Einmal in die purpurfarbenen Schuhe des Kaisers schlüpfen! Das war das Ziel manch machthungriger Männer in Byzanz. Viele
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German Pages [469] Year 2024
Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
1. Einleitung
1.1.Historische und ideologische Rahmenbedingungen
1.1.1. Die Usurpation als Konstante der byzantinischen Geschichte
1.1.2. Zur Definition des Usurpationsbegriffs in der vorliegenden Arbeit
1.1.3. Periodisierung des Untersuchungszeitraums
1.2.Methodologische Überlegungen
1.2.1. Der performative turn in den Geschichtswissenschaften
1.2.2. Behandelte Quellen
1.2.3. Zur Struktur dieser Arbeit
2. Performative Aspekte von Usurpationen
2.1. Ausloten der Loyalitäten
2.1.1. Eide
2.1.2. Performanz als Stimmungsbarometer
2.2. Die Proklamation
2.2.1. Begrifflichkeiten
2.2.2. Raum, Akteure, Publikum
2.2.2.1. Proklamationen außerhalb Konstantinopels
2.2.2.2. Proklamationen innerhalb Konstantinopels
2.2.2.3. Proklamationen in Abwesenheit
2.2.3. Akklamationen
2.2.4. Insignien
2.2.4.1. Kronen
2.2.4.2. Kaiserliche Kleidung
2.2.4.3. Schuhe
2.2.5. Kaiser wider Willen?
2.2.6. Die Schilderhebung
2.2.7. Ritualhelfer
2.3. Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster
2.3.1. Vergabe von Ämtern und Würden
2.3.2. Ausstellung von Chrysobullurkunden
2.3.3. Empfang von Gesandtschaften
2.3.3.1. Die Gesandtschaft des Manuel Straboromanos
2.3.3.2. Die Gesandtschaft des Michael Psellos
2.4. Der bedrohte Kaiser
2.4.1. Eide
2.4.2. Öffentliche Auftritte
2.4.3. Abgabe zeremonieller Vorrechte
3. Alles beim Alten – Der Sieg des Kaisers
3.1. Siegesfeiern
3.1.1. Triumphzüge
3.1.2. Der Kopf des Usurpators
3.2. Die Inszenierung von Leben und Tod
3.2.1. Hinrichtungen
3.2.2. Die Gnade des Kaisers
3.2.3. Schutzräume und -rituale: Das Kirchenasyl
3.2.4. Symbolische Tötung: Tonsur und Klosterhaft
3.3. Stigmatisierende Transformationen
3.3.1. Verstümmelungsstrafen und Schur
3.3.2. Blendungen
3.3.3. Spottparaden
3.3.4. Wegnahme von Insignien und Amtsverlust
4. Machtwechsel – Der Sieg des Usurpators
4.1. Rituale der Legitimation
4.1.1. Der Einzug in Konstantinopel (Adventus)
4.1.2. Die Krönung
4.1.2.1. Der „militärische“ Usurpator
4.1.2.2. Irreguläre Thronfolgen innerhalb Konstantinopels
4.1.2.3. Veränderte Hierarchie innerhalb des Kaiserkollegiums
4.1.2.4. Auffälligkeiten
4.2. Le roi est mort, vive le roi!
4.2.1. „Königsmord“ in Byzanz
4.2.2. Disqualifikation durch Blendung
4.2.3. Rückzug ins Kloster
5. Die (De-)Konstruktion von Herrschaft in Raum und Text
5.1. Die Macht der Rituale
5.2. Die Macht der Feder
5.3. Raum, Körper und Gesellschaft
Appendix
Proklamationen (P 1–32)
Kirchenasyl (K 1–18)
Spottparaden (S 1–24)
Zwangstonsuren
Bibliographie
Editionen und Übersetzungen
Sekundärliteratur
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Index
Dominik Heher
In den Schuhen des Kaisers Usurpationen und ihre Performanz im Byzantinischen Reich (10.–12. Jahrhundert)
ANTHUSA | 2 Studien zur byzantinischen Geschichte und Kultur Studies in Byzantine History and Culture Geschichte Franz Steiner Verlag Franz Steiner Verlag
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contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Anthusa Studien zur byzantinischen Geschichte und Kultur Studies in Byzantine History and Culture Ῥώμη Φλῶρα καὶ ἡ Κωνσταντίνου πόλις ἤγουν Ἄνθουσα. „Rom (ist) Flora; und Konstantinopel – das ist Anthusa“ (Ioannes Lydus, Liber de mensibus 4.75)
Herausgegeben von Michael Grünbart Beirat: Albrecht Berger (LMU München), Marina Loukaki (Nationale und Kapodistrias Universität Athen), Vasileios Marinis (Yale University), I ngela Nilsson (Uppsala Universitet), Pagona Papadopoulou (Aristoteles Universität Thessaloniki), Juan Signes Codoñer (Universidad Complutense de Madrid) Band 2 www.steiner-verlag.de/brand/Anthusa
In den Schuhen des Kaisers Usurpationen und ihre Performanz im Byzantinischen Reich (10.–12. Jahrhundert)
Dominik Heher
Franz Steiner Verlag
Umschlagbild: Konstantinopel, Großer Kaiserpalast Mosaik, Nord-Ost-Seite des Peristylhofs, 4.–6. Jahrhundert © Werner Jobst, Wien Logo: saraH filipová (nach einem Tremissis von Justinian) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2024 www.steiner-verlag.de Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13566-5 (Print) ISBN 978-3-515-13579-5 (E-Book) https://doi.org/10.25162/9783515135795
Sie inszenierten [Leons] Proklamation so gut, wie es ihnen die Zeit erlaubte und erhoben ihn, mit prachtvollen Kleidern geschmückt, auf den Schild. Leon aber, einmal im Ornat aufgetreten, befahl über seine Unterstützer gleich wie ein Herrscher und wahrlich kaiserlich, ganz so, als hätte er mit seinem Unternehmen bereits Erfolg gehabt und nicht, als sei er nur ein Schauspieler auf einer Bühne oder ein Blender. Michael Psellos zur Usurpation des Leon Tornikios (1047) Wenn … Ritualen für die jeweilige Kultur eine ordnungsgestaltende und damit auch -politische Dimension zukommt, die die Interessen von Kollektiven und Einzelnen vermittelt und integriert, wenn Rituale also im Kleinen ein Stück weit die gesamte Kultur abbilden …, dann ist zu erwarten, dass theoriegeleitete Ritualanalysen einen Zugang zum Verständnis der jeweiligen Bezugskultur eröffnen. Dücker, Rituale, S. 3
Vorwort In komplexen sozialen Systemen kann Macht nicht ohne ihre codehafte Symbolisierung in Sprache, Gegenständen und Handlungen existieren. Besonders in jenen Momenten, in denen die Rechtmäßigkeit von Herrschaft in Frage gestellt wird, und der Regierende von einem Usurpator herausgefordert wird, treten symbolhafte Gesten und Verhaltensweisen in den Vordergrund und rücken in das Blickfeld der Quellen. Der Kampf um den Thron wird nicht nur mit Truppen, Intrigen und Diplomatie geführt, sondern auch auf performativer Ebene: Kaiserliche Kleidung – vor allem die purpurfarbenen Schuhe – wird angelegt, Vorrechte demonstrativ an sich gerissen. Und auch die Lösung des Konfliktes spielt sich mehr auf räumlicher und körperlicher als auf schriftlicher Ebene ab, sei es durch die Krönung des siegreichen Usurpators, sei es durch eine öffentliche Bestrafung oder Begnadigung im Falle seines Scheiterns. Symbolische Handlungen dieser Art vermitteln gewissermaßen zwischen Ideologie
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Vorwort
