke zum Konsumenten zu bugsieren. Als letztes Beispiel für den Trend, der Darbietung von museums- und konzertsaalfähiger Kultur in Industriedenkmalen eine Heimstatt zu bieten,

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der gravierende Veränderungen provoziert, sei ein Unterfangen auf dem Gelände der Kokerei Zollverein in Essen-Katernberg genannt, das auch in der Presse nicht unbeachtet geblieben ist. Hier erzwang der Wunsch nach allseitiger Begehbarkeit eines dreidimensionalen Kunstobjektes, das seine permanente Heimat auf der »weißen Seite« der Kokerei finden sollte, radikale Eingriffe in den von den hochrenommierten Industriearchitekten Schupp und Kremmer 1958 errichteten, denkmalgeschützten Industriebau. Dafür wurde, wie die »Süddeutsche Zeitung« schrieb, »ein Denkmal exekutiert«. Ergebnis: Nun wirkt die Halle »wie ein oberbayerischer Gewerbestadel« (Mazzoni 2001). Vier Monate später wurden Zeche und Kokerei Zollverein UNESCOWeltkulturerbe. Dieser Eingriff in das Denkmalensemble stört auch heute, Jahre später, die UNESCO genauso wenig wie das für die Ausstellung »Sonne, Mond und Sterne« – ein weiteres IBA-Abschiedsgeschenk (vgl. Borsdorf et al. 1999) – in den Kokerei-Ofenblock hineingefrästes Riesenrad (s.o.). Die UNESCO hatte bei der Weltkulturerbe-Deklaration dessen Entfernung eingefordert. Diese war für spätestens 2003 zugesagt, ist aber nicht erfolgt. Auf beide Tatbestände gibt es bis heute keine Reaktion aus Paris. Industriedenkmalpflege und industrielles Erbe Am Ende von über 30 Jahren Bemühung, den bis etwa 1970 in Deutschland nahezu ausschließlich erhaltenen Bau- und Kunstdenkmalen ergänzend und komplettierend einen Bestand an wichtigen Zeugen des Industriellen Zeitalters an die Seite zu stellen, sieht sich der Industriedenkmalpfleger – eine auch heute noch eher rare Spezies (vgl. Föhl 2002b) – mit einer zwiespältigen Situation konfrontiert: Einerseits ist nicht zu bestreiten, dass das Konzept, der ganzen Bandbreite historischen Geschehens ein dreidimensionales Überleben zu verschaffen, Erfolg gehabt hat. Bahnhöfe, Fabriken und Wassertürme stehen heute gleichbedeutend mit Schlössern, Klöstern und Kirchen als Denkmale in den Städten und Landschaften Europas. Mehr noch als die ›traditionellen‹ Denkmale vielleicht, erwecken sie das Interesse und die Phantasie von Nutzern. Die Zahl der weiter-, wieder- und neu genutzten Industriedenkmale ist Legion und immer noch im Steigen begriffen. Nicht einmal konservativste Kreise in und außerhalb der Denkmalpflege würden es heute vermögen, das Rad, das mit der Erhaltung der Maschinenhalle der Schachtanlage »Zollern 2/4« in Dortmund-Bövinghausen für Deutschland ins Rollen gekommen ist, wieder anhalten – oder gar zurückdrehen – zu können. Mit innerer Logik hat die frühe deutsche Industriedenkmalpflege den Weg zum Konzept »Industriemuseum im Industriedenkmal« gewiesen und damit einen wahren Boom ausgelöst, der auch heute noch nicht ganz abgeklungen ist.

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Sie hat Methoden und Bewertungskriterien entwickelt, die es heute erlauben, sicher die Spreu vom Weizen zu trennen und verlässliche Aussagen zum Wert und zur Bedeutung des einzelnen Industriebaues zu machen. Sie hat – und damit beginnen die in diesem Beitrag beschrieben Probleme – den Gang der Industriegeschichte in immer größeren Maßstäben notwendig nachvollzogen und ist damit bei Bautenkomplexen und Anlagen angekommen, die sich der herkömmlichen Behandlung selbst großer ›traditioneller‹ Denkmale entziehen. Auch wenn der Kölner Dom ein gewaltiges und stets pflegebedürftiges Baudenkmal ist, so stellen sich hier doch andere Probleme als bei dem unter dem Namen »Ferropolis« unweit des »Wörlitzer Gartenreiches« (Weltkulturerbe) zusammengeschobenen Großbagger-Konglomerat oder dem gigantischen Sauerstoffwerk des Peenemünder Raketen- und Rüstungskomplexes auf Usedom. Häufen sich die Giganten der Montanindustrie gar, wie in den Kohlerevieren des Ural, in Schlesien, Mähren, im Saarland oder dem Ruhrgebiet, in Nordfrankreich oder Südbelgien, so stellen sich zugegebenermaßen Probleme beträchtlicher Größenordnung und Unsicherheit über die Verfahrensweisen ein. Es ist daher festzustellen, dass wir uns auch 30 Jahre nach Beginn einer systematischen, neuzeitlichen Industriedenkmalpflege noch in einer Experimentalphase befinden. In einer solchen ist sicherlich die Trial-and-ErrorMethode legitim, da angesichts der Neuigkeit des Sujets und der Größenordnungen auch Irrtümer und Fehlentwicklungen möglich sind. Möglich sind aber auch die Wege ins Neuland, die Entdeckung zuvor nicht bedachter Chancen, die Erprobung nicht durch den Usus sanktionierter Methoden. Unterwegs sind aber auch die Urteile sicherer, die Kenntnisse umfassender und die Bewertungen treffender geworden. Es ist diese Sicherheit, aus der heraus die Industriedenkmalpflege heute mit Fug und Recht als sachkundiger Anwalt der Industriedenkmale auftreten kann. Es ist nicht ihre Sache, Nutzungsstrategien zu entwerfen, wohl aber, diese aus der Sicht der Bedeutung des Denkmals und zum Zwecke der Erhaltung des Denkmalcharakters des Objekts zu bewerten. Sie kann und muss ebenfalls auf gelungene Strategien der Erhaltung und Nutzung aufmerksam machen, die sich anderswo bewährt und als dauerhaft bewiesen haben. In diesem Zusammenhang ist auf die Ausstellung »Neuer Nutzen in alten Industriebauten« aufmerksam zu machen, die die bundesweite Arbeitsgruppe Industriedenkmalpflege der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger 2002 für die Leipziger Messe »denkmal 2002« zusammengestellt hat und die seither an über 20 Standorten zu sehen war. Denn die Erfahrung, die sich heute nicht mehr auf nationale Territorien eingrenzen lässt, wächst. Aus dieser Kenntnis heraus muss es auch möglich sein, vergleichende Kritik zu üben, ein »so ja« oder ein »so nicht« aussprechen zu können, ohne dies,

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wie es nicht selten geschieht, als lästiges Aufhalten rapider Prozesse oder Verhinderung glatter Abläufe angekreidet zu bekommen. Letztendlich ist es der Denkmalpfleger, der als klassischer Advokat der Dauer und der Kontinuität den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen den Aspekt der Nachhaltigkeit im wirklichen Sinne jenseits der abgegriffenen Sonntagsreden hinzufügen kann. Am Ende der weltgeschichtlichen Epoche namens »Industriezeitalter« angekommen, an der Schwelle einer zumindest in Europa von anderen Bedingungen gesteuerten Zukunft ist die Notwendigkeit unabweisbar, mit der Erhaltung von Industriedenkmalen dreidimensionale Geschichte zu schreiben. Denkmalpfleger sind die Archivare der uns alle noch heute prägenden jüngeren Vergangenheit und haben von daher über die ›Reinheit der Quellen‹ zu wachen. Verfälschte, verfremdete Quellen geben falsche Auskünfte. Weiter gebrauchte, weiter genutzte Denkmale garantieren ihr eigenes Fortleben und damit die Fähigkeit, zu erzählen. Verbrauchen wir sie, statt sie zu gebrauchen, bleibt nichts zu erzählen. Noch schlimmer: Jeder kann uns etwas erzählen, was an der verlorenen Authentizität der Geschichte dann nicht mehr zu verifizieren oder zu falsifizieren ist. Nordrhein-Westfalen, Deutschland und vor allem Europa haben das begriffen und diese Erkenntnis in Erhaltungsstrategien umgesetzt. Honoriert wird diese Anstrengung von Erfolgen bei Unternehmen wie der »Route Industriekultur« im Ruhrgebiet, die landauf, landab Nachahmer findet (vgl. Planungsverband Frankfurt/Region RheinMain 2001). Hier ist eine Popularisierung im Gange, die entwicklungsfähig ist. Das Vertrauen in die Attraktivität des Angebots, in die Strahlungskraft der ungewöhnlichen Orte dieser Routen muss noch wachsen, ebenso die Unterscheidungsfähigkeit, ob und wo ›Events‹ oder feste Installationen nötig sind, um die Originalschauplätze den Besuchern nahe zu bringen. Da ist es doch sehr ermutigend, dass die Zeche und die Kokerei Zollverein, als historischer Industrieraum präsentiert, schon für sich allein 62.000 Besucher im Jahr aktiviert hat. Mitnichten ist es naiv, die ›Kathedralen der Technik‹ eins zu eins an den Konsumenten bringen zu wollen. Nur gemeinsam werden es begehbare Großdenkmale der Industrie und Industriemuseen in und außerhalb von Industriedenkmalen schaffen, den Postindustriellen das Industrielle Zeitalter vorzuführen, jeder an seinem Platz, jeder mit seinen spezifischen Möglichkeiten. Allzu forsche Mischungen, so lässt sich nach 30 Jahren Erfahrung sagen, verderben eher den Brei. Oder besser gesagt: Sie rühren einen Brei ununterscheidbarer Sinneswahrnehmungen an, wo doch die unvermischten Ingredienzien – hier Denkmal (›original flavour‹), dort Museum (›Zubereitung‹) – vielleicht doch die schmackhafteren und bekömmlicheren sind: Erst sie schaffen die Totalität der gültigen Erfahrung. Wenn ›Events‹ am ungewöhnli-

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chen Ort stattfinden, dann sollte die Ungewöhnlichkeit des ungewöhnlichen Ortes gewahrt bleiben. Wird die Ungewöhnlichkeit tendenziell eingeebnet, womit wären dann auf Dauer Besucher zu gewinnen? Eigentlich hat die erste »Triennale« das auch gewusst: Die Riesenformat-Broschüre »Spielstätten und Informationen« der »Ruhrtriennale 02/03/ 04« zeigt als Titelbild die Dampfgebläsehalle der Meidericher Hütte – in ihrem ursprünglichen Zustand, den sie aber infolge des Umbaus für die »Triennale« zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr besaß. Ein eindrücklicheres Bekenntnis zur Authentizität des Wie-es-wirklich-war lässt sich kaum vorstellen. Das Bild zeigt die majestätische Halle, in der auf dem filigranen Stahlgerüst von Zuschauertribüne und Orchesterpodium zu diesem Zeitpunkt bereits jahrelange Konzertreihen stattgefunden hatten. Es hätte mühelos und ohne zurückbleibende Spuren wieder demontiert werden können. Vielleicht gibt es ja einen Weg, auf den großen Anlagen der Industriekultur ein verträgliches Nebeneinander zu schaffen: stärker veränderte Zonen für neue Zwecke und ›Dokumentarzonen‹ der uneingeschränkten Erfahrbarkeit von Geschichte in Koexistenz. Das tschechische Beispiel der Schachtanlage »Dul Michal« im Ostravaer Schwerindustriegebiet ist ein solches (hier ist die Industriedenkmalabteilung des regionalen Denkmalamtes angesiedelt). Auch die Meidericher Hütte in Duisburg bietet ein Koexistenzmodell, wenn es weiterhin gelingt, die Kernzone der Hochofenanlage intakt zu halten. Auf der Völklinger Hütte im Saarland steht neugenutzten Zonen im Bunkerbereich die Riege der Hochöfen unverändert gegenüber. Die Beispiele ließen sich vermehren. Erst wenn sich dieses Konzept durchsetzt, werden die Träger der Erinnerung an das Industriezeitalter unverfälscht sprechen können. Nur so können sie den nächsten Generationen, die keine eigenen beglaubigenden Erinnerungen mehr besitzen können, Auskunft geben, wie es gewesen ist, als die Schornsteine noch rauchten und eine Epoche herrschte, welche die Geschichtsbücher dann als das ›Industrielle Zeitalter‹ verzeichnen werden. Anmerkungen 1 1929-1938: Annales d’histoire économique et sociale, ab 1946 Annales. Économies, sociétés, civilisations. 2 Der erste Band beschäftigte sich mit der Industriekultur Nürnbergs (vgl. Glaser/Ruppert/Neudecker 1980), es folgten: Berlin (2 Bände), Hamburg und Saarbrücken. 3 Etwa ein vollkommen unbekanntes Werk von Hermann Muthesius in Kerken am Niederrhein (vgl. Föhl 1982), der 1922 eine verkleinerte Replik seiner Potsdam-Novaweser Seidenweberei Michels von 1912 am Niederrhein errichtete, von der der 1977 erschienene Katalog »Hermann Muthe-

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sius 1861-1927« der Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin 1977, noch nichts wusste. Literatur Borsdorf, Ulrich (Hg.) (2000): Feuer & Flamme. 200 Jahre Ruhrgebiet. Eine Ausstellung im Gasometer Oberhausen, Ausstellungskatalog, Essen. Borsdorf, Ulrich et al. (Hg.) (1999): Sonne, Mond und Sterne. Kultur und Natur der Energie, Ausstellungskatalog, Essen. Burkhardt, Lucius et al. (1977): Denkmalpflege ist Sozialpolitik. Studentische Tagung an der Gesamthochschule Kassel vom 3.-8. November 1975, Kassel. Der Spiegel (1983): »›Sterbende Zechen‹. Buchbesprechung des Buches Axel Föhl/Manfred Hamm: Sterbende Zechen«, Ausgabe 43/1983, S. 176. Föhl, Axel (1982): »Eine Fabrik von Muthesius in Kerken am Niederrhein«. In: Bauwelt 19, S. 762-765. Föhl, Axel (1983a): »Zehn Jahre Erfassung technischer Denkmale im Rheinland. Dokumentieren und Erhalten 1970-1980«. In: Jahrbuch der Rheinischen Denkmalpflege 29, Köln, S. 347-368. Föhl, Axel (1983b): »Beerdigung eines Kunststoffs. Ende der Zelluloidfabrik in Meerbusch-Lank«. In: Überblick. Düsseldorfs Stadtmagazin 7, S. 37-39. Föhl, Axel (1994): Bauten der Industrie und Technik (= Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz 46), Bonn. Föhl, Axel (1995): »Industrielles Erbe in der postindustriellen Gesellschaft. 25 Jahre Industriedenkmalpflege im Rheinland«. In: Rheinische Heimatpflege 32/1, S. 2-13. Föhl, Axel (2000): Bauten der Industrie und Technik in Nordrhein-Westfalen, Berlin. Föhl, Axel (Hg.) (2002a): Dreißig Jahre Industriedenkmalpflege in Deutschland (=Sonderausgabe des Deutschen Nationalkommitees für Denkmalschutz 26), Bonn. Föhl, Axel (2002b): »Zur Einführung«. In: ders. (Hg.), Dreißig Jahre Industriedenkmalpflege in Deutschland, Bonn, S. 4-13. Ganser, Karl/Höbel, Andrea (Hg.) (1999): Industriekultur. Mythos und Moderne im Ruhrgebiet, Essen. Glaser, Hermann/Ruppert, Wolfgang/Neudecker, Norbert (Hg.) (1980): Industriekultur in Nürnberg, München. Günter, Roland (1970): »Aktionen gegen eine Kette von ›Vatermorden‹. Eine Wende in der Denkmalpflege?«. In: Neues Rheinland 4, S. 2-7. Jarvis, Adrian/Smith, Kenneth (1999): Albert Dock. Trade and Technology, Liverpool. Landesregierung Nordrhein-Westfalen (Hg.) (1970): Nordrhein-Westfalen-

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Den Schornstein im Dorf lassen. Denkmalpflege als Museumskonzept: Die Tuchfabrik Müller in Euskirchen

Detlef Stender Einer unserer Vorführer hat einmal zu mir gesagt: »Eigentlich haben wir gar kein richtiges Museum, hier sind ja keine Vitrinen, hier gibt’s nicht viel zu lesen, hier bewegt sich alles, hier kann jeder alles verstehen.« Was der Vorführer gesagt hat, stimmt völlig. Von den klassischen Konzepten, von der Anmutung, von der wissenschaftlichen Didaktik eines ›richtigen‹ Museums, so wie er es noch aus seiner Schulzeit kennt, ist das Museum Tuchfabrik Müller weit entfernt. Das liegt an dem ganz besonderen Konzept des Rheinischen Industriemuseums, dessen bahnbrechende Grundidee darin bestand, nicht in der Landeshauptstadt oder an einem zentralen Ort in Nordrhein-Westfalen mit verschiedenen Exponaten aus verschiedenen regionalen und historischen Zusammenhängen eine neue Ausstellung zur Industriegeschichte des ganzen Landes zusammenzufügen, wie es in den 1980er und 90er Jahren in Hamburg, in Mannheim, Berlin und Chemnitz geschah. Im Gegensatz zu diesen Entwicklungen bekannte sich Nordrhein-Westfalen bereits Anfang der 1970er Jahre ganz ausdrücklich zur Industriedenkmalpflege und stellte auch entsprechende Referenten ein – ein absolutes Novum in dieser Zeit. Ende der 1970er wurde dann die Frage immer drängender, wie herausragende und typische Industriedenkmäler des Landes möglichst sachgerecht und sinnvoll für die kommenden Generationen erhalten und der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich gemacht werden können. Es ist daher kein Zufall, dass 1979 mit Helmut Bönnighausen ein Industriedenkmalpfleger der neue Direktor des Westfälischen Industriemuseums wurde. Zum ersten Mal in Deutschland setzte sich ein Museum für eine größere Region das Ziel, Industriegeschichte in authentischen Industriedenkmälern vor Ort zu präsentieren. 1984 folgte das Rheinland mit einem ähnlich konzipierten, dezentralen Industriemuseum (vgl. Föhl 2000: bes. 9ff.; Karabaic 2002; Kierdorf/Hassler 2000: 217ff.). Getragen wurden und werden die Industriemuseen im Rheinland und in Westfalen von den Landschaftsverbänden. Die neue Grundidee der beiden Landesmuseen ist, ›den Schornstein im Dorf lassen‹, d.h. vor Ort typische und wichtige Industriegebäude zu erhalten und als Museum in ihrem angestammten wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang und in ihrem gewachsenen städtebaulichen Umfeld zu präsentieren. Diese beiden großen Organisationen nahmen damit die basisdemokratischen Gedanken der Geschichtswerkstätten, neue Entwicklungen in der universitären Geschichtsschreibung und die neuen Konzepte der Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre auf: »Grabe wo du stehst«, »Geschichte von unten«, »Alltagsgeschich-

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Abbildung 1

te« und »Kultur für alle« hießen die neuen Slogans (vgl. z.B. Lüdtke 1989; Berliner Geschichtswerkstatt 1994). So wurde im 1988 erschienenen »Handbuch für gewerkschaftliche Geschichte vor Ort – Macht Geschichte von unten« die gerade neu eingerichtete Solinger Außenstelle des Industriemuseums (»Gesenkschmiede Hendrichs«) als ein Praxisbeispiel für diese neue Art der Geschichtsschreibung vorgestellt (Scharrer 1988). Zur Geschichte und zum Kulturerbe des Landes gehören danach nicht nur die Haupt- und Staatsaktionen, nicht nur die Schlösser, Kirchen, Klöster und Rathäuser, sondern eben auch die ganz alltägliche und manchmal sogar recht provinzielle Sozialgeschichte der Arbeit und Industrie, die Geschichte des ›einfachen Mannes‹ und der ›einfachen Frau‹. Im Rheinland und Westfalen wurden für die dezentralen Industriemuseumskonzepte nicht nur die monumentalen Denkmäler der Montanindustrie,

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sondern auch Relikte anderer Branchen berücksichtigt, was nicht den einfachen Klischees, sehr wohl aber der Vielfalt der Industrie in diesem großen Bundesland entspricht: So sind im Rheinischen Industriemuseum neben der Stahlherstellung auch die Branchen Textil, Papier und Schneidwaren vertreten, bei den westfälischen Kollegen neben Stahl und Bergbau auch Ziegelei, Glas, Textil und ein Schiffshebewerk. Im Folgenden wird exemplarisch für das Rheinische Industriemuseum ein Standort vorgestellt, der von seinem Bestand her ideal in ein Konzept passt, das Fabriken möglichst authentisch und ganzheitlich präsentieren will (vgl. zum Museumskonzept und zum Rheinischen Industriemuseum Euskirchen allgemein Stender 2000; Landschaftsverband Rheinland 2000). Abbildung 2: Erhalten bis zum letzten Detail: Säule in der Weberei mit Webgeschirrteilen, Notizzetteln und einem Kamm zum Glätten der Kette

Die Vorgeschichte der »Tuchfabrik Müller« Bevor wir uns mit der Art der Präsentation und der musealen Einrichtung der Fabrik beschäftigen, lohnt ein kurzer Blick auf die Geschichte des einzigartigen Ensembles: 1801 wurde das Hauptgebäude als mächtige Papiermühle erbaut, erlebte im 19. Jahrhundert verschiedene Besitzerwechsel und kam 1894 in den Besitz der Familie Müller. Ludwig Müller baute den Betrieb als Volltuchfabrik mit (damals) modernen Maschinen aus, von denen heute noch ein Großteil erhalten ist. Von der Wolle bis zum fertigen Tuch waren alle Arbeitsschritte unter einem Dach versammelt. Produziert wurde ein strapazier-

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fähiger, gewalkter und angerauter Stoff aus Streichgarn sowie Uniformtuch. 1961 musste der Betrieb wegen Auftragsmangels eingestellt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt verblieb die Anlage technisch auf dem Stand der Jahrhundertwende: Die Dampfmaschine und die Turbine trieben bis 1961 die Transmissionsanlage und sämtliche Maschinen an. In der Hoffnung, noch einmal produzieren zu können, pflegte Kurt Müller zunächst das Inventar und den Maschinenpark. Der Zustand der Fabrik zum Zeitpunkt der Schließung blieb daher bis in die 1980er Jahre hinein völlig unberührt bewahrt: alle Produktionsräume mit ca. 60 Großmaschinen, Dampfkessel und Dampfmaschine, der Transmissionsanlage, dem Gewirr der Dampf- und Elektroleitungen, den Werkzeugen und Materialien. Manche Maschinen waren sogar noch mit Ware bestückt. In den Spinden und rund um die Arbeitsplätze fanden sich noch Hinterlassenschaften, die den Fabrikalltag fragmentarisch aufscheinen lassen: ein ausgetretener Schuh, abgewetzte Arbeitskleidung, Kaffeetütchen, Zigarettenschachteln, eine Brille, die Kaffeekanne. Abbildung 3: Interview mit einem ehemaligen Mitarbeiter der Tuchfabrik

Die Ironie der Geschichte – und ein etwas eigensinniger Besitzer – haben es gefügt, dass diese 1961 schon etwas altmodische Fabrik im Gegensatz zu den ständig modernisierten Betrieben, die ihr Ende meist in den 1970er oder 80er Jahren fanden, dauerhaft der Nachwelt erhalten bleibt. Der Landschaftsverband Rheinland übernahm Ende der 1980er Jahre den kompletten Fabrikbestand der Tuchfabrik, um ihn in einen Standort des Rheinischen Industrie-

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museums zu verwandeln – und hatte sich eine außergewöhnliche Aufgabe und eine Menge Probleme eingehandelt. Denn die Fabrik befand sich in einem relativ schlechten Zustand. Eine unmittelbare Umwidmung zum Museumsbetrieb war unmöglich. Erst mussten umfangreiche Sicherungs-, Sanierungs- und Konservierungsmaßnahmen vorgenommen werden, für die es in diesem Umfang kein Beispiel, keine Standardlösungen gab. Die Dokumentation Vor den eigentlichen Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten wurde jedoch zunächst eine gründliche Dokumentation des Fundzustandes der Fabrik erstellt. Dies war erforderlich, weil die Bau- und Restaurierungsarbeiten selbst in die historische Bausubstanz eingreifen und diese – zum Teil – notgedrungen verändern würden. Die Hochbauabteilung des Landschaftsverbandes führte also zunächst nur die allernotwendigsten statischen Sicherungsmaßnahmen und eine Asbestsanierung durch. Die Dokumentation umfasste verschiedene Arbeitsbereiche: • Erfassung und Inventarisierung aller Objekte der Fabrik: Die Inventarisierung beinhaltete u.a. eine Identifikation und Benennung der Objekte, die Vergabe einer Inventarnummer sowie die Erfassung des Fundortes und des Zustandes. Es wurden insgesamt über 5000 Nummern für einzelne Objekte und zusammenhängende Objektgruppen vergeben. Zugleich erfolgte eine fotografische Dokumentation des Fundzustandes des gesamten Gebäudes und Inventars. Dabei wurden nicht nur die großen Maschinen erfasst, sondern auch jedes Kleinteil. • Rekonstruktion der Arbeit: Für jeden Raum und für jeden Bereich wurden die einzelnen Arbeitsschritte akribisch erforscht und rekonstruiert. Neben der Auswertung historischer Fachliteratur beruht dieser Dokumentationsschritt vor allem auf Interviews: Die ehemaligen Beschäftigten gaben Auskunft über ihren Arbeitsplatz, zum Betriebsklima, zum Ablauf eines typischen Arbeitstages etc. (vgl. Lambert/Bouresh 1991). Alle Interviews liegen transkribiert vor und sind durch ein über 60-seitiges Schlagwortregister erschlossen. Auf diese Weise ist eine ›Enzyklopädie‹ der Arbeit in der Tuchfabrik entstanden, die die vielen Maschinen und Inventarteile erst verständlich macht, ihre Funktionsweise klärt und die Arbeitssituation, -anforderungen und -belastungen im Betriebszusammenhang deutlich macht. • Maschinenforschung: Während sich die Dokumentation der Arbeit des Instrumentariums der Sozial- und Alltagsgeschichte bediente, erfolgte die präzise Erfassung, Beschreibung und Einordnung der ca. 60 Großmaschinen unter technischen bzw. technikhistorischen Gesichtspunkten. Dabei

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entstanden zudem ausführliche ›Biografien‹ der Maschinen, die die Geschichte der Anschaffung sowie alle Veränderungen, Standortwechsel, Improvisationen und Gebrauchsspuren benennen. Zugleich machte die Maschinenforschung Aussagen über den Erhaltungszustand der Maschinen. Diese bildeten die Grundlage für die späteren Restaurierungs- und Reaktivierungsmaßnahmen. • Bauforschung: Da die Tuchfabrik immer als Gesamtensemble von Inventar und Gebäude verstanden wurde, legte das Forschungsprojekt auch großen Wert auf die genaue Erfassung des Baubestandes. Es erfolgte eine sehr detailreiche fotografische und fotogrammetrische Erfassung des Gebäudes und seines Zustandes in CAD-Plänen. Zugleich wurden Berichte zur Baugeschichte und der sukzessiven Veränderung einzelner Bauteile angefertigt. Das Restaurierungs- und Präsentationsziel: Erhalt der Fabrikwelt im Zustand des letzten Betriebsjahrs Auf der Grundlage der oben geschilderten Forschungsarbeiten – mit dem genauen Wissen über den Funktions- und Arbeitszusammenhang Tuchfabrik – konnten nun das Museumskonzept und darauf aufbauend die konkreten Restaurierungsziele entwickelt werden. Der Grundgedanke dieses Konzeptes ist es, die Fabrik in ihrem einzigartigen Gesamtzusammenhang vollständig zu erhalten und den historischen Bestand nur sehr zurückhaltend und nur unmittelbar objektbezogen museal zu erläutern und ergänzen. Als Grundbedingung für dieses Konzept wurden zwei wesentliche Entscheidungen getroffen: • Alle modernen Funktionen und Bedürfnisse des Museumsbetriebs (Kasse, Laden, Cafeteria, Räume für Sonderausstellungen, Veranstaltungen, Museumspädagogik, Verwaltung, Werkstätten, Haustechnikzentrale, Hausmeisterwohnung) sind nicht in dem historischen Gebäudeensemble der Tuchfabrik, sondern in einem Neubau mit 1900 Quadratmeter Nutzfläche auf dem benachbarten Gelände untergebracht. Wenn man bedenkt, dass die Tuchfabrik etwa 2800 Quadratmeter Fläche bietet, kann man sich vorstellen, welch massiven Eingriff in die historische Bausubstanz es bedeutet hätte, das Raumprogramm der neuen Museumsfunktionen in dem alten Gebäude unterzubringen. • Die Tuchfabrik ist nur mit Führung zugänglich. Diese Einschränkung, die eigentlich auf Grund der geringen statischen Belastbarkeit und als Kompromiss mit den Brandschutzauflagen erzwungen wurde, ermöglichte es, die Tuchfabrik weitgehend so zu belassen, wie sie vorgefunden wurde. Die Besucherbegleiter erklären und erläutern zwar in erster Linie die Fabrik, fungieren aber zugleich als eine Art Aufsicht. Mit Erfolg übrigens:

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Obwohl auf nahezu alle Abschränkungen der Exponate durch Glasscheiben, Vitrinen, kordelgeschmückte Ständer etc. verzichtet wurde, wird in der Tuchfabrik so gut wie nicht gestohlen oder beschädigt. Dieses Führungssystem ist natürlich recht aufwändig. Es hat aber auch einen finanziellen Vorteil. Dank der Besucherbegleiter reicht eine Aufsicht für die unübersichtliche und verwinkelte Museumsfläche von 2800 Quadratmeter. Der unproduktive Job des Aufsehers ist gewissermaßen durch eine qualifizierte Besucherbetreuung ersetzt. Für die Bau- und Inventarsanierung war es notwendig, den ausführenden Planern und Handwerkern genaue Vorgaben für ihre Arbeiten zu machen, um später die Fabrik in einem in sich stimmigen Zustand präsentieren zu können. Als Restaurierungsziel für die Fabrik und ihr Inventar legte die Museumsleitung das letzte Betriebsjahr 1961 fest. Das heißt, dass alle Schäden und Verfallsspuren, die durch den Leer- und Stillstand seit 1961 entstanden waren, rückgeführt werden, dagegen Schäden, Veränderungen, Gebrauchs- und Nutzungsspuren aus der Betriebszeit erhalten bleiben sollten. Abbildung 4: Keine Standardlösung: Reparatur der tragenden Dachkonstruktion in der Tuchfabrik

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Die Bauarbeiten: Reparatur statt Komplettsanierung Für die Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten gab es sowohl von der Denkmalpflege also auch vom Museumskonzept her einige grundlegende Richtlinien: Es sollte so viel wie möglich von der alten Bausubstanz erhalten bleiben: Wo ein Eingriff nicht zwingend erforderlich ist, muss dieser unterbleiben. Diese Grundregel bedeutete konkret, dass die Architekten und Handwerker jedes Teil, jeden Deckenbalken, jeden Dachziegel, jede Putzfläche, jedes Fenster überprüften und nur bei wirklich negativem Befund reparierten oder austauschten. Diese Sanierungsstrategie war mit vielen kleinteiligen Einzellösungen verbunden, deren Entwicklung und Realisierung entsprechend arbeitsaufwendig war. Aber übliche Standardlösungen standen bei einem 200 Jahre alten Gebäude kaum zur Verfügung und die großflächige Erneuerung hätte dem Grundprinzip der Sanierungsarbeiten widersprochen – auch wenn mancher Handwerker lieber (und preiswerter) eine großzügige Rekonstruktion oder Überarbeitung ganzer Bauteile und großer Flächen vorgenommen hätte. Wenn Reparaturen oder Erneuerungen notwendig waren, wurden diese in Bezug auf Material und Machart streng nach historischem Vorbild durchgeführt. Eichenbalken wurden durch Eichenbalken ersetzt, Lehmputz durch Lehmputz, Kalkanstrich durch Kalkanstrich, Bierlasur durch Bierlasur – auch wenn dies nicht immer den modernen Anforderungen und dem aktuellen ›Stand der Technik‹ entsprach. Sehr viele der Sanierungsarbeiten kann man daher heute kaum noch in der Fabrik erkennen, so material- und herstellungsgerecht, so liebevoll und vorsichtig sind sie durchgeführt. Die neuen Teile und Ergänzungen werden mit zwei Grautönen einheitlich kenntlich gemacht, um klar alte Bausubstanz von neuen Zusätzen zu unterscheiden. Diese Farbtöne wurden so gewählt, dass sie auf dem Hintergrund der historischen Bausubstanz kaum auffallen. Und wenn man sich in der Fabrik genauer umschaut, dann kann man ein ganze Menge neuer Elemente entdecken: eine neue Elektrik, eine Heizungs- und Sprinkleranlage sowie Technik für die Einbruchsicherung. Die Restaurierung des Fabrikinventars: »Gepflegter Gebrauchszustand« Da nur begrenzt Zeit bis zum Eröffnungstermin zur Verfügung stand und die technischen Kapazitäten des Rheinischen Industriemuseum für die gigantische Aufgabe keinesfalls ausreichend waren, wurden alle Restaurierungsarbeiten an Maschinen und Inventar nach außen vergeben. Für die Ausführungsplanung und die Überwachung der Arbeiten suchte das Museum die Zusammenarbeit mit einem ausgewiesenen Fachmann (zu den Grundpro-

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blemen der Konservierung und Restaurierung von technischen Kulturgut vgl. Koesling 1999; Branner et al. 1989). Voraussetzung für dieses Organisationsmodell war, dass das Land Nordrhein-Westfalen die Inventarsanierung und die Sanierung der Gebäude mit 90 Prozent bezuschusste, weil Maschinen und Objekte als integraler Bestandteil des Denkmals angesehen wurden und werden. Nur auf diese Weise war es möglich, die gesamte Planung und der Durchführung der ungewöhnlichen und umfangreichen Restaurierungsmaßnahme mit externen Kräften innerhalb von eineinhalb Jahren erfolgreich zu realisieren (zur Inventarsanierung der Tuchfabrik vgl. Götz 2000, 2001). Die Maßnahme wurde übrigens ganz bewusst »Inventar-Sanierung« genannt, um deutlich zu machen, dass es um keine reine Maschinenrestaurierung geht, sondern um das komplette Fabrikinventar. Abbildung 5: Bestandserhalt bis zum letzten Detail: Sicherung der Tapetenreste in der Farbkammer

Das Museum entschied, das Restaurierungsziel »gepflegter Gebrauchszustand des letzten Betriebsjahres« entsprechend der jeweiligen Nutzungsgeschichte der einzelnen Objekte auszudifferenzieren: Bereits vor 1961 stillgelegte Maschinen – zum Beispiel Webstühle, die nur noch als ›Ersatzteillager‹ herumstanden – wurden lediglich vom Bauschmutz gereinigt, nicht aber vom Rost und Schmutz, der vermutlich schon 1961 vorzufinden war. Die Restauratoren hatten den Auftrag, Schäden oder fehlende Teile zu ignorieren, gerade weil diese auch den Zustand der Nichtbenutzung dokumentieren. Bis zur Stilllegung benutzte Objekte sollten hingegen wieder in einen

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»gepflegten Gebrauchszustand« versetzt werden. Dies bedeutete eine gründliche Reinigung und Entrostung, insbesondere der während des Betriebs sauberen und blanken Stellen. Selbstverständlich wurden alte Oberflächen und Lacke, Improvisationen und Behelfslösungen belassen. Wie bei den Bauarbeiten wurde hier auch streng nach dem Befund gearbeitet und nicht nach ästhetischen Kriterien vorgegangen. Abbildung 6: Die Vorgarnmaschine konnte wieder zum Laufen gebracht werden. Das Museum erhält den gesamten Maschinenpark, aber auch das Wissen um den Umgang mit den Maschinen

Einige zentrale Maschinen laufen wieder: die Dampfmaschine, der Krempelwolf, ein Krempelsatz, ein Selfaktor, die Kettschärmaschine, die Zwirnmaschine, vier Webstühle. Mit diesen Maschinen kann das Museum nun von der gewaschenen Wolle bis zum gewebten Tuch alle wichtigen Produktionsschritte vorführen. Die Reaktivierung erwies sich unkomplizierter als befürchtet – die meisten Maschinen liefen noch erstaunlich gut. Der Anteil der ausgetauschten Teile, die übrigens als Dokumente der Betriebsgeschichte aufbewahrt werden, beträgt etwa zwei oder drei Prozent und beschränkte sich zumeist auf einfache Verbrauchsteile. Komplizierter war oft die richtige Einstellung der Maschinen, die durch Versuch und Irrtum mühsam erprobt und erarbeitet werden musste. Zum Schluss wurden sämtliche Inventarteile – entsprechend der Fotodokumentation – wieder an ihren alten Platz gebracht.

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Nach den vielen und verschiedenartigen konservatorischen Eingriffen präsentiert sich die Tuchfabrik nun in einem etwas anderen Zustand als zur Zeit ihres ›Dornröschenschlafs‹ – auch wenn die meisten Besucher den jetzigen Zustand als ganz selbstverständlich hinnehmen und es sich kaum vorstellen können, »dass die Tuchfabrik einmal anders ausgesehen hat«. Das zeigt, dass der mühsam wieder hergestellte und gepflegte Gebrauchszustand ein schlüssiges und überzeugendes Gesamtbild darstellt. Das Konzept der musealen Vermittlung: Authentischer Fabrikkosmos Es ist in den bisherigen Ausführungen bereits deutlich geworden, dass das Denkmal Tuchfabrik kein klassisches Museum ist. Denn die ›Sammlung‹ der ›Ausstellungsstücke‹ und ihre Anordnung hat gewissermaßen die Geschichte selbst vorgenommen. Das Museum möchte die Geschichte nicht berichtigen, sondern sieht seine Aufgabe darin, diesen außergewöhnlich lebensnahen, sinnlichen und vielfältigen Bestand in seiner unmusealen Ordnung zu erhalten und ihn eher zurückhaltend zu erschließen, zu erläutern und zu ergänzen. Doch die komplizierten Fragen ergeben sich – wie so oft im Leben – auch hier erst im Detail. Kann und soll Geschichte überhaupt authentisch wiederhergestellt werden? Kann und soll man eine ganze Fabrik erklären? Wie stark, mit welchen Inhalten und in welcher Form wird das Museum im authentischen Bestand präsent? Welche Erfahrungen, welche Sinnlichkeit, welche Anmutung soll der Museumsbesuch bieten? Zunächst war daran gedacht worden, den historischen Bestand der Tuchfabrik perfekt zu ergänzen, um die Illusion eines laufenden Betriebs zu erzeugen: etwa den Fahrradständer mit historischen Fahrrädern füllen und die (stillstehenden) Maschinen mit neuem Material zu bestücken und vor dem Kessel wieder Kohle aufzuhäufen. Von dieser ›als-ob‹-Rekonstruktion wurde aber Abstand genommen; die Museumsarbeit konzentrierte sich ganz auf das historisch vorgefundene, authentische Objektensemble der Tuchfabrik Müller. Diese Überlegung entstand unter dem Eindruck der Restaurierungsarbeiten, als die intensive Beschäftigung mit dem Gebäude und Inventar verdeutlichte, dass das überlieferte Ensemble so viel überzeugende und informative Originalsubstanz bietet, dass Ergänzungen überflüssig sind. Zugleich zeigte sich aber gerade bei Führungen die besondere Faszination, die von der eigentümlichen Überlieferungsgeschichte der Fabrik ausgeht: dass nämlich alles im Original erhalten ist.

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Abbildung 7: Modell, das die Transportarbeiten in der Tuchfabrik verdeutlicht

Zweifellos ist aber eine gewisse Erläuterung der Fabrikräume sinnvoll und notwendig, weil die Besucher sich sonst hilf- und orientierungslos dem Fabrikkosmos gegenüber fühlen würden. Eine gewisse Ergänzung ist auch notwendig, weil zentrale Bestandteile des historischen Betriebslebens nicht mehr sichtbar sind: der Akkordstress, das Betriebsklima oder etwa die Farbbrühe, die direkt in den Bach abgeleitet wurde (vgl. Krankenhagen 2002). Wichtigstes Medium der Informationsvermittlung ist die mündliche Füh-

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rung. Daher wird im Museum fast völlig auf Texte verzichtet. Die einzige bedeutende Textebene sind Auszüge aus Interviews mit ehemaligen Arbeiter zu einzelnen Maschinen und Inventarteilen, die auf kleinen Schildern an den entsprechenden Exponaten präsentiert werden. Diese Interviewauszüge schildern den Arbeitsalltag, das Betriebsklima, die Sorgen und Freuden des Arbeitsalltags. Da diese Auszüge sprachlich lebendig und anschaulich sind, erfreuen sie sich großer Beliebtheit bei den Besuchern und werden während der Führung auch mal laut vorgelesen. Ansonsten ist jeder Raum auf einen musealen Eingriff beschränkt, einen Zusatz, der etwas erläutert, was wichtig für die Fabrik war, aber nicht mehr zu sehen ist: Eine Filminstallation in der Färberei zeigt Aspekte der Arbeitsbedingungen – Hitze, Dampf, Feuchtigkeit, aggressive Stoffe. Hölzerne Hände mit Werkzeugen und Arbeitsmaterial am Krempelsatz verdeutlichen die alltäglich notwendigen Handgriffe und Verrichtungen an diesen Maschinen. Ein Modell der kuriosen und endlos langen Transportwege der gesamten Fabrik rekapituliert den Weg, den die Wolle nimmt, bevor sie als Tuch ausgeliefert werden kann. Dinge, die die Arbeiter auf dem Boden der Spinde zurückgelassen haben, wurden ganz bewusst nicht naturalistisch drapiert, sondern in einzelnen Vitrinen gewissermaßen ›dramatisch‹ musealisiert: die Brille oder die Handbürste, mit der Hände nach Arbeitsschluss gereinigt wurden. Gerade die ästhetisch herausgehobene Präsentation dieser an sich trivialen Fragmente des Betriebslebens zeigt, wie wichtig dem Museum das Alltagsleben in der Fabrik – neben den großen Maschinen – ist. Die museale Erschließung greift dabei nur einzelne Momente, Fragmente der Fabrikwelt auf, lässt aber vieles bewusst ungeklärt und ambivalent. Eine flächendeckende Erklärung der Objekte würde das dichte historische Ensemble eher zudecken als würdigen und viele individuelle Wahrnehmungen, Assoziationen oder Erinnerungen verhindern. Denn die Tuchfabrik als ›Gesamtkunstwerk‹ ist mehr als die Summe aller Inventarteile. Ganz wesentlich ist dafür die Ganzheitlichkeit des Objektes und die höchst sinnliche Anmutung der Fabrik, die Gerüche von Wolle und Fett, die Geräusche des murmelnden Erftmühlenbachs, der donnernden Webstühle, die eigentümliche Stille an den verlassenen Arbeitsplätzen. Diese komplexen Eindrücke und das unmuseal und etwas chaotisch anmutende Gewirr der Objekte ermöglichen und provozieren ganz persönliche Wahrnehmungsweisen und Assoziationen. Die Besichtigung wird zur individuellen Entdeckungsreise. Die Eindrücke und Sichtweisen der Besucher variieren entsprechend den individuellen Erfahrungen und Erinnerungen, die sie mitbringen und mit den Eindrücken der Tuchfabrik verbinden können. Die Tuchfabrik wird vor allem für ältere Besucher zugleich zum Musée sentimental, zu einem Ort der Erinnerungen, oder einem Ort, der zum Erinnern, zum Innehalten, zum Rückdenken anregt – ohne jemals nostal-

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gisch oder geschichtsverklärend zu sein. Das Faltblatt und die Werbestrategie des Museums nimmt diese sinnlichen und assoziativen Elemente des Museumsbesuch ganz bewusst auf: Abbildung 8: Die Werbung für das Industriemuseum nimmt Bezug auf die assoziativen Elemente des Museumsbesuchs

In der Tuchfabrik sieht das Museumskonzept also nur punktuelle, zurückhaltende und stets objekt- oder raumbezogene Zusätze vor. Dadurch entsteht allerdings die Gefahr, dass die Besucher nicht über den engen ›SchornsteinHorizont‹ der Tuchfabrik hinausblicken können. Das faszinierende Erlebnis dieses Fabrikkosmos, der letztlich aber doch nur einen mikroskopisch kleinen Ausschnitt der Industriegeschichte repräsentiert, verdrängt leicht alle Gedanken an das Umfeld, an Strukturelles, an die Grundlagen und Folgen der Produktion in der Tuchfabrik. Die Vorstellung der Tuchfabrik, der Fabrik um die Jahrhundertwende (für die dieser Standort im Gesamtkonzept des Rheinischen Industriemuseums steht), wird auf einen Ort, ein Industriedenkmal vereinigt. Die Erinnerungsenergie – so lautet eine berechtigte Kritik – »wird konkretistisch verkürzt und reduziert die Vergangenheit allein auf das, was von ihr übriggeblieben ist.« »Begehbarkeit als Kriterium der Geschichtswahrnehmung« ist aber für ernsthafte Museumsarbeit zu wenig. Also ist eine »Redimensionierung der Vergangenheitsspuren und Überlieferungsfragmente«, des »beschränkten« mikroskopischen Blicks (Korff 1990: 66) gefordert. Dies

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leistet eine kleine – eher klassische – Ausstellung in den ehemaligen Wohnräumen der Familie Müller, die der Tuchfabrik gegenüber liegen. Hier werden Bilder und Objekte zur Geschichte und zur Krise der rheinischen Tuchindustrie gezeigt. Dort kann man erfahren, wie es in anderen, größeren, moderneren Tuchfabriken aussah, dort werden die Gründe und Folgen des Sterbens vieler Tuchfabriken in der Region analysiert. Im vorgelagerten Funktionsgebäude vermittelt eine einleitende Ausstellung darüber hinaus Informationen zur Herkunft der Wolle, der chemischen Farbstoffe, zur Kunst der Musterherstellung und zur Weiterverarbeitung der Wolltuchs. Die Erfahrungen Das Museum ist seit September 2000 eröffnet und hat pro Jahr gut 22.000 Besucher anziehen können. (Hinzu kommen Gäste bei Veranstaltungen, Vermietungen und Konzerten.) Die Besucher sind durchweg überrascht und begeistert. Die authentische, alltagsnahe Fabrikatmosphäre, der Vorführbetrieb der Maschinen und die mündliche Führung schlägt viele in Bann. Drei Aspekte sind bislang besonders aufgefallen, ohne das eine systematische Besucheranalyse gemacht worden wäre: Erstens: Es kommen sehr viele Besucher, die sich als eher untypische Museumsbesucher bezeichnen lassen: ältere Leute, die anschließend ins »Heino-Cafe« nach Bad Münstereifel fahren – also Menschen ohne akademische Vorbildung, die nicht unbedingt dem klassischen Bildungsbürgertum zuzurechnen sind. Diese ungewöhnlichen Museumsbesucher werden durch das lebensnahe, für jedermann verständliche Museum sehr angezogen. Dadurch, dass die wissenschaftlichen und systematischen Interpretationen im Museum zurückhaltend sind, ist die Zugangsschwelle offenbar gesenkt worden. Diese Menschen suchen und finden in der Tuchfabrik ein Stück ihrer eigenen Geschichte: ›wie es früher war‹, eine Erinnerung an die eigenen Geschichte, ein Stück biografische Heimat. Zweitens: Ein wesentlicher Bestandteil der Attraktivität ist die mündliche Führung (vgl. Stender 2002). Was anfangs als nachteilig erschien, erweist sich inzwischen als großer Vorteil: Die Besucher lieben die mündliche Ansprache sehr, weil damit jede Führung ganz spezifisch auf das besondere Interesse, auf die Fragen und das Sprach-Niveau der einzelnen Gruppe eingehen kann. Das beginnt bereits mit der Auswahl des passenden Besucherbegleiters. Neudeutsch gesagt: Bei jeder Führung findet eine zielgruppenspezifische Betreuung statt. Die persönliche Ansprache, die Kommunikation wird im Museum – so die bisherige Erfahrung – sehr viel mehr geschätzt als die Lektüre von Texten. Dies gilt vielleicht in besonderer Weise im Rheinland, wo das Gespräch an sich schon als ein hohes Kulturgut angesehen wird. Die

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›gute alte‹ Führung ermöglicht Einwürfe, Scherze, Gespräche, gibt die Möglichkeit, an den Erinnerungen und Erfahrungen anderer teilzunehmen und selbst etwas zu erzählen. In gewisser Weise ist die mündliche Vermittlung sogar eine Art verkehrte oder umgedrehte Oral History. So wie die Oral History es ermöglicht, dass die Erfahrungen und Erinnerungen von Menschen, die nicht unbedingt Meister des geschriebenen Wortes sind, in der Geschichtsschreibung berücksichtigt werden können, so erschließt die mündliche Vermittlung das Museum für neue, breitere Besucherkreise: Alltagsgeschichte für alle. Abbildung 9: Direkte Ansprache: Alle Besucher erhalten eine Führung

Drittens: Ich möchte mir einen Hinweis auf die Tendenzen und Perspektiven der Industriemuseen erlauben. Im Museum Tuchfabrik Müller wird eigentlich eine sehr puristische Denkmalpflege und Denkmalpräsentation betrieben. Die historische Originale werden ganz in den Vordergrund gestellt. Auf modische Spielereien, bunte Beleuchtungen, Kopfhörersysteme, virtuelle Welten, massiven Medieneinsatz und effektvolle Inszenierungen des Bestandes wird verzichtet. Denn all das ist nur schwer auf Dauer zu finanzieren, es ist technisch rasend schnell überholt und funktioniert meistens auch nicht lange. Also wird ganz auf das gesetzt, was die Museen eben besonders auszeichnet, was nur die Museen bieten können: auf das authentische Original, auf dessen Strahlkraft und Aura, die meines Erachtens durch mediale Überfrachtung

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Detlef Stender ➔ Denkmalpflege: Die Tuchfabrik Müller in Euskirchen

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nur beschädigt wird. Der Industriedenkmalpfleger Axel Föhl kritisiert zu recht, dass – vor lauter Medienspektakel und Event-Kultur – die besondere ästhetische und sinnliche Qualität, die kulturelle Bedeutung der Industriedenkmäler zunehmend ins Hintertreffen zu geraten droht, »dass der Vorrat an ehrlichem Informationsgehalt, wie er nur im echten Ding steckt und begreiflich zu machen ist, schwindet« (Föhl 2000: 24). Die Erfahrungen des hier vorgestellten Museums zeigen aber, dass – entgegen den vermeintlichen Trends – gerade die puristische Präsentationsweise die Besucher begeistern und faszinieren kann. Und ich bin mir sicher, dass das ein Trend der Zukunft sein wird. Man sollte dabei auf die Erinnerungs- und Vorstellungskraft der Besucher setzen und versuchen, ihre Gedanken, Erinnerungen und Assoziationen ein wenig ›in Schwingung zu versetzen‹. In einer Zeit, in der wir zunehmend von virtuellen Welten und unwirklichen Medien umgeben sind, gewinnen meines Erachtens die Museen zunehmend an Bedeutung, als öffentliche Schatzkammer der authentischen Realien, der Objekte. Ich glaube, dass in diesem ›Schritt zurück‹ ein wichtiger Zukunftstrend der Industriemuseen liegen dürfte – ein Trend, der finanzierbar ist und der Erhaltung von gefährdeten Kulturgut für kommende Generationen dient. Literatur Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.) (1994): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster. Branner, Walter/Götz, Kornelius/Möser, Kurt/Zweckbronner, Gerhard (1989): Industrielles Kulturgut im Museum. Fragen zur Restaurierung, Mannheim. Föhl, Axel (2000): Bauten der Industrie und Technik in Nordrhein-Westfalen, Berlin. Götz, Kornelius (2000): »Über die Kunst eine Fabrik zu restaurieren«. In: Hartwig Schmidt (Hg.), Das Konzept »Reparatur«, Ideal und Wirklichkeit, ICOMOS (=Hefte des Deutschen Nationalkomitees XXXII), München, S. 96-105. Götz, Kornelius (2001): »Dienende Zurückhaltung. Über die Restaurierung einer Tuchfabrik zur musealen Erlebniswelt«. In: bauen mit holz 12, S. 811. Götz, Kornelius (o.J.): »On the Art of Conserving a Factory«. In: Tokyo National Research Institute of Cultural Properties (Hg.), Conserving of Industrial Collections, Tokyo, S. 77-89. Karabaic, Milena (2002): »Museen für – und über – die Industriegesellschaft«. In: Stiftung Zollverein (Hg.), Darstellung von Geschichte der Arbeit im Museum, Essen. Kierdorf, Alexander/Hassler, Uta (2000): Denkmale der Industriezeitalters. Von der Geschichte des Umgangs mit Industriekultur, Berlin.

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Koesling, Volker (1999): »Wie restaurieren wir technisches Kulturgut? Eine Standortbestimmung«. In: Restauro 6, S. 446-452. Korff, Gottfried (1990): »Aporien der Musealisierung«. In: Wolfgang Zacharias (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Vergangenheit, Essen, S. 57-71. Krankenhagen, Gernot (2002): »Arbeit ist nicht darstellbar – und nun?« In: Stiftung Zollverein (Hg.), Darstellung von Geschichte der Arbeit im Museum, Essen, S. 11-20. Lambert, Norbert/Bouresh, Bettina (1991) : »Arbeit in der Erinnerung. Erfahrungen mit der Oral History bei der Rekonstruktion einer alten Fabrik – eine Methode und ihre Grenzen«. In: Archivhefte 22 – Mündliche Geschichte im Rheinland, Köln, S. 173-187. Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Industriemuseum (Hg.) (2000): Erinnerungsstücke einer Fabrikwelt. Die Tuchfabrik Müller – Katalog des Rheinischen Industriemuseums Euskirchen, Essen. Lüdtke, Alf (Hg.) (1989): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt/Main; New York. Scharrer, Manfred (Hg.) (1988): Macht Geschichte von unten. Handbuch für gewerkschaftliche Geschichte vor Ort, Köln. Stender, Detlef (2000): »Tuchfabrik Müller, Euskirchen. Arbeit an einer Fabrikwelt«. In: Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Industriemuseum (Hg.), Industriedenkmäler präsentieren sich: Drei Standorte des Rheinischen Industriemuseums, Essen, S. 31-51. Stender, Detlef (2002): »Kommunikation statt Text. Zur Informationsvermittlung im Industriemuseum und -denkmal Tuchfabrik Müller«. In: Stiftung Zollverein (Hg.), Darstellung von Geschichte der Arbeit im Museum, Essen, S. 71-75.

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Jaume Matamala ➔ »Museu de la Ciència i de la Tècnica de Catalunya«



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Das »Museu de la Ciència i de la Tècnica de Catalunya« und das industriekulturelle Erbe

Jaume Matamala Das »Museu de la Ciència i de la Tècnica de Catalunya« (mNACTEC, Katalanisches Museum für Wissenschaft und Technik) ist ein Verbund von 20 Museen, die kooperieren, um die Erinnerung an die Industrialisierung Kataloniens zu retten und wiederzuerlangen sowie das industrielle Erbe zu bewahren. Das Projekt des mNACTEC wurde mit der Einführung der Demokratie Mitte der 1970er Jahre erneut ins Leben gerufen. Die Umsetzung ähnlicher Planungen der Generalitat Republicana, die aus dem Jahre 1937 stammen, wurde damals wegen des Bürgerkriegs und der Diktatur verhindert. Zur Vorbereitung wurden der Bestand der großen europäischen Museen – etwa »Deutsches Museum« (München), »Science Museum« (London), »Arts et Métiers« (Paris) – und gleichzeitig jene katalanischen Orte, die potenziell musealisiert und besichtigt werden konnten, geprüft. Der Industrialisierungsprozess vollzog sich in Katalonien signifikant anders als in den meisten anderen Mittelmeergebieten und ist eher mit den Entwicklungen vieler nordeuropäischer Regionen vergleichbar. Er ist für das Land von grundlegender Bedeutung und war ebenso an der ideologischen und politischen Entwicklung der neuen gesellschaftlichen Klassen wie an der Entstehung künstlerischer und kultureller Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts beteiligt. Die Gründung des Museums trug also der Existenz eines wichtigen, historisch bedeutsamen industriekulturellen Erbes Rechnung. Anfang der 1980er Jahre erwarb die katalanische Regierung die Textilfabrik Aymerich, Amat y Jover, um sie zum Hauptsitz des mNACTEC zu machen, der den Status eines Nationalmuseums hat. Diese große Fabrik, die der Architekt Lluís Muncunill entworfen hatte, ist ein Juwel des europäischen Industriekulturerbes. Nach langer Restaurationszeit wurde sie im Jahr 1996 für das Publikum freigegeben, das dort nun verschiedene Ausstellungen über Energie, Transport und unterschiedliche Technologien besichtigen kann. Besonders erwähnenswert ist die im Zentrum platzierte Ausstellung, die unter dem Namen »Die Textilfabrik« präsentiert wird. Die Hauptausstellung steht also in Beziehung zum ursprünglichen Verwendungszweck des Gebäudes – ein Grundsatz, der für die meisten Museen des Verbunds gilt. Der Besuch der Ausstellung »Die Textilfabrik« führt zu den historischen Orten der Fabrik: Kohlenmeiler, Kessel, Schornstein und Dampfmaschine. Auch ist der Fabrikraum zu besichtigen, in dem die industrielle Wollverarbeitung stattfindet. Der Besucher taucht ein in ein Ambiente, in dem funktionierende Maschinen zu sehen sind und Vorführpersonal sich bemüht, die gesell-

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schaftliche Realität und Arbeitsorganisation des frühen 20. Jahrhunderts zu veranschaulichen. Das Museum bzw. die Filiale, die zum Verbund gehört, ist ein ausgewählter Ort, weil er eine wichtige Phase der katalanischen Industriegeschichte repräsentiert. Daher umfasst die Ausstellung auch eine emotionale Komponente, auf Grund derer sich die historische Bedeutung des Ortes leichter erschließen lässt. Vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren der Export von Branntwein, die Papierherstellung und die Produktion von Eisenerzeugnissen (Nägel und Waffen) von großer Bedeutung. So wird im Museu Molí Paperer de Capellades, das in einer ehemaligen Papiermühle aus dem 18. Jahrhundert untergebracht ist, Papier am ursprünglichen Ort und mit Originalgeräten wie zur damaligen Zeit hergestellt. Eine Ausstellung dokumentiert zudem die Geschichte des Papiers von den Anfängen bis zu aktuellen Herstellungsprozessen. Das Museum, das sich in Capellades, einem Ort mit 5000 Einwohnern befindet, wird jährlich von über 30.000 Menschen besucht und ist für den Ort von entsprechend großer touristischer Bedeutung. Auch wenn während des 17. und 18. Jahrhunderts in Katalonien wenig Eisenerz gefördert wurde, spielte die Herstellung von Eisennägeln und Waffen in der Eisenhütte von Ripoll eine bedeutende Rolle. Dieser Aspekt wird zukünftig im Museu Farga Palau von Ripoll zur Geltung gebracht werden. Der mNACTEC hat die Hütte erworben und ist gegenwärtig mit Ausgrabungsarbeiten und der Untersuchung vorhandener Spuren beschäftigt. Die gedruckten Baumwollstoffe, die auch als »indianische« bezeichnet werden und deren europäischer Hauptproduktionsort Barcelona war, werden im Museu de l‘Estampació de Premià de Mar gezeigt. Diese vorindustriellen Aktivitäten und der Handel mit den Produkten auf dem Landweg und (seit der Zulassung des Hafens von Barcelona zum direkten Handel mit Amerika im Jahre 1778) auch auf dem Seeweg trugen zur Herausbildung der Mentalität und zur Akkumulation des Kapitals bei, das für die Erweiterung des Industrialisierungsprozesses notwendig war. Besonders die Öffnung neuer Märkte und die Exporte ermöglichten Investitionen in neue Industriezweige, vor allem in die Textilindustrie. Katalonien verfügt über wenig Kohle, die zudem schwer zu fördern ist. Trotzdem wird der Kohlenbergbau im Museu de las minas de Cercs dargestellt, das in einem ehemaligen Kohlewerk untergebracht ist, welches sich 1000 Meter über dem Meeresspiegel im Vorpyrenäenland befindet. Als das Werk noch in Betrieb war, war der Standort des Kohlewerkes schwer zugänglich. Deshalb wurde dort eine Arbeitersiedlung errichtet, die zudem den sozialen Frieden förderte, weil der Arbeitgeber damit die totale Kontrolle über seine Angestellten behielt. Das Museum zeigt alle sozialen Aspekte der Siedlung unter besonderer Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten auf,

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wobei es sich einen Teil der Siedlungsgebäude zunutze macht. Dargestellt werden ferner alle Fortschritte und technologischen Anwendungen, die für ein Bergwerk von Bedeutung sind. Des Weiteren gilt das Interesse der Frage, welche Vor- und Nachteile der Bergbau in dieser spezifischen Region hatte. Der Museumsbesuch schließt auch eine Fahrt in das Innere des Bergwerks ein, die ebenso wie ein Gang zu den verschiedenen Orten der Siedlung, für die meisten Besucher eine der Hauptattraktionen darstellt. Kürzlich wurden in einem Tagebau in der Nähe des Museums Überreste von Dinosauriern entdeckt. In der Erwartung, dass dieser Fund das Interesse erhöht, diese Region zu besuchen und somit zur wirtschaftlichen Entwicklung der Gegend beiträgt, die bis zur Schließung der Minen zu Beginn der 1980er Jahre eine schwere Wirtschaftskrise durchmachte, wird gegenwärtig die inhaltliche Erschließung und Präsentation des Fundes für die Öffentlichkeit vorbereitet. Die Gemeinde von Cercs hat 1500 Einwohner – das Museum wurde im Jahr 2002 von über 33.000 Menschen besucht. Auf Grund des geringen Kohleaufkommens kam es in Katalonien nicht zu einer nennenswerten Entwicklung der Metallindustrie und noch viel weniger der Schwerindustrie. Mitte des 19. Jahrhunderts diente Wasserkraft als Energiequelle. An den Flüssen Ter und Llobregat, an denen es bereits Mühlen gab, wurden Textilfabriken errichtet. Viele dieser Fabriken wurden schließlich in Kolonien umgewandelt. Gegenwärtig treffen wir entlang des Llobregat, eines Flusses, der im europäischen Vergleich sehr wenig Wasser führt, mehr als 40 Textilkolonien an, die zwischen 1850 und 1900 erbaut wurden und noch bis in die 1970er und 1980er Jahre in Betrieb waren. Das stellt wahrscheinlich eine der wesentlichsten Besonderheiten der katalanischen Industrialisierung dar, und die Textilkolonien machen einen wichtigen Teil des industriekulturellen Erbes aus. Der mNACTEC fördert die Erforschung und den Erhalt der Textilkolonien, auch wenn diese gegenwärtig andere Verwendungszwecke erfüllen. Darüber hinaus hat er bereits drei Projekte in der Colonia Sedó im Bezirk Esparreguera realisiert, die mit einer Fläche von 100.000 Quadratmetern die größte Textilkolonie war, die es damals gab. Das Museum hat im ehemaligen Turbinenraum auf einer Fläche von 800 Quadratmetern ein kleines Dokumentationszentrum eingerichtet, in dem in situ die größte Turbine erhalten blieb, die während des 19. Jahrhunderts in Katalonien gebaut wurde. Der Besucher kann durch die Röhren und Tunnel, die ehemaligen Wasserstraßen gehen, die für die Erzeugung von Wasserkraft und die anschließende Rückleitung des Wassers in den Fluss benötigt wurden. Darüber hinaus werden anhand eines großen Modells der Anlage, das 1940 konstruiert wurde, die Geschichte des Ortes und die Bedeutung der Textilkolonien vergegenwärtigt. Das Dokumentationszentrum bildet so den Ausgangspunkt des Gangs

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durch die ganze Kolonie. Dort kann man erfahren, welche neuen Nutzungsmöglichkeiten durch Unternehmen geschaffen wurden, die sich neu in dem Industriegebiet angesiedelt haben. Dagegen scheint in dem Teil, in dem die Arbeiterwohnungen liegen, die Zeit seit 40 Jahren stehen geblieben zu sein. Vor kurzem beschlossen der Gemeinderat von Esparreguera und die Regierung von Katalonien, die Arbeiterhäuser wiederaufbauen zu lassen, um so den sozialen Wohnungsbau zu fördern, und der mNACTEC wurde gebeten, die Durchführung des Projektes zu überwachen. Ebenfalls am Llobregat, allerdings 50 Kilometer weiter flussaufwärts am Ende des Gemeindebezirks Puig Reig, ist, dank der Initiative einer privaten Stiftung, das Museum in der Colonia Vidal aktiv. Die Kolonie, die 1901 als letzte errichtet wurde, gehört noch der Familie der ursprünglichen Besitzer, der sehr daran gelegen ist, das Erbe zu bewahren. Hier befindet sich das Dokumentationszentrum im ehemaligen Theater. Der museale Akzent wurde auf die soziale Organisation der Siedlung und die Arbeitspläne gelegt. Zu besichtigen sind etwa eine Arbeiterwohnung, ein Fischgeschäft, ein Bankbüro, die Waschküche und die Gemüsegärten. Gezeigt wird auch die industrielle Seite der Kolonien, insbesondere eine Lagerhalle mit Webstühlen aus der damaligen Epoche. Am Ter wurde das Museu Industrial de Manlleu in der berühmten Fabrik untergebracht, die unter dem Namen »Can Sanglas« bekannt ist. Dieses Museum, das noch nicht eingeweiht wurde, wird dem Besucher vor Augen führen, welche entscheidende Rolle der Fluss als Motor der Industrie in diesen Regionen gespielt hat. Vor kurzem hat der mNACTEC ein neues Tätigkeitsfeld erschlossen: die erste moderne Zementfabrik der Iberischen Halbinsel, die Anfang des 20. Jahrhunderts am Eingang des Llobregattals errichtet wurde. Gegenwärtig kann man im Museu del Cemento Asland de Castellar de N‘Hug ein Dokumentationszentrum besuchen, in dem die Bedeutung des Zements für unsere Gesellschaft und die Besonderheiten des Ortes und der Fabrik erklärt werden. Diese wurde nur teilweise restauriert – der Rest soll als Industrieruine erhalten werden. Die verschiedenen Wissenschafts- und Technikmuseen sind in repräsentativen Gebäuden aus der Industriezeit untergebracht. So ist der mNACTEC zum Rückgrat der katalanischen Technikmuseen und zum Garanten des Erhalts des industriekulturellen Erbes geworden – bezogen auf technische Objekte, aber auch Grundstücke und Gebäude. In den letzten Jahren wurden viele katalanische Industriegebäude in Bibliotheken, Ausstellungszentren, Schulen und kulturelle Einrichtungen umgewandelt oder unter respektvoller Berücksichtigung ihrer historischen Bedeutung für neue Zwecke wiederaufgebaut. Ein großer Teil des industriellen

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Erbes ist jedoch dem Druck der Immobiliengeschäfte zum Opfer gefallen. Die Bilanz ist dennoch positiv – während vor 30 Jahren niemand vom industriekulturellen Erbe sprach, so stellt es gegenwärtig für viele der entfalteten Aktivitäten einen Mehrwert dar. Wir vom mNACTEC sind der Meinung, dass die im Rahmen unterschiedlicher Programme realisierte Kooperation und Teamarbeit mit verschiedenen Wissenschafts- und Technikmuseen für die Gegenwart wie für die Zukunft von sehr großer Effizienz sind. Das gilt auch für die transnationalen Aktivitäten, die im Rahmen internationaler Organisationen, europäischer Programme und Kooperationsabkommen (wie dem zwischen dem mNACTEC und dem Rheinischen Industriemuseum) entfaltet werden. Denn der Erfahrungs- und Wissensaustausch und die gemeinsame Arbeit bieten Vorteile, die in diesem Europa, das immer kleiner wird und in dem wir zunehmend einem gemeinsamen Erbe und gemeinsamen Besuchern verpflichtet sind, nicht ungenutzt bleiben dürfen.

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➔ Industrielle Welterbestätten zwischen Musealisierung und Zukunftsorientierung

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Reinhard Roseneck ➔ Stätte des UNESCO-Weltkulturerbes. Der Rammelsberg in Goslar



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Musealer Umgang mit einer Stätte des UNESCO-Weltkulturerbes. Der Rammelsberg in Goslar

Reinhard Roseneck Das Erzbergwerk »Rammelsberg« als UNESCO-Weltkulturerbe Das ehemalige Erzbergwerk Rammelsberg wurde im Jahr 1992 mit der zugehörigen Altstadt Goslar als erstes deutsches Industriedenkmal von der UNESCO in die Liste des Welterbes aufgenommen. Entsprechend der Welterbekonvention der UNESCO, die von fast allen Staaten unterzeichnet wurde, sind die Stätten des Welterbes zu schützen, substanziell zu erhalten und diesen – als Konsequenz dieser Forderungen – eine ihre Zukunft sichernde Funktion zu geben. Dieses impliziert erstens einen Erhaltungs-, zweitens einen Vermittlungs- und drittens einen Nutzungsauftrag: • Für jedes Weltkulturerbe ist folglich zunächst eine Erhaltungskonzeption zu entwickeln, um die entsprechende Stätte mit all ihren denkmalwerten Bestandteilen, zum Beispiel ihren Ausstattungen, ihren maschinellen Ausrüstungen, ihren Raumfassungen und vielem mehr bewahren zu können. • Aufgrund der Verpflichtung gegenüber der Völkergemeinschaft ergibt sich die Notwendigkeit, ein Vermittlungs- und Präsentationskonzept für die jeweilige Welterbestätte als ›Exponat ihrer selbst‹ zu entwickeln. • Aus der Erkenntnis heraus, dass Baudenkmale nur zu erhalten sind, wenn sie genutzt werden, ergibt sich die Erfordernis zur Erstellung eines umfassenden Nutzungskonzeptes. Wenn nun eine Welterbestätte als Museum genutzt werden soll, so hat die museale Nutzung – wie jede andere auch – zunächst und ständig dem Erhaltungs- und Vermittlungsauftrag gerecht zu werden. Mehr als jede andere Nutzung muss sich jedoch eine museale Einrichtung in einem Welterbe auf den historischen Ort mit all seinen individuellen Besonderheiten ›einlassen‹ und diesen zur Grundlage all ihres Tuns machen. Dies bedeutet, dass die musealen Aktivitäten in einem Weltkulturerbe dort ihre Grenzen finden, wo sie den authentischen Ort nicht respektieren und diesen nicht in ihre Präsentationskonzeption mit einbeziehen. Die Reduzierung einer Weltkulturerbestätte einzig auf deren bauliche Hülle, um einen ›neutralen‹ Ausstellungsbereich zu schaffen, ist ebenso verfehlt wie das ›Hineinpressen‹ von Nutzungselementen, die nur unter Zerstörung von Denkmalsubstanz zu realisieren sind. Nicht jedes historische Objekt vom Range eines Welterbes kann beispielsweise vollklimatisiert oder in vollem Umfang gesichert werden, nicht überall können

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

Restaurierungswerkstätten oder Archive, Vortragssäle, Sanitäranlagen oder großflächige ›Ausstellungsbereiche am Stück‹ geschaffen werden. Stätten des Weltkulturerbes müssen grundsätzlich in ihrer Gesamtheit zunächst einmal als ›Exponate ihrer selbst‹ begriffen und vermittelt werden. Im Ergebnis bedeutet dieses, dass im Umgang mit einem als Museum genutzten Weltkulturerbe alle denkmalpflegerischen, architektonischen und musealen Planungselemente zu einer Synthese zusammenzuführen sind. Das ›Exponat‹ Weltkulturerbe Rammelsberg Am Rammelsberg, der sowohl Wurzel als auch Motor sämtlicher politischen, wirtschaftlichen, städtebaulichen, sozialen und künstlerischen Entwicklungen nicht nur in der Stadt Goslar, sondern in der ganzen Region war, ist am und im Berg eine Vielzahl baulicher Dokumente erhalten, die ein Jahrtausend Bergbaugeschichte ›vor Ort‹ anschaulich machen. Es befinden sich dort einige der ältesten Denkmale des deutschen Bergbaus sowie ein in dieser Vollständigkeit einzigartiges Ensemble an unter- und übertägigen Anlagen. Der mittelalterliche Bergbau am Rammelsberg, der anfangs noch als Tagebau erfolgte, bewirkte eine weitläufige Haldenlandschaft, die zusammen mit jüngeren Halden heute aufgrund ihrer kargen Vegetation den Hang des Berges prägt. Die Halden des Rammelsberges, die auf das 10. Jahrhundert zurück gehen, zählen zu den ältesten Denkmalen des deutschen Bergbaus. Doch nicht nur die Topographie, auch die Pflanzenwelt am Rammelsberg wurde durch das Erzlager und den Erzabbau nachhaltig geprägt. Die Halden des Bergbaus haben die Voraussetzungen für eine einzigartige Pflanzenwelt geschaffen, die von erzhaltigen Böden abhängig ist. Neben den höheren Pflanzen wie Frühlings-Miere, Hallers Grasnelke und anderen sind es insbesondere die niederen Pflanzen, vor allem die verschiedenen Gesteins- und Bodenflechten, wie zum Beispiel die Lecidea Silacea oder die Acarospora Sinopica, die auch auf für höhere Pflanzen giftigen Substraten siedeln und die in vielen Fällen zu den größten Seltenheiten der europäischen Flechtenflora zählen. Die in großer Zahl am Hang des Rammelsberges erhaltenen Erzabfuhrwege reichen ebenfalls in die Frühzeit des dortigen Bergbaus zurück. Das in den Gruben geförderte Erz wurde über diese Wege zu den Hüttenplätzen transportiert. Durch die starke Beanspruchung der Wege schnitten diese immer tiefer in den Fels ein. Hatte sich ein Weg so tief in den Berg eingeschnitten, dass er nicht mehr benutzt werden konnte, so wurde unmittelbar daneben ein neuer Weg ausgefahren. Auf diese Weise entstanden am Hang des Rammelsberges Dutzende von nebeneinander liegenden Hohlwegen, die heute noch deutlich im Gelände erkennbar sind. Da die Gruben, dem Erz folgend, immer tiefer in den Berg wuchsen, be-

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Reinhard Roseneck ➔ Stätte des UNESCO-Weltkulturerbes. Der Rammelsberg in Goslar

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gann das in diese eindringende Wasser zum entscheidenden Problem für den Fortgang des Bergbaus zu werden. Weil ein natürlicher Wasserabfluss auf einem möglichst tiefen Niveau aus dem Berg heraus die sinnvollste Lösung war, wurde um 1150 der »Rathstiefste Stollen« aufgefahren, der noch vollständig erhalten und funktionsfähig ist. Dieser ca. 1000 Meter lange Wasserlösungsstollen, der in etwa 100-jähriger Arbeit mit Schlägel und Eisen hergestellt wurde, ist eines der ältesten erhaltenen Stollenbauwerke des deutschen Bergbaus. Als nach etwa einem Jahrhundert der Abbaubetrieb unter das Niveau des »Rathstiefsten Stollens« vorgedrungen war, wurde um 1250, mitten im Berg, der »Feuergezäher Schacht« auf ca. 22 Metern abgeteuft, um über diesen, mit Hilfe eines Wasserrades, die Grubenwasser zu heben. Zwar ist der Schacht heute verfüllt, doch hat sich die darüber befindliche Radstube erhalten. Es handelt sich bei dieser um einen aus statischen Gründen mit Naturstein ausgemauerten und mit spitzbogigem Gewölbe versehenen Raum von 4,85 m Breite, 7,20 m Länge und 7,35 m Höhe. Das »Feuergezäher«-Gewölbe ist der älteste ausgemauerte Grubenraum Europas. Der bei den mittelalterlichen Gruben am Hang des Rammelsberges um 1500 errichtete »Maltermeister Turm«, über dessen rundem Schaft aus Bruchstein ein hohes, kegelförmiges Schieferdach aufsitzt, diente ehemals zur Überwachung der Gruben. Beim »Maltermeister Turm«, der seit 1578 als Anläuteturm genutzt wurde, handelt es sich um das älteste erhaltene Tagesgebäude im deutschen Bergbau. Da die Gruben in immer größere Tiefen vordrangen, wurde vom Rat der Stadt Goslar und durch Herzog Julius von Braunschweig und Wolfenbüttel zur Lösung der erneut auftretenden Wasserprobleme in den Jahren 1486 bis 1585 der so genannte »Tiefe-Julius-Fortunatus-Stollen« aufgefahren. Der ca. 2600 Meter lange Wasserlösungsstollen, der 40 Meter tiefer als der »Rathstiefste Stollen« im Rammelsberg einkommt, tritt aus einem tiefliegenden Mundloch in den Wallanlagen der Stadt nach übertage aus. Nicht weit hinter dem Mundloch diese Stollens wurde das in einem offenen Graben geführte, stark eisensulfat-, also ockerhaltige Grubenwasser in die um 1590 angelegten Ockersümpfe geleitet, wo der Ockerschlamm zur Verwendung als Färbemittel gesammelt wurde. Die vier hintereinander angeordneten Absetzteiche in der Nähe des »Breiten Tores« sind erhalten geblieben. Als Gemeinschaftsleistung von Stadt Goslar und Herzog Heinrich dem Jüngeren wurde im Jahr 1561 im Tal zwischen Rammelsberg und Herzberg der Herzberger Teich angelegt, der die Aufgabe hatte, mit dem gespeicherten Wasser in niederschlagsarmen Zeiten die Wasserräder im und am Berg kontinuierlich mit Aufschlagwasser zu versorgen. Nachdem der Bergbaubetrieb bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ohne

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nennenswerte Höhen und Tiefen verlaufen war, führte der Oberbergmeister Johann Christoph Roeder zwischen 1764 und 1810 am Rammelsberg grundlegende Umgestaltungen sowie entscheidende betriebliche Verbesserungen durch. So begann Roeder damit, die beim Erzabbau entstandenen Hohlräume wieder zu verfüllen, um die Einsturzgefahr des Grubengebäudes zu verringern. Zu diesem Zweck richtete er übertage, oberhalb des »Maltermeister Turmes«, den noch heute vorhandenen »Communion-Steinbruch« ein, dessen Steine als Versatzmaterial, aber auch als Baumaterial in die Grube geschafft wurden. Das Kernstück der Reformen Roeders war jedoch die Erneuerung des gesamten Wasserwirtschaftssystems, das heute eines der am besten erhaltenen und weitläufigsten untertägigen Wasserkraftsysteme Europas ist. Seine zwei originalen Wasserräder, jeweils allein genommen, zählen zu den bedeutendsten Denkmälern des deutschen Bergbaus. Nachdem Roeder 1768 den Herzberger Teich durch eine Erhöhung der Staumauer erheblich vergrößert hatte, leitete er dessen Wasser in den später nach ihm benannten »Roeder-Stollen« ein. Durch das Stollenmundloch, ein kleines, aus Naturstein gefertigtes Portalbauwerk mit einer rundbogigen, keilsteingerahmten Öffnung, floss das Wasser in das Stollensystem hinein und beaufschlagte zunächst das Wasserrad in der »Kanekuhler KehrradStube«, das im Gegensatz zur Radstube nicht mehr im Original erhalten ist, sondern an dessen Stelle eine funktionsfähige Rekonstruktion errichtet wurde. Als nächste Station erreichte das Wasser die »Serenissimorum KehrradStube«, in der das originale Kehrrad mit einem Durchmesser von neun Metern aus Roeders Zeit erhalten ist. Das Wasser floss weiter zum unmittelbar unter dem Kehrrad aufgestellten Kunstrad, das lediglich einen Schaufelkranz besitzt, da es nur kontinuierlich in eine Richtung zu drehen hatte, um die Pumpen im Schacht zu betätigen. Dieses Kunstrad mit einem Durchmesser von sechs Metern stammt ebenfalls aus Roeders Zeit. Die letzte Anlaufstelle des Aufschlagwassers, bevor es durch den »Rathstiefsten Stollen« wieder aus dem Berg herausfloss, war das untere Kunstrad, das im Gegensatz zur Radstube nicht mehr erhalten ist. Die von Roeder entwickelten Künste dienten bis 1906 zur Wasserlösung und Erzförderung. Ab diesem Zeitpunkt wurden sie überflüssig, da der gesamte Bergbaubetrieb auf elektrische Energie umgestellt worden war und in diesem Zusammenhang neue Übertageanlagen errichtet worden sind. Mit der in neoromanischen Formen gestalteten Energiezentrale ist das bedeutendste dieser Gebäude erhalten geblieben. Eine entscheidende Maßnahme zur Effektivierung des Bergbaubetriebes war die Schaffung eines zentralen Hauptförderschachtes. Tief im Berginnern, 550 Meter vom Mundloch der Tagesförderstrecke entfernt, wurde ab 1905 der so genannte »Richtschacht« zunächst auf 300 Meter Tiefe niedergebracht, der mit seiner kompletten Ausstattung bewahrt ist. Überhaupt ist in

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den weitläufigen, erhaltenen Teilen des Grubengebäudes die stationäre und die mobile technische Ausstattung jeweils vollständig erhalten geblieben. Gerade darin liegt der besondere Wert des Weltkulturerbes Rammelsberg, wie der eines jeden technischen Kulturdenkmales. Aufgrund ihrer äußerst feinen Verwachsung war eine Aufbereitung der Rammelsberger Erze und damit die Erzielung einer optimalen Erzqualität bis zum Jahr 1935 nicht möglich. Das Erz wurde bis zum Einsatz eines neuen Aufbereitungsverfahrens, der so genannten »Flotation«, äußerst unökonomisch, da lediglich grob vorsortiert, zu den Hütten transportiert. Als dieses neue Aufbereitungsverfahren auch am Rammelsberg eingesetzt werden konnte, begann die letzte, großangelegte Umstrukturierungsphase des Bergwerkes. Der Architekt Fritz Schupp, der zu den bedeutendsten deutschen Industriebaumeistern des 20. Jahrhunderts zu zählen ist, begann 1935 zusammen mit seinem Partner Martin Kremmer den Bau völlig neuer Übertageanlagen. Die Architekten standen dabei vor der schwierigen Aufgabe, ihre Architektur sowohl den technischen Vorgängen als auch den reizvollen landschaftlichen Gegebenheiten entsprechend zu gestalten. Als besonderes Problem erwies sich dabei die Hanglage des Neubaukomplexes. Die architektonische Lösung ist aus heutiger Sicht ohne Einschränkungen als herausragend zu bewerten. Am höchsten Punkt der Anlage erhebt sich das 1937 errichtete Fördergerüst des Rammelsbergschachtes, das teilweise in die quer zum Hang liegende Schachthalle eingebaut ist. Darunter befindet sich das Kernstück der gesamten Übertageanlagen, die Hangaufbereitungsanlage, die sich in abgetreppter Form mit vier nach unten an Breite zunehmenden Baukörpern bis zum oberen Zechenplatz erstreckt. Von der ersten Verfahrensstufe, über alle Aufbereitungsstufen hinweg, bis zur Verladung des fertigen Produktes, folgte das Erz in der neuen Aufbereitungsanlage dem natürlichen Gefälle und nutzte auf diesem Weg einen Höhenunterschied von 48 Metern aus. Das beeindruckende Bild der sich an den Hang des Rammelsberges schmiegenden Aufbereitungsanlage mit ihren in Stufen übereinander angeordneten Baukörpern, deren Ähnlichkeit mit Lagergebäuden die Architekten mit zwei gegen den Hang gestellten Giebeln optisch entgegenwirkten, wird durch die im Tal anschließenden Bauten noch verstärkt. Diese wurden gestalterisch in die Gesamtanlage mit einbezogen und so gruppiert, dass ein cour d’honneur, also ein Ehrenhof entstand. Die hohe architektonische Qualität der Gesamtanlage wird auch dadurch deutlich, dass sich sämtliche Gebäudeteile bezüglich ihrer Gestaltung sowie der verwendeten Materialien zu einer harmonischen Einheit zusammenziehen. Den Architekten Schupp und Kremmer ist es gelungen, ohne die technischen Aufgaben der Gebäude zu verleugnen, am Rammelsberg eine der baukünstlerisch beeindruckendsten Bergwerksanlagen des 20. Jahrhunderts zu schaffen. Von besonderer Bedeutung ist ferner, dass nicht nur untertage, sondern

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auch in den Anlagen übertage die gesamte maschinelle und sonstige Ausstattung mit sämtlichen Fördermaschinen, den Grubenfahrzeugen, den Aufbereitungsmaschinen und vielem anderen mehr, erhalten geblieben ist. Bei seiner Stillegung im Jahr 1988 war der Rammelsberg mit weit über 1000-jährigem Bergbaubetrieb das älteste ununterbrochen betriebene Metallerzbergwerk der Welt. Am Rammelsberg haben sich auf engstem Raum Denkmale des Bergbaus erhalten, die diesen seit seiner ersten Blüte im Hochmittelalter nahtlos bis in die heutige Zeit mit all seinen kulturellen Auswirkungen vor Ort nachvollziehbar machen. Kein anderes europäisches Bergwerk besitzt einen qualitativ und quantitativ vergleichbaren Bestand an Bergbaudenkmalen, der zudem eine derart lange Zeitspanne repräsentieren kann. Das geschilderte komplexe System eines mit und durch seine Denkmalsubstanz zehn Jahrhunderte repräsentierenden Bergwerkes steht als gesamter Organismus, also auch mitsamt seinen stationären und mobilen technischen Ausstattungsteilen als durch Landesgesetz geschütztes Ensemble unter der Obhut der UNESCO. Das Weltkulturerbe Rammelsberg als Museum Im Rahmen eines 1997 erarbeiteten, umfassenden Gesamtkonzeptes wurde in den Jahren bis 2003 der gesamte Entwicklungsprozess des Weltkulturerbes Rammelsberg auf der Grundlage der eingangs dargestellten denkmalpflegerischen, architektonischen und musealen Synthese durchgeführt. Basis der denkmalpflegerisch-musealen Konzeption des Weltkulturerbes Rammelsberg ist der gesamtkulturelle Bezugsrahmen, in den der Rammelsberg sowohl als Dokument des Bergbaus als auch als Motor gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen zu stellen ist. Thematischer Gegenstand des Museums ist die Geschichte der Arbeit im Metallerzbergbau und die Geschichte des Erzbergwerks Rammelsberg von den Anfängen bis zur Gegenwart mit dessen Einflüssen und Wechselwirkungen auf Kultur und Gesellschaft. Eine Stätte wie das Weltkulturerbe Rammelsberg als museale Einrichtung unterscheidet sich grundsätzlich vom Technik- bzw. Industriemuseum mit breitem, standortunabhängigem Themenspektrum: Denkmale der Industriekultur, deren Erhaltung als Denkmalgattung mit ihren technischen und maschinellen Ausstattungen in situ nur selten möglich ist, obwohl diese wesentlich zur Schaffung der materiellen Voraussetzungen für jegliche kulturelle Entwicklung beigetragen haben, werden in der Regel – wenn überhaupt – als ausgeräumte bauliche Hüllen ohne historischen Inhalt erhalten. Nur besondere Ausrüstungen (Maschinen, Handwerkszeuge, Raumausstattungen etc.) werden bewahrt und gegebenenfalls in entsprechenden Museen zusammen-

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geführt. Diese museale Präsentation von Sammlungen kann aber letztlich immer nur eine Notlösung sein, da die ausgestellten Objekte stets aus dem Zusammenhang herausgelöst, also in die räumliche Isolation versetzt werden. Dort vermitteln sie dem Betrachter aber nur noch einen geringen Teil derjenigen Informationen, die er am originalen Standort, im originalen Ambiente hätte erhalten können. Ein derartiges Herauslösen von Objekten aus ihren Sachzusammenhängen gibt es am Weltkulturerbe Rammelsberg nicht. Betriebseinrichtung und Museum sind völlig identisch. Anhand des originalen Bergwerks kann den Besuchern eine ihnen bisher unbekannte, authentische Arbeitswelt zugänglich und verstehbar gemacht werden. Aus diesem Grund wurden alle für das Museumsvorhaben umzunutzenden Gebäude und Einrichtungen soweit wie nur möglich im Original erhalten bzw. auf schonende Art restauriert. Der Besucher erhält so die Möglichkeit, an den über- und untertägigen historischen Originalschauplätzen 1000 Jahre Rammelsberger Bergbaugeschichte abschreiten und nacherleben zu können. Am Rammelsberg holt sich das Museum also nicht den Museumsgegenstand ins Haus, sondern es präsentiert sich, genau umgekehrt, innerhalb des Objekts und aus ihm heraus. Das Bergwerk selbst ist das Objekt der Anschauung – das Exponat. Nicht nur die technische Entwicklung, sondern auch die soziokulturellen Auswirkungen des Bergbaus werden anhand der erhaltenen Montandenkmale, der durch den Bergbau bewirkten anthropogenen Veränderungen der Landschaft sowie der mittel- und unmittelbaren Einflüsse des Bergbaus auf die Stadt Goslar dargestellt. Das Exzeptionelle des Projektes ist dabei die Tatsache, dass die vielfältigen genannten Aspekte mittels der im Erzbergwerk selbst, am Hang des Rammelsberges sowie in der Altstadt von Goslar erhaltenen baulichen und sonstigen Sachzeugen des historischen Montanwesens vermittelt werden. Es handelt sich also in erster Linie nicht um das herkömmliche Prinzip der ausschließlich ›musealen‹ Wissensvermittlung durch thematische Ausstellungen, sondern um den Ansatz, Geschichte dort darzustellen und erlebbar zu machen, wo sie stattgefunden hat. Da die Kulturdenkmale Bergwerk, Landschaft und Altstadt dabei die Rolle als ›Exponate übernehmen, können sie, ohne dass sie inszeniert werden müssten, ›ungefiltert‹ und auf authentische Art und Weise in ihrem historischen Kontext stehend, Informationen transportieren. Die historischen Sachzeugen vermitteln vor Ort, aus dem historischen Kontext heraus, über sich selbst oder über die mit ihnen verbundenen Menschen eine Fülle von Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse vermitteln sich zwar unmittelbarer und eindringlicher als über Sekundärinformationen, doch ohne derartige kommt auch diese Vermittlungsform nicht aus. In vielen Fällen sind nämlich weitere, vertiefende oder in Zusammenhänge einzuordnende Informationen notwendig, um ein umfassendes Geschichtsbild zu erhalten. So

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wurden auch am Rammelsberg Ausstellungssegmente mit räumlichem und thematischem Bezug zum entsprechenden Ort oder Objekt installiert. Dies geschah allerdings nur dort, wo sie erforderlich waren und ohne, dass die unmittelbare Aussagekraft der authentischen Orte oder Objekte über wie unter Tage optisch beeinträchtigt wurden. Das reale Erleben wurde an den einzelnen authentischen Orten, aber auch in den zentralen und dezentralen Ausstellungen durch die verschiedensten Medien ergänzt. Ziel war, das Erzbergwerk Rammelsberg, das durch die Stilllegung eine seiner signifikantesten Eigenschaften, nämlich seine historische Nutzung, verloren hat, für heutige und künftige Besucher wieder zum Sprechen zu bringen. Die denkmalpflegerisch-musealen Umgangsformen Der denkmalpflegerisch-museale Umgang mit dem ehemaligen Erzbergwerk Rammelsberg wurde darauf ausgerichtet, sämtliche Bestandteile unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten zu restaurieren, zu sanieren und zugleich für den Besucherverkehr des Museums und Besucherbergwerks herzurichten. Die Erhaltung und Darstellung der ursprünglichen Funktionen des Erzbergwerks über und unter Tage standen dabei im Vordergrund. Räume und Ausstattungen tragen durch jahrzehntelange Benutzung deutliche Gebrauchspuren, die, wie die Gebäude selbst, als »Dokumente der Arbeitswelt« erhalten und gezeigt werden. Unter diesen Voraussetzungen wurden die folgenden Planungs- und Baumaßnahmen an den Gebäuden des Erzbergwerks durchgeführt: • Baubestandsuntersuchungen, um Kenntnisse über den Bauzustand und die Sicherheit der Gebäude zu erhalten; • Bausicherungen, um durch sofortige Reparaturmaßnahmen den Bestand vor möglichem Verfall zu bewahren; • Sanierungen, um die Standsicherheit geschädigter Baukonstruktionen wiederherzustellen und die technische Ausrüstung der Gebäude (Heizung, Strom etc.) in Funktion zu erhalten; • Umnutzungen für neue Funktionen des Erzbergwerks, um die Räume behutsam an ihre geänderten Aufgaben als Museum anzupassen. Ziel sämtlicher Restaurierungsmaßnahmen an allen über- und untertägigen Bestandteilen des Rammelsberges war es, diese auch nach zum Teil erheblich in den baulichen Bestand eingreifende Maßnahmen in Substanz und Aussehen so zu belassen wie vor der Sanierung. Die Erhaltung sämtlicher Gebrauchsspuren an Gebäuden und Maschinen war stets oberste Prämisse. Es wurde keine gestalterische ›Aufwertung‹ durch eine ›Runderneuerung‹ angestrebt, um ein Gebäude wieder wie neu erscheinen zu lassen. Ziel aller

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Restaurierungsmaßnahmen bei sämtlichen Gebäuden des ehemaligen Erzbergwerks Rammelsberg, und zwar einschließlich ihrer Ausstattungen, war stets deren authentische Erhaltung zum Zwecke der musealen Präsentation im überlieferten Originalzustand. Die Besucher sollten sicher sein, dass sie eine historische Arbeitswelt erleben, und zwar eine Arbeitswelt, die sich tatsächlich in diesem Zustand befunden hat und die nicht durch rekonstruierende Kunstgriffe in eine bestimmte Erscheinung versetzt wurde. Da der Rammelsberg einer Doppelfunktion als UNESCO-Weltkulturerbe und als museale Einrichtung gerecht werden muss, wurde bei der Umnutzung konsequent das folgende denkmalpflegerisch-museales Konzept verfolgt: Einerseits wurde das Bergwerk mit all seinen Bestand- und Ausstattungsteilen originalgetreu erhalten, andererseits waren besuchergerechte Veränderungen erforderlich. Da bei der Besichtigung des Besucherbergwerkes diesem alle Elemente eines in Produktion stehenden Betriebes fehlten, mussten die ehemaligen Funktionen und Aufgaben museumsdidaktisch vermittelt werden. Dieses galt ebenso für die museale Darstellung der weit über 1000jährigen Geschichte des Rammelsberger Bergbaus. Oberstes Prinzip bei den behutsamen architektonischen Eingriffen in die Denkmalsubstanz des Bergwerks war es, die charakteristischen Architekturen der Industrie und Technik mit ihren ausgeprägten Gebrauchsspuren in ein neues Konzept des Fortbestandes einzubringen. Die notwendigen Veränderungen wurden dabei ganz bewusst als neue Hinzufügungen kenntlich gemacht. Denn nur wenn diese ›Nahtstellen‹ als jene Orte, an denen sich alte und neue Funktionen mit ihren verschiedenen Architekturen begegnen, nicht verwischt werden, bewahrt das Baudenkmal seine Qualität als historisches Dokument. Nach Umsetzung dieses »Zwei-Schichten-Konzeptes« sollte jeder Besucher sicher sein können, dass alles, was am Rammelsberg alt aussieht, auch tatsächlich alt ist. Er sollte an jeder Stelle über und unter Tage in der Lage sein, die authentische, substanziell erhaltene, »historische Schicht« des Bergwerks von der neu hinzuaddierten museums- oder nutzungsbedingten »architektonischen Schicht« zu unterscheiden. Nachahmungen in historisierenden Formen wurden am Rammelsberg grundsätzlich vermieden, denn durch Anpassung an das Alte oder dessen Imitation wäre die historische, echte Substanz entwertet und der Betrachter getäuscht worden. Obwohl neue Architekturelemente stets konsequent neben die historische Architektur gestellt wurden, wurde ebenso versucht, beide Elemente durch architektonisch-gestalterische ›Berührungspunkte‹ miteinander in Beziehung zu bringen, sodass sie sich letztlich wie selbstverständlich ergänzen. Unter diesen Gesichtspunkten wurden sowohl alle neuen Architekturelemente als auch die gesamte Ausstellungsarchitektur speziell für den Rammelsberg entwickelt. Letztere wurde vollständig in objekt- und themenbezo-

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gener Gestaltung individuell entworfen und hergestellt. Der Gestaltungsidee lag stets die Idee des jeweiligen authentischen Ortes zugrunde. Das denkmalpflegerisch-museale Vermittlungskonzept Das denkmalpflegerisch-museale Vermittlungskonzept sah vor, das Bergwerk über und unter Tage als ›Exponat seiner selbst‹ zu behandeln und Geschichte, wo immer möglich, am authentischen Ort zu vermitteln. Diese Grundstruktur war zusätzlich durch ein miteinander verwobenes System von Ausstellungen zu begleiten und sollte schließlich auch Kulturlandschaft und Goslarer Altstadt in das gesamtkulturelle Vermittlungssystem mit einbeziehen. Damit wurde beim Weltkulturerbe Rammelsberg der Ansatz realisiert, Kulturdenkmale nicht mehr isoliert, sondern im gesamtkulturellen Kontext zu betrachten und zu behandeln, also im inhaltlichen Verbund mit Landschaft und Siedlung. Dies wurde durch den Einsatz traditioneller, aber auch speziell entwickelter didaktischer Medien unterstützt: In zentralen Ausstellungen, in dezentralen Ausstellungsbausteinen und an authentischen Geschichtsorten wurden die mit Hilfe ›klassischer‹ Ausstellungsmedien vermittelten Informationen durch kreative Elemente vertieft und ergänzt. Diesem Vermittlungskonzept lag die Erkenntnis zugrunde, dass insbesondere am konkreten historischen Ort oder Objekt assoziative Vorstellungen beim Betrachter in Gang gesetzt werden, die im Verbund mit weiterführenden, vertiefenden Medien auf besonders unmittelbare Weise geschichtliche Zusammenhänge und Ereignisse vermitteln. Die katalytische Wirkung des authentischen Ortes war das Fundament für den innerhalb des gesamten UNESCO-Weltkulturerbes verfolgten Ansatz kultureller Bildungsarbeit. Dieser Teil des Gesamtprojektes wurde als ein »Exponatgebäude« betrachtet und durch vielfältige »Exponatbausteine« zu einem in sich geschlossenen, aufeinander abgestimmten und homogenen Ganzen gefügt. Den inhaltlichen roten Faden stellte stets der historische Bergbau am Rammelsberg dar, der bis in die jüngste Vergangenheit hinein Motor der Entwicklung der gesamten Region war. Mit diesem Bergbau hängt jeder einzelne Projektbaustein des »Exponatgebäudes« mittel- oder unmittelbar zusammen. In einem umfassenden musealen Gesamtkonzept wurde die oben skizzierte Grundstruktur detailliert ausgearbeitet und konkretisiert. In unterschiedlichen didaktischen Einzelkonzepten wurden darin die zur Anwendung kommenden Vermittlungs- und Präsentationsformen getrennt für Besucherbergwerk, Museum, Kulturlandschaft und Altstadt dargelegt. Ziel der didaktischen Konzeption war, die Besucher mit allen Sinnen Geschichte erfahren und begreifen zu lassen. Dem Leitthema »Bergbau (und damit gleichbedeutend Arbeit) als Kulturträger« folgend, wurde in vielen Bereichen der Übertageanlagen, zum Teil in

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Maschinenhallen, ein System miteinander verwobener Ausstellungen integriert, in dem unterschiedlichste Themen behandelt wurden, die aber allesamt mit dem Rammelsberg in Verbindung standen. Die Maschinenhallen wurden mitsamt ihrer technischen Ausstattung zum Teil zu Ausstellungshäusern umgestaltet, ohne sie ihres Charakters als Dokumente der Industriekultur zu berauben. Zu den Themen gehörten Bereiche der Arbeits- und Sozialgeschichte, der Technik- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch Themen aus den Bereichen Politik, Städtebau, Religion, Kunst, Ökologie, Geologie, Flora oder Fauna – um nur einige zu nennen. Um Textinformationen auf das allernötigste zu beschränken, wurden im Rahmen des differenzierten Informations- und Vermittlungskonzeptes die erforderlichen Sachinformationen, aber auch Hörspiele oder Hörbeispiele über ein interaktives Audio-System vermittelt, bei dem die Besucher selbst entscheiden können, ob sie eine Information abrufen wollen. Die Umsetzung der denkmalpflegerisch-musealen Gesamtkonzeption Die konkrete Umsetzung der denkmalpflegerisch-musealen Gesamtkonzeption bedeutete, die inhaltlichen und didaktischen Konzepte im Rahmen eines umfassenden Masterplans in ein zusammenhängendes Funktions- und Raumprogramm für das gesamte Weltkulturerbe über und unter Tage zu integrieren. Diese Gesamtplanung ihrerseits wurde aufgegliedert in einzelne »Museumsbausteine«, die nach dem Baukastensystem in unterschiedlicher Weise, je nach Prioritätensetzung und Finanzierbarkeit, untereinander kombiniert wurden. So konnte auf sich ändernde Rahmenbedingungen flexibel reagiert werden, ohne die Gesamtplanung zu gefährden. Aufgrund des Einflusses, den das ehemalige Erzbergwerk Rammelsberg als Kulturträger sowohl auf die Entwicklung der Goslarer Altstadt als auch auf die Kulturlandschaft des Rammelsberges ausgeübt hat, die durch die montane Tätigkeit in all ihren Facetten geprägt wurde, konnte das Besucherbergwerk und Museum nicht vor den Werks- bzw. Museumstoren enden. Auch diesem Umstand wurde mit dem Konzept Rechnung getragen. Entsprechend der ›Museumsphilosophie‹ die auf die Vermittlung von Gesamtstrukturen, von ›Geschichte im Zusammenhang‹, ausgerichtet war, wurden die vor den Toren des Bergwerks gelegenen Bereiche voll in das Vermittlungskonzept des Rammelsbergs einbezogen. Ziel war es, die Besucher in der Landschaft sowie auch in der Altstadt in die Lage zu versetzen, die montanhistorischen Spuren zu erkennen und zu erfahren. Sowohl die Kulturlandschaft Rammelsberg als auch die Altstadt Goslar wurden als Bestandteile der musealen Gesamtkonzeption begriffen. So wurde beispielsweise ein mittelalterliches Bergmannshaus im alten Bergmannsviertel der Altstadt von Goslar

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unter didaktischen Gesichtspunkten restauriert und gestaltet, um als Außenstelle des Rammelsberges die bergmännischen Wohn- und Lebensverhältnisse am authentischen Ort zu thematisieren. Ferner wurden montanhistorische Routen eingerichtet, die sich zum Beispiel mit der bergmännischen Wohnkultur, mit Religiosität und Sozialwesen oder mit dem Thema Kunst und Bergbau beschäftigen. Eine dieser Routen führt an den bedeutenden Sachzeugen des mittelalterlichen Rammelsberger Bergbaus vorbei und stellt damit die Verbindung von der Altstadt zum Bergwerk her. Als ›Museum vor dem Museum‹ wurde ein Rundweg zu den montanhistorischen Stätten am Rammelsberg angelegt, der in der Kulturlandschaft Rammelsberg die Symbiose aus Kultur und Natur deutlich macht. Bis zum Jahr 2003 konnten die meisten Ziele der im Jahr 1997 formulierten denkmalpflegerisch-musealen Gesamtkonzeption in einem gewaltigen Kraftakt erreicht werden, der mit der Beteiligung des Weltkulturerbes Rammelsberg als »Weltweites Projekt der EXPO 2000« verbunden war. Das Programm des Rammelsberges als Museum umfasste im Jahr 2003: • ca. 20.000 Quadratmeter im Originalzustand präsentierte Bereiche der Übertageanlagen, fünf Ausstellungshäuser mit Ausstellungen auf ca. 7000 Quadratmeter Fläche, und zwar jeweils in kreativer Auseinandersetzung mit den erhaltenen maschinellen Ausstattungen; • eine eineinhalbstündige Führung mit dem Titel: »Seilfahrt und Erzaufbereitung«; • eine Fahrt im originalem Förderkorb durch den Schacht mit anschließendem, dem Aufbereitungsprozess folgendem Weg durch die Erzaufbereitungsanlage mit darin in Betrieb vorgeführten Maschinen des 20. Jahrhunderts; • eine einstündige Führung mit dem Titel: »Grubenbahnfahrt«, eine Einfahrt mit der historischen Grubenbahn und tief im Berg stattfindenden Demonstrationen authentischer Bergbaumaschinen der Mitte des 20. Jahrhunderts; • eine einstündige Führung mit dem Titel: »Feuer und Wasser«: ein Weg, dem ehemals in den Berg geleiteten Wassers durch das Roeder-StollenSystem des 18. Jahrhunderts folgend, vorbei an drei untertägigen, zum Teil betriebenen Wasserrädern; • »eine vierstündige Abenteuerführung«, eine Erkundung des vollständig erhaltenen, durch Vitriolbildung leuchtend bunt schillernden, um das Jahr 1150 geschaffenen »Rathstiefsten Stollens« sowie weiterer mittelalterlicher Bergwerksbereiche. Ferner wurde ein Museumsrestaurant mit 200 Plätzen und ein Museumsshop

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eingerichtet sowie eine museale Infrastruktur geschaffen, die auf ein international positioniertes Museum ausgerichtet wurde. Als Ergebnis der vorangestellten Ausführungen ist festzustellen, dass eine UNESCO-Weltkulturerbestätte grundsätzlich dann angemessen als Museum genutzt wird, wenn dieses das historische Kulturgut als ›Exponat seiner selbst‹ betrachtet und behandelt, also alle aus konservatorischen, infrastrukturellen und sonstigen musealen Gründen notwendigen architektonischen Maßnahmen im kreativen und behutsamen Dialog mit dem Bestand erfolgen. Die an einem UNESCO-Weltkulturerbe praktizierten Erhaltungs-, Umgangsund Vermittlungsformen können letztlich nur dann zu einem angemessenen und überzeugenden Ergebnis führen, wenn sie auf einer konsequenten Synthese denkmalpflegerischer und musealer Aspekte basieren.

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Norbert Mendgen ➔ Hochofenanlage »UNESCO-Weltkulturerbe Völklinger Hütte«



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Erhaltung und Nutzung der Hochofenanlage »UNESCO-Weltkulturerbe Völklinger Hütte«

Norbert Mendgen 1994 erfolgte die Anerkennung der Völklinger Hütte – bestehend aus sechs Hochöfen zur Roheisenherstellung inklusive der dazugehörenden Kokerei, Sinteranlage, Gebläsehaus, Möllerhalle mit dem Erzsilo sowie der gesamten Ausstattung und dem Gleis- und Wegenetz – zum UNESCO-Weltkulturerbe (vgl. Mendgen 2004). Sie war ab 1882 von dem Industriellen Hermann Röchling zur Erzeugung von Roheisen aufgebaut worden und ist heute eine vielteilige Industrieanlage, die ca. 200.000 Quadratmeter umspannt. Acht Jahre zuvor, 1986, ist sie – eine Woche vor ihrer Stillegung – als Industriedenkmal ausgewiesen worden. Ihr materieller Wert errechnete sich zu jenem Zeitpunkt aus dem Schrottpreis der Anlage minus Abriss- und Entsorgungskosten. Dies ergab einen erheblichen Negativwert, ein Hauptargument, das neben dem Denkmalwert (vgl. Mendgen 1989, 1992) in der Anfangszeit gegen einen Abriss sprach. Bereits 1988 war die Anlage für die Welterbeliste als Zeuge der Zweiten Industriellen Revolution und bis dahin jüngstes Denkmal vorgeschlagen worden, denn ihre herausragende technikhistorische Bedeutung sowie ihre Vollständigkeit und Unversehrtheit sind einzigartig.1 Vergleicht man das Alter der Anlage und die kurze Zeit von der Ausweisung als Denkmal bis zur Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe mit der Geschichte der anderen Weltkulturerben, handelt es sich hier um eine beispiellose Karriere. Abbildung 1: Die Hochofenanlage (Roheisenerzeugung) kurz vor ihrer Stilllegung 1986

Seit der Anerkennung als Weltkulturerbe 1994 unterstehen die zur Roheisenerzeugung errichteten Anlagenteile der Völklinger Hütte dem besonderen Schutz der Bundesrepublik Deutschland, die sich mit der Unterzeichnung der Welterbekonvention 1972 verpflichtet hat, ihre Denkmäler von »außerge-

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wöhnlicher weltweiter Bedeutung« nicht nur zu schützen, sondern auch »alles in ihren Kräften stehende zu tun«, um sie für künftige Generationen zu erhalten. Abbildung 2: Das Weltkulturerbe Völklinger Hütte bei Nacht, wie es sich seit 1999 präsentiert. Die ehemaligen Revisionswege der beiden Winderhitzer des Hochofens Nr. 5 werden seit 2002 als Aussichtplattform genutzt.

In dem folgenden Bericht sollen die Erhaltung, Nutzung sowie einige Bauprojekte des UNESCO-Weltkulturerbes Völklinger Hütte, »Europäisches Zentrum für Kunst und Industriekultur« erörtert werden. Wer das Weltkulturerbe Völklinger Hütte schon einmal besichtigt hat, weiß, dass man die Größe und den außergewöhnlichen Eindruck nicht auf ein paar Seiten mit Fotos ausreichend beschreiben kann. Insoweit können hier nur einige dem Verfasser wichtige Punkte aufgezeigt werden. Erhaltungs- und Nutzungsstrategie Die Erhaltungsstrategie der Hütte ist mehrstufig angelegt (vgl. Mendgen 1988) und reicht von der Sicherung des Bestandes über die Sicherung des Dokumentations- und Denkmalwertes bis hin zu einer neuen Inwertsetzung durch eine kulturwirtschaftliche Nutzung im Sinne der von ICOMOS 1964 verfassten »Charta von Venedig«. Artikel 5 der Charta unterstreicht, dass die Erhaltung von Denkmälern »durch eine der Gesellschaft nützliche Funktion« ge-

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fördert wird und ihre Nutzung eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der notwendigen Erhaltungs- und Pflegeaufwendungen spielt. Heute ist das Weltkulturerbe ein authentisches Technikanlage der Roheisenerzeugung mit Besucherwegen für den Fachinteressierten sowie eine komplexe Technikerlebniswelt. Zudem ist die Völklinger Hütte als ein aufregender Ort für Ausstellungen und Veranstaltungen bekannt. Die Besucherwege sowie die Ausstellungs- und Veranstaltungsflächen erschließen heute bereits etwa 60 Prozent des Ensembles. In Abhängigkeit von der Eignung der verschiedenen Anlagenteile zu ihrer Umnutzung wird diese qualitativ wie quantitativ weiter vorangetrieben. Ein Leitziel für die Inwertsetzung sind Bauprojekte, die dem Weltkulturerbe über seinen historischen Wert als Dokument hinaus zu einer weiteren Wertsteigerung verhelfen, zum Beispiel durch Maßnahmen, die zu einer Erweiterung der Zielgruppen führen und/oder die Aufenthaltsdauer der Besucher im Weltkulturerbe verlängern. Dokumentation der Planungsstrategie Der Erhaltungszustand des Weltkulturerbes variierte anfangs im Detail erheblich. Dies ist auf das unterschiedliche Alter der verschiedenen Anlagenteile und auf die schon Jahre vor der Stilllegung vernachlässigte Unterhaltung von großen Bereichen der Hütte zurückzuführen. Daher war der Erhaltungszustand schon 1986 von ›gut‹ bis ›gefährdet‹ zu bewerten. Zur Bewältigung des großen Sanierungsbedarfs wurde als Anfangsinvestition ein Stufen-Konzept vereinbart – insbesondere, um den beschleunigten Zerfallsprozess in den Griff zu bekommen und die Folgekosten der Sanierungen einzudämmen. Grundlage der Bestandssicherung sind das Monitoring und die Zustandsberichte. Letztere reichen von der Prüfung des Bestandes bis zur Empfehlung von Sicherungsmaßnahmen. Als Prioritäten sind zu nennen: • Reduzierung der Witterungseinflüsse; • Sicherung der zentralen statischen Strukturen, Eindämmung der Verfallsgeschwindigkeit; • Neunutzung als kulturwirtschaftlicher Standort (im weitesten Sinne); • Inwertsetzung durch Sicherung des Denkmalwertes; • Sicherung der technikhistorischen Strukturen des Ensembles ohne Notwendigkeit einer öffentlichen Nutzung – bis hin zur Vorhaltung der ruinösen Anlagenteile als bedeutender Teil des Ensembles mit Entscheidungsspielraum für spätere Generationen; • Erschließung für Besucher und damit eine Inwertsetzung durch Öffentlichkeit.

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Abbildung 3: Fließbilder Erzvorbereitung (Ausschnitte) mit Rohstofflager, Sinteranlage, Erz-, Brech- und Siebanlage

Abbildung 4: Schadenskataster, 2001: Sinteranlage, Mischgutvorbereitung

Eine Planung am Denkmal ist ohne eine qualifizierte Kenntnis der Geschichte und Funktionen aller Teile der Anlage nicht möglich, da sonst unwiederbringliche Verluste befürchtet werden müssen. Deshalb sind eine systematische und baubegleitende Dokumentation und Bauforschungen erforderlich. Eine systematische Dokumentation und Inventarisation erfolgt durch die Fachbüros »Denkmalbauhütte/AG Technikgeschichte« (vgl. Mendgen 2004) sowie durch für die Aufgabenstellung besonders qualifizierte Architekten. Letztere liefern außerdem eine baubegleitende Dokumentation und im Bedarfsfall Befunduntersuchungen.

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Die Arbeitsergebnisse umfassen z.B. Zustandsberichte gemäß der Welterbekonvention, Einzelinventare (wie z.B. die Hängebahnanlage) sowie Produktionsprozessdokumentationen mit Fließbildern (wie z.B. zur Sinteranlage). Weiterhin zählen die Fortschreibungen der Baualterpläne sowie des Gesamtinventars (u.a. auch für den wissenschaftlichen Bericht gemäß der Welterbekonvention) dazu. Notwendige Umnutzungen sind nicht nur ein Kostenproblem, sondern auch eine technische und denkmalpflegerische Herausforderung. Abbildung 5: Vorher/Nachher: Sinteranlage, Mischgutvorbereitung

Nach der Voruntersuchung 2001 zur Umnutzung für Büros wurde das Projekt wieder aufgegeben; die notwendigen Eingriffe in die historische Substanz wären zu groß gewesen.

Die Anforderungen, welche heute an die Klimahülle eines Gebäudes gestellt werden, unterscheiden sich deutlich von dem, was eine historische Maschinen-Hülle des Anlagenbaues anzubieten hat. Die Eignung von Einhausungen (Gebäuden) muss also so früh wie möglich untersucht werden, da erst im Anschluss die Nutzungen geplant oder ein Raumprogramm aufgestellt werden können. Wurde die Eignung des Anlagenteils oder Gebäudes für eine bestimmte neue Nutzung nicht vorher untersucht, besteht die Gefahr einer weitgehenden Zerstörung der historischen Bausubstanz – einerseits direkt durch die Entfernung von störenden Gebäude- oder Ausstattungsteilen oder andererseits in indirekter Weise durch eine Überformung bis zur Unkenntlichkeit des Dokumentes (›Disneyland‹). Erschließungskonzept Leitsystem für das Erschließungskonzept des Weltkulturerbes – insbesondere bezogen auf die Besucherwege – sind die historischen Funktionsabläufe, wie z.B. Rohstoffwege und -bänder, Gleise oder Revisionswege der Arbeiter.

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Abbildung 6: Rahmenplan, Übersicht

Abbildung 7: 3D-Animation zur Visualisierung der Hochofenanlage und ihrer Besucherwege

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Ziel ist es, so wenig wie möglich in die historischen Funktionszusammenhänge einzugreifen, dasselbe gilt für die originale Substanz. Es muss aber akzeptiert werden, dass alleine die Reaktivierung (Neunutzung) der historischen Wege als Besucherwege teilweise umfangreiche Eingriffe in die historische Substanz erfordert. Die wichtigste Ursache hierfür sind die erheblich höheren Sicherungsanforderungen, welche an Besucherwege gestellt werden. Die Besucherwege sind ein vielfältiges, flexibles Wegesystem zur Erkundung der Hochofenanlage. Die Vielfältigkeit ist auf den Versuch zurückzuführen, neben der reinen Erklärungsfunktion entlang den historischen Produktionswegen zusätzliche informative und ästhetische Ein- und Überblicke anzubieten. Das Wegesystem ist zudem flexibel, da sich der Besucher einer geführten Gruppe anschließen kann oder als ›self guided tour‹ sowie auf eigene Faust die Anlage erforschen kann. Jährlich erweitern sich die Wege entsprechend dem Baufortschritt qualitativ wie quantitativ. Abbildung 8: Rohrbrücke (ehem. Revisionssteg) zum Anschluss der Gebläsehalle an den neuen Eingangsbereich des Weltkulturerbes

Ausgangspunkt der Besucherwege ist das Gleisdreieck von Kohle- und Erzgleis mit dem Erzplatz (ehem. Schrottplatz) und Zimmerplatz, der historischen Gleistrasse zur Anlieferung der den Hochofenprozess bestimmenden Rohstoffe Erz und Kohle. Hier findet sich jetzt die Eingangsplattform des

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Weltkulturerbes. Von hier führen die Gleise entlang des Platzes direkt auf bzw. in die Hochofenanlage (wie eine Schlossallee auf eine Schlossanlage); das Kohlegleis führt um sie herum. Von hier gesehen, auf der Rückseite der Hochofenanlage, liegt der Hochofenplatz sowie daneben die Roheisengleise mit dem Roheisenkanal. Dem die ungewöhnliche, komplexe Anlage durchschreitenden Besucher bieten diese beiden Platzanlagen immer wieder eine größere räumliche Orientierungsmöglichkeit. Weitere Orientierungsmöglichkeiten bieten unter anderem die Rohrbrücke, welche die Eingangsplattform vom Kohlegleis mit der Gebläsehalle über die Rathausstrasse verbindet, und die Aussichtsplattform auf zwei der Winderhitzer des Hochofens Nr. 5. Von hier aus lässt sich die Industriekulturlandschaft des Saartals von Saarbrücken bis nach Saarlouis ebenso überschauen wie das Gesamtgelände der »Saarstahl AG« von dem neuen Blasstahlwerk über die Schlackeberge aus der Anfangszeit der Hochofenanlage bis zum Walzwerk »Nauweiler Gewann«, eine Fläche, die ca. zwölf Mal so groß ist wie die Fläche des Weltkulturerbes. Abbildung 9: Das Weltkulturerbe Hochofenanlage Völklinger Hütte als Teil der Industriekulturlandschaft des Saartals, hier umgeben von den Betriebsanlagen der Saarstahl AG, wie im Vordergrund das moderne Blasstahlwerk.

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Erhaltung der Ausstattung Die Ausstattung der Hochofenanlage besteht aus einer Vielzahl von Maschinen und Transporteinrichtungen und ist noch komplett erhalten. Kleinere Einschränkungen entstanden durch den altersbedingt schlechten Zustand einiger Teile und Vandalismus, der kurz nach der Schließung der Hütte stattfand. Ziel ist die Erhaltung der gesamten Ausstattung, soweit nicht wesentliche Gründe dagegen sprechen, wie z.B. ein nicht zumutbarer Erhaltungsaufwand. Dies ermöglicht erstens die unveränderte Erhaltung von Anlagenteilen, die in der Regel in ruinösem Zustand sind. Diese können für spätere Forschungen vorgehalten werden. Zweitens wird die Erhaltung durch Restaurierung, z.B. zur musealen Erklärung, angestrebt. Drittens kommt es zu einer Neunutzung durch den Abbau von Teilen der Ausstattung, soweit sonst eine Nutzung ausgeschlossen ist, die betroffenen Maschinen mehrfach vorhanden sind und der Eingriff nicht zu einer wesentlichen Beeinträchtigung des Ensembles führt. Stahl Das fast alles bestimmende Baumaterial der Hütte ist mit Farbe beschichteter Stahl. Auch bei der Sicherung und Umnutzung der Anlage wird mit ihm weiter gearbeitet. Alle historischen Anlagenteile werden entsprechend dem Befund gesichert oder, wo hohe Gerüstkosten anstehen, wegen der Folgekosten neu beschichtet. Neue Konstruktionen, z.B. neue Teile der Besucherwege und statisch notwendige Ergänzungen, werden feuerverzinkt. Ihre Oberfläche unterscheidet sich klar von den historischen Teilen, sie ist zurückhaltend, silbergrau, hat eine gute Haltbarkeit und damit einen gegenüber beschichteten Oberflächen geringeren Erhaltungsaufwand, d.h. geringere Folgekosten – und unterstützt damit eine langfristige Erhaltung im Sinne der Welterbekonvention. Bauprojekte Seit der Stilllegung der Hochofenanlage 1986 wurden, immer in Abhängigkeit von den verfügbaren Finanzmitteln, zuerst an der Gebläsehalle und später am Kohlegleis (Besucherweg) Sicherungs- und Umnutzungsmaßnahmen durchgeführt. Ab 2000 erfolgte dann – darauf aufbauend – die erste systematische Sicherung und Umnutzung der Anlage. Im Folgenden werden die wichtigsten Maßnahmen kurz vorgestellt:

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Dächerprogramm, präventive Sicherungsmaßnahmen: Begonnen wurde mit Sofortmaßnahmen zur Sicherung aller größeren Dächer. Ziel ist es, den Verfall zu reduzieren und im Idealfall ganz einzustellen. Weiterhin werden kontinuierlich präventive Sicherungsmaßnahmen zur Sicherung der Besucherwege und zur Minderung der Folgekosten der Erhaltung ausgeführt. Besucher-Rundweg: Alle Projekte zur Sicherung und dem Ausbau der Besucherwege haben das Ziel, dem Besucher einen möglichst umfangreichen Einblick in die Hochofenanlage inklusive der Technik- und Sozialgeschichte zu ermöglichen. Gleich am Anfang des Kohlegleises liegen alle zentralen Einrichtungen in der Trafostation und der Sinteranlage. Abbildung 10: Trafostation, heute Kasse und Shop

Je ein Teil der Ausstattung wurde: orig. erhalten, erhalten und neugenutzt, in den historischen Strukturen neu errichtet; hier die Theke.

Sinteranlage: Die Sinteranlage verbindet die wichtigsten Besucherwege, das Kohlegleis und die Erzgleise, am Eingang miteinander. Angefangen wurde hier auch mit der Sicherung aller das Gebäude schützenden Dachflächen (vgl. oben zum Dächerprogramm). Es folgte die Umnutzung des Kopfbaus der Sinteranlage (Mischgutanlage) als Erschließungs- und Informationsfläche mit einem Vortragsraum. Wo früher die Eisenerze aufbereitet, d.h. gesintert wurden, findet jetzt die informative ›Aufbereitung‹ der Besucher mit einleitenden Informationen statt, ab 2006 in einem Multimediaraum. In der Trafostation vor der Sinteranlage werden seit 2003 Eintrittskarten und Bücher verkauft. Gebläsehaus und Schraubenverdichterhalle: Die Hauptattraktion des Weltkulturerbes, das Gebläsemaschinen-Ensemble, ist erreichbar über die Rohrbrücke (Gichtgasrohr für die Gasversorgung der Gasgebläsemaschinen). Hier konnte schon vor der Stilllegung der Maschinen 1986 mit ihrer Sicherung begonnen werden, was ihren einzigartig guten Erhaltungszustand erklärt. Schon wenige Jahre später wurde auf den Fundamenten der zu Beginn der

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1980er Jahre entfernten Maschinen 6, 7 und 8 am Kopfende der Halle eine große Veranstaltungsfläche geplant und ausgeführt. Die Schraubenverdichterhalle, seit 2003 gesichert und saniert, steht ab 2006 als Foyer für die Veranstaltungsfläche der Gebläsehalle zur Verfügung. Hiermit wird erstmals eine klare Trennung von dem über die Schraubenverdichterhalle erschlossenen Veranstaltungsbereich und dem über die Rohrbrücke erschlossenen historischen Maschinenensemble als Teil des Besucherbereichs möglich sein. Möllerhalle und Erz- sowie Kokssilo: Die überdachten Siloanlagen, die Möllerhalle mit dem Kokssilo und dem Erzsilo, ergeben zusammen mit einer Länge von über 240 Metern den größten Hallenkomplex des Weltkulturerbes. In der Möllerhalle, im Sockelgeschoss (Hängebahnebene), befindet sich das Science Center »Ferrodrom« zum Thema Eisen und Stahl. Auf der Siloebene darüber erschließt ein Besucherweg den zum Ferrodrom gehörenden Ausstellungs- und Veranstaltungsbereich, der bis über die Erzgleisebene führt. Abbildung 11: Möllerhalle Siloebene, heute Ausstellungsbereich des neuen Science Center »Ferrodrom« mit Blick zur Aussichtsplattform auf einen Winderhitzer

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Abbildung 12: Siloebene »Galerie« Eingangsbereich mit den darüber liegenden Stegen

Abbildung 13: Siloebene »Galerie« 1. BA, ab 2006 ca. 250 m lang

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Das zwischen der Möllerhalle und dem Erzsilo liegende Kokssilo ist als Besucherweg gesichert und saniert. Das Erzsilo ist seit 2004 gesichert. Es wird 2005 eine neue, über 800 Quadratmeter große Ausstellungshalle auf der Siloebene erhalten, welche sich auch für Veranstaltungen eignet. Dies soll eine Verlagerung des Ausstellungsbetriebes aus der Gebläsehalle zulassen, die dann wieder mit ihrem Gebläsemaschinen-Ensemble als Hauptattraktion des Weltkulturerbes unbeeinträchtigt besichtigt werden kann. Eine Analyse der historischen Anlagenbereiche war die Grundlage für die Planung der neuen Funktionen. Für die Analyse und den Planungsprozess – und zur Sicherung der großen Anzahl von Technikdokumenten – wurden nicht nur ein qualifizierter Technikhistoriker und die Denkmalfachbehörde hinzugezogen, sondern auch Fachingenieure aus dem ehemaligen Hochofenbetrieb und dem Anlagenbau (AG Technikgeschichte in der Denkmalbauhütte). Erst dann wurde untersucht, welche historischen Anlagenteile und Strukturen sich für Funktionen, die für die Zukunft des Weltkulturerbes benötigt wurden, eignen und wie die durch die Umnutzung notwendigen Änderungen oder Ergänzungen der Substanz minimiert werden können. Dies reduziert die Eingriffe in die historische Bausubstanz und die Baukosten. Ebenfalls aus Kostengründen (Bau- und Folgekosten) wurde, wie in fast allen Bereichen, auf eine Heizung und damit auch auf eine zusätzliche Isolierung verzichtet. Dies unterstützt das sehr zurückhaltende Sicherungskonzept und ermöglicht die Erhaltung von vielen historischen Details und Oberflächen. Das Ergebnis ist additiv: eine weitgehend authentische Halle mit hohem Denkmalwert plus einer klar ablesbaren, anspruchsvollen neuen Funktion: Besucherwege, Ausstellungsfläche und Science Center »Ferrodrom«. Der Eingang zum Science Center »Ferrodrom« im Sockelgeschoss der Möllerhalle (die Ebene des Hängebahn-Transportsystems) liegt zurückgesetzt hinter einer mächtigen Giebelfront. Dadurch entsteht ein überdeckter Außenraum mit einem fließenden Übergang von der durch das Denkmal dominierten Außenwelt zur Erlebniswelt »Ferrodrom«. Das Konzept bietet zwei Raumqualitäten. Die eine Hälfte ist mit eingestellten Boxen ein verstellter Innenraum, die andere Raumhälfte stellt sich als Originalbefund dar. Die Besucherwege sind mit rot beschichtetem Gussasphalt belegt. Im Bereich der Hängebahnrinnen (Vertiefung/Rinne im Boden unter dem Schienensystem der Hängebahnwagen) wurden diese zur Ablesbarkeit ihrer ehemaligen Funktion mit Stahlplatten überdeckt. Durch das Freihalten von Sichtbeziehungen in der Längs- und Querrichtung sind die Dimensionen der Gesamthalle weiter ablesbar. Bezüge zum Außenraum, der Blick zu den Hochöfen, der Blick zum Hängebahn-Bahnhof, der Blick auf das Hochofenbüro (das ehemalige Direktionsgebäude der Anlage) schaffen räumliche und thematische Verknüpfungen.

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Abbildung 14: Querschnitt Möllerhalle

Ebene 0 (ehem. Hängebahn-Transportsystem) heute »Ferrodrom« Science Center Ebene 1 (ehem. Erzsilos) heute Ausstellungsbereich und Besucherweg Ebene 2 (ehem. Bahngleistrassen) heute wird eine Trasse weiter original genutzt, die andere als Besucherweg Ebene 4 (ehem. Arbeiterstege) heute Besucherweg

Abbildung 15: Ansicht Eingangsseite »Ferrodrom« Science Center

Hochöfen: Die Hochöfen mit der Gichtbühne und den Winderhitzern stellen den baulich eindrucksvollsten Teil der Hochofenanlage dar. Hier wurde zuerst die Gichtbühne – eine ca. 240 Meter lange und 27 Meter hohe Plattform, die Beschickungsebene der Hochöfen – als ›Dach‹ saniert. Zwei Winderhitzer des Hochofens 5 werden inzwischen als Aussichtsplattform auf ca. 45 Metern Höhe genutzt.

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Industrieruine: Das wichtigste Projekt zur Erhaltung des Weltkulturerbes Völklinger Hütte ist der Umgang mit den rostigen bis ruinösen Teilen der Anlage oder, wie einige undifferenziert sagen: dem »Schrotthaufen«. Dies geschieht aus Unkenntnis um das Rostverhalten von Stahl, aber auch aus falsch verstandenem Ingenieurs-Berufsethos: »Eine ordentliche Industrieanlage zeigt keinen Rost, eine Industrieruine ist ein Schandflecken«. Die Bedeutung und Funktion der Industrieruine insgesamt bedarf aber auch einer neuen Diskussion und Bewertung. Abbildung 16: Grundriss »Ferrodrom« ehem. Hängebahn Transportsystem

Rost als Gefährdungspotential für Stahl ist sehr unterschiedlich zu bewerten. Er ist u.a. abhängig von den Stahlqualitäten, Materialstärken und den Witterungseinflüssen, aber insbesondere von der Zielsetzung, wie z.B. das Weltkulturerbe »Ironbridge« (Telford bei Birmingham) und der Pariser Eiffelturm zeigen. Diese waren und sind nie gefährdet gewesen. Die hohe Akzeptanz in der Bevölkerung und die weiter stetig steigenden Besucherzahlen des Weltkulturerbes Völklinger Hütte lassen hoffen, dass dieser Status auch hier erreicht werden kann. Anmerkungen 1 1988 erfolgte der einstimmige Beschluss zur Nominierung als Weltkulturerbe durch den Unterausschuss Museen und Denkmalpflege der Kultusministerkonferenz der Länder nach Vorstellung des Vorhabens durch den Verfasser.

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Publikationen zur Völklinger Hütte Hot Ideas from cold Furnaces. In: Environmental Interpretation, Manchester, GB, Vol. 4, Nr. 1/1988, S. 15. Saarl. Industriedenkmäler – Kulturelles Erbe in Gefahr. In: Arbeitnehmer, Saarbrücken, 3/1988, S. 130-132. Die Völklinger Hütte. In: Teil 1: Geschichte, Stahl und Eisen, Düsseldorf, 17/ 1988, S. 78 In: Teil 2: Kulturdenkmal, Stahl und Eisen, Düsseldorf, 18/ 1988, S. 88. Völklingen und Birmingham – Überlebensstrategien für Hochofenwerke – In: Eisen und Stahl, Texte und Bilder zu einem Leitsektor menschlicher Arbeit und dessen Überlieferung, Hg. Walter Buschmann, Klartext Verlag, Essen, 1989, S. 78-95. Die Völklinger Hütte – Geschichte, Bestand, Maßnahmen und Konzept – In: Industriearchäologie, Umiken/Schweiz, 3/1989, S. 19-21. Industriestraße »Saar-Lor-Lux« In: Industriearchäologie, Umiken/Schweiz, 4/1989, S. 19-21. Die Hochofenanlage der Völklinger Hütte. In: Saarbrücker Hefte Nr. 64, Saarbrücken, 11/1990, S. 23-25 und S. 28-29. Völklingen Ironworks, Saarland, Germany. In: The Blackwell Encyclopedia of Industrial Archaeology, Edited by Barrie Trinder, Axel Föhl, David H. Shayt, Stuart Smith, Michael Stratton, Robert Vogel, Oxford, Cambridge, Mass. USA, 1992, S. 293 u. 655 u. 818-819. Die Völklinger Hütte – eine Fallstudie an der Peripherie – In: Les Ateliers des Interprètes, Coimbra, Portugal, Nr. 4, 06/1992, S. 213-219. Monument der Industriegeschichte ist seit 10 Jahren Weltkulturerbe In: Stahl und Eisen, Düsseldorf, 6/2004, S. 92-94.

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Hans Kania ➔ »Was ist Zollverein?«



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»Was ist Zollverein?«

Hans Kania Die diesem Beitrag titelgebende Frage wurde 2001 als Slogan für die Öffentlichkeitsarbeit der Entwicklungsgesellschaft Zollverein vom »Bruce Mau Design«-Büro aus Toronto gestellt und hat vermutlich so viel Geld gekostet, wie man es von einem der weltweit führenden Designer erwarten kann. In seinem »Manifest des Wachstums« ist als eine von derzeit insgesamt 43 Statements dazu zu lesen: »Ask stupid questions. […] Imagine learning throughout your life at the rate of an infant« (www.brucemaudesign.com). »Dumme Fragen« sind natürlich sehr klug und werden häufig dann besonders hilfreich, wenn Gedanken oder Zustände einen höheren Grad von Kompliziertheit und Verwirrtheit erreicht haben. So hatten beim Projekt der Umnutzung alter Industrieanlagen der ehemaligen Zeche Zollverein in Essen ständig wechselnde Agenten und Agentinnen1 mit ebenso ständig wechselnden – aber natürlich immer vielversprechenden – ›Zukünften‹ zu einer gewaltigen sprachlichen Verwirrung des Namens Zollverein geführt, die vermutlich auch das »Bruce Mau Design«-Büro an den Turmbau zu Babel erinnert hat. Sind schon die begrifflichen Inhalte des Wortes sehr verwirrend geworden, so ist heute nicht einmal die Örtlichkeit »Zollverein« klar definiert. Für die einen ist Zollverein natürlich nur die Schachtanlage mit der Nummer 12. Es kann aber auch ein »Zollverein Schacht 3« gemeint sein, was in einiger Entfernung liegt. Sogar der Ortsbezirk der lokalen CDU änderte seine stadtteilbezogene Bezeichnung »Katernberg/Stoppenberg/Schonnebeck« in »Zollverein«. Während nun manch ein Besucher oder eine Besucherin an den verwirrenden Orts- und Inhaltsbezeichnungen verzweifelt, scheint nur eines allen Beteiligten sonnenklar zu sein: Zollverein ist Zukunft. Vielleicht war die einfache Frage vom Büro »Bruce Mau« ja auch ein vorsichtiger Hinweis darauf, dass ohne Vergangenheit keine Zukunft möglich ist … Begeben wir uns also auf die Suche nach der Wertschätzung der Vergangenheit Zollvereins. Um die Leserschaft nicht übermäßig unter der Verwirrung der Inhalte und der Sprache rund um den ›Turmbau zu Zollverein‹ leiden zu lassen, hat der Autor nur eine Auswahl typischer Beispiele ausgesucht, deren Gültigkeit sich auch sonst tausendfach auf Zollverein wiederfinden lässt. Spätestens im Februar 2002, beim Startschuss für die zweite Entwicklungsphase des Zollvereinprojektes mit einem Fördervolumen von 110 Millionen Euro, wurde die Darstellung einer einseitigen Zukunftsperspektive vorsichtig in Frage gestellt. »Es muss stutzig machen, wenn in der Einführung

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Abbildung 1: Eingang zur Schachtanlage Zollverein 12 im Jahr ihrer Inbetriebnahme 1932

des Ministers zwar viel vom ›Zukunftsstandort‹ die Rede ist, das Wort ›Denkmal‹ aber gar nicht mehr vorkommt« (Rossmann 2002). Diese zurückhaltend formulierte »stupid question« bezieht sich auf die Bewilligung der öffentlichen Gelder, die vor allem davon abhängig gemacht worden war, dass Zollverein in die UNESCO-Liste der Welterbestätten aufgenommen wurde.

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Hans Kania ➔ »Was ist Zollverein?«

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Sollte der Denkmalstatus also gewissermaßen nur ein schönes Geschenkbändchen um den Geldsack sein, der für ganz andere Zwecke gedacht war? Waren deshalb die Begriffe ›Denkmal‹ und ›Bewahren‹ in der Einführung des Ministers gar nicht gefallen? Die Widmung der Mittel jedenfalls sprach dazu eine deutliche Sprache. Nicht einen einzigen Cent gab es für Denkmalpflege. Denkmalpflege als lediglich genehmigungsrelevante städtebauliche Pflicht sollte für das Weltkulturerbe ausreichen. Ein mutiger Versuch! Der Anfang des Zollverein-Projektes Aber immerhin war auch schon bei der ersten Phase des Zollverein-Projektes kein Pfennig der Denkmalpflege gewidmet worden. Mit etwa 110 Millionen DM hatte die Projektgesellschaft »Bauhütte Zeche Zollverein GmbH« in den Jahren 1990 bis 1999 eine erfolgreiche Arbeit bei der Sanierung von sieben Hallen der Schachtanlage Zollverein 12 geleistet, die auch in Kreisen der Denkmalpflege eine gewisse Anerkennung gefunden hatte. Bemerkenswert ist, dass sie dazu keinen Plan benötigte. Allein die Bedeutung des Denkmals sollte eine Herausforderung für die Qualität des Umganges mit dem Objekt werden. Jede Halle für sich war ein eigenes Finanzierungs- und Nutzungskonzept. Seit dem Abschluss der Sanierungsarbeiten belebten neue Nutzer das Areal, das allmählich zu einem Vorzeigeprojekt der Umnutzung ›unmöglicher‹ Industriehallen wurde (vgl. Knierim/Kania 1998). Zu den begehrtesten Souvenirs der Projektbeteiligten gehörten alte Warnschilder aus dem »Förderwagenumlauf« von Zollverein Schacht 12, auf denen »Fördermittel laufen automatisch an« zu lesen war. Die Warnung der Bergleute vor der Unfallgefahr in der Nähe von Förderbändern und Kettenbahnen übte als zweideutige Floskel einen magischen Reiz aus und führte dazu, dass heute so gut wie keines der zahllosen Schilder mehr vor Ort vorhanden ist. Die Bauhütte konnte im Umfeld der »Internationalen Bauausstellung Emscher Park« (IBA) – einem visionären, regionalen Umwandlungsprojekt mit der Laufzeit von 1989 bis 1999 – einigermaßen geschützt arbeiten. Unter anderem mit der Perspektive, Industriedenkmale der Region durch einen Umbau für Neunutzungen zu erhalten, hatte die IBA den Horizont regionaler Planung im Ruhrgebiet entscheidend durch den Blick auf die industrielle Vergangenheit erweitert. Auch die ehemalige Schachtanlage Zollverein 12, als Leitprojekt der Umnutzung alter Industrieareale, konnte deshalb von der Erwähnung des Begriffes »Erhaltung« profitieren (vgl. MSWV 1989).2 Auch wenn er lediglich mit den Aspekten ›Neunutzung‹ und ›Kulturpark‹ verbunden war, gab es darüber hinaus noch Nischen für den weiter reichenden Gedanken des Bewahrens, der durch ein wenig mehr Emotion und Aspekte einer

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systematischen und professionellen Geschichts- und Denkmalarbeit charakterisiert ist. Dieser Gedanke musste allerdings vor Ort immer neu erobert werden, denn »zu schließen, dass Zollverein ein ›gewolltes Kind‹ sei, wäre eine Verkennung der Interessenlagen, Einschätzungen und Wertschätzungen. […] Schon 1986 (dem Zeitpunkt der Schließung des Bergwerks) wollte die Stadt Essen nur dies: Ein paar Betriebe ansiedeln! Dem Oberbürgermeister von heute ist dies immer noch das wichtigste Anliegen. Und der Wirtschaftsminister des Landes denkt in etwa gleich« (Ganser 2002: 28).

Um die Zukunft nun ungestört von den rostigen Hinterlassenschaften der Vergangenheit entwickeln zu können, wurde unter anderem von Beginn an bewusst dafür gesorgt, dass im Aufsichtsrat der Bauhütte kein Vertreter der Denkmalpflege berücksichtigt war. »Wir wollen doch keinen Denkmalpfleger vor Ort«, lässt sich der Aufsichtsratsvorsitzende und damalige Landtagsabgeordneter Gerd Peter Wolf zitieren. Es reichte völlig, wenn der örtliche Denkmalpfleger die eingereichten Entwürfe genehmigte – was er in der Regel auch tat. Die meisten Versuche von Mitarbeitern der Bauhütte, auf größere Fehlentscheidungen im Umgang mit dem Denkmal hinzuweisen, führten zu rabiaten innerbetrieblichen Disziplinierungsversuchen. Für die offenbar tief verwurzelte Ignoranz gegenüber der historischen Dimension der Gebäude und Maschinen sollen hier nur zwei Beispiele genannt werden. So wurde die vollautomatische »Fördermaschine Süd« im Jahre 1998 verschrottet, ohne dass das Gebäude bis heute jemals neu genutzt worden wäre. Sie stammte aus dem Jahr 1959 und erreichte mit ihrer Kapazität von 18 Tonnen Nutzlast pro Zug aus 1000 Metern Tiefe die physikalische Maximalleistung eines solchen Fördersystems. Auch den ehemaligen Besprechungsraum der Zeche Zollverein in der »Werkstatt 1« zerstörte man mitsamt seinen architektonischen Details durch Umbaumaßnahmen bis zur Unkenntlichkeit. Insbesondere die gläserne Kassettendecke des Raumes war ein bedeutendes Element des Beleuchtungskonzeptes der Industriearchitekten Schupp und Kremmer, das sie für spezielle Innenräume von herausragender Bedeutung entworfen hatten. Statt der historischen Bedeutung der Objekte beherrschte der Blick in die Zukunft die Werteskala in den Köpfen der projektbeteiligten Architekten und Bauherren. So verabschiedete man sich zudem von den originalen Bezeichnungen der Gebäude, die als »Zentralwerkstatt«, »Lesebandhalle« oder »Schalthaus« früher einmal eindeutig bezeichnet waren. Dafür übernahm man eine vollkommen unsystematische Nummerierung, die ein Mitarbeiter der Essener Denkmalpflege zur eigenen Übersicht angefertigt hatte. Seine kleine Zeichnung war keineswegs dazu hergestellt, einmal das Licht der Öffentlichkeit zu sehen, geschweige als Arbeitssystematik für den Umgang mit

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einem bedeutenden Industriedenkmal genutzt zu werden. Sie war – sinnigerweise – schon vor der Stillegung des Bergwerkes angefertigt worden, um eine Identifizierung jener Gebäude zu gewährleisten, die von der Stadt zum Abriss freigegeben worden waren. Mehrfach wiesen Mitarbeiter der Bauhütte darauf hin, dass diese Nummerierung der Hallen von Zollverein Schacht 12 historisch völlig unsinnig ist. Dies führte jedoch nicht zu einer Abschaffung der neuen Systematik – sie galt im Gegenteil als chic. Ein leichtes Kopfschütteln des Betreibers der neuen Gastronomie reichte aus, um jede denkmalpflegerische Argumentation aus den Angeln zu heben. So bezeichnet man also heute immer noch die ehemalige Lesebandhalle als »Halle 12«. Und wer schließlich heute in der Werkstatt 1 den verschwundenen ehemaligen Besprechungsraum suchen will, muss sich in der »Halle 6« umsehen. Abbildung 2: Luftbild kurz vor der Stillegung der Kokerei Zollverein im Jahr 1993; rechts unten: Zollverein Schacht 1/2, abgeteuft 1847; links unten: Zollverein Schacht 12; oben: Kokerei Zollverein (in Betrieb von 1961 bis 1993)

Immerhin bedeutete die Strategie der Bauhütte, Kosten minimal zu halten, manchmal auch die Rettung vor dem Verfall. Besonders das Kesselhaus profitierte von dieser Politik. Die Umbauarchitekten des Büros von Sir Norman Foster und des örtlichen Architekturbüros »Böll & Krabel« entwarfen nach Vorgaben des Brandschutzes und der üblichen Bauordnungen zunächst einen Ausbau mit vier Betontreppenhäusern, die – außen sichtbar – eine völlige Verunstaltung des Gebäudes verursacht hätten. Die dafür veranschlagte Bausumme überstieg die zur Verfügung stehenden Mittel um sechs Millionen

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DM und machten diese Planungen reif für den Papierkorb. Schließlich fanden die Experten des Brandschutzes und der Bauordnungen eine kostenangepasste Lösung – ohne Betontreppenhäuser! Auch der Innenraum des Kesselhauses sollte zunächst möglichst vollständig von maschinellen Einrichtungen frei sein – forderte mit großer Heftigkeit das Essener Baudezernat, dem auch das örtliche Amt für Denkmalpflege untersteht. Platz für die neuen, sauberen Schönheiten der Entwürfe von Sir Norman Foster musste her! Abbildung 3

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Abbildung 4

Während aus der Essener Perspektive der Wald vor lauter Bäumen verstellt war, schaute der Architekt aus London ›weltoffen‹ auf die Schachtanlage Zollverein 12 und stellte gleich bei seinem ersten (und einzigen) Besuch auf Zollverein die Weichen. Eigentlich sei die Schachtanlage nur als Gesamtanlage zu behandeln, kommentierte er mit einem Rundblick auf dem Weg zum Kesselhaus die Perspektive, welche von den Verantwortlichen vor Ort offensichtlich nicht zu sehen war. Wer denn der Architekt des Ganzen sei und ob es nicht etwas Schriftliches über Schupp und Kremmer gäbe, war seine nächste Bemerkung. Schließlich stellte er beim Eintritt in das Kesselhaus lapidar fest: »Das ist wunderbar! Das soll alles bleiben!« Der Autor schickte nur noch ein paar passende Zeitschriftenveröffentlichungen von Fritz Schupp

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nach London – und der Weg war frei, den Innenraum des Kesselhauses mit den Ansichten der fünf Kessel im Original zu erhalten. Ein Kessel blieb als technisches Denkmal vollständig stehen, während die Außenmauern der vier übrigen noch heute die imposante originale Kulisse der Heizerbühne bildet. Damit war die geniale Gestaltung der Verschmelzung von Maschine und Gebäude nachvollziehbar geblieben und die Heizerbühne konnte weiterhin die innere Fortsetzung der axialen Ordnung der Architektur eindrucksvoll belegen. Das Kesselhaus gilt heute als mehr oder weniger akzeptierter Kompromiss der denkmalpflegerischen Wertschätzung Zollvereins, der auch für den weiteren Umgang mit dieser Welterbestätte hätte vorbildlich sein können (Henry Cleere in: Entwicklungsgesellschaft Zollverein 2002: 51). Während in dieser ersten Phase der Projektsteuerung durch die Bauhütte von 1990 bis 1999 im Allgemeinen der Denkmalschutz auf Zollverein ein Nebenprodukt der Sparsamkeit oder der neuen Nutzung war, konnten denkmalpflegerische Impulse vor Ort auch konkretere Hinweise auf professionellere Strategien des Bewahrens geben. So gelang es, angesichts rasant steigender Besucherzahlen auf Zollverein Schacht 12, einen Museumspfad einzurichten, der die Geschichte und Bedeutung des Denkmals vor Ort nachvollziehbar machte. Die Besucherzahl der Führungen durch das Industriedenkmal Zollverein Schacht 12 stieg von etwa 300 im jahr 1990 explosionsartig auf über 20 000 im Jahre 1998 an. Für die Installation museumsdidaktischer Stationen bewilligte man schließlich immerhin 0,007 Prozent der Fördergelder (vgl. Kania 2000). Die organisatorische Festigung dieser – noch vollkommen unabgesicherten – Institution wäre eine Chance gewesen, mit systematischer Geschichts- und Denkmalarbeit die Grundlage für eine Kultur des Bewahrens vor Ort zu schaffen. In diesem Sinne hatte die Bauhütte auch Kontakte zum benachbarten Rheinischen Industriemuseum geknüpft und eine Kooperation vertraglich vorbereitet. Mit jährlich 70.000 DM wollte das Industriemuseum eine denkmalbezogene Geschichtsarbeit fördern. Der Antrag für eine Welterbestätte »Industrielle Kulturlandschaft Zollverein« In der Atmosphäre allgemeinen Aufbruchs im Ruhrgebiet entstand auch das Projekt, die industrielle Kulturlandschaft Zollverein als Welterbestätte der UNESCO vorzuschlagen. Im Konzert der visionären Impulse, die von der »Internationalen Bauausstellung Emscher Park« (IBA) in dieser Zeit gegeben wurden, unterstützte die IBA den Antrag (vgl. Ganser/Grunsky/Kania/Mainzer 1999). Die darin veröffentlichte Beschreibung der Denkmallandschaft Zollverein kann die Frage »Was ist Zollverein?« mit Blick in die Vergangenheit umfassend schildern. Zeit und Raum des ehemaligen Bergwerkes Zollverein sind

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nahezu koordinatengleich definiert: Von 1848 bis 1986 konnten im Grubenfeld Zollvereins, das sich über eine Fläche von 13 Quadratkilometern erstreckte, die bergbaulichen Rechte zum Abbau der Kohlenvorräte genutzt werden. Die industrielle Ausbeutung der untertägigen Lagerstätte mit einer Belegschaft von 5000 bis 8000 Bergarbeitern (Belegschaftszahl zwischen 1900 und 1986) war entscheidende Ursache für die übertägige Entwicklung eines ehemals ländlichen Gebietes mit etwa 500 Einwohnern im Jahre 1848 zu einer hochverdichteten Industrielandschaft mit mehr als 50.000 Einwohnern bei Schließung der Zeche im Jahr 1986. Dazwischen liegen etwa 140 Jahre, in denen Zollverein als eines der größten europäischen Steinkohlenbergwerke 220 Millionen Tonnen Kohle abbaute. Das Areal ist beispielhaft für ein Zeitalter, wo Kohle zur scheinbar endlos sprudelnden Energiequelle und Stahl – massenhaft produziert – der wichtigste Werkstoff für Produkte war. Stahl relativierte als Eisenbahn Zeit und Raum, revolutionierte als Kochtopf in der Küche oder auch als Kanone im Krieg den Umgang der Menschen miteinander. Es war ein Zeitalter, das mit »Naturwissenschaft und Technik, Industrie und Handel Orte, Landschaften und Lebensbedingungen stärker verändert hat als alles menschliche Wirtschaften zuvor. Sie prägten Arbeit und Lebenswelt und führten […] zu einer ungeahnten individuellen Freiheit und Mobilität. Die Maschine gab dieser Epoche ihren Namen: das Maschinenzeitalter, die Industrie ihrer Kultur: die Industriekultur« (Lüth 1989: 10).