und Realpolitik und erlauben dem Historiker Einblicke in Konzeptionen von Herrschaft, Tradition, Raum und Gesellschaft. Dieses Buch basiert auf meiner Dissertation, die ich 2015 an der Universität Wien verteidigt habe. Seine Entstehung wäre nicht ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen möglich gewesen. Ein großer Dank gilt dabei Andreas E. Müller, der meine Dissertation mit regem Interesse betreute. Für Hilfe bei der Erarbeitung einzelner Problemstellungen und Korrekturen möchte ich auch Claudia Rapp, Ewald Kislinger sowie Wolfram Brandes danken. Barbara Schedl hat mir die Augen für den Umgang mit bildlichen Darstellungen von Herrschaftszeichen geöffnet. Zu Dank verpflichtet bin ich schließlich auch all jenen Kolleginnen und Kollegen, die mich beim Verfassen dieser Dissertation mit bibliographischen Hinweisen oder Korrekturvorschlägen unterstützten, allen voran Alexander Riehle, Paraskevi Sykopetritou und Grigori Simeonov. Einen wichtigen Beitrag leistete auch Martin Stark, der sämtliche Zeichnungen für dieses Buch anfertigte. Mein größter Dank gilt Michael Grünbart, der mich unermüdlich dazu motiviert hat, die Dissertation zu einem Buch zu adaptieren und mich dabei in vielerlei Hinsicht maßgeblich unterstützte. Wien, 25. Februar 2023
Dominik Heher
Inhaltsverzeichnis Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1. Historische und ideologische Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.1.1. Die Usurpation als Konstante der byzantinischen Geschichte. . . . . . . . . . . . . . 16 1.1.2. Zur Definition des Usurpationsbegriffs in der vorliegenden Arbeit. . . . . . . . . . 23 1.1.3. Periodisierung des Untersuchungszeitraums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.2. Methodologische Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.2.1. Der performative turn in den Geschichtswissenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.2.2. Behandelte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1.2.3. Zur Struktur dieser Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Performative Aspekte von Usurpationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.1. Ausloten der Loyalitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.1.1.Eide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.1.2. Performanz als Stimmungsbarometer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.2. Die Proklamation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.2.1.Begrifflichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2.2. Raum, Akteure, Publikum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2.2.1. Proklamationen außerhalb Konstantinopels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.2.2.2. Proklamationen innerhalb Konstantinopels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.2.2.3. Proklamationen in Abwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.2.3.Akklamationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.2.4.Insignien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.2.4.1.Kronen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.2.4.2.Kaiserliche Kleidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.2.4.3.Schuhe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.2.5. Kaiser wider Willen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2.2.6. Die Schilderhebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2.2.7.Ritualhelfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
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Inhaltsverzeichnis
2.3. Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2.3.1. Vergabe von Ämtern und Würden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2.3.2. Ausstellung von Chrysobullurkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2.3.3. Empfang von Gesandtschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2.3.3.1. Die Gesandtschaft des Manuel Straboromanos. . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2.3.3.2. Die Gesandtschaft des Michael Psellos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2.4. Der bedrohte Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2.4.1.Eide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2.4.2. Öffentliche Auftritte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.4.3. Abgabe zeremonieller Vorrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Alles beim Alten – Der Sieg des Kaisers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3.1.Siegesfeiern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3.1.1.Triumphzüge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.1.2. Der Kopf des Usurpators. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3.2. Die Inszenierung von Leben und Tod. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 3.2.1.Hinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3.2.2. Die Gnade des Kaisers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.2.3. Schutzräume und -rituale: Das Kirchenasyl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.2.4. Symbolische Tötung: Tonsur und Klosterhaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3.3. Stigmatisierende Transformationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3.3.1. Verstümmelungsstrafen und Schur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3.3.2.Blendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3.3.3.Spottparaden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3.3.4. Wegnahme von Insignien und Amtsverlust. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4. Machtwechsel – Der Sieg des Usurpators. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 4.1. Rituale der Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 4.1.1. Der Einzug in Konstantinopel (Adventus). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 4.1.2. Die Krönung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 4.1.2.1. Der „militärische“ Usurpator. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4.1.2.2. Irreguläre Thronfolgen innerhalb Konstantinopels. . . . . . . . . . . . . . 313 4.1.2.3. Veränderte Hierarchie innerhalb des Kaiserkollegiums. . . . . . . . . . 317 4.1.2.4.Auffälligkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 4.2. Le roi est mort, vive le roi!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 4.2.1. „Königsmord“ in Byzanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 4.2.2. Disqualifikation durch Blendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 4.2.3. Rückzug ins Kloster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Inhaltsverzeichnis
5. 5.1. 5.2. 5.3.