Noch heute lässt sich diese Epoche der Zivilisation bilderbuchartig an den Bauten und Anlagen über dem Grubenfeld Zollvereins ablesen. Der Antrag zur Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe listete Folgendes auf: ehemalige Zechenkolonien und Bergarbeiterwohnungsbau, die bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts entstanden waren, Pumpwerke zur Entwässerung der durch Bergsenkungen entstandenen Polderbereiche, Halden, Werksbahnen und schließlich die Betriebsflächen mit den ehemaligen Schachtanlagen und Kokereien. Wer diese Landschaft der Industriekultur verstehen will, wird die üblichen Kategorien der Stadtentwicklung völlig neu definieren müssen, denn die Raumplanung orientierte sich hier letztlich nur an einem Bezugspunkt: dem Betriebsplan des Bergwerkes und den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten. So bekam der Bergwerksdirektor jeden Morgen ein ›grünes Buch‹ vorgelegt, in dem die Förderzahl des letzten Tages vermerkt war. Nur diese Kennziffer war letztendlich entscheidend für die räumliche Entwicklung über und unter Tage. Nachdem Zollverein bis zum Ersten Weltkrieg mehr als zwei Drittel des Grund und Bodens über dem Grubenfeld angekauft hatte, war die Planungshoheit hier endgültig de facto eine betriebseigene. So verwunderte es nicht, als die Zeche 1917 einen Stadtplan über ihrem Grubenfeld zeichnete

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und diesen mit der Überschrift »Übersichtskarte des Steinkohlenbergwerks Zollverein« betitelte. Die Ausrichtung auf das Bergwerk war Grundlage für eine Art industrieller Lebensform, in der der Bergwerksdirektor in seinem Reich auch über Tage wie ein König herrschte. Von ihm hing es beispielsweise ab, wie die lokalen Vereine gefördert wurden. Als zu Beginn der 1950er Jahre die – auf höchstem Niveau – mit dem Fußballclub »Schalke 04« konkurrierenden »Sportfreunde Katernberg« von Zollverein nicht mehr ausreichend unterstützt wurden, wanderte Helmut Rahn – der legendäre Spieler der deutschen Weltmeistermannschaft – von den Sportfreunden zu einem Nachbarverein. Stattdessen begann der Bergwerksdirektor Bamberg einen Kulturkreis zu organisieren, der die Elite nationaler und internationaler Künstler nach Katernberg holte. Nicht einmal die Miederwerbung der Firma »Triumph« hatte in seinem Reich eine Chance. Er ließ sie aus Sorge um das Seelenheil der Bergarbeiter und deren Familien in Katernberg entfernen. Aus der großen Zahl der Bauten, die den Lebensraum der industriellen Zivilisation repräsentieren könnten und noch heute erhalten sind, ragt vor allem die Leistung der Industriearchitekten Fritz Schupp und Martin Kremmer heraus. In den Jahren 1927/28 entwarfen sie die Schachtanlage Zollverein 12 als nahezu perfekte Symbiose von Gebäude und Maschine in entsprechender Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur.3 Rationalisierung bei der Technik sowie Konzentration bei den Unternehmungen waren die Gebote der 1920er Jahre. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand 1926 an der Ruhr die »Vereinigte Stahlwerke AG«, ein Zusammenschluss der schwerindustriellen Großkonzerne »Thyssen«, »RheinelbeUnion«, »Phönix« und »Rheinische Stahlwerke«. Im Rahmen dieses gigantischen Trusts, der als zweitgrößter der Welt galt, entstand die Schachtanlage Zollverein 12 als visionäres Ensemble industrieller Rationalisierung. Sie war auf eine tägliche Förderleistung von 12.000 Tonnen verwertbarer Kohle ausgelegt, während die Durchschnittsleistung eines Schachtes im Ruhrgebiet bei unter 3000 Tonnen lag. Bergleute sind auf Schacht 12 nicht eingefahren. Die Waschkauen und Seilfahrteinrichtungen blieben bei den übrigen Schachtanlagen, die dezentral auf dem Grubenfeld verteilt lagen. Den Architekten gelang mit der Verschmelzung von Form und Inhalt die Gestaltung einer Musteranlage, die das Gesicht der Region prägen sollte. Selbst das eiserne Fördergerüst von Zollverein Schacht 12 ist nicht nur Funktion allein. Es erscheint durch seine Gestaltung geradezu als Koloss von Rhodos, wie es breitbeinig über dem Schacht steht. Nach ihm wurden zahlreiche direkte Nachfolger im Ruhrgebiet und anderen Bergbauregionen gestaltet. Die Hallen der Schachtanlage waren durch ihre Konstruktion erstmals konsequent in die statisch bedeutenden Portalrahmen und einer außen vorgestellten Stahlfachwerkfassade, die ausschließlich den Aufgaben des Wetterschut-

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zes diente, getrennt. Das Fachwerk konnte als filigrane Konstruktion ohne statische Aufgaben zur ästhetischen Ordnung durch rechteckige, geometrische Flächen in extrem minimalistischen Formen genutzt werden. Die entscheidende Voraussetzung und Grundlage für die Gestaltung war die sinnvolle Ordnung der Maschinen im Inneren der Gebäude. »Der Zweck, rücksichtslos anerkannt und erfasst, sinngemäß durchgebildet, führt […] zu einer Architektur, zu einer neuen Architektur, die ihre eigenen Gesetze hat« (Schupp/ Kremmer 1929: 22). Eine besondere Bedeutung kommt also den Innenräumen zu, weil erst dort die Verschmelzung von Maschine und Gebäude, von Form und Inhalt als geniale Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur wirklich nachprüfbar und nachvollziehbar ist. Die äußere Hülle allein ist wie ein wohlgeordnetes, aber radikal anonymes Maschinendesign, die ihren Sinn vollständig umhüllt. Erst der Blick ins Innere offenbart die Genialität des architektonischen Designs mit seiner perfekten Ordnung von Maschine und Gebäude. Auf Zollverein Schacht 12 kulminierte die ordnende Gestaltung der Architekten Schupp und Kremmer im Schaltstand des Schalthauses (Halle 2), im Besprechungsraum in der Werkstatt 1 (Halle 6), im Schürerstand des Kesselhauses (Halle 7), in der Wipperhalle im »Wagenumlauf« (Halle 12) und der Setzmaschinenbühne in der »Kohlenwäsche« (Halle 14). So einleuchtend Außenstehenden die historische Perspektive auf diese Kulturlandschaft auch sein mag, so kompliziert stellte sich deren Umsetzung oder deren Akzeptanz vor Ort dar. »Denn das war ja nicht die Stadt Essen hier, das war ein Gebiet außerhalb der Stadt Essen, das nur wenige Bürger kannten. Warum sollte es die Bürgerschaft der Stadt Essen schützen?« (Zöpel in Entwicklungsgesellschaft Zollverein 2002: 48)

Die Industrie hatte sich schon lange vom Standort verabschiedet. Sie hatte Stadt und Land eine Erbschaft hinterlassen, die in ihrer historischen Struktur auf völliges Unverständnis stößt. Die Vorstellung, mit Flächensanierungen und Gewerbeparks in die Zukunft zu gehen, beherrscht heute allein die Köpfe. Dass sich im Schatten der Fördertürme Zollvereins eine historische, industrielle Kulturlandschaft von Weltrang entwickelt hatte, schien für alle Beteiligten vor Ort ein Wald zu sein, der vor lauter Bäumen nicht zu sehen war. Vermutlich lag es an diesem Umstand sowie an der begründeten Befürchtung, dass für solch ein Projekt »Welterbestätte Industrielle Kulturlandschaft Zollverein« kein Träger vorhanden war, der es nicht für Einzelinteressen missbraucht hätte, dass die Internationale Bauausstellung zu der Entscheidung führte, den Autor dieser Zeilen allein den Antrag an die UNESCO unterschreiben zu lassen. Vermutlich weil er sich bis dahin in seiner Eigenschaft als Vorstandsmitglied der Fachgesellschaft TICCIH (The International Commitee of the Conservation of Industrial History), welche zu dieser Zeit die

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Welterbekommission der UNESCO in Fragen der Industriedenkmale fachlich beriet, sehr wirkungsvoll und erfolgreich um die Anerkennung der Kulturlandschaft Zollverein als Welterbestätte bemüht hatte. Während die Stadt Essen und das Land Nordrhein-Westfalen nun in aller Ruhe den Verlauf des Antrages abwarteten, ohne auch nur ansatzweise für eine angemessene denkmalpflegerische Grundlagenarbeit zu sorgen, sollte die folgende Zeit durch eine rapide Zunahme turbulentester Machtkämpfe verschiedener Projektbeteiligter charakterisiert sein. Die Bauhütte wurde im Jahr 1999 beendet, womit auch die Arbeit des Autors vor Ort endete und ihm fortan die Rolle des informierten Beobachters blieb. Als neuen Hoffnungsträger gründeten Stadt Essen und Land NRW eine so genannte »Stiftung Zollverein«, die unter Federführung des Essener Kulturdezernenten das Gesamtprojekt übernehmen sollte und wollte. Während die naiven Stiftungsversprechungen – z.B. mit Fundraising die Finanzierung von Zollverein dauerhaft sichern zu können – schon unmittelbar zu Beginn der Arbeit ad acta gelegt wurden, konzentrierte man sich umgehend und ausschließlich auf die Förderung der allgemeinen Kulturprojekte vor Ort. Die Bauhütte hatte bereits eine Zusammenarbeit mit dem Rheinischen Industriemuseum zur Förderung der Denkmal- und Geschichtsarbeit im Rahmen des Museums Zollverein vorbereitet. Im Sinne einer allgemein stattfindenden Umdeutung des Begriffes »Industriekultur« wurde diese jedoch umfunktioniert. Während bei der Bauhütte die Honorierung der Führungen durch das Industriedenkmal mittels der damit verbundenen Eintrittsgelder geregelt war, nutzte nun die Stiftung die aus der ›Kooperation‹ fließenden 35.000 Euro des Rheinischen Industriemuseums für diese Zwecke. Die Einnahmen aus den Eintrittsgeldern konnten dafür nun zur Förderung der Klavierkonzerte genutzt werden. Natürlich erhöhte man umgehend auch die Eintrittspreise um ein Vielfaches. Diese Umkehrung der von der Bauhütte beabsichtigten Institutionalisierung einer professionellen Geschichts- und Denkmalarbeit war das Ergebnis eines Joint Venture des Essener Kulturdezernenten und des Kulturdezernenten des »Landschaftsverbandes Rheinland« (Träger des Rheinischen Industriemuseums). Offenbar war ihnen die dringend notwendige Geschichts- und Denkmalarbeit zu einem Objekt des Weltkulturerbes weniger wert (um nicht zu sagen: nichts) als die im Ruhrgebiet derzeit geliebte Förderung von Tanz, Klavierkonzerten und anderen ›anerkannten‹ Kulturformen. Das Rheinische Industriemuseum funktioniert vor diesem Hintergrund heute nur noch als vollkommen einflussloser Geldgeber. Neben dem Verzicht, sich professionell mit der Geschichte des Ortes auseinander zu setzen, verfiel auch die museumsdidaktische Installation auf Zollverein Schacht 12 zusehends. Durch die Transformation der Setzmaschinenbühne in der Kohlenwäsche wird heute der Museumspfad endgültig auch seine Hauptattraktion verlieren. Hier entsteht stattdessen – zwischen den

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umfangreichen neuen haustechnischen Installationen mit Aufzügen, Eingängen, Beleuchtung, Toiletten usw. – ein Touristinformationsbüro der Superlative. Selbst der Begriff ›Museum Zollverein‹ oder auch ›Museumspfad‹ wird seit kurzem durch die Bezeichnung ›Erlebnispfad‹ ersetzt. Die Beschäftigung mit der neuen Kultur auf Zollverein hat dagegen eindeutige Priorität. »Liebstes Kind der Geschäftsführerin [der Stiftung; H.K.] sind die Zollverein Konzerte« (Delia Bösch in: Entwicklungsgesellschaft Zollverein 2004: 28). Die nicht stattfindende Geschichts- und Denkmalarbeit der Stiftung Zollverein bedeutet einerseits eine negative Wertschätzung der historischen Kulturlandschaft als Welterbestätte und andererseits das Ende jeder historischen Grundlagenforschung, die eine professionelle denkmalpflegerische Konzeption der zukünftigen Welterbestätte vor Ort hätte vorbereiten können. Nahezu gleichzeitig mit der Bauhütte Zeche Zollverein beendete auch die Internationale Bauausstellung ihre Arbeit. Ihr Vorschlag, die angemessene Behandlung der industriellen Kulturlandschaft Zollverein durch einen »Nationalpark der Industriekultur« zu ermöglichen, führte eher zu höhnischem Gelächter und wurde als »überspannt« charakterisiert (Heinemann 2003: 56). Selbst die Vertreter der offiziellen Denkmalpflege verließen Zollverein, als der örtlich zuständige Bereichsleiter des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege aus dem Dienst ausschied und seine Stelle nicht wieder besetzt wurde. Alle nun auftauchenden denkmalpflegerischen Belange mussten pragmatisch und konzeptionslos geregelt werden. Während sich also Zollverein zu Beginn dieses Jahrtausends auf dem Weg befand, als Stätte der Weltkultur – gemeinsam mit den Pyramiden in Ägypten – international anerkannt zu werden, waren nicht einmal die grundsätzlichsten Vorarbeiten zu einer denkmalgerechten Bestandsaufnahme vorhanden und niemand kümmerte sich um die Belange des Bewahrens. Welch ein Unterschied zu anderen Zechenbrachen der Ruhrkohle AG im Ruhrgebiet! Hier wurde als planerischer Standard umgehend ein Betriebsanlageninventar erstellt, das wenigstens die fundamentalen Lebensdaten von Gebäuden auf dem Gelände der Schachtanlagen zusammenstellte. Die einzige denkmalpflegerische Betreuung der Welterbestätte Zollverein in dieser Zeit scheint im Denkmalreferat des Ministeriums für Städtebau des Landes NRW selbst angesiedelt gewesen zu sein. In einer Art wirkungsvoller Diplomatie, die dem Wiener Kongress zur Ehre gereicht hätte, gelang es dem Referat – mit diplomatischer Unterstützung des inzwischen als »ZollvereinBerater« agierenden ehemaligen Direktors, Prof. Rainer Wirtz, des Rheinischen Industriemuseums –, zwei hemmungslose Projekte auf Zollverein Schacht 12 und der Kokerei zu verhindern oder deren Rückbau zu fordern. Im Ergebnis wurde der Entwurf des Architekturbüros »Diener und Diener« schließlich verworfen, die Kohlenwäsche mit einem mehr als 30 Meter hohen Gebäudeaufsatz zu vergrößern. Auf der Kokerei konnte man in diesem Zu-

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sammenhang für ein Riesenrad, das die Öfen einer ganzen Batterie zerstört hatte, den Rückbau fordern (der bis heute – angeblich aus Kostengründen – noch nicht erfolgt ist). Nachdem der Umfang der beantragten »Industriellen Kulturlandschaft Zollverein« auf einen Kern mit dem Areal der Schachtanlage 12, Schacht 1/2 und der Kokerei definitorisch reduziert worden war, erfolgte am 31. September 2002 die offizielle Überreichung der Welterbeplakette für Zollverein. Der Umgang mit einer Welterbestätte Bei der Verleihung der Welterbeplakette beschlich den Vertreter der UNESCO, Henry Cleere, angesichts der rabiaten Veränderungsstimmung von Politikern und Projektbeteiligten auf einer Podiumsdiskussion ein wenig Sorge um den Aspekt des Bewahrens. »Ich habe das Gefühl, die Leute vergessen, warum Zollverein auf der Welterbeliste steht.« Und er schloss seinen Beitrag mit den Worten: »Zollverein muss auf jeden Fall bewahrt bleiben. Das Welterbekomitee wird sehr wütend, wenn sie es nicht bewahren« (Cleere in Entwicklungsgesellschaft Zollverein 2002: 56).

Im diplomatischen Sprachgebrauch der UNESCO-Vertreter ist dies eine erstaunlich unübliche Schlussbemerkung. Doch die Anwesenden störte das nicht im Geringsten. Wie hatte es doch der zuständige Minister Michael Vesper – ganz in der Sprache der Gewerbeparkentwickler – ausgedrückt: »Es geht hier um den Erhalt des Standortes. Es stimmt nicht, wenn manche Leute sagen, wir wollen alles erhalten. Das Gegenteil ist der Fall« (Entwicklungsgesellschaft Zollverein 2002: 48). Man war bei Stadt und Land seit langem daran gewöhnt, auf denkmalpflegerische Einwände zu Zollverein in derselben Hemdsärmeligkeit zu reagieren, wie man es auch auf Einwände zur Welterbestätte »Kölner Dom« tat: Pff, auch ohne den offiziellen Status ist Zollverein Weltkulturerbe – und wieso überhaupt eine ausländische Kommission über Zollvereins Belange entscheiden könne …4 Mit dieser Einstellung begann im Jahre 2001 auch die neue Projektgesellschaft »Entwicklungsgesellschaft Zollverein« unter der Leitung eines ehemaligen Abteilungsleiters des Städtebauministeriums ihre Arbeit. Diese neue Gesellschaft schien dringend notwendig zu sein, weil niemand übersehen konnte, dass die »Stiftung Zollverein« ihre weitreichenden Zielvorstellungen nicht würde realisieren können. Aber auch unter dieser neuen Gesellschaft verweigerte man sich standhaft und ignorant der Forderung des Welterbekomitees nach dem Rückbau des Riesenrades auf der Kokerei Zollverein. Stattdessen setzte man für die Kokerei auf eine Ausweitung der Fahrgeschäfte und anderer Disneyland-ähn-

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licher Attraktionen. Eine hochsubventionierte Gruppe von No Name-Künstlern quartierte zum Beispiel für ein Jahr zwei Tiger im Mischbunker der Kokerei ein. Dazu kam ein – im Luftbild sehr attraktives – Containerschwimmbad vor den Koksofenbatterien und schließlich entstand eine millionenschwer subventionierte Eisbahn entlang der Koksöfen. Am Geld kann es also eigentlich nicht liegen, wenn sich vor diesem Hintergrund der Eindruck der fahrlässigen Vernachlässigung einer systematischen Geschichts- und Denkmalarbeit aufdrängt. Eher scheint es eine Frage der Wertschätzung zu sein. Die industrielle Vergangenheit wird offenbar in Kreisen der Landesregierung generell geradezu als Bedrohung dargestellt. »Fast könnte man von einem Frontalangriff der Industriegeschichte auf die übrige Zeit sprechen«, gibt Ulrich Heinemann (2003: 56) zu verstehen, der als Mitarbeiter der Staatskanzlei der Düsseldorfer Regierung zu diesem Thema den Ton angab. Lieber sucht man ganz woanders seine Wurzeln: »[M]it den urbanen Traditionen der Hellwegstädte verfügt das Ruhrgebiet auch über eine ganz andere Geschichte; eine Geschichte, in der die Industriegeschichte nicht aufgeht. […] [V]or allem in der Bildungsgeschichte nach 1945 hat die Region Kräfte entwickelt, die man pflegen und stimulieren sollte […]« (ebd.: 58).

So stimulierte die Entwicklungsgesellschaft mit Millionenaufwand ihrerseits die »Bildungsgeschichte nach 1945« durch eine Installation des »Palace of Projects« im Salzlager der Kokerei. Die von den Künstlern Kabakow geforderte Anordnung ihres Objektes im Inneren war allerdings räumlich nicht realisierbar. So wurden kurzerhand die Seitenwände aufgerissen und zwei Blechvergrößerungen an die Längsseiten der Halle gefügt, die als beispielhafter Ausdruck fehlender Wertschätzung der Architektur von Fritz Schupp und Missachtung der Bedeutung der Welterbestätte gelten können. In einem Klima, wo man im Ruhrgebiet mit einer nicht enden wollenden Donquichotterie Jahrzehnte nach der Stillegung des Bergwerkes Zollverein noch immer heftig und aufwendig gegen das angeblich negative Image der rauchenden Schlote ankämpft und vor dem Hintergrund einer nicht vorhandenen Inventarisierung der Welterbestätte, schickte man einen Denkmalberater nach Zollverein. Auf Empfehlung des Denkmalreferates im Ministerium, das zum Thema Denkmal auf Zollverein noch immer allein die Fäden in der Hand hielt, sollte Reinhard Roseneck im Auftrag der Entwicklungsgesellschaft Zollverein für angemessene Standards und Konzepte sorgen. Dabei spielte die Frage, ob die Geschichte des Rammelsberges nicht vielleicht gänzlich verschieden von der historischen Entwicklung einer großen Tiefbauzeche im Ruhrgebiet sein könnte, offensichtlich keine besondere Rolle (vgl. den Beitrag von Roseneck in diesem Band). Ist schon der Harz ein völlig anderes Bergbaugebiet, so sind insbesondere die Tiefbauzechen im Ruhrgebiet un-

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tereinander vollkommen uneinheitlich. Reinhard Roseneck hatte als Experte des Harzer Bergbaus die dortige industrielle Kulturlandschaft als erste industrielle Welterbestätte in Deutschland zur Anerkennung gebracht und auf hohem Niveau entwickelt. Wie schwer zu entschlüsseln ist, was auf einer Schachtanlage des Ruhrreviers im Laufe ihrer Betriebsbiographie aus unterschiedlichsten Motiven heraus gebaut wurde, verdeutlicht ein tiefer Seufzer, den zwei Markscheider 1939 ausstießen, nachdem sie ihr sehr umfangreiches Projekt von 27 Zechenbeschreibungen von Bergwerken des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus abgeschlossen hatten: »Keine der beschriebenen Zechen hat Gleichheit mit einer anderen gezeigt. Jede musste nach den bei ihr vorliegenden besonderen Verhältnissen erfasst und beurteilt werden« (Vereinigte Stahlwerke AG 1939: IX). So ist vielleicht auch zu erklären, dass die Inventarisierung der Kohlenwäsche auf Zollverein erst zu dem Zeitpunkt fertiggestellt wurde, als die Planungen der Architekten für den Umbau des Gebäudes schon zur Genehmigung vorgelegt werden konnten. Als Roseneck dann schließlich einen vollständig unterschiedlichen Gegenentwurf zur Nutzung der Kohlenwäsche vorlegte, trennte man sich wieder. Da die denkmalpflegerischen Belange auf Zollverein grundsätzlich kein Thema für Öffentlichkeitsarbeit waren, geschah dies in aller Ruhe. Dagegen beschäftigte wochenlang ein gewaltiger Streit zwischen dem »Design Zentrum« auf Zollverein und der Entwicklungsgesellschaft die Gemüter auf Zollverein und die regionale Öffentlichkeit. Peter Zec, der Leiter des »Design Zentrums«, erhob Anspruch darauf, öffentliche Fördergelder eigenverantwortlich zu verwalten, und tat dies mit einer schmutzigen, öffentlichen Kampagne (vgl. Deuter 2004). Was dieser Streit für die Denkmalpflege auf Zollverein bedeutete, fasste Wulf Mämpel, der Leiter der Essener Lokalredaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in einem grundsätzlichen Kommentar am 11.12.2003 zusammen: »Die Zeit drängt. Das Bauprogramm muss endlich verwirklicht werden, es muss mit weniger Angst vor dem Denkmalschutz für die Pläne privater Investoren gekämpft werden.« Die Kohlenwäsche Im Zentrum der Investition von insgesamt etwa 110 Millionen Euro steht die Kohlenwäsche auf Zollverein Schacht 12, die mit einem Aufwand von fast 50 Millionen Euro umgebaut werden soll. Der Umgang mit diesem Objekt ist geeignet, die Arbeit auf Zollverein generell zu charakterisieren. Der Entscheidung, die Kohlenwäsche zu bearbeiten, gingen keinerlei Überlegungen voraus, wie denn die neue Nutzung durch das Ruhrmuseum mit der historischen Substanz vereinbar wäre. Mit den Planungen war allein das Kohlhaas’sche »Office for Metropolitan Architecture« und das Essener »Architekturbüro Böll

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& Krabel« beauftragt. Die Entwicklungsgesellschaft deklarierte das Architektenteam schlicht zu Denkmalpflegern um. »Architekten und Planer wie Rem Kohlhaas (Rotterdam), Heinrich Böll und Hans Krabel (Essen) sind Garanten für Weltklassearchitektur und einen verantwortlichen Umgang mit schützenswerter Industriearchitektur« (Entwicklungsgesellschaft Zollverein 2003).

Während die neue Architekten-Arbeitsgemeinschaft damit beschäftigt war, 15.000 Quadratmeter Nutzfläche aus der Kohlenwäsche herauszuschälen, war niemand vor Ort, der rechtzeitig und wirkungsvoll ein denkmalpflegerisches Veto eingelegt hat. So wurde – von allen Beteiligten mehr oder weniger bewusst ignoriert – ein spannendes Kapitel Industrie- und Architekturgeschichte zerstört. Berücksichtigt man, dass die Sanierung der Kohlenwäsche ein Kernstück des Projektes Zollverein ist und die Weichen für die Zukunft des Ensembles in finanzieller und organisatorischer Hinsicht stellt, muss man dies mit großem Bedauern feststellen. Abbildung 5

(aus Fritz Schupp, 1932)

Das Phänomen, mit einer gigantischen Anlage Kohlen zu waschen, ist für Laien nicht ganz einfach einzuordnen. Auch mit gewaschener Kohle macht man sich schließlich die Hände schwarz. Die Zeichnung eines Maschinenstamm-

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baumes der Wäsche auf Zollverein gibt wenig Aufklärung, sie mutet an wie ein Labyrinth geheimnisvoller, technischer Welten. Der Anblick der Maschinerie in der Kohlenwäsche auf Schacht 12 hinterließ bei den Besuchern des Museums Zollverein einen nachhaltigen Eindruck. Das etwa 50 Meter hohe Gebäude hat mit einer Grundfläche von 30 x 50 Metern gigantische Ausmaße. Wer es betrat, fühlte sich bald wie Charlie Chaplin in seinem Film »Moderne Zeiten«: hilflos überwältigt im Räderwerk der Maschinen. Für Nichtfachleute stellte sich deshalb die Wäsche auch als große Maschine dar, oder der Maschinenpark wurde undifferenziert als »maschinelle Skulptur« begriffen (vgl. Niethammer 2002). Diese Reaktionen zeugen einerseits von der extremen Faszinationsfähigkeit dieser Maschinenwelt und dokumentieren andererseits aber auch die Schwierigkeit, deren technische Funktion und gesellschaftliche Bedeutung zu begreifen. Dies ist nicht besonders verwunderlich, denn die Technik der Übertageanlagen eines Bergwerkes und insbesondere die Maschinerie einer Kohlenwäsche sind hochtechnisierte Ingenieurwerke, scheinbar unübersetzbar für den Verständnishorizont von Normalbürgern. Dazu kommt, dass Kohlenwäschen immer im Hintergrund gearbeitet haben. Selbst auf Zollverein Schacht 12 wäre die Wäsche – entsprechend den ersten Entwürfen von Schupp und Kremmer – hinter dem Wagenumlauf versteckt gewesen. Nur weil man hier Belastungen für die Fundamente im Bodenbereich erwartete, drehte man den Lauf der Bandbrücken um 180˚ und platzierte die Wäsche so, dass sie vom Eingang aus sichtbar wurde (vgl. Vereinigte Stahlwerke AG 1934: 394). Die wesentliche Funktion einer Kohlenwäsche hat sich seit der ersten Installation eines so genannten Stauchsiebes im Ruhrgebiet auf der Zeche »Mathias Stinnes« nicht geändert. Gewaschen wird mit Wasser. Man stelle sich den Goldwäscher mit einer Schüssel vor, in der er im Wasserbad den spezifisch schweren Goldstaub auf den Grund der Schüssel absinken lässt und die sich darüber lagernden leichten Steine vorsichtig herausschüttet. Die Bergleute mussten die beim Abbau anfallenden Mineralien wie Ton, Mergel oder Schiefer (in der Bergmannssprache Berge genannt) ebenfalls auswaschen, um möglichst reine Kohle zu erhalten. »Damit nicht genug, sind in der Rohförderkohle Eisenteile enthalten, vom Nagel bis zum Rutschenmotor« (Schönmüller 1955: 193), berichteten die Fachleute mit leisem Schmunzeln. Während die Eisenteile mit Magneten oder bei entsprechender Größe in einer Station vor der Kohlenwäsche, der Sieberei, getrennt werden konnten, blieb es dem Wasser der so genannten Setzmaschine vorbehalten, die Kohle wirklich zu waschen.

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Abbildung 6: Darstellung eines einfachen Stauchsiebes (S), das durch einen Hebel (H) im Wasser (F) bewegt wurde. Im Sieb erfolgte die Schichtung der Kohle und Berge entsprechend ihrer stark unterschiedlichen spezifischen Gewichte

Die Setzmaschine funktionierte nach den gleichen physikalischen Gesetzen wie die Schüssel der Goldwäscher und war Namensgeber und zugleich Herzstück der Kohlenwäschen. Auf der Zeche »Mathias Stinnes« in Essen stellte ein Aufbereitungsfachmann namens Roßenbeck aus Dresden im Jahre 1849 erstmalig im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbezirk drei so genannte »hydraulische Setzmaschinen« auf (vgl. Meyer 1950: 7). Mittels eines Kolbens, der auf die Wasseroberfläche drückte, brachte man darin das Wasser in Bewegung. Die auf einem Sieb im Wasser liegende Rohförderkohle ordnete sich – gemäß dem physikalischen Gesetz unterschiedlicher spezifischer Gewichte – in Schichten an. Die spezifisch leichte Kohle konnte dann abgeschöpft werden und für die schweren Berge hatte man je Maschine ein pferdebetriebenes Schöpfwerk installiert. Die Anlagen waren vermutlich in einem Holzschuppen untergebracht. In den Akten des Bergamtes war der Zweck dieser Kohlenwäsche vermerkt: »eine möglichst gleichförmige, frische Kokskohle, frei von Bergen und Schwefelkies, für die Herstellung eines guten, festen und genügend aschearmen Kokses aufzubereiten« (zit. n. ebd.: 7).

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Die allgemeine Einsicht jedoch, dass ein gewisser Aufwand notwendig sein würde, das Produkt Kohle verkaufsfähig am Markt zu etablieren, setzte sich im Bergbau des rheinisch-westfälischen Steinkohlenreviers erst allmählich durch. Nach Meyer (ebd.: 8) gab es im ganzen Ruhrgebiet zwischen 1850 und 1875 nicht mehr als 10 bis 15 Zechen, die Siebereien und Wäschen aufgestellt hatten. Erstmals im Jahre 1861 ist im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau eine Kohlenwäsche durch eine Maschinenbaufirma entwickelt und gebaut worden. Die 1856 von Hermann Sievers in Kalk bei Köln gegründete Firma hatte eine weitgehend mechanisierte und kontinuierlich arbeitende Kokskohlenwäsche konzipiert, die auf den Zechen »Vereinigte Carlsglück« (später »Dorstfeld 2«) und »Concordia« in Oberhausen errichtet wurde (vgl. Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund 1905: 8-12). Unter Fachleuten fand diese Ingenieursleistung später besondere Anerkennung. »Bis auf eine Nachklassierung [d.h. ein Sieb, mit dem die gewaschene Grobkohle in Korngrößen ausgesiebt wird; H.K.] war also bereits alles vorhanden, was auch eine hochmoderne Wäsche im Jahre 1949 aufweist, und das im Jahre 1861!« (Meyer 1950: 8)

Im Anschluss an die Gründerzeitkrise zu Beginn der 1870er Jahre sanken die Kohlenpreise drastisch, wobei gleichzeitig die Förderung rasant anstieg. Um nun das Produkt ›Kohle‹ am Markt absetzen zu können, begann man, dem Faktor Qualität mehr Beachtung zu schenken. Der Aufbereitung wurde nun mehr Bedeutung zugemessen und von den zunehmenden Aufträgen profitierten die Maschinenbaufirmen. Aus der Maschinenfabrik des Ingenieurs Sievers wurde die »Maschinenbau AG Humboldt«, aus der 1930 die »Klöckner Humboldt Deutz AG« hervorging. Daneben entwickelte sich unter anderen die 1856 gegründete »Baroper Maschinenfabrik«, die ebenfalls 1861 mit dem Bau von Aufbereitungsanlagen begann, zu einem großen Spezialunternehmen. Sie ging 1871 in die »Gewerkschaft Schüchtermann & Kremer zu Dortmund« über. Dazu kam im November 1927 die traditionsreiche Maschinenfabrik »Baum AG« in Herne und vervollständigte die Firma, welche auch die Kohlenwäsche auf Zollverein 12 liefern sollte, zur SKB genannten »Schüchtermann & Kremer-Baum AG«. Mit dem kurz darauf erfolgten Zusammenschluss der SKB und den Traditionsunternehmen »Westfalia, Bochum« und »R.W. Dinnendahl« in Essen-Steele entstand dann 1930 eine der weltweit bedeutendsten Aufbereitungsfirmen, die »Westfalia-Dinnendahl-Gröppel A.-G. Bochum« (WEDAG). Jede Firmenbezeichnung steckt voller einzelner Namen, die jeweils Symbol für einen Ingenieur, ein Unternehmen, Standorte und Facharbeiter waren. Für die Stahlindustrie wurden die Aufbereitungsfirmen bedeutende Kun-

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den. Im Jahre 1920 z.B. setzten sie etwa 80.000 Tonnen Stahl um. Das Gewicht des Stahls wurde dementsprechend zur zentralen Betriebskennzahl der Maschinenbaufirmen. Die Jahresproduktion der nahezu vollständig aus Stahl bestehenden Anlagen bilanzierte man nach Tonnen. Auch die jährliche Leistung eines Werkstattarbeiters berechnete man für 1885 nach dem Stahlgewicht von 7,46 Tonnen. Mit Stolz und Selbstbewusstsein konnte man 1919 auf eine gewaltige Leistungssteigerung hinweisen, denn in diesem Jahr erzeugte ein Werkstattarbeiter nicht weniger als durchschnittlich 1260 Tonnen (vgl. Withake 1920: 61). Auch die Qualität der Anlagen verbesserte sich ständig. Die Erfindung der Maschinenfabrik Baum, welche das Wasser der Setzmaschine mit Druckluft in Bewegung setzte, anstatt – wie vorher – mit einem Kolben rhythmisch auf die Wasseroberfläche zu drücken, hat die Technik der Aufbereitung revolutioniert. Während die luftgesteuerte Setzmaschine in Deutschland etwas langsamer die alten Anlagen verdrängte, hatte sie auf dem Weltmarkt unmittelbar einen durchschlagenden Erfolg. »Im Auslande, insbesondere in England, nahm diese Setzmaschine bald eine führende Stellung« ein (Thein 1950: 1225). Die deutsche Aufbereitungsindustrie entwickelte sich in dieser Phase mit immer besseren Systemen und Anlagen zu einem bedeutenden Anbieter auf dem Weltmarkt. Bis 1880 wuchs die Zahl der Wäschen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet langsam und nur auf 23 Anlagen. In den folgenden 20 Jahren entstanden jedoch nicht weniger als 177 Kohlenwäschen! Dabei kümmerten sich die Maschinenbaufirmen in dieser Zeit nicht nur um die Konzeption des Verfahrens – zugeschnitten auf die Verhältnisse des jeweiligen Bergwerkes –, sondern auch um die Errichtung der Gebäude für die Aufbereitungsanlagen. Die ersten Kohlenwäschen waren noch mit Holz gebaut. Jedoch brannten schon sehr früh einige ab, so dass man schnell zu massiver Bauweise überging. Entsprechend der rasanten Qualitätssteigerung wuchs auch die Leistungsfähigkeit der Kohlenwäschen. Zur Jahrhundertwende hatten etwa 52 Prozent der Wäschen eine Leistung von weniger als 100 Tonnen in der Stunde. Aber schon damals waren die ersten Doppelwäschen mit zwei Maschinensystemen von je 100 bis 125 t/h auf Bergwerken zu finden, die gleichzeitig Fett- und Gaskohle förderten (vgl. Meyer 1950: 9). Der Auftrag, für die leistungsfähigste Schachtanlage der Welt eine passende Aufbereitung zu bauen, traf im Jahre 1928 auf eine gut vorbereitete, regionale Maschinenbauindustrie. Gleichwohl war die Kohlenwäsche auf Zollverein 12 ein besonderer Auftrag. Im Jahre 1925 gab es nur vier Wäschen, die mit knapp 400 t/h absolute Spitzenleistung erreichten (vgl. Thein 1950: 1230). Entsprechend der gewaltigen Steigerung der täglichen Förderung auf

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Abbildung 7: Querschnitt und Längsschnitt durch eine kontinuierlich arbeitende Setzmaschine, bei der das Wasser durch Steuerung von Luftimpulsen mittels Ventilen (L) in eine wellenförmige Bewegung versetzt wurde

12.000 Tonnen musste die Wäsche mit 800 t/h das Doppelte der bisher erreichten Spitzenleistung aufbereiten können. Nachdem bei vorbereitenden Besprechungen mit dem Bergwerk Zollverein die besonderen Verhältnisse analysiert worden waren, entwarf die »Schüchtermann & Kremer-Baum A.-G.« die Konzeption für den Maschinenstammbaum der Wäsche. Die Firmen »Hochtief« und »Dortmunder Union Abt. Brückenbau« (Letztere zum gleichen Stahlkonzern gehörend wie die Zeche Zollverein) übernahmen die Arbeiten des Beton- und Stahlbaues. Für die Gestaltung waren die Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer zuständig. Wie intensiv das Zusammenspiel war, berichtete Fritz Schupp: »Beim Bau dieser Anlage verlief die Zusammenarbeit mit den Ingenieuren besonders günstig. Die Eisenkonstruktionsfirma (Dortmunder Union) war in ständiger Gemeinschaftsarbeit mit den Architekten bestrebt, zu einer ästhetisch befriedigenden Lösung zu gelangen« (Schupp 1932: 643).

Entwickelt wurde eine Wäsche mit zwei identischen Aufbereitungssystemen. Im Zentrum der Anlage fanden die Setzmaschinen ihren angemessenen Platz. In Kombination aus statischen und ästhetischen Argumenten wurden sie von einer Reihe besonderer Portalrahmen innerhalb des Gebäudes gerahmt. Ta-

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geslicht flutete durch gläserne Dachreiter über die gesamte Länge der Setzmaschinenstraße auf diesen bedeutendsten Raum der Kohlenwäsche. Die Kohle, auch als ›gespeicherte Sonnenenergie‹ bezeichnet, begegnete hier zum ersten Mal nach drei Millionen Jahren wieder ihrer Energiespenderin – eine beeindruckende Atmosphäre, geschaffen durch die nahezu perfekte Zusammenarbeit von Ingenieur und Architekt!5 Abbildung 8: Querschnitt durch die Kohlenwäsche von Zollverein 12. Mittig auf der 24 m Ebene befand sich die Setzmaschinenbühne, über der die Dachfenster angeordnet waren

Auf der Setzmaschinenbühne war der Arbeitsplatz des »Waschbären«. So wurde der Arbeiter genannt, der mittels eines Hebels die Maschinen so bedienen musste, dass die Bergeschicht und die Kohleschicht möglichst exakt getrennt wurden. Das Wasser im Setzfass war jedoch so schwarz und trübe, dass er nur mittels eines Besenstieles die Schichtdicke ertasten konnte. Diese extrem ungenaue Methode hatte nicht nur zur Folge, dass das Produkt Kohle sehr unrein sein konnte, auch landeten große Mengen Kohle auf den Bergehalden. Manchmal entzündeten sich die Halden deshalb von selbst und

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verunreinigten jahrelang, schweflig stinkend, die Luft. Aber schon zwei Jahre nach Inbetriebnahme der Wäsche wurde die Steuerung der Setzmaschinen auf Zollverein automatisiert. Mittels eines Schwimmers konnte nun die Schichtdicke der Berge im Setzfass exakt abgetastet und mit der Austragsöffnung gekoppelt werden. Der »Waschbär« musste sein Erfahrungswissen jetzt durch das Wissen einer immer exakter werdenden ›Aufbereitungswissenschaft‹ ersetzen. Abbildung 9: Die Setzmaschinenbühne im Jahr 1932

Die Kohlenwäsche aber war immer nur ein nachgeschalteter Betriebspunkt des Bergwerkes, der möglichst jederzeit zu funktionieren hatte. Störungen mussten bei laufender Arbeit behoben werden und die Techniker vor Ort waren gezwungen, Umbauten an förderfreien Tagen durchzuführen. Unzählige Weihnachts- und Osterfeiertage opferten sie dafür. Und sie waren erfolgreich: Die Wäsche funktionierte! Als den Untertagesteigern einmal mahnend von der Direktion auf Zollverein gesagt wurde, dass doch übertage alles so wunderbar reibungslos liefe, konnten sie der Zechenleitung nur den weisen Ratschlag auf den Weg geben: »Dann macht doch die Grube zu und arbeitet nur oben weiter!«6 Die Kohlenwäsche auf Zollverein, das sollten auch wir aus dieser Anekdote lernen, ist nicht isoliert zu betrachten. Trotz ihrer gewaltigen Dimension ist sie nur ein Rädchen im Getriebe des Bergwerkes Zollverein gewesen – wenn auch ein ziemlich großes. Am 28. September 2003 lud die Entwicklungsgesellschaft Zollverein als

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Bauherr zum feierlichen Startschuss für die Sanierung der Kohlenwäsche ein. Jenseits aller Bestrebungen, der Geschichte wenigstens versuchsweise gerecht zu werden oder diese überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, wurde dabei die Drohung, das Gebäude abzureißen, wenn es denn nicht nach den Planungen von Kohlhaas und dem lokalen »Architekturbüro Böll & Krabel« komplett saniert würde, zur Rechtfertigung für eine Konzeption, die am Ende die Kohlenwäsche als potemkinsches Dorf der Denkmalpflege hinterlassen wird. Hätten die Planer und Architekten wenigstens die Aufsätze zu Rate gezogen, in denen Fritz Schupp 1932 seine Gestaltung der Wäsche auf Zollverein in all ihren bedeutenden Grundsätzen beschrieben hat (vgl. Schupp 1932: 638, 1954: 233ff.), dann wären komplizierte historische Untersuchungen gar nicht nötig gewesen, um zu denkmalgerechten Planungen zu kommen. Die neuen Ansprüche lassen aber wenig Respekt vor der genialen Gestaltung von Schupp und Kremmer erkennen, die sich sehr intensiv um die Herausarbeitung ruhiger, einfacher Formen bemühten. So »kommt es darauf an, eine günstige Abstimmung der beiden verschiedenen Materialien (Beton und Stahlfachwerk) im äußeren Aufbau zu erzielen und dem Bau durch möglichste Vereinfachung diejenige Haltung zu geben, die seinen beträchtlichen Ausmaßen entspricht«.

Gleichsam als äußerlich sichtbares Zeichen der neuen Architektur wird dagegen heute eine verglaste »Gangway« auf der östlichen Schauseite der Wäsche vom Zechenbahnhof mittig in die Fassade zur 24 Meter entfernten Bühne (Etage) gebaut. Es ist wenig bedeutend, dass Schupp streng darauf achtete, dass sich »die Wahl der künstlerischen Mittel im einzelnen auf das schlichteste beschränkt«. In der Beschreibung der Gangway spürt man den Stolz, die alte Architektur durch Neues zu ›verschönern‹: »[B]ereits der Weg über die längste Rolltreppe in Europa wird zum faszinierenden Erst-Kontakt mit Zollverein« (Entwicklungsgesellschaft Zollverein 2003). Warum sollte man sich auch an die intensiven Bemühungen von Schupp und Kremmer erinnern ... »Wie bei solchen Bauten die Lösung der Frage beider Baustoffe (Beton und Stahlfachwerk) durch den künstlerisch beratenden Architekten vorwiegend in der Abwägung der Massen bestehen kann, so wird die Entwurfsarbeit schon schwieriger, durch die Einordnung der Transportbrücken, die oft zu einem recht unvermittelten und architektonisch unglücklichen Zusammentreffen […] führen können« (Schupp 1954: 234).

Die Gangway jedenfalls zerstört das formale Gefüge der originalen Fassade in ihrer künstlerischen Aufteilung. Die Entscheidung, eine Gangway vom ehemaligen Zechenbahnhof aus in die Mitte der Ostfassade der Kohlenwäsche zu

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bauen, gleicht dem Versuch, ein vegetarisches Gericht durch das Hinzufügen eines Wiener Schnitzels zu verfeinern. Abbildung 10: Zwischen die original erhaltenen Bandbrücken vor der Ostfassade der Kohlenwäsche wird heute eine ›Gangway‹ mit Rolltreppen und Fluchttreppenanlagen von Zechenbahnhof schräg hinauf auf die 24 m Ebene konstruiert

Ist schon die ursprüngliche Architektur der äußerlich sichtbaren Fassaden des Gebäudes den heutigen Projektbetreibern nur ein relativer Wert, so ist die geniale Gestaltung der Innenräume mit ihrer Inszenierung des Gedankens der Verschmelzung von Gebäude und Maschine am Beispiel der Kohlenwäsche offenbar zu keiner Zeit bewusst gewesen. Es scheint vollkommen wirkungslos geblieben zu sein, dass Schupp und Kremmer gebetsmühlenhaft den Kern ihrer Gestaltung als Zusammenspiel von Ingenieur und Architekt oder Form und Funktion wiederholt haben. Während der Heizerstand im Kesselhaus noch das Glück hatte, mit Sir Norman Foster einem weltoffenen Architekten zu begegnen, der auf Anhieb die Zollverein-Architektur als ›Industriedesign‹ in seiner ursprünglichsten Bedeutung begriff, ist die Qualität der Setzmaschinenbühne hinter den Scheuklappen der Zukunftsvisionäre verborgen geblieben. Sie wird zum touristischen Besucherzentrum mit ruhrgebietsweiter Bedeutung ausgebaut. Wie auf Zollverein inzwischen üblich, überschattet der Wunsch nach möglichst endlosen »communication desks«,

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Toiletten, Garderoben, Aufzügen etc. jeglichen Blick auf die maschinelle Einrichtung. Und wer das heutige Besucherzentrum in der Umformerhalle kennt, wird den Setzmaschinen das gleiche Schicksal der Nebensächlichkeit vorhersagen können, wie es die Umformer dort schon erfahren haben. Die als einzigartig faszinierendes Bild der Moderne inszenierte Maschinenwelt der zentralen Bühne der Wäsche wird zum Foyer der Ruhrgebiets-Touristik transformiert und verschwindet schließlich vollständig durch die Verschrottung der meisten maschinellen Anlagen. Der größte Verlust der ursprünglichen Gestaltung der Setzmaschinenbühne jedoch wird durch den Veranstaltungsraum entstehen, der in 37 Meter Höhe auf dem ehemaligen Dach darüber gebaut wird. Nur zu gern erklärten die heutigen Architekten den Dachaufbau, der erst fünf Jahre vor Stillegung Zollvereins gebaut wurde, als Teil des historischen Gebäudes. Ihr neuer Veranstaltungsraum wird natürlich um ein weniges größer als dieser Dachaufbau und damit die noch vorhandenen Reste der Lichtkuppel über der Setzmaschinenbühne verbauen. Niemand wird dann mehr erleben können, wie Tageslicht den Raum durchflutet und sich auch nur annähernd vorstellen können, wie hier die Kohle zum ersten Mal nach drei Millionen Jahren ihrer Energiespenderin begegnete. Wo, wenn nicht hier lässt sich das Ergebnis der Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur unmittelbar in seiner Genialität betrachten. Das zumindest wird – in Beantwortung der Frage von »Bruce Mau Design« – nicht mehr Zollverein sein. Den vor diesem Hintergrund schon selbstverständlich erscheinenden, zusätzlichen Verlust der Originalität des Ortes wird die Verschrottung der übrigen Maschinerie verursachen, die auf den unteren Bühnen einem fast 100prozentigen Kahlschlag gleichkommt. Kompromisslos fordern das »Design Zentrum« und das später einziehende Ruhrmuseum hier vollkommen leere Räume. Bei derart grenzenloser Radikalität der Vernichtung historischer Elemente ist den Projektbeteiligten schließlich auch die Substanz des Gebäudes als Original ein verzichtbares Element. Die neue Kohlenwäsche ist dann an die Bedürfnisse eines Museums angepasst. Wärmedämmung, Feuchtigkeitsregulierung und andere bauphysikalische Belange müssen künftig mit höchsten Qualitätsstufen berücksichtig werden, wo früher nur eine dünne Außenhaut als Wetterschutz nötig war. So wird die gesamte Fassade der Kohlenwäsche abgerissen und – orientiert an den neuen Bedürfnissen – wieder aufgebaut. Schmunzelnd und voller Stolz über ihren potemkinschen Geniestreich sind die Projektbeteiligten fest davon überzeugt, dass es aussieht wie ein Original. Selbst die Tatsache, dass die Fassade mehr als 60 Zentimeter dicker werden wird, scheint kein Problem. Das, so erwarten sie, fällt doch gar nicht auf. Angesichts dieser Planungen wird deutlich, dass dieser ›Zukunftskreuz-

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zug‹ offensichtlich gegen alles verstößt, was einer Kultur des Bewahrens entsprechen könnte – dennoch verpflichtete man die Landesdenkmalpflege auf die behördliche Genehmigung der Transformation. Dies war nicht besonders schwierig, da der Minister für Stadtentwicklung, der schon beim Startschuss der zweiten Projektphase auf Zollverein vergaß, das Wort ›Denkmal‹ zu erwähnen, gleichzeitig sowohl den Vorsitz der Aufsichtsgremien der Entwicklungsgesellschaft hat, als auch Vorgesetzter der Genehmigungsbehörden ist. Das Rheinische Amt für Denkmalpflege kam nach jahrelanger Abwesenheit nach Zollverein zurück und die Genehmigung der neuen Fassaden der Kohlenwäsche wurde gleich zum Gang nach Canossa. Während auf der benachbarten Zeche »Nordstern« Gebäude gleicher Bauart aus der Denkmalliste gestrichen wurden, weil sie ebenfalls eine vollständig neue, potemkinsche Fassade bekommen hatten, konnte eine Genehmigung für die Kohlenwäsche Zollverein nur mit blumigen Formulierungen und einem Spezialgutachten erteilt werden. Zu tief war diese Neukonstruktion unter die grundsätzliche Norm der Denkmalpflege abgesunken. Für die Projektbetreiber Zollvereins wurde damit zum wiederholten Mal ihre Sichtweise bestätigt, die leicht mit zahllosen weiteren Beispielen zur Behandlung des industriellen Erbes der Kulturlandschaft Zollverein zu belegen wäre: ›Was schert uns das Original von gestern, wenn wir dabei sind, einen Zukunftsstandort zu entwickeln?‹ Vor diesem Hintergrund zogen sich die engagierten Industriedenkmalpfleger vom Projekt zurück – und niemand im direkten und indirekten Einflussbereich des Ministers scheint die UNESCO über die fatalen Folgen einer Beispielfunktion der Behandlung dieser Welterbestätte zu informieren. Warum legt man eigentlich nach langen Überlegungen die Durchgangsstraße neben dem Weltkulturerbe Stonehenge (England) unter die Erde, um das Original in seiner ursprünglichen Wiesenlandschaft zeigen zu können? Für den Zukunftsstandort Westengland wäre eine Autobahn der Mindeststandard. Oder warum baut man nicht eine Pyramide ab und rekonstruiert die Außenhülle neu. Damit ließe sich ein wunderbarer Zukunftsstandort ›Pyramidenlandschaft‹ machen und der frei gewordene Innenraum wäre durch ein Kongresszentrum mit Hotel und Gastronomie beispielhaft für eine Neunutzung alter historischer Bauten… Sie werden lachen, lieber Leser, liebe Leserin, dieser Vorschlag wurde allen Ernstes von einem hochrangigen Vertreter der Stadt Essen – ganz im Geiste der Zukunftsvision Zollvereins – als sinnvoll und hervorragend angenommen. Der ehemalige Direktor der Internationalen Bauausstellung macht die grundsätzliche, strukturelle Schwierigkeit Zollvereins in gewohnter Weise deutlich: »So geht es nicht und so wird es auch nichts, denn viele reden mit, aber keiner hat das

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Sagen, denn keiner will das Sagen haben, weil er dann auch die finanzielle Verantwortung hätte« (Ganser 2004: 49).

Die Grundfrage ist also, wer Zollverein auf Dauer finanziert. Und diese Frage ist nicht geklärt! Sollte eine Finanzierung Zollvereins gelingen, ist (erneut) für eine systematische und professionelle Denkmalarbeit noch lange kein Cent zu erwarten. Heute ist deutlicher denn je, dass das Gleichgewicht zwischen Bewahren und neuer Nutzung eigentlich gar kein Thema auf Zollverein ist: »Was Zollverein in der ganzen Zeit nach der Stillegung bis heute fehlt, ist Kompetenz im zweifachen Sinne: Die Kompetenz, die kulturgeschichtliche Bedeutung und Zukunftschance dieses Areals zu erkennen« (K-West, März 2002, S. 49).

Während es für die Zukunftschancen Zollvereins zu viele Kompetenzen gibt, versucht dieser Beitrag festzustellen, das es für die kulturgeschichtliche Bedeutung des Denkmals im Gegensatz dazu keinerlei Kompetenz gibt, die auch nur annähernd ihrer Bedeutung angemessen wäre. Nicht einmal der Wille, sich dieser Perspektive zu öffnen, scheint in der Region vorhanden zu sein. Das Szenario einer Landesförderung für eine von Karl Ganser als »Zollverein-Schloss« bezeichnete Lösung bleibt wohl ein Vorschlag, dem keine Aussicht auf Realisierung gegeben ist. Möglich dagegen scheint allerdings eine Wiederholung der als »Ruhrposse« (Becker 2001) bezeichneten Transaktion von Peter Zec, dem Geschäftsführer des »Design Zentrums« aus dem Jahre 2001. Nachdem dieser sein eigenes Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten gebracht hatte, kaufte er kurzerhand als Privatmensch voller Mitgefühl und Hilfsbereitschaft dessen Paradestück und Goldesel, den »red dot« genannten Design-Wettbewerb für 400.000 DM auf. Da das Thema Design auf Zollverein in der regionalen Politik als angeblich ›arbeitsplatzrelevant‹ einen hohen Stellenwert hat und den Rang einer Weltausstellung bekommen soll, ist nicht auszuschließen, dass auch Zollverein bei nächster Gelegenheit für ein paar Euro den Besitzer wechselt. Hoffnungen darauf, dass das neue Ruhrmuseum auf Zollverein angemessene gedankliche Impulse für eine akzeptable Wertschätzung der Vergangenheit des Weltkulturerbes geben kann, scheinen ebenfalls verfehlt. Das Ruhrlandmuseum in Essen, das zum Ruhrmuseum auf Zollverein werden soll, hat vor langer Zeit einmal Engagement für die baulichen Zeugnisse der städtischen Vergangenheit gezeigt und eine hervorragende Broschüre dazu erstellt (vgl. Reif/Winter 1986). Doch das scheint der Vergangenheit anzugehören. Wie unaufmerksam das Museum heute geworden ist, zeigt sich bei seinem umfangreichen und repräsentativen Bildband »Ansichtssachen, Bilder aus Essen«, der nahezu zeitgleich mit der Verleihung der Welterbeplakette für Zollverein erschien. Weniger als eine Hand voll Fotos von Zollverein fan-

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den darin Platz. Die Schachtanlage Zollverein 12 taucht nur auf Seite 186 als Bildunterschrift auf (Schneider 2002: 186). Das Bild jedoch zeigt den Zecheneingang der Zeche »Pluto« in Wanne-Eickel! Man muss dem Museum nicht abfordern, Kenntnis von den technischen Hintergründen der gestalterischen Unterschiede der zwei Fördergerüste zu haben (vgl. Witt 1954: 234ff.). Dies wäre eher die Aufgabe einer professionellen Geschichts- und Denkmalarbeit zum Weltkulturerbe Zollverein – die ja nicht stattfindet. Vielleicht wäre allerdings der Hinweis auf die Dokumentationsarbeit von Bernd und Hilla Becher angebracht, die sich mit ihren Fotos um eine differenzierte Wahrnehmung der Formenvielfalt industrieller Objekte bemüht haben. Man muss sich allerdings schon ernsthaft fragen, warum das tausendfach reproduzierte Bild des Fördergerüstes von Schacht 12 sich nicht in den Köpfen der örtlichen historischen Instanz festgesetzt hat. Dies umso mehr, als bei jedem Besuch auf Zollverein den Historikern des Ruhrlandmuseums hätte deutlich werden müssen, dass nur da, wo der Schriftzug »Zollverein« unter dem Fördergerüst zu lesen ist, auch wirklich Zollverein Schacht 12 ist. Diese Panne ist – bei der ansonsten für absolut verlässliche Recherchen bekannten Arbeit des Museums – ein singuläres Ereignis und spiegelt nicht die Qualität der Museumsarbeit wieder. Aber gerade deshalb scheint sie umso mehr ein Zeichen für die inzwischen allgemein fehlende Aufmerksamkeit und Wertschätzung des industriellen Erbes im Ruhrgebiet zu sein. Im Gefühl, dem ›Angriff der Industriegeschichte auf die übrige Zeit‹ (Heinemann 2003: 56) der Region ausweichen zu müssen, wendet man sich heute offenbar von der Beschäftigung mit dem industriellen Erbe innerlich vollständig ab. Mag sein, dass die Bestrebungen, das Ruhrgebiet neu zu ordnen und als Ruhrstadt einen Anfang zu machen, der den Gemeinsamkeiten der Region Rechnung trägt, eine Chance bietet, sich ein wenig professioneller mit dem industriellen Erbe zu beschäftigen. Vorstellbar ist aber auch, dass man aus Freude daran, dass der Himmel über der Ruhr endlich blau geworden ist, seine Wurzeln nur noch außerhalb jener Epoche sucht, die als Industriezeitalter das Leben der Menschen in vorher nie da gewesener Radikalität verändert hat. Angesichts dieser Entwicklung würde der Autor heute gern seine Unterschrift unter dem Antrag zur Aufnahme Zollvereins in die Liste der Welterbestätten der UNESCO zurücknehmen. Gemeinsam mit »Bruce Mau Design« könnte man dann intensiver der »stupid question« nachgehen: Was ist Zollverein? Mag sein, dass sie erst viele Generationen später zu beantworten ist. Erst wenn ehrlich gesagt werden kann: ›Die ehemalige Industrielandschaft Zollverein ist Weltkultur! Und wir wollen die bergbauliche Kulturlandschaft mit ihren Denkmalen erhalten!‹, würde der Autor wieder einem neuen Antrag zustimmen.

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Abbildung 11: ›Ask stupid questions‹, Design Bruce Mau (Toronto)

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Anmerkungen 1 Eine lange Liste der Institutionen, Unternehmen und Projekte auf Zollverein findet man in: Forum Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 1/2002, S. 65 und S. 26. 2 »Die Bauausstellung soll aber vor allem demonstrieren, welche vielfältigen Formen der Erhaltung möglich sind […]« (ebd.: 36). 3 In der Betriebsbiographie der Zeche Zollverein waren seit 1848 schon insgesamt 11 Schächte abgeteuft worden. 4 Frei auf Zollverein umformulierte Passage aus: Hubert Wolf, Dieses Weltkulturerbe ist bedroht – weil Köln vier Hochhäuser plant, steht der Dom auf der roten Liste der UNESCO, WAZ vom 15.06.2004. 5 Fünf Jahre vor der Stillegung setzte man einen profilblechverkleideten Aufbau über den mittleren Bauabschnitt der Wäsche und reduzierte dabei die gläsernen Dachreiter auf etwa ein Drittel ihrer ursprünglichen Länge. Nach der Stillegung demontierte man die Maschinen, welche den Dachaufbau nötig gemacht hatten. (Fritz Schupp in: Der Bau und die Bauindustrie, 1954, S. 234). 6 Frei nacherzählt aufgrund einer Anekdote des Elektrofahrsteigers Hornemann (Mitglied in der Geschichtswerkstatt Zollverein). Literatur Becker, Silke (2001): »Herr des Roten Punktes«. In: Kunstzeitung Oktober 2001. Deuter, Ulrich (2004): »Zeche Zollzank«. In: K. West März, S. 45. Entwicklungsgesellschaft Zollverein (Hg.) (2002): Zollverein Europäische Denkmaltage 2002, Essen. Entwicklungsgesellschaft Zollverein (Hg.) (2003): Startschuss für die Sanierung der Kohlenwäsche, Text zur Pressekonferenz am 23.09.2003. Entwicklungsgesellschaft Zollverein (Hg.) (2004): Zollverein 31/8, Jan/Febr. Ganser, Karl (2002): »Auf Zollverein, da schaut das ganze Ruhrgebiet in den Spiegel«. In: Forum Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 1. Ganser, Karl (2004): »Zollverein ist Landessache. Der geschichtlichen Realität ›ein Schloss bauen‹«. In: K west März 2004, S. 49. Ganser, Karl/Grunsky, Eberhard/Kania, Hans/Mainzer, Udo (1999): Zeche Zollverein in Essen. Eine Denkmallandschaft von Weltrang im Herzen Europas, Essen. Heinemann, Ulrich (2003): »Industriekultur: Vom Nutzen zum Nachteil des Ruhrgebietes?« In: Forum Industrie und Denkmalpflege und Geschichtskultur 1.

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Hans Kania ➔ »Was ist Zollverein?«

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Kania, Hans (2002): »Zollverein Schacht 12«. In: Massimo Preite/Gabriella Maciocco (Hg.), Da minera a museo, il recupero die siti minerari in europa, Florenz. Knierim, Winfried/Kania, Hans (1998): Industriedenkmal Zollverein – Die neue Nutzung, Essen. Lüth, Johann Peter (1989): »Vorwort« zu: Armin Schmitt, Denkmäler Saarländischer Industriekultur, Saarbrücken. Meyer, Hermann (1950): »Einhundert Jahre Steinkohle-Aufbereitung an der Ruhr«. In: Bergfreiheit 15/3. Ministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (MSWV) (Hg.) (1989): Internationale Bauausstellung Emscher-Park, Memorandum zum Inhalt und Organisation, Düsseldorf. Niethammer, Lutz (2002): »Zukunft im Rückblick. Für ein Bergwerk an der Emscher«. In: ders., Ego-Histoire? und andere Erinnerungs-Versuche, Köln; Weimar; Wien. Reif, Heinz/Winter, Michael (1986): Essener Zechen. Zeugnisse der Bergbaugeschichte, hg. von der Stadt Essen, Essen. Rossmann, Andreas (2002): »Zeche Zukunft«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.02.2002. Schneider, Siegrid (2002): Ansichtssachen. Bilder von Essen, Essen. Schönmüller, J.R. (1955): »Die Aufbereitung der Steinkohle einst und jetzt, ihre Aufgaben und ihre technische Entwicklung«. In: Die Grubenlampe, Werkszeitschrift für die Belegschaft der Steinkohlenbergwerke HannoverHannibal AG Bochum. Schupp, Fritz (1932): »Gestaltungsfragen beim Industriebau – erläutert am Bau von Kohlenwäschen«. In: Zentralblatt für Bauverwaltung vereinigt mit Zeitschrift für Bauwesen 54. Schupp, Fritz (1954): »Stahlbeton und Stahlfachwerk am gleichen Bau«. In: Der Bau und die Bauindustrie 9. Schupp, Fritz/Kremmer, Martin (1929): Architekt gegen oder und Ingenieur, Berlin. Thein, Konrad (1950): »Die Entwicklung der Steinkohleaufbereitung in den letzten hundert Jahren«. In: Glückauf. Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund (Hg.) (1905): Die Entwicklung des Niederrheinisch-Westfälischen Steinkohlenbergbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bd. IX, Aufbereitung, Kokerei, Nebenproduktgewinnung, Brikettierung, Ziegelei, Berlin. Vereinigte Stahlwerke AG (Hg.) (1934): Zeche Zollverein, Essen. Vereinigte Stahlwerke AG (Hg.) (1939): Die Zeche Prinz Regent, Essen.

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Withake, Julius (1920): Die Rheinisch-Westfälische Industrie fuer Kohlenaufbereitungsanlagen. Ihre Entwicklung und wirtschaftliche Bedeutung, Würzburg. Witt, H.P. (1954): »Neue Fördergerüste im In- und Ausland«. In: Bergfreiheit 19. Wolf, Hubert (2004): »Dieses Weltkulturerbe ist bedroht – weil Köln vier Hochhäuser plant, steht der Dom auf der roten Liste der UNESCO«. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 15.06.2004.

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➔ Neue Inhalte und ihre Vermittlungsstrategien

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) T04_00 RESP neue inhalte 3.p 92107230246

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) vakat 144.p 92107230294

Susanne Hauser ➔ Anmerkungen zum Industriemuseum



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Anmerkungen zum Industriemuseum

Susanne Hauser Industriemuseen als Avantgarde: Ein Rückblick Bis in die 1970er Jahre war die Musealisierung der Industrie ein exotisches Unterfangen. Gewiss, es gab frühe Industriemuseen wie das Bergbaumuseum in Bochum, bereits in den 30er Jahren entstanden, die Bergwerke von Falun in Schweden, die seit den 40er Jahren unter Denkmalschutz stehen, oder auch das geographisch weit ausgreifende Museum im »Ironbridge Gorge« in England, das seit den 60er Jahren langsam entwickelt wurde. Doch erst ab Mitte der 70er Jahre sind Industriemuseen nicht mehr vereinzelte Unternehmungen und Ergebnisse der Arbeit speziell interessierter Enthusiasten oder Liebhaber. Diese erscheinen nun als Vorläufer einer breiten Entwicklung, die der materiellen Geschichte der Industrie und der industriellen Arbeit Interesse entgegenbringt und diese Geschichte innovativen Deutungen unterzieht. Was um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert noch der Traum einer verschwindenden Minderheit unter Museumsfachleuten und Ingenieuren war, erregt jetzt allgemeines Interesse und führt in Europa und den USA zu zahlreichen neuen Museumsgründungen. Bis dahin mussten viele kulturelle, symbolische Hürden fallen, die um 1900, als das Werben für eine Einreihung überholter Maschinen und aufgegebener Anlagen der Industrie unter die museumstauglichen Gegenstände in Europa begann, noch zu überwinden waren. Zu den größten Widerständen zählte der Vorbehalt einer ›Hochkultur‹ gegenüber den kulturellen Leistungen von Unter- und Mittelschichten, die Annahme, Kulturleistungen seien individuell und nicht kollektiv, sowie die besonders im deutschen Sprachraum in verschiedenen Variationen verbreiteten Entgegensetzungen von Kultur und Technik, Schönheit und Technik sowie Kultur und Arbeit. Der Kontext, in dem diese Gegensätze und konzeptionellen Grenzen aufgelöst und überschritten wurden, ist als Bedingung der Entstehung von Industriemuseen zu historisieren – und zu bedenken, wenn es um eine neue Orientierung ihrer Arbeit heute gehen soll. Zu diesem Kontext gehört der Umbruch der Schwerindustrie in den alt-industrialisierten Ländern Europas, Asiens und der USA. Die Ressourcen waren entweder erschöpft oder ihre Gewinnung war unrentabel geworden, sodass sich der Bergbau und an ihn anschließende erste Verarbeitungsprozesse in andere Weltregionen verlagerten. Seit den 1960er Jahren wurden Brachen zum vertrauten Anblick in alten Industriegebieten. Diese ersten deutlichen Anzeichen eines grundlegenden Strukturwandels fielen zeitlich mit einer starken und über die studentischen Proteste um 1968 weit hinausreichen-

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den politischen Bewegung in den westlichen Demokratien zusammen, die mit ihren auf Demokratisierung gerichteten Forderungen nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit meinte: Nicht nur das Bürgertum, nicht nur der Adel haben eine Geschichte, sondern auch Arbeiter und Arbeiterinnen – und folglich kommt auch den Gegenständen, mit denen diese umgingen, museale Würde zu. Museale Formulierungen der industriellen Vergangenheit folgen dieser Erweiterung des allgemeinen politischen und historischen Themenhorizonts – wie auch die Geschichtswissenschaft, die die vorherrschende politische und Ideengeschichte durch Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ergänzt und neue Zugänge zur Geschichtsschreibung ausformt. Museen knüpfen beispielsweise an die Ergebnisse der oral history, der »Geschichte von unten« oder an die der »Grabe wo du stehst«-Bewegung an, die vor allem in Schweden zahlreiche Gründungen von Industriemuseen gefördert hat. Neue Fragestellungen aus Volkskunde, Anthropologie, Kunst- und Baugeschichte bereichern ebenfalls die Ausgestaltung von Industriemuseen. Zentral für die Bestimmung des Horizonts dessen, was die Ausstellung musealisierter Industrie zu leisten hat, bleibt dabei die politische und von Museumsbesuchern offensichtlich geteilte Überzeugung, die jeder vergangenen Tätigkeit, jeder erhaltenen Spur eine Bedeutung und einen Wert zuerkennt. Maurice Daumas hat diese Überzeugung und die große Zustimmung, auf die sie damals traf, 1980 in Bezug auf Museen der Industrie und der Alltagswelt folgendermaßen zusammengefasst: »Das Projekt des Aufbaus eines Erdölmuseums oder eines Museums des Kalibergbaus, des Holztransportschlittens oder der Landmaschinen war nicht für jeden unmittelbar einzusehen. Es wäre für abgeschmackt gehalten worden, wäre da nicht die von einer großen Mehrheit geteilte Überzeugung gewesen, daß alle Menschen des Erinnerns und also auch des Vorkommens in einem Museum würdig sind. Auch wenn sie dabei nicht als Individuen genannt werden, so erscheinen sie doch wenigsten als Mitglieder einer Gruppe, die einen bestimmten Ort bewohnt oder dort gearbeitet hat. Dementsprechend sind alle Formen menschlicher Aktivität des Erinnerns und also der Musealisierung würdig und seien sie auch noch so banal. Daraus folgt, daß auch die Objekte, die bei diesen Aktivitäten eine Rolle gespielt haben, schutzwürdig sind, also einen Wert haben und, ihrer nützlichen Zwecke endlich beraubt, die Spuren der Menschen bewahren, die sich noch kürzlich ihrer bedient haben. Die Objekte erlauben deshalb, sich diese Menschen vorzustellen, wie sie zu Lebzeiten waren. Dass die gesamte Gesellschaft von der Idee der Gleichheit durchdrungen war, war insofern eine notwendige Bedingung für die Schaffung der Museen des Alltags.« (Daumas 1980, 61; Ü: SH)

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Von den Folgen des Erfolges Gewiss schließen nach wie vor alte Industrieunternehmen, doch der Umbau der traditionellen (Schwer-)Industrie des 19. Jahrhunderts ist in den alt-industrialisierten Ländern weitgehend abgeschlossen, entweder durch Modernisierung und Konzentration oder durch Verlagerungen bestimmter Arbeitsprozesse in andere Länder. Neue Formen der Produktion und der Dienstleistung, die in den traditionellen Industrieregionen oft mit hoher Arbeitslosigkeit einhergehen, prägen das aktuelle Bild wirtschaftlicher Aktivitäten in den alten Industrienationen. Die europäische Industriebrache ist heute meist überbaut, musealisiert und/oder begrünt, der Prozess des Umbaus der ›old economy‹ ist volkswirtschaftlich und technisch soweit bewältigt, dass nur aus ökologischer oder sozialer Perspektive an seiner Bewältigung noch Zweifel möglich sind (vgl. Hauser 2001). Auch der soziale und demokratisierende Impuls, der den neuen Gründungen von Industrie- und Technikmuseen der 1970er Jahre Rückenwind verliehen hatte, existiert heute nicht mehr, ebenso wenig wie die Konzentration der Geschichtswissenschaften auf Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beides erklärt sich – teilweise – aus Erfolgen. Für die Geschichtswissenschaften gilt, dass wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen und Methoden heute mit großer Selbstverständlichkeit zu ihrem Programm gehören. Und die Befürworter von Industrie- und Technikmuseen, die Mitte der 1970er Jahre noch aus einer Defensive gegenüber vermeintlich höherrangigen Kulturgütern argumentierten, müssen dies nicht mehr tun. Die Legitimation ihrer Sammlungen steht außer Zweifel. Ihre Gegenstände sind anerkannte museale Objekte, die als Überreste der Kultur der Industriegesellschaft begriffen werden und die, seien es Geräte, Maschinen, Haushaltsgegenstände oder Industriebauten, ästhetischen Bewertungen zugänglich sind. Sie haben die traditionellen Qualifikationshürden museumswürdiger Gegenstände fraglos überwunden. Die Frage nach der Zukunft der Industriemuseen stellt sich also nicht deshalb, weil diese Museen mit ihren ersten Anliegen gescheitert sind, sondern vor dem Hintergrund eines beinahe abgeschlossenen Umbaus der ›old economy‹ – und aufgrund der eigenen konzeptionellen Erfolge. Schließlich ist es gelungen, einen Gegenstand, der in den 1970er Jahren noch als nicht museumswürdig galt, zu einem der nach wie vor erfolgreichen Gegenstände der Museumslandschaft zu machen und mit ihm neue Gesichtspunkte der Geschichte und ihrer Aneignung zu vermitteln. Dass sich die Frage nach der Zukunft der Industriemuseen dennoch mit einiger Dringlichkeit stellt, ist vielen Faktoren geschuldet. Dazu gehören unter anderem neue Konkurrenzen, neue mediale Möglichkeiten, aber auch die Veraltung von Konzepten, wovon gleich die Rede sein soll. Doch der wesentliche Faktor scheint mir angesichts abnehmender öffentlicher Finanzierungs-

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möglichkeiten ein anderer zu sein: der generell gestiegene Druck auf alle nicht primär profitorientierten Kultureinrichtungen, sich und ihren Zweck permanent zu legitimieren. Daraus folgen ein Aktualitätszwang und die Notwendigkeit, die eigenen Konzepte andauernd an neue Diskurse anzubinden und abzugleichen mit dem aktuellen Stand von Legitimationsansprüchen. Das ist eine ambivalente Situation: Sie verkürzt einerseits die Zeiträume, in denen neue Konzeptionen verlangt werden, und erhöht den zeitlichen wie existentiellen Druck, unter dem Museumsarbeit stattfindet. Auch liegt in dieser Situation das Potential zu einer Normalisierung und Egalisierung musealer Arbeit, die nicht zwingend zu einem Fortschritt an Erkenntnis oder Aufklärung führen muss. Andererseits nötigt diese Situation die Museumsfachleute, ihre bereits selbst beobachteten konzeptionellen Schwachstellen in den Institutionen zu beheben. In dieser Hinsicht kommt der äußere Druck dem eigenen Selbstverständnis entgegen. Schließlich arbeiten Museen immer schon für die Gegenwart, auch und gerade wenn sie sich mit Aspekten der Vergangenheit beschäftigen. Sie waren noch nie da, um permanent in ihrer einmal gefundenen Form zu bleiben. Wenn Museen aktuellen Erfordernissen entsprechen (sollen), dann sind sie immer wieder neu zu erfinden oder aber – als Museen – bewusst zu musealisieren. Es stellt sich deshalb, beschleunigt durch den äußeren Druck, auch aus der Innenperspektive der Industrie- und Technikmuseen die Frage: Was sind heute die Voraussetzungen und aktuellen Erfordernisse für eine Fortsetzung/Modifikation der industriemusealen Arbeit? Das Industriemuseum als Heimatmuseum »Dampfmaschine, Arbeiterküche und Klassenkampf – einst Symbole und Fanal zukunftsorientierter Museumsarbeit – mutieren inzwischen – so die These – zu nostalgisch betrauerten Relikten entschwundener Lebenswelten; ganz ähnlich wie die Zeugnisse der vorindustriell-bäuerlichen und kleinbürgerlichen Kultur, denen sich das traditionelle Heimatmuseum verschrieben hatte […]«

So hat Hartmut John in seiner Einführung in die Tagung »Industrie- & Museumskultur. Tendenzen und Perspektiven«, die vom 29. Juni bis zum 1. Juli 2003 im Weltkulturerbe Völklinger Hütte stattgefunden hat, eine der Sorgen umschrieben, die Industrie- und Technikmuseen heute beschäftigen (John 2003). Diese berechtigte Sorge bezieht sich auf ein mittlerweile anachronistisch gewordenes Selbstverständnis der Industriemuseen. In den 1970er Jahren konnten sie mit ihrer Tätigkeit noch an Erfahrungen der lokalen oder regionalen Bevölkerung mit Industriearbeit anknüpfen. Zumindest die ältere und mittlere Generation verfügten sicher noch über diesen Hintergrund. Und so

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standen die ersten Sammlungen und Ausstellungen aus der Gründungszeit der Industriemuseen meist in engem Kontakt mit dem lebendigen Gedächtnis ihrer Umgebung. Sie traten in einen Traditionszusammenhang ein, dem sie über ihre Präsentationen eine materiale Dimension und einen Fokus geben konnten. Das Selbstverständnis der musealen Arbeit entsprach damit einem der wichtigsten Paradigmen der europäischen Erinnerungskultur seit dem 19. Jahrhundert. Hannah Arendt hat diese Vorstellung ausgedrückt, indem sie davon sprach, dass die »Handgreiflichkeit des Dinghaften«, das Vorhandensein materieller Anhaltspunkte, eine notwendige Voraussetzung des Erinnerns sei (Arendt 1981: 87f.): Erinnerung hängt am materiell überkommenen Gegenstand, an der Verfügbarkeit von materiellen Objekten, denen Zeugnischarakter zugeschrieben werden kann. In ihnen sind Geschichte, Arbeit, Wünsche inkorporiert, sie bezeugen vergangene Lebenszusammenhänge. Materielle Zerstörung von Dingen, von allem, was sich materiell bewahren ließe, ist dementsprechend Zerstörung von etwas, das Gedächtnis ist. Mit der Zerstörung des Sacharchivs wird unmittelbar die Möglichkeit des Erinnerns gelöscht. Die Dinge, die diesem Gedächtnis eingeordnet sind, sind (wie die) Schrift, die immer wieder (neu) gelesen werden kann. Ohne sie verliert das Erinnern seinen Anhaltspunkt. Erinnerung aber konstituiert Identität, ein zweites Schlüsselwort der museologischen Diskussion aus der Hochzeit der Museumsneugründungen. Die Identitäten werden als Selbstdefinitionen von Bevölkerungsgruppen – der Bevölkerung einer Region, der Bürger eines Staates – über bestehende oder auch verlorene soziale und kulturelle Bezüge verstanden. Diese konstituieren sich über den Erhalt von Dingen. Die Zerstörung von Dingen und Bauten stellt damit nicht nur Gedächtnis und Erinnern in Frage, sondern auch die Auffassung, die Menschen von sich, von Gruppen, denen sie angehören, von Territorien, auf die sie sich beziehen, haben. Nach diesem Verständnis ist das Museum kein Ort einer Konstruktion, sondern des Wiederfindens von einem vorgängig angenommenen Selbst-Bewusstsein – und materielles Zeugnis zutiefst materialistischer Konzepte der historisierten und nicht mehr gelebten Tradition, des Gedächtnisses, der Zeugenschaft, des Erinnerns und der Identität. Eine dritte wichtige Annahme war, dass Museen eine kompensatorische Funktion haben. Diese Annahme lag beispielsweise Hermann Lübbes bekannten Überlegungen zugrunde, der sich mit der schnellen Zunahme der Museen und der progressiven Ausweitung ihrer Sammlungsbereiche auseinander setzte. Er analysierte diese Ausweitung als Reaktion auf den beschleunigten Verschleiß und die zunehmende Vernichtung von Objekten und Stoffen, die den Verlust von materialen Anhaltspunkten für eine persönliche Geschichte, für Erinnerung und Identität bedeuten (vgl. Lübbe 1983: 9f.). Lübbe stellte die

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These auf, dass das Museum unter den gegebenen Bedingungen eine kompensatorische Funktion übernommen habe: Es kompensiere Verluste an Vertrautheit. So verstanden, ist die Zunahme der Museen, unter anderem der Industriemuseen, sowohl Zeugnis für das beschleunigte Verschwinden der Dinge als auch für einen gegenläufigen, kompensatorischen Prozess, der Identifikationsmöglichkeiten und damit Möglichkeiten der Selbstdefinition bewahrt oder bewahren soll. Museen begegnen einer Entwicklung, die Identität vernichtet, indem sie das materielle Gedächtnis in einen Raum mit besonderen Qualitäten überführen und damit die Identität retten. Diese Argumentation, die Kompensation, Gedächtnis- und Identitätsbewahrung als Grund der musealen Arbeit voraussetzt, erledigt sich von selbst, wenn nachwachsenden Generationen die Anschlüsse an die Erfahrungen fehlen, an die das Museum erinnert. Für diese späteren Generationen ist der Verlust der industriellen Lebenswelt nicht mehr nachvollziehbar und auch nicht mehr kompensationsbedürftig. Nach und nach verschwinden die Umstände dieser früheren Erfahrungen, schließlich die Erzählung von ihnen, dann auch die Erinnerung an die Erzählung des Verlustes aus dem Horizont späterer Generationen. Ihnen zeigen die im Museum aufbewahrten Dinge dann nicht mehr Vertrautes und sie Identifizierendes, sondern etwas Fremdes, das erst wieder anzueignen ist. Also ist mit einer auf Identität, Erinnerung und Kompensation setzenden Argumentation, die bis in die 1990er Jahre Museumsneugründungen inspiriert hat, der Legitimation musealer Arbeit in einer sich schnell verändernden Gesellschaft ein absehbares Verfallsdatum eingebaut. Andere Selbstbilder Es ist allerdings fraglich, ob die auf Identität und Kompensation setzende Argumentation für museale Arbeit überhaupt überzeugend war. Schon Mitte der 1980er Jahre sind Zweifel geäußert worden, ob die Funktionen des Museums im Allgemeinen und des historischen, wie es das Industriemuseum ist, im Besonderen in dieser Weise sinnvoll beschrieben werden können. Die Legitimation von Museen über ihre identitätserhaltende Funktion setzt voraus, dass es sich bei Geschichte, bei Kultur, bei Identität, bei Gedächtnis um Entitäten handelt, die als ebenso permanent und gegenständlich behandelt werden können wie die Gegenstände, mit denen sie verbunden gedacht werden. Das nahezu automatische Verknüpfen von Dingen mit Identität setzt weiter die Annahme einer typischen Beziehung zwischen Identität und sie verbürgenden Gegenständen voraus. Identität wird als vergegenständlicht gedacht – als Resultat eines Prozesses, in dem menschliche Tätigkeit, Gedanken und Ideen sich manifestieren in dinglichen Überresten. Hier klingen dialektische Konzeptionen der Beziehung zwischen Gesellschaften und ihren Gegenständen an. Wie dieser untergründig angenommene histori-

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sche Prozess auch gedacht wird – als Arbeit, als Reflexion, als Interaktion –, er ist verbunden mit der impliziten Annahme, dass sich der Prozess, wie immer entfremdet, wann und wo er auch abgelaufen sein mag, im Museum gleichsam zurückbiegen lässt in eine Form der Vertrautheit, der Spiegelung, der Erkenntnis einer eigenen Kraft in den Gegenständen, die sich dem Blick bieten. Diese Vertrautheit löscht das Unheimliche an den toten Dingen, sie streicht die Erinnerung an mögliche Verausgabung, mögliche Verdinglichung, möglichen Zwang, mögliche Be-Dingtheit – im Übrigen ein Moment, das Vorbehalte erklären mag, die gegen die Musealisierung von Industrieanlagen ja ausdauernd vorgebracht wurden. Überdies wird ein Prozess imaginiert, dessen Ergebnis und Ende gleichsam in den Dingen ein- und aufgefangen ist und in dieser Form bewahrt werden kann, immunisiert gegen weitere Prozesse. Roland Barthes hat in seinen »Mythologies« von 1957 schon die »mythische« Möglichkeit der Abschneidung der Gegenstände von ihrer, von Barthes als identifizierbar und eigentümlich angenommenen, Geschichte gesehen, die Möglichkeit der Neukonstruktion parasitärer Geschichten sowie der Naturalisierung der Verhältnisse über diese. Das ist der Beginn des theoretischen Zweifels an einer unzweifelhaft mit den Dingen verbundenen (historischen) Botschaft oder Vertrautheit, die sich in semiotischer, strukturalistischer und poststrukturalistischer Lektüre der Dinge fortsetzt. In seiner Folge wird deutlich, dass Museen immer in ihrer Gegenwart handeln und aus ihr und für sie eine Geschichte erzeugen. Vergänglichkeit, Abwesenheit, Unwiderruflichkeit des Verlustes und Reaktionen darauf sowie die Wahl des zu Erhaltenden sorgten in Reaktion auf den Boom an Museumsneugründungen in den späten 1970er bis zum Anfang der 90er Jahre für Diskussionsstoff in Museologie, Geschichtswissenschaft und Kunst. Es ging um die Scheidung zwischen dem, was aus der auch künftigen Aufmerksamkeit getilgt wird, und dem, was materialiter für aktuelle oder mögliche zukünftige Beachtung bewahrt werden soll. Der konstruktive Charakter, sowohl der Sammlung als auch der Ausstellung, wurde in einer Fülle von neu entwickelten Fragestellungen zur Geschichte und zum Erinnern offensichtlich: Museumskritik wie -pädagogik sahen das Museum nicht länger als einen Ort der Sicherstellung und Präsentation von klassifiziertem, dann selbstevidentem Material, sondern formulierten seine Funktionen neu. Musealisierung wurde kenntlich als eine Form der immer intensiver reflektierten Konstruktion von Geschichte und Erinnerung, nicht der Bewahrung. Museen wurden neu begriffen: Man verstand sie nicht mehr als Institutionen, die Gedächtnisse sind und deren Praxis im Erhalten besteht, sondern als Orte der Verfertigung von Gedächtnisspeichern und als das Ergebnis einer Auswahl aus dem verfügbaren historischen Material, die mehr oder weniger reflektierten Regeln folgte. Spätestens im Zuge poststrukturalistischer Kritik

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wurden die möglichen Gegenstände einer Musealisierung als grundsätzlich ›jetzt‹ arrangiertes Material verständlich – das eben in seinem Arrangement nicht nur eine Geschichte, sondern auch aktuelle Identifizierungen und damit auch mögliche Zukunftsperspektiven vorzeichnete. Musealisierung zeigte sich in historischer Perspektive als Prozess, in dem die alten Dinge immer schon Material einer durch Forschung gestützten aktuellen Formung und Lesart waren – und selbstverständlich auch in Zukunft bleiben würden. Die Ausstellung wurde teils mit pädagogischem Misstrauen, teils mit Freude als Inszenierung, auch als Installation oder Komposition erkannt. In einem Teil der museologischen Literatur galt der Besuch des Museums als mehr oder weniger lehrreiches Ereignis und Erlebnis. Positionen wie die Walter Benjamins wurden diskutiert, die das konkrete Erinnern anhand von Gegenständen als unmöglich ansahen und die Dinge als Fundstücke einer Naturgeschichte der Menschheit vor ihrer Geschichte verstanden. Viele Inszenatoren von Ausstellungen standen dem Spektakel- und Schaubudencharakter aufgeschlossen gegenüber, den schon Benjamin für die museale Präsentation als vorbildhaft empfohlen hatte (vgl. Benjamin 1983). Das ›Staunen‹ wurde rehabilitiert und als einer der wichtigsten Effekte von Museumsbesuchen propagiert. Während Eröffnungen von Museen zunahmen, unterminierten so museologische Überlegungen die als selbstverständlich geltende Verbindung des Museums mit Identität und dem Insistieren auf Identifikationsmöglichkeiten. Die Analyse, der jedes museale Objekt unterworfen wird, und seine Synthese zum Simulakrum wurden sichtbar (vgl. Stewart 1984; Korff/ Roth 1990; Hodder et al. 1995). Die Chancen, die in diesen Kritiken musealer Arbeit lagen, waren groß und sind möglicherweise noch nicht ausgeschöpft. Denn die zumindest prinzipielle Ablösung der Legitimation durch Bewahrung des Gedächtnisses, der Erinnerung und der Identität oder über Kompensationsfunktionen ermöglicht es, wichtige Einsichten und Positionen neu zu formulieren. Dazu gehört vor allem die Einsicht, dass Museen, auch wenn sie sich mit Vergangenem beschäftigen, in der Gegenwart erzeugt werden und deren Signatur in die Zukunft tragen. Eine mindestens ebenso bedeutsame Erkenntnis war, dass die Sammlung und die Präsenz der Dinge zu den wichtigsten Qualitäten eines Museums zählen und Museen insofern Orte der Sinnlichkeit sind. Gegenwart und Sinnlichkeit Gerade was Sinnlichkeit und Anschaulichkeit möglicher neuer Objekte der Technik- und Industriemuseen angeht, entstehen derzeit Zweifel: Aktuelle Produktionsformen und ihre technischen Mittel sind aufgrund ihres Automatisierungsgrades und der Miniaturisierung ihrer Steuerungssysteme, vergli-

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chen mit älteren Maschinen, unanschaulich. Insofern beeindrucken sie nicht sinnlich. Man bedenke dabei, dass sinnliche Überwältigung immer eines der selbstverständlichen Mittel der Industriemuseen war: In der Inszenierung ihrer Exponate konnten sie mühelos an das Unheimliche, das erschreckend und offenkundig Gewaltsame der frühen Industrie und damit an das Erhabene anschließen. Neuere Maschinen oder Modelle von ihnen beeindrucken allenfalls abstrakt, über Daten und Informationen, die ihre Leistungsfähigkeit betreffen. Die Frage nach der Anschaulichkeit in Industriemuseen stellt sich überdies aufgrund der abnehmenden Erfahrung Jugendlicher mit der physischen Manipulation von Stoffen. Das betrifft schon deren engstes Umfeld und reicht vom Kochen bis zu Reparaturen im Haushalt, wo Fertigprodukte beziehungsweise schnell einsetzbare Bauteile den früher selbstverständlichen intellektuellen wie physischen Aufwand des Kochens oder Bastelns überflüssig machen. Medial vermittelte Erfahrung, die weder einen Sinn für praktische Manipulation von Stoffen noch körperliche Erfahrung oder körperlichen Einsatz verlangt, spielt dagegen eine immer bedeutendere Rolle. Vor dem Bildschirm ist der Körper kaum im Spiel. Hinzu kommt, dass der Kontakt mit industrieller wie nicht-industrieller Erwerbsarbeit abnimmt, spürbar vor allem in alten Industrieregionen, in einer von Arbeitslosigkeit, Frühverrentungen und mangelndem Lehrstellenangebot gekennzeichneten Situation, in der der immer noch nicht mit konkreten materiellen und ideellen Perspektiven verbundene Begriff der »Tätigkeitsgesellschaft« unklare Erwartungen weckt. Und wo Erwerbsarbeit ist, ist sie immer öfter Bildschirmarbeit, die physisch dieselben Anforderungen stellt wie die vor dem Bildschirm verbrachte Freizeit. Die Angebote von Technik- und Industriemuseen stoßen in der Tat auf einen um wesentliche, vor allem materielle und physische Dimensionen verkürzten Erfahrungshorizont. Diese also in mehreren Dimensionen zu beobachtende neue Unanschaulichkeit und Entsinnlichung führt zu der Frage, wie Museen darauf in ihren Sammlungen und Präsentationen reagieren können. Die Antwort auf diese Frage ist gleichzeitig ein Teil der Antwort auf die Frage, wie Industriemuseen sich zu der Gegenwart verhalten, in der sie jetzt stehen. Wie können Industriemuseen auf den Entzug an Materialität und Körperlichkeit reagieren, der sowohl ihre potentiellen neuen Sammlungen als auch die Erfahrungswelt der Besucher und Besucherinnen, an die sie anschließen wollen, betrifft? Wenn man davon ausgeht, dass die Sammlung – die Dinge – den Kern der musealen Arbeit darstellt und Sinnlichkeit eine der auszeichnenden Eigenschaften von Technik- und Industriemuseen ist, dann bietet sich eine Aufgabe an, für die gerade die Technik- und Industriemuseen besonders gut gerüstet sind und mit der sich einige von ihnen schon längst befassen:

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die Manipulationen von Stoffen, ihre Grundprozesse und ihre Mittel über einen längeren Zeitraum bis heute für ein in dieser Hinsicht wenig erfahrenes Publikum sinnlich zu erschließen. Das Verhältnis zur Materialität steht ohnehin schon im Mittelpunkt der theoretischen Auseinandersetzung um die Zukunft der Museen (vgl. Muttenthaler 1999; Korff 1984). Und so wäre es nur ein weiterer Schritt, die aktuellen Formen der Erfahrung mit Materialität in den Mittelpunkt der Organisation der Ausstellung zu rücken und sie an den von technischen Geräten, besonders den schon nicht mehr so neuen Medien, durchsetzten Alltag anzuschließen. Eine Herausforderung dabei besteht darin, die Entwicklung der Unanschaulichkeit anschaulich zu machen und sie in ein Konzept des arbeitenden Körpers einzubinden, das mit der eigenen intellektuellen und physischen Erfahrung der Besucher und Besucherinnen abgeglichen werden kann. Dem Verschwinden der Erfahrung wäre also das genaue und sinnlich nachvollziehbare Aufzeigen älterer Formen der Arbeit entgegenzusetzen und zu zeigen, wie neue und andere Formen des Körpergebrauchs und der Ausbildung der Sinne im Arbeitsprozess an ihre Stelle getreten sind. Auf diese Weise und über diese technischen, sozialen und ökonomischen Prozesse – so könnte das Gezeigte dann schließlich zusammengefasst werden – sind wir da angekommen, wo körperliche Arbeit und Erfahrungen der Manipulation von Stoffen aus unserem Alltag in hohem Maße verschwunden sind und unsere Sinnestätigkeit andere Formen angenommen hat. Gegenwart – und viele Themen Allerdings meldet sich da ein Einspruch, und auch der führt in eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die einige Museen bereits aufgenommen haben: So sehr die Sorge berechtigt ist, dass heutige Generationen physische Arbeit nicht mehr verstehen können, weil sie sie nicht mehr kennen, so reflektiert sie doch auch die Konzentration vieler Industrie- und Technikmuseen auf (Arbeits-)Prozesse, die im Rahmen von größeren Industrieunternehmen stattfanden und noch stattfinden. Dem entspricht eine gewisse Abstinenz in der Behandlung der Arbeit, die damals wie heute vor und nach diesen Prozessen und ihren Bedingungen lag oder liegt. Dazu gehört Hausfrauenarbeit, ein Thema, das einige Museen bereits in ihre Ausstellungen integriert haben. Wenn die Industrie- und Technikmuseen beanspruchen, sich auch mit einer Geschichte der Arbeit in den sich als ›postindustriell‹ verstehenden Gesellschaften auseinander zu setzen, könnten auch die heutigen marginalisierten Arbeitsverhältnisse in den alt-industriellen Ländern thematisiert werden. Manche dieser neuen Arbeitsverhältnisse rechtfertigen durchaus den Vergleich mit lange überwunden geglaubten Abhängigkeiten und körperlichen

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Anstrengungen des 19. Jahrhunderts, von denen sie selbstverständlich abzugrenzen wären. Ältere Formen der Produktion und die mit ihnen verbundene schwere körperliche Arbeit existieren ja nach wie vor. In anderen Ländern, unter anderen Bedingungen, mit älteren Techniken und unter den Bedingungen anderer Schutzvorstellungen und -gesetze sind sie gegenwärtig. Nicht alle Gesellschaften kommen auf die Idee, sich als künftige Tätigkeitsgesellschaften zu imaginieren, nicht alle Produktion und Arbeit heute geschieht in sinnlicher Abstraktheit. Damit ist ein großes Technologie- und Rationalisierungsgefälle verbunden, das sich zum Beispiel an Nutzungsketten von alten Maschinen, die aus technologisch führenden Ländern in technologisch weniger vermögende exportiert werden, hervorragend demonstrieren ließe. Die bisherigen Sammlungen enthalten möglicherweise nicht nur materiale Belege für Vergangenes, sondern auch manche Hinweise, wenn nicht gar dinghafte Belege für Gegenwarten andernorts. In diesen Zusammenhang gehört eine weitere Ergänzung der traditionell gewordenen technik-, sozial- und wirtschaftshistorischen Schwerpunkte: Heute sind die vor allem in Europa und den USA entwickelten, ressourcenintensiven Produktionsweisen über den ganzen Globus verbreitet. Das bedeutet, dass sich eine ökologisch seit je bedenkliche ressourcenintensive Produktionsweise im globalen Maßstab durchgesetzt hat und weiter durchsetzt. Wenn auch in Europa viele Ressourcen erschöpft sind oder ihre Nutzung unwirtschaftlich geworden ist, so ist das Prinzip nicht aus der Welt verschwunden, nach denen Ressourcen nun andernorts gesucht und ausgebeutet werden. Der Vorschlag ist, die ökologischen Kosten der Produktion aufzuzeigen und den Aspekt des Naturverbrauchs deutlicher zu machen als das bisher, sozialhistorisch geprägten Paradigmen folgend, geschehen ist. Eine solche Ausweitung des Themenspektrums, die einige Museen ohnehin bereits durchdenken, stellt ein anderes Modell des Technik- und Industriemuseums vor Augen, als es oben mit der Konzentration auf die Dinge und ihre Sinnlichkeit geschehen ist. Doch beide Zugänge sind durchaus miteinander verträglich. Dieser zweite Vorschlag, das Themenspektrum zu überdenken und möglicherweise zu ergänzen, begreift nämlich das Industrie- und Technikmuseum als Ort einer lebendigen und populären Auseinandersetzung mit der Gegenwart und der Zukunft. Beide ergeben sich aus den jetzigen Fortschreibungen von Technologien, aus heutigen industriellen Aktivitäten und aus den Entwicklungen in Wissenschaft und Forschung. Gerade aufgrund ihrer Sammlungen, ihrer Forschungen und ihres oft spezialisierten technik- und sozialhistorischen Wissens sind Museen für aktuelle Diskussionen gerüstet, die selbst den eben angesprochenen Themenkreis weit überschreiten. Für Industrie- und Technikmuseen gibt es viele Themen

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zu erobern und mit ihrer Qualifikation zu besetzen, die ihrer aufklärerischen und kritisch popularisierenden Tradition entsprechen. Das bedeutet einen Anschluss an aktuelle Entwicklungen, ohne dass Museen sich deshalb gleich den Geboten der Unterhaltungsindustrie ausliefern müssten. Erfahrungen in Kunstwelten Doch von der Unterhaltungsindustrie zu lernen, zumindest in einigen Aspekten, ist durchaus eine Option, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist und überdies auch Tradition in der Geschichte der Museen hat. Eine solche Idee steht möglicherweise im Hintergrund der Überlegungen, wenn neuere Entwicklungen der Freizeitgestaltung auf Technik- und Industriemuseen projiziert werden: »Wie können Industriemuseen […] der doppelten Bedürfnislage der Freizeit- und Erlebniskonsumenten angemessen Rechnung tragen – der Sehnsucht nach authentischen Erfahrungen und dem Wunsch, ›life‹, das heißt sinnlich hautnah in künstliche Erlebnisund inszenierte Traumwelten einzutauchen?« (John 2003).

Zunächst einmal ist hier zuzugeben, dass Museen grundsätzlich Dingen, Realien, dem ›Authentischen‹ einen Raum zu geben suchen und dass dieser Raum sich sehr unterscheiden kann von den heute populären Erlebniswelten, so dass sich eine gewisse Entgegensetzung vom ›facts‹ bietenden Museum und der ›fiction‹ inszenierter Traumwelten aufdrängt. Und doch ist anzumerken, dass Museen ihre Inszenierungen immer schon in einem durch und durch künstlichen setting erzeugt haben – und das nicht nur mit nüchterner Geste, sondern mit dem avanciertesten Instrumentarium der jeweils zeitgenössischen Inszenierungstechniken, die dem Erleben, mindestens aber den Phantasien aufhelfen konnten. In diesem Sinne haben Technik- und Industriemuseen schon sehr früh Diskussionen um Inszenierungen mit deutlichem Erlebnischarakter geführt. In der Bundesrepublik verweisen Autoren seit den 1970er Jahren darauf, dass eine simple Ausstellung alte Maschinen nicht in angemessener Weise präsentiert. Prozesse sollen zu sehen sein, die das aktive Geschehen in Fabriken darstellen, rekonstruieren und erlebbar machen. Zwar kommen diese ersten und noch sehr an den Realien und ihrer authentischen Präsentation orientierten Inszenierungen aus dem Bedürfnis, den Zugang zu älteren Produktionsweisen möglichst genau zu gestalten, aber sie tragen unübersehbar Impulse zur Herstellung und Gestaltung einer künstlichen Erlebniswelt in sich. Manche Industriemuseen sind einen weiten Weg in diese Richtung gegangen: Demonstrationen, die als erster Schritt zur Verbindung von ›facts und fic-

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tions‹ begreifbar sind, gehören heute zum Bestand vieler Industrie- und Technikmuseen. Verbunden mit Präsentationen dieser Art sind oft Besichtigungstouren durch alte Gebäude und Gelände der Industrie, die ebenfalls die grundlegend künstliche Situation des Museums mit Hinweisen auf authentisches Erfahren verbinden – diesmal über Erzählungen. Hier erweisen sich besonders Touren, die von ehemaligen Beschäftigten durchgeführt werden, als Einladungen zu Vorstellungsreisen. Durch gutes Erzählen übernimmt das museal Konservierte die Rolle sinnlicher Zeugenschaft. In ihrer neuen Funktion verkörpern diese Führer und Führerinnen Geschichte und beglaubigen die historischen Tatsachen, die sie erzählen, durch Berufung auf die eigene Erfahrung, von der zumindest unmittelbar zu hören ist – auch das ist eine Entführung in Erlebniswelten, die der weiteren Ausformung möglicherweise gar nicht bedarf. In den Versuchen, alle Sinne mit ausgewähltem historischen Erleben zu beschäftigen, vergrößert sich möglicherweise der Anteil der ›fiction‹ – gerade wenn das Angebot gemacht wird, frühere Zeiten, selbstverständlich arbeitsfrei und mühelos, ›nachzuleben‹. In »Blists Hill«, dem Freilichtmuseum, das zum Museumskomplex des »Ironbridge Gorge« gehört, werden in einem Raum voller Wachsgerüche Kerzen wie zu viktorianischen Zeiten gezogen, die sich mit viktorianischen Spielmünzen aus der viktorianischen Bank erwerben lassen. Darüber hinaus erzeugt eine kleine Werkstatt Stuckformen nach viktorianischen Mustern, ein viktorianisches Wirtshaus sorgt für Speisen und Getränke nach viktorianischen Rezepten und so fort. Meist ehrenamtlich Tätige, viele von ihnen ausgebildete Handwerker und Handwerkerinnen, betreiben diese Produktionen. Viktorianische Kleider, in denen man sich fotografieren lassen, aber auch über das Gelände streifen kann, sind ausleihbar. Gleiches ist im Industriemuseum von Cromford möglich, das ganz und gar auf das 18. Jahrhundert setzt und es nachlebbar machen möchte. Zum Nachleben werden in manchen Museen auch die Nahsinne beschäftigt, beispielsweise mit Gerüchen, die aus der Vergangenheit stammen. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts begann die Produktion von Düften und Ölen, die synthetisch alten Gerüchen wieder zur ›Realität‹ verhelfen sollten, darunter »meal smells, old pub smells, coal fire and wood smoke, fresh apples, leather, coffee, brown grass, a farmyard smell, bacon, an ironmongers and old factories smell« (Walsh 1992: 112). In solchen Ansätzen musealer Arbeit verbinden sich – immer nach dem Stand der Zeit ihrer Erfindung – Entertainment und anspruchsvolle Präsentationen, die sich in ihrer Qualität und Attraktivität mit denjenigen avancierter Medienästhetiken dieser Zeit messen können. Es geht auch in anerkannten Industriemuseen darum, gestützt auf eine Sammlung und ihre Dokumentation und abgesichert durch historische Forschung, Simulakren der alten In-

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dustrie als abstrahiertes und gesäubertes Ideal der Industrie für Freizeit und Unterhaltung zu entwerfen. Bei der Vorstellung, Erlebnis- und Kulturkonsum zu verbinden, handelt es sich also nicht um eine skurrile neue Idee von Museumsarbeit, sondern um die Fortschreibung ohnehin schon existierender Praxis. Ein Museumsbesuch kann sich, eine heute zeitgenössische ausstellungstechnische und mediale Aufrüstung vorausgesetzt, prinzipiell durchaus mit den Erlebnisintensitäten eines Themenparkbesuchs vergleichen lassen – und warum sollte das nicht so sein? Trotzdem sind Annäherungen von Museumspräsentationen an Muster der Unterhaltungsindustrie nicht unumstritten, denn immerhin ergibt sich die Frage des Distanzverlustes: Möglicherweise entsteht in immer weiter getriebenen Inszenierungen Unklarheit über die tatsächliche Distanz zum historischen und unter Umständen nicht mehr als eigene Geschichte lesbaren Prozess. Festzuhalten bleibt aber, dass Museen, auch Technik- und Industriemuseen, eine Tradition der Inszenierung ihrer Objekte in Auseinandersetzung mit den technischen und medialen Möglichkeiten und Ansprüchen ihrer Zeit haben. Konkurrenzen und Zukünfte Nicht zuletzt in ihren Inszenierungen zeigt sich Musealisierung (auch) als eine Strategie, über die das Vorgefundene neu bestimmt werden kann, um zum Material einer neuen Erfindung der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft zu werden. Insofern ist es beinahe merkwürdig, wenn heutige Museen der Technik und der Industrie sich einer Konkurrenz durch Science Center ausgesetzt sehen. Der Ruf beider Institutionen scheint, wie John (2003) andeutet, ein äußerst unterschiedlicher zu sein und derzeit zu Polarisierungen einzuladen: Die ersteren gelten eher als geschichtsverhaftet und daher unsinnlich, erlebnisarm und altmodisch, während die letzteren als sinnenfroh, unterhaltsam, zukunftsorientiert und daher zeitgemäß begriffen werden. Dabei machen Science Center eigentlich nur Gebrauch von Vorschlägen und Vorgehensweisen, die in museologischer Literatur durchdacht worden sind – möglicherweise noch ohne hinreichenden Blick auf die Konsequenzen für den Typ des von ihnen zu vermittelnden Wissens und für die konstruktiven Möglichkeiten in Ausstellungen. Zu diesen Vorschlägen gehört die Anerkennung der Gegenwartsgebundenheit jeder Präsentation, die Einsicht in ihren prinzipiell konstruktiven Charakter, der auf jeden Fall mehr oder weniger gut begründete Formen der Simulation und von Simulakren erzeugt, aber eben nicht historische ›Wahrheit‹. Dazu gehört auch, das Staunen und die von den Exponaten ausgehende Faszination als angemessene Rezeptionsform zu akzeptieren und die Be-

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reitschaft zur spielerischen Aneignung zu unterstützen. Immerhin hat die Museologie das ›Staunenmachen‹ als lobenswertes Ziel in einer Gesellschaft erkannt, die über Medien die meisten Formen der Erfahrung schon aus zweiter bis n-ter Hand kennt – und viele Museen haben ihre Präsentationen in diesem Sinne durchdacht. Science Center lehren nun das Staunen, indem sie naturwissenschaftliche Erkenntnisse in unmittelbar sinnliches und vergnügliches Erleben übersetzen. Manche stellen auch neuere technische, beispielsweise biotechnische Entwicklungen vor und nehmen damit, zumindest dann, wenn sie das nicht in reiner Affirmation tun, eine aufklärende Funktion wahr. Science Center verstehen es aber weder als ihre Aufgabe, das Staunen in eine diskursive Form zu überführen, noch sehen sie es üblicherweise als eine ihrer Aufgaben an, über Zusammenhänge und Bedingungen zu unterrichten, deren Kenntnis weit über das Staunen hinausführen könnte. Sie forschen nicht, sie sammeln nicht, sie zeigen weder die verworfenen Alternativen einer naturwissenschaftlichen oder technologischen Entwicklung noch die Gründe für die Durchsetzung bestimmter Technologien. Insofern bieten sie der Reflexion neuer Technik und Technologie meist wenig Hintergrund, Anregung und Resonanzraum. Hier, und nicht nur im Bezug auf die Reflexion der Vergangenheit, unterscheiden sie sich von Museen: Denn während Science Center vor allem Naturphänomene erlebbar machen und neuere technische und wissenschaftliche Errungenschaften vorführen, ist das für Industrie- und Technikmuseen, die das auch getan haben und tun, niemals das ausschließliche Anliegen gewesen. Letztere begreifen sich, soweit ich sehe, durchgängig als sammelnde, dokumentierende, bewahrende und, das ist ein wichtiger Punkt, auch als forschende Institutionen, die ihre Ergebnisse in Ausstellungen oder Sonderausstellungen präsentieren und über Veröffentlichungen und Veranstaltungen anderer Art ihr Potential in aktuelle Diskussionen zur Technologie-, Wissensund Gesellschaftsentwicklung einbringen. Museen verstehen sich (auch) als Teil eines gesellschaftlichen Bildungsprozesses, zu dem sie aufgrund ihrer Sammlungen und mit wissenschaftlich gestützter Deutungskompetenz beitragen (vgl. auch Seltz/Siegler-Schmidt 2001). Mit einem Wort: Science Center und Technik- und Industriemuseen sind unterschiedliche Institutionen, die aber an vielen Stellen Berührungspunkte haben. Das gilt, auch wenn Museen angesichts der öffentlichen Sparsamkeit im Kultur- und Bildungsbereich vor der Notwendigkeit stehen, mit Science Centern um praktisch dieselbe Kundschaft zu konkurrieren. Kooperationen, die die Stärken beider verbinden, wären möglicherweise eine Alternative zur Konkurrenz. Denn für das Selbstverständnis einer von Technik und Industrie geprägten Gesellschaft reicht es auf die Dauer nicht, Wissen vornehmlich über sinnliche Evidenz und unter Bezug auf die Neuigkeiten der Gegenwart zu popularisieren, zumal sich der Wissenshorizont ungeheuer schnell ver-

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schiebt. Beide Institutionen können sich ergänzen, auch wenn das einiges an konzeptioneller und organisatorischer Diskussion erfordern dürfte. Fazit Industrie- und Technikmuseen sind heute Opfer ihres Erfolgs: Ihre Sammlungen gehören zum unbezweifelten Fundus dessen, was unsere Gesellschaft aufbewahren möchte. Doch das Umfeld und damit die Formen, sich auf die Gegenwart zu beziehen, haben sich geändert. Die Museen, oft aus einer Umbruchsituation der lokalen Industrie entstanden, können heute nicht mehr selbstverständlich an Erinnerungsdiskurse anschließen. Eine Revision des Gegenwartsbezuges dieses Museumstyps tut not. Beim Überdenken aktueller Themen könnten Technik- und Industriemuseen zu dem Ergebnis kommen, die bisherigen Arbeitsschwerpunkte weitgehend fortzuschreiben und sich dabei deutlicher noch als bisher aktuellen Diskussionen zu öffnen. Themenschwerpunkte, die Anschaulichkeit und Sinnlichkeit der Sammlungsobjekte mit deutlichem Gegenwartsbezug verbinden, könnten beispielsweise die fundamentalen Prozesse der Stoff- und Energieumwandlung sein, ihre zunehmende Nicht-Erfahrbarkeit, ihre historische und geographische Einbettung, der Blick auf internationale Zusammenhänge der Wanderung der Industrie und Produktion samt Ressourcenverbrauch und Abfallentwicklung, die nicht-nostalgischen Züge der Arbeit. Doch eine Aktualisierung respektive Fortschreibung der Themen allein löst die Herausforderungen nicht, vor denen Industrie- und Technikmuseen stehen. Denn sie stehen in Konkurrenz mit anderen Möglichkeiten und Angeboten zur Freizeitgestaltung, vor allem mit den durchaus ähnlichen und doch ganz anderen Angeboten von Themenparks oder Science Centern. Insbesondere in den angelsächsischen Ländern wird diese Konkurrenz ausagiert, indem Erlebnismöglichkeiten geboten werden, die denen von Themenparks nicht unähnlich sind. Einige Museen haben dadurch Anschluss an weite Besucherkreise gefunden, was sie wiederum zu Konkurrenten für andere Freizeiteinrichtungen macht. Was diese Museen von Themenparks und Science Centern unterscheidet, ist der Bezug auf die Sammlung von Realien, der Anspruch, forschend tätig zu sein und in den Sammlungen Mittel für weitere Forschungen bereitzustellen und zu erhalten. Dieser Anspruch richtet sich auf eine Zukunft, die wir heute nicht überblicken und deren Wissensbedarf – über verworfene Alternativen der Technologieentwicklung, über Kontexte tatsächlich realisierter und massenhaft verbreiteter Produkte – wir nicht absehen können, für den aber eine Vorsorge zu leisten ist. Museen arbeiten kritiklosem Vergessen entgegen und unterstützen die Wiederauffindbarkeit von älteren und/oder fremd

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gewordenen Zugängen zu technischen und sozialen Problemen und Lösungen. Technik- und Industriemuseen haben das Potential, Erlebnis und Wissenschaft, spielerisch erworbene Erfahrung und Reflexion älterer und aktueller Phänomene und Fragen mit der Förderung von Kritikfähigkeit angesichts neuer Technikentwicklungen, sinnlichem Genuss und Unterhaltung zu verbinden. Diese Möglichkeit zeichnet Industrie- und Technikmuseen aus und qualifiziert sie für Kooperationen sowohl mit (anderen) Bildungsinstitutionen als auch mit Organisatoren und Veranstaltern von Tourismus- und Freizeitaktivitäten. Sie sind ein umfassend qualifizierter Ansprechpartner, als die sie sich jedoch nicht immer begreifen. Literatur Arendt, Hannah (1981): Vita activa oder vom tätigen Leben, München, 2. Aufl. Barthes, Roland (1957): Mythologies, Paris. Benjamin, Walter (1983): »Das Passagen-Werk«. In: ders., Gesammelte Schriften. Werkausgabe, Bd. V/1 und V/2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main. Daumas, Maurice (1980): L’Archéologie industrielle en France, Paris. Hodder, Ian et al. (1995): Interpreting Archaeology. Finding meaning in the past, London; New York. John, Hartmut (2003): Begrüßung zur Tagung »Industrie- und Museumskultur. Tendenzen und Perspektiven« vom 29. Juni bis 1. Juli 2003 im Weltkulturerbe Völklinger Hütte, unveröffentlichtes Manuskript. Korff, Gottfried/Roth, Martin (Hg.) (1990): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt/Main; Paris. Lübbe, Hermann (1983): Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz. Stewart, Susan (1984): On longing: Narratives on the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Baltimore. Walsh, Kevin (1992): The Representation of the Past. Museums and Heritage in the Post-modern World, London; New York.

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Science Center: ›Irrläufer‹ der Edutainment-Welle oder Herausforderung für die Industrie- und Technikmuseen?

Wolf P. Fehlhammer Im gesamten angelsächsischen Sprachraum, aber auch in China oder Indien existiert eine starke Science Center-Szene, die von Jugendlichen und Familien begeistert angenommen wird. In Mittel- und Südeuropa und namentlich in Deutschland ist diese deutlich weniger ausgeprägt, ja verschwindend, obwohl in Science Center nachweislich Lernerfolge erzielt werden und die Europäische Kommission sie für förderungswürdig erklärt hat. Im folgenden Beitrag sollen ihre Schwächen wie z.B. ihre Oberflächlichkeit und der fehlende Kontext angesprochen werden, aber auch deren Beseitigung durch die Hereinnahme von musealen, Geschichten erzählenden Objekten. Umgekehrt sollen die Defizite des klassischen Museums – genannt sei hier nur der wohlfeile Vorwurf der Verstaubtheit – durch hinzugefügte Science Center-Elemente wie hands-ons – gemildert werden. Das Deutsche Museum war von Anfang an als Hybrid dieser beiden Ausstellungsformen konzipiert und leitet seinen 100-jährigen großen Erfolg, der nicht nur darin bestand, zum Lieblingsmuseum der Deutschen zu avancieren, sondern auch die halbe Welt mit dem Exportartikel ›Modell Deutsches Museum‹ zu beglücken, von dieser Konstellation ab. Das Museum der Zukunft wird keines der Extreme – hie puristisches Science Center, da statisches Museum – sein, sondern das Ergebnis einer fortschreitenden Hybridisierung, die neue Disziplinen und damit auch andere Museumskategorien bis hin zu allen Arten von Kunst mit einbezieht, so nur Synonymien zwischen ihnen und den beabsichtigten Wissenschaftsdarstellungen bestehen. Insofern sind Science Center weder Irrläufer der Edutainment-Welle noch Herausforderungen für die Industrie- und Technikmuseen, vielmehr hochwillkommene Ergänzungen, ja Jungbrunnen für eine zeitgemäße Wissenskommunikation. Im Folgenden werde ich mir alle Freiheiten der Interpretation nehmen. Das fängt schon damit an, dass ich mich um eine Definition des lustvoll missverstandenen, in die Kindergartenecke gestellten oder gar als ›McDonaldisierung‹1 des Museumswesens verteufelten Begriffes »Science Center« drücke. Raffaella Morichetti hat dazu in verdienter Weise einen langen Eintrag in die »Enciclopedia Italiana« versucht (Morichetti 2000: 626ff.). »Science Center als Irrläufer der Edutainmentwelle« – das sollten wir gleich abtun! Selbige müsste dann ja schon gut 30 Jahre andauern, wenn wir das »Exploratorium« in San Francisco als Hort des Übels ausmachen, oder 100 Jahre, dann wäre das »Deutsche Museum« als Verursacher ertappt. Bei 130 Jahren läge der Ball im Feld der Berliner »Urania« – wenn wir gar 210 Jah-

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re zurückgingen, so hätten wir das nachrevolutionäre »Conservatoire des Arts et Métiers« im Visier. Was also soll’s? Learning by doing, Interaktiva, Selbstexperimentieren und dabei Spaß haben – diese Show geht weiter, schon weil sie dem Homo ludens oder movens (wohl auch dem des 21. Jahrhunderts) auf den Leib geschneidert ist. Bleibt also noch die Frage der Herausforderung für die Industrie- und Technikmuseen. Auch das lässt sich kurz abtun: Natürlich ist es eine Herausforderung, wenn das mit einem Science Center konkurrierende Industrieoder Technikmuseum eine verstaubte Einrichtung mit gerade mal ein paar zigtausend Besuchern im Jahr ist. Anders liegt der Fall bei jenen Museen, die sich die besten Interaktiva hereinholen und sie im Kontext mit ihren Originalen präsentieren. Dies ist etwas, das dem ›Science Center pur‹ versagt bleibt – weshalb ich diesen mit nachgerade missionarischem Eifer Objekte zur Ausleihe andiene. Denn genau in der Präsentation einer intelligenten Mischung von Artefakten, interaktiven Modulen und Medien sehe ich eine Form der Wissensvermittlung, die sich im Endeffekt behaupten wird. Das muss ich ja auch, schließlich wird Oskar von Millers »Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik«, also das »Deutsche Museum«, immer wieder als ›erstes Science Center überhaupt‹ apostrophiert. Ich mache deshalb im Folgenden gar keinen Unterschied, rede mal von Science Center, mal von Museen – als ob sie die Hybride schon wären, zu denen sie sich entwickeln werden. Eine weitere Freiheit, die ich mir nehme, besteht darin, dass ich mein Thema über den Titel hinaus auf die Situation aller Museen verallgemeinere. Der Artikel über die Jahrestagung des »Deutschen Museumsbundes« in der »Berliner Zeitung« vom 6. Mai 2003 ist mit »Museen im Jammertal« überschrieben und die zuständige Ministerin macht überdeutlich, dass sie diese dort nicht sehen will. Vielmehr ist sie des Klagens überdrüssig und empfiehlt, neue Besuchergruppen und Einnahmequellen zu erschließen, die Attraktivität der Häuser zu steigern und sich von Behördenstrukturen unabhängig zu machen. Wie? Natürlich mit Witz und Energie und ohne dabei der Kunst zu schaden (vgl. Preuss 2003)! Bei so viel Chuzpe haben wir allerdings Grund zur Beunruhigung. Der Verwaltungsrat des »Deutschen Museums« hat die Haushaltsentwürfe wie die -pläne 2004 und 2005 abgelehnt und denkt – »McKinsey«-gelenkt – über eine neue Rechtsform nach. Angeblich hat das Museum nur ein Fünftel des Personals und ein Drittel des Budgets der großen Rivalen in Paris, London und Chicago – ›Benchmarking‹ heißt so ein Vergleich auf neudeutsch – und doch existiert es, feiert nicht ganz unbemerkt (!) ein Jubiläum und eröffnet gerade ein neues, mit 12.000 Quadratmetern schon groß zu nennendes Museum (Abb. 1). Scheint ein wenig überholungs-, zumindest jedoch sehr interpretationsbe-

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dürftig, diese »McKinsey«-Studie! Und doch braut sich mancherorts höchst Alarmierendes zusammen: kaputtgesparte Kommunikationsmuseen, zerrupfte Sammlungsimperien bei gleichzeitig zusammengelegten Häusern und Funktionen, total unterfinanzierte Stadtmuseen, ungenierte Begehrlichkeiten in punkto Sammlungsgut (und das nicht nur in Hessen) – man muss ja nur das Feuilleton und möglichst gleichzeitig den Wirtschaftsteil der Tageszeitung aufschlagen, dann erwartet man genau so etwas. Abbildung 1: Blick in den am 11. Mai 2003 eröffneten ersten Bauabschnitt des »Verkehrszentrums«, einer neuen Dependance des »Deutschen Museums«

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Auf der anderen Seite: Haben wir nicht die Jugend im Museum, d.h. die Zukunft? Sicher, lärmende Schulklassen sind nicht jedermanns Sache. Mancher Bildungsbürger hätte das Museum gern für sich, privatissime, als Ort der Einkehr, der Meditation. Er muss sich dann aber die Frage gefallen lassen: Will er das, selbst auf die Gefahr hin, dass es den Museen so ergeht wie der Musikszene, Abteilung Klassik, wo wirklich der Niedergang eingeläutet ist, abzulesen an den ausnahmslos ergrauten Häuptern der einzig verbliebenen Freaks? Wir haben die Zukunft und damit haben wir eine! Ich will das an ›starken Sätzen‹ festmachen, die den Kleinmut dieser Tage konterkarieren, z.B. an jenem – nicht nur von mir zigmal geäußerten: »Museen sind eine Wachstumsbranche« (Fehlhammer 1999). Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Ihre Anzahl steigt ständig und stetig, ebenso die der Gesamtbesucher, und die beläuft sich in Deutschland auf mittlerweile stolze 106 Millionen. »Deutlich mehr, als in Fußballstadien gehen«, ist dazu Edelgard Bulmahns Lieblingskommentar. Tabelle 1: Besuchsstatistik deutscher Museen Jahr

1997

1998

1999

2000

2001

Museen in Deutschland

5576

5755

6067

6242

6318

Technik- & Industriemuseen/ -denkmäler

576

613

649

683

690

Gesamtbesucher (Mio.)

93

95

96

100

103

Die Daten in Tabelle 1 sind der für das gesamte Bundesgebiet erhobenen Kulturstatistik des Berliner »Instituts für Museumskunde« entnommen (Institut für Museumskunde 1998-2002), das diese und viele andere Leistungen vorbildlich und hoffentlich weiterhin erbringt, denn auch da bahnt sich Ungemütliches an! Der Hinweis auf das »Wachstum« gilt übrigens auch für das Einzelindividuum. Wer nicht wächst, sammelt und seinen Fächerkanon erweitert, ist tot! Und deshalb wachsen sie buchstäblich um die Wette: das »Deutsche Technikmuseum Berlin«, das seinen Schiff- und Luftfahrtsanbau eröffnet hat, das »Science Museum London« mit seinem neuen »Wellcome Wing« und dem in absehbarer Zeit hinzukommenden »Dana Centre«, das »Natural History Museum London« mit seinem brandneuen »Darwin Centre« usw. Auch Gottfried Korff, ganz und gar kein Museumsmann, sondern Profes-

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sor für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, weiß Mutmachendes zu formulieren: »Das Museum ist die erfolgreichste Bildungsinstitution der Moderne.« Und: »Seine expansive Dynamik ist größer als die von Universitäten, Bibliotheken und Theatern« (Korff 2001: 65). Der gleiche Autor befindet auch: »Museen sind Medien mit zwar geringer Einschaltquote, aber hoher Diskurswirkung« (ebd.: 51) – was wir frei mit Nachhaltigkeit übersetzen können. Diese macht das sinnlichste aller Medien (nämlich das Museum) für die Wissenschaftspopularisierung so wertvoll. ›Stark‹ angelsächsisch heißt das einfach: »The world wants museums« (Cossons 2000: 5). Das ist die auf den Punkt gebrachte Gesamtsicht Sir Neil Cossons, des vormaligen Chefs des Londoner »Science Museum« und jetzigen »chairman of English Heritage«. Und er sagt uns genau, welche: Science Center und Museen für Moderne Kunst! Abbildung 2: »Lune« – eine »son et lumière-Bespielung« des Museumsturms im Mai 2003

Dass letztere Konjunktur haben, muss wahrlich nicht extra betont werden. Die »Pinakothek der Moderne« in München oder das »Guggenheim« sind Beispiele für den ganz großen Museumstrend des 21. Jahrhunderts – und die Architektur ist hier die Hauptattraktion. Geld spielt dabei keine Rolle. Elitäres Denken sowie Selbstbeweihräucherung der cognoscenti ist in. Die erstere Kategorie dagegen – die armen Verwandten, das Billig- und Massenprodukt Technikmuseum oder Science Center – tut sich da wesentlich schwerer, wächst aber auch. Die fehlenden Mäzene werden oft durch schier unglaublichen Idealismus ersetzt – den es zu unterstützen gilt. »ecsite-d« ist

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die Formel hierfür, wie ich noch ausführen werde. (Dass seit geraumer Zeit mit einer zweiten Formel experimentiert wird, welche die scharfen Trennlinien verschwimmen lässt, sei lediglich in Klammern angemerkt. ›Zwischen Kunst und Wissenschaft‹ und ›beider Synonymie‹ heißt das Rezept, mit dem wir etwas vom Glanz und Nimbus der ersten Kultur [der Kunst] samt dem dazugehörigen Bildungsbürger in unsere schäbigere zweite [der Wissenschaft] herüberlocken. Manchmal gelingt es, wie bei der Kunstperformance LUNE im neueröffneten Turm des »Deutschen Museums« [Abb. 2].) Tabelle 2: Science Center-Statistik und Quellenangabe Global Science Center Statistics 2001 (1998) Region Nordamerika Europa Lateinamerika Indien China Asiatischer und pazifischer Raum Afrika Insgesamt

Anzahl der Center 440 (313) 280 (252) 102 (75) 33 (32) 300 (230) 324 (250) 13 (18) 1492 (1170)

Besucherzahlen Budget (in Mio. in Mio. US-Dollar) 148 1517 (118) (996) 31 613 (23) (321) 16 58 (8) (20) 6 6 (5) (3) 25 40 (25) (4) 49 1386 (5) (38) 0.6 1 (0.5) 275.6 3621 (184.5) (1382)

Quellen: Bonnie VanDorn, Wendy Pollock (Association of Science-Technology Centers); Walter Staveloz ( European Collaborative for Science, Industry and Technology Exhibitions); Ingit Mukhopadhyay (National Council of Science Museums, India); Geoffrey Snowdon (Asia-Pacific Association of Science Centres); Hideki Hayashida, Haruni Watanabe (Japanese Council of Science Museums); Wang Yusheng (China Association for Science and Technology); Brenton Honeyman (ASTEN, Australia and New Zealand); Mike Bruton (South African Association of Science Centres); Julian Betancourt, Julia Taguena, Marinela Servitje (Red-Pop, Latin America)

Aber mögen sie sich auch schwerer tun: »Science centers are thriving and going strong!«, tönt Per-Edvin Persson (2000: 449). Fürwahr ein starker

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Satz, der weltweit gilt und unterfüttert ist mit den momentan wohl verlässlichsten Daten (Tab. 2) (vgl. Persson 2003).2 276 Millionen Besucher können nicht irren! (So viel zum Thema ›Irrläufer‹.) Science Center haben ihr Publikum, und das ist glücklich. Angesichts dieses Glücks – das einen förmlich anspringt im Winterthurer »Technorama« wie in »New Jersey’s Liberty Science Center« –, was soll da die Kritik? Dass das Science Center in Perth, Australia, ziemlich genau die gleichen hands-ons hat wie »Techniquest« in Cardiff, Wales – na und? Dass sie wieder und wieder die gleichen einfachen reproduzierbaren physikalischen Phänomene auftischen, alle Klone der Urmutter »Exploratorium« (San Francisco) sind, stört allenfalls die Museumsexperten, nicht die Kunden. Ich will deshalb nicht ausführlich darauf eingehen. Tabelle 2 zeigt den gewaltigen Zuwachs in nur drei Jahren mit Ausnahme des traurigen Kapitels »Schwarzafrika«, für das sich auch das »Deutsche Museum« zusammen mit ecsite3 einige Zeit vergeblich engagiert hat. Man registriert krasse Unterschiede im Aufwand. So investiert Japan in jeden Besucher etwa 30- bis 40mal so viel wie Indien, das trotz der stattlichen Zahl seiner Science Center nicht einmal ein Prozent seiner Bevölkerung erreicht. Zur Situation in Deutschland sagt die Tabelle nichts, aber da gibt es auch herzlich wenig zu sagen. Wahrscheinlich kommen wir auf keine zehn Häuser, wenn wir nicht schönfärberisch jedes interaktive Klassenzimmer mitzählen – eine ziemlich abgeschlagene Position etwa im Vergleich zu Großbritannien und den skandinavischen Ländern, von den USA gar nicht zu reden. Dabei kann man in Technikmuseen und Science Center lernen, wie Studien (und die folgenden ›starken Sätze‹) von Salmi, Falk und anderen zeigen: »Learning is a prevalent motivation that underlies all science-oriented, free-choice experiences« (Falk/Moussouri/Coulson 1998). »Science centre visits provide memorable experiences with effects lasting for years, and seem to have an influence on career choices« (Falk/Dierking 1992; vgl. auch Salmi 2003). »People engaged in free-choice learning emerge more knowledgeable and more motivated to learn in the future« (Falk/Dierking 2000).

Und sie sind obendrein berufsstiftend, was ich fürs »Deutsche Museum« zumindest anekdotisch-qualitativ mit jeder Menge Archivmaterial und neuerdings dem schönen Gratulationsbändchen zum 100. Geburtstag »Best wishes, dear older brother« belegen kann (Deutsches Museum 2003). Die »Royal Society of London« spricht recht unverblümt aus, wozu das im Endeffekt alles gut ist: »There is a link between public understanding of science (pus) and national prosperity« (The Royal Society 1985).

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Ich gehe noch einen Schritt weiter als Falk und Salmi und lese aus dem Zahlenmaterial einen Zusammenhang zwischen der Science Center-Dichte und dem Abschneiden bei PISA heraus! Dies hat ja auch alle Logik für sich. Nur – ob Deutschland daraus lernt? Wie viele Bildungspolitiker sind bereit, in pus oder PUSH4 oder WID5 – oder wie diese jetzt überall sich Bahn brechenden Popularisierungskampagnen auch immer heißen – zu investieren? Freilich nicht in irgendwelche Strohfeuer wie die zwei-, dreitägigen, sündteuren Wissenschaftsfestivals auf irgendwelchen Marktplätzen in Bonn und Berlin, in die man, wenn überhaupt, unversehens hineinstolpert. Nein, »auf Dauer« muss das Engagement gestellt sein, wie Frühwald das fordert, und das heißt dann eben ›Museum‹, was jahraus, jahrein früh bis spät Wissenschaft popularisiert. Europa hat’s begriffen! Europa hat begriffen, dass – um es einmal mehr ›stark‹ zu sagen – Museen Problemlöser sind! Nachdem noch 1996 im EC-Weißbuch »Teaching and learning – Towards the learning society« auf 100 Seiten Museen mit keiner Silbe erwähnt wurden, tauchen sie erstmals in Artikel 49 im Schlusscommunique der 1999er Budapester »World Conference on Science« auf: »National authorities and funding institutions should promote the role of science museums and centres as important elements in public education in science.« Mittlerweile sind sie samt ihrer Organisation im Aktionsplan 2002 »Wissenschaft und Gesellschaft« der Europäischen Kommission fest verankert und als förderungswürdig deklariert. Jetzt trägt man sich sogar mit dem Gedanken, den europäischen Museumsverband ecsite zum ständigen Ausrichter der jährlichen »European Week of Science« zu berufen, eine gewaltige und ehrende Aufgabe, der sich das »Deutsche Museum« im Verein mit anderen Museen und Science Center gerne stellt. Ähnliches wünschten wir uns und täte wirklich Not auf nationaler Ebene. Die Wissenschafts- und Technikmuseen, die Science Center ebenso wie die naturkundlichen Sammlungen, Aquarien und Zoos, die mit ins Boot zu holen weder ecsite noch das »Deutsche Museum« im Geringsten ein Problem haben, sie alle sollten sich die Aufgabe teilen, »public understanding of science« und »life long learning« flächendeckend und »auf Dauer« in der Bundesrepublik zu etablieren. Deutschland hat hier immensen Nachholbedarf, auch weil es noch nicht erkannt hat, welches Potential in diesen vielen hundert ›Schatzkammern‹ ruht, das man sicher mobilisieren muss, dann aber intensiv nutzen kann. Eine diesbezügliche Netzwerk-Initiative – ecsite-d6 – wurde im Spätherbst 2003 am Rande der im Deutschen Museum stattfindenden ecsite-Jahrestagung gestartet, um auch im deutschsprachigen Raum die nötige visibility erzeugen und ein lobbying mit einer Stimme zu ermöglichen. Die unter dem Eindruck der erschreckenden PISA-Ergebnisse aus fast leeren Kassen mühsam zusammengekratzten Personal- und Sachmittel gehören

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in die informellen (die free-choice) Lernorte investiert. Denn was für einen Sinn machte es, die seit eh und je in der Krise befindliche Schule samt anachronistischem Frontalunterricht obligatorisch auch auf den Nachmittag auszudehnen, an dem man viel besser aus freien Stücken ›mit Kumpels und der Freundin‹ ins »Deutsche Museum« geht. Wie sagte ich in meinem Schlusswort beim Festakt zum 100-jährigen Bestehen des »Deutschen Museums«: Das Lieblingsmuseum der Deutschen, die Nummer eins zu sein in der Besuchergunst, den Jugenderinnerungen und der Nostalgie: Meist genießen wir’s, nur, es genügt uns nicht! Es genügt uns nicht, um mit Lessing zu sprechen, wie Klopstock gelobt, aber nicht fleißig gelesen – heißt nicht besucht und benutzt – zu werden. Jedenfalls nicht exzessiv genug! Denn wir vermöchten so viel mehr! Die Schubkraft dieses großen Jubiläums, verschafft sie uns endlich auch in Deutschland die visibility, die wir in Europa schon haben? »Public understanding of science« – wer hat mehr Kompetenz, es unzähligen jungen Menschen schmackhaft zu machen, sich freiwillig, nachmittags mit Freunden, samstags, sonntags mit der Familie, mit Physik, Chemie und Technik zu beschäftigen? Das macht plötzlich drei, vier Wochenstunden mehr, als in den Curricula eingeplant sind. Wo, wenn nicht bei uns sollte das so oft beschworene »life long learning« stattfinden? An den Universitäten? Das glaube ich nicht! Mein größter Wunsch wäre, die Bildungspolitiker würden die Museen und Science Center in ihre Bildungsoffensiven einplanen. 6318 Bildungseinrichtungen dürfen nicht im Jammertal verweilen. So viel Museen nämlich zählt das Berliner Museumskundeinstitut in Deutschland. 992 davon sind wissenschaftlich-technische und naturkundliche Häuser, also Wissenschaftsmuseen im weitesten Sinn, die neue, wichtigste Bildungsaufgaben komplementär zu Schule, Universität und Medienwelt erfüllen könnten. Damit würden sie das Museum zu dem machen, was es sein und wirklich leisten kann – mit den Science Center zusammen und nicht gegen sie – für die Gesellschaft! Diese Chance sollte künftigen Generationen zuliebe genutzt werden! Anmerkungen 1 Besser wäre wohl ›Disneylandisierung‹, aber das ist eigentlich schon zu hoch gegriffen! 2 Ich danke Dr. Persson für die Überlassung der Daten. 3 ecsite = European Collaborative for Science, Industry and Technology Exhibitions, jetzt: European Network of Science Centres and Museums 4 PUSH = »Public Understanding of Science and Humanities«, eine an das angelsächsische »Public Understanding of Science« (pus) angelehnte Initiative des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft.

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5 WID = »Wissenschaft im Dialog« 6 ecsite-d ist die deutschsprachige Tochter der Brüsseler Mutterorganisation ecsite. Literatur Cossons, Neil (2000): »Museums in the New Millennium«. In: Svante Lindqvist (Hg.), Museums of Modern Science, Canton, M.A., S. 3-15. Deutsches Museum (Hg.) (2003): »Best wishes, dear older brother. You really don’t look your age!« Sammlung von Gratulationsschreiben aus aller Welt anlässlich »100 Jahre Deutsches Museum«, München. Falk, John H./Moussouri, Theano/Coulson, Douglas (1998): »The Effect of Visitors’ Agendas on Museum Learning«. In: Curator 41/2, S. 106-120. Falk, John H./Dierking, Lynn D. (1992): The museum experience, Washington, DC. Falk, John H./Dierking, Lynn D. (2000): Learning from museums. Visitor experiences and the making of meaning, Walnut Creek, CA. Fehlhammer, Wolf P. (1999): »Braucht Deutschland Science Center? 7 + 2 Thesen zur Zukunft der Museen«. In: Museumskunde 2, S. 39-44. Institut für Museumskunde (Hg.) (1998-2002): Materialien aus dem Institut für Museumskunde, Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1997-2001, Hefte 50 und 52-55, Berlin. Korff, Gottfried (2001): »Das Popularisierungsdilemma«. In: Landesmuseum für Technik und Arbeit (Hg.), Zauberformeln des Zeitgeistes. Erlebnis, Event, Aufklärung, Wissenschaft. Wohin entwickelt sich die Museumslandschaft? Mannheim, S. 49-63 und S. 64-98 (im selben Jahr auch veröffentlich in Museumskunde 1, S. 13-20). Morichetti, Raffaella (2000): »Scienza, centri della«. In: Istituto della Enciclopedia Italiana (Hg.), Enciclopedia Italiana di Scienze, Lettere ed Arti, Appendice, Vol. II, Rom, S. 626 ff. Persson, Per-Edvin (2000): »Public Understand«. In: Sci. 9, S. 449-460. Persson Per-Edvin (2003): How many science centres are there in the world today? Vortrag im Rahmen des Seminars »Hevelianum Programme« am 7. Februar 2003 in Gdansk, Polen. Preuss, Sebastian (2003): »Museen im Jammertal«. In: Berliner Zeitung vom 06.05.2003, S. 9. Salmi, Hannu (2003): »Science centres as learning laboratories: experiences of Heureka, the Finnish Science Centre«. In: International Journal of Technology Management 25, S. 460. The Royal Society (1985): The public understanding of science, London.