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Die (De-)Konstruktion von Herrschaft in Raum und Text. . . . . . . . . . . . . . . 342 Die Macht der Rituale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Die Macht der Feder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Raum, Körper und Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
Appendix. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Proklamationen (P 1–32). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Kirchenasyl (K 1–18). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Spottparaden (S 1–24). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Zwangstonsuren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Editionen und Übersetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Index. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
Abkürzungen AnBoll Analecta Bollandiana AASS Acta Sanctorum, Antwerpen/Brüssel 1643–1925. ACO Acta Conciliorum Oecumenicorum, ed. E. Schwartz et al., Berlin 1927– BBA Berliner Byzantinistische Arbeiten BF Byzantinische Forschungen BMGS Byzantine and Modern Greek Studies BAR British Archaeological Reports BGS Byzantinische Geschichtsschreiber BSl Byzantinoslavica Byz Byzantion BZ Byzantinische Zeitschrift CFHB Corpus Fontium Historiae Byzantinae CSHB Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae DOP Dumbarton Oaks Papers DOS Dumbarton Oaks Studies DOT Dumbarton Oaks Texts EEBS Ἐπετηρὶς Ἑταιρείας Βυζαντινῶν Σπουδῶν EO Échos d’Orient FM Fontes Minores GRBS Greek, Roman and Byzantine Studies Hell Ἑλληνικά JÖB Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik JGR K. E. Zachariae von Lingenthal, Jus Graecoromanum, I–VII. Leipzig 1856–1884, Nachdr. in: Jus Graecoromanum ex editione K. E. Zachariae von Lingenthal, ed. I. Zepos / P. Zepos, I–VII, Athen 1931 (Nachdr. Aalen 1962). LBG E. Trapp et al., Lexikon zur byzantinischen Gräzität besonders des 9.–12. Jahrhunderts, Wien 1994–2011. MGH Monumenta Germaniae Historica Auct. Ant. Auctores Antiquissimi SS Scriptores MM F. Miklosich / I. Müller, Acta et diplomata graeca medii aevi I–VI, Wien 1860–1890. OCA Orientalia Christiana Analecta ODB The Oxford Dictionary of Byzantium, ed. by A. P. Kazhdan et al., I–III, New York/Oxford 1991.
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Abkürzungen
Patrologiae cursus completus. Series graeca, ed. J.-P. Migne, I–CLXI, Paris 1857– 1866. PLP Prosopographisches Lexikon der Palaiologenzeit, erstellt von E. Trapp et al., Wien 1976–1996. PmbZ R.-J. Lilie et al. Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit. I–, Berlin 1999– 2002. PO Patrologia Orientalis, ed. R. Graffin / F. Nau, I–, Paris 1904– RAC Reallexikon für Antike und Christentum. I–, Stuttgart 1950– RbK Reallexikon zur byzantinischen Kunst. I–, Stuttgart 1966– RE Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 66 Halbbde, 15 Suppl.-Bde., Stuttgart/München 1893–1978. REB Revue des Études Byzantines RHM Römische historische Mitteilungen SC Sources Chrétiennes Symm Σύμμεικτα TIB Tabula Imperii Byzantini. I–, Wien 1976– TM Travaux et Mémoires VTIB Österr. Ak. d. Wiss., Veröffentlichungen d. Kommission für die TIB VV Vizantijskij Vremennik WBS Wiener Byzantinistische Studien WSt Wiener Studien ZRVI Zbornik Radova Vizantološkog Instituta
1. Einleitung Die Usurpation kaiserlicher Macht ist ein häufiges Phänomen der byzantinischen Geschichte und dementsprechend ein durchaus beliebter Gegenstand der byzantinistischen Forschung1. Die vorliegende Arbeit setzt es sich zum Ziel, die bisherigen – eher rechts- und sozialgeschichtlich sowie prosopographisch geprägten – Analysen der Thronkämpfe um die Facette performativer Handlungen zu erweitern. Die westliche Mediävistik hat gezeigt, dass symbolische Kommunikation weit mehr für das Funktionieren von Herrschaft leistet, als bloß schmückendes Beiwerk politischer Prozesse zu sein. Die Analyse des inszenatorischen Umganges mit Macht erlaubt Rückschlüsse auf Funktions- und Denkweisen einer Gesellschaft sowie das Herausarbeiten moralischer Konventionen und politischer Spielregeln. Wenn dies bisweilen für Byzanz anders gesehen wird2, spiegelt sich darin primär ein Defizit der byzantinis-