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Jörg Feldkamp ➔ »Industriemuseum Chemnitz« – ein neues Museum und sein Konzept



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»Industriemuseum Chemnitz« – ein neues Museum und sein Konzept

Jörg Feldkamp Am 12. April 2003 wurde die Dauerausstellung zur Industriegeschichte des Landes Sachsen im Industriemuseum Chemnitz, der Zentrale des »Sächsischen Industriemuseums«, mit überwältigender Anteilnahme der Bevölkerung eröffnet. Bis zum Jahresende 2003 konnte die Ausstellung über 80.000 Besucher registrieren. Abbildung 1: Bereits am Eröffnungstag stürmten 10.000 Besucher das Museum

Industriemuseum oder Technikmuseum – die Vorgeschichte Mit der Eröffnung des Hauses wurde ein lang gehegter Wunsch von Chemnitzer Unternehmern, Ingenieuren und Wissenschaftlern Wirklichkeit. Bereits 1827 hatten sich im Zusammenhang mit einem »Hauptgutachten über den Zustand der Chemnitzer Industrie« sieben von 14 befragten Unternehmen für die Einrichtung von »Modellsammlungen« und »Musterinstituten« ausgesprochen. Damit war noch kein Museum im heutigen Sinne gemeint, sollten doch die gesammelten Muster und Modelle den Fabrikanten als Vorbild und

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

zur Anregung für ihre Produktion dienen, um so einen Aufschwung zu bewirken. Erstmals am 27. März 1859 wurde im »Chemnitzer Tageblatt« die Idee zur Gründung eines künftigen Gewerbemuseums ins Spiel gebracht: »Man erschrecke nicht über diesen Vorschlag, denn wir haben nicht ein Museum in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes im Sinne, so dass darunter eine Sammlung seltener Gegenstände aus dem Gebiet der Kunst zu verstehen ist […], sondern wir meinen ein Museum der Industrie. Darunter verstehen wir eine, in ein angemessenes Gebäude gebrachte Sammlung anziehender Erzeugnisse aus dem industriellen Gebiete, die zur Belehrung für Schüler und Meister, zur Ansicht für Kenner und zur Freude für Freunde der Industrie aufgestellt werden. Denke man sich, dass wir seit 25 Jahren ein solches Museum besäßen, in welches irgend wichtige Erzeugnisse unserer Arbeitsstätten gebracht worden, wie anziehend müsste dies für alle sein, welche an technischer Entwicklung Interesse und Freude finden. Wie lehrreich würde dies sein für strebsame Jünger der Industrie.«

Und am 25. Juli 1864 traf sich der Chemnitzer Bürgermeister Johann Friedrich Müller mit den Stadtverordneten und Vertretern von Unternehmerorganisationen, um die Einrichtung eines »Museums für Industrie und Gewerbe in Chemnitz« zu erörtern. In großen Abständen folgten immer wieder neue Anstöße zur Errichtung eines Gewerbemuseums. Aber weder 1864 noch auf spätere Aufrufe hin erfolgte die angesetzte Museumsgründung. Das erste Chemnitzer Gewerbemuseum eröffnete schließlich am 11. Oktober 1877 und 1898 entstand auf Betreiben des »Industrievereins für Chemnitz und Umgebung« die »Städtische Vorbildersammlung«, in der Muster von Erzeugnissen der Chemnitzer Webereien gesammelt wurden. Mit Eröffnung des »König-Albert-Museums« im Jahre 1909 fand diese Sammlung Aufnahme in das Haus am Theaterplatz. Während die »Muster- und Vorbildersammlung« noch heute Bestandteil der Städtischen Kunstsammlungen ist, gingen die Bestände des Gewerbemuseums offensichtlich verloren. Auch Versuche zu Zeiten der DDR – so z.B. 1972 und 1987 –, eine Art Industriemuseum im heutigen Sinne einzurichten, scheiterten. Erst die politische Wende 1989 verlieh dem Museumsgedanken neue Hoffnung. Und so gründete sich bereits 1990 ein »Förderverein Industriemuseum Chemnitz e.V.«. Ein Jahr später bekannte sich die Stadt Chemnitz per Ratsbeschluss zur Einrichtung eines Industriemuseums. Konzeptionell stand dieses geplante Museum noch sehr in der Tradition der Vorbildersammlungen industrieller Erzeugnisse. Die Zerschlagung der industriellen Strukturen der DDR waren zwar schmerzlich für die vielen betroffenen Männer und Frauen, die in der ersten Welle ihren Arbeitsplatz verloren oder in den folgenden Jahren darum bangen

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mussten. Für den Aufbau einer Museumssammlung jedoch waren die aufgelassenen Fabriken und Betriebe ein ungeahnter und willkommener Fundus. Abbildung 2: Die stadtbildprägende und denkmalgeschützte Fassade von 1907

Viele ehemalige Mitarbeiter kehrten im Auftrage des Industriemuseums, nun aber als ABM-Kräfte, noch einmal in ihre Betriebe zurück, um technische Objekte für die Sammlung zu bergen. Was hier innerhalb kürzester Zeit an technischen Zeitzeugen zusammen kam, rechtfertigte zweifellos den Aufbau eines Museums. Es fanden sich Werkzeugmaschinen aus dem 19. Jahrhundert, funktionsfähige Dampfmaschinen, Textilmaschinen unterschiedlichster Entwicklungsstufen oder fast lückenlos Belegstücke für die traditionsreiche Chemnitzer Büromaschinenfabrikation. Auf der Grundlage der in Chemnitz bis zur politischen Wende dominierenden Branchen war die Sammlung nach Werkzeugmaschinen, Textilmaschinen, Antriebstechnik, Fahrzeugbau, Büromaschinenbau, Steuerungstechnik, Chemie und sozialgeschichtlichen Dokumenten geordnet. Den engagierten Ingenieuren und Wissenschaftlern, die sich im Förderverein einfanden, schwebte zunächst eine primär entwicklungsgeschichtlich strukturierte technische Sammlung Chemnitzer Leistungen vor.

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Aufgrund eines Stellenplans wurde dem Museum zunehmend professionelles Personal zugebilligt. Infolgedessen konnte sich eine andere Vorstellung von einem Chemnitzer Industriemuseum entwickeln, nach der Industriegeschichte nicht mehr nur als ausschließlich technologischer Prozess verstanden wurde, sondern vielmehr auch als soziologischer. Der Name Der Name des Museumsprojektes war bei der Durchsetzung der veränderten Konzeption hilfreich. Eher unbewusst war mit »Industriemuseum Chemnitz« der Gattungsbegriff, erweitert um den Ort des Geschehens/Standort, gewählt worden. Und nur die neue Konzeption konnte diesem Begriff gerecht werden, denn mit industria, der lateinischen Bezeichnung für Fleiß und Betriebsamkeit, wurde eine menschliche Eigenschaft zum Ausdruck gebracht. Damit war bereits der Schlüssel für den neuen Ansatz gegeben. Die Technik wurde von nun an als ein dem Industrialisierungsprozess zugeordnetes Element angesehen. Im Wesentlichen ging es aber um die Menschen, die diesen Prozess einleiteten und durchsetzten, die davon profitierten wie darunter litten, die neue Ideen einbrachten oder warnend den Finger hoben. Die Aufgabenstellung Die Aufgabenstellung des Museums hatte bereits der Förderverein in seiner Satzung von 1990 formuliert, nämlich: • eine komplexe Gesamtschau technologischer wie volkswirtschaftlicher Prozesse in Vergangenheit wie Gegenwart zu vermitteln und ansässiger Industrie und heimischem Gewerbe einen Platz für ihre Selbstdarstellung zu geben; • die Verbundenheit der Bevölkerung, insbesondere der Jugend, zu ihrer Heimat mit all ihren Traditionen zu stärken sowie das Bedürfnis nach kultureller Betätigung zu fördern und zu befriedigen; • Aufgeschlossenheit gegenüber technologischer, industrieller und sozialer Entwicklung zu fördern und zum Ort der Kommunikation über ethische Probleme des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu werden; • sinnvolle Freizeiteinrichtung für alle Bürger, touristische Attraktion für alle Besucher und Imageträger für die Industrie- und Kulturstadt Chemnitz zu sein. Auch nachdem die Stadt Chemnitz das Industriemuseum 1998 in den »Zweckverband Sächsisches Industriemuseum« einbrachte, blieb dieses Programm im Wesentlichen erhalten. Allerdings übernahm das Museum von

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nun an zentrale Aufgaben für den Museumsverband und hatte neben der Chemnitzer zusätzlich 200 Jahre sächsische Industriegeschichte darzustellen. Wie sollte dies jedoch auf der Grundlage der bestehenden Sammlung primär Chemnitzer Provenienz umgesetzt werden? Hier halfen die großen und kleineren Museen in Sachsen auf geradezu beispiellose Weise aus, indem sie, um Leihgaben angefragt, sich von repräsentativen Exponaten zu speziellen Themen der Industriegeschichte teils lokal bedeutender Branchen trennten. Im Gegenzug sagte das Chemnitzer Industriemuseum zu, die Häuser und Sammlungen der beteiligten Leihgeber sozusagen zu moderieren, dass heißt, den Besuchern des Hauses bei Interesse den Besuch der Spezialmuseen in Sachsen zu empfehlen. Der »Zweckverband Sächsisches Industriemuseum« Wie bereits erwähnt, behielt das Chemnitzer Industriemuseum mit der Gründung des »Zweckverbandes Sächsisches Industriemuseum« zwar seinen Namen, sein Schwerpunkt lag aber nun in einem Überblick über den sächsischen Industrialisierungsprozess. Neben dem Freistaat Sachsen, der zunächst die Hälfte aller Investitions- und Betriebskosten bis zum Jahr 2004 übernahm, und der Stadt Chemnitz waren folgende Städte Partner des dezentralen Sächsischen Industriemuseums: Crimmitschau mit der ehemaligen Pfauschen Volltuchfabrik, die Stadt Ehrenfriedersdorf mit der Zinnerzgrube und dem Mineralogischen Museum, die Stadt Hoyerswerda mit der ehemaligen Brikettfabrik in Knappenrode und die Stadt Lengefeld mit dem bereits als Museum betriebenen historischen Kalkwerk. Während also an den anderen Orten technische Denkmäler, seien es industrielle Anlagen oder Fabriken, den branchenbezogenen Inhalt der zu entwickelnden Museen bestimmten, hatte Chemnitz die inhaltliche Klammer für alle darzustellen. Knappenrode bzw. das Lausitzer Bergbaumuseum ganz im Osten Sachsens soll – neben seiner regionalen Bedeutung – die Braunkohle, den Tagebau, die Briketterzeugung und Energiegewinnung exemplarisch vertreten. Gleichzeitig ist es ein Beispiel für den Rückbau und die Rekultivierung des Landes, die nach der Schließung des Tagebaus einsetzte. Ehrenfriedersdorf mit der Zinnerzgrube steht für Metalle, den Gangerzbergbau und die besondere industrielle Nutzung des Zinns. Das Museum »Kalkwerk Lengefeld« bringt die Bedeutung der Bindemittelindustrie und speziell des Kalkes ein und die einschließlich der Innenausstattung vollkommen erhaltene Volltuchfabrik in Crimmitschau übernimmt als »Westsächsisches Textilmuseum« die zentrale Dokumentation der lokal unterschiedlichen, für die Industrialisierung Sachsens regional hochbedeutenden Textilindustrie.

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Die inhaltliche Gliederung Auch wenn es in der Natur einer jeden industriegeschichtlichen Sammlung liegt, dass in ihr die technischen Exponate aufgrund ihrer Anzahl und Größe dominieren, so spricht dies je doch nicht gegen eine ganz andere, in diesem Fall personenbezogene Gliederung. Das Industriemuseum hat sich für Personengruppen entschieden, die alle Aspekte des Industrialisierungsprozesses vertreten können. Die erste Abteilung ist den Sachsen gewidmet. Es erschien zwingend, bei einem sächsischen Industriemuseum zunächst den Fokus auf Sachsen zu legen und nach den Sachsen und ihren regionalen Differenzierungen zu fragen. Zugleich bietet diese Abteilung eine kleine sächsische Leistungsschau auf industriellem Gebiet, unterschieden nach den Regionen und Metropolen Dresden, Leipzig, Chemnitz, Erzgebirge, Lausitz und Vogtland. Abbildung 3: Blick in die Ausstellungshalle

Die weiteren Abteilungen behandeln den Unternehmer, den Arbeiter, die Familie, die Kreativen, die Karl-Marx-Städter und die Konsumenten. »Kreative« ist der Sammelbegriff für die Erfinder und Ingenieure, die Wissenschaftler und Forscher, aber auch die Künstler, die Designer und – aus heutiger Sicht besonders wichtig – die Vertreter der Werbeindustrie. Die »Karl-Marx-Städ-

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ter« vertreten, mit Bezug auf den Namen, den Chemnitz nahezu für den gleichen Zeitraum tragen musste, 40 Jahre sozialistische Planwirtschaft. Die letzte Abteilung gilt den Europäern. Dadurch wird der auf Sachsen begrenzte Fokus wieder aufgelöst und die Gegenwart mit dem Verweis auf die immer währende Internationalität der sächsischen Industrie beleuchtet. Abbildung 4: Der Übersichtsplan der Dauerausstellung

Das Ausstellungskonzept Der nicht mehr bezahlbaren inszenatorischen wie szenographischen Aufrüstung überdrüssig, bleibt die Ausstellung von allzu viel Beiwerk befreit. Im Gegensatz zu Ausstellungen in jüngster Vergangenheit ist die Präsentation im Wesentlichen auf wichtige und aussagefähige Objekte beschränkt. Das klassische Kunstmuseum ist hier indirektes Vorbild. Die Ausstellungstechnik sollte vor allem auf die Hängung, auf Sockel, Podeste und Vitrinen setzen, jedes Objekt sollte wieder frei von szenischen Zusätzen, eigenwertig, nur in der Gemeinschaft anderer ebenso individueller Objekte gezeigt werden. Es herrscht das »Galerieprinzip«.

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Abbildung 5: Ein Terminal des Multimedialen Informationssystems

Die Informationsebene Der Ausstellungsort selbst ist weitgehend von Texttafeln im Raum, Großfotos, Videostationen und sonstigen medialen Ergänzungen freigehalten. Den Objekten ist allein eine Objektbeschriftung, in der Regel um wenige erklärende Sätze erweitert, beigesellt. Abgesehen von der personellen Vermittlung durch Führer oder Vorführer geschieht die Informationsvermittlung durch eine eigenständige Informationsebene, in der multimediale Informationstechnik zum Einsatz kommt. Die Besucher können sich an Bildschirmplätzen stehend

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wie sitzend interaktiv über die Ausstellungskonzeption und deren Inhalte informieren. Diese Plätze sind, jeweils drei um eine so genannte ›Informationsstele‹ gruppiert, in ausreichender Anzahl in allen Abteilungen vorhanden. Die Multimedia-Technik erlaubt, ausgehend vom klassischen Text und von Bildern, die Einspielung von Filmen, Tondokumenten, elektronischen Animationen, den so genannten ›Flashs‹, die Vorhaltung von Datenbänken und das Angebot an interaktiven Spielen zur Entspannung, aber auch zur didaktischen Unterstützung des Museumsbesuches. Das multimediale Informationssystem wurde in Zusammenarbeit mit dem »Institut für Print- und Medientechnik an der Technischen Universität Chemnitz« entwickelt. Eine besondere Stärke des Informationssystems ist das für den Besucher nicht erkennbare, integrierte Redaktionssystem. Es erlaubt den Mitarbeitern – sozusagen vom Schreibtisch aus – die ständige Erweiterung und Aktualisierung der Informationsangebote unter Benutzung der unterschiedlichsten Dateiformate. Skeptiker beargwöhnten zunächst diese so radikale Abhängigkeit von elektronischen Informationsmedien in gebündelter Form, zumal die Informationsstellen sich in einigen Metern Abstand zu den entsprechenden Ausstellungsobjekten befinden. Doch die Erfahrung sowie intensive Befragungen und Analysen des Besucherverhaltens bestätigen immer wieder, dass das multimediale Informationsangebot als ausreichend bzw. willkommen und vorbildlich bewertet wird. Ein weiteres Angebot dieses Systems ist das so genannte print on demand. Ein Strichcode auf den Eintrittskarten erlaubt dem Besucher, sich mittels eines in die Multimedia-Terminals integrierten Scanners zu registrieren, um Texte und Bilder aus dem Informationspool auszusuchen und sich am Ende des Museumsbesuchs an der Kasse zur Mitnahme ausdrucken zu lassen. Zwischenzeitlich wurden die Inhalte des multimedialen Informationssystems weitestgehend auch für das Internet freigegeben. Somit kann derjenige, der nur spezielle Fragen an das Museum oder zu speziellen Exponaten hat, das Museum von jedem PC aus erreichen. Andere wollen auf das Erlebnis eines Museumsbesuches nicht verzichten und einem Führer lauschen oder einem Vorführer über die Schultern schauen. Diese müssen sich immer noch auf den Weg nach Chemnitz und in das Industriemuseum machen. Die aufwändigste, aber beliebteste Vermittlung ist ohnehin die persönliche. In den ersten neun Monaten wurden über 500 Führungen, im Folgejahr über 900 durchgeführt. Diese finden auch zu speziellen Themen statt, etwa zur Geschichte der Textilindustrie oder zum Werkzeugmaschinenbau.

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Abbildung 6: Eine translozierte Maschinenwerkstatt im Vorführbetrieb

Die Handlungsebene Es ist natürlich kein Widerspruch, wenn ein Industriemuseum sehr viel historische Technik zeigt. Es ist aber nicht die technische Entwicklung, die in Chemnitz im Vordergrund steht, sondern es ist die Bedeutung des technischen Objektes innerhalb des Industrialisierungsprozesses und es ist im Besonderen das mit oder auf ihm produzierte Produkt. Darum ist das Wachhalten des Produktionsprozesses wichtiger noch als die reine Funktionsbeschreibung der Technik. Das Museum hat den Anspruch, dass alle technischen Objekte, von der Dampfmaschine über den Buchungsautomaten bis zur Rohrpost, funktionsfähig sind. Entscheidenden Anteil an der positiven Bewertung des Museumsbesuches haben die Vorführer, die den Besuchern die jeweiligen Exponate in Funktion erklären. Darüber hinaus haben die Besucher an einzelnen Stationen die Möglichkeit, selber Hand anzulegen und zu probieren. Ein Beispiel ist der Arbeitsplatz eines Stickers, der mit Kopf, Hand sowie Fuß und ausschließlich seiner Muskelkraft eine gewaltige Stickmaschine in Heimarbeit betrieb. Diese Maschine ernährte zwar die Familie, band zugleich aber auch alle Familienmitglieder mit speziellen Arbeiten ein. Dieser Arbeitsplatz wird dem Besucher als ein Simulator angeboten. Nur ein begrenztes Budget und nicht der Mangel an Ideen beschränkt die Anzahl der angebotenen hands-ons, die erheblich zur Attraktivität des Museumsbesuches und zur Verweildauer in der Ausstellung beitragen.

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Die Serviceebene Das Museum versteht sich sehr dezidiert als Dienstleister und verfügt entsprechend über ein Serviceangebot. So wird ein museumspädagogischer Dienst unterhalten, der neben Führungen, Fortbildungen und Projekttagen Vorträge anbietet und Publikationen erarbeitet. Die Museumsbibliothek steht interessierten Nutzern zur Verfügung. Die gastronomischen Möglichkeiten sind – neben den Standards Museumscafé und Restaurant – bewusst erweitert, indem nicht nur offensiv unterschiedliche Räume des Hauses vermarktet bzw. stunden- oder tageweise vermietet werden. Das Spektrum reicht vom 120 Quadratmeter großen Seminarraum mit aktueller Tagungstechnik bis hin zur Sonderausstellungshalle, die über gut 600 Quadratmeter Raumangebot verfügt. Aber auch der Dauerausstellungsbereich ist für kommerzielle Nutzungen nicht tabu. Um den museologischen Grundvoraussetzungen hinsichtlich konservatorischer Belange und der Sicherheit der Exponate Rechnung zu tragen, wurde folgende Lösung gefunden: Die annähernd 4000 Quadratmeter große Dauerausstellungshalle wird in der West-Ost-Achse durch eine gläserne Passage geteilt, die sich im hinteren östlichen Bereich zum so genannten ›Europa-Forum‹ öffnet, an das sich die Halle für Sonderausstellungen und sonstige Veranstaltungen anschließt. In das ›Europa-Forum‹ wurde ein fest installierter Tresen mit moderner Schanktechnik integriert, der sich seit seiAbbildung 7: Der Tresen in der Dauerausstellung wird zunehmend zum Kommunikationszentrum

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Abbildung 8: Deutlich zu erkennen: die verglaste Passage

ner Einrichtung als beliebter Treffpunkt und Kommunikationszentrum herausgestellt hat. In der Regel ist dieser Tresen während des normalen Museumsbetriebs unbewirtschaftet. Außerhalb der Öffnungszeiten und zu besonderen Anlässen können hier aber Getränke angeboten oder Snacks eingenommen werden. Selbstverständlich herrscht generelles Rauchverbot. Die gläserne ›Konsumentenpassage‹ wird bei Veranstaltungen außerhalb der Öffnungszeiten zu den Ausstellungsbereichen hin geschlossen. Die Gäste können dann nur noch diese Passage durchschreiten und sich in den an Schaufenster erinnernden Vitrinen über Produkte aus 200 Jahren sächsischer Produktion informieren. Die Passage ist auch der Weg in den Sonderausstellungs- und Veranstaltungsbereich. Will etwa ein Unternehmen seinen Gästen auch außerhalb der Öffnungszeiten die Dauerausstellung zugänglich machen, dann sind die Kosten für Bewachung etc. von ihm zu bestreiten. Das Fazit nach zwei Jahren Museumsbetrieb in Chemnitz ist sehr ermutigend. Bereits im ersten Jahr wurde statistisch das Ziel von mindestens 100.000 Besuchern übertroffen und seit seiner Eröffnung weist das Industriemuseum im Vergleich mit den anderen Museen vor Ort die höchste Besucherzahl aus. Die Einmietungen haben einen Umfang erreicht, der mit der ursprünglichen Personalausstattung nicht mehr zu bewältigen war. Über 90 Prozent der Besucher begrüßen die Art der Präsentation, die zum Teil be-

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wusst assoziativ und nicht nachdrücklich didaktisch ist, weswegen es auch keinen Zwangsrundgang gibt. Die meisten Besucher konnten sich schnell mit dem multimedialen Informationssystem anfreunden, sofern denn überhaupt ein Bedürfnis bestand, den Museumsbesuch ausschließlich zur Bildung und zur Kenntniserweiterung zu nutzen. Es muss doch vielmehr festgestellt werden, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung die Museen als Unterhaltungsräume entdeckt hat. Die Museumsmacher sind dabei gut beraten, Unterhaltung als Mittel der Bildungsvermittlung einzusetzen, d.h. auf unterhaltsame Art und Weise dennoch für Bildung zu sorgen. Zusammengefasst werden mit dem Konzept des Chemnitzer Industriemuseums folgende Grundprinzipien verfolgt: • die Sammlung als Maß aller Dinge; • Wissenschaftlichkeit als Fundament; • konservatorische Sorgfalt gegenüber den Objekten als Grundverpflichtung; • Industriegeschichte als Sozial- und Kulturgeschichte; • Trennung zwischen Ausstellungs- und Informationsebene; • assoziativer Einsatz von Exponaten; • keine Zwangsführung; • umfangreicher Vorführbetrieb; • Eigenbetätigung/hands-ons; • Unterhaltung als Mittel pädagogischer Vermittlung; • Museum als Dienstleister.

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Das Vermittlungskonzept der Deutschen Arbeitsschutzausstellung (DASA)

Gerhard Kilger Einleitung »Mensch – Arbeit – Technik«. Unter diesen Leitbegriffen wirbt die DASA, eine bundesweit ausstrahlende Einrichtung mit Sitz in Dortmund, für eine Arbeitswelt, in der der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Belangen im Vordergrund steht. Die DASA umfasst 13.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche und erreicht jährlich mit steigender Tendenz ca. 240.000 Besucherinnen und Besucher. Als Bildungsort klärt sie über die Bedeutung von Arbeit und Gesundheit auf. Mit ihrem hohen Anteil an jugendlichem Publikum trägt sie besonders zur nachhaltigen Förderung der Eigenverantwortung und Zufriedenheit im Arbeitsleben bei. Als wichtiges Instrument innerhalb der »Initiative Neue Qualität der Arbeit« (INQA) leistet die DASA auch einen wirksamen Beitrag zu einer umfassenden, sozial verantwortlichen Modernisierungsstrategie der deutschen Wirtschaft. Neben der Dauerausstellung liefert sie vor allem mit Veranstaltungen und Sonderausstellungen Beiträge zur Debatte über den Menschen und seine Arbeit in unserer Gesellschaft. Die DASA erreicht ihre Zielsetzung mit modernsten Methoden des Ausstellungswesens: Die Inhalte Abbildung 1: Auf 13.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche informiert die DASA in Dortmund über die Arbeitwelt und ihren Stellenwert in der Gesellschaft

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werden erlebnisorientiert, anregend und spielerisch, zugleich didaktisch und wissenschaftlich angemessen vermittelt, fachlich verbindlich und mit hohem gestalterischem Anspruch dargestellt sowie durch künstlerische Interpretationen der Thematik begleitet. Eingebunden in die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, ist für die DASA die »Modernisierung der Arbeitswelt« auch in den nächsten Jahren maßgebend. Der tiefgreifende Strukturwandel der Arbeitswelt erfordert, den damit einhergehenden Bedarf an Orientierung, Sinnbildung und Wertediskussion in weiten Bevölkerungskreisen aufzugreifen. Für die DASA eröffnet sich damit die Chance, die Ausstellung zu einem anerkannten Ort der Zukunftsdebatten über Arbeit zu etablieren. Die DASA genießt weniger aufgrund einer Sammlung als wegen ihrer gestalterischen und didaktischen Qualität und Kompetenz einen ausgezeichneten Ruf. Ihr Ausstellungskonzept zielt darauf, eine breitere Öffentlichkeit für die Diskussion über die künftige Gestaltung der Arbeitswelt zu gewinnen und ein höheres Maß an Akzeptanz und persönlicher Motivation zu erzeugen, als dies durch andere Umsetzungsinstrumente möglich ist. Es lässt sich feststellen, dass diese Zielsetzung nicht nur erreicht, sondern bei weitem übertroffen wird: Sowohl die Besucherzahlen als auch die positive Wahrnehmung in den Medien gehen weit über alle Erwartungen hinaus. Zusätzlich ist es gelungen – auch im Vergleich zu anderen Einrichtungen –, eines der wichtigsten Ausstellungshäuser im Ruhrgebiet und in Deutschland zu werden. Gleichzeitig wurde die DASA zur Partnerin der bedeutendsten Technikmuseen und Science Center in Europa. Zielsetzungen der DASA Zielgruppenarbeit und Kundenbindung Die DASA soll über die Arbeitswelt, ihren Stellenwert in der Gesellschaft und ihre menschengerechte Gestaltung informieren. Sie ist eine bildungsaktive Einrichtung und bedient sich bei der Darstellung pädagogischer Mittel. Ihre Zielgruppen sind Fachleute, Schüler und die breite Öffentlichkeit. Unsere Erfahrungen zeigen, dass diese wichtigen Zielgruppen erreicht werden. Allerdings ändern sich mit dem gesellschaftlichen Wandel auch die Erwartungshaltungen. Das steigende Interesse an erlebnishaften Ausstellungen ist ebenso absehbar wie die schwindende Attraktivität rein virtueller Erlebnisse. Schulen und Weiterbildungsträger suchen mehr denn je die Möglichkeit des Unterrichts am ›anderen Lernort‹. Die Fachwelt des Arbeitslebens ist als Multiplikator dieser Idee innerhalb des Spektrums der genannten Zielgruppen von unschätzbarer Bedeutung, sie ist allerdings in ihrer zahlenmäßigen Größe naturgemäß begrenzt. Besondere Anstrengungen gelten deswegen den Noch-nicht-Besuchern und -Besucherinnen sowie den ›bisher Unin-

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teressierten‹. Eine hohe Nachfrage lässt sich nur durch neue Angebote für Wiederholungsbesuche und nachwachsendes Publikum (Kinder und Jugendliche) schaffen. Im Wettbewerb zu anderen publikumsträchtigen Einrichtungen der Region muss die langfristige Kundenbindung den hauptsächlichen Stärken der DASA entsprechend gefördert werden: Dies sind vor allem die Zusammenarbeit mit Schulen, die einmalige Gestaltung (Szenographie) und das Thema Arbeitswelt. Neue Themen müssen anschaulich vermittelbar sein Die Themen entsprechen den Problemfeldern der Arbeitswelt und dem jeweiligen Forschungsstand. Zur Vermittlung von Themen reicht es nicht aus, diese gut zu kennen. Dem Vermittlungsprozess selbst liegt ein hoher Aufwand von Facharbeit zugrunde. Zusätzlich müssen für jede Ausstellung faszinierende Objekte gefunden oder geschaffen werden, die diese Themen transportieren oder repräsentieren können. Neben Themen der Arbeit werden weitere Bereiche belegt, die direkte oder indirekte Bezüge zur Arbeitswelt aufzeigen. Das sind z.B. Themen zu technischer Innovation, zur Anthropologie, zur Medizin, zu Heim und Freizeit, zu Hygiene, Kunst, Sport und Musik. Strategien Dauerausstellung, Wechselausstellungen und Veranstaltungswesen sind die drei Hauptfelder, in denen die DASA arbeitet und deren Herausforderungen sie in folgender Weise begegnen will: 1.

Die DASA wird ihre Dauerausstellung fachlich und gestalterisch aktualisieren. Veraltete Ausstellungen erreichen das Publikum weder physisch (die Besucher bleiben aus) noch psychisch (die Botschaften überzeugen nicht). 2. Die DASA wird mit attraktiven Sonderausstellungen das öffentliche Interesse auf sich lenken, um damit neue Besucherkreise zu erschließen und das Stammpublikum zu binden. 3. Die DASA wird flankierend zu den Ausstellungen ihr Veranstaltungswesen ausbauen, um sich als der Ort der gesellschaftlichen Debatte über Arbeit zu profilieren. Dauerausstellung Die Dauerausstellung ist das ›Kerngeschäft‹ der DASA und bindet den größten Teil der Ressourcen. Die gegenwärtig zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel und die rückläufigen Personalressourcen reichen nicht aus, den

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Betrieb und die Unterhaltung der DASA auf dem erreichten Standard zu gewährleisten. Zur Lösung dieser Probleme bietet es sich an, einschlägige Unternehmen als ›Paten‹ für einzelne Ausstellungsbereiche zu gewinnen (finanzielle oder personelle Zuwendungen) sowie ehrenamtliche Mitarbeiter (z.B. für die Publikumsbetreuung) zu finden. Außerdem eröffnet die Einführung von kaufmännischer Bewirtschaftung neue Einsparpotentiale. Die Publikumsarbeit wird weitere adressatengerechte Angebote entwickeln, die zur Bindung bereits gewonnener und zur Erschließung neuer Publikumsschichten beitragen. Ein Schwerpunkt wird dabei die Unterstützung der Bildungsbemühungen, insbesondere der Schulen sein, ferner die Förderung der Ausstellungsbesuche von Familien an Nachmittagen und Wochenenden. Eine adressatengerechte Publikumsarbeit erfordert eine kontinuierliche Besucherforschung, die zunächst die Zusammensetzung des Publikums ermittelt, die Anlässe, Motive, Bedingungen des Ausstellungsbesuchs sowie die öffentliche Wahrnehmung der DASA untersucht und schließlich die Bedürfnisse, Interessenlagen und die Zufriedenheit des Publikums betrachtet. Darüber hinaus ist mittelfristig eine Wirkungsanalyse der DASA geplant. Die DASA wurde in den Jahren 1993-2000 sukzessive fertig gestellt. Die ersten, inzwischen über zehn Jahre alten Ausstellungseinheiten sind teilweise abgenutzt, vielerorts auch fachlich überholt. Eine Erneuerung der Dauerausstellung muss in einer fortgeschriebenen Konzeption ein aktualisiertes Erscheinungsbild sowie zeitgemäße, möglichst innovative und richtungweisende Ausstellungsmethoden realisieren. Dazu gehören auch die aktuellen Methoden der Science Center, denn gerade das Zusammenwirken von Forschung und DASA kann der gegenwärtigen und zukünftigen Nachfrage nach ›Wissenschaft live‹ entgegenkommen. Die ständige Erneuerung der DASA muss aber vor allem den mit dem strukturellen wirtschaftlichen Wandel einhergehenden Veränderungen der Arbeitswelt Rechnung tragen. Flexibilisierung der Arbeit, Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, Auflösung der Normal-Arbeitsverhältnisse, Individualisierung und Fragmentierung der arbeitenden Menschen sind in dieser Hinsicht ebenso kennzeichnend wie die zunehmende Überalterung der Gesellschaft und die wachsende Bedeutung von Frauen in der Arbeitswelt. Den psychomentalen Belastungen wie Stress, Fragen der employability und sozialpolitischen Fragestellungen im weiteren Sinne ist vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken, ohne indessen die Aufmerksamkeit für die ›traditionellen‹ Risiken am Arbeitsplatz zu vernachlässigen.

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Abbildung 2: Die Stahlhalle erinnert an den technischen und sozialen Wandel in der Region. Ihre Ausstellung ist gleichzeitig einer der beliebtesten Veranstaltungsorte im Ruhrgebiet

Wechselausstellungen Temporäre Sonderausstellungen erfüllen, auch wenn man ihren Erfolg prinzipiell nicht vorhersagen kann, zwei Bedingungen: • Sie ergänzen das inhaltliche Spektrum der Dauerausstellung sinnvoll, ohne es jedoch zu wiederholen. • Sie erschließen zusätzliches, in der Regel auch anderes Publikum. Der Betrieb von Wechselausstellungen verfolgt mehrere Ziele: Erfahrungsgemäß benötigt eine ständige Ausstellung einen flankierenden Wechselausstellungsbetrieb, um die öffentliche Wahrnehmung aufrechtzuerhalten (beispielsweise werden für Presseberichte und Ausstellungsankündigungen nur temporäre Veranstaltungen akzeptiert). Wechselausstellungen werden deswegen gemäß einem Marketingkonzept offensiv beworben. Um Wiederholungsbesucher zu gewinnen und die Nachfrage in der Region zu erhalten, sind attraktive Angebote notwendig, die im Wettbewerb zu anderen Bildungsund Freizeitangeboten bestehen können. Für die Größenordnung von Wechselausstellungen gibt es eine so genannte ›kritische Masse‹. Unterhalb dieser ist der finanzielle Aufwand, gemessen an einer eher kleinen Nutzung, zu

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hoch. Besonders aufwendige Ausstellungen haben dagegen sogar die Chance einer Refinanzierungsmöglichkeit. Dies gilt vor allem für Eigenproduktionen und internationale Kooperationsmodelle. Neben der offensiven Strategie hinsichtlich der Breitenwirkung sind Strategien zur Aufschlüsselung neuer Zielgruppen notwendig. Beispielsweise ist das kulturell interessierte ›Bildungsbürgertum‹ mit der ständigen Ausstellung kaum zu erreichen. Diese Zielgruppe ist aber vor allem deshalb von großer Bedeutung, weil Führungskräfte und Entscheidungsträger für eine Multiplikatorwirkung der Vermittlungsziele wichtig sind. Da im Hinblick auf diese Besucherschichten Ausstellungen mit Kunstwerken sehr effektiv sind, hat die DASA vor Jahren den Ausstellungszyklus »Kunst und Arbeit« ins Leben gerufen. Wechselausstellungen über die Arbeitswelt oder gar über Arbeitsschutz sind international nicht zu entleihen und kaum zu verleihen. Allein deswegen wird im Wechselausstellungsbereich keine Strategie für Arbeitsschutzausstellungen verfolgt. Zudem hat sich gezeigt, dass die ständige Ausstellung dann in Konkurrenz zur eigenen Wechselausstellung steht und ein inhaltlich gedoppeltes Angebot uneffektiv ist. Deswegen wird das Vermittlungsziel der DASA über andere Themen unterstützend aufgegriffen. Dies kann z.B. über die Thematisierung der natürlichen Belange des Menschen (Anthropologie), über die Arbeit in der Dritten Welt (Ethnologie) oder über spezielle Werkstoffe (Innovation und Technologie) geschehen. Durch die Schaffung von »Ausstellungsparcours« durch Deutschland und Europa wird angestrebt, mit den Wechsel- bzw. Wanderausstellungen weitere Bevölkerungskreise zu erreichen. Veranstaltungen Ursprünglich wurde die DASA nicht als Veranstaltungsort konzipiert. Zur Zeit der Eröffnung gab es dazu weder die baulichen noch die personellen, haushaltsgemäßen oder organisatorischen Voraussetzungen. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die DASA (besonders die Stahlhalle und die Energiehalle) als einer der attraktivsten Veranstaltungsorte der Region gilt. Die Multiplikatorwirkung der seitherigen Veranstaltungen (ca. 80 pro Jahr) hat viel zum Bekanntheitsgrad der DASA beigetragen. Zusätzlich ergänzen sie den Diskurs um die Ausstellungsinhalte und sind als zeitgemäße Belebung der DASA im Sinne eines Forums über die Themen der Arbeitswelt anzusehen. Eigene Veranstaltungen haben – auch im Zusammenarbeiten mit Dienstleistern – folgende Schwerpunkte: • Neue Zielgruppen werden angesprochen. • Für den fachlichen Diskurs über die Themen der Arbeitswelt wird eine überregional bekannte Plattform geschaffen.

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• Die Inhalte der Ausstellungen werden durch Vorträge, Aktionstage, Events etc. ergänzt. Mit zunehmender Nachfrage wird eine stimmige ›Veranstaltungskultur‹ entwickelt. Diese muss sowohl dem Leitbild der DASA als auch wiedererkennbaren Zuordnungen entsprechen; d.h. bestimmte Arten von Events, von Kleinkunst und von Themen sollen für die DASA-Veranstaltungen typisch sein. Langfristig kann erwartet werden, dass mit Hilfe eines koordinierten Veranstaltungswesens eine Refinanzierbarkeit und sogar beträchtliche Einnahmen zu erwirtschaften sind. Das didaktische Vorgehen der DASA Präsentationsziele Museen und Ausstellungen sind bevorzugte Orte des informellen Lernens. Gerade die ganzheitliche Erfahrung in aufregenden Erlebniswelten fördert die Vermittlungsformen für sinnfälliges Begreifen mit nachhaltiger Wirkung. Insofern gilt es, den Präsentationszielen – auch im Hinblick auf unerwünschte ›verborgene‹ Vermittlungsziele – besondere Beachtung zu widmen. Die Präsentationsziele können grundsätzlich drei unterschiedlichen Dimensionen menschlicher Verhaltensweisen zugeordnet werden: • Kognitive Präsentationsziele beziehen sich auf Denken, Wissen und Problemlösen, auf Kenntnisse und intellektuelle Fähigkeiten. • Affektive Präsentationsziele beziehen sich auf Veränderung von Interessenlagen, auf die Bereitschaft, etwas zu tun oder zu denken, auf die Einstellungen und Werte sowie auf die Entwicklung dauerhafter Werthaltungen. • Psychomotorische Präsentationsziele beziehen sich auf die manipulativen und motorischen Fähigkeiten des Publikums. Präsentationsziele dieser drei Dimensionen schließen einander nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Dimensionen der Präsentationsziele ergeben sich für die Ausstellungsdidaktik folgende besucherorientierte Aufgabenstellungen: • eine kognitive Wissensstruktur zu entwickeln; • die Bereitschaft zu eigenverantwortlichem Verhalten zu unterstützen • die Entwicklung von motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu fördern. Der wesentliche Vorteil der Dimensionierung von Präsentations- bzw. Lernzielen besteht darin, dass die affektiven Lernziele mehr Beachtung finden

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können, als es bisher in der Lehr- und Lernplanung üblich ist. Ein Grund für die Vernachlässigung affektiver Ziele ist sicherlich in der Schwierigkeit ihrer sprachlichen Formulierung sowie in der problematischen Lernerfolgskontrolle zu sehen. Dennoch lässt sich in der neueren Fachdiskussion ein Umschwung der Aufmerksamkeit beobachten. War früher fast ausschließlich die Ausbildung kognitiver Strukturen (z.B. Intelligenz und Denkvermögen) Gegenstand von Projekten und Forschungsvorhaben (z.B. im programmierten Unterricht), so hat seit einigen Jahren die wissenschaftliche Aufarbeitung der affektiven Dimension immer mehr Beachtung gefunden. Eingetreten ist dieser Umschwung nicht zuletzt wegen der Einsicht, dass allein über die zweckrationale Planung der kognitiven Dimension Lernprozesse kaum effektiver gestaltet werden können. Wenn diesem Gesichtspunkt besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, dann deshalb, weil die Ausstellungspraxis gezeigt hat, dass das Publikum kaum mehr bereit ist, sich auf die ausschließliche Aneignung von Sachwissen einzulassen. Die Realisierung der Präsentationsziele wird deshalb vor allem über die Initiierung von Erlebnis-, Erfahrungs- und Bewusstseinsprozessen erreicht. Die Spezifität des Lernortes DASA besteht u.a. darin, dass es für das Publikum weniger darum geht, sich abstrakte Fakten und Wissen anzueignen, als vorhandenes und zu erwerbendes Wissen mit der Gegenständlichkeit von konkretem Handeln und von eigenen Erfahrungen zu untermauern. Aneignung von Wissen ist vor allem dann nützlich und brauchbar, wenn es als Erfahrungs- und Handlungswissen erworben wird, und zwar in konkreten Lernsituationen, in Interaktionen und mit sozialer Relevanz. Wissenserwerb in einem Lernprozess, der die ganze Person fordert – vor allem auch ihre emotionalen, subjektiven Dimensionen – und der tätige Aneignung (z.B. im Spiel), Faszination, Affekte usw. mit einbezieht, ist wesentlich intensiver und effektvoller. Allerdings ist er auch mit weniger Stoff belastet, da eher ›brauchbare‹ Inhalte angeeignet werden als in sehr regelhaften, ausschließlich kognitiv organisierten Lernprozessen. Präsentationsziele haben – im Gegensatz zu curricularen Lehrplänen – für die Besucher und Besucherinnen fakultativen Charakter. Das Lernergebnis ist ausschließlich in die Kompetenz der Zielgruppe gestellt, d.h. die Erreichung des Präsentationszieles bleibt in das subjektive, individuelle Aneignungsinteresse verwiesen. Da es sich bei der DASA nicht um ein sammlungsbezogenes Museum handelt, sondern um eine Ausstellung, in deren Mittelpunkt die didaktische Auseinandersetzung mit Themen der Arbeitswelt steht, ist durch die Formulierung von Präsentationszielen gewährleistet, dass Absichten oder sogar Leitbilder in der Planungsphase nicht übersehen werden. Präsentationsziele haben also in erster Linie Planungsfunktion:

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• Sie sagen aus, was mit der Ausstellung im Einzelnen bezweckt wird. • Sie ermöglichen eine zielgruppenorientierte Planung. • Sie determinieren die Auswahl der Exponate, der Methoden und der Medien. Mediale Vermittlungsformen Im Folgenden werden die wichtigsten Vermittlungsmethoden erläutert. Dabei wird zwar zwischen medialer und personaler Vermittlung unterschieden, die Entscheidung für die eine oder andere Form oder eine Kombination beider hängt aber von den Gegebenheiten der jeweiligen Ausstellung, vom Thema und von der Zielgruppe ab. Eine detaillierte Darstellung liegt in Form eines erarbeiteten Medienkonzeptes vor. Die mediale Vermittlung umfasst u.a.: Sammlung: Bei der Entscheidung für Themen, Inhalte, Objekte und Präsentationsformen sollen sowohl fachwissenschaftliche Kriterien als auch die unterschiedlichen Bedürfnisse, Erwartungen und Vorkenntnisse des Publikums berücksichtigt werden. Nicht zu unterschätzen ist die Faszination, ja sogar die ›Aura‹ der Maschinen aus der Arbeitswelt. Texte, Überschriften, Gruppentexte, Klappentexte, Objektbeschriftungen: Sie werden im Medienverbund mit AV-Medien konzipiert, d.h., sie sind gegenseitig aufeinander bezogen und ergänzen sich. Da Ausstellungen überwiegend ›visuelle Ereignisse‹ sind, wird der Hauptanteil der Inhalte – jeweils für die unterschiedlichen Zielgruppen – über ein akustisches Führungssystem vermittelt. Grafische Darstellungen und Fotos: Sie machen komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich und werden hauptsächlich in Klappentexten verwandt. Audiovisuelle Medien: Mit ihrer Hilfe lassen sich ausstellungstechnisch nicht darstellbare Zusammenhänge veranschaulichen. Sie können die personale Vermittlung wirkungsvoll ergänzen. Zu unterscheiden sind erstens Medien innerhalb des Medienverbundes in der Ausstellung, zweitens Medien in Informationsinseln, Studienräumen etc. und drittens Medien als Ausstellungsstücke. Digitale Medien verlieren zunehmend an Bedeutung, weil durch Übersättigung die Nachfrage nach nicht-virtueller Wirklichkeit in der Ausstellung steigt. 3-D-Gestaltung: Sie bildet keine realistischen Rekonstruktionen, sondern transportiert Aussagen einer Darstellung durch Raumbildung. Typisch sind analytische Environments, Bühnenbilder und Skulpturen.

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Hands-ons: Sie bieten dem Publikum die Möglichkeit, sich aktiv mit den Museums- und Ausstellungsinhalten zu beschäftigen, z.B. erlebbare Geräte oder Anordnungen zum Anfassen, Betasten, Sehen, Hören, Riechen und Schmecken (beispielsweise Rallyes, interaktive Filme etc.). Der Einsatz dieser Materialien ist am wirkungsvollsten, wenn er mit personaler Betreuung verbunden ist. Kataloge, Kurzführer, Informationsblätter: Sie dienen der Information und weiteren Vertiefung. Je nach Zielgruppe sind sie der Altersgruppe entsprechend gestaltet. Personale Vermittlung Führungen: Diese ›klassische‹ Form der personalen Vermittlung sollte als wechselseitiges Gespräch stattfinden. Lehrdemonstration als Vorführung: Mit ihrer Hilfe können technische, handwerkliche und naturwissenschaftliche Prozesse anschaulich und nachvollziehbar vermittelt werden. Museums-Theater: Lernspiele, stehende Bilder und sonstige Rollenspiele lassen sich auf viele Ausstellungsinhalte beziehen. Durch ganzheitliche körperliche Erfahrung und den Austausch mit anderen sowie mit Schauspielern und Schauspielerinnen ermöglichen sie es dem Publikum, sich in bestimmte Themen, geschichtliche Prozesse, fremde Technik oder Kulturzusammenhänge hineinzuversetzen und diese mit den eigenen Erfahrungen zu vergleichen. Kurse für verschiedene Techniken oder künstlerische Gestaltung: Sie vermitteln handwerkliche, wissenschaftliche oder künstlerisch-gestalterische Techniken und ermöglichen dem Publikum neue Erkenntnisse durch eigene Erfahrung. Projekte und Exkursionen: Über Museumsgespräche, Spielangebote und Kurse hinaus können Projekte und Exkursionen stattfinden, bei denen Personen und Orte außerhalb des Museums (Betriebe, Fabriken) einbezogen werden. Weiterführende Veranstaltungen: Filme, Lesungen, Theateraufführungen und Konzerte können das Bildungsangebot ergänzen und den öffentlichen Diskurs fördern.

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Ausstellungsmethode Ein wesentliches Prinzip der Ausstellungsmethode der DASA besteht in der Hinführung des Publikums auf eine gewünschte Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft für die Aussagen der Ausstellung, die über Raumfolgen entsprechend einer vorgezeichneten Verständniskette zu erreichen ist. Die Raumfolgen sind entlang des gedachten Hauptbesucherweges so angelegt, dass sie innerhalb eines kleineren Bereiches nicht durch Nebenwege zu erreichen sind, oder dass sie auch ein gezieltes Aufsuchen eines Inhalts an einem bestimmten Ort zulassen. Die Raumfolgen sind nach folgendem Prinzip angelegt: Einstimmungsbereich: Im Einstimmungsbereich wird man nicht sofort mit dem Inhalt des Ausstellungsbereiches konfrontiert, sondern sensibilisiert, bestimmte Fragen zu stellen, betroffen zu sein oder seiner Neugier zu folgen. Dies wird in der Regel durch ein Angebot erreicht, das sensitives Erkennen ermöglicht. Vertiefungsbereich: Im Vertiefungsbereich werden die Inhalte des Ausstellungsbesuches in unterschiedlichen Vertiefungsebenen vermittelt. Der Bereich muss der zugeordneten Einstimmung in seiner Hauptaussage (Präsentationsziel) entsprechen. Es ist angestrebt, gleichsam in zwiebelschalenartigem Vordringen in die Inhalte, alle aufgeführten Zielgruppen mit entsprechender Information zu versehen. Studien-/Aktivbereich: Zur Methode der DASA gehören anschließende Räume, deren Raumcharakter als Studien- oder als Aktivbereich zu kennzeichnen ist. Hier werden Spezialprobleme des Vertiefungsbereichs abgehandelt, Forschungsergebnisse und Lösungsmodelle vorgeschlagen und erfahrbar gemacht. Dies wird in der Regel durch vertieftes Eindringen in fachliche Fragestellungen mittels AV-Medien, Simulationen, Studien an Objekten oder durch eigenständiges Experimentieren erreicht. Diese Bereiche erfordern eine höhere Aufenthaltsdauer, sind aber auch für flanierendes Publikum als eine Art ›Black Box‹ zu erkennen. Ruhezonen: Der hohe kognitive Anspruch der Raumfolge erfordert in Bereichen der Übergänge zu weiteren Inhalten Ruhezonen, in denen die Möglichkeit zur Verarbeitung und Entspannung gegeben wird. Die Ruhezonen sollen – auch dies ist eines der wesentlichen Präsentationsziele – auf emotionaler Ebene das Gefühl für Wohlbefinden vermitteln; neben den fachlich konzipierten Lösungsmodellen in den Studienräumen sind hier durchaus auch ›Utopien‹ dargestellt.

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Neben der Methode der Raumfolgen ist das Prinzip der Leitmotive von zentraler Bedeutung. Viele der Themen ziehen sich als Querschnittsfragen durch die meisten Darstellungen (z.B. Stress, Lärm, Klima, Ergonomie etc.). Diese werden in Schwerpunktbereichen einmal abgehandelt und bleiben danach in Leitmotiven wieder erkennbar. Die Leitmotive sollen durchaus rätselhaft erscheinen, solange sie nicht die entsprechende Auflösung gefunden haben. Für einige Zielgruppen sind sie deshalb auch als ›Quiz‹ einsetzbar. Raumbildung und Szenographie »Man kann nicht nicht-gestalten!« – dieser Merksatz kann bei der Gestaltung von Ausstellungen nicht nachdrücklich genug vergegenwärtigt werden. Insofern sind Raumgestaltung und Szenographie nicht ergänzende oder illustrierende Methoden, sondern Voraussetzung für jede Einrichtung einer Ausstellung. In der Szenographie entsprechen Raumbegriff und Raumerfassung der Betrachtung von Skulptur im reellen Raum bei den Kunst- und Architekturwissenschaften. Gerade für Industrie- und Technikmuseen ist nicht selbstverständlich, dass sich der Raum mit der Struktur der Ausstellungsstücke innig verbindet und dass ein multidimensionaler ›reeller‹ Raum entsteht, in dem man sich betrachtend bewegt. Die Raum verdrängende Objektwelt wird bei aller Figürlichkeit zu einem in ihren Umraum eingebetteten Szenario. Die Raumbildung in Museen muss methodisch nach unterschiedlichen Kriterien untersucht werden: Raumcharaktere unterscheiden sich nach ihrem Sozialbezug (Verhaltensraum), nach ihrem Psychologiebezug (Erlebnisraum), aber auch in ihrem Bedeutungsproblem. Menschlicher Lebensraum ist der erlebte Raum. So haben Räume, die beispielsweise durch Tanz, rituelle Handlungen, gemeinsames Essen, Musizieren o.Ä. genutzt werden, schon immer entsprechende Raumcharaktere. Die Theorie von Raumcharakteren in Ausstellungen gilt es noch zu entwickeln. Muster von räumlicher Gliederung, räumlicher Verteilung, von Arten der Kommunikationsdistanz – in unterschiedlichen Kulturen gelten verschiedene Abstände –, Nachbarschaftsverhalten usw. gilt es in die Szenographie ebenso einzubringen wie Ästhetik und Materialkunde. Dadurch nämlich findet eine Wirkung auf das Verhalten und Erleben in Räumen statt, wie sie durch kognitive Erfahrung nicht erfolgt. Die Psychologie kann eine Vielzahl von Experimenten aufweisen, die das Verhalten in Beziehung zu einzelnen, den Raum bestimmenden Faktoren beobachtet. Selbst die Variation von Wandabständen, von Form und Farben ändern den Ausdruckswert bei Versuchspersonen. Eine bloß aus Reizelementen zusammengestellte Effektarchitektur bewirkt ein Ergebnis der verlorenen Räumlichkeit und lässt Bedeutung und Lebensbezug verloren gehen. Wo die Planenden durch Szenographie nur Reize anhäufen, zeigen sie, dass sie für

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solche Zustände nicht empfänglich sind. Gleiches gilt für die Fähigkeit zur Orientierung, die durch ein Zusammenwirken von signifikanten Übergängen und Spannungen geleistet wird. Für Erlebnisräume gelten psychologische Modelle, wie etwa der Sympathie, der Emphatie oder der Identität. Die tiefenpsychologischen räumlichen Grundmuster nennen beispielsweise Höhe, Übergang, Schacht oder Labyrinth. Darüber hinaus gibt es psychische Reaktionsmuster wie Klaustrophobie, Agoraphobie oder Höhenangst, aber auch neue Raumerfahrungen wie Raumdehnungen durch die Schnelllebigkeit unserer Zeit oder Horizontkrümmungen angesichts der durch Mobilität und Flexibilität geprägten Sinne. Gute szenographische Konzepte leiten sich nicht aus dem Ausstellungsdesign ab. Die neuen Seh-Gewohnheiten, Formgebungen oder formalen Strukturen bieten für sich noch keine (ausreichenden) Möglichkeiten für Methoden der Vermittlung. Wirksam können sie erst werden, wenn eine bewusste Raumbildung sie für das Publikum nutzbar gemacht hat. Nicht Raumwirkungen mit entsprechender ›Reiztopographie‹ zu Zwecken der Konditionierung, sondern szenographische Entwürfe, die sich aus der Bedeutung und aus dem Verhalten in öffentlich zugänglichen Ausstellungsräumen herleiten, müssen zum Einsatz kommen. Abbildung 3: Wie ein Gesamtkunstwerk: Soziale Kompetenz wird in einem der vier Elementarräume erlebbar

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Es kann nicht deutlich genug betont werden: Vermittlung findet nicht allein auf dem eindimensionalen Kanal zwischen dem Objekt und dem betrachtendem Subjekt statt, sondern vielschichtig zwischen einem vielseitig mit allen Sinnen wahrnehmenden Menschen und der Gesamtheit einer zufällig oder bewusst angeordneten Umgebung. Selbst technische oder wissenschaftliche Geräte, deren Bedeutung durch eindeutig objektivierbaren Gebrauch gekennzeichnet ist, werden nicht nur in unterschiedlichem Kontext, sondern vor allem in unterschiedlichen Räumen ganz verschieden wahrgenommen. Es ist also nicht nur die Didaktik, sondern eine konzeptionell gute Gestaltung, die den Akt der Vermittlung schafft – insofern kommt der szenographischen Methode eine hohe Bedeutung zu. Hierbei haben sich Innenraumgestaltung und Ausstellungsdesign in den letzten zwei Jahrzehnten stark verändert. Dies hängt u.a. mit der in den Kunstwissenschaften entstandenen Umpolung von der Produzentenästhetik auf die Rezipientenanalyse zusammen. Nicht die Organisation und Funktionalität von visuellen Reizen, sondern die Frage, welche Auffassung und Eindrücke beim Publikum als ›Gegenleistung‹ entstehen, bestimmt die Gestaltung. Die Bedeutung von ästhetischer Raumwirkung schließt allerdings eine erlebnishafte oder sogar unterhaltsame Gestaltung nicht aus. Es ist sogar sehr wichtig, die Nachfrage unserer Erlebnisgesellschaft und damit das Feld des Edutainments und Infotainments nicht den Experten der Unterhaltungsindustrie zu überlassen. Ein Vergleich der historischen Entwicklung von Film und Fotographie weist auf zukünftige Möglichkeiten der gegenwärtigen Unterhaltungsmedien: weg von Jahrmärkten, hin zu neuen Formen der Kunst. Das Vermittlungskonzept der DASA ist in hohem Maße durch Raumbildung und Szenografie geprägt. Insofern versteht es sich auch als leitbildhaft für die Gestaltung von thematischen Ausstellungen.

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Wie viel Zukunft verträgt ein Museum? Das neue »Verkehrszentrum« des Deutschen Museums

Sylvia Hladky Das Deutsche Museum eröffnete im Mai 2003 auf der Theresienhöhe eine neue Zweigstelle, das »Verkehrszentrum«. Die Einrichtung dieser dritten Außenstelle wurde durch die Übernahme von drei denkmalgeschützten Hallen auf dem ehemaligen Messegelände der Stadt München ermöglicht. Diese Hallen waren 1908 Teil des neuen Ausstellungsparks, den die Stadt als festen Standort für Gewerbeausstellungen und Messen vorgesehen hatte. Neben Ausstellungshallen gab es auf diesem Gelände eines der schönsten Jugendstiltheater Deutschlands, ein von Münchner Künstlern gestaltetes Restaurant sowie eine Vielzahl von Skulpturen und Brunnen, die den Park zu einem kulturellen Treffpunkt der Bürger während der Messen machten. Nach dem Umzug der Messe 1999 nach Riem wurden alle Hallen – mit Ausnahme der drei erwähnten – abgerissen und das frei werdende Gelände im Rahmen eines Architekturwettbewerbs in das neue »Quartier Theresienhöhe« umgewandelt. Der neue Stadtteil mit hochwertigen Büro- und Wohngebäuden grenzt an ein Stadtviertel mit hohem Arbeiter- und Ausländeranteil und wird von den dort ansässigen Bewohnern mit Skepsis betrachtet. Das »Verkehrszentrum« möchte sich – in Anlehnung an die kulturelle Bedeutung des Ortes – zum kulturellen Mittelpunkt des neuen Quartiers entwickeln und als Treffpunkt für alte und neue Bewohner eine Mittlerfunktion übernehmen. Die Sanierung der Hallen Die drei Messehallen umfassen eine Ausstellungsfläche von etwa 12.000 Quadratmetern und wurden in den letzten 90 Jahren intensiv genutzt. Dies hatte zur Folge, dass sich die Bausubstanz bei der Übernahme als wesentlich schlechter als zunächst vermutet erwies. Die unter großem Zeitaufwand durchgeführten Untersuchungen zeigten schließlich, dass die Hallen nicht mehr verkehrssicher waren. Der gleichzeitig vorgelegte Maßnahmenkatalog zur Sanierung wies Kosten von ca. 50 Mio. Euro aus. In diesen Kosten sind etwa 43,5 Mio. Euro für Baumaßnahmen und etwa 6,5 Mio. Euro für die Ausstellungen enthalten. In Zeiten ständig sinkender Haushaltsbudgets grenzt es an ein Wunder, dass sich die Stadt München und der Freistaat Bayern bereit erklärt haben, die Kosten hierfür zu übernehmen. Zwei der drei Hallen sind Eisenkonstruktionen mit Mauerwerksausfachungen, die dritte wurde vom Architekten Wilhelm Bertsch als Eisenbetonkonstruktion geplant. Sie war 1908 ein »Forschungsbauwerk« und gilt als Europas größte freitragende Eisenbeton-Halle der damaligen Zeit. Die Sanie-

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rung entwickelte sich teilweise selbst zum Forschungsprojekt, da es wenig Erfahrung bei der denkmalgerechten Sanierung solcher Bauwerke gibt. Die Statikprobleme führten zu sich ständig verändernden Rahmenbedingungen bei der Ausstellungsplanung und letztlich zu dem Umstand, dass im Mai 2003 mit Halle III zunächst nur ein Viertel der geplanten Ausstellungsfläche und der letzte Teil des Konzeptes eröffnet werden konnte. Dies führt manchmal zu Irritationen der Besucher, da das Konzept auf drei inhaltlichen Schwerpunkten basiert, die sich in ihrer räumlichen Abfolge ergänzen. Im Moment findet der Besucher nur den »Schlusspunkt« der Ausstellung, ohne die Einführung zu kennen. Hinzu kommt, dass die Ausstellungsdramaturgie unterschiedliche Exponat- und Inhaltsdichten vorsieht. So betritt der Besucher ab 2006 das Museum über die 6.000 m2 große Halle I. Eine Vielzahl von Großexponaten wie Straßenbahnen, U- und S-Bahnen oder Busse präsentieren das Thema »Stadtverkehr«. Die Größe der Halle und ihre Gliederung über »Thementürme« vermitteln trotz der Exponatfülle eine »Überschaubarkeit« des Themas. In Halle II verdichten sich Themen und Exponate in kleinräumigeren Strukturen. Der Besucher kann sich hier in kulturhistorische Details des Themas »Reisens« vertiefen. Betritt der Besucher danach Halle III über die Galerieebene, gleitet sein Blick wieder über eine Ausstellungsarchitektur, deren Weiträumigkeit durch den kuppelförmigen Mittelteil der Halle noch verstärkt wird. Derzeit bemängelt ein Teil der Besucher – ohne Kenntnis des Gesamtkonzeptes – die ihrer Meinung nach zu geringe Dichte der Exponate in Halle III. Das Konzept des »Verkehrszentrums« Die meisten Verkehrsmuseen sind Verkehrsmittel-Museen, d.h. sie präsentieren üblicherweise Verkehrsmittel, nach Gattungen sortiert und chronologisch aufgereiht. Im »Verkehrszentrum« wird hingegen die Meinung vertreten, dass Verkehr und Mobilität in unserer Gesellschaft eine so wesentliche Rolle spielen, dass eine Ausstellung dies auch in möglichst vielen Facetten widerspiegeln sollte. Verkehr wird hier als System und Netzwerk sowie als Zusammenwirken von unterschiedlichsten Verkehrsmitteln auf regionaler und globaler Ebene betrachtet. Obwohl der Schwerpunkt der Dauerausstellungen auf der historischen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts liegt, sollten sich die Themen des Museums von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft erstrecken. Ein Museum kann als Ort der Vergangenheit den Einfluss von Rahmenbedingungen auf Entwicklungen aufzeigen, Parallelen ziehen und damit den Blick für die Gegenwart schärfen. Es ist somit eine ideale Plattform für die Diskussion aktueller Fragen. »Zukunft« steht daher im Konzept des »Verkehrszentrums« für die Präsentation von Lösungsansätzen für bekannte bzw.

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Sylvia Hladky ➔ Das neue »Verkehrszentrum« des Deutschen Museums

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vorauszusehende Probleme oder die Diskussion von neuen Verkehrskonzepten – z.B. im Rahmen von Veranstaltungsreihen. Mit dieser Gewichtung des Faktors »Zukunft« wird auch dem Ergebnis einer Besucherbefragung Rechnung getragen, die zwischen 1998 und 1999 von Prof. Joachim Klein von der Universität Karlsruhe durchgeführt wurde und eindeutige Präferenzen aufzeigte. (»Go west« – Die Besucher des Deutschen Museums und ihre Meinungen über das neue Verkehrsmuseum, Karlsruhe 2000). Auf Platz 1 des Interesses stand das Thema »Verkehrssicherheit«, gleich gefolgt von »zukünftigen Verkehrsentwicklungen« sowie »Verkehr und Umwelt«. Damit wird offensichtlich, dass Museumsbesucher in Technikmuseen neben geschichtlichen Entwicklungen auch Informationen über aktuelle Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten erwarten. Nach längerer Diskussion wurde das Ausstellungskonzept auf die drei Themenschwerpunkte »Stadtverkehr« – stellvertretend für Verkehr in Ballungsräumen –, »Reisen« – stellvertretend für die Überwindung größerer Strecken und deren kulturgeschichtlichen Aspekte – sowie »Mobilität und Technik« festgelegt. Letzterer beschäftigt sich mit den technischen Voraussetzungen, um den Wunsch nach einer schnellen und bequemen Art der Fortbewegung zu erfüllen. Jeder der drei Hallen wurde deshalb eines dieser Themen zugeordnet, jeweils untergliedert in so genannte »Themeninseln«. Umsetzung Die Kontextualisierung von Themen in Ausstellungen ist ein schwieriges Unterfangen. Große Ausstellungsprojekte der letzten Jahre versuchten dieses Problem u.a. mit szenografischen Elementen zu lösen – mit mehr oder weniger Erfolg. Im »Verkehrszentrum« wird dies über das – manchmal ungewöhnliche – Arrangement von Exponaten in Kombination mit architektonischen Elementen, abstrakten Inszenierungen, Medien und Grafikträgern versucht, wobei die Wahl der Mittel natürlich stark vom Thema abhängt. Halle I: Stadtverkehr Zentrum der Halle I ist eine Platzinszenierung mit unterschiedlichsten Fahrzeugen und einer Verkehrsinsel. Darum herum gruppieren sich Themen wie »Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs«, »Pendler«, »Die Wechselwirkung zwischen Stadtplanung und Verkehrsplanung«, »Infrastruktur«, »Regelwerke im Verkehr«, »Umwelt« oder »Sicherheit und Rettung«. Straßenbahnen, Busse, die erste Münchner U-Bahn, eine Berliner S-Bahn aus den 1920er Jahren sowie die erste Münchner S-Bahn aus den 1970er Jahren, Fahrräder und natürlich eine Vielzahl von Automobilen vermitteln ein Bild der steigenden Mobilität des letzten Jahrhunderts. Der Bereich »Infrastruktur« dominiert als Kubus mit einer Seitenhöhe von zehn Metern die Ar-

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chitektur der 6000 Quadratmeter großen Halle. In seinem Inneren kreuzen sich Röhren, Ver- und Entsorgungskanäle, Leitungen etc. Hier werden historische und geplante unterirdische Güterverkehrssysteme gegenübergestellt. Wie hat sich das Bild von Städten durch Verkehrsplanung verändert? Wie stark beeinflusst Stadtplanung den täglichen Verkehrsfluss? Diesen und ähnlichen Fragen wird an den Beispielen München, Berlin und Mexico City nachgegangen. Halle II: Reisen Reisen ist nicht nur die Bewegung vom Abfahrtsort zum Zielort, sondern enthält viele emotionale Elemente wie Sehnsucht, Trauer oder Freude. Das »Verkehrszentrum« betrachtet die Reiselust zu Fuß anhand von Pilgerreisen, verfolgt den Transport von Gütern auf berühmten Handelsstraßen und kommt schließlich zu den regelmäßigen Kutschentransporten, der »Post«. Die Zeitachse führt dann weiter zur Reise mit der Eisenbahn, die eigene Fahrwege und die Schnittstelle »Bahnhof« benötigt und es mit sich bringt, dass Zeit innerhalb bestimmter Regionen synchronisiert werden muss. Die Innenarchitektur dieser Halle wird durch zwei Gleisstränge mit einem dazwischen liegenden Bahnsteig beherrscht. Am Ende des Bahnsteigs stehen sich ein »Rhätisches Krokodil« und die »Pilatusbahn« gegenüber, Beispiele für »Luxusreisen« und die touristische Erschließung von Bergregionen. Die Geschichte der Automotorisierung umschließt U-förmig die Gleise und vertieft Aspekte wie »Massenmotorisierung«, »Das Haus auf Rädern«, einer besonderen Form des Reisens, oder »Infrastruktur« – an dieser Stelle als Geschichte des Straßen- und Tankstellennetzes an einzelnen Beispielen. Gerade an der Entwicklung des Tankstellennetzes lassen sich die aktuellen Probleme der Einführung von Wasserstoff als neuem Energieträger bzw. Kraftstoff aufzeigen. Am Beispiel des »Rhätischen Krokodils« wird die herausgehobene Rolle der Exponate bei der Kontextualisierung deutlich: Die Elektrolokomotive ist einerseits ein frühes Beispiel für die Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken, mit ihrem dreigeteilten Aufbau steht sie aber auch für ein ungewöhnliches Konstruktionsprinzip und letztendlich für das Thema »Luxusreisen«, denn als Verlängerung des »Orient-Expresses« transportierte die berühmte Lok Reisende aus Großbritannien und den Niederlanden in die mondänen Wintersportorte der Schweiz. Über Hörstationen im Innern des Salonwagens erfährt der Besucher Wissenswertes über die Schwierigkeiten beim Bau von Gleisen in Bergregionen, die Probleme bei der Finanzierung der Bahnlinie und berühmte Reisende.

2005-08-15 15-18-15 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S. 201-207) T04_11 kap 11 hladky.p 92107230806

Sylvia Hladky ➔ Das neue »Verkehrszentrum« des Deutschen Museums

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Halle III Mobilität und Technik Die im Mai 2003 eröffnete Halle III beginnt mit der »Lust an der Bewegung« und den technischen Bewegungshilfen, die der Mensch im Laufe der Geschichte erfunden hat, um sich schneller und bequemer zu bewegen. Die nächste Station könnte man mit der Überschrift »Lust an der Geschwindigkeit« betiteln, sie handelt vom Rennsport auf zwei und vier Rädern. Auf einer abstrahierten Rennkurve stehen Hochräder neben dem Benz vis-á-vis, der erste Rennwagen mit Kompressormotor von Mercedes neben der stromlinienförmigen Weltrekord-Maschine »Delphin« und dem Fahrzeug des Formel 1-Weltmeisters von 1999, Mika Häkkinnen. In einem Durchgang unter der Kurve wird die andere Seite des Rennsports thematisiert: der Kommerz, der Medienrummel, die Fans sowie negative Begleiterscheinungen der Rennveranstaltungen – beispielsweise die Berge von Müll, die Fans im umliegenden Gelände hinterlassen. Der Bereich »Forscher und Erfinder« geht der Frage nach, welche Rahmenbedingungen notwendig sind, um eine Erfindung zu einem Markterfolg zu machen. Es ist sicher legitim, das Automobil von Carl Benz als Basisinnovation im Verkehrssektor zu betrachten. Trotzdem benötigte das Auto noch viele Jahre, um sich als Verkehrsmittel zu etablieren. Am Beispiel der »Puffing Billy« aus dem Jahr 1814, der ersten funktionsfähigen Dampflokomotive, wird deutlich, dass in vielen Fällen erst die Zusammenarbeit von Geldgebern, Ingenieuren und Praktikern die systematische Untersuchung von Problemen erlaubt, die dann in anwendbare Erfindungen münden. Dieser Bereich präsentiert und begleitet auch aktuelle Entwicklungen. Die Probleme des Transrapids, d.h. seine Abhängigkeit vom Bau eines eigenen Fahrweges, werden den gleichartigen Problemen der Wasserstoff-Technologie gegenübergestellt. Eine ähnliche Vorgehensweise gilt auch für den Bereich »Fahrzeug und Funktion«, in dem zunächst die physikalischen Grundlagen der Funktionseinheiten eines Automobils erklärt werden. Darauf aufbauend kann die technische Umsetzung und Weiterentwicklung an der Gegenüberstellung von historischen Exponaten mit aktuellen Technologien verfolgt werden. Der Weg zur Galerie und Sonderausstellungsfläche führt über drei stufenförmig angelegte Terrassen, die sich dem Thema »Grenzen der Mobilität« widmen. Die erste Terrasse bietet als Diskussionsbasis viele Zahlen und Fakten zum Transport von Personen und Gütern, sowie die dafür verbrauchten Ressourcen und freigesetzten Schadstoffe. Die nächste Stufe zeigt technische Lösungsansätze zur Verminderung der Auswirkungen des Verkehrs, z.B. alternative Kraftstoffe, Systemwechsel wie den Brennstoffzellenantrieb oder »end of pipe«-Lösungen wie den Katalysator. Das Ziel ist, die Besucher für ihr eigenes Mobilitätsverhalten zu sensibilisieren. Um den ›moralischen Zeigefinger‹ zu vermeiden, laden auf der dritten Terrasse Karikaturen zum Schmunzeln ein – und über allem schwebt der

2005-08-15 15-18-15 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S. 201-207) T04_11 kap 11 hladky.p 92107230806

Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) 206 Industrie- und Technikmuseen im Wandel

»Survival-Helikopter« – ein Kunstwerk als Inbegriff der grenzenlosen Mobilität. Sonderausstellungen und Veranstaltungen Derzeit gibt es in Halle III drei Flächen, die temporär bespielt werden können: Zum einen gibt es die »Zukunftslabors« mit variabel gestaltbaren Ausstellungseinheiten, die Universitäten, Forschungseinrichtungen oder Firmen zur Verfügung gestellt werden, um dort neueste Entwicklungen zu präsentieren. Damit daraus keine Messestände werden, liefern die Partner die Informationen, Bilder und Exponate und das Museum übernimmt die Umsetzung in Ausstellungseinheiten. Damit daraus keine Messestände werden, liefern die Partner die Informationen, Bilder und Exponate und das Museum übernimmt die Umsetzung in Ausstellungseinheiten. Das bisher gezeigte Themenspektrum umfasst neben Systemen, die die Sicherheit von Nutzfahrzeugen erhöhen, auch aktuelle Verkehrsprojekte wie den Umbau des 5-geschossigen Verkehrsbauwerkes »Stachus-Untergeschoß« in München oder den Ausbau der Infrastruktur zur Verkehrsanbindung des neuen Fußballstadions in Fröttmaning. BMW unterstützt das »Verkehrszentrum« als Gründungsmitglied. Neben einer finanziellen Unterstützung bedeutet dies auch eine fachliche Beteiligung in Form einer Sonderausstellung über Wasserstoff-Technologie. Auf ca. 400 Quadratmetern Ausstellungsfläche führt der Weg von der Gewinnung des Wasserstoffs mit erneuerbaren Energien über die Speicherung und Verteilung hin zum anschließenden Einsatz im Individualverkehr. Eine weitere, eigens für Sonderausstellungen konzipierte Fläche, wird derzeit genutzt, um vorab Themen aufzugreifen, die erst ab 2006 Teil der Dauerausstellung sein werden. So entstand in Zusammenarbeit mit dem »Deutschen Verkehrssicherheitsrat« eine Sonderausstellung über das Verkehrsverhalten von Jugendlichen, danach folgte das Thema »Rikshas – die Ökotaxis Asiens« und eine Ausstellung zum 100-jährigen Bestehen des ADAC. Da der größte Teil der Fahrzeugsammlung aufgrund der Bauverzögerungen in den Depots des Deutschen Museums ruht, wurde die Ausstellungsreihe »Blick hinter die Kulissen« entwickelt. In regelmäßigen Abständen präsentiert das Verkehrszentrum Fahrzeuge aus dem Depot in kleinen Sonderausstellungen. Die Ausstellungsstücke werden in Halterungen ausgestellt, die speziell für Depots entwickelten wurden. Diese ungewöhnliche »Ausstellungsgestaltung« dient als Exponatschutz und informiert außerdem über die sachgerechte Aufbewahrung von historischen Fahrzeugen. Nach der Eröffnung der noch ausstehenden Hallen bietet diese Fläche die Möglichkeit, einzelne Aspekte der Ausstellungen zu vertiefen oder spezielle Themen, beispielsweise »Pilgerreisen« aufzugreifen.

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Sylvia Hladky ➔ Das neue »Verkehrszentrum« des Deutschen Museums

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Das »Forum«, ein Veranstaltungsbereich mit etwa 100 Sitzplätzen, ergänzt die Ausstellungen. Ausgestattet mit modernster Medientechnik bildet es einen attraktiven Rahmen für Vorträge, Podiumsdiskussionen und Präsentationen. Das Verkehrszentrum hat sich seit der Eröffnung zu einem »Ort des Dialogs« über aktuelle Verkehrfragen entwickelt. Nahezu jeden Donnerstagabend stehen Vorträge, Podiumsdiskussionen oder Präsentationen auf dem Programm. Kooperationen mit dem Lehrstuhl für Verkehrstechnik der Technischen Universität München, dem ADAC und anderen verkehrsrelevanten Organisationen ermöglichen ein abwechslungsreiches Angebot für interessierte Besucher. Fazit Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass mit dem Konzept des Verkehrszentrum die unterschiedlichsten Zielgruppen erreicht werden: Technikbegeisterte finden mit der Laufmaschine von Karl Drais, dem Benz Patentwagen oder der Rekonstruktion der ersten funktionsfähigen Lokomotive Basisinnovationen des Verkehrs, Rennsportfreunde freuen sich über Fahrzeuglegenden wie den Auto Union Typ C von 1936 oder den Mercedes SLR 300 von 1955 und kulturhistorisch Interessierte erfahren Wissenswertes über die Nutzungsgeschichte des Fahrrads. Der Wunsch nach aktueller Information wird über die Themen der Zukunftslabors und die Vortragsreihen erfüllt. Das Kinderprogramm mit Konstruktionswettbewerben im »Kinderbereich«, speziellen Kinderführungen und der Möglichkeit mit unterschiedlichsten Fahrzeugen die »Lust an der Bewegung« selbst auszuprobieren, hat das Verkehrszentrum auch zu einem »Familienmuseum« gemacht. Mit der Eröffnung der beiden nächsten Hallen kommt das Verkehrszentrum seinem Anspruch, »Verkehr in seiner Komplexität« darzustellen, einen Schritt näher, wenngleich viele Ideen aufgrund der begrenzten finanziellen Möglichkeiten derzeit noch nicht umgesetzt werden können.

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➔ Industrieregionen und ihre touristische Erschließung

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) vakat 210.p 92107230998

Günter Bayerl ➔ Die Niederlausitz und die »Musealisierung der Industriekultur«



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Vom Regenwald in die Wüste. Die Niederlausitz und die »Musealisierung der Industriekultur«

Günter Bayerl Die Transformation Es ist noch keine 20 Jahre her, da konnte der Besucher der Niederlausitz Eindrücke sammeln, wie sie Rolf Peter Sieferle beschrieben hat: »Eine Reise in die DDR ähnelte immer einer Reise in die Vergangenheit und erweckte die ambivalenten Gefühle, die man der Vergangenheit entgegenbringt. Man schwankte zwischen Rührung und Entsetzen. Auf der einen Seite gab es noch immer Reminiszenzen der Kindheit, die anheimelnden Reste der agrarischen Kulturlandschaft, die verträumten Dörfer, die alleenbestandenen, mit Kopfsteinen gepflasterten holprigen Straßen, die ungebrochenen Ensembles der Kleinstädte, die den Mief und die Aura des 19. Jahrhunderts bewahrt hatten. Auf der anderen Seite gab es aber auch noch die Schrecken der alten Industriebezirke, die vom Tagebau verwüsteten Mondlandschaften, die zur Kloake verseuchten Flüsse, Fabrikanlagen inmitten von Rauchwolken, wie man sie im Westen nur noch aus historischen Schilderungen kannte. […] Der Zerfall, die maroden Häuser, die gewaltigen Schrottlagern ähnelnden alten Fabriken, ihre Grauheit und Düsternis sowie der allgegenwärtige Chemie- und Kohlegestank – dies waren keine genuinen Errungenschaften des Sozialismus, sondern es handelte sich um das Erbe eines früheren Industrialisierungsstadiums, das in der DDR künstlich konserviert worden war« (Sieferle 1997: 55f.).

Diese Niederlausitz ist heute verschwunden und die Region zeigt sich jetzt eher ambivalent: industrielle Inseln, verstreut in einer oft noch ursprünglich anmutenden, durch Wald und Landwirtschaft geprägten Landschaft, dazwischen die riesigen Flächen des Bergbaus und Rekultivierungsbergbaus. Freilich sind auch die ›Stigmata‹ der Nachwendezeit in die Landschaft eingebrannt: nutzlos erschlossene Gewerbegebiete und die Bausünden ausufernder »Siedlungsdörfer«. Um diese Ambivalenz zu erklären, ist hier eine mehrfache Transformation der Niederlausitz darzustellen: Nach einem Blick auf die infolge von politischer Wende und Vereinigung entstandene derzeitige Situation sind in einer kurzen historischen Rückblende zunächst die Industrialisierung als Transformation der ländlichen Gesellschaft, dann der Rekultivierungsbergbau als »Re-Transformation« des Kohlereviers in eine ›vorindustrielle Landschaft‹ zu beschreiben. Der zweite Teil des Beitrages fragt dann nach der Rolle der Industriekultur innerhalb und jenseits dieses transitorischen Geschehens. Mit der Wende und Vereinigung brach das tradierte Industriesystem der

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

DDR zusammen. Eine nahezu schlagartige Deindustrialisierung war die Folge der Übertragung bundesdeutscher Institutionen auf die neuen Bundesländer sowie des »Öffnungsschocks« (vgl. Hüther 1993): »Die erste Übertragung der Institutionen auf den Osten, bekannt als ›Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion‹ (1. Juli 1990) […] hatte zugleich Folgen, die nachhaltig die Entwicklung Ostdeutschlands und der gesamten Bundesrepublik beeinflussen. Das Paket der Liberalisierungsmaßnahmen, die Aufwertung der DDR-Währung um rund 300 Prozent bei Umstellung der Löhne und Gehälter im Verhältnis 1 : 1 sowie der sofort ausgelöste Prozeß der Lohnangleichung, vor allem die abrupte Öffnung der Wirtschaft für den Weltmarkt bei Wegbrechen der traditionellen Ost-Märkte (RGW) zogen 1990 einen ›Öffnungsschock‹ (Hüther 1993) nach sich. Dieser führte – auf dem Hintergrund der Basiskrise der DDR-Wirtschaft – zu einer Depression, zu einer plötzlichen Entwertung der vorhandenen Produktionskapazitäten, zu Deindustrialisierungsprozessen und dem Anstieg von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung auf ein Niveau (rund 40 Prozent), wie es in der Wirtschaftsgeschichte der Industriestaaten beispiellos sein dürfte« (Reißig 2004: 5).

So findet sich in den ›neuen Bundesländern‹ eine postindustrielle Gesellschaft besonderer Prägung, eine »postsozialistische Transformationsgesellschaft«, die sich allerdings durch den Anschluss an die alte Bundesrepublik von den anderen Transformationsgesellschaften Osteuropas unterscheidet: »Die DDR-Transformation vollzog sich unter den einzigartigen Bedingungen einer Inkorporation in einem ›Fertig-Staat‹ (›ready-made-state‹). Damit etablierte sich ein spezifisches Transformationsmuster für Ostdeutschland« (ebd.: 3).

Dieses Transformationsmuster im einzelnen zu beschreiben, würde hier zu weit führen. Interessant und m. E. von grundlegender Bedeutung ist die weitgehend übereinstimmende Auffassung in der Transformationsforschung, dass Ostdeutschland einen spezifischen und anderen Weg in die Postindustrie geht als die alte Bundesrepublik und dass es auf diesem Weg in mancher Beziehung weiter sei. Sicherlich trifft dieses für verschiedene Aspekte der Deindustrialisierung zu, so dass das Thema der »Musealisierung von Industriekultur« bzw. der Funktion von Industriekultur in postindustriellen Landschaften einen etwas anderen Akzent erhält als auf dem Territorium der alten Bundesrepublik. Deindustrialisierung bedeutet nun nicht, dass die gesamte Industrie der ›neuen Bundesländer‹ geschliffen wäre, es zeichnen sich durchaus – v.a. städtisch geprägte – Regionen mit einer Verdichtung moderner industrieller Kerne aus, so Berlin und sein Umland, Dresden, Leipzig. Problematisch ist vielmehr, dass die finanziellen Transfers zum weitaus größten Teil der sozia-

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Günter Bayerl ➔ Die Niederlausitz und die »Musealisierung der Industriekultur«

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len Abfederung des Strukturwandels dienen, nicht aber hinreichend Investitionen zugute kommen, die einen selbsttragenden Aufschwung initiieren könnten: »Generell ist der Industriebesatz in Ostdeutschland […] viel zu gering, um einen selbsttragenden Aufschwung zu erzeugen. Lag der ostdeutsche Industriebesatz 1989 noch 50 Prozent über dem westdeutschen Niveau, so war er 1995 bereits um mehr als 50 Prozent unter dieses Niveau abgesunken, obwohl sich der Industriebesatz in dieser Zeit auch in den alten Ländern um 20 Prozent verringerte« (Woderich 2004: 3).

In Brandenburg zählen zu den wenigen industriellen Kernen der traditionelle Chemiestandort Schwarzheide am südlichen Rande der Niederlausitz sowie die verbliebenen Tagebaue mit den modernisierten Kraftwerken. Vom Regenwald in die Wüste: Erlebniswelten als industrie-kulturelles Erbe? Einerseits lässt sich die industrielle Produktion in und auf noch arbeitenden Kraftwerken und Abraumförderbrücken oder am Rande weiter Tagebaue in der Niederlausitz beobachten, andererseits kann sie bereits als museales Erbe besucht, bestaunt oder bedauert werden. Doch auch ›vom Regenwald‹ ›in die Wüste‹ führt das ›industrielle Erbe‹ der Niederlausitz: Bereits vor seinem Aufstieg legte der Cargo-Lifter eine Bruchlandung hin. Das ambitionierte Vorhaben, riesige Last-Zeppeline zu bauen, scheiterte. Meiner persönlichen Meinung nach war dies weniger der technischen Idee, der Technologie geschuldet, als der desaströsen ökonomischen und politischen Organisation dieses Landes. Dass neue Technologien zu ihrer Erarbeitung längerer Zeiträume bedürfen, auch mehrfachen Nachschubes an Kapital, ist aus der Industrialisierungsgeschichte bekannt. Dass ein Bankensystem, das mehr auf spekulative Gewinne als auf längerfristige Risikokalkulation setzt, für einen technologischen Wandel ungeeignet ist, zeigt eben diese Geschichte. Wie dem auch sei: Von dem Hoffnungsprojekt blieb die größte freitragende Halle der Welt (vgl. Jacobs et al. 2000: 125ff.). Sie beherbergt jetzt »Tropical Island« – die Produktionshalle wurde zur Erlebniswelt: Ein riesiger Badestrand mit tropischer Erlebnisgastronomie wird von einem Hügel mit Regenwald gekrönt. Südlich von Berlin, bei Lübben im Norden der Niederlausitz liegt dieses tropische Regenwaldparadies (vgl. Lausitzer Rundschau 2003, 2004). Man muss nicht allzu weit fahren, bis man im Süden der Niederlausitz den Tagebau Welzow erreicht. Der ist zwar noch aktiv, aber an seiner Zukunft wird bereits geplant. Die »Internationale Bauausstellung Fürst-PücklerLand« (IBA) sieht den Erhalt einer Tagebaugrube vor, wobei sich Welzow anbietet, da es relativ hoch gelegen ist und damit nicht im Grundwasser ersäuft.

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

Der Tagebau soll dem künftigen Besucher als Wüste vor Augen geführt werden. Inmitten der beeindruckenden Wüstenlandschaft, die der Tagebau hinterlässt, ist eine Oase mit Übernachtungs- und Erholungsmöglichkeiten geplant. Ob Kamele eingesetzt werden sollen, ist umstritten (vgl. das Magazin der IBA, see, sowie www.iba-see.de). Abbildung 1: Die Cargo-Lifter-Halle in Brand nach ihrer Umnutzung als Tropical Island

Falls diese beiden Projekte in absehbarer Zeit Realität werden, ist vermutlich die weltweit kürzeste Verbindung zwischen Regenwald und Wüste hergestellt. Die Niederlausitz ist reif für das Guinness-Buch der Rekorde! Beide Projekte scheinen recht skurril, sind für eine ›Spaßgesellschaft‹ jedoch relativ selbstverständlich – vermutlich! Dennoch sind sie von ganz unterschiedlicher Qualität, was den Umgang mit dem industriellen Erbe betrifft. Das »Tropical Island« hat grundsätzlich mit industriellem Erbe nichts zu tun. Vielmehr entspricht es dem, was Gerhard Lenz über die Beliebigkeit von Kulturlandschaftsverwertung nach der Industrie in seinem Buch über »Verlusterfahrung Landschaft« ausgesprochen hat: Beliebigkeit der Landschaftsnutzung, Freizeitgestaltung ohne Rücksicht auf den Landschaftscharakter etc. (vgl. Lenz 1999: 182ff.). Trifft das Verdikt in diesem Falle wirklich vollständig zu? Nicht ganz, denke ich, denn trotz aller Unangemessenheit eines Regenwaldes mit Badelandschaft in der Niederlausitz erhält dieses Freizeitvergnügen die größte freitragende Halle der Welt als Monument des leider gescheiterten Versuches, eine alternative Technologie zum Erfolg zu führen. Falls trotz häufigen Scheiterns der Innovation produktiver Technologien in

2005-08-15 15-18-19 --- Projekt: T268.kum.john.industriemuseen / Dokument: FAX ID 022192107228822|(S. 211-234) T05_12 kap 12 bayerl.p 92107231022

Günter Bayerl ➔ Die Niederlausitz und die »Musealisierung der Industriekultur«

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dieser Gesellschaft sich künftig dennoch zahlungskräftige Besucher des Tropical Island einstellen, könnte man ihnen ja best-layoutete Prospekte in die Hand drücken, in denen die Halle ihres Tropenparadieses in deren ursprünglich produktiver Bedeutung erläutert wird – sie mögen dann unter der künstlichen Sonne des Regenwaldes davon träumen, wie wundersam die Genese neuer Arbeitsplätze durch innovative Technologien sein könnte! Außer der Halle ist also am »Tropical Island« nichts landschaftsverbunden, nichts typisch für die Niederlausitz. Ist die Halle typisch für die Niederlausitz? Typisch für die Niederlausitz sind sicher die großen Dimensionen, der Verbrauch von Landschaft für die Industrie. Die angedachte Wüste im Tagebau Welzow – ist sie authentisch? Authentischer kann wohl kaum etwas für die Niederlausitz sein! Die ›Wüste‹ ist ein typisches Ergebnis der industriellen Nutzung der Niederlausitz durch den Braunkohlentagebau. Von der »IBA Fürst-Pückler-Land« wird keine Erschaffung oder Konstruktion einer Wüste geplant, sondern allein die Erhaltung des Zustandes dieser Landschaft nach ihrer Nutzung. Natürlich ist eine ›Rekultivierung‹ der Tagebaulandschaft grundsätzlich wünschenswert. Will man aber auch das industrielle Erbe der Niederlausitz bewahren, so sollte in dieser Landschaft – deren industriegeschichtliche Bedeutung vorrangig aus dem Tagebau resultiert – auch für künftige Generationen ein Tagebau nachvollziehbar sein. Insofern bedeutet das Konzept als »Wüste« eine ›Musealisierung‹ eines Tagebaues, die noch vor wenigen Jahren – auch wegen angeblich technischer Schwierigkeiten – vehement abgelehnt wurde. Es gab eine erbitterte Diskussion über »das Loch«, dessen Erhalt nicht wünschenswert sei. Dagegen ist die »Wüste« bereits ein erheblicher Fortschritt in der Selbstfindung dieser Industriekulturlandschaft. Man kann künftigen Generationen nicht die schwere Arbeit im Tagebau schildern, den Abriss von fast hundert Dörfern erklären, die Abraumförderbrücke »F 60« bei Lichterfeld als Besucherbergwerk vorführen, wenn diese Generationen dann nur noch eine nicht mehr erkennbar durch den Tagebau geschädigte Seenlandschaft vor Augen haben. Das industrielle Erbe – wie immer Industrie dann unter dem Umweltgesichtspunkt beurteilt werden wird – erfordert auch, die unmittelbaren Konsequenzen nicht nur für die arbeitende Klasse und ihre Sozialverhältnisse, für die Lebens- und Hygieneverhältnisse, für das Wohnen und die Städte, sondern auch für die Landschaft darzustellen – und vor allem in einem typischen Beispiel zu bewahren. Freilich wird bei einem Erfolg des IBA-Konzeptes auch ›die Wüste‹ nicht die Realität des Tagebaues widerspiegeln, aber sie zeigt den Eingriff des Menschen in die Landschaft. ›Die Wüste‹ in Welzow ist echt in jeder Beziehung, während »Tropical Island« die ›architektonische Haut‹ der Cargo-Lifter-Halle, die für sich durchaus ein Monument der Industriekultur darstellt, für ein Disneyland nutzt.

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

Darf in dieser Wüste eine Oase sein – ist dies typisch für die Niederlausitz? Nichts ist typischer für die Niederlausitz als eine Oase in der Wüste! Der berühmte Fürst Pückler, nach dem sich die Internationale Bauausstellung benannt hat, war sich sehr wohl bewusst, dass er seinerzeit mit seinen Landschaftsgärten Oasen in die Wüste der armen Landschaft Niederlausitz baute. Konnte der Park in Bad Muskau noch in einer anmutigen Tallandschaft angelegt werden, so war sein Alterswerk, der Park Branitz bei Cottbus, nach seinem eigenen Bekunden in eine ärmliche, agrarische Wüste gesetzt. Insofern entspricht es der Geschichte und der Idee der Kulturlandschaft Niederlausitz, dass in eine ärmliche und ausgebeutete Landschaft – sei es durch karge Agrarwirtschaft oder sei es durch die Braunkohle – Oasen gesetzt werden – sei es durch Fürst Pückler oder die Internationale Bauausstellung. Wir haben mit ›der Wüste‹ als Nachfolgeinszenierung des Tagebaues Welzow also nicht nur die Bewahrung eines industriellen Erbes vorliegen, sondern sogar ein weiter zurückgreifendes historisches Momentum der Landschaft bewahrt: Nicht zuletzt ist die ›Oase in der Wüste‹ auch ein Kennzeichen der Niederlausitzer Landschaft selbst: Die Landschaft insgesamt galt als karg und ärmlich, da zumeist mit minderwertigen Sandböden versehen. Aber es gab durchaus fruchtbare Teilbezirke in dieser Landschaft – so den Spreewald und das ›Alte Land‹ –, das unfruchtbare Land war also schon historisch durchsetzt von ›Oasen‹. Die Erlebniskultur der Spaßgesellschaft beschränkt sich nicht nur auf das industrielle Erbe, sondern vereinnahmt zunehmend auch die laufende Produktion. Eine der neuesten Devisen lautet: »vom Standort zur Destination«. Die Schöpfer der »Industrieerlebniswelten« sind eigentlich Gegenspieler der Leute, die sich um die Bewahrung des industriellen Erbes bemühen. Sie schlagen nämlich vor, die industrielle Produktion zur »Erlebniswelt« zu gestalten, um damit das Produkt besser zu verkaufen und für die Produktionsfirma zu werben. Die Bewahrer des industriellen Erbes hingegen wollen bei künftigen Generationen – auch mit Hilfe von »Erlebniswelten« – das Interesse an Produkten und Produktionsmethoden erwecken, die für die Gegenwart keinerlei Bedeutung mehr haben. Wenn aus laufenden Produktionen »Erlebniswelten« gemacht werden, dann stellt sich eine alte Frage neu: Ob Museen und Industrieensembles mit durchaus ökonomischem Ertragsinteresse produzieren und ihre Produkte verkaufen dürfen. Um die Relevanz dieser neuen Auffassungen für die Pflege des industriellen Erbes zu beleuchten, sei hier der Klappentext eines einschlägigen Buches wiedergegeben: »Industrieunternehmen erkennen zunehmend, dass im Bereich der (industriellen) Zusatzdienstleistungen große Geschäftschancen stecken und eigenständige, erfolgs-

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Günter Bayerl ➔ Die Niederlausitz und die »Musealisierung der Industriekultur«

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wirksame Geschäftsfelder entstehen. Diese Entwicklung führt bereits dahin, dass nicht wenige Hersteller inzwischen mehr Geld mit ihren Dienstleistungen als mit ihren Produkten verdienen. Eine weitere Entwicklung führt diese Unternehmen an die Schwelle zur Erlebnisökonomie: Perfekt inszenierte Erlebnisse, rund um die eigentlichen Produkte und Dienstleistungen, bei denen der Kunde zum Gast wird und der industrielle Standort zur (touristischen) Destination, ermöglichen mehr denn je neben Nutzeneffekten aus dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen vor allem den eigenständigen Verkauf dieser Erlebnisse. Die Herausforderung des Managements besteht nun darin, die Inszenierung von Erlebnissen derart zu gestalten, dass sie alleine bereits den Konsum derselben rechtfertigen und darüber hinaus die Kunden zu Botschaftern der Unternehmung machen« (Hinterhuber et al. 2001).1

Dies entspricht nicht zufällig auch Ansprüchen und Forderungen, die an einen professionellen Industrietourismus gestellt werden (vgl. Ebert 2004; Wilhelm 2004). Und die in diesem Buch geschilderten Beispiele betreffen oftmals Vermarktungsstrategien aus der Welt der Industriekultur, so die »Glasi Hergiswil«, die »Loden-Erlebniswelt Vintl« (»From sheep to shop«), die Autostadt in Wolfsburg etc. Nun existiert in der Niederlausitz als Projekt, das derartigen Forderungen entspricht, bereits das »Besucherbergwerk Abraumförderbrücke F 60« in Lichterfeld bei Finsterwalde, ein Gigant der Technik, über 500 m lang, 80 m hoch und 11.000 Tonnen schwer.2 Die F 60 wird gerne als »Leuchturm« der Region und »Flaggschiff« der IBA beschrieben. Abbildung 2: Abraumförderbrücke F60 bei Lichterfeld

Allein die Dimensionen des »größten beweglichen Werkzeuges der Welt« haben Erlebnischarakter, die Besteigung der Brücke bietet einen der weitesten Rundumblicke in der Niederlausitz, die »vom Werkzeug ausgehobene Grube« liegt nebenan, mutiert allerdings zum für Wassersport vorgesehenen Restlochsee. Allein mit dieser Nutzung verwandelte sich das »industrielle Artefakt Abraumförderbrücke F 60« in ein »industriekulturelles Monument«, eine »postindustrielle IndustrieErlebnisWelt« (vgl. Krajewski 2004; Boshold 2004). Durch die Verfremdung der Förderbrücke als Licht-Klang-Kunstwerk,

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ihre Nutzung als Kulisse für Openair-Veranstaltungen etc. wird diese Mutation bestätigt. Träger des Betriebes ist der »Förderverein Besucherbergwerk F 60 e.V.«, der seit 2003 die Zertifizierung zur Stufe I des Qualitäts-Gütesiegels für den Brandenburgischen Tourismus errungen hat. In der ersten Saison des im Mai 2002 eröffneten Bergwerks kamen über 60.000 Besucher zur Brücke. Laut Besucherumfrage des Vereins im Jahre 2003 waren 84 Prozent der Besucher mit dem »Erlebnisgehalt« der Brücke sehr zufrieden, 15,5 Prozent zufrieden und nur 0,3 Prozent unzufrieden (vgl. Boshold 2004; www.f60.de). Es bleibt zu hoffen, dass sich die Brücke ›langfristig rechnet‹ – derzeit halten die Besucherstöme noch an –, denn dies war – neben ihrer Bedeutung als ›Zeichen‹ und Identifikationsobjekt der Niederlausitz – eines der Hauptargumente zu ihrem Erhalt. Denn auch eines der wesentlichsten Argumente für ihre Sprengung, Zerlegung und Verschrottung war ökonomischer Natur: Mit der Verschrottung würden 30 bis 40 Arbeitslose zwei Jahre lang beschäftigt und vom Erlös des Schrottes hätten die Löhne bezahlt werden können. Aber dies ist keine rein ökonomistische Diskussion: Hier steht vielmehr das alte Weltbild der klassischen Industriegesellschaft in seiner simpelsten Form – Arbeitsplätze sind zu schaffen, egal was produziert oder gearbeitet wird – gegen Auffassungen einer sinnvollen Umnutzung industrieller Gegebenheiten angesichts einer unübersehbaren Transformation der Gesellschaft in postindustrielle Strukturen. Die Abraumförderbrücke sollte nicht einfach verschrottet werden, weil sie angesichts des Rückgangs des Braunkohleabbaues ihre Pflicht getan hatte, sie war zu erhalten als Zeichen einer Neubestimmung der niederlausitzer Industrielandschaft. In diesem Sinne wird sie vom Publikum auch angenommen. Von Tagebau und missglückter Luftwerft bleiben der Niederlausitz eine Halle mit Regenwald und Badeparadies, eine Wüste mit Oase und ein Besucherbergwerk. Auffällig ist, dass für die geschilderten »Industrieerlebniswelten« mehr oder weniger die »Internationale Bauausstellung Fürst-PücklerLand« als Mentor auftaucht. Ist diese IBA der ›Pate‹ der postindustriellen Kulturlandschaft Niederlausitz? Wie weit geht ihr Einfluss, wie weit trägt sie zum neuen Selbstverständnis dieser Landschaft bei? Um diese Fragen zu beantworten, ist ein kurzer Rückblick auf die Industriegeschichte der Niederlausitz notwendig. Zwei Transformationen sind hierbei zu nennen: Zum Ersten der Wandel der Agrar- zur Industrielandschaft, zum Zweiten deren ›Rückverwandlung‹ durch die nach der Wende forcierte Rekultivierung. Industrialisierung in einer peripheren Region: Das Niederlausitzer Kohlerevier Verglichen mit der Industrialisierung Deutschlands insgesamt und des Ruhrgebiets speziell, verlief die Industrialisierung des Kohlereviers Nieder-

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lausitz – als Teil des mittel- und ostdeutschen Braunkohlereviers, das sich über mehrere Bundesländer erstreckt – recht langsam und zudem – was die Quantitäten der Bevölkerung und Industriebeschäftigten betrifft – in relativ bescheidenen Bahnen. Abbildung 3: Die Niederlausitz und ihre heutige Lage in Deutschland und Polen

Auch das Anwachsen der Revierstädte (Senftenberg, Cottbus usf.) hielt sich in Grenzen, erst zu DDR-Zeiten kam es zu nennenswertem Wachstum. Der Braunkohleabbau ging in die Fläche, und so sind eher Industriedörfer kennzeichnend für das Niederlausitzer Revier; ferner trug der Industriebezirk bis in die jüngste Zeit »ländliches Gepräge«: Industrielle Inseln waren in die nach wie vor zu fast vier Fünfteln land- und forstwirtschaftlich genutzte Landschaft eingewachsen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden lokal Braunkohlevorkommen abgebaut, oftmals im Rahmen der herkömmlichen Gutswirtschaft, und für ländliches Gewerbe (Brauereien, Brennereien, Ziegeleien) oder für die beiden regionalen Industriezweige Glas und Textil als Brennstoff genutzt (vgl. Bayerl 2004; Bayerl/Maier 2002). Vorausetzung für die überregionale Nachfrage nach Braunkohle war ihre Transportfähigkeit: Da ihr Heizwert gering ist, lohnte sich der Transport über größere Strecken erst, als nach Erfindung der Brikettpresse 1856 die Rohbraunkohle ›versandfertig‹ aufbereitet werden konnte. So wuchs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Abbau an, insbesondere nachdem u.a. Berli-

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ner Kapital in den Niederlausitzer Bergbau floss. Vom ursprünglichen Pfeilerbruchbau wurde auf den Tagebau übergegangen. Die beiden großen Firmen der Region – die »Ilse Bergbau AG« und die »Eintracht Braunkohlenwerke und Brikettfabriken AG« – kauften in einer ›Jagd nach Braunkohlenfeldern‹ große Gelände auf. Die Berggebiete wurden damit ihr Eigentum und gingen nach der Verstaatlichung 1945 in Staatsbesitz über. Heute sind die Rekultivierungstagebaue Eigentum der bundeseigenen »Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbauverwaltungsgesellschaft« (LMBV). Mit der Verstromung der Braunkohle begann sich ein eigentliches Industrierevier in der Niederlausitz herauszubilden. Noch während des Ersten Weltkrieges wurden große stromfressende Betriebe (wie z.B. das Aluminiumwerk »Lauta«) hier angesiedelt und der Bau der Kraftwerke, die ihren Strom nach Berlin schickten und in das Verbundnetz einspeisten, nahm seinen Anfang. In der Zeit zwischen den Weltkriegen breitete sich der großflächige Tagebau aus, nicht zuletzt infolge der Modernisierung der Bergbautechnologie – v.a. des Einsatzes von Abraumförderbrücken. Die erste wurde 1924 bei Plessa errichtet und ermöglichte, den Abraum über die eigentliche Kohlegrube hinweg direkt auf die Kippe zu befördern. Diese Technik war angesichts der Form der hiesigen Kohlelagerstätten für die Lausitz besonders geeignet. Die Großtechnologien und damit die enorme Ausweitung des Landverbrauches für die Kohleförderung führten ab 1924 zu den ersten Abbrüchen von Dörfern (vgl. Förster 1995). Im Rahmen der Rüstungspolitik des nationalsozialistischen Regimes wurde die Lausitz angesichts ihrer Lage ›tief im Reich‹ für die Kriegsproduktion bedeutsam, Betriebe wie das Kohlesynthesewerk »Schwarzheide« wurden gegründet. Der eigentliche Ausbau des Reviers setzte zu DDR-Zeiten bei diesen übernommenen Industriestrukturen an und schrieb sie durch neue Kraftwerke (Lübbenau, Vetschau) und Betriebe wie das ab Mitte 1955 aus dem Boden gestampfte »Gaskombinat Schwarze Pumpe« fort. 1957 wurde der Bezirk Cottbus zum »Kohle- und Energiezentrum« der DDR erklärt und in den folgenden Jahrzehnten die gesamte Landschaft unter das monostrukturelle Diktat des Kohle- und Energiekomplexes gestellt (vgl. Kotsch 2001). Am Ende der DDR-Zeit gehörte die Niederlausitz zu einer der wüstesten Landschaften Mitteleuropas – die Beseitigung der Umweltschäden stellt sich auch heute noch als fortdauernde Zukunftsaufgabe. Bergbaufolgelandschaft: Vom Restloch zur postindustriellen Kunstlandschaft Die Förderung der ostdeutschen Reviere wurde nach der Vereinigung erheblich heruntergefahren: Betrug die Braunkohlenförderung in Ostdeutschland im Jahr 1989 noch 301 Mio. Tonnen, waren es im Jahr 2000 nur noch 67 Mio.; betrug 1989 die Anzahl der Tagebaue 39 und die der Veredlungsanlagen (z.B.

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Brikettfabriken) 94, waren es 2000 nur noch 8 und 6; betrug 1989 die Anzahl der Beschäftigten 138.000, waren es 2000 nur noch 11.000 (Karge 2001: 139). Der Begriff »De-Industrialisierung« gewinnt bei derartigen Zahlen wahrlich an Anschaulichkeit, wobei allein der Abbau an Arbeitskräften im Bergbau zeigt, welch gewaltiges Unterfangen es ist, nur annähernd eine entsprechende Anzahl neuer Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Der im Vergleich zu den Arbeitskräftezahlen weitaus geringere Rückgang der jährlichen Fördermengen zeigt zudem, wie wenig produktiv der Tagebau zu DDR-Zeiten im Vergleich zu heute war, veranschaulicht also die gewaltige Wegstrecke, die zwischenzeitlich bei der ökonomisch-technologischen Modernisierung zurückgelegt wurde. Gleiches gilt für die Rekultivierung der devastierten Landschaften. Welch enorme Größenordnungen zu bewältigen waren, zeigen die folgenden Tabellen. Tabelle 1: Anteil des Bezirkes Cottbus am DDR-Aufkommen 1952

1988

Rohkohleförderung

27 %

60 %

Brikettproduktion

28 %

52 %

Braunkohlenkoks

k.A.

100 %

Elektroenergie

8%

57 %

Stadtgasproduktion

k.A.

83 %

Lausitzer Revier

Mitteldeutsches Revier

Tabelle 2: Sanierungsumfang in den Bereichen Tagebaue und Veredlungsanlagen

Stillgelegte Tagebaue, Tagebau-Restlöcher

Anzahl

127

62

Setzungsfließgefährdete Böschungen

km

130

48

Setzungsfließgefährdete Kippenflächen

ha

2.600

497

Massenbewegungen

Mio. m3

505

100

Deponien/ Altlastenverdachtsfläche

Anzahl

300

750

Stillgelegte Veredlungsanlagen

Anzahl

24

76

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Abbildung 4: Ehemals und derzeit genutzte Tagebauflächen im Lausitzer Revier

Derzeit entstehen neue Teillandschaften. Die Niederlausitz als – von den Urstromtälern abgesehen – ehemals wasserarme Landschaft wird infolge der Flutung der Tagebaurestlöcher eine Seenlandschaft. Allerdings haben die riesigen Wasserentnahmen über Jahrzehnte hinweg gerade die Wasserwirtschaft zu einem besonderen Sorgenkind der planerischen Bewältigung der Zukunft gemacht (vgl. Grünewald 2003). »Der Braunkohlenabbau in der Lausitz wurde während der Achtzigerjahre bis auf 200 Mio. Tonnen jährlich gesteigert. Er bedingte umfangreiche Grundwasserabsenkungen, weil die Flöze hauptsächlich unterhalb des Grundwasserspiegels lagen. Das Sümpfungswasser aus den Tagebauen gelangte in die Wasserläufe. Bei den höchsten Abbauraten der Braunkohle stieg seine Menge auf insgesamt 33 m3/s und rund eine Milliarde Kubikmeter jährlich. Über zwei Dezennien lag die Grundwasserförderung weit über der natürlichen Grundwasserneubildung aus Niederschlägen und versickernden Oberflächenwässern. Dadurch breiteten sich die Absenkungsbereiche immer weiter

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aus, im Spreegebiet auf über 200 km2. Der vom Grundwasser freigepumpte Raum erreichte etwa 10 Milliarden Kubikmeter« (Kalweit 1998: 222).

Tabelle 3: Bergbaubedingte Eingriffe in den Wasserhaushalt durch Tagebausümpfung Lausitzer Revier

Mitteldeutsches Revier

Schwarze Elster/Spree

Weiße Elster, Pleiße, Mulde

1. Von der Grundwasserabsenkung betroffene Flächen

2100 km2

1100 km2

2. Verluste an statischen Grundwasservorräten

9 Mrd. m3

5,6 Mrd. m3

3. Wasserbedarf zum Auffüllen von Tagebaurestlöchern

4 Mrd. m3

2,5 Mrd. m3

4. Wasserbedarf insgesamt

13 Mrd. m3

8,1 Mrd. m3

3

0,5 Mrd. m3

Wesentlich betroffene Flusseinzugsgebiete

5. Höchste Wasserförderung/a

1,2 Mrd. m

Nach der Vereinigung wurden die meisten Lausitzer Tagebaue stillgelegt, so dass zunehmend das abgepumpte Grundwasser fehlte und sich der Wasserstand der Spree bedenklich senkte. Darum muss die Regulierung, die bereits vor Jahrzehnten mit dem Bau der Talsperren Spremberg, Bautzen und Quitzdorf in Angriff genommen wurde, auf hohem Niveau weitergeführt werden: Mittlerweile sind Verhandlungen mit Polen so weit gediehen, dass Wasser aus dem Grenzfluss Neiße in die Schwarze Elster und die sächsischen Speicherbecken eingeleitet werden kann. Hier ist das »Speichersystem Lohsa II« im Entstehen, das aus den drei Tagebaurestlöchern »Lohsa II«, »Dreiweibern« und »Burghammer« (südlich von Spremberg bei Hoyerswerda gelegen) besteht und das größte Wasserbauvorhaben in den neuen Bundesländern darstellt. Ziel ist, rund 63 Millionen Kubikmeter Brauchwasser zu speichern (vgl. Landesumweltamt Brandenburg o.J.; Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH o.J.; Koch 2001; Ziegenhardt/Trogisch 1996). Dieses Speichersystem soll den Wasserhaushalt der Spree regulieren. Die Grundwassertrichter allerdings sind nicht das einzige Problem. Der erwünschte Grundwasseranstieg hat für zahlreiche Lausitzer unangenehme Folgen: In Lübbenau, Guben, Hoyerswerda und andernorts werden Keller überflutet, da man bei Bauplanungen zu DDR-Zeiten nicht das Ende des Tagebaus bedacht hatte. In den Restlöchern hingegen entstehen saure Seen,

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) 224 Industrie- und Technikmuseen im Wandel

die saniert werden müssen, insbesondere da die Region auf eine künftige »Lausitzer Seenplatte« als touristische Attraktion hofft. So ist das Speichersystem Lohsa II ganz konkret eine bedeutsame Regelungszentrale sowohl für die Lausitz wie für die Wasserwirtschaft Berlins, andererseits aber auch ein Symbol dessen, was in dieser Region mit der Bergbaufolgelandschaft entsteht: Eine neue, künstliche Landschaft, nicht mehr naturgeschaffen, sondern anthropogen. Die menschlichen Eingriffe in das natürliche Dargebot weiten sich aus zur künstlichen Regulierung der natürlichen Dargebote. Die Gestaltung der Landschaft auch durch die IBA »Fürst-Pückler-Land« assistiert dem ›technischen Konstrukt Bergbaufolgelandschaft‹. So entstehen neue, gewissermaßen technisch konstruierte Landschaften (vgl. Bergbausanierung 2003; Bayerl/Maier 2002; Friesen/Führ 2001). Eine »technisch regulierte Landschaft« stellt auch das Ruhrgebiet dar, selbst nach einer Sanierung des Emscher-Systems: »Das wissen die wenigsten Bewohner. Im Emscher-Tal würde ohne Pumpen das Wasser über ihnen zusammenschlagen. Daher entstanden eine Fülle von Pump-Werken – das älteste 1914: ›Alte Emscher‹ in Duisburg-Beeck. […] 1956 entwässern 59 PumpWerke ein Gebiet von rund 16.000 ha, 1993 sind es 96 mit rund 800 Pumpen für 330 qkm – zentral von der Betriebs-Zentrale in Bottrop überwacht« (Günter 2000: 438).

Unter der Überschrift »Nach uns die Sintflut. Seit fast 50 Jahren wird in Deutschland der unwirtschaftliche Steinkohlenbergbau zu Lasten der Steuerzahler betrieben. Eine verhängnisvolle Allianz von Politik, Gewerkschaften und Unternehmensbossen vernichtet Milliarden – und bringt Tausende Menschen in Gefahr« hat jüngst der »Spiegel« zum einen das Problem der Bergsenkungen, zum anderen das der Wasserhaltung infolge des Tiefbaus beschrieben (Der Spiegel 2003, 2004). Langfristige Nachsorge und »Regulierung des natürlichen Dargebotes« als Folge industrieller Nutzung der Bodenschätze sind also sowohl in der Niederlausitz wie auch im Ruhrgebiet ein Erbe der Wohlstandsjahre – auch dies ist ein ›industrielles Erbe‹. Günter Ropohl sprach hier bereits vor 20 Jahren von einer »Technisierung der Natur«: »Was bei der Rekonstruktion begrenzter Biotope dem praktischen Ökologen bereits heute gelingt, mag sich in Zukunft zu einer umfassenden Ökosystemtechnik ausweiten und auf die durchgängige Technisierung der Natur hinauslaufen. Jedenfalls wird eine ökologisch begründete weltweite Material-, Energie-, Ernährungs-, Landschafts-, Klima- und Bevölkerungsplanung die Erde nur dadurch bewohnbar erhalten können, dass sie die Natur allseitig domestiziert. […] Wenn sich Hege und Pflege auf ökologischer Grundlage weltweit ausbreiten, läuft das gewissermaßen auf das Ende der Natur hinaus. Dies mag überspitzt klingen; aber die gebotene ökologische Einbettung der

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Technik wird notwendigerweise mit einer fortschreitenden Technisierung der Natur einhergehen« (Ropohl 1985: 132f.).

Die großen technischen Systeme, die bereits heute die Alltagswirklichkeit bestimmen, werden sich ausbreiten und sich selbst regulierende Netze Bestandteile nicht nur der städtischen Infrastruktur, sondern auch der Landschaft sein. Die gegenwärtige Transformationsperiode stellt uns vor die Aufgabe, naturvernutzende Systeme zurückzudrängen und nachhaltige Kreislaufsysteme zu etablieren. Deren Notwendigkeit sollte v.a. beim derzeit vielfach anstehenden Um- und Rückbau nicht nur industrieller Altlasten, sondern auch überdimensionierter Infrastrukturen berücksichtigt werden. Die zentrale Bedeutung dieser Um- und Rückbauprojekte für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft scheint noch nicht ins politische und öffentliche Bewusstsein gedrungen zu sein. Dabei sind sie Teil der gewaltigen industriellen Transformation, die das Signum dieser Jahrzehnte ist. Erst die Kenntnisnahme und Beachtung dieses Vorganges eröffnet uns auch eine zukunftsfähige ökonomische – aber nicht allein ökonomische – Perspektive auf eine nachhaltige, vermutlich ökoindustrielle Entwicklung. Es scheint, dass angesichts der oben angesprochenen Besonderheiten der ostdeutschen Transformationsgesellschaft die Niederlausitz vor wichtigen Entscheidungen bezüglich eines möglichen Entwicklungspfades zur post- oder ökoindustriellen Landschaft bzw. Region steht. Welche Rolle aber spielt in einer derartigen Landschaft eine »musealisierte Industriekultur«? Die Kulturlandschaft Niederlausitz heute Industriekultur als historische Schicht der Kulturlandschaft Die Niederlausitz blieb nach der Diktion von Rolf Peter Sieferle eine »segmentierte Industrielandschaft«, war also geprägt »von einem Dualismus zwischen hochkonzentrierten Industrierevieren auf der einen und weiterhin agrarischkleinstädtisch geprägten Gebieten auf der anderen Seite« (Sieferle 1997: 51). Im Hinblick auf die Umweltbelastungen musste sie allerdings bereits zur »totalen Industrielandschaft« gezählt werden, in der sich die – negative – Umweltqualität von Stadt und Land nicht mehr unterscheidet. Eine »totale Industrielandschaft« im Sinne Sieferles blieb die Niederlausitz – trotz Deindustrialisierung – auch nach dem Zusammenbruch der DDR insofern, als nun Umweltschutz und Kontrolle der Landschaft stattfanden: »Zur totalen Industrielandschaft gehört nämlich nicht nur die Ubiquität der Umweltbelastungen, es gehört dazu auch der Umweltschutz. Umweltschutz im Industrierevier bedeutet aber nicht Bewahrung überkommener Zustände, sondern Schaffung neuartiger, noch niemals in dieser Form existierender Verhältnisse. Eine Produktionszone mit

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) 226 Industrie- und Technikmuseen im Wandel reiner Luft, inmitten von Parks, durchzogen von Wasserläufen, in denen Fische und Enten schwimmen, umtost zwar vom Lärm, der jedoch von den privaten Automobilen, nicht von den Fabriken ausgeht – dies ist etwas fundamental Neues. Die totale Industrielandschaft ist eine vollständig mobilisierte, nivellierte, kontrollierte und konstruierte Landschaft. Das Element der Konstruktion wird gerade in den Bereichen des Landschafts- und Naturschutzes besonders deutlich« (ebd.: 53f.).

Gegenüber diesem ja eigentlich stabilen Gesichtspunkt der Konstruktion sieht Sieferle dann doch die gegenwärtige Situation »inmitten einer fundamentalen Transformation« – gerade was die Aspekte der Totalisierung der Landschaft in Ostdeutschland betrifft. Die Ambivalenz der Nachwende-Entwicklung ist unübersehbar: »Die eine Seite ist die Auflösung der Verschmutzungsinseln durch De-Industrialisierung und Sanierung. Die veralteten Fabriken werden stillgelegt; man geht an die ReKultivierung verwüsteter Trümmerlandschaften; der industrielle Restbestand muß sich den scharfen Umweltstandards der alten Bundesrepublik anpassen. Die Kehrseite dieses Prozesses aber ist die rapide Vernichtung der überkommenen Reste der Kulturlandschaft, die von den Individuen selbst vollzogen wird. Hier kann man beobachten, wie eine Verschandelungsorgie durch das Land geht: Die Alleen werden gefällt; die Häuser werden mit Baumarktplunder verschönert; die Innenstädte werden marktgerecht herausgeputzt; die verschlafenen ländlichen Räume werden touristisch erschlossen; die Lärmglocke der Automobile legt sich flächendeckend über den Raum« (ebd.: 58).

Hier mag Sieferle tendenziell Recht haben – aber eben nur tendenziell. Die Chance des Umsteuerns besteht noch, bedarf aber eines entsprechenden Bewusstseins. Wenn deutlich wird, dass das wachstumsfetischistische traditionelle Industriesystem, auch wenn es vielfach noch äußerst lebendig ist, der Vergangenheit angehört, dann werden Fehlentwicklungen allein um des Funktionierens des Systems willen nicht mehr endlos ertragen werden. Insofern ist die »Musealisierung der Industriekultur« ein wichtiger Beitrag zum allgemeinen Bewusstseinswandel über die Notwendigkeit des Umsteuerns in die nachhaltige post- oder ökoindustrielle Gesellschaft. Gegenüber der Historisierung der Industriekultur gibt es aber immer noch erhebliche Vorbehalte. Industriekultur kämpft noch um ihre Anerkennung als ›historisches Erbe‹. Vielleicht entsteht die Schamhaftigkeit, mit der die Industrie behandelt wird, ja auch aus der Hoffnung, der ›Dreck der letzten zwei Jahrhunderte‹ sei demnächst überwunden: Die Nutznießer der Naturverwüstung in den Industriestaaten verdrängen konsequent, dass ihr Wohlstand auf dieser Naturvernutzung und Umweltbelastung beruht (vgl. Bayerl/Troitzsch 1998; Gilhaus 1995).

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Wenn aber »Nachhaltigkeit« als Kernpunkt einer post- oder ökoindustriellen Gesellschaft propagiert wird, dann muss auch ›Nicht-Nachhaltigkeit‹ als Grundprinzip der traditionellen Industriegesellschaft dargestellt, ja auch als kulturelles Erbe behandelt werden! Das Erbe des industriellen Systems darf nicht reduziert werden auf die Gebäude berühmter Industriearchitekten, auf wegweisende und einmalige Maschinen und technische Innovationen, auf Fabrikwelten, Arbeitersiedlungen und Gartenstädte. Sicher, dies sind Höhepunkte und kulturelle Leistungen des Industriesystems! Aber dieses System hat auch die »Industriekulturlandschaft« geschaffen – und in dieser war Natur vorrangig Ausbeutungsobjekt. Abbildung 5: Von der IBA Fürst-Pückler-Land organisierte Wanderung durch die Tagebaulandschaft

Um die Ambivalenz der Industriekultur zu veranschaulichen, müsste eine Kulturlandschaft, die den Wandel von der vorindustriellen Agrikulturlandschaft zur zerstörerischen Industriekulturlandschaft und wieder zurück zur nachhaltigen postindustriellen (besser: ökoindustriellen) Landschaft widerspiegelt, unter Schutz gestellt werden. Sie wäre ein Mahnmal der Ausbeutungskultur und gleichzeitig der Möglichkeit regionaler Nachhaltigkeit. Hierzu eignet sich die Niederlausitz angesichts ihrer Geschichte, aber auch ihrer derzeit speziellen Situation als Landschaft von offensichtlich transitorischem Charakter besonders (Bayerl 2002). Es ist die besondere Situation dieser Landschaft, die sie trotz ihrer zentraleuropäischen Lage zu einer peripheren Region macht. In ihr überlagern

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sich slawische und deutsche Siedlungsräume und die politischen Zugehörigkeiten variierten bis in die jüngste Zeit. Von der natürlichen Grundausstattung eher ein karges Wald- und Niederungsgebiet, erwirtschaftete die agrarische Nutzung einige Inseln der Fruchtbarkeit. Der bescheidene gewerbliche und industrielle Aufschwung der Textilproduktion, der Glasmacherei und weniger sonstiger Branchen wurde durch die seit dem Ersten Weltkrieg boomende Kohle- und Energiewirtschaft überlagert. Der größte Teil der Region blieb dennoch agrarisch geprägt. Man kann also in der überschaubaren Landschaft der Niederlausitz diverse Stadien der agrarischen, industriellen und postindustriellen Landschaft betrachten – wenn mit diesen historischen Schichten adäquat umgegangen wird. Dies würde die Ambivalenz zwischen vorindustrieller, industriell-ausbeuterischer und postindustriell-nachhaltiger Kultur dokumentieren. Damit ist die Niederlausitz nicht nur der politisch interessante Fall einer zwar nur 100 Kilometer von der Hauptstadt, aber zugleich am Rande Deutschlands liegenden Landschaft, sondern auch eine idealtypisch transitorische Landschaft schlechthin. Sie dokumentiert das Erbe der agrarischen und industriellen Landschaft und mutiert dabei in sichtbaren Entwicklungsschüben zur postindustriellen Kunstlandschaft. Es liegt eine eigenartige Spannung zwischen diesen gleichzeitigen, historisch unterschiedlichen Landschaftszuständen, die in Verbindung mit ihrer politisch zentral-randständigen Lage eine schutzwürdige Eigenart der Niederlausitz darstellt. Dabei scheint die enge Verbindung von Natur und Industrie weitaus mehr als Alleinstellungsmerkmal zu fungieren als die bloße gewaltige Dimension der Bergbaufolgelandschaft. Die hieraus resultierende »Industrienatur« scheint spezifisch, merkwürdig und zukunftsfähig zu sein. Die »Internationale Bauausstellung Fürst-Pückler-Land« und die Neudefinition der Landschaft Die dritte Schicht historischer Kulturlandschaften – die postindustrielle – ist in der Niederlausitz bereits zu sehen: Im Hinblick auf die Neukonstruktion von Landschaft gehört die Niederlausitz sicher zu den bedeutendsten Experimenten in Europa. Der Leiter der »Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land«, Prof. Kuhn, spricht von »der größten Landschaftsbaustelle Europas« oder, im Hinblick auf die aus den Tagebaurestlöchern entstehende Lausitzer Seenplatte, vom »größten Wasserbauvorhaben Europas«. Die IBA »Fürst-Pückler-Land« und viele andere arbeiten daran, dass bei dieser Neukonstruktion großer Landschaftsteile der Niederlausitz nicht nur die Bergbaunarben verschleiert werden, sondern eine qualitativ neue und für die Zukunft offene Landschaft entsteht. Dass hierbei der Schutz verschiede-

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ner Kulturlandschaftsschichten für die Selbstfindung der Region von Bedeutung ist, dürfte offensichtlich sein, denn die Zukunftsfähigkeit und Entwicklungspotenz basieren auf dem Selbstbewusstsein und der Unverwechselbarkeit einer Region oder Landschaft. Dabei muss dieses Selbst-Bewusstsein angesichts der Zerrüttung der herkömmlichen Verhältnisse erst wieder geschaffen werden – durch Neudefinition des Raumes, der Landschaft. Nach Susanne Hauser ist für die Konstitution der postindustriellen Landschaft die »Technologie des Blicks« grundlegend: »Wenn von ›Landschaft‹ die Rede ist, dann meint das eine ›Technologie des Blicks‹, die Integrationsfähigkeit eines Konzepts, das jedes beliebige Stück Land in die Sichtbarkeit holen kann, und die ästhetische Vermittlung von menschlichen Zwecken und ihren Gegenständen. Der Landschaftsbegriff zeichnet keine Urteile vor, liefert aber eine Struktur und einen Ausgangspunkt. […] Eine große Rolle spielten bei diesem [gemeint ist die Internationale Bauausstellung Emscher Park; GB] und ähnlichen Projekten symbolische und ästhetisierende Verfahren, die einen Teil der technisch und ökonomisch nicht zu bewältigenden Hinterlassenschaften der Industrie zum Gegenstand eigener Prozesse machen. Diese Verfahren verlangen – verglichen mit Abriss und Neubau – weit geringere Material-, dafür aber umso mehr ›Kopfbewegungen‹ infolge einer neuen Sinngebung. Dieser Umstand hat sich in der Planung für alte Industrieregionen als äußerst hilfreich erwiesen« (Hauser 2003: 39).

Die »Technologie des Blicks« als Charakterisierung des Inwertsetzungsvorganges einer Landschaft ist recht treffend beschrieben – ein solch neuer Blick ist selbstverständlich Konstitutivum einer »postindustriellen Kulturlandschaft Niederlausitz«, der diese epochal vom Kohle- und Energiebezirk Cottbus unterscheidet! Eine Musealisierung des Agrar- wie des industriellen Sektors ginge als wesentlicher Bestandteil, als unverwechselbare Landschaftsgeschichte in die Neu-Definition ein: »Das verbindet sich mit dem Anspruch einer Gesamterfassung und -erhaltung einer Region, ihrer Kultur in allen Aspekten und ihrer Natur. Ziel der aufwändigen Sammlungs- und Präsentationsunternehmung ist der Erhalt von Identität und die Aneignung des kulturellen Erbes durch die Bewohner, doch nicht für eine Flucht in die Vergangenheit, sondern für die Entwicklung einer Kraft, die aus der materiell erhaltenen und fortlebenden alten Kultur eine Zukunft gestalten soll, unter anderem in der Entwicklung einer Tourismusindustrie« (ebd.: 40).3

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Der Zweck dieser Vorgehensweise ist offensichtlich: »Insofern machen Entwürfe für postindustrielle Landschaften einen ästhetischen Ansatz wirtschaftlichen und sozialen Zwecken dienstbar. […] Eine alte Industrieregion als Landschaft zu entwickeln bzw. sie als Kulturlandschaft weiterzuentwickeln, heisst in diesem Rahmen zuerst, ihre Eigenart sichtbar zu machen und sie als verbreitbares Bild zu erzeugen. Denn das ist ein verfügbares Vermögen, der vorhandene Reichtum, aus dem sich unmittelbar Wege in die Zukunft erschließen können. Ein solches Vorhaben hat vor allen Dingen dann Aussicht auf Erfolg, wenn es in der Region auf breite Zustimmung stößt. Denn Gebiete, die ihre Industrie verloren haben, neue Ziele suchen und als Landschaften in die öffentliche Sicht gerückt werden sollen, sind in der Umbruchssituation erst neu zu erfinden« (Hauser 2003: 41).

Diese »Neuerfindung« stößt in der Niederlausitz noch auf große Vorbehalte, ein Teil der Bevölkerung trauert mit der verlorenen Arbeit immer noch dem Kohle- und Energiebezirk nach. Innovative Ansätze in Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft werden durch das traditionelle Milieu blockiert. In Studien über das Ruhrgebiet ist dies bereits vielfach empirisch beschrieben worden (vgl. Kreibich et al. 1994; Goch 2002). Der IBA ist es jedoch gelungen, gerade auch im Bergbaumilieu für den innovativen Umgang mit der ›zu bauenden‹ Bergbaufolgelandschaft um Verständnis zu werben. Mit ihren Projekten und Workshops zieht sie externen Fachverstand sowie internationale Experten in die Region und schafft den Anschluss an den aktuellen Diskussionsstand. Zunehmend wird ihr eine Deutungsmacht im Hinblick auf eine wünschenswerte Landschaftsentwicklung zugestanden. Insofern kann man sie durchaus als eine Art ›Pate‹ einer postindustriellen Kulturlandschaft Niederlausitz sehen. Persönlich halte ich das Konzept der ›Landschaftsinseln‹ für besonders gelungen, da gerade dieses Herangehen die verschiedenen historischen Schichten der Region betont und hierbei die Industriekultur ihre selbstverständliche, aber eben auch nicht alleinstehende Bedeutung gewinnt: Neben einer Landschaftsinsel »Lauchhammer-Klettwitz« mit »LandArt«, der Abraumförderbrücke »F 60«, dem Kokereigelände Lauchhammer (mit den eine Besonderheit darstellenden Biotürmen) und dem Kraftwerk Plessa steht dann eben auch die Landschaftsinsel »Seese-Schlabendorf« mit einer rekonstruierten Slawenburg, Schloss und Park Fürstlich-Drehna sowie weiten Naturschutzräumen. So wird in acht Landschaftsinseln und der »Europainsel« mit der deutsch-polnischen Doppelstadt Guben-Gubin Geschichte und Zukunft der Niederlausitz ganz bewusst erkennbar.

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Günter Bayerl ➔ Die Niederlausitz und die »Musealisierung der Industriekultur«

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Abbildung 6: Landschaftsinseln der Niederlausitz nach der Definition durch die IBA

Und nicht zuletzt – zwischen diesen Inseln liegt noch viel mehr Niederlausitz, zukunftsfähige Niederlausitz hoffentlich! Anmerkungen 1 Text auf der Buchrückenseite. 2 Zur näheren Information über Objekt und Besucher- und Veranstaltungsservice siehe http://www.f60.de oder http://www.iba-see.de. 3 Zum reichen Erbe der Industriekultur für eine touristische Nutzung vgl. Reinhart 2001; Boshold 2004. Zur Erholungsnutzung insgesamt vgl. Gerstner/Jansen/Lübbert 2001. Literatur Bayerl, Günter (1998): »Ein ›Leuchtturm‹ der Region. Über die aktuelle Bedeutung der Abraumförderbrücke F 60 in Klettwitz-Nord«. In: Forum der Forschung. Wissenschaftsmagazin der Brandenburgischen Technischen Universität 4/6, S. 40-47.

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Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel

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Walter Buschmann ➔ Die Neuerfindung der Industrie als Touristenattraktion



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Die Neuerfindung der Industrie als Touristenattraktion. Mitteldeutsches Braunkohlenrevier – Ruhrgebiet – Rheinisches Braunkohlenrevier

Walter Buschmann Nicht erst seit der im ökologischen Zeitalter aufflammenden Kritik an der Ausbeutung der fossilen Bodenschätze unseres Planeten hatte und hat der Braunkohlenbergbau Akzeptanzprobleme. Der Bewunderung der technischen Meisterleistungen dieser Industriebranche, mit den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Großtagebauen und den dort eingesetzten riesenhaften Großabbaugeräten sowie den weltweit größten Kraftwerken, standen schon immer die negativen Empfindungen angesichts der Landschaftsveränderungen, der Zerstörung von Kulturdenkmälern und der Ortumsiedlungen gegenüber. Auch die Industriedenkmalpflege tat sich lange Zeit schwer mit den möglicherweise denkmalwerten Zeugnissen dieser Branche. Doch die Fundamentalkritik am Braunkohlebergbau, die in Öffentlichkeit und Politik gerade nach der Erweiterungsdebatte um den Tagebau Garzweiler noch einmal anwächst, ist für denkmalpflegerische Qualitätskriterien nicht maßgeblich: dann wären auch viele Zeugen der Herrschafts- und Sakralgeschichte als zweifelhaft einzustufen. Abbildung 1: Schaufelradbagger im Tagebau Garzweiler

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Es geht nicht nur um die Geschichte einiger weniger Unternehmen im Revier, sondern um Herkunft und Gegenwart vieler Millionen Menschen, die teilweise während eines ganzen Lebens und oft über Generationen hinweg direkt oder indirekt mit der Braunkohle, ihrer Verarbeitung und Verstromung zu tun hatten. Es geht auch um die bemerkenswerten technischen Leistungen der Ingenieure und die gestalterische Umsetzung der Architekten. Die Denkmalpflege fragt nach der historischen Bedeutung der Orte und Objekte – und diese genau auslotend, sind auch im Braunkohlenrevier Leistungen erkennbar, die aus dem Geschichtsbuch der Menschheit nicht verschwinden dürfen. Ursprünge einer Museumsidee im mitteldeutschen Braunkohlerevier Die Situation in den Braunkohlerevieren Mitteldeutschlands entwickelte sich wie an vielen anderen Orten auch: Die bevorstehenden oder bereits wahrnehmbaren Zerstörungen von industriegeschichtlichem Kulturgut führten zu einer Gegenreaktion. Nach der Wiedervereinigung kam es hier ab 1990 zu einer mit dramatischer Schnelligkeit ablaufenden Niedergangsphase. Die DDR war der weltweit größte Braunkohlenproduzent. Mit einer Jahresförderung von 300 Mio. Tonnen war die Braunkohle, die selbst von geologisch ungünstigen Feldern abgebaut wurde, der wichtigste Energieträger der DDR. 1989 waren in Westsachsen und Thüringen etwa 90.000 Beschäftigte im Braunkohlenbergbau tätig; 1996 waren es noch 8500. Die Industriekultur der Braunkohle drohte in kürzester Zeit ausgelöscht zu werden: Die Tagebaugroßgeräte standen vor der Verschrottung, 27 zwischen 1880 und 1960 entstandene Brikettfabriken und acht Kraftwerke wurden stillgelegt. Vor der Stilllegung standen auch die ›museumshaft‹ produzierenden Betriebe der Karbochemie in Böhlen und Espenhain (vgl. Berkner 2000: 8). Auch in Mitteldeutschland litt der Braunkohlenbergbau unter Akzeptanzproblemen. Die alten Tagebaue hatten eine ungeordnete Mondlandschaft hinterlassen, da es aus finanziellen Gründen in DDR-Zeiten kaum Rekultivierungsmaßnahmen gegeben hatte. Die noch produzierenden Anlagen waren als ›Dreckschleudern‹ verschrien, deren Beseitigung aus dem Bild der Städte und Landschaften begrüßt wurde. Der plötzliche Geldsegen aus dem Westen wurde mangels konzeptioneller Alternativen auch zur Flächensanierung unter Abbruch der Altanlagen genutzt. Aber auch für industriestrukturelle Maßnahmen standen finanzielle Mittel bereit. Das technisch und architektonisch Aufsehen erregende Kraftwerk Lippendorf wurde errichtet und mit Kohle aus den technisch modernisierten Tagebauen Zwenkau (bis 1999) und »Vereinigtes Schleenhain« versorgt. Weitere Mittel wurden für die mit den Tagebaustilllegungen und Abbrüchen notwendig werdenden Rekultivierungsmaßnahmen verfügbar gemacht. Allein im

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Südraum Leipzig sollten 80 Quadratkilometer neue Wasserflächen entstehen; Kippenbereiche waren großflächig aufzuforsten. Ziel war die Schaffung einer nachsorgefreien Bergbaufolgelandschaft. Überlegungen zur Einbindung der Geschichte in die neu entstehende Bergbaufolgelandschaft konnten sich zunächst auf Untersuchungen und Erhaltungskonzepte des Nestors der DDR-Industriedenkmalpflege Otfried Wagenbreth gründen. Schon in den 1950er Jahren wurden die Brikettfabrik »Hermannschacht«, der Schacht »Paul II« und die Schwelerei Groitschen nach den Vorstellungen Wagenbreths in die Denkmalliste eingetragen. Wagenbreth und Wächtler stellten diese drei räumlich zusammenhängenden Objekte nördlich von Zeitz 1983 ausführlich in dem Band »Technische Denkmäler der DDR« vor (vgl. Wagenbreth/Wächtler 1983). Doch das Tempo der Abbrüche und Veränderungen nach 1990 zwang zu weiter gehenden Überlegungen, die durch die finanziellen Möglichkeiten nach der Wiedervereinigung und dem wachsenden Interesse am Braunkohlenbergbau in seinen historischen und aktuellen Dimensionen gestützt wurden. Das Ergebnis war letztlich die Gründung der »Mitteldeutschen Straße der Braunkohle« im Jahr 1996. Der ideengeschichtlichen Entwicklung dieses Projektes wird man wohl nur gerecht, wenn man bereits vorab realisierte oder zumindest weitgehend geplante regionale Teilprojekte berücksichtigt. Dazu gehört der 1991 konzipierte »Mitteldeutsche Umwelt- und Technikpark« (MUT) bei Zeitz, dessen Grundlage eine von der »Deutschen Bundesstiftung Umwelt« finanzierte Realisierungsstudie wurde (vgl. Bouè o.J.). Für das Management dieser Denkmallandschaft im Dreieck zwischen den drei bereits erwähnten Objekten bei Zeitz wurde 1993 ein Geschäftsführer berufen. 1994 entstand der Trägerverein und im gleichen Jahr wurden die ersten Erhaltungsmaßnahmen an den Gebäuden der Brikettfabrik »Herrmannschacht« durchgeführt. Ebenfalls 1994 wurde »Ferropolis«, die »Stadt aus Eisen«, nach einer Planung der Werkstatt am »Bauhaus Dessau« in einem formalen Akt gegründet. Im Stile eines Freilichtmuseums waren im Tagebau Golpa sechs Großabbauund Versatzgeräte aus dem Braunkohlenbergbau an einem Ort konzentriert worden. Sie wurden ergänzt durch eine Arena unter offenem Himmel mit einer im Halbkreis aufsteigenden, massiv in Beton erbauten Tribüne für Großveranstaltungen. »Ferropolis« war Teil eines großräumigen Konzepts mit dem Namen »Industrielles Gartenreich« (vgl. Stiftung Bauhaus Dessau 1996; Kegler 1999). Dieses Konzept vereinigte die als Weltkulturerbe geschützten Gartenanlagen von Wörlitz mit den Kraftwerken Vockerode und Zschornewitz sowie die in den aufgegebenen Tagebauen um die Kraftwerke entstehende Bergbaufolgelandschaft mit »Ferropolis« als spektakulärem Mittelpunkt. Das seit 1915 in mehreren Bauphasen entstandene Braunkohlenkraftwerk Zschornewitz war

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als Denkmal und musealer Veranstaltungsort 1994 bereits weitgehend – in denkmalpflegerisch problematischer, aber akzeptabler Weise – saniert worden. Über die Zukunft des Kraftwerks Vockerode war und ist nicht entschieden, leider sind die 70 Meter hohen Schornsteine inzwischen abgebrochen worden. Für das Südrevier Leipzig sei stellvertretend auf das 1993 weitgehend in ehrenamtlicher Initiative entstandene Technische Museum in der Brikettfabrik »Gertrud« in Zechau hingewiesen. Mitteldeutsche Straße der Braunkohle Die Idee einer »Mitteldeutschen Straße der Braunkohle« ist zeitgleich von mehreren regionalen Akteuren entwickelt worden und wurde erstmals im Oktober 1993 auf dem Deutschen Geographentag in Bochum von Andreas Berkner vorgestellt (vgl. Berkner 1995). Sie wurde dann auf der Regionalkonferenz für den Südraum Leipzig 1994 und in einem Workshop 1996 mit etwa 100 regionalen Akteuren weiterentwickelt. Im September 1996 kam es zur Gründung als Dachverein mit einer von der Europäischen Gemeinschaft unterstützten Trägerstruktur. Die anfängliche Zahl der etwa 50 Gründungsmitglieder des Dachvereins erhöhte sich im Lauf der Jahre nur unwesentlich auf heute etwa 60. Vertreten sind 13 Kommunen und Städte, darunter Halle und Leipzig. Mitglieder sind auch die wichtigen Braunkohleunternehmen der Region: MIBRAG, VEAG, ROMONTA und mehrere Stadtwerke; auch regional tätige Vereine und verschiedene Privatpersonen sind beteiligt. Die Geschäftsführung wurde bei der Geschäftsstelle des »Mitteldeutschen Umwelt- und Technikparks« in Zeitz angesiedelt (vgl. Dachverein Mitteldeutsche Straße der Braunkohle 1998, 1999a, 1999b). Die Mitteldeutsche Straße der Braunkohle umfasst etwa 200 Objekte, die sich thematisch in folgende Komplexe aufteilen lassen: • • • • • •

Technik und Industriearchitektur (28 %); Natur und Landschaft (17 %); Bildung (Museen, Lehrpfade, Aussichtspunkte) (15 %); Siedlungen (mit archäologischen Ausgrabungen) (13 %); Freizeit, Sport und Erholung (15 %); Wasser (12 %).