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Siehe die folgenden nützlichen Zusammenstellungen und die dort versammelte Literatur: Jean-Claude Cheynet, Pouvoir et contestations à Byzance (963–1210) (Byzantina Sorbonensia 9), Paris 1990; Kalliope Bourdara, Καθοσίωσις και τυραννίς κατά τους μέσους βυζαντινούς χρόνους. Μακεδονική δυναστεία (867–1056), Athen 1981; Eadem, Καθοσίωσις και τυραννίς κατά τους μέσους βυζαντινούς χρόνους (1056–1081), Athen 1984; Eadem, Το έγκλημα καθοσιώσεως στην εποχή των Κομνηνών (1081–1185), in: Basiles Kremmydas / Chrysa Maltezou / Nikolaos Panagiotakis (Hgg.), Αφιέρωμα στον Νίκο Σβορώνο Ι, Rethymnon 1986, S. 211–229; siehe auch die Beiträge in: Dimiter Angelov / Michael Saxby (Hgg.), Power and subversion in Byzantium. Papers from the forty-third Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Birmingham, March 2010 (Publications of the Society for the Promotion of Byzantine Studies 17), Farnham et al. 2013. Symptomatisch hierfür: Eleni Tounta, Usurpation, acceptance and legitimacy in medieval Europe: An analysis of the dynamic relations between ritual structure and political power, in: Gerald Schwedler / Eleni Tounta (Hgg.), Ritual and the science of ritual III: State, power, and violence, Wiesbaden 2010, S. 447–473, hier S. 466: „At this point, comparison between the two empires [scil. Heiliges Römisches Reich und Byzanz] can highlight the different approaches towards the importance and the role of ritual patterns, as far as the taking over of the royal power is concerned. Although Byzantine ceremonial was highly developed and sophisticated, emphasizing the special relations between emperor and God, in reality it remained an external apparatus, having no function in the attainment of political power. This was because of Byzantine political organization, characterized as it was by settled institutions, a highly developed bureaucracy, and, of course, by codified laws which regulated both the public and private spheres of the imperium.“
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tischen Forschung, die sich zwar Zeit ihrer Existenz mit dem elaborierten Hofzeremoniell befasste, sich aber erst vor kurzem der Wirkmacht performativer Handlungen zugewandt hat. Konstruktion und Dekonstruktion von Macht, ihre Beanspruchung und Legitimierung, erfolgte immer auch durch zur Schau gestellte symbolische Handlungen und das sowohl im Moment ihrer Durchführung als auch – retrospektiv – durch die Art und Weise ihrer Schilderung im Narrativ der Quellen. Diese Verquickung zwischen wirklichem Ereignis und schriftlicher Überlieferung erfordert sowohl eine soziologisch inspirierte Betrachtungsweise als auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Texten und ihren Autoren. Jenseits der oft nicht zu beantwortenden Frage, ob Fakt oder Fiktion, erlaubt die Betrachtung der politischen Bühne dennoch einen aufschlussreichen Blick auch hinter die Kulissen im Spiel um die Macht in Byzanz. Auf inhaltlicher Ebene ist es hierfür zunächst nötig, die ideologischen Grundlagen des byzantinischen Kaisertums und der Praxis der Herrschaftsfolge zu skizzieren. Auch gilt es, sich die Machtverhältnisse zwischen Hof und Provinz, Zentralverwaltung und Aristokratie im 10.–12. Jahrhundert zu vergegenwärtigen und dabei diachrone Veränderungen zu berücksichtigen. Auf methodologischer Ebene schien es sinnvoll, den performative turn der westlichen Mediävistik hinsichtlich seines Nutzens, aber auch seiner Grenzen im Allgemeinen zu analysieren und seine Adaption für die vorliegende Fragestellung zu erläutern. 1.1 Historische und ideologische Rahmenbedingungen Den Byzantinern galt die Usurpation, die in den Quellen meist als tyrannis, apostasia oder epiboulē begegnet,3 als Verbrechen, das – je nach Parteinahme des Autors – verdammt, kaschiert oder gerechtfertigt werden musste. Insbesondere Zwangsmaßnahmen und Gewalt gegenüber christlichen Untertanen waren mit der idealisierten Konzeption einer gerechten, gottgewollten Herrschaft (basileia) nicht zu vereinen. In seinen Ratschlägen an den minderjährigen Mitkaiser Konstantinos Dukas formuliert Theophylaktos von Ochrid (1055–1107) den Makel der Usurpation folgendermaßen:
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Ebenda S. 468: „In the Byzantine Empire, the ritual patterns reflect the internal reason of a hierarchical bureaucratic state, playing no role in assuming real power. Handing over the porphyry sandals and making the acclamations communicated nothing else than the acceptance of the usurper’s effort.“ Lia Raffaella Cresci, Appunti per una tipologia del τύραννος, in: Byzantion 60, 1990, S. 90– 129; Dimiter Angelov, Power and subversion in Byzantium: approaches and frameworks, in: Angelov/Saxby (Hgg.), Power and subversion, S. 1–18, bes. S. 3–6; Ioannis Stouraitis, Civil war in the Christian Empire, in: Ioannis Stouraitis (Hg.), A companion of the Byzantine culture of war, ca 300–1204 (Brill’s companions to the Byzantine world 3), Leiden/Boston 2018, S. 92–123, hier S. 95; vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 13.
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Vernimm die Kennzeichen der usurpierten Kaiserherrschaft (tyrannis) und jener, die legitim erworben wurde (basileia): Zunächst erkämpft sich der Usurpator die Herrschaft mit Gewalt, denn er erhält die Zügel des Reiches nicht aus den Händen der Bürger, sondern reißt sie unter Mord und Blutvergießen räuberisch an sich. Das aber ist nur das Vorspiel und von Anfang an ist seine Herrschaft mit Blut besudelt4.