Die Aufteilung des Reviers in vier Teilregionen folgt der historischen Entwicklung des Braunkohlenbergbaus in Mitteldeutschland und entspricht dem örtlichen/regionalen Engagement von Gruppen und Einzelpersonen, dem das

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Projekt seine Entstehung verdankt. Zur Reviererschließung werden mehrere Routenarten angeboten: die Hauptrouten mit einer großräumigen, zügigen Abbildung 2: »Mitteldeutsche Straße der Braunkohle« mit 37 Hauptobjekten

Verbindung zwischen den Regionen, die Regionalrouten in den Teilregionen sowie Abstecher zu Objekten abseits der Haupt- und Regionalrouten. Zusätzlich gibt es buchbare Routenzusammenstellungen durch den MUT in Zeitz, »Glückauf-Tour Sachsen« und MAI »Regio Tours«. Die Hauptattraktionen sind das Infozentrum im Kraftwerk Lippendorf, Besichtigungen im Tagebau Schleenhain oder Fahrten mit der Kohlebahn zwischen Regis-Breitingen und Meuselwitz. Insgesamt will man jährlich eine Million Besucher anlocken. Der Dachverein veranstaltet seit 1997 unter verschiedenen Leitthemen eine jährlich stattfindende wissenschaftliche Herbsttagung. Es gibt zahlreiche Bro-

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schüren mit Routenbeschreibungen; das seit 1999 bestehende Internet-Portal www.braunkohlenstrasse.de verzeichnet 3000 Zugriffe im Monat. Intermezzo: Straße und Fluss als Orientierungsmittel des Erlebnis- und Bildungstourismus Geht man den Wurzeln des mit einer Route verbundenen Tourismus nach, wird man vermutlich in mehreren Ländern, besonders in den klassischen Reiseländern Italien und Schweiz, verschiedene sehr frühe Beispiele finden. In Deutschland denkt man zuerst an den von den Briten ›entdeckten‹ Rhein. Im 17. und 18. Jahrhundert führte die Grand Tour den britischen Bildungsreisenden von und nach Italien und in die Schweiz auch durch das Rheintal. Die Reise war jedoch zeitaufwändig, mühevoll und gefährlich – die landschaftlichen Schönheiten des Rheintals wurden bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur vereinzelt gewürdigt. Das änderte sich mit dem zunehmenden Interesse für das Mittelalter und vor allem mit den verbesserten Verkehrsmitteln: Durch die »route Napoléon«, einer durchgängigen Rheinuferstraße, war die Befahrbarkeit des Rheinufers wesentlich verbessert worden. Seit 1821 erleichterte zudem eine preußische Schnellpost das Reisen auf dem Landweg. Erste Anzeichen von Massentourismus gab es seit der regelmäßigen Dampfschifffahrt zwischen Köln und Mainz. 1829 war die Hälfte der rund 32.000 Passagiere auf den Rheindampfern englischer Herkunft. Die Rheinpanoramen mit einer Darstellung der Rheinlandschaft aus der Vogelperspektive muten seit 1825 an wie die Vorläufer für Darstellungen moderner Touristikrouten (vgl. Haberland 1992: 42f., 52f.; Peters 1992: 250). Als Pionierin heutiger Touristikstraßen in Deutschland gilt die 1927 eingerichtete »Deutsche Alpenstraße«. Sie läutete das Zeitalter der touristischen Erschließung Deutschlands zu den kulturellen und landschaftlichen Sehenswürdigkeiten auf vorgegebenen Verkehrswegen ein. Die »Romantische Straße« von 1950 hatte vor allem das Ziel, ausländischen Besuchern eine Reise nach Deutschland wieder schmackhaft zu machen. Das wahre Zeitalter der Touristikstraßen brach jedoch erst nach 1960 mit der zunehmenden Motorisierung an. Von den heute existierenden 120 touristischen Routen sind 85 Prozent in den letzten Jahren entstanden. Die meisten Angebote erschließen landschaftliche Sehenswürdigkeiten (45 %), es folgen die Routen mit geschichtlichen Themen bzw. mit einem Bezug zum Essen und Trinken. Immerhin neun Prozent widmen sich industriegeschichtlichen oder industrierelevanten Themen. Angesichts des Gründungsbooms solcher Routen hat der »Deutsche Fremdenverkehrsverband« eine Definition eingeführt. Danach sind Touristikstraßen »auf Dauer angelegte, genau bezeichnete Reiserouten auf Bun-

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des- oder Landesstraßen, die dem Reisegast thematisch abgegrenzte, spezielle Attraktionen bieten.« Die so genannten ›echten Routen‹: • haben eine eindeutige Streckenführung; • benutzen Bundes- oder Landesstraßen; • verfügen über ein Angebot an thematisch abgegrenzten Attraktionen (z.B. Kultur, Landschaft, Gastronomie); • haben eine Beschilderung zur Orientierung der Reisenden (vgl. Echtermeyer 2003: 23f.). Die ›Super-Route‹ für einen Nationalpark: Industriekultur im Ruhrgebiet Die Denkmalpflege hat schon in den 1980er Jahren den Gedanken eines Industrietourismus im Ruhrgebiet vertreten (vgl. Buschmann 1988). Aber obwohl es weit zurückreichende Beispiele für einen erfolgreichen Industrietourismus in Deutschland gab und gibt, war diese Vorstellung für viele gewöhnungsbedürftig. Doch die 1989 von der »Internationalen Bauausstellung Emscher Park« (IBA) ausgelöste euphorische Aufbruchstimmung brachte auch in dieser Hinsicht Resultate. 1995 bezeichnete Ministerpräsident Johannes Rau in einer Regierungserklärung die Kulturwirtschaft, den Tourismus und eine lebendige Kunstszene (und die Internationale Bauausstellung) als wichtige Aufgaben für das Ruhrgebiet. Die IBA nahm den Industrietourismus in ihrem zweiten, 1996 veröffentlichen Memorandum in ihr Zielsystem auf. Im gleichen Jahr wurde durch das für den Tourismus zuständige Düsseldorfer Wirtschaftsministerium eine Kommission zur Erstellung eines Masterplans »Tourismus im Ruhrgebiet« gebildet. Die »Route der Industriekultur«, beauftragt durch den »Kommunalverband Ruhrgebiet« als Träger und konzeptionell erarbeitet durch die »Deutsche Gesellschaft für Industriekultur«, sollte als erster Baustein schon 1999 eröffnet werden. Dieses Ziel ließ sich nur mit massivem Finanzeinsatz in derart kurzer Zeit bewältigen. Die kalkulierten Kosten in Höhe von 11 Mio. DM sollten im Wesentlichen durch das Land und durch Mittel der Europäischen Gemeinschaft gedeckt werden. Bisher wurden bis 2003 5,45 Mio. Euro ausgegeben. Für einen weiteren Realisierungsschritt mit Erarbeitung konkreter Buchungspakete werden vermutlich noch einmal 1,1 Mio. Euro bewilligt werden. Die »Route der Industriekultur« ist ausschließlich auf die Geschichte orientiert, aber diese Rückbesinnung auf die Tradition soll auch den Weg in die Zukunft weisen. Die 19 Hauptorte an dem 400 Kilometer langen Rundkurs werden als »Ankerpunkte« bezeichnet. Sie sollen einen hohen Bekanntheitsgrad haben, ein

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authentisches Symbol der Region sein, zugleich herausragende Orte der Industriekultur darstellen und als Treffpunkte für Veranstaltungen und Erlebnisse dienen. Der Besucher soll hier Informationen durch persönliche Beratung und durch Printmedien erhalten. Drei der »Ankerpunkte« sind zugleich Besucherzentren, die zusätzlich mit elektronischen »Info-Countern« ausgestattet sind. Darüber hinaus gibt es Präsentationen auf Stellwänden und Verkaufsangebote von Schriften und andere für Touristen interessante Dinge. Das zentrale Besucherzentrum wurde auf der Zeche »Zollverein« in Essen eingerichtet. Für das Ostrevier sind die Zeche »Zollern 2/4« und für das Westrevier das Hochofenwerk Duisburg-Meiderich die regionalen Besucherzentren. Von den »Ankerpunkten« ausgehend werden 25 Themenrouten angeboten. Die Themen beziehen sich auf bestimmte Aspekte der Industriegeschichte oder interessante Teilräume. Zu den Standorten der Route gehören sechs überregionale technik- und sozialgeschichtliche Museen, neun herausragende Aussichtspunkte als Panoramen der Industriekultur und zwölf bedeutende Siedlungen. Die »Route der Industriekultur« ist bereits mehrfach in Aufsätzen vorgestellt worden, eine umfassende Publikation gibt es jedoch nicht. Schmale Broschüren informieren über die Gesamtstrecke und die Themenrouten (vgl. Budde/Heckmann 1999; KVR 1996, 2001; Willamowski 1998; IBA Emscher Park 1996) und unter der Adresse www.route-industriekultur.de gibt es gute Informationen über Objekte und Streckenverlauf. Die »Route der Industriekultur« hing mit der Idee zusammen, aus dem Ruhrgebiet einen im Wesentlichen kulturell geprägten Nationalpark nach amerikanischem Vorbild zu machen. Grundlage der Idee war die Erkenntnis, dass es über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland nur zwei wirkliche Zentren gab: das politische Zentrum Berlin und das wirtschaftlich-kulturelle Zentrum Ruhrgebiet. Die Nationalparkidee stammt aus den Reihen der Denkmalpflege und war dort aus dem Gedanken heraus entstanden, dass die komplexe Vielzahl industriekultureller Sehenswürdigkeiten im Ruhrgebiet nicht durch das lineare Element einer Route befriedigend erschlossen werden können. Das Nationalparkprojekt Ruhrgebiet wurde im weiteren Verlauf der Diskussion als eine Art Tradierung der IBA-Idee mit einem ›Schutz für Entwicklung‹ inhaltlich auf die Gestaltung von neuen Projekten stark ausgedehnt, andererseits aber auch ganz in diesem Sinne räumlich reduziert auf die Emscherzone und sachlich eingeschränkt auf Zeugnisse der Hochindustrialisierungsphase (vgl. Arbeitsgruppe des IBA-Lenkungsausschusses 1999). Damit verlor das schließlich aufgegebene Projekt aber sicher gerade bei den Perso-

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nen und Institutionen Rückhalt, die es mit Verve und Engagement getragen hätten. Abbildung 3: »Route der Industriekultur« in einem frühen Projektstadium 1996. Schon zu diesem Zeitpunkt wirkte die Darstellung der Haupt- und Themenrouten unübersichtlich

Die mit hohem Anspruch und wertvollen neuen Ideen gestartete »Route der Industriekultur« muss sich nun mit Überschneidungen und Abstechern und einem Wald von 1500 Schildern bewähren. Ob das Konzept einer linearen Route mit von den Besuchern brav nacheinander abgefahrenen Stationen tatsächlich angenommen wird, ist leider nicht untersucht worden. Es gab aber durch den KVR beauftragte aber leider unveröffentlichte Besucherbefragungen, die Aufschlüsse anderer Art ermöglichen: • Nach einer Befragung von 2544 Besuchern wird die »Route« als beachtlicher Tourismusfaktor für das Revier eingestuft. • Gegenüber einer früheren Befragung ist unter den Besuchern die Zahl der Familien gestiegen. • Das Freizeitinteresse und die Faktoren Spaß und Erlebnis standen im Vordergrund des Besuches. 65 Prozent aller befragten Besucher kamen aus dem Revier selbst. • Unter den auswärtigen Besuchern dominierte die Gruppe jener Besucher, die in einem Umkreis von 100 Kilometern wohnen.

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Von der »Rheinischen Straße der Braunkohle« zum »EnergieErlebnis Rheinland« Ähnlich dramatische Entwicklungen im industriellen Strukturwandel wie in Mitteldeutschland oder im Ruhrgebiet gab und gibt es im rheinischen Braunkohlenrevier nicht. Der Braunkohlenbergbau wird nach der positiven Entscheidung zur Ausdehnung des Tagebaus Garzweiler noch wenigstens bis 2040 aktiv sein. Das Revier westlich von Köln ist das größte der verbliebenen drei Braunkohlereviere. Es erstreckt sich über etwa 2500 Quadratkilometer zwischen den Städten Köln, Bonn, Aachen, Mönchengladbach und Düsseldorf und erreicht damit etwa die Größe der Schachtzone des Ruhrbergbaus. Mit etwa 55 Mrd. Tonnen Braunkohle ist es das größte geschlossene Braunkohlenvorkommen in Europa. Unter einer 10 bis 90 Meter starken Deckschicht lagern Flöze von bis zu 100 Metern Mächtigkeit. Gefördert werden heute jährlich bis zu 100 Mio. Tonnen Braunkohle in den drei Tagebauen Inden, Hambach und Garzweiler. Der überwiegende Teil der Rohförderkohle wird zur Stromerzeugung verwendet. »RWE Power« trägt mit 15 Prozent zur Stromversorgung in Deutschland bei. Die Erfolgsgeschichte der Braunkohle hat auch im Rheinland mit der Brikettproduktion angefangen. Allerdings war die erste Brikettfabrik im südlichen Revier erst 1877 bei Brühl entstanden. Etwa 40 Anlagen wurden im Laufe der Jahrzehnte errichtet. Den Schlusspunkt setzte 1955 die Brikettfabrik Zülpich der »Bergbaugesellschaft Victor Rolff«. Wie auch in den anderen deutschen Revieren wurde die Entwicklung besonders durch den Strombedarf im Jahrzehnt vor und vor allem auch während des Ersten Weltkrieges beschleunigt. Das erste Braunkohlenkraftwerk entstand 1899 wiederum bei Brühl. Großindustrielle Dimensionen erreichte die Stromproduktion aber erst mit den Kraftwerken »Fortuna« 1910-12 bei Bergheim und mit dem seit 1913 in mehreren Bauabschnitten erbauten Kraftwerk Goldenberg bei Hürth. Das Goldenberg-Werk war in den 1920er Jahren zeitweise das größte Braunkohlenkraftwerk Europas und rivalisierte um diesen Superlativ mit dem AEG-Kraftwerk Zschornewitz bei Dessau. Einen weiteren Entwicklungsschub für die Stromwirtschaft brachte die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit amerikanischem Geld entstanden neue Riesenkraftwerke bei Grevenbroich und Eschweiler. Das RWE-Kraftwerk Goldenberg bei Hürth wurde nach erheblichen Kriegsschäden als Vorbild für die Neuanlagen ausgebaut und erneuert. Die Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte waren geprägt durch einen ›kleinen‹ Strukturwandel mit einer Verringerung der Brikettproduktion und einer immer steigenden Verwertung der Braunkohle zur Stromerzeugung. Die alten Brikettfabriken wurden abgebrochen oder stillgelegt. Heute ist mit der Brikettfabrik Wachtberg bei Frechen nur noch eine dieser Anlagen produzie-

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rend tätig. Zwei weitere Fabriken sind stillgelegt, können aber bei steigender Nachfrage wieder in Betrieb genommen werden. Für die Kraftwerke sind die in den letzten 20 Jahren verschärften Anforderungen des Umweltschutzes und den davon ausgelösten Modernisierungen prägend gewesen. Neue Rauchgasreinigungsanlagen wurden geschaffen und mit der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen zudem ein 21 Mrd. DM umfassendes Erneuerungsprogramm verhandelt. Ziel des Programms ist der Ersatz aller vorhandenen Kraftwerksblöcke durch neue Anlagen mit höherem Wirkungsgrad. Durch den geringeren Verbrauch an Kohle soll auch der Schadstoffausstoß verringert werden. Sowohl durch den ›kleinen‹ Strukturwandel wie auch das Modernisierungsprogramm für die Kraftwerke wurden Abbruchsmaßnahmen erforderlich: Die Kraftwerke »Fortuna« mussten 1988/89 einer Erweiterung des Tagebaus Bergheim weichen, die Vorschaltanlage im Goldenberg-Werk wurde 1998/99 abgebrochen. Mit besonderer Betroffenheit aber wurde der Abbruch der Brikettfabrik »Vereinigte Ville« in Hürth in der Öffentlichkeit registriert. Hier und in den anschließenden Versuchen zur Eintragung der Brikettfabrik »Carl« in Frechen in die Denkmalliste liegen die Ursprünge einer intensiveren Beschäftigung mit der touristischen Inwertsetzung von Braunkohlenanlagen im Rheinland. Braunkohlentourismus im Rheinland – Die Vorgeschichte Seit Entwicklung der gigantischen Großabbaugeräte in den Tagebauen übt der Braunkohlenbergbau eine beachtliche Faszination auf die Menschen in und außerhalb der Region aus. Der klassische, durch Werksbesichtigungen gekennzeichnete Tourismus erfuhr im Braunkohlebergbau eine spektakuläre Variante durch attraktive Tagebaubefahrungen. Zwar waren auch diese, wie im Steinkohlenbergbau, durch die Betriebsbedingungen begrenzt, aber es liegt auf der Hand, dass es leichter ist, Tagebaue zugänglich zu machen, als die Tiefbaue des Steinkohlenbergbaus. Große Anziehungskraft übte die teilweise über mehrere Kilometer führende Umsetzung von Schaufelradbaggern aus. Das führende und zuletzt Monopolstellung einnehmende Unternehmen der Region, die »Rheinbraun AG«, unterhielt seit 1955 im Schloss Paffendorf eine Schausammlung zum Braunkohlenbergbau und gestaltete den Schlosspark um in ein »Arboteum«, eine lehrreiche Pflanzensammlung zur geologischen Entstehungsgeschichte der Braunkohle – u.a. mit versteinerten Fundstücken aus den Tagebauen. In Paffendorf war auch lange Zeit das Unternehmensarchiv untergebracht. Rheinbraun bemühte sich auch um öffentlichkeitswirksame Publikationen zur Geschichte des Braunkohlenbergbaus und damit um Linderung eines auch heute noch schmerzlich feststellbaren De-

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fizits (vgl. Wündisch 1980; Kleinebeckel 1986). Weiterhin wurden TagebauAussichtspunkte eingerichtet. In den Kraftwerken gab es Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit mit dem Angebot organisierter Gruppenführungen, die leider in jüngster Zeit den verstärkten Rationalisierungsanstrengungen zum Opfer fielen. Die Angebote der »Rheinbraun AG« (jetzt »RWE Power«) fanden und finden großes Interesse. Zu den noch immer angebotenen Gruppenführungen in Kraftwerken und Tagebauen werden jährlich 40.000, in Paffendorf sogar 80.000 Besucher gezählt. Dies wäre eine hervorragende Basis für einen über das Bundesgebiet hinaus bekannten Industrietourismus, der zugleich das prägnante Alleinstellungsmerkmal der Region hervorhebt. »Rheinische Straße der Braunkohle« – eine Projektchronik Angeregt durch eine Anfrage aus der Politik über den Stand und die mögliche Entwicklung der Industriedenkmalpflege im westlichen Umland von Köln, wurden im Frühjahr 1999 vom »Rheinischen Amt für Denkmalpflege«, angesichts der Probleme mit den großformatigen Denkmälern des Braunkohlenbergbaus, der Vorschlag für eine Fundamentalinventarisation der Braunkohle und eine Touristikstraße der Braunkohle vorgetragen. Vorbild für die Touristikstraße waren die »Mitteldeutsche Straße der Braunkohle« und die gerade eröffnete »Route der Industriekultur« im Ruhrgebiet. Wie in Mitteldeutschland sollten auch im rheinischen Revier nicht nur geschichtliche Zeugnisse des Bergbaus, sondern auch interessante Umsiedlungs- und Rekultivierungsmaßnahmen, herausragende Technikleistungen der Gegenwart und bemerkenswerte Infrastruktureinrichtungen Teil einer tourismusorientierten Präsentation werden. Zwar kam der Anstoß von der Denkmalpflege – aber ohne die gleichzeitigen Überlegungen zur Tourismusförderung in der Region wäre das Projekt nicht weiter voran gekommen. In Kooperation zwischen Rhein-Erft-Kreis und dem »Landschaftsverband Rheinland« fand im Januar 2004 am Amtssitz des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege ein Kolloquium mit dem Thema »Cöllnisch Umbra. Das rheinische Braunkohlenrevier als Denkmallandschaft« statt (vgl. Mainzer 2002). War diese Veranstaltung noch stark von den Problemen und Intentionen des Denkmalschutzes geprägt, widmete sich ein im April 2001 gegründeter Arbeitskreis dem Ziel, das Projekt einer »Rheinischen Straße der Braunkohle« voranzubringen. Interessant ist zunächst die Zusammensetzung des Arbeitskreises. Beteiligt waren die drei wichtigen Braunkohlenkreise (Rhein-Erft, Rheinkreis Neuss, Düren), mehrere Gemeinden und Städte des Reviers (Hürth, Frechen, Grevenbroich, Erftstadt, Brühl, Jüchen, Zülpich und Eschweiler), der »Landschaftsverband Rheinland« mit dem »Rheinischen Amt für Denkmalpflege« und dem »Rheinischen Industriemuseum« sowie die »Rheinbraun AG«. Zeit-

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weise waren auch Vertreter des »Touristikverbandes Rheinland«, der »Wirtschaftsförderung Rhein-Erft« und der »Wirtschaftsförderung Kreis Düren« anwesend. Dadurch war auch die Qualifikation der Mitwirkenden bunt gemischt: Denkmalpfleger, Planer, Wirtschaftsförderer, Tourismusfachleute, Museumsspezialisten und Mitarbeiter von Kulturverwaltungen. Abbildung 4: Rheinisches Braunkohlenrevier

In einem ersten Arbeitsschritt stellte der Arbeitskreis eine Objektliste möglicher Standorte zusammen, beschäftigte sich mit den einschlägig auf Tourismus ausgerichteten Aktivitäten der »Rheinbraun AG« und knüpfte Verbindungen zu möglichen Kooperationspartnern. Die Ergebnisse wurden im September 2001 in einem Zwischenbericht der Öffentlichkeit vorgetragen. Schon vor der Arbeitskreisgründung waren Landesmittel zur Grundlagenerarbeitung beantragt worden. Zusammen mit Eigenmitteln standen ab Mitte 2003 rund 225.000 Euro zur Verfügung. Damit wurden folgende Gutachten beauftragt: • Eine Schnellinventarisation von möglichen Objekten für die Touristikstraße und das Inventar. Aus Kostengründen wurde die Zahl der zu erfassenden Objekte auf 550 beschränkt. Aus dem Schnellinventar war ein Grobkonzept zu entwickeln. • Aufbauend auf dem Grobkonzept und dem Schnellinventar wurde ein

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Feinkonzept mit den Bereichen Standorte (Prof. Dietrich Soyez), Marketing (Prof. Monika Echtermeyer) und Organisation (Dipl.-Soz. Gottfried HilzWard) beauftragt. • Als Auswahl aus dem Schnellinventar soll ein Gattungsinventar zum Braunkohlenbergbau im Rheinland entstehen. Die Auswahl erfolgte durch die Denkmalkommission des Rheinischen Amtes für Denkmalpflege. Mit der Bearbeitung wurde, wie schon für das Schnellinventar, der Technikhistoriker Dr. Norbert Gilson aus Aachen und die Kunsthistorikerin Dr. Barbara Rinn vom Marburger »Freien Institut für Bauforschung und Baudokumentation« beauftragt. Das Inventar soll bis August 2005 vorliegen. Abbildung 5: Systemskizze zum Projekt »EnergieErlebnis Rheinland« mit Darstellung der angestrebten Außenbeziehungen

Schnellinventar und Grobkonzept wurden im Januar 2003 in Eschweiler der Öffentlichkeit vorgestellt und diskutiert. Das Feinkonzept wurde im September 2003 fertig gestellt und durch den Arbeitskreis korrigiert und ergänzt. Die augenfälligste Änderung betrifft den nun in »EnergieErlebnis Rheinland« geänderten Projektnamen. »EnergieErlebnis Rheinland« – Projektbeschreibung Es gab zahlreiche Gründe für die Änderung des Projekttitels, die letztlich auch die Skeptiker überzeugt haben: die Verwechslungsgefahr mit der bereits erfolgreichen »Mitteldeutschen Straße der Braunkohle«, die Anleh-

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nungsmöglichkeit an die bereits im rheinischen Nordrevier eingerichteten Kurzrouten »Energiepfad Grevenbroich« und »Straße der Energie«, die historisch und aktuell immer stärker werdende Verwendung der Braunkohle zur Energieerzeugung sowie die durch Befragungen nachweisbare höhere Akzeptanz im öffentlichen Bewusstsein der Energie gegenüber der Braunkohle. Jedoch soll auch dieser Arbeitstitel im Rahmen eines Kommunikationskonzeptes noch einmal überprüft werden (vgl. Soyez/Gelhar 2003). Das »EnergieErlebnis Rheinland« bietet eine Netzstruktur sehenswerter Objekte im Revier. Der Besucher soll sich durch ein ausgefeiltes Informationsangebot im Internet und durch Printmedien sein Besichtigungsprogramm selbst zusammenstellen können. Zur Strukturierung des wenig kompakten, sondern vielmehr weit in T-Form auseinander gezogenen Reviers werden drei »Erlebnisinseln« unterschieden. Diese »Erlebnisinseln« stimmen überein mit der historischen Reviergliederung, folgen darüber hinaus aber auch den regional feststellbaren Standortballungen von besonderer Attraktion: Garzweiler (Nordrevier) – Goldenberg (Südrevier) – Blausteinsee (Westrevier). In jeder »Erlebnisinsel« werden industrietouristische Pfade vorgeschlagen. Insofern ist das »EnergieErlebnis Rheinland« eine Kombination aus Netzstruktur und Routenkonzept. Herausragende Standorte im Revier werden als »Kernpunkte« bezeichnet. Sie sollen im Verlauf der nächsten Jahre im Angebotsstandard ähnlich den »Ankerpunkten« im Ruhrgebiet entwickelt werden. Im Endausbau soll es im Revier nach Vorschlag der Konzeptentwickler zwei touristische Hauptorte geben: ein Besucherzentrum mit angeschlossenem Braunkohlemuseum im Kraftwerk Goldenberg/Hürth und eine »IndustrieErlebniswelt« im Kraftwerk Niederaussem/Bergheim. Die »IndustrieErlebniswelt« ist eine stark unternehmens- und produktbezogene Darstellung der Braunkohle, vergleichbar mit der von VW in Wolfsburg entwickelten »AutoStadt«, »Opel Live« in Rüsselsheim, das Ravensburger »Spieleland« in Liebenau oder »Legoland Deutschland« in Günzburg. Das Besucherzentrum und vor allem das Braunkohlemuseum können als Gegengewicht dazu, auch mit größerer Distanz und Unabhängigkeit, das Thema Braunkohle und Energie darstellen. Vor dem Hintergrund knapper öffentlicher und privater Kassen soll sich die Startphase des Projektes auf die »ErlebnisInsel« Garzweiler konzentrieren, mit dem Ziel, schon in zwei Jahren bis 2007 ein akzeptables Tourismusprodukt anbieten zu können. Die bereits funktionierenden Routen »Energiepfad Grevenbroich« und »Straße der Energie«, der Tagebauaussichtspunkt Elsdorf (Tagebau Hambach) und das zum Besucherzentrum auszugestaltende Schloss Paffendorf sind wertvolle Bausteine dieses Produktes. Einer noch einzurichtenden Geschäftsstelle soll für ein exakt definiertes Programm ein Budget von 170.000 Euro zur Verfügung stehen. Wichtige Aufgaben sind: der Aufbau eines Netzes ehrenamtlicher Mitarbeiter mit der Organisation von

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Events und Führungen, die allgemeine Netzwerkorganisation zwischen den Akteuren, Daten- und Homepagepflege, Planungsorganisation für die folgenden Ausbauphasen. Die Geschäftsstelle müsste durch ein Kontrollorgan, vergleichbar dem jetzigen Arbeitskreis, ergänzt werden. Die Mittel sollen im Wesentlichen aus dem Landesetat über das Strukturentwicklungsprogramm REGIONALE 2010 besorgt werden. Die üblichen Eigenmittel müssten jedoch in der Region von Kommunen, Kreisen und anderen Geldgebern zusammengetragen werden. Vergleich und Fazit Besonders beeindruckend in der Entwicklungsgeschichte und Gegenwart der »Mitteldeutschen Straße der Braunkohle« ist deren Charakter als Sammlungsbewegung aus zahlreichen lokalen und regionalen Akteuren. Diesem Charakter wird auch die Organisationsform als Dachverein sehr gut gerecht. Der Erfolg dieses Unternehmens wird demnach wesentlich durch das große individuelle Engagement einzelner Protagonisten geprägt, die zumeist auch beruflich mit der Braunkohle im weitesten Sinne zu tun haben. Problematisch sind dagegen die nur schwach ausgebildete Geschäftsstelle (Halbtagsstelle) und das fehlende Besucherzentrum, denn damit fehlt für auswärtige Besucher die zentrale Anlaufstelle mit Informationen über die Besichtigungsmöglichkeiten. Erstaunlich ist die in nur kurzer Zeit erfolgte Realisierung, die sicher durch den äußeren Druck der in dramatischer Geschwindigkeit ablaufenden Deindustrialisierung und den nicht aufschiebbaren Planungsentscheidungen für die Strukturplanung, die Entwicklung der Betriebe und die Gestaltung der Bergbaufolgelandschaft erzwungen wurde. Bei der Realisierung trugen aber auch der Geldfluss aus dem Westen sowie die organisatorische und praktische Intelligenz der Beteiligten bei. Von Anfang an war die Überlieferung der Geschichte des Braunkohlenbergbaus in das Projekt miteinbezogen. Dennoch war und ist die Denkmalpflege nur am Rande an der Entstehung und Ausgestaltung beteiligt. Die Entstehung der »Route der Industriekultur« war dagegen eine zentral erdachte, konzipierte und durchgeführte Großinvestition. Eine breite Beteiligung von Institutionen war zwar beabsichtigt, aber aus verschiedenen Gründen wurde das Projekt auf Gutachterebene in wenigen Köpfen erdacht. Zu diesen Gründen gehörte: die eindeutige Festlegung auf die historische Industriekultur des Reviers, der hohe Bekanntheitsgrad der in Frage kommenden Objekte, die in Jahrzehnten entstandene und durch die Tätigkeit der »Internationalen Bauausstellung Emscherpark« noch einmal gekräftigte industriekulturelle Infrastruktur mit ihren historisch orientierten und zugleich bewirtschafteten Einrichtungen.1 Die 400 Kilometer lange Hauptstrecke der »Rou-

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te der Industriekultur« ist im Wesentlichen eine Verbindung von industriegeschichtlich orientierten Museumsstandorten. Die Festlegung der Hauptstandorte war vergleichsweise einfach und wurde sicher auch von den Museumsleitern als Marketingstrategie zur Erschließung der oft abseits gelegenen Orte aktiv geprägt. Diese Hauptorte mussten nicht erst neu entstehen, sondern waren durch Aufstellung von Infotafeln und Einbeziehung in die mediale Präsentation leicht in die Route integrierbar. Die nichtmusealen Hauptorte2 sowie die Siedlungen und Panoramen wurden mit der Finanzkraft der IBA modernisiert. Innovativ war es, diese Hauptorte als »Ankerpunkte« zu betrachten, von denen aus weitere Themenrouten erschlossen wurden. Die Themenrouten bergen den eigentlichen Schatz der nichtmusealen Industriekultur des Ruhrgebiets. Über die Nutzung dieser Themenrouten geben die vom »Kommunalverband Ruhrgebiet« beauftragten Befragungen leider keine Auskunft. Produzierende Industrie ist im Konzept der Ruhrgebietsroute nicht enthalten, so dass den Besuchern, die sich nur auf dieser Route bewegen, das Bild einer im Niedergang begriffenen, aber mit hohen Freizeit- und Kulturwerten verknüpften Industrielandschaft vermittelt wird. Die mit hochrangiger Technik produzierenden ›alten‹ Industrien (Chemiepark Marl) und der in Teilbereichen erfolgreiche Strukturwandel (Innenhafen Duisburg, Zeche Zollverein) werden nur am Rande vermittelt. In mehrfacher Hinsicht abweichend vom Mitteldeutschen Braunkohlerevier und dem Ruhrgebiet war und ist die Situation im rheinischen Revier, die sich wie folgt charakterisieren lässt: • ein noch auf Jahrzehnte hinaus profitabel arbeitendes Großunternehmen des Bergbaus und der Energieerzeugung; • wenig Engagement durch Einzelpersonen, Vereine oder andere Privatinstitutionen; • keine musealen Präsentationen zum Thema Industriegeschichte oder Braunkohlenbergbau (bis auf die Ausstellung im Schloss Paffendorf); • nur wenig bekannte oder restaurierte Industriedenkmäler; • Verwirklichung des Projektes nur auf niedrigerem Niveau und verteilt über mehrere Jahre möglich (derzeitige Knappheit privater und öffentlicher Kassen). Dennoch waren der ›kleine‹ Strukturwandel und die Modernisierungen im Kraftwerksbereich Anlass genug zur öffentlich interessiert beachteten Beschäftigung mit dem Thema Industrietourismus. Das Projekt mit einer Inventarisation zu beginnen, ist verständlich, da die Geschichte des Reviers bisher wenig untersucht worden ist. Diese Maßnahme wird zu einer sehr profunden Kenntnis der Geschichte und der überlieferten Zeugnisse des Braunkohlen-

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bergbaus führen. Dieses Inventar hat unabhängig vom Erfolg des Touristikprojektes einen hochrangigen Eigenwert. Das »EnergieErlebnis Rheinland« wäre nicht das erste in enger Wechselwirkung zwischen Tourismus und Denkmalpflege entwickelte Projekt. Vielfach ist es allein der Tourismus, der historischen Objekten eine Nutzungsperspektive eröffnet. Die aufgebauten Kontakte und das sich andeutende Netzwerk zwischen den Beteiligten wirken sich bereits jetzt positiv aus. Auf dieser Basis lassen sich vielleicht immer weitere Elemente schrittweise in die Gesamtstruktur einfügen. Viele Beteiligte – so auch die Denkmalpflege – sehen die jetzige Arbeit als weit vorausschauende Beschäftigung mit der Frage an, wie nach dem Ende des Bergbaus in der Mitte dieses Jahrhunderts Landschaft, Orte und Objekte unter Einbeziehung ihrer geschichtlichen Situation in eine erfolgreiche Zukunftsentwicklung eingebunden werden können. Besonders das Beispiel des Ruhrgebiets zeigt eine fruchtbare Allianz zwischen Museen und Denkmalpflege. Vielleicht liegt in dieser Allianz eine bedeutende kulturpolitische Perspektive, weil sich Stärken und Schwächen beider Formen historischer Überlieferung und Präsentation sinnvoll ergänzen. Gerade die steigende Popularität der diversen ›Tage der offenen Tür‹ verweist auf die Suche der Menschen nach einer Authentizität, die stärker ist als die gestalteten Inszenierungen der Museen. Andererseits bieten die Museen Erkenntnis- und Informationsmöglichkeiten, zudem meist unter einem festen Dach und verbunden mit einem gastronomischen Angebot, die von dem einzelnen Denkmal nicht erwartet werden können. Trotz aller organisatorischer und finanzieller Probleme ist im rheinischen Revier ein Anfang gemacht, der hoffentlich in den folgenden Jahren Erfolge nach sich ziehen wird. Anmerkungen 1 Dazu gehören die beiden im Ruhrgebiet angesiedelten Zentralen des Rheinischen und Westfälischen Industriemuseums sowie die drei Ruhrgebietsaußenstellen im westfälischen Revierteil. Weiterhin das Deutsche Bergbau-Museum und das Eisenbahnmuseum in Bochum, das Ruhrlandmuseum in Essen, das Museum der Deutschen Binnenschifffahrt in Duisburg, die Deutsche Arbeitsschutzausstellung in Dortmund, die Villa Hügel mit dem Krupp-Museum in Essen, der Hohenhof in Hagen mit dem van der Velde-Museum, das Wassermuseum »Aquarius« im ThyssenWasserturm Mülheim. Auch der Innenhafen Duisburg konnte mit dem Kultur- und Stadtgeschichtlichen Museum aufwarten. Das VEW/RWEMuseum im Umspannwerk Recklinghausen war in Vorbereitung. Auf der Zeche Zollverein wurde mit Hilfe des Rheinischen Industriemuseums ein als »Museum Zollverein« bezeichneter Denkmalpfad eingerichtet.

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2 Lindenbrauerei Unna, Kokerei Hansa/Dortmund, Jahrhunderthalle Bochum, Zeche Nordstern/Gelsenkirchen, Gasometer Oberhausen, Hüttenwerk Meiderich, überwiegend auch die Zeche Zollverein, der Innenhafen Duisburg und der Gasometer Oberhausen mit dem benachbarten riesigen Einkaufs- und Veranstaltungszentrum »Centro«. Literatur Arbeitsgruppe des IBA-Lenkungsausschusses (1999): »Nationalpark der Industriekultur«. In: Andrea Höber/Karl Ganser (Hg.), IndustrieKultur. Mythos und Moderne im Ruhrgebiet, Essen, S. 52-55. Berkner, Andreas (1995): »Der Braunkohlenbergbau in Westsachsen im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Erneuerung, ökologischer Sanierung und Sozialverträglichkeit«. In: Dietrich Barsch (Hg.), 49. Deutscher Geographentag Bochum 1993, Bd. 1, Stuttgart, S. 133-143. Berkner, Andreas (2000): »Die Mitteldeutsche Straße der Braunkohle – ein Konzept für den Erhalt von Bergbau-Sachzeugen und bildungsorientierte Freizeitangebote«. In: Dachverein Mitteldeutsche Straße der Braunkohle (Hg.), Veredlungsstandorte. Schachtanlagen und Halden, Leipzig, S. 8-15. Bouè, Paul (o.J.): MUT – Mitteldeutscher Umwelt- und Technikpark e.V. Dokumentation einer Realisierungsstudie, o.O. Budde, Reinhold/Heckmann, Ulrich (1999): »Die Route der Industriekultur: Tourismusoffensive für das Ruhrgebiet«. In: Andrea Höber/Karl Ganser (Hg.), IndustrieKultur. Mythos und Moderne im Ruhrgebiet, Essen, S. 61-66. Buschmann, Walter (1988): »Kohle und Stahl. Erhaltungsproblematik industrieller Megastrukturen«. In: ders. (Hg.), Stahl und Eisen. Bilder und Texte zu einem Leitsektor menschlicher Arbeit, Essen, S. 9-17. Dachverein Mitteldeutsche Straße der Braunkohle (Hg.) (1998): Straße der Braunkohle. 22 Stationen. Ein Erhaltungskonzept für Industriekultur, Leipzig. Dachverein Mitteldeutsche Straße der Braunkohle (Hg.) (1999a): Straße der Braunkohle. Themen – Routen – Sachzeugen, Leipzig. Dachverein Mitteldeutsche Straße der Braunkohle (Hg.) (1999b): Wasser und Landschaft, Leipzig. Echtermeyer, Monika (2003): Marketingkonzept und Organisationskonzept zur Realisierung eines »EnergieErlebnis Rheinland (EER) – Braunkohle und mehr…«, unveröffentlichtes Typoskript.

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Nachfolgeprojekte der »Route der Industriekultur« im Ruhrgebiet: Stationen der Industrie- und Technikgeschichte in Ostwestfalen-Lippe

Heinrich Lakämper-Lührs Unter dem Leitthema »Touristische Inwertsetzung und Vernetzung: industrielle Kulturlandschaft als regionaler Gestaltungsrahmen« ist das mehrstufige Projekt »Industriekultur in Stadt und Land – Stationen der Industriekultur in OWL« mehr als nur eine Epigone der Route der Industriekultur mit innovativen Ideen. »OstWestfalenLippe« Ostwestfalen-Lippe (OWL) ist bekanntermaßen eine unbekannte Industrieregion. Nicht einmal den mehr als zwei Millionen Menschen in der Region selbst sind Geschichte und aktuelle Tendenzen der industriellen Entwicklung bewusst. Ihr Lebensumfeld schätzen sie als ländlich und mittelständisch ein. Die Mehrzahl der Menschen verbindet industrielle Arbeit eher mit Bergwerken, Hochöfen, Walzwerken und Automobilproduktion. Der Bekanntheitsgrad einiger der in OWL ansässigen Marken spricht aber europaweit eine deutlich andere Sprache. Hier sind zum Beispiel »Melitta« in Minden; »Poggenpohl«, »siematic« und »imperial« im Herforder Raum; »Dr. Oetker« in Bielefeld; »Miele«, »Bertelsmann«, »Lycos«, »Claas« oder »interlübke« in und um Gütersloh; »Siemens-Nixdorf« in Paderborn; »FSB« in Brakel im Kreis Höxter und »Schieder-Möbel« in Lippe zu Hause. Diese traditionellen und modernen Marken wurden im Regierungsbezirk Detmold, einer Region ›ganz oben‹ in Nordrhein-Westfalen, geprägt. Als »OWL« hat diese Region inzwischen einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht (vgl. OWL Marketing GmbH 2002: 16f.), und ihre Dynamik ist so groß, dass sie heute als Modellregion für Verwaltungsmodernisierung gilt. Wirtschaftliche Achse der Region ist seit 1847 die Köln-Mindener-Eisenbahn, die zwischen Rheda-Wiedenbrück und Minden die Industriestandorte der Region wie an einer Perlenkette aufblühen ließ (vgl. Teuteberg 1984: 222ff. sowie Vieregge 2001: 129-145 für Gütersloh und Oldemeier 1989 für Herford): Bielefeld ist die alles überragende Stadt der Industrialisierung; Gütersloh und Herford sind die größeren Städte; Orte wie Rheda oder Löhne entwickelten ihre oft überraschenden Profile als Standorte der Möbel- oder Mühlenindustrie über vielfältige Wandlungen ihrer gewerblichen und industriellen Struktur; die später folgenden Bahnlinien und Straßenverbindungen schufen auch für Bünde, Halle, Paderborn, Lage, Brakel und Detmold Anbindungen, die industrielles Wachstum ermöglichten.

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Ob »Leonardo«-Glas (Bad Driburg) oder »Gerry Weber«-Kleidung (Halle), ob »Post«-Werbung (Gütersloh) oder Schokoladen mit dem Hasen Felix (Herford) – immer wieder begegnet man der Industrielandschaft OWL, von der aus etwa die Idee des »Bertelsmann-Buchclubs« (heute: Rheda-Wiedenbrück) oder des Systemmöbelversands durch die »Flötotto«-Gruppe (Gütersloh) ausgingen. Nun ist diese Region aber keine monolithische Industrieregion wie etwa das Ruhrgebiet mit seinen Ausgangsindustrien Kohle und Stahl, welche dort die alte Kulturlandschaft überformt haben. Die Menschen im selbständigen Lippe, in den katholischen Regionen des Hochstiftes Paderborn oder an den Grenzen zum Münsterland und im preußischen Minden-Ravensberg, also den historischen Teilregionen des »Kunstprodukts OWL« (Ditt 2000: 31; vgl. zur historischen Begründung die kritischen Anmerkungen von Baumeier 1999), empfinden sich als Handelnde in einer Region des Handwerks und des Mittelstands. Viele kleine Unternehmen fanden als Produzenten oder als Händler ihre lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Marktlücken: Ein Familienbetrieb in Versmold scheint über Jahrzehnte fast ein Monopol in der Herstellung von Kronkorken für Getränkeflaschen gehabt zu haben (vgl. Berg 1985). Mit einer extrem dichten Bäderlandschaft ist Ostwestfalen-Lippe zugleich der ›Heilgarten‹ Deutschlands – von Bad Driburg über Bad Lippspringe und Bad Salzuflen bis hin zu Bad Wünnenberg oder Bad Oeynhausen. Es ist auch eine starke landwirtschaftliche Region, in der nicht nur Puddingpulver und Wurst hergestellt, sondern auch Spargel, Erdbeeren und Gemüse sowie Vieh gezogen werden. Die meisten landwirtschaftlichen Betrieben sind traditionell klein oder mittelgroß – und haben sich oft schon früh zur Direktvermarktung und zu ökologischer Landwirtschaft bekannt. All das spricht für Geschäftigkeit – und doch ist die Region zugleich eine touristische Region, die unter dem Markennamen »Teutoburger Wald« als naturnah, familienfreundlich, sympathisch und auch provinziell bekannt ist. Diese Marke ist allgemein akzeptiert und soll durch die Bemühungen um zusätzliche Interessenten nicht gestört werden (vgl. OWL Marketing GmbH 2002: 3-15). Die sinnvolle und in diesem Band vielerorts andiskutierte Entgrenzung des bisherigen Begriffs »Industriekultur«, jenseits einer allein auf die alten Schwerindustrien bezogenen Sicht (wie im Saarland und wie in Teilen von NRW) und jenseits aller Fachlichkeiten der Industriehistoriker, trifft in der Region auf zusätzliche konkrete Probleme, die zu haben allerdings ein Luxus Ostwestfalen-Lippes ist. Typisch dafür ist der Konflikt zwischen der Nutzung als Standortmarke (bei Entscheidern in Wirtschaft, Politik, Kultur, Medien) oder Tourismusmarke (bei Anbietern und Nutzern) – welche Marke wird genutzt und wie gefüllt? Diese Fragestellung hätte so weit zugespitzt werden

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können, dass letztlich die Industriegeschichte als Marketing-Instrument weder dem Standortmarketing noch den Touristikern hätte nutzen können. Den einen wäre sie zu sehr in die Vergangenheit gerichtet gewesen, für die anderen hätte statt Erholung und Gesundheit die schmutzige Arbeit zu sehr im Vordergrund gestanden (vgl. Museumsinitiative 2001). Die Mitwirkenden bei der Erstellung der Angebote von »Industriekultur in Stadt und Land« haben das Problem pragmatisch und zugleich historisch fundiert gelöst – so wie Museumsleute im Spannungsfeld zwischen Marketing und Fachtheorie heute handeln müssen. Diese pragmatische Konfliktlösung ist Arbeitsweise der »Museumsinitiative in OWL e.V.«. Die »Museumsinitiative in OWL e.V.« (MIO) Die MIO entstand 1999 unter intensiver Mitwirkung des damaligen Kulturbüros der »OWL Marketing GmbH«, u.a. als Mitwirkungsorgan der Museen an der regionalisierten Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen. Ziel war und ist die Stärkung der Museen in OWL durch Vernetzung untereinander und mit anderen Handelnden im Bereich Kultur, Politik, Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Gruppen. Die MIO hat im Jahr 2000 mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen zunächst die Nutzer und Nicht-Nutzer von Museen nach ihren Interessen am Museum befragt und dabei festgestellt, dass nicht Aktion, sondern Qualität und Ruhe sowie das Erleben des Fremden und Außergewöhnlichen für die Museen als Teil der Freizeitgestaltung spricht. Auf diesen Ergebnissen aufbauend wurde zwischen Dezember 2000 und Juni 2001 auf sehr breiter Basis ein Leitbild für die Museen erarbeitet, das heute Grundlage vieler Beratungen in und über Museen ist. Kernpunkt des Leitbildes war unter anderem die Aussage: ›Wir haben die Originale – und die Kenntnisse zu ihrer Entschlüsselung und Vermittlung an viele Menschen, die wir als Netzwerk erreichen möchten‹ (vgl. MIO, Leitlinien 2001). Zugleich wurde ein Museumsführer erarbeitet, der 158 Museen erfasst. Dieser war schnell vergriffen, ebenso die erweiterte Neuauflage von Anfang 2004 mit nunmehr 178 Häusern und Einrichtungen (vgl. Museumsinitiative 2003). Nach mehr als zweijähriger Vorbereitungszeit fand 2004 erstmals ein regionales Ausstellungsprojekt unter dem Titel »Mahlzeit! Kultur des Essens und Genießens« statt, das sich mit vielen Aspekten des Themas Ernährung befasste. Dieses Projekt wurde mit Mitteln der regionalen Kulturpolitik vom Land NRW unterstützt. Rund 40 Museen waren beteiligt, von Heimatmuseen in ehrenamtlicher Regie über professionelle Stadtmuseen und spezialisierte Institute (etwa zum Kunstgewerbe) bis hin zu den dezentralen Industriemuseen des »Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe«.

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Das Prinzip der MIO ist es, als ›Exekutive‹ aller Museen und Museumsträger gemeinsam zu arbeiten und zu wirken, um die Akzeptanz des einzelnen Hauses durch gemeinschaftliche Aktivitäten zu stärken. Der größte Vorteil ist dabei, dass die Vereinsmitglieder zumeist als Einzelpersonen aktiv sind und nicht direkt ihre Träger repräsentieren. Die MIO hat sich seit ihrer Gründung als innovatives und strukturierendes Netzwerk etablieren können. Dieses Netzwerk war in den Museen begründet – im langjährigen, aber erfolglosen Bemühen (vor allem der Mitarbeiter des Stadtmuseen) um breitere regionale Wahrnehmung und allgemeinere Förderung der Museumsarbeit. Politisch entsprach dies der Aktivierung der landespolitisch postulierten Kulturregionen, die im erfreulicherweise einheitlichen Regierungsbezirk, nicht aber in einer historisch gewachsenen Region wirken. Für die Museumsleute und Marketingspezialisten stellte es übrigens kein Problem dar, sich der politisch, journalistisch und gesellschaftlich vorgegebenen Standortmarke »OWL« anzuschließen und nicht etwa als »Museumsinitiative Teutoburger Wald« oder gar »Museumsinitiative Regierungsbezirk Detmold« aufzutreten. Dass diese Wahl richtig war, bestätigen auch die Markenuntersuchungen der »OWL Marketing GmbH«. Es wäre sicher gut für alle Beteiligten, wenn diese inzwischen als Modellregion für Verwaltungsmodernisierung anerkannte Region OWL nicht im Zuge von ›Verwaltungsreformen‹ entfallen würde, wie dies die großen Parteien in NRW planen. Wenn jetzt das allmählich spürbare Zusammenwachsen der Teil-Regionen, insbesondere auf dem für die Museen und die kulturelle Kommunikation so wichtigen Nachrichten- und Medienmarkt, zustande zu kommen scheint und demnächst die unterstützende Verwaltungsstruktur vor Ort fehlte, wäre die positive Entwicklung der vergangenen Jahre wahrscheinlich gefährdet – auch für die Museen und ihre Partner. Die Inwertsetzung der Museen mit Mehrwert für die Bündnispartner Unter »Inwertsetzung« versteht die Museumsinitiative vor allem Maßnahmen, die ein sicherlich interessiertes Publikum über die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und der weitgehenden Erfahrung am originalen Ort informieren. Nach den Erkenntnissen der Befragung von 2000 wie auch nach der Alltagserfahrung in den Museen ist nicht das Publikum per se desinteressiert, sondern die angebotenen Informationen erreichen letztlich nicht den interessierten Nutzer. Die Aktivitäten und Maßnahmen zur Inwertsetzung müssen vielfältig und Aufmerksamkeit schaffend sein, um schließlich allmählich in ein breiteres

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Bewusstsein der Bevölkerung für die Vielfalt der Museumslandschaft zu münden. In der traditionellen Industrielandschaft OWL ist eine solche Inwertsetzung auf den allerersten Blick für Museumsleute sicher sehr einfach: Man nehme das Historische Museum Bielefeld, die ebenfalls preisgekrönte Industrieabteilung des Stadtmuseums Gütersloh, dazu die Außenstellen Glashütte Gernheim und Ziegelei Lage des Westfälischen Industriemuseums und vielleicht noch die »Wäschefabrik Windel« in Bielefeld – sowie als Highlight der modernen Industriegeschichte zusätzlich das Paderborner »Heinz-Nixdorf-Forum« –, präsentiere sie in einer Zeitungsmeldung oder in einem Flyer und … scheitere grandios an der Vielfalt der industriellen Landschaft in den vergangenen 150 Jahren. Außerdem müssen die lokalen Partner im Tourismus ebenso berücksichtigt werden wie die Wandlungen der Gebäudenutzungen oder der Bedingungen für die Herstellung beispielsweise von Nudeln und Wurstwaren. Und es ist natürlich auch zu beachten, dass die wirtschaftliche Lage sehenswerte Ausstellungen gefährden kann. So war es nämlich bei der Ausstellung von Campingfahrzeugen der »Westfalia«-Werke in Rheda-Wiedenbrück im »Westfalia-Museum« – obwohl sie, richtig vermarktet, geradezu ein Kleinod des Tourismus hätte werden können (Witte 1986). Die MIO setzte daher mit einer Mischstrategie an. Sie enthält verschiedene Elemente mit Mehrwerten für viele Beteiligte, wobei die Museen nur ein – wenn auch zentraler Teil – sind. Die Museen sind nur Organisatoren des Vernetzungsprozesses zur Industriekultur und verzichten auf Vorrang in der Darstellung. Axel Föhl hat darauf hingewiesen, dass nicht alles musealisiert (und gar finanziert) werden kann, was industriekulturell von Bedeutung sein könnte. Man stelle sich vor, dass derzeit etwa »Sat 1« oder der »Bertelsmann«-Konzern musealisiert werden sollten – immerhin zwei ganz typische industrielle Produzenten und Dienstleister der jetzigen Phase der Industrialisierung. Besser ist es also, die Vielzahl der heutigen Nutzungsformen historischer Objekte und Produktionsformen bis hin zu Produkten darzustellen – einschließlich deren heutiger privater wirtschaftlicher Nutzung. Denn anders als in den hoch sakralisierten Stätten des industriellen Weltkulturerbes wie Völklingen oder Rammelsberg hat die Provinz scheinbar nichts zu bieten. Ich betone das ›scheinbar‹ – gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Dynamik, mit der selbst im ›scheinbar‹ ländlichen Raum immer wieder neue Nutzungen in alten Anlagen Raum griffen. Deshalb eignen sich die allermeisten der industriekulturellen Objekte nicht einmal als »Ankerpunkte« für Industriekultur-Routen.

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Unter »Ankerpunkt« verstehen wir eine attraktive industrielle Anlage mit dauerhaftem, öffentlichem Charakter. Es schieden etliche ehemalige Betriebe wie die »Weberei« in Gütersloh, der »Ostmann-Gewürzturm« in Bielefeld oder auch das »Heinz-Nixdorf-Museumsforum« in Paderborn wegen fehlender Eignung aus, obwohl sie alle mehrere Kriterien als »Ankerpunkt« erfüllten. »Ankerpunkt«, und damit Anlaufstelle für alle Fragen zur regionalen Industriekultur, ist in erster Linie die Ziegelei Lage des Westfälischen Industriemuseums. Es vermittelt als langfristig existente Einrichtung, deren Fortbestand auch über die Museumsinitiative hinaus gesichert ist, Informationen an Interessierte, vermittelt Angebote und ist selbst ein attraktives Ziel für Kinder und Erwachsene sowie für Einzelpersonen und Gruppen. Von nicht geringer Bedeutung war die vergleichsweise gute Erreichbarkeit mit fast allen in Frage kommenden Verkehrsmitteln. Auch die Schlüsselfunktion des ursprünglichen Betriebes im Übergang von der Hand- zur Industriearbeit einerseits und das Wachstum der Betriebe und Orte in der Umgebung andererseits, bei gleichzeitiger Einbettung in die Landschaft und ihre Bodenschätze, sprachen für diesen Standort. Es sei nicht verschwiegen, dass dieser zentrale »Ankerpunkt« allein die Einwerbung von Nutzern nicht leisten kann und die MIO auf weitere »Knotenpunkte« angewiesen ist. Das sind vor allem die Tourismusanbieter und/oder Museen vor Ort, die ihre Klientel mit Informationen versorgen, Vorschläge machen und Führungen anbieten. Multiplikatoren sind die Museumsleute vor Ort und andere ›befreundete‹ Institutionen wie zum Beispiel das »Filmbüro Lippe«, das mit der Zusammenstellung einer speziellen Werberolle mit Filmen aus OWL einen sehr attraktiven Anreiz zur Beschäftigung mit regionaler Wirtschaftsgeschichte geschaffen hat. Ihre Vorführung ist ein populärer und inhaltlich begründeter Höhepunkt der Promotion von »Industriekultur in Stadt und Land«. Weitere Nutznießer des Mehrwerts der Vernetzung sind auch die Wirtschaftsförderer, die jetzt auf frühere Innovationen vor Ort ebenso verweisen können wie auf die aktuellen Möglichkeiten – und damit die Innovationskraft und Dynamik der Menschen über Jahrzehnte belegen können. In unsicheren Zeiten sind natürlicherweise die Denkmalschützer auf allen Ebenen ebenso sehr am Mehrwert interessiert. Sie haben vor Ort von Anregungen zur Nutzung von Denkmalen profitiert und können auf die zumindest regionale Aufmerksamkeit für die Denkmale oder auch Nicht-Denkmale verweisen. Aus rund 240 Denkmalen und einigen weiteren industriellen und technischen Bauwerken wurden 58 für erste Aktivitäten der MIO ausgewählt. Eine Broschüre (Museumsinitiative 2002) und ein Internet-Auftritt zeigen die Vielfalt

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der ländlichen wie der allmählich wachsenden städtischen Industrien in sieben Themengruppen: • • • •

»Stoffe, Wäsche, Konfektion« mit 7 Objekten; »Leinen und Möbel brauchen Maschinen« mit 11 Objekten; »Holz und Möbel ist Ostwestfalen-Lippe« mit 3 Objekten; »Nicht nur Kraut und Rüben – Vom Steinhäger bis zur Tiefkühlpizza« mit 16 Objekten; • »Stadt und Land vernetzt durch Gas, Wasser, Strom und Straßenbahn« mit 7 Objekten; • »In die weite Welt hinein …« (Verkehr) mit 6 Objekten; • »Von Erzbergwerken und Ziegelöfen« mit 11 Objekten. Die letzte Gruppe beinhaltet beispielsweise die »Westfälische Mühlenstraße« im Kreis Minden-Lübbecke, eine Gruppe von 42 Wind- und Wassermühlen sowie einer Schiffsmühle mit eigenen attraktiven Vermarktungswegen im touristisch schon bekannten Mühlenkreis. Wer als Tourist mit dem Rad von seiner Mühlenroute abbiegt und in Gernheim die Glasbläserei, in Lübbecke die »Brauerei Barre« oder in Hille die Brennerei besichtigt, der wird den Mehrwert der Vernetzung sehr konkret erfahren. Wenn die Maßnahmen richtig vermarktet werden, dürfte hier die Industriekultur vom Mühlentourismus profitieren. Mit dieser Hoffnung haben sich vor allem auch die Marketingbereiche der meisten Kreise an diesem Vorhaben beteiligt. Genauso wichtig ist die Benennung ihrer Highlights für die weniger touristisch ausgeprägten Gemeinden und Städte wie Bielefeld, Gütersloh oder gar Schloss Holte-Stukenbrock. Wer würde sonst je auf die Idee kommen, ausgerechnet im Rathaus der Sennegemeinde Schloss Holte die sehenswerte Ofensammlung zu entdecken, die der Wanderer wohl selten mit dem etwa drei Kilometer entfernten Schloss und der benachbarten ehemaligen Rasenerz-Hütte in Verbindung bringt. Hier dürfte die Gemeinde von der Aktivität der MIO profitieren. Andere Partner waren die Nahverkehrsunternehmen der Region, die ihre Leistungsfähigkeit für die oft ländlichen Standorte darstellen konnten und so belegen, dass auch abgelegene Ziele erreichbar sind. Konkrete Maßnahmen und erste Ergebnisse Im ersten Jahr des Kommunikationsprozesses der MIO wurde mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen die oben kurz skizzierte Broschüre recherchiert, verfasst und verteilt sowie eine Internet-Seite gestaltet (www.museumsinitiative-owl.de). Das nun vorhandene Basismaterial war zugleich ein Nachweis für das Po-

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tenzial der Industriekultur in Stadt und Land – also in OWL. Dies war aber nicht nur nach innen, sondern auch nach außen relevant. Das Land NRW hatte das Projekt als Teilmaßnahme der »Entwicklung und Pflege des Netzwerks Industriekultur« gefördert und erkannt, dass weitere Potentiale genutzt werden könnten. Somit diente das Basismaterial zur Begründung einer Folgemaßnahme, die noch deutlicher Mehrwert bei Touristikern, Nutzern und Gastronomen erzeugen soll. Sie wurde erneut beim Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport zur Förderung beantragt und widmete sich der »Entwicklung touristischer Angebote für die Route der Industriekultur in OWL«. Im Jahr 2002 wurden vier Radrouten zu Standorten der industriellen Entwicklung erradelt, recherchiert, geschrieben und gestaltet. Das Ziel war die Bündelung der einzelnen Objekte zu vermarktbaren Paketen. Die vier RadRouten wurden speziell für Paare und Familien entwickelt, die in einem Umkreis von rund 20 Kilometern um den Ausgangspunkt erreichbare Industriekultur-Standorte erradeln und erfahren können. Das bisherige Angebot der Broschüre wurde erweitert und soll für Individualtouristen und Einheimische einen Einstieg in die regionalen Routen bieten. Besondere Nachhaltigkeit erhofft sich die Museumsinitiative vor allem von fünf Themenrouten, die Gruppen per Bus befahren können. Vereine, Gruppen und Busunternehmen können dieses Angebot mit Schwerpunkten abrufen und mit allen Nebenleistungen entweder in Museen oder bei Touristeninformationen buchen. Diese sind dann wahlweise mit Führung auf der ganzen Route, mit örtlicher Führung und teilweise auch ganz ohne professionelle Unterstützung möglich. Der Erfolg lässt sich voraussichtlich erst für das Jahr 2004 nachweisen, in dem die ersten Ausflugsplanungen von Unternehmen und Verbänden umgesetzt wurden. Im April 2003 wurden die Flyer rechtzeitig zur Planung der Fahrradsaison in Gegenwart des stellvertretenden Ministerpräsidenten des Landes NRW, Dr. Michael Vesper vorgestellt. Als Fachminister für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport in vielerlei Hinsicht zuständig, war Vesper vor allem in konditioneller Hinsicht ein Vorbild und radelte die rund 45 Kilometer zwischen Minden, Glashütte Gernheim und dem Besucherbergwerk Kleinenbremen immer vornweg im Pulk der Medienvertreter, Museumsleute, Politiker und Wähler. Die Medien berichteten darüber und über lokale Vorstellungen recht ausführlich und die Nachfrage nach den Radrouten-Prospekten war erfreulich hoch.1 Einzelne Stationen wurden später zudem mit Bannern ausgestattet, die auf die »Industriekultur in Stadt und Land« hinweisen. Sie zeigen markante Beispiele aus ganz OWL und verweisen auf die Internet-Domain – mit der Schlagzeile: »mehr Denkmale unter: www.industriekultur-owl.de«.

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Zwischenfazit der »Stationen der Industrieund Technikgeschichte in OWL« Die Bezeichnung als ›Epigone‹ hätte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projektes sicher dauerhaft geschmerzt. Aber unter dem Gesichtspunkt der touristischen Inwertsetzung lässt sich das mehrjährige Projekt sicher unproblematisch fassen – ohne darauf beschränkt zu sein. Das zu formulieren und dauerhaft zu markieren, ist Bedürfnis und wohl auch Erfolg des Projektes »Industriekultur in Stadt und Land – Stationen der Industriekultur in OWL«. Die Förderung des »Netzwerkes Industriekultur« ist bisher ein landespolitisches Ziel des Bundeslandes NRW, das damit in vielerlei Hinsicht auch Erfolge im Strukturwandel belegen kann. Das Land nutzte Kreativität, Kompetenz und Kontakte der Museumsinitiative, weil keine fertigen Konzepte für die Region übernommen werden konnten und deshalb alle Teilprojekte neu entwickelt und realisiert werden mussten. Die Projektentwicklung und -realisierung ist vor allem ein Lernprozess über die Region gewesen – einer, der lokale Blindheiten ebenso beseitigte wie er Erfahrungen anderer Kolleginnen und Kollegen (etwa in der Organisation des Fahrradtourismus) einspeiste. Auf den ersten Blick sind das alles keine Museumsaufgaben oder Kulturpflegeaufgaben, aber sie sind zunehmend wichtig, um Akzeptanz und Wahrnehmung zu sichern. Die Museen haben sich in OWL ihre kleine und sehr belastete eigene Infrastruktur geschaffen, die sie auch für diese Maßnahmen nutzten. Diese Strukturen waren Vorbild für die Zusammenarbeit mit vielen Kulturinstitutionen, aber ganz bewusst verstanden sich die Museen als ›neutraler, objektiver Partner‹ vieler Beteiligter in diesem Netzwerk der Inwertsetzung. Denn Museen und Musealisierung können nicht das Ziel aller Bemühungen um die bürgerliche Erinnerungskultur zum vielgestaltigen Industriezeitalter sein: Es muss viele Zwischenstufen geben, die letztlich der Erhaltung von originalen Zeugnissen der Geschichte, von Arbeit und Kultur des Industriezeitalters dienen. Musealisierung ist nur exemplarisch sinnvoll. Museen spielen in diesem Konzept der Inwertsetzung wichtigste oder gar Hauptrollen als Institutionen der Kompetenz für den Umgang mit Originalen und Erkenntnissen sowie der Information und Kommunikation darüber. Trotzdem sind Museen nur Partner unter vielen, die ebenfalls in schweren Zeiten leben. Wer dies berücksichtigt und sich nicht immer auf die eigene Bedeutung und Sachkenntnis zurückzieht, um nur für die eigene Gruppe zu arbeiten, der erreicht am ehesten das angestrebte Ziel der Wahrnehmung und damit Inwertsetzung. Inwertsetzung bezieht sich aber nicht allein auf die touristischen Massen.

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Sie zu erreichen ist das Ergebnis eines wesentlich breiter angelegten und hier geschilderten Prozesses in einer Reihe von Netzwerken. Diesen Prozess anzustoßen ist in Verwaltungen, bei Touristikern, historisch Interessierten, Objekteigentümern und Objektnutzern – sprich: vielen Multiplikatoren, auf deren Meinung es vor Ort ankommt – sicherlich gelungen. Ob das Publikum erreicht wurde, lässt sich noch nicht sagen – dafür sind die Erfahrungen noch nicht ausreichend. Es besteht aber die begründete Hoffnung, dass sich durch den Einsatz vieler kommunikativer Formen die ›Investitionen‹ öffentlicher Mittel in die Schaffung von Medien und Strukturen für das Bewusstsein für Industriekultur in Stadt und Land letztlich positiv auswirkt. Diese Hoffnung beruht vor allem auf der positiven Resonanz zu den Kurzinformationen der vier unterschiedlichen Fahrradrouten, die inzwischen an vielen Stellen nicht nur entnommen worden sind, sondern auch genutzt und für gut befunden wurden. Hier zeigt sich, wie kleinschrittig, ja kaum nachweisbar Nahbereichstourismus oder lokale bis regionale Geschichtsarbeit betrieben wird. Aber sie macht letztlich auch den Einheimischen die Industriegeschichte in ihrer Nachbarschaft sichtbar und sensibilisiert sie für die tiefgreifenden Veränderungen des 19. Jahrhunderts und ihre Fortsetzung. Anmerkungen 1 Die vier »Radkult(o)ur«-Routen für die Kreise Lippe (»Rund um Lage in Lippe. Auf den Spuren lippischer Ziegler«), Gütersloh (»Zwischen Rheda und Gütersloh. Schnaps, Nudeln und Waschmaschinen«), Minden (»Von Minden nach Gernheim. Mit dem Fahrrad zu den Glasbläsern«) sowie Herford (»Strom, Stoff und Leder«) sowie die »Buskult(o)ur«-Angebote unter dem Titel »Durchs Land der Schnapsbrenner, Ziegler und Glasbläser« sind als Faltblätter zu beziehen über: Westfälisches Industriemuseum Ziegelei Lage, Sprikernheide 77, 32791 Lage, [email protected] oder die Museumsinitiative in OWL e.V. – www.museumsinitiative-owl. de (gegen Versandkostenerstattung). Literatur Baumeier, Stefan (1999): »Zur Konstruktion einer Region/Kulturregion. Beobachtungen aus OWL«. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 44, S. 215-227. Berg, Margot (1985): »Kronkorken in Milliarden-Stückzahl made in Versmold«. In: Heimatjahrbuch Kreis Gütersloh, Gütersloh, S. 84/85. Ditt, Karl (2000): »Prinzipien und Perspektiven Landschaftlicher Kulturpolitik«. In: Archivpflege in Westfalen und Lippe 52, S. 30-42.

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Heinrich Lakämper-Lührs ➔ Stationen der Industrie- und Technikgeschichte in Ostwestfalen-Lippe

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Karl Kleineberg und Delf Slotta ➔ Auftrag und Projekte der »Industriekultur Saar GmbH«



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Industriekultur im Saarland – Anmerkungen zum Auftrag und den Projekten der »Industriekultur Saar GmbH«

Karl Kleineberg und Delf Slotta »Es sollte möglich sein, auf den Flächen und in den Räumen der vergangenen Schwerindustrie dieses Landes außergewöhnliche Lösungen für zukünftige Aktivitäten zu entwickeln. Das Bewusstsein für einen anderen, besonderen Weg, der eine neue Zeit bildhaft werden lässt, muss jetzt gebildet werden. Nicht abreißen ist die Devise, sondern mit starken Ideen zukunftsweisende Schauplätze für Arbeit, Forschung, Leben und Kultur zu entwickeln.« »Die Industriekultur wird in Zukunft weit mehr als bisher in den Mittelpunkt der Kulturpolitik gestellt, dies vor allem auch in Verbindung mit der Wirtschaftspolitik.« (Peter Müller, Ministerpräsident des Saarlandes, Januar 2000)

Zur Ausgangslage und zur Aufgabenstellung Der Raum Saarland-Lothringen-Luxemburg ist ein Schwerpunkt der Industriekultur in Europa und verfügt über einen hohen Bekanntheitsgrad als Industrieregion. Darüber hinaus zeichnen sich die industriellen Standorte durch eine Vielzahl produktbezogener, technologischer, architektonischer, infrastruktureller und geographischer Charakteristika aus. Ihre Wirkung verstärkt sich durch Dichte und Kombination industriekulturell bedeutender Orte – ein herausragendes Alleinstellungsmerkmal der Region. Vor allem im Saarland liegende Standorte sind zur Schaffung eines regionalen Profils und einer inhaltlich klaren, industriekulturellen Schwerpunktsetzung geeignet, als Beitrag zur Neuorientierung in der Kultur-, Wirtschafts- und Tourismuspolitik. Vor diesem Hintergrund berief die saarländische Landesregierung im Januar 2000 die achtköpfige Kommission »Industrieland Saar«, die im September 2000 der Landesregierung ihre Empfehlungen in Form des Berichts »IndustrieKultur Saar« dargelegt hat. Die Kommission plädiert dafür, die spezifische Faszination, die Industriedenkmäler und Orte haben, für wirtschaftliche Standortentwicklung zu nutzen. Industriekultur zeugt von einer großen Vergangenheit und wirkt in diesem Sinne anregend in die Zukunft. In ihrem Um-

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feld sollen Erlebnisschauplätze entstehen und interessante Standorte vielfältig entwickelt werden. In diesem strukturfördernden Zusammenhang werden industriekulturelle Orte auch zu touristisch nutzbaren Angeboten. Zur Umsetzung dieser Vorgaben ist im Jahr 2001 die »Industriekultur Saar GmbH« (IKS) gegründet worden, deren Aufgaben in der Förderung und Unterstützung des Strukturwandels bestehen. Strukturwandel heißt nicht Strukturbruch, sondern bedeutet Prozess, Entwicklung und Evolution. Konkret bedeutet Wandel: aus den herausragenden Eigenschaften des Vergangenen das Neue zu entwickeln. Nicht wegwerfen, sondern aufheben, einbauen und das Neue nutzen ist die Devise – neue Sichten auf alte Gewohnheiten! Dazu muss die Industriekultur ›in die Zukunft gedacht werden‹. Die Zukunft wird nicht aus den Trümmern der Vergangenheit gebaut, sondern aus deren Qualitäten. Die Orte der Industriekultur, die Räume der Industrienatur müssen neu belebt werden. Die sich wandelnde Gesellschaft und die sie umgebende Industrielandschaft mitsamt ihren Hinterlassenschaften sind dazu aktiv in einen umfassenden gestalterischen Prozess einzubeziehen. Bilder aus dieser Landschaft, die Menschen und ihre Sinne positiv stimulieren können, sind zu entdecken und zu fördern. Auftrag der IKS ist es somit im Einzelnen, über die Schaffung neuer Möglichkeiten für Wirtschaft, Arbeit und Umwelt den strukturellen Wandel im Saarland so mitzugestalten, dass er langfristig tragfähige Resultate hervorbringt und zudem Bestand in seinen Bildern hat. Industriekultur als Impulsgeber für den Strukturwandel zu verstehen bedeutet, zukunftsfähige Strategien für den Umgang mit der saarländischen Industriegeschichte und der industriellen Gegenwart zu entwickeln. Hier werden auf der einen Seite wirtschaftliche Erneuerungsprozesse intendiert, auf der anderen Seite ein anderer Blick für und auf die Objekte der Industriegeschichte erzeugt. »Strukturwandel« ist in der heutigen Zeit vielleicht das gebräuchlichste Wort in den traditionellen Regionen der Industrie. Wegfallende Arbeitsplätze und veränderte Rahmenbedingungen der Gesellschaft machen es notwendig, unerforschte Wege zu gehen, um dadurch den alten Wirkgefügen eine neue Bedeutung zu geben. Das Saarland geht diesen Weg des Strukturwandels aus einer über 250 Jahre erfolgreichen Industrieökonomie und Industriegesellschaft, deren Instrumente stumpf geworden sind, hinein in eine frische Lebendigkeit – mit neuer Sicht auf Altgewohntes. Diese nach vorn gewandte Strategie wird einzelne Schwerpunkte der saarländischen Industriegeschichte und der industriellen Gegenwart thematisieren. Die künstlerische und kulturelle Auseinandersetzung ist hierbei ein unverzichtbares Element. Das Ergebnis dieser Herangehensweise an den Strukturwandel soll anhand hochwertiger Projekte auf mehreren Industriekulturstandorten im Saarland erkennbar werden. Dazu wird die Industriekultur Saar GmbH die Areale

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der ehemaligen Bergwerke Göttelborn und Reden nachhaltig für wirtschaftliche, touristische und kulturelle Nutzungen entwickeln und betreiben. Diese Objekte wurden zu »Zukunftsorten« erhoben, an denen das ›neue Saarland‹ unter verschiedenen Leitbildern dargestellt und sichtbar wird. Zu den Aufgaben der IKS gehören die Überplanung, die Erschließung, das Marketing der Standorte sowie die Durchführung von kulturellen Veranstaltungen und Projekten. Ein überspannendes Netzwerk industriekultureller und industriewirtschaftlicher Entwicklungspunkte verknüpft das angrenzende Lothringen und Luxemburg mit dem Saarland. Routen der Industriekultur, der Industrienatur und der Landmarkenkunst verschmelzen durch bauliche und landschaftliche Elemente zu einem ›touristischen Projekt‹. Hierfür hat der Dialog ›vor Ort‹ begonnen. Die IKS begreift sich in diesem Zusammenhang als Teil der von der Landesregierung angeregten Bürgergesellschaft, die sich der wirtschaftlichen und kulturellen Profilierung und Erneuerung des Standortes Saarland verpflichtet fühlt. Zum (Selbst-)Verständnis der »Zukunftsstandorte« »Zukunftsstandorte« sind, wie es der Kommissionsbericht »Industrieland Saar« formuliert hat, herausragende Zeugnisse der Industrie, deren außergewöhnliches Erscheinungsbild den historischen Hintergrund und die Besonderheiten des Saarlandes ausdrucksvoll vor Augen führt. Sie faszinieren durch ihre landschaftlich-architektonische Gestaltung und ihre wirtschaftliche Bedeutsamkeit. Es gibt nur wenige dieser beeindruckenden Orte, sie fallen aus dem Rahmen und sind mit beliebigen Gewerbezonen und Konversionsgebieten nicht vergleichbar. Außergewöhnliche Orte müssen Raum für außergewöhnliche Ideen bieten, für Utopien und Machbares. Diese Orte eröffnen die Möglichkeit, Dinge anders zu sehen und selbstbewusst in eine wirtschaftliche und kulturelle Zukunft zu gehen. Vergangenheit und Gegenwart vereinigen sich hier und eröffnen Zeit und Raum für freie Denk- und Wirtschaftsstrukturen. Drei solche Orte sind im Kommissionsbericht als »Zukunftsstandorte« vorgeschlagen worden. Es sind – wie bereits erläutert – die ehemaligen Bergwerke Göttelborn und Reden sowie der Standort Völklingen mit dem Weltkulturerbe »Völklinger Hütte«, das von einer eigenen Betriebsgesellschaft (»Weltkulturerbe Völklinger Hütte – Europäisches Zentrum für Kunst und Industriekultur«) entwickelt und in diesem Beitrag deshalb nicht weiter behandelt wird (vgl. dazu den Beitrag von Norbert Mendgen in diesem Band). Die vorhandene Substanz an diesen »Zukunftsorten« wird erhalten und im Hinblick auf ihre Vergangenheit einer bedeutsamen Zukunft Gestalt gegeben. Diese »Zukunftsorte« sind jedoch in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Psychologisch spielt eine große Rolle, dass die Orte mit Heimat, Arbeitsplatz-

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verlust und der Notwendigkeit zum Strukturwandel identifiziert werden. Faktisch ist festzustellen, dass sie eine freigewordene, entwicklungsfähige Fläche haben, ein besonderes Gebäudeensemble, vorhandene Infrastrukturen und verfügbaren Raum für Neues. Es sind auch problematische Orte: Industriebrachen sind ein schwieriges Gelände. Die ehemaligen Gruben Göttelborn und Reden liegen zudem eher peripher, nicht in der Landeshauptstadt, nicht in unmittelbarer Universitätsnähe und sie haben (noch) eine schlechte Anbindung an den ÖPNV. Zusätzlich ist die Konversion dieser Orte kurzfristig gesehen teuer, steht aber zugleich unter hohem Zeitdruck. »Zukunftsstandorte« sind aber auch Orte der Hoffnung auf eine Zukunft mit neuen Perspektiven für das Land und die Menschen. Deshalb ist eine besondere Strategie erforderlich: Man muss den Standorten ungewöhnliche Attraktivität verleihen. Diese wird an der Qualität der Gebäude, der Landschaft, der Umwelt gemessen, aber auch an der Unabhängigkeit des Ortes und an der Gewährung von Freiheiten. So wird das Milieu eines Standortes geprägt. Ungewöhnlich sein heißt andersartig sein! Dafür braucht es ungewöhnliche, neue Themen, neue Vorgehensweisen und Formen. Zudem braucht es ›ungewöhnliche Menschen‹ als Pioniere der »Zukunftsstandorte« sowie Unternehmen, die für die »Zukunftsstandorte« und ihre Entwicklung Verantwortung übernehmen wollen. Gesucht werden Pioniere, die kritisch sind und die Freiheit, Neuigkeit, Internationalität und Raumqualität suchen. Wissenschaftler schaffen eine Basis für Unternehmen, die an den Standorten investieren. Künstler sind aufgerufen, ungewöhnliche und spannende Orte zu schaffen. Auch junge, neue und innovative Unternehmen sind Pioniere. Das Projekt wird bewusst und gezielt auf diese Gruppen setzen. Auch die Eliten werden zugelassen und angesprochen, denn diese tragen den notwendigen Anspruch an die Qualitätsstandards und fordern Exklusivität, ein wichtiger Aspekt zur Kommunikation des Projektes. Der Erfolg wird entscheidend von der gewählten Strategie zur Umsetzung des Projektes abhängig sein. Schon die Kommission »Industrieland Saar« hat vorgeschlagen, das Projekt auf wenige Orte zu begrenzen. Die Gründe liegen in den begrenzten finanziellen Möglichkeiten des Saarlandes, aber auch in der Notwendigkeit, das angestrebte Profil des Projektes zu schärfen, ›es auf den Punkt zu bringen‹. Die drei »Zukunftsstandorte« Göttelborn, Reden und Völklingen stellen jeder für sich eine große Herausforderung dar. Sie sind aus sich selbst heraus nicht zukunftsfähig, aber stellen das Rohmaterial dar, aus dem mit dem Mittel von Visionen, von Kreativität und Unternehmergeist etwas Neues geschaffen werden kann. Dennoch haben die Standorte Strukturen, die stark genug sind, im Sinne einer ›Metamorphose‹ einen echten Strukturwandel zu bewirken. Die Standorte müssen bearbeitet werden. Sie sollen den Anforderungen der Zukunft entsprechen und sollen Menschen, Institutionen und Unterneh-

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men an sich ziehen und binden. In diesem Verständnis gilt es, die an diesen Standorten vorhandenen Qualitäten der Industriekultur zu nutzen, die gleichermaßen Raumqualität und Erlebnis bietet. An diesen »Zukunftsorten« werden die Menschen in einigen Jahren arbeiten und forschen, sich weiterbilden, ihre Freizeit gestalten und Kultur schaffen und genießen. Die IKS ist inzwischen Eigentümer der ehemaligen Grubenareale Göttelborn und Reden geworden. Ziel ist dort nunmehr eine »zweite Schicht, bei der statt Kohle jetzt Wissen, Ideen, Kreativität und deren Umsetzung in marktfähige Produkte gefördert werden«. Der »Zukunftsort Göttelborn« Die 1886/87 gegründete Grube Göttelborn wurde im Jahr 2000 als letzter großer Bergwerksstandort im Saarkohlenwald, der den historischen Kern des Saarbergbaus darstellt, stillgelegt. Vor allem in den 1990er Jahren war die Anlage nochmals mit hohem finanziellem Aufwand modernisiert worden. Der hohe bauliche Standard, eine vergleichsweise überdurchschnittliche architektonische Qualität und der einzigartige Wert der Anlage als Zeugnis der Arbeitswelt des ausgehenden 20. Jahrhunderts veranlassten die Kommission und später dann die Regierung des Saarlandes, die ehemaligen Tagesanlagen als Ressource des Strukturwandels von der Industrie- zur ›Wissensgesellschaft‹ zu nutzen. Das vom Frankfurter Büro »Mediastadt – Urbane Strategien« für den Zukunftsstandort Göttelborn entworfene städtebaulich-architektonische Strukturkonzept fokussiert im Begriff der so genannten »Cité« die ambitionierte Zielsetzung, Industriekultur gleichsam als Energiequelle einer Immobilienund Arbeitsplatzentwicklung am Beginn des 21. Jahrhunderts zu erschließen. Die »Cité der Industriekultur Saar« bildet das Zentrum der über den Standort Göttelborn hinausreichenden Aktivitäten der IKS als einer der Reformmotoren des Saarlandes. Göttelborn wird eine Sonderstellung einnehmen und gewinnen, wenn es gelingt, die ca. 120 Hektar Entwicklungsflächen auf mittlere Sicht (zehn Jahre) als Symbiose aus geschichtlichen Strukturen, Räumen, Elementen und Symbolen mit deren Umdeutung, Umbau und Ergänzung nach den Bedürfnissen der nachindustriellen Epoche zu gestalten. Im Bild der »Cité« vereinigen sich die vielfältigen Eignungen des Standortes mit den neuen Produktivitätsfaktoren der globalisierten Informationsgesellschaft: • Eine urban anmutende Dichte und eine städtebauliche Raumdimension versprechen eine Aufenthaltsqualität, welche die Sinne anregt und den gebauten Raum zum Erlebnis werden lassen kann. • Eine raummächtige Industrienatur ist integrativer Bestandteil der »Cité«.