Pikantes Detail am Rande: Der regierende Kaiser und Vormund von Konstantinos, Alexios I. Komnenos, hatte wenige Jahre zuvor (1081) selbst die Herrschaft gewaltsam an sich gerissen und Übergriffe seiner Truppen auf die Bevölkerung Konstantinopels zu verantworten gehabt. Ungewöhnlich deutliche Kritik an diesem Akt findet sich in einer Rede des Ioannes Oxites, die dieser – mit einigem zeitlichen Abstand zum Ereignis – 1091 in Anwesenheit des Kaisers hielt und in der er die gewaltsame Machtergreifung, „die nun einmal so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist“ und „über die man nicht sprechen sollte“, als einen der Gründe dafür nennt, warum Alexios seit seinem Amtsantritt in seinen Schlachten plötzlich so glücklos agierte: der Kaiser hatte Gott erzürnt und würde seine Unterstützung erst durch Sühneleistungen wiedererlangen5. Die Legitimität der gewaltsam errungenen Herrschaft stellte Ioannes jedoch nicht in Frage und auch der oben als Usurpationskritiker begegnende Theophylaktos von Ochrid stimmte in die Lobpreisungen Alexios’ gerechter Regierung ein6. Die Akzeptanz von Usurpatoren ist nicht auf bloße Servilität, Opportunismus oder Furcht zurückzuführen, und obwohl die Gewinner im Spiel um die Macht möglichst rasch Schlüsselpositionen mit ihren Unterstützern zu besetzen trachteten, kann auch diese partielle Umstrukturierung allein nicht den Erfolg des Prinzips der Usurpation erklären. Der gewaltsam herbeigeführte Herrscherwechsel mag stets kritisch beäugt worden sein, doch war er dem byzantinischen Staatswesen seit Anbeginn inhärent und die politische Ideologie gestattete es dem tyrannos durchaus, sich in einen legitimen autokratōr zu verwandeln.
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Theophylacti Achridensis orationes, tractatus, carmina. Theophylacte d’Achrida, Discours, traités, poésie. Introduction, texte, traduction et notes par Paul Gautier (CFHB 16/1), Thessalonike 1980, S. 195,21–197,1: Τυραννίδος δὲ καὶ βασιλείας ἄκουε τὰ γνωρίσματα. Πρῶτον μὲν οὖν ὁ τύραννος ἐπὶ τὴν ἀρχὴν ἐκβιάζεται· οὐ γὰρ ὑπὸ τῶν πολιτῶν τὰ χαλινὰ τῆς ἀρχῆς ἐκδέχεται, ἀλλ’ αὐτὸς ἁρπάζει ταῦτα σφαγαῖς τε καὶ αἵμασι. Τοιαῦτα μὲν αὐτῷ τὰ προοίμια καὶ οὕτως ἐξ ἀρχῆς τοῖς αἵμασι περιρραίνεται. Paul Gautier, Diatribes de Jean l’Oxite contre Alexis Ier Comnène, in: REB 28, 1970, S. 5–55, hier S. 29, 1–3: Πρῶτα μέν σοι, ὦ βασιλεῦ, ἔκθεσμος τῆς βασιλείας ἡ κρηπὶς καταβέβληται καὶ τὰ ἐπιβατήρια δὲ γέγονεν οἷα καὶ γέγονε· τί γὰρ τὰ ἄρρητα δεῖ με ἀναμετρήσασθαι; Während sich das Bild von Johannes Oxites als mutigem Kritiker etabliert hat, gibt es gute Argumente für die Vermutung, dass die Rede mit dem Kaiser akkordiert oder gar von diesem kommissioniert war. Siehe hierzu jüngst. Judith Ryder, The role of the speeches of John the Oxite in Komnenian court politics, in: Theresa Shawcross / Ida Toth (Hgg.), Reading in the Byzantine empire and beyond, Cambridge 2018, S. 93–115. Theophylaktos von Ochrid 5 (S. 213–243 Gautier).
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1.1.1 Die Usurpation als Konstante der byzantinischen Geschichte Einer statistischen Aufstellung von Lilie zufolge7, verdankten von den insgesamt 94 byzantinischen Kaisern8 und allein regierenden Kaiserinnen 31 den Thron der dynastischen Erbfolge und weitere 26 wurden durch Heirat, Adoption oder Wahl in das höchste Amt im Staat eingesetzt. Es bleiben demnach 37 Kaiser, also mehr als ein Drittel, welche die Herrschaft durch Usurpation erlangten. Betrachtet man lediglich die mittelbyzantinische Epoche, in die auch der vorliegende Untersuchungszeitraum fällt, war sogar mehr als die Hälfte aller Thronwechsel das Resultat mehr oder minder gewaltsamer Umstürze. Die erfolgreichen Usurpatoren sind zudem nur als Bruchteil der Masse an Prätendenten anzusehen, die ihre Ansprüche auf die Krone geltend machen wollten, aber in verschiedenen Stadien der Vorbereitung oder Durchführung ihrer Pläne scheiterten. Man kann daher kaum behaupten, dass Usurpationen in Byzanz die Ausnahme in einem ansonsten von geregelten Übergängen geprägten politischen System darstellten9. Toynbee wollte in der in Byzanz so häufig gepflegten Usurpation überhaupt die natürlichste Form der Thronfolge im Kaisertum römischer Prägung erkennen: Monarchical power was seized … in a struggle for existence between rival competitors in which the ablest won the prize. This prize was an unconstitutional one; so it is no paradox to say that the Roman Empire had no constitution, or, alternatively, to say that its constitution rested on unconstitutional foundations. At any time during the fifteen centuries covered by the long series of Roman Emperors, the Imperial Crown could be seized legitimately by any aspirant who had the ambition to seize it and who also had the ability to translate his ambition into accomplished fact. … The winning of it [the prize] by an able man of humble origin who, like Basil I and Rhomanós I, had risen in the world, was not only a frequent occurrence; it was a fulfilment, not a breach of the Imperial tradition10.
Selbst wenn man nicht so weit gehen will, der Usurpation eine quasi-konstitutionelle Funktion zuzuschreiben, so steht doch außer Frage, dass das politische System der Byzantiner sowohl in seiner Ideologie als auch in seiner praktischen Handhabe flexibel genug war, seine regelmäßige Erneuerung durch Usurpatoren zu verkraften11; das Reich
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Ralph-Johannes Lilie, Der Kaiser in der Statistik. Subversive Gedanken zur angeblichen Allmacht der byzantinischen Kaiser, in: Christos Stavrakos et al. (Hgg.), Hypermachos. Festschrift für Werner Seibt, Wiesbaden 2008, S. 211–233, hier S. 212–214. Lilie ist sich gewisser statistischer Unschärfen bewusst, zumal sich einige Fälle nicht eindeutig klassifizieren lassen. 8 Eingerechnet sind hier auch jene Kaiser, die nach ihrer Absetzung ein weiteres Mal auf den Thron kamen. Details zur Grundlage der Klassifizierung: Lilie, Statistik, S. 214 mit Anm. 10. 9 Vgl. Lilie, Statistik, S. 214. 10 Arnold Toynbee, Constantine Porphyrogenitus and his world, London et al. 1973, S. 13. 11 Andere Systeme wie beispielsweise die römische Republik, die athenische Demokratie, aber auch das französische Königtum waren für Usurpationen weit weniger anfällig. Vgl. Joachim Szidat,
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versank – sofern der Thronstreit nicht in allzu langwierigen Bürgerkriegen mündete – nicht im Chaos und die Herrschaftsform an sich wurde – gottgegeben wie sie war – in der Regel nicht in Frage gestellt12. Hingegen konnte die Person, die das Kaiseramt bekleidete, natürlich sehr wohl in die Kritik geraten. Es versteht sich von selbst, dass Usurpatoren während des Thronkampfes die Unfähigkeit oder Ungerechtigkeit des aktuellen Herrschers anzuprangern pflegten. Nach einem erfolgreichen Coup boten dieselben Argumente eine gute Grundlage, den Umsturz moralisch zu legitimieren13. Man muss dabei nicht so weit gehen und wie einst Beck 14 und jüngst Kaldellis 15 und hieraus ein quasi verfassungsrechtliches „Widerstandsrecht“ des Volkes gegen den Kaiser ableiten, das noch als Erbe der römischen Republik zu betrachten sei16. Dass das Überschreiten moralischer, religiöser oder anderer traditioneller Grenzen beim Sturz regierender Kaiser als Argumente ins Feld geführt werden konnte17, ist unbestritten. Das setzt aber keinen systemimmanenten Mechanismus voraus, auf den man sich berufen konnte. Eine richtiggehende „Abwahl“ durch die Bevölkerung Konstantinopels oder den Senat begegnet höchst selten und ist zumeist nur vor dem Hintergrund eines Usurpator tanti nominis. Kaiser und Usurpator in der Spätantike (337–476 n. Chr.) (Historia Einzelschriften 210), Stuttgart 2010, S. 13–16; Egon Flaig, Für eine Konzeptionalisierung der Usurpation im spätrömischen Reich, in: François Paschoud / Joachim Szidat (Hgg.), Usurpationen in der Spätantike. Akten des Kolloquiums ‚Staatsstreich und Staatlichkeit‘, 6.–10. März 1996, Solothurn, Bern (Historia Einzelschriften 111), Stuttgart 1997, S. 15–34, hier S. 19 mit Anm. 15. Ausführlicher: Idem, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich (Historische Studien 7), Frankfurt/New York 1992. 12 Vgl. Stouraitis, Civil war, S. 100–101. 13 Jean-Claude Cheynet, Se révolter légitimement contre le „Basileus“?, in: Philippe Depreux (Hg.), Revolte und Sozialstatus von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit / Révolte et statut social de l’Antiquité tardive aux Temps modernes (Pariser Historische Studien 87), München 2008, S. 57–73. Aus den dort versammelten Beispielen wird auch ersichtlich, dass die dem Kaiser unterstellte „Ungerechtigkeit“ in den meisten Fällen nicht als moralische Verfehlung gegenüber seinem Volk zu verstehen ist, sondern als subjektiv empfundene Undankbarkeit, die verdiente Persönlichkeiten zur Usurpation veranlasste. 14 Hans-Georg Beck, Senat und Volk von Konstantinopel. Probleme der byzantinischen Verfassungsgeschichte (Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 6), München 1966, S. 38–51. Becks Annahme eines verfassungsmäßigen Absetzungsrechtes seitens des Senates und des Volkes basiert auf dem rituellen Charakter mancher Amtsenthebungen: „Der Kaiser wird Kaiser durch Akklamation, die εὐφημία … Das Gegenteil davon ist die δυσφημία, und der fast zeremonielle Gebrauch, der von ihr gemacht wird, scheint mir zu insinuieren, daß die kategorische Art ihrer Verwendung in der Intention derer, die sich ihrer bedienen, rechtskräftig ist“ (Senat, S. 41). Zu Becks „verfassungsrechtlichem“ Ansatz siehe auch Idem, Res Publica Romana. Vom Staatsdenken der Byzantiner (Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1970/2), München 1970. 15 Anthony Kaldellis, The Byzantine republic. People and power in New Rome, Cambridge, MA – London 2015. 16 Berechtigte Kritik an den Thesen von Kaldellis findet sich in John Haldon, Res publica Byzantina? State formation and issues of identity in medieval east Rome, in: BMGS 40, 2016, S. 4–16 und Stouraitis, Civil war, S. 102–103. 17 Cheynet, Se révolter, S. 72.