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Sie bietet eine Komplementärwelt zum technischen, mediendurchdrungenen Alltag, der von virtuellen Räumen, Netzen und Orten geprägt ist. • Die Namen der Standortelemente wie zum Beispiel »Eindicker«, »SchwarzWeiß-Kaue«, »Landabsatz« oder »Kohlenwäsche« wecken Assoziationen, die für die Standortentwicklung genutzt werden können, bezeichnen sie doch das authentische Milieu der Unmittelbarkeit von Leben und Arbeiten, Natur und Technik, das die Kultur des Industriezeitalters spiegelt bzw. prägt. Abbildung 1: Ansicht des Zukunftsortes Göttelborn im August 2004 mit Teilen des Photovoltaikkraftwerkes, Haupthalde und der Silhouette der BergwerksTagesanlagen

Unter der Maßgabe, Industriekultur als Ressource zu begreifen, wird das Vorhandene für die Bedürfnisse des nachindustriellen Zeitalters gewichtet. Das Strukturkonzept unterscheidet im Einzelnen die Entwicklungsflächen »Stadt«, »Bühne« und »Park«. Der ehemalige Platzbetrieb des Bergwerks wird zur »Bühne«, zur Ausstellungsfläche für anzusiedelnde Gewerbebetriebe und öffentlichkeitswirksame Ausstellungen. Der Landschaftsbereich mit Bergehalde und Teilen des Absinkweihers wird als »Park« begriffen. Die gesamte Anlage erscheint als Ort mit typisch urbanen Merkmalen: räumliche Dichte, komplexe Gebäudetypologie, vielfältige Raumeindrücke und Erlebnisqualitäten, Wegeachsen und Plätze. Der Ort hat schon heute das Potential eines städtischen Zentrums. Durch die Mischung von Funktionen im Sinne

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eines Miteinanders von Arbeiten und Wohnen, Forschung und Entwicklung, Ausbildung und Freizeit wird der »Zukunftsort« mit Leben gefüllt. Ein flexibles und einfach zu realisierendes Planungskonzept erhält und entwickelt die Eigenheiten dieser ›Stadt‹, dieser »Cité der Industriekultur«. Mit kreativen Highlights wird die Bergbaulandschaft in Szene gesetzt. Das Strukturkonzept hebt folgende Elemente hervor: • die vorhandenen, zum Teil denkmalgeschützten Gebäude und neuen Flächen für die Ansiedlung von Betrieben; • die Arrondierung des Eingangs »Landabsatz« im Westen der Fläche; • die Entwicklung einer in Ost-West-Richtung verlaufenden »urbanen Achse« mit hoher Gestaltungskraft; • als Gegenstück die Planung einer »Landschaftsachse«, die ausgehend von Schacht IV in Richtung Halde zuläuft (Nord-Süd-Richtung); • das besondere Akzente setzende architektonische »Superzeichen« Schacht IV sowie Erholungs- und Entspannungsmöglichkeiten. Um Göttelborn für die Ansiedlung von zukunftsträchtigen Unternehmen attraktiv zu machen, wurden die Besonderheiten des Standortes in Workshops und Expertengesprächen gezielt herausgearbeitet und werden nun umgesetzt. Dazu gehören das gesicherte Planungsrecht, Ver- und Entsorgungssysteme sowie ein integriertes Kommunikationskonzept. In einem Gutachten des Saarbrücker »Instituts für Zukunftsenergiesysteme« wurden die Energiepotentiale des Standortes erarbeitet. Das Effizienzpotential im Gebäudebestand in Kombination mit dem Einsatz regenerativer Energien ist für Göttelborn von besonderer Bedeutung. Der zweiphasige, internetgestützte Wettbewerb »Werkstatt der Industriekultur« legte einen wichtigen Grundstein zur Entwicklung des gesamten Standortes. Gegenstand war der Umbau eines ehemaligen Kauen- und Werkstattgebäudes in ein integriertes Büro- und Kommunikationsgebäude. Eine fachübergreifend besetzte Jury hat aus 89 Arbeiten den Entwurf von »Augustin & Frank« (Berlin) als Sieger prämiert. Das moderne Büro- und Veranstaltungsgebäude soll ein Symbol des neuen Lebens und Arbeitens am Standort sein. Die Arbeiten am Gebäude wurden im Juli 2005 abgeschlossen. Die ehemalige Markscheiderei wurde für ein Unternehmen aus dem Bereich der Nanotechnologie zu einem kombinierten Büro- und Laborgebäude umgebaut. Additiv zum Bestand entstand ein attraktiver Neubau aus Glasbausteinen. Mit dieser Ansiedlung ist in Göttelborn eine erste Keimzelle in einem zukunftsträchtigen Wirtschaftszweig gelungen. Daneben ist auch eine Abteilung des Bergbaus (BDSB – Betriebsdirektion Sanierung von Bergbaustandorten) mit ca. 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf dem ehemaligen Grubengelände angesiedelt.

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Abbildung 2: Fördergerüst am Schacht Göttelborn IV – das ›Superzeichen‹ des »Zukunftsortes«

Derzeit entsteht auf dem ehemaligen Absinkweiher II der größte Photovoltaikkraftwerk der Erde. Die Wiesbadener »City Solar AG« hat auf einer Fläche

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von 16 Fußballfeldern mehr als 50.000 Module montiert, die rund 8,4 MWh Strom erzeugen. 3500 Haushalte können damit ein Jahr lang mit Energie versorgt werden. Damit das Kraftwerk visuell zu der entstehenden »Cité der Industriekultur« passt, sammelten Planer, Landschaftsarchitekten und die IKS Ideen für die Anordnung der Module. Ende 2004 verlagerte zudem eine weltweit tätige Firma, deren Kernkompetenzen in den Produktsparten Fluidtechnik, Elektronik und Hydraulik liegen, einen Teil ihrer Produktion in die umgebaute Betriebsmittelhalle. Zusätzlich zum 3700 m2 umfassenden Bestand werden 1000 m2 Freilager, 400 m2 Bürofläche und 700 m2 Produktionsfläche benötigt. In der Produktion sind über 100 Menschen beschäftigt und die Produkte finden Anwendung im Maschinenbau, der Mobil- und Kfz-Technik, der Energie- und Umwelttechnik, in Offshore-, Schiffbau- und Marinetechnik sowie in der Prozesstechnik. Damit hat sich im »GewerbeQuartier Göttelborn« ein wichtiger und zudem starker Ankermieter niedergelassen. Der »Zukunftsort Reden« Bereits seit dem 15. Jahrhundert ist nachweislich im Schiffweiler Raum nach Steinkohle gegraben worden. Der Bergbau im großindustriellen Maßstab setzte jedoch erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Der preußische Staatsminister Friedrich Wilhelm Graf von Reden (1752-1814) wurde namensgebend für die im Jahre 1847 im so genannten Grubenwald angehauene Schachtanlage, die ihre Anfänge in einem im Klinkenthal im Jahre 1846 angeschlagenen Wasserlösungsstollen hat. Die Grube Reden entwickelte sich in der Folgezeit, auch aufgrund ihrer Anbindung an die im Jahre 1852 eröffnete preußische »Saarbrücker Bahn«, glänzend. In den Jahren 1850, 1856, 1887 und 1914 wurden weitere Schächte niedergebracht. Entsprechend überzog ein ›Wald‹ von Fördergerüsten die Tagesanlagen dieser »Eisenbahngrube«. Am 29. Dezember 1995 wurden aus dem Schacht Reden V die letzten Kohlen gehoben. Die Anlage wurde daraufhin dem neuen Verbundbergwerk »Göttelborn-Reden« zugeschlagen. Nach dessen Stilllegung im September 2000 bleibt Reden Standort der zentralen Wasserhaltung für den Ostraum des Saarreviers. Nach der Schließung von Reden sind einzelne nicht mehr benötigte Betriebsgebäude abgebrochen worden. Vor allem die silhouettenprägende Aufbereitungsanlage verschwand. Der noch immer imposante Gebäudebestand, der in Teilen unter Denkmalschutz steht, wird dominiert von den hohen und markanten Fördergerüsten der Reden-Schächte IV (erbaut 1939) und V (1949) und dem zentralen Eingangsgebäude. Die Tagesanlagen liegen eingebunden in eine hochdifferenzierte Bergbaulandschaft, die durch ein dichtes Nebeneinander verkehrlicher Infrastrukturen, bergbaulicher Sied-

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lungselemente, bergmännischer Wohlfahrts- und Sozialeinrichtungen sowie großer Haldenkörper und Absinkweiher charakterisiert ist. Abbildung 3: Ansicht der Tagesanlagen der ehemaligen Grube Reden

Der Bergbau hat riesige Narben in der Landschaft des Saarkohlenwaldes hinterlassen, aber gleichzeitig auch das Landschaftsbild durch zahlreiche Kulturlandschaftselemente bereichert. Die imposanten Industrieflächen bilden den Nährboden für ein neues Arbeitsleben, das den Strukturwandel als ›Förderkorb‹ nutzt. Diese Landschaft mit dem Kern der ehemaligen Grube soll Bühne für eine Entwicklung sein, die für die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts steht. Umgeben von Parks und Gärten wird ein Gewerbepark für die Themen Natur und Technik, Biologie und Biotechnologie kreiert. Klare, moderne, lichtdurchflutete Architektur wird entstehen, die sich städtebaulich in das vorgefundene Ensemble einordnet und zur Landschaft passt. Die IKS will diesen Wirtschaftsstandort der Zukunft mit Planern, Architekten, Energieexperten, Naturfreunden, Investoren und vor allem den Menschen in der Region entwickeln. Der erste Schritt dazu war eine Planerwerkstatt, an der sieben renommierte Büros im Sommer 2002 beteiligt waren. Gefordert waren Ideen, die die Eigenart des Standortes bewahren und betonen: der Landschaftskoloss Halde mit Brachflächenvegetation und brennenden Kohlenherden, zwei kleine Spitzkegelhalden, ein devastierter Absinkweiher und eine Tagesbetriebsanlage mit Gebäuden und Freiflächen wurden planerisch zusammengeführt und in Szene gesetzt. Die Bausteine für den »Mas-

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terplan Reden« sind also Park, Garten, Gewerbefläche, regenerative Energien, Räume für Kreativität und Genuss, Dienstleistung und Verwaltung. Der vom Amsterdamer Büro »Vista – Vista landscape and urban design« vorgelegte Masterplan für das Gelände des ehemaligen Bergwerks Reden ist flexibel konzipiert und geht von einer Entwicklung in mehreren Phasen aus. Seine Umsetzung hängt nicht von einem großen Investor ab. Der Masterplan legt ein klares Grundgerüst für ein landschaftsarchitektonisches, ökologisches und städtebauliches Gesamtgefüge. Im Masterplan werden verschiedene Entwicklungsflächen unterschieden. Der denkmalgeschützte Altbaubestand erhält eine neue Identität durch die Ansiedlung kultureller und kommerzieller Nutzungen, das »Zentrum für Biodokumention« (Naturkundemuseum), das »Staatliche Konservatoramt«, öffentliche Veranstaltungsräume und einen zentralen Platz als Mittelpunkt inmitten der Altbauten, von dem aus die Gebäude erschlossen werden. Die östlich sich anschließenden und zum großen Teil unbebauten Bergwerksbereiche werden als Standort für Betriebe entwickelt; der kontaminierte Boden im Bereich der ehemaligen Kokerei Reden wird dazu abgedeckt. Terpen, erhöhte Rasenflächen mit unterschiedlichen Abmessungen, bilden das städtebauliche Grundgerüst. Auf ihnen ist eine leichte Architektur mit Gebäuden bis maximal fünf Etagen vorgesehen, die einen reizvollen Kontrast zum Altbaubestand formen wird. In diesen Bereichen sollen vor allem Betriebe wie Laboratorien, Wissenszentren und Dienstleistungsunternehmen angesiedelt werden. Dabei sollen die natürlichen Energiequellen des Geländes genutzt werden: das warme Grubenwasser, das aus 800 Metern Tiefe hochgepumpt wird, und die vorhandenen Substrate zur Produktion von Biomasse. Auf dem am tiefsten liegenden und am stärksten verunreinigten Gebiet entlang der Bahntrasse wird ein Wassergarten entstehen, in abgedichteten Bassins mit neu aufgebrachtem Substrat. Dieser Garten wird als ein Mosaik aus Feuchtbiotopen entwickelt, basierend auf drei unterschiedlichen Wassermilieus: dem warmen, salzhaltigen Grubenwasser, dem Regenwasser und einer Mischung aus beiden. Auf der Halde ist ein trockener Garten als Gegensatz zum Wassergarten vorgesehen. Die obere Haldenfläche wird dazu teilweise begradigt, wodurch die Halde sich wieder stärker vom natürlichen Relief der Umgebung abhebt. Hier liegt wasserdurchlässiger Boden, geeignet für vielfältige Trockenvegetationstypen. Das Wegesystem ist auf markante Sichtpunkte in der Umgebung ausgerichtet. Das ehemalige Absinkbecken des Brönnchesthalweihers wird zu einem flach ausgebildeten See umgeformt, der mit Regen- und Grubenwasser aufgefüllt wird, dass durch einen Schilfgürtel in den See fließt und so gereinigt wird. Das Wasser wird mittels einer Kaskade entlang der Haldenböschung zum Wassergarten geleitet. Die Industrienatur, die extensiven Bereiche der Fläche, formt eine Landschaft aus

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unterschiedlichen Waldtypen und Krautvegetationen, die die neuen Entwicklungsflächen säumen. In diesen grünen Gebieten wird das Amsterdamer Büro »B + B« einige Orte inszenieren. Ein informelles Wegenetzwerk verbindet diese miteinander zu einer Freizeit-Route, die unterschiedliche Zielgruppen ansprechen wird. Die Einbindung der umgebenden Region ist ein wichtiger Teil des Masterplans. Der »Zukunftsort Reden« wird, wie auch der »Zukunftsort Göttelborn«, Teil des Netzwerks der Industriekultur des Saarlands und somit Bestandteil der »Route der Industriekultur Saarland« sein. Nach Fertigstellung der Planung wird ein außergewöhnliches Gebiet entstanden sein, das über eine hohe Attraktivität verfügt. Der umwelttechnische, ökologische und gestalterische Einsatz des warmen, salzhaltigen Grubenwassers sowie der Umgang mit den kontaminierten Bereichen sind hierbei als einzigartig zu bezeichnen. Schiffweiler wird künftig einen einmaligen Park mit neuen öffentlichen Freiräumen, einem hochwertigen Betriebsgelände, exklusiven botanischen Gärten, einem See und verschiedenen kulturellen Einrichtungen besitzen. Abbildung 4: Masterplan des Büros »Vista« für den »Zukunftsort Reden« (Stand: August 2004)

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Seit Januar 2003 ist das Zentrum für Biodokumentation in einer dafür renovierten Halle ansässig. Das Zentrum beherbergt herausragende biologische, biogeographische und geologische Sammlungen des Saarlandes. Mit der Konzentration und Weiterführung dieser Sammlungen in Reden ist ihr Erhalt aus wissenschaftlicher und kultureller Sicht gesichert und der Grundstein für ein neuartiges Museum zur Biodokumentation, Natur, Technik und Bionik am Standort Reden gelegt. Vorgesehen ist, das markante denkmalgeschützte Kompressorenhaus (erbaut 1893) für das Landesdenkmalamt und das Institut für Landeskunde im Saarland nach einem Entwurf des Dresdner Architekturbüros »Knerer Lang« umzubauen. Das »Netzwerk der Industriekultur Saarland« Das Saarland unternimmt besondere Anstrengungen, um den Wirtschaftsfaktor Tourismus zu fördern. Der im Dezember 2000 vorgelegte »Touristische Masterplan für das Saarland« hat drei Spitzenthemen formuliert, die zu Produkten entwickelt werden sollen. Innerhalb des Spitzenthemas »Inszenierte Kulturgeschichte« werden der »Erlebbaren Industriekultur« eine wichtige Rolle und eine hohe Bedeutung zugewiesen. Als Beitrag zur Umsetzung der Vorgaben des »Masterplanes« konzipiert die IKS ein auch die Grenzen des Saarlandes zu Lothringen und Luxemburg überspannendes Netzwerk industriekultureller Attraktionen und industriewirtschaftlicher Entwicklungspunkte. Dieses »Netzwerk der Industriekultur Saarland« erhebt den Anspruch, die touristische Attraktivität des Landes durch die Nutzung der Hinterlassenschaften der industriellen Vergangenheit zu fördern. Gleichzeitig ist das Netzwerk aber auch ein Instrument zur Förderung der Standortattraktivität mit dem Ziel der Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen. Zudem dient es der Identifizierung der Bürgerinnen und Bürger des Saarlandes mit ihrem Land und dessen Geschichte und unterstützt den Erhalt wichtiger Objekte saarländischer Industriekultur. Das Netzwerk verbindet die Akteure und die wichtigen Standorte der Industriekultur im Saarland. Es ist ein Netzwerk ›der‹ Akteure für sich und die Nachfrager der Industriekultur an der Saar. Innerhalb des Netzwerkes sind die Träger ›vor Ort‹ für die Entwicklung und Umsetzung ihrer Projekte, Vorhaben und Einrichtungen selbst verantwortlich. Die IKS unterstützt die Akteure im Rahmen einer kontinuierlichen Aufbauarbeit (Stichwort: Hilfe zur Selbsthilfe) und als Impulsgeberin für innovative Projekte. Eine Beteiligung der IKS ist immer einzelfallbezogen. Das Netzwerk schließt Standorte der Industrien ein, die im Saarland von strukturbildender, landschaftsbildprägender und identitätsstiftender Wirkung sind. Hierunter fallen:

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der Bergbau auf Steinkohlen, Erz und Kalk; das Eisen- und Glashüttenwesen; Fayencerien, Cristallerien, Keramikmanufakturen; das Verkehrs- und Transportwesen; die Kraft- und Wasserwirtschaft; die Salzgewinnung; das Mühlenwesen; die Nahrungs- und Genussmittelindustrie sowie die Feinmechanik.

Die Auflistung lässt deutlich werden, dass das Land an der Saar im Zuge des Industrialisierungsprozesses zu einem hochdifferenzierten Wirtschaftsraum geworden ist, in dem die genannten Industriebranchen zeitgleich bzw. zeitversetzt wirksam geworden sind. Als ›Gegenstände‹ sind im Netzwerk präsent: • die Gebäude der Industrie (Fördergerüste, Hochöfen, Fabrikhallen etc.); • die Landschaftsbauten der Industrie (Halden, Absinkweiher, Brachflächen etc.); • die Industrielandschaften (repräsentative, großräumige Ausschnitte aus industriell geprägten Kulturlandschaften). Die Themen des Netzwerks interpretieren Aspekte der • • • • • •

Technikgeschichte; Architekturgeschichte; Wirtschaftsgeschichte; Geschichte der Industriegesellschaft; Landschaftsgeschichte; industriellen Kunst und Kultur.

Gleichzeitig greift das Netzwerk die Herausforderung auf, zukunftsweisende neue Lebensräume und Arbeitsfelder zu schaffen. Es soll eine lebendige Dynamik entfalten, um • Projekte und neue Nutzungen auf Standorten der Industriekultur zu entwickeln oder zu unterstützen; • diese Projekte und Nutzungen mit anderen Feldern der Regionalentwicklung und Strukturförderung zu verknüpfen und damit lokale Potenziale des Raumes zu mobilisieren; • eine inhaltliche und programmatische Koordination der Aktivitäten und Standorte des Netzwerkes zu erreichen;

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• durch ein stringentes ›Corporate Design‹ und gemeinsames Marketing die Attraktivität der Einzelstandorte zu erhöhen und regionalwirtschaftliche Gesamteffekte zu erzielen; • die Verknüpfung der Standorte durch ein Beschilderungssystem und gezielten Medieneinsatz zu verbessern; • mit standortübergreifenden (temporären) Konzepten und Aktionen mit künstlerischer oder edukativer Ausrichtung die Öffentlichkeitswirksamkeit der Industriekultur im Saarland im Allgemeinen und die Attraktivität der Netzwerkstandorte im Besonderen zu steigern; • als Bestandteil des neuen touristischen Profils des Saarlandes industriekulturelle Angebote in eine umfassende regionale Tourismusstrategie einzubinden, wobei Synergieeffekte mit industrietouristischen Produkten anderer deutscher oder europäischer Regionen gesucht werden; • die relevanten lokalen und regionalen Akteure einzubeziehen und zur Mitarbeit zu motivieren; • den Erfahrungsaustausch und die Zusammenarbeit der Akteure im Netzwerk zu stärken und • die Qualität der Projekte, Nutzungen und Aktionen zu sichern. Das Netzwerk ist die geeignete Plattform, standortübergreifende industriekulturelle Ideen, Konzepte und Aktionen zu entwickeln und durchzuführen. Diese werden stattfinden in Form: • • • •

des Konzeptes einer »Route der Industriekultur«; einer Konzeption zu »Räumen der Industrienatur«; von »Landschaften der Industriekultur« und von Kunst- und Kulturprojekten, welche von der IKS geplant werden.

Die »Route der Industriekultur« verbindet die Standorte des Netzwerkes, die verkehrstechnisch, programmatisch und/oder thematisch miteinander verknüpft sind. Sie sind Bestandteil des neuen touristischen Profils des Saarlandes. Die »Räume der Industrienatur« sind kleinräumige Elemente von Industrielandschaften. Die außerordentlich spektakuläre Halden- und Absinkweiherlandschaft des Saarlandes, ergänzt durch großflächige Industriebrachen und weitere industriell entstandene Sonderstandorte sind der Fundus, aus dem die Wirkung von Industrie auf Natur und Landschaft gezeigt werden kann. Die »Landschaften der Industriekultur« sind großräumige Ausschnitte aus industriell geprägten Kulturlandschaften. Sie sollen Zusammenhänge der industriellen Entwicklung in der Saarregion vermitteln und die unterschiedlichen Epochen der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung bzw. der Industrialisierung im Kontext der Gesamtentwicklung des Raumes reflektieren. Von »Landschaften der Industriekultur« werden Mehrdimensionalität und emo-

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tionaler Zugang, ein spezifisches Thema (›Story‹), eine Bezugnahme auf die Geschichte der Industriegesellschaft sowie ein hohes Maß an Informationsgehalt und nachvollziehbare Gesamtzusammenhänge (etwas, was sich über die Vergangenheit hinaus in die Gegenwart erstreckt, also ein lebendiges Gebilde) erwartet. Für die »Landschaften der Industriekultur« soll ein integriertes Gesamtkonzept entworfen werden. Die »Kunst- und Kulturprojekte« des Netzwerkes der Industriekultur dienen der Belebung des Netzes und können Anregungen für die Auseinandersetzung mit den Standorten sein. Sie sind an den Interessen der Veranstalter orientiert. Das Stattfinden von Kunst ist einer der wichtigsten Aspekte zur dauerhaften Belebung des Netzwerkes. Die Behandlung von Standorten und Themen im Netzwerk orientiert sich an folgenden Prinzipien: • Das »Netzwerk der Industriekultur Saarland« muss den Anforderungen unterschiedlichster Benutzergruppen gerecht werden. Es gibt offensichtlich einen erheblichen generationsabhängigen Unterschied hinsichtlich des Interesses an Industriekultur und der Geschichte dieser Epoche. Deshalb sind neben den historischen vor allem die aktuellen Bezüge, die Verbindung zu den Lebenssituationen und Bedürfnissen der heutigen Gesellschaft sowie das Aufzeigen von Zukunftsoptionen von besonderer Bedeutung. • Vorhandenes soll aufgegriffen werden: Die spezifische Situation ›vor Ort‹ ist der Ausgangspunkt aller Überlegungen und Aktivitäten. • Dabei konzentrieren sich diese Aktivitäten nur teilweise auf den Denkmalschutz. Vielmehr sollen vielfältige Strategien und Ansätze zur zukunftsfähigen Entwicklung der Standorte aufgezeigt werden. • Den verschiedenen Aspekten der industriellen Entwicklung dies- und jenseits der Grenzen des Saarlandes muss im »Netzwerk der Industriekultur Saarland« eine besondere Bedeutung zukommen. Das Gemeinsame in den Vordergrund stellen und Unterschiede gewinnbringend einsetzen – im Sinne einer zukunftsweisenden, grenzüberschreitenden Entwicklung. • ›Lebende Industrien‹ sollen ein aktiver Bestandteil des Netzwerks werden. • Interesse und Neugierde für industriekulturelle Projekte werden geweckt, indem die Industriekultur ›personifiziert‹ wird und Geschichten (›Storys‹) über Personen, Objekte, Räume und Landschaften erzählt und inszeniert werden (»Soziale Industriekultur«). Industriekultur muss anregend aufbereitet dargeboten werden und neugierig machen. • Das Netzwerk sichert dabei die Qualität von Projekten, Aktivitäten und Angeboten. Die planerischen Arbeiten zur inhaltlichen Formulierung des »Netzwerks der Industriekultur Saarland« sind geleistet. Das konzeptionelle Fundament ist

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mit der Vorlage des Masterplanes im April 2003 gelegt worden. In ihm sind die programmatischen, thematischen und organisatorischen Eckpunkte des Netzwerkes formuliert, die in Einzelgesprächen und Konferenzen mit den Akteuren ›vor Ort‹ und in einer Workshopfolge 2002, die aus zwölf Veranstaltungen bestand, entwickelt worden sind. Dabei waren weit über 100 Vertreter wichtiger Einrichtungen und Organisationen in den Konzeptfindungsprozess eingebunden. Beim Aufbau des Netzwerks, für den ein mehrjähriger Zeitraum veranschlagt ist, gilt als Prämisse: »Mit dem Machbaren« anfangen! Zunächst wird eine erste Ausbaustufe des Netzwerks angestrebt. Die Auswahl der Objektcluster und Räume für diese ›erste Ausbaustufe‹ folgt einem pragmatischem Ansatz: Im Netzwerk werden Objektcluster zu »Aktionsräumen« der Industriekultur zusammengefasst. In diesen »Aktionsräumen« sollen konkrete Maßnahmen und Projekte, die das industriekulturelle Erbe als Ansatzpunkte für eine Aufwertung der Region nutzen, aktiv unterstützt oder initiiert werden. Zudem werden wenige Einzelstandorte assoziiert. Die Organisation im Netzwerk soll die Einzelstandorte und -projekte stärken und Synergieeffekte nutzbar machen. Die nächsten Schritte der IKS verfolgen unterschiedliche Ansätze: • Mittels eines Top-Down-Ansatzes entwickelt die IKS spezifische standortübergreifende Projekte in Eigenregie. Hierzu führt sie Projektwerkstätten durch und sucht Umsetzungspartner. • Mit einem Bottom-Up-Ansatz unterstützt die IKS besondere Projekte in den »Aktionsräumen in der Umsetzung«. Dazu lobt die IKS einen Wettbewerb für gute Projekte des Netzwerkes aus. • Mit einem Kooperationsansatz bringt die IKS mit regionalen Partnern gemeinsam Projekte ›auf den Weg‹.

Zur Auswahl der Objekte – die (vielleicht) schwierigste Aufgabe Die Auswahl der Objekte ist nicht abgeschlossen, derzeit werden 24 so genannte »Aktionsräume« im Entwurf des Netzwerk-Masterplanes als Projekte vorgeschlagen. Das »Netzwerk der Industriekultur Saarland« ist ein offenes System, das zusätzliche (spätere) Beteiligungen ermöglicht. Bei der Auswahl der Objekte darf es keine willkürlichen Entscheidungen geben. Vielmehr müssen Selektion und Zusammenstellung gemäß den inhaltlichen Vorgaben des Projektes erfolgen. Das Heranziehen der Qualitätskriterien des Netzwerkes dient dazu, die getroffene Auswahl zu begründen. Die Auswahl von »Aktionsräumen« ist nicht einfach, insbesondere wenn man sich die Vielzahl industriekulturell bedeutsamer Objekte und Räume,

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Projekte und Vorhaben in der Region vergegenwärtigt. Deshalb wurde für die erste Ausbaustufe des Netzwerks eine umsetzungsorientierte Herangehensweise gewählt, die zwei unterschiedliche Ansätze miteinander kombiniert. Zum einen wurde auf die Ergebnisse der Workshopfolge 2002 zurückgegriffen: Die Ergebnisse lieferten wertvolle Hinweise zu Bedeutung und Entwicklungspotenzialen von Einzelstandorten, Ensembles und Räumen. Darüber hinaus erbrachte der Workshop »Qualitätskriterien« einen Fundus an Indikatoren, anhand derer die Bedeutung und Entwicklungsoptionen industriekultureller Objekte sowie die Umsetzungschancen industriekultureller Projekte eingeschätzt werden können. Die Vielzahl an Aspekten wurde für die Erstauswahl auf insgesamt sieben Schlüsselkriterien eingegrenzt, die für eine Auswahl von »Aktionsräumen« besondere Relevanz entfalten. Diese umreißen für alle »Aktionsräume« die besonderen Alleinstellungsmerkmale im (inter-)regionalen Vergleich: • Der Raum weist eine sehr hohe Dichte an industriekulturellen Objekten auf, beinhaltet Ensembles, die für die Industriekultur an der Saar eine herausragende Rolle spielen oder in besonderer Art und Weise geeignet sind, komplexe räumliche und thematische Zusammenhänge der industriellen Vergangenheit und Gegenwart zu verdeutlichen. • Der Raum bzw. die industriekulturellen Objekte spiegeln die (historisch) relevanten Industriebranchen an der Saar wider und zeigen regional spezifische Entwicklungsmuster wie beispielsweise die ausgedehnten Haldenund Absinkweiherlandschaften. Insgesamt soll mit den »Aktionsräumen« eine Repräsentanz aller relevanten Industriebranchen erreicht werden. • Der Raum besitzt einen hohen dokumentarischen Wert für die Industriekultur an der Saar und damit eine besondere Eignung, industriekulturelle Themen und historische Entwicklungen, Abfolgen und Zusammenhänge zu verdeutlichen. • Die Einzelobjekte oder Ensembles in den »Aktionsräumen« sind von herausragender Aussagekraft und von hohem Symbolgehalt, der wiederum eine besondere emotionale Wirkung in den Menschen erzeugt. • Die Einzelobjekte oder Ensembles besitzen exzeptionelle ästhetische Qualitäten oder eine besondere Raumwirkung. • Im »Aktionsraum« gibt es bereits funktionierende Trägerschaften für industriekulturelle Einrichtungen bzw. Projekte. Lokale Initiativen initiieren, unterstützen oder betreiben die Umsetzung industriekultureller Projekte. Einrichtungen und Projekte besitzen bereits öffentliche Akzeptanz. • (Ansätze für) Revitalisierungsprojekte zeigen beispielhaft geeignete Lösungen für Folgenutzungen auf industriellen Altstandorten auf.

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Für alle ausgewählten »Aktionsräume« wurden im Rahmen einer Kurzbewertung diese Kriterien aufgegriffen, um die Auswahl zu begründen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass alle Kriterien erfüllt werden, aber Auswahl und Zuschnitt des »Aktionsraumes« sollen transparent und nachvollziehbar sein. Im Rahmen der Tagung führte eine von der IKS zusammengestellte und geführte Exkursion zu ausgewählten Standorten des »Netzwerks der Industriekultur«. Die Stationen und Inhalte der Exkursion sind im nachgestellten Exkurs erläutert. Zur Kultur der Industriekultur Die Kultur der Industriekultur spielt eine wichtige Rolle im Gesamtkonzept der IKS. Die kulturellen Angebote sollen von Qualität, Authentizität, Kreativität und Innovation zeugen. Die Kultur ist somit Motor und das Bindemittel dieses besonderen Strukturwandelprojektes und wird in diesem Sinne zur Kommunikation des Projektes eingesetzt. Die Kultur der Industriekultur soll sechs Kriterien erfüllen: • • • •

eine neue Verortung von Kunst im Raum und in der Landschaft; den industriekulturellen Raum zum Protagonisten der Werke machen; einen kulturellen Schwerpunkt im Saar-Lor-Lux-Raum bilden; eine überregionale Ausstrahlung durch eine unverwechselbare Identität erzielen; • nationale und internationale Koordinationen und Kooperationen anstreben; • eine Nachhaltigkeit durch ein geschärftes Profil erreichen. Das Kulturprogramm der IKS steht für Kreativität, Mobilität, Bewegung und Rhythmik, für Innovation und Erneuerung. Es wird in besonderer Weise die künstlerische Reflexion in den Orten, Positionen und Situationen der Industriekultur suchen und dabei die Dialektik in Urbanität und Landschaft sowie die Ambivalenz von Natürlichkeit und Künstlichkeit (Natur und Kunst) aufzeigen. Die Kultur der Industriekultur belegt die Energiepotenziale, Perspektiven und die Unverwechselbarkeit der Zukunftsstandorte in ihren Themen und Funktionen. Damit ist die Kultur ein wichtiger strategischer Baustein des Strukturwandels auf den Standorten der IKS und im Saarland. Das Aufzeigen der besonderen Qualitäten und der Attraktivität der Standorte ist eine große Herausforderung des Gesamtprojektes. Künstler kreieren Orte, reagieren auf Orte, entdecken Orte, fixieren und markieren Orte, machen Orte erlebbar, (re)aktivieren Un-Orte, definieren Orte und Räume neu, entwickeln schöpferische Potenziale in Innen- und Außen-, in Um- und

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Zwischenräumen der Industrielandschaft und sind so unverzichtbarer Bestandteil eines nachhaltigen Strukturwandels an den Zukunftsstandorten. Welche Bedeutung haben Kunst und Kultur für das Gesamtprojekt der IKS und für die Entwicklung neuer Standorte? Kunst und Kultur stehen für neue Perspektiven, für kultiviertes Leben, ein Image der (auch wirtschaftlichen) Erneuerung. Kunst und Kultur erweitern die Bedeutungsebenen der Orte, rekonstruieren Vergangenheit und aktivieren Zukunft. Kunst und Kultur lassen Veränderungen wahrnehmen, Aufmerksamkeit intensivieren und Unverwechselbarkeit artikulieren. Kunst und Kultur sind eine Möglichkeit, Regionalität zu globalisieren. Das Kulturprogramm der IKS besetzt im Grundsatz alle künstlerischen Disziplinen wie Installationen, Environment, Performance, Aktion, Licht, Sprache, Klang, »Bild«, Konzeptkunst, Video/Film/Foto sowie die neuen Plattformen des Internet. Die Materialien und Ideen rekrutieren sich aus dem Kontext Industrie, dem Fundus Architektur und dem Substrat Natur. Die Industriekultur Saar soll über den gesamten Zeitraum von zehn Jahren kontinuierlich wirken. Damit wird der notwendigen Inwertsetzung der Industriekultur (keiner Eventkultur) eine Basis gegeben, die nachhaltig und dauerhaft den Strukturwandel tragen kann. Exkurs: Informationen zur Exkursion »Netzwerk der Industriekultur Saarland – eine Rundfahrt zu ausgesuchten Standorten« Zum Auftrag der IKS gehört die Entwicklung eines Netzwerks industriekultureller Attraktionen und industriewirtschaftlicher Entwicklungspunkte. In ihm verschmelzen unterschiedlich geartete bauliche und kulturlandschaftliche Elemente zu einem neuen, überwiegend touristisch ausgerichteten Projekt. Es soll sowohl die historischen Wurzeln der Region dokumentieren als auch deren Willen und Fähigkeit, sich neu zu positionieren. Im Rahmen der Exkursion werden exemplarische Standorte vorgestellt, die Intentionen und Inhalte des Netzwerks repräsentieren. Station 1: St. Ingbert: Werks- und Siedlungsensemble »Alte Schmelz« Die »Alte Schmelz«, das Werk und die Siedlung des ehemaligen St. Ingberter Eisenwerks, ist ein einzigartiges Ensemble der Industriekultur und für die Sozial- und Industriegeschichte der Region von herausragender Bedeutung. Sie ist ein bedeutendes Zeugnis unternehmerischer Wohnungsfürsorge und ein gutes historisches Beispiel für die enge Nachbarschaft von Wohnen und Arbeiten. An der Vielfalt und Vollständigkeit der Industriebauwerke und Wohngebäude lassen sich heute noch alle Phasen der Entwicklungsgeschichte der 1733 gegründeten »Alten Schmelz« nachvollziehen. Ihre reizvolle Architektur und individuelle Gestaltung verdeutlichen den zur Zeit ihrer Entstehung vorherrschenden technischen Stand und architektonisch-künstlerischen Stil. Da-

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rüber hinaus spiegelt die Anordnung der Gebäude die klaren werksinternen sozialen Strukturen und Hierarchien patriarchalisch geführter Großbetriebe des 18. und 19. Jahrhunderts wider. Die verschiedenen Arbeiterhaustypen und die vergleichsweise sehr aufwendigen Wohn- und Verwaltungsgebäude der Eigentümer befinden sich in unmittelbarer Nähe zum eigentlichen Produktionsgelände. Abbildung 5: Werk Alte Schmelz – Möllerhalle (1750) und Feuerwehrgebäude

Besonders die Unternehmerfamilie Krämer, die über 100 Jahre das Eisenwerk erfolgreich zur Blüte führte und damit maßgeblich die Entwicklung der Stadt St. Ingbert gefördert hat, versorgte ihre Arbeiter umfassend mit wichtigen und zu ihrer Zeit innovativen Dienstleistungen. Neben der Bereitstellung von Wohnraum mit Garten und Viehställen dienten auch ärztliche Betreuung in Praxis und Hospital, eine Kranken- und Pensionskasse, Schule, Badeanstalt und Konsumverein einer hohen Identifizierung der Arbeiter mit ihrem Unternehmen. Verstärkt durch die alles umfassende Mauer und die Beschäftigung eigener Handwerker für die Instandhaltung von Gebäuden und Maschinen wirkte die »Alte Schmelz« bis in die jüngste Vergangenheit wie eine kleine autarke Stadt innerhalb der Stadt St. Ingbert. Momentan befindet sich die »Alte Schmelz« in einer Phase des umfassenden Wandels. Nach dem Rückgang der Produktion geht es einerseits um die Wiederbelebung brachgefallener Flächen und Gebäude. Andererseits engagieren sich zahlreiche Akteure um das Bewahren dieses wichtigen Stückes St. Ingberter Industriegeschichte. Getreu der Devise: »Aufbruch statt

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Abbruch« wurde die gesamte frühere Werkssiedlung mit Schlafhaus, Arbeiter-, Angestellten- und Meisterhäusern denkmalschutzgerecht saniert. Die klassizistische Hauptverwaltung oder die Umformerstation werden heute noch vom Drahtwerk St. Ingbert genutzt. Für die alte Möllerhalle (1750), eines der ältesten Industriebauwerke Deutschlands, für das barocke Herrenhaus, ehemals Wohnsitz der Familie Krämer, oder für die im Stil des Historismus gestaltete Mechanische Werkstatt mit ihrem bemerkenswerten basilikalen Querschnitt sind, als Ergänzung zum Wohnen und Arbeiten, Kulturund Freizeitnutzungen vorgesehen. Von Zeit zu Zeit finden hier bereits Ausstellungen, gesellschaftliche Veranstaltungen und Konzerte statt. Abbildung 6: Zeugnisse eines frühen Bergbaus in Heiligenwald – Grabenpingen im Saarkohlenwald

Station 2: Heiligenwald – Merchweiler – Wemmetsweiler: Pingen, Schürfe und Hohlwege – Relikte des ›frühen Bergbaus‹ im Naherholungsraum Itzenplitz Der Saarbergbau hat eine lange Geschichte. Die Gründe dafür liegen in der Struktur und der Lage der Steinkohlenlagerstätte. Im Saarkohlenwald, einer zwischen Saarbrücken und Neunkirchen gelegenen Waldlandschaft, stehen die kohlenführenden Schichten des Saarkarbons oberflächennah an. An vielen Stellen streichen die so genannten Flöze an der Tagesoberfläche aus. In zahlreichen urkundlichen Erwähnungen aus dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit wird bereits von einem »wilden Kohlegraben am Flözausgehenden« berichtet. Dabei handelte es sich noch nicht um einen kunstgerech-

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ten Bergbau mit wirksamer Wasserlösung. Vielmehr wurde die Steinkohle von den Kohlegräbern plan- und regellos mit primitivem Gezähe, also Feldhacken und Spaten, gewonnen. Die mehr oder weniger zufällig aufgefundenen Abbaupunkte wurden in Streichrichtung der Flöze vorangetrieben. Dabei entstanden Hohlformen, die so lange genutzt wurden, bis die Flöze mit den damaligen technischen Mitteln nicht weiter abgebaut werden konnten oder aber die Hohlformen voll Wasser liefen. Solche im Rahmen der Kohlegewinnung entstandenen Kohlelöcher werden »Pingen« genannt. Daneben gibt es die Hohlformen der »Schürfe«. Zur Exploration der Lage und des Verlaufs der kohleführenden Schichten brachte der Bergbaubetreiber vor allem im 19. Jahrhundert großräumig Probe- und Suchbohrungen nieder. Sie sollten helfen, verloren gegangene Kohlenflöze wieder aufzufinden und ein vollständiges Bild der karbonen Lagerstätte zu zeichnen, dienen also nicht der Kohlegewinnung. Sie treten vergesellschaftet auf und bilden in der Regel lineare Strukturen aus. Spuren und Relikte von solch frühen bergbaulichen Aktivitäten haben sich in besonders einprägsamer Weise im Bereich des Naherholungsraumes Itzenplitz, der von den Siedlungen Merchweiler, Wemmetsweiler, Heiligenwald, Landsweiler-Reden, Bildstock und Maybach umschlossen wird, erhalten. Vor allem im Waldgebiet zwischen dem Altsteigershaus und dem Itzenplitzer Weiher ist eine Vielzahl von Relikten dieses frühen Bergbaus beobachtbar. Alleine hier haben sich über 350 Pingen erhalten, die dem Zeitraum vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zuzurechnen sind und eindrucksvolle Landschaftsbilder erzeugen. In diesen stark hängigen Landschaftsteilen streichen mehrere Kohlenflöze auf breiter Front aus. Die meisten Pingen zeigen ovale bzw. kreisförmige Grundrisse. Die Durchmesser dieser Oval- bzw. Rundpingen, gemessen am oberen Rand der Form, schwanken zwischen 3 und 11 Metern. Einige Hohlformen sind bis zu 5 Metern tief. Daneben existieren langgestreckte Grabenpingen. Der Abbau erfolgte durch das allmähliche, schrittweise Vortreiben der Abbaufront in die Böschung hinein. Hohe Aushubwälle begleiten die grabenförmigen Strukturen, die Längen von bis zu 40 Metern erreichen. Im Naherholungsraum Itzenplitz sind auch Teile des historischen Wegesystems erhalten geblieben. Breite Hohlwege, durch welche der Abtransport der Kohlen erfolgte, sind bis zu 4 Meter tief in das Relief eingekerbt. Das beschriebene Vorkommen von Zeugnissen der frühen Kohlegewinnung ist das besterhaltene und aussagekräftigste im gesamten Saarbergbau. Es bedarf jedoch des Hinweises, dass in den Notjahren der Weltkriege bis hinein in die 1960er Jahre in diesem Waldgebiet nochmals mittels der überlieferten Gewinnungsmethoden nach Kohlen gegraben worden ist. So erklärt sich auch der gute Erhaltungszustand des hier lokalisierbaren Formenschatzes.

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Station 3: Heiligenwald: Das Pumpenhaus im Itzenplitzer Weiher Der Itzenplitzer Weiher in Heiligenwald ist Kernraum des Naherholungsgebietes Itzenplitz. Er gilt als eines der gelungensten Beispiele für eine umfassende und erfolgreich durchgeführte Transformation einer ehemals bergbaulich genutzten Fläche in einen attraktiven Naherholungsbereich im Saarrevier. Blickfang inmitten der Weiheranlage ist das historische Pumpenhaus, eine technische Rarität, die in Deutschland einzigartig ist. Das Pumpenhaus gilt als Wahrzeichen von Heiligenwald und ist wie der Weiher bergbaulichen Ursprungs. Am 7. August 1860 war die exakt 1,87 Kilometer lange Lokomotiv-Zweigbahntrasse »Reden – Itzenplitz« in Betrieb genommen worden. Sie verband das an der »Sulzbachtalbahn« liegende, bereits im Jahre 1846 angeschlagene Bergwerk Reden mit den Itzenplitz-Schächten. Diese Grube war 1857 angehauen worden. Der Bau dieser Kohlentransportbahn machte die Schüttung eines Damms durch das Klinkenbach- und Kallenbachtal notwendig. In den Jahren 1878/79 wurde hinter dem Damm ein Teich angelegt. Zur gleichen Zeit entstand am nordwestlichen Weiherufer ein erstes Pumpwerk. Der Bahndamm diente nunmehr gleichzeitig als Staudamm. Die im Itzenplitzer Weiher angestauten Wässer des Klinken- und Kallenbachs wurden zur Speisung der Dampfmaschinen und als Reservoir für die Gruben Itzenplitz und Reden genutzt. Darüber hinaus wurden die gehobenen Grubenwässer in diesen Weiher abgeleitet. 1908 wurde das jetzige Pumpenhaus errichtet. Über kreisrundem Grundriss erhebt sich ein aus rotem Sandstein bestehender Quadersockel. Auf ihm liegt ein Umgang auf, der über einen Steg mit dem Ufer verbunden ist. Der weiß verputzte Maschinenraum wird durch große, halbrund geschlossene Fenster beleuchtet, deren ursprüngliche Verglasung noch weitgehend vorzufinden sind. Die Maschinen sind leider nicht mehr erhalten; die Tür stammt allerdings noch aus der Erbauungszeit. Den Baukörper krönt ein achtseitiges Schieferdach, das über einem ebenfalls verschieferten Abschlussgesims aufgesetzt ist. Eine vergoldete Dachspitze wurde als auffälliges Schmuckelement hinzugefügt. Das Itzenplitzer Pumpenhaus muss als besonderes Kleinod im Denkmalbestand des Saarbergbaus bewertet werden – es ist ein Unikat im deutschen Bergbau.

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Abbildung 7: Historisches Pumpenhaus im Itzenplitzer Weiher (erbaut 1907/08) – ein Unikat im »Deutschen Bergbau«

Station 4: Landsweiler-Reden: Zukunftsort Reden – Zechenhaus der ehemaligen Grube Reden Kernbau und Wahrzeichen der noch immer umfangreichen und eindrucksvollen Redener Tagesanlagen ist das großdimensionierte Verwaltungs- und Kauengebäude. Die Errichtung dieses Zechenhauses ist im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Grube zu einer Großförderanlage im Rahmen der Autarkiebestrebungen des Deutschen Reiches zu sehen. Reichsminister Hermann Göring hatte bei seinem legendären Propaganda-Besuch im November des Jahres 1935 auf Reden dieses Vorhaben angekündigt. Entsprechend investierte die »Saargruben AG« in den Auf- und Ausbau der Grube – und unter anderem auch in den Neubau eines modernen und repräsentativen Zechenhauses mit Badekaue, Lampenkaue, Steigerstuben, Verlesesaal, Magazin, Verbandsstuben, Markenkontrolle, Erfrischungsraum und Abstellraum für Fahr- und Motorräder. Schon im August 1936, also unmittelbar nach dem Abbruch der früheren in diesem Bereich stehenden Gebäude, setzten die Arbeiten zur Errichtung dieses nach damaligen Maßstäben sehr großen Zechenhauses ein. Der Rohbau des Gebäudes war im Juli 1937 fertiggestellt. Seine feierliche Einweihung und Inbetriebnahme erfolgte ein Jahr später im Beisein von Vertretern der Partei, der Behörden und der Belegschaft, wobei in den Berichten überwiegend der Begriff »Gefolgschaft« Verwendung findet. In der Festveranstaltung wurde immer wieder die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft des Saarberg-

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mannes betont, zugleich wurden die Leistungen der »Saargruben AG« seit der Übernahme der Saargruben am 1. März 1935 gepriesen. In ähnlicher Weise kommentierte die Presse das Ereignis. Die Saarbrücker Zeitung, die Saarund Blieszeitung, die Neunkircher Zeitung und die NSZ-Rheinfront berichteten ausführlich und in großer Aufmachung mit vielen Bildern. In den Schlagzeilen wurden sowohl das neue, für 4000 Bergleute ausgelegte Gebäude (»Ein mustergültiger Bau«) geradezu überschwänglich gelobt als auch dem Initiator (»Ein Vorschlag des Ministerpräsidenten wurde zur Tat«, »Grube Reden dankt Hermann Göring«) gehuldigt. Abbildung 8: Zechenhaus der Grube Reden mit Eingangssituation und Figur des »Saarbergmannes« von Fritz Koelle

Entstanden war ein großer, gewinkelter Baukörper. Dieser ist in den 1980er Jahren in der südlichen Verlängerung des Nordflügels erweitert worden. Die historischen Kernstücke des Gebäudes sind der Nord- und der Westflügel, wobei der Westflügel das Hauptportal aufnimmt. Der Ziegelbau wurde in zwei farblich unterschiedlichen rot-braunen Arten aus Birkenfelder Klinker errichtet. Symmetrien und rechte Winkel prägen sein Erscheinungsbild. Die bewusst sachlich gehaltenen Fassaden finden einen besonderen Blickfang im mächtigen, von Pfeilern unterteilten Eingangsportal. Es zeigt im Innern als Ornamente antikisierende Mäander-Bänder. Diese Motive sind Ausdruck einer strengen Architekturauffassung, wie sie der Nationalsozialismus für

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›wichtige‹ Gebäude anzuwenden pflegte. Eine zusätzliche Überhöhung erhält die imposante Architektur durch die überlebensgroße Skulptur des »Saarbergmannes«, die aus der Werkstatt des Bildhauers Fritz Koelle (1895-1953) stammt und in wunderbarer Weise mit der Eingangssituation korrespondiert. Der »Redener Hannes«, wie die Bergmannsfigur von den Einheimischen liebevoll genannt wird, ist ein aussagestarkes Beispiel für die heroisierende Darstellung des Arbeiters im Dritten Reich und lässt den Geist spüren, der ein solches Gebäude hat entstehen lassen. Der landesgeschichtliche Wert sowie die kunsthistorische und architektonische Bedeutung des Redener Zechenhauses sind hoch. Es ist im Denkmalbestand des Saarbergbaus das einzige Beispiel eines Großbaus aus den 1930er Jahren. Es muss in seiner für die Jahre des »Dritten Reichs« charakteristischen Monumentalarchitektur als hervorragendes, um nicht zu sagen herausragendes Dokument seiner Zeit bewertet werden. Station 5: Neunkirchen: Altes Hütten-Areal – Relikte des ehemaligen »Neunkircher Eisenwerkes« Neunkirchen galt als die Industriestadt des Saarlandes schlechthin. Tausende verdienten über Jahrhunderte hinweg in den Bergwerken und vor allem im berühmten Neunkircher Eisenwerk ihren Lebensunterhalt. In den 1960er Jahren war endgültig ›Feierabend‹ auf den Gruben »König«, »Dechen«, »Heinitz« und »Kohlwald«. Und auf der Hütte wurde 1982 der letzte Hochofen ausgeblasen. Der »Ort der Tausend Feuer«, der schon Johann Wolfgang von Goethe im Jahre 1770 so faszinierte, hatte aufgehört zu existieren. Heute wirbt die Kreisstadt mit dem Slogan »Neunkirchen – die Stadt zum Leben« und dem Kürzel »Neu(n)kirchen« für sich. Zu Recht – denn Neunkirchen hat sich vielfältige neue wirtschaftliche Grundlagen erarbeitet, ohne dabei seine montanindustrielle Vergangenheit zu verleugnen. Heute wie früher bestimmen die Hochöfen das Stadtbild und deren Silhouette. Von der ursprünglich aus sechs Konvertern bestehenden Gruppe sind zwei erhalten geblieben. Zusammen mit den zwischenzeitlich sanierten Winderhitzern, dem hohen Gasometer, den drei Gebläsehäusern und dem Wasserturm hat sich in der City ein noch immer eindrucksvolles eisernes Ensemble erhalten. Es trägt heute die Bezeichnung »Altes Hütten-Areal«. Das mit Lokalen und Kinos ausgestattete Freizeitzentrum findet in der historischen »Stummschen Reithalle«, die zur Kleinkunstbühne und zum Bürgertreff umfunktioniert worden ist, ein inhaltliches Gegenstück. Nachts erstrahlt dieses neue Stück Neunkirchen, das den umfassenden Strukturwandel der Stadt symbolisiert, in einer spektakulären Illumination. Der Strukturwandel und hier im Besonderen Neunkirchens Weg vom Montan- zum Dienstleistungszentrum wird zudem durch das »Saarpark-Center«, die größte und unmittelbar an das »Alte Hütten-Areal« angrenzende Einkaufsgalerie im Südwesten mit über 200 Geschäften und Lokalen

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repräsentiert. Mehrere Kulturwanderwege durchziehen das Stadtgebiet und die umgebende Industrielandschaft. Der »Neunkircher Hüttenweg« und die drei »Neunkircher Grubenwege« halten die Erinnerung an das bergbauliche und hüttenmännische Erbe der Kreisstadt wach und dokumentieren darüber hinaus Neunkirchens Weg in die ›Nach-Eisenzeit‹. Abbildung 9: »Altes Hütten-Areal« – Umwidmung des Wasserturmes des Neunkircher Eisenwerkes in einen Kinokomplex

Station 6: Neunkirchen-Heinitz: Halle der ehemaligen Kokereigasmaschinenzentrale Heinitz Ehemalige Betriebsgebäude, bergbauliche Siedlungsteile und Sozialeinrichtungen, Halden, Absinkweiher und ausgedehnte Industriebrachen bilden heute im Bereich der ehemaligen, im Jahre 1847 angeschlagenen und 1962 stillgelegten Grube Heinitz eine weite, faszinierende, bergbaulich geprägte Kulturlandschaft. Inmitten dieser Industrienatur hat sich ein monumentaler Hallenbau von großer Aussagekraft und hoher ästhetischer Qualität erhalten, der zweifelsfrei zum industriekulturellen Erbe des Saarlandes gerechnet werden muss: die ehemalige Kokereigasmaschinenzentrale Heinitz. Der Bau der Heinitzer Gaszentrale ist 165 m lang, 25 m breit und 15 m hoch. In ihm waren ursprünglich die so genannten Koksgasmaschinen und das eigentliche Kraftwerk untergebracht. Die 20-achsige Fassade wird von vier großen Querhäusern dominiert. Blickfang über dem Sandsteinquadersockel mit Strebepfei-

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lern ist eine Stahlskelettarchitektur mit korbbogig abgeschlossenen Fenstern, die durch Sprossen kleinteilig gegliedert sind. Die herausragende Gestaltung des Großbaues leitet sich aus der richtungsweisenden Funktion ab, welche dem Bauwerk einst zugekommen ist. Heinitz war das erste Großkraftwerk des Saarbergbaus und trug wesentlich zum Aufbau einer zentralen Kraftwirtschaft im Saarrevier bei. Am Ende des 19. Jahrhunderts war in einzelnen Gruben erstmals ein Bedarf an elektrischer Energie aufgekommen, der zunächst durch einzeln und dezentralisiert aufgestellte Kraftmaschinen gedeckt wurde. Aufgrund des schnell steigenden Bedarfs an elektrischer Energie stellte sich in der Folgezeit schnell heraus, dass die zahlreichen kleinen Aggregate den Anforderungen allein nicht gerecht werden konnten. Aus betrieblichen und auch aus wirtschaftlichen Gründen sah man sich gezwungen, vom dezentralen Versorgungsprinzip abzugehen und zentralisierte Grubenkraftwerke zu errichten. Als erstes solches Kraftwerk wurde mit dem Bau des Gaskraftwerkes Heinitz im Jahre 1904 begonnen, bei dem das anderweitig nicht verwertbare Kokereigas der Kokerei Heinitz zum Einsatz kommen konnte. Damals wurde also bereits das heute unverändert gültige Prinzip der Verstromung von ›Abfall‹-Energie für die Eigenversorgung angewendet. Schon Ende des 19. Jahrhunderts waren erste Erfahrungen mit einem Gasmotor in der Gasanstalt der Kokerei Heinitz gemacht worden. 1905 ging der erste Viertakt-Gasmotor der Firma »Ehrhardt & Sehmer« (Saarbrücken) mit einer Leistung von 600 PS in Betrieb. Er war gekoppelt mit einem Wechselstromgenerator, der eine Leistung von 500 Kilowatt hatte. 30 Kopper’sche Koksöfen lieferten das dazu nötige Gas. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten erfolgte der weitere Ausbau. Die Halle wurde 1905 bis 1909 erweitert, und nach dem Bau von weiteren 90 Koppersöfen wurden dort noch vier weitere Gasmotoren von 1200 PS und zwei Gasmotoren von 2800 PS aufgestellt. Die elektrische Leistung des Kraftwerkes betrug 10.200 Kilowatt, der erzeugte Drehstrom hatte eine Spannung von 10.600 Volt. 1906 konnte schon die elektrische Versorgung des Grubenbetriebes zum größten Teil übernommen werden. Das Kraftwerk kam erst 1937 zum Erliegen. Nach Außerbetriebnahme des Heinitzer Koksgaskraftwerkes wurden die Gas- und Dynamomaschinen verkauft und das Gebäude von der Kokerei weiter genutzt. Im äußersten westlichen Teil der Halle fanden drei Elektro-Kompressoren der »Dingler-Werke« und der Firma »Erhardt & Sehmer« Aufstellung. Sie dienten zur Verdichtung und Weiterleitung an Gasabnehmer. Nach Stilllegung der Kokerei im Jahr 1963 übernahm von 1965-1996 die Methangasabteilung der »Saarbergwerke AG« diese Kompressoren einschließlich der gesamten westlichen Gebäudehälfte. 1996 wurden die drei Grubengas-Verdichter zum letzten Mal angefahren. Zwei von ihnen sind im

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Dezember 1997 in das ostlothringische Petite-Rosselle zur späteren Aufstellung im Bergbaumuseum »Carreau Wendel« verbracht worden. Abbildung 10: Halle der ehemaligen Kokereigasmaschinenzentrale Heinitz – Gesamtansicht der Schaufassade

Schon aufgrund seiner Bedeutung für die Entwicklung des Saarbergbaus und seiner Kraftwirtschaft verdient dieses technische Denkmal erhöhte Aufmerksamkeit und Beachtung, sind doch in diesem Bauwerk die Anfänge eines jahrzehntelangen Ringens um gesicherte Energie greifbar. Darüber hinaus ist die Halle der Gaszentrale aber auch in architektonischer Hinsicht ein früher und richtungweisender Bau der Industriearchitektur, der entweder unmittelbar auf den 1901 entstandenen Pavillon der »Gutehoffnungshütte« (Oberhausen-Sterkrade) und der Deutzer Gasmotoren- und Maschinenfabrik, der auf der Düsseldorfer Industrie- und Kunstausstellung des Jahres 1902 präsentiert wurde, zurückzuführen ist oder aber auf die berühmte Maschinenhalle des Steinkohlenbergwerks »Zollern II/IV« in Dortmund-Bövinghausen. Wie dem auch sei – die Handschriften des Berliner Jugendstilarchitekten Bruno Möhring und des Statikers Reinhold Krohn sind auch bei diesem zum damaligen Zeitpunkt avantgardistischen Stahlskelettbau mit Backsteinausfachung eindeutig zu spüren. Die Ähnlichkeit der drei Architekturen geht bis in die großen Korbbogenfenster in den Querhäusern und sogar in die Flügelbauten hinein; die Gesamtgestaltung der Baukörper in der wechselnden Anordnung von Querhäusern gegenüber Langbauten belegt darüber hinaus die Abhän-

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gigkeit der Heinitzer Gaszentrale von den beiden bezeichneten Architekturen. Offensichtlich hat sich auch in Heinitz ein früher Stahlskelettbau von höchster Qualität erhalten, der in dem Jahr begonnen worden ist, in dem der Dortmunder Bau abgeschlossen werden konnte. Die Maschinenhalle in Dortmund-Bövinghausen – heute Sitz des Westfälischen Industriemuseums – wird inzwischen als ein Denkmal von nationaler Bedeutung gewürdigt. Einer ähnlichen Bewertung für das Heinitzer Beispiel steht nichts entgegen. Literatur Dettmar, Jörg (1999): »Die Route der Industrienatur«. In: IBA Emscher Park (Hg.), Industriekultur – Mythos und Moderne im Ruhrgebiet, Essen, S. 67-71. Dülmen, Richard Van (Hg.) (1989): Industriekultur an der Saar – Leben und Arbeiten in einer Industrieregion 1840-1914, München. Fehn, Klaus (1981): Preußische Siedlungspolitik im saarländischen Bergbaurevier 1816-1919 (=Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde im Saarland Band 31), Saarbrücken. Helfer, Malte (1990): Technik im Saarbergbau – historische Entwicklung und regionale Wirkung, Saarbrücken. Industriekultur Saar (Hg.) (2003): Cité der Industriekultur Saar – Standort Göttelborn, Strukturkonzept & urbane Strategie; erarbeitet von Wolfgang Christ, Mediastadt Urbane Strategien, Darmstadt; Göttelborn. Industriekultur Saar (2003): Netzwerk der Industriekultur Saarland – Entwurf des Masterplanes (Ms.), Göttelborn. Initiative Alte Schmelz St. Ingbert e.V. (Hg.) (2001): Die Alte Schmelz St. Ingbert – Informationsbroschüre Industriegeschichtlicher Rundweg, erarbeitet von Harald Glaser, St. Ingbert. Janssen, Thomas/Slotta, Delf (1996): Fördertürme im Saarbergbau, Saarbrücken. Kleineberg, Karl/Taube, Marion (1999): »Sinn und Bild in der Industrielandschaft«. In: IBA Emscher Park (Hg.), Industriekultur – Mythos und Moderne im Ruhrgebiet, Essen, S. 32-44. Kleineberg, Karl (2002): »Industriekultur Saar – Auf neuen Wegen zu neuen Zielen«. In: RAG-Magazin Heft 4, Essen. Liedtke, Herbert (1963): »Luftbild: Bergbaulandschaft zwischen Saarbrücken und Neunkirchen«. In: Die Erde 94, S. 93-97. Meyer, Sandra/de Visser, Rik (2003): »Masterplan für das Bergwerk Reden«. In: Topos – European Landscape Magazine Heft September, München, S. 69-75. Neunkirchen, Kreisstadt (Hg.) (1991): Neunkircher Hüttenweg (Informationsbroschüre), Neunkirchen.

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Autorinnen und Autoren

Günter Bayerl (Prof. Dr. M.A.) leitet den Lehrstuhl Technikgeschichte der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Er ist Herausgeber der Reihe »Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt«. Walter Buschmann (PD Dr.-Ing.) leitet das Referat Technik- und Industriedenkmale beim Rheinischen Amt für Denkmalpflege des Landschaftsverbandes Rheinland. Wolf P. Fehlhammer (Prof. Dr. Dr. h.c.) hatte von 1983 bis 1993 einen Lehrstuhl für Chemie an der Freien Universität Berlin inne und war anschließend bis Herbst 2004 Generaldirektor des Deutschen Museums in München. Jörg Feldkamp (Dr. phil.) ist der Direktor des Industriemuseums Chemnitz und seit 1999 Geschäftsführer des Zweckverbandes Sächsisches Industriemuseum. Axel Föhl ist seit 1974 Industriedenkmalpfleger im Rheinischen Amt für Denkmalpflege. Er ist Sprecher der Arbeitsgruppe Industriedenkmalpflege der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger. Seit 1992 hat er einen Lehrauftrag an der TU Braunschweig für die Geschichte der Industriearchitektur und ist Mitglied im Editorial Board von »Industrial Archaeology Review«. Susanne Hauser (Univ.-Prof. Dr. phil.) leitet das Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Architekturfakultät der Technischen Universität Graz. Sylvia Hladky (Dipl. Ing.) ist Leiterin des Verkehrszentrums des Deutschen Museums. Hartmut John (Dr. phil.) ist Leiter der Abteilung Museumsberatung und des Fortbildungszentrums Abtei Brauweiler im Rheinischen Archiv- und Museumsamt. Hans Kania arbeitete als Historiker von 1990 bis 1999 auf Zollverein und stellte den Antrag zur Aufnahme der industriellen Kulturlandschaft Zollverein in die Welterbeliste der UNESCO. Gerhard Kilger (Prof. Dr. rer. nat.) ist Direktor der DASA (Deutsche Arbeitsschutzausstellung) in Dortmund.

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Karl Kleineberg ist Geschäftsführer der in Quierschied-Göttelborn ansässigen Industriekultur Saar GmbH. Heinrich Lakämper-Lührs, Historiker und Theologe, war 1986-2002 am Stadtmuseum Gütersloh tätig, 1999-2003 Vorsitzender der Museumsinitiative in OWL e.V. und ist Wiss. Mitarbeiter im Stadtarchiv Gütersloh. Jaume Matamala ist seit 1991 Manager des Museu Nacional de la Ciència i de la Tècnica de Catalunya (mNACTEC). Ira Mazzoni (M.A.) ist freie Journalistin. In ihren Beiträgen für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hat sie sich wiederholt mit dem Themen Industriedenkmalpflege, Industriekultur und Museen kritisch auseinandergesetzt. Norbert Mendgen (Dipl.-Ing., Hauptkonservator) leitet die Abteilung »Denkmalbauhütte« und ist wissenschaftlicher Vertreter des Generaldirektors des Weltkulturerbes Völklinger Hütte, Europäisches Zentrum für Kunst- und Industriekultur. Hans-Ernst Mittig (jur. Assessor, Dr. phil.) war bis 1997 Universitätsprofessor für Kunstgeschichte an der Hochschule der Künste in Berlin. Reinhard Roseneck (Prof. Dr.-Ing.) leitete von 1996 bis 2003 das UNESCOWeltkulturerbe Rammelsberg. Er ist Vorstand des Oberharzer Museumsverbundes, Landesdenkmalpfleger in Niedersachsen und lehrt an der Universität Göttingen. Delf Slotta (Dipl.-Geogr.) ist Regierungs-Oberrat und Projektleiter »Netzwerk der Industriekultur Saarland« der in Quierschied-Göttelborn ansässigen Industriekultur Saar GmbH. Detlef Stender (M.A.) machte 1991-93 ein Volontariat am »Museum der Arbeit« in Hamburg und ist seit 1994 Leiter des Schauplatzes Euskirchen des Rheinischen Industriemuseums (Tuchfabrik Müller).

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:

Sonja Vandenrath Private Förderung zeitgenössischer Literatur Eine Bestandsaufnahme Oktober 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-417-4

Lutz Hieber, Stephan Moebius, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) Kunst im Kulturkampf Zur Kritik der deutschen Museumskultur Oktober 2005, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-372-0

Birgit Mandel (Hg.) Kulturvermittlung – zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing Eine Profession mit Zukunft September 2005, 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-399-2

Udo Liebelt, Folker Metzger (Hg.) Vom Geist der Dinge Das Museum als Forum für Ethik und Religion

Sabiene Autsch, Michael Grisko, Peter Seibert (Hg.) Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literaturhäusern September 2005, ca. 350 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-314-3

Hartmut John, Ira Mazzoni (Hg.) Industrie- und Technikmuseen im Wandel Perspektiven und Standortbestimmungen August 2005, 302 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-268-6

Franziska Puhan-Schulz Museen und Stadtimagebildung Amsterdam – Frankfurt/Main – Prag. Ein Vergleich Juli 2005, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-360-7

Tiziana Caianiello

September 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-398-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Der »Lichtraum (Hommage à Fontana)« und das »Creamcheese« im museum kunst palast Zur Musealisierung der Düsseldorfer Kunstszene der 1960er Jahre April 2005, 262 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 3-89942-255-4

Kathrein Weinhold Selbstmanagement im Kunstbetrieb Handbuch für Kunstschaffende März 2005, 320 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-144-2

Beatrix Commandeur, Dorothee Dennert (Hg.) Event zieht – Inhalt bindet Besucherorientierung von Museen auf neuen Wegen 2004, 196 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-253-8

Peter J. Bräunlein (Hg.) Religion und Museum Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum 2004, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 23,80 €, ISBN: 3-89942-225-2

Hartmut John, Jutta Thinesse-Demel (Hg.) Lernort Museum – neu verortet! Ressourcen für soziale Integration und individuelle Entwicklung. Ein europäisches Praxishandbuch 2004, 202 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-155-8

Uwe Christian Dech Aufmerksames Sehen Konzept einer Audioführung zu ausgewählten Exponaten 2004, 164 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN: 3-89942-226-0

Jana Scholze Medium Ausstellung Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin 2004, 300 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-192-2

Alexander Klein EXPOSITUM Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit 2004, 220 Seiten, kart., 24,00 €, ISBN: 3-89942-174-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de