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Machtvakuums oder einer bereits laufenden Usurpation zu sehen. Jene Aristokraten – und zumeist war der Kampf um die Krone eine Sache des Adels –, die es schafften, den regierenden Kaiser zu stürzen, beriefen sich weder auf eine Art Widerstandsrecht noch war eine ausdrückliche Distanzierung der Stadtbevölkerung vom alten Herrscher vonnöten. Eine juristische oder gewohnheitsrechtliche Begründung für den Sturz des Herrschers zu finden, ist nicht zielführend. Weit entscheidender ist es, dass das politische Denken der Byzantiner die offene Herausforderung eines herrschenden Kaisers akzeptierte18. Die prinzipielle Akzeptanz gewaltsamer Herrscherwechsel ist im Wesen des römischen Kaisertums verwurzelt. Dieses stand von Anfang an außerhalb der Verfassung und ermangelte einer Regulierung des Auswahlprozesses und der Nachfolge19. Die Differenzen zwischen dem ideologischen Erbe des römischen Prinzipats (und damit auch der Republik) einerseits und jenem der hellenistischen Reiche andererseits, ließen sich auf theoretischer Ebene nur durch ein Konzept überwinden, in dem der byzantinische Kaiser seine Legitimität sowohl aus dem Konsens seiner Untertanen als auch aus dem göttlichen Willen bezog, wobei die Betonung des einen oder des anderen Faktors je nach Autor, Textgenre und Situation beträchtlich variiert20. Den Anspruch auf den Thron konnte damit theoretisch jeder volljährige männliche rechtgläubige Christ erheben. „Die Manifestation dieses [i. e. göttlichen] Willens durch Regeln, gar durch Rechts- und Verfassungsregeln vorherzubestimmen … lag den Byzantinern fern. Das politische Grundkonzept des von Gott bestimmten Kaisers leistete nicht nur nichts für die Umsetzung in Verfahren, es stand einer verbindlichen Festlegung der Prozedur im Weg“21. So wenig konkret schon die theoretischen Grundlagen des Herrscherwechsels waren, so flexibel gestaltete sich dieser in der Realität: Der Kaiser verdankte seine Position mal der Designation durch seinen Vorgänger, mal einer Heirat, mal dem Konsens der Elite – wobei es kein institutionalisiertes Wahlgremium gab22 –, mal seiner mi18 19 20
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Haldon, Res publica Byzantina, S. 9. Louis Bréhier, Le monde byzantin, II: Les institutions de l’empire Byzantin, Paris 1970, S. 14, S. 21; Szidat, Usurpator, S. 43–45, S. 361–362. Agostino Pertusi, Insigne del potere sovrano e delegato a Bisanzio e nei paesi di influenza bizantina, in: Simboli e simbologia nell’alto medioevo, 3–9 aprile 1975, II (= Settimane di studio del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 23), Spoleto 1976, S. 481–568, hier S. 491–496; vgl. Bréhier, Institutions 14; Alexander Beihammer, Comnenian imperial succession and the ritual world of Niketas Choniates’ chronike diegesis, in: Alexander Beihammer / Stavroula Constantinou / Maria Parani (Hgg.), Court ceremonies and rituals of power in Byzantium and the Medieval Mediterranean. Comparative perspectives (The Medieval Mediterranean 98), Leiden/Boston 2013, S. 159–202, hier S. 159–162. Marie Theres Fögen, Das politische Denken der Byzantiner, in: Ingrid Fetscher / Herfried Münkler (Hgg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Band II: Mittelalter: Von den Anfängen des Islams bis zur Reformation, München 1993, S. 55 und S. 81. Selbst der Beraterkreis des Kaisers ist im Untersuchungszeitraum nicht als Institution greifbar, sondern als flexibles Personenarrangement: Dimitrios Kyritses, The imperial council and the tradition of consultative decision-making in Byzantium (eleventh to fourteenth centuries),
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litärischen Stärke23. Zumeist jedoch griffen mehrere dieser Aspekte ineinander24. Die Zugehörigkeit des Kaisers zum Stand der Senatoren war bis in die severische Dynastie eine unerlässliche Voraussetzung, die aber nur auf Konvention und Tradition beruhte und für die „Soldatenkaiser“ des 3. Jahrhunderts keine Rolle mehr spielte. Dies wiederum führte dazu, dass zwischen 235 und 284 die meisten Herrschaftswechsel per Usurpation erfolgten25. Diokletian (284–305) versuchte schließlich, den Wildwuchs an Thronprätendenten in der Epoche der Soldatenkaiser durch das System der Tetrarchie in kontrollierte Bahnen zu lenken26. Das brachte zwar für etwa eine Generation eine gewisse Stabilität ein, doch mündete auch dieser Ordnungsversuch in heftigen Thronkämpfen, die ausgerechnet erst mit dem Usurpator Konstantinos I. und der von ihm gegründeten Dynastie ein vorläufiges Ende fanden27. Die Vorstellung einer dynastisch begründeten Herrschaftsübergabe war in der gesamten Zeit des römischen Kaisertums verbreitet und stellte bisweilen den Standard dar, ohne freilich eine juristische Grundlage zu haben. Eine unumstößliche Bindung der Herrschaft an die Familie gelang der konstantinischen Dynastie ebenso wenig wie späteren Häusern. Die hohe Frequenz an Umstürzen führte aber weder zur Herausbildung wirksamer Gegenstrategien noch zum Zusammenbruch des politischen Systems an sich, und auch an der kaiserlichen Ideologie hielt man unbeirrt fest. Mommsen sah den römischen Prinzipat gar als „eine durch die rechtlich permanente Revolution temperierte Autokratie“ an, die aufgrund einer fehlenden institutionellen Legitimität nicht als fortdauernde Monarchie, sondern als mit jedem Herrscher aufs Neue begründete Regierungsform in: Dimiter Angelov / Michael Saxby (Hgg.), Power and subversion in Byzantium. Papers from the Forty-third Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Birmingham, March 2010 (Publications of the Society for the Promotion of Byzantine Studies 17), Farnham et al. 2013, S. 57–69; Idem, Political and constitutional crisis at the end of the twelfth century, in: Alicia Simpson (Hg.), Byzantium, 1180–1204: „The Sad Quarter of a Century“? (National Hellenic Research Foundation, Institute of Historical Research, Section of Byzantine Research: International Symposium 22), Athen 2015, S. 97–111. 23 Die genannten Machtfaktoren wurden auch nie in eine verbindliche Prioritätenfolge gebracht: Fögen, Das politische Denken, S. 55. 24 Zu den Möglichkeiten der Herrschaftsfolge siehe Bréhier, Institutions, S. 21–29; Rosemary Morris, Succession and usurpation: Politics and rhetoric in the late tenth century, in: Paul Magdalino (Hg.), New Constantines. The rhythm of imperial renewal in Byzantium, 4th–13th Centuries, London 1994, S. 199–214, hier S. 202–203 jeweils mit Beispielen aus dem 10. Jahrhundert. 25 Siehe hierzu den Beitrag IV.1 von Klaus-Peter Johne (S. 583–632) in: Klaus-Peter Johne (Hg.), Die Zeit der Soldatenkaiser. Krise und Transformation des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (235–284), Berlin 2008, bes. S. 626–627. 26 Zur Tetrarchie siehe Alexander Demandt / Andreas Goltz / Heinrich Schlange-Schöningen, Diokletian und die Tetrarchie: Aspekte Einer Zeitenwende (Millennium-Studien 1), Berlin/Boston 2004. 27 Zur Usurpation im Römischen Reich siehe Joachim Szidat, Einleitung, in: François Paschoud / Joachim Szidat (Hgg.), Usurpationen in der Spätantike. Akten des Kolloquiums ‚Staatsstreich und Staatlichkeit‘, 6.–10. März 1996. Solothurn/Bern (Historia Einzelschriften 111), Stuttgart 1997, S. 9–14, hier S. 9–10 (mit Literatur) sowie die weiteren Beiträge im selben Aktenband; vgl. Bréhier, Institutions, S. 21.
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zu gelten habe. Einen Usurpator im Sinne eines nicht legitimen Prätendenten habe es per definitionem daher gar nicht geben können28. Flaig schwächt das Mommsensche Postulat dahingehend ab, dass die Herrschaftsform der Monarchie an sich sehr wohl als „legitim“ gelten dürfe, jedoch die einzelnen Kaiser ihre Herrschaftsbefugnis lediglich der Akzeptanz maßgeblicher Gruppen (Senat, Volk, Heer) verdankten29. Solche „Akzeptanz-Systeme“, so Flaig, begünstigen stets die Herrscherfolge durch Usurpatoren, die auch bei ihm nur als politologische Kategorie begegnet, gelöst von der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Thronansprüche. Die Existenz eines dynastischen Prinzips wird negiert, zumal die Erbfolge zwar aus einer starken Position des Kaisers heraus möglich war, aber im Ernstfall einer Herausforderung, also einer Usurpation, versagte. Im römischen Akzeptanz-System habe es nach Flaig auch keine bestimmten Verfahren gegeben, die den Herrscher mit Legitimität im Sinne einer unantastbaren Herrschaftsbefugnis ausstatteten. Akklamationen hätten daher ebenso wenig eine Rolle für die Legitimation gespielt wie eine korrekt durchgeführte Inthronisation30. In byzantinischer Zeit basierte das Kaisertum zwar prinzipiell weiterhin auf dem Grundsatz der Akzeptanz, entwickelte aber eine religiöse Dimension. Die von Konstantin dem Großen geschaffene Konzeption des Kaisers als ein Mensch, der vom Christengott als Herrscher auserwählt wurde und diesem zwar ähnlich, aber dennoch klar untertan ist, blieb für die gesamte byzantinische Geschichte die ideologische Grundlage der Kaiserherrschaft31. Die göttliche Vorbestimmung manifestierte sich in Aspekten des verfeinerten Hofzeremoniells und der liturgischen Krönung einerseits und der religiösen Verklärung der Herrschaft andererseits. Mit den solcherart geschaffenen Strategien legitimierte man jedoch nicht nur das Kaisertum an sich, sondern auch die Person, die es innehatte. An der Duldung der Usurpation als denkbare politische Kategorie änderte aber auch die zunehmende christliche Verklärung des Kaisertums wenig. Die Macht des Kaisers war keineswegs absolut und seine Stellung niemals unantastbar32. Ahrweiler versuchte, diese scheinbare Diskrepanz mit zwei Grundprinzipien des byzantinischen Denkens zu erklären: In den irdischen Herrschaftsverhältnissen mag sich der göttliche Ordnungswille (taxis) manifestiert haben, doch erlaubte die oikonomia durchaus Veränderungen und Umgehungen dieser taxis aus nötigem Anlass. Ein Sieg eines Usurpators konnte als Zeichen einer von Gott initiierten und sanktionierten Neuordnung gedeutet werden33. 28 29 30 31 32 33
Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht I–III (Handbuch der Römischen Altertümer 3), Leipzig 31887, Nachdr. Graz 1969, II, 2. Teil, S. 1133 (Zitat), S. 842. Flaig, Konzeptionalisierung, S. 15–16. Das jeweilige politische Gewicht der einzelnen Faktoren schwankte von Fall zu Fall beträchtlich: Fögen, Das politische Denken, S. 53–55. Flaig, Konzeptionalisierung, S. 17–20. Fögen, Das politische Denken, S. 44–45. Cheynet, Se révolter, S. 72. Hélène Ahrweiler, L’idéologie politique de l’empire byzantin, Paris 1975, S. 136–138, S. 144– 145; Tounta, Usurpation, S. 456; vgl. Ioannis Stouraitis, Bürgerkrieg in ideologischer Wahr-
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Auch die wiederholte Weigerung der Kirche, Majestätsverbrechen mit Exkommunikation ahnden zu wollen, illustriert die grundsätzliche Akzeptanz der Usurpation im byzantinischen Denken34. Wo Akzeptanz herrscht, ist auch Legitimation möglich, und die Praxis zeigt, dass erfolgreiche Usurpatoren bei entsprechend langer Regierungszeit und politischem Kalkül durchaus in der Lage waren, den Makel ihres Machtantrittes weitestgehend auszumerzen. Zu Recht behauptete Lemerle: L’usurpation … a un sens et presque une fonction politique. Elle est moins un acte illégal que le premier acte d’un processus de légitimation, dont le schéma théorique est constant. Entre le basileus et l’usurpateur, il y a parallélisme plutôt qu’opposition. D’où l’existence de deux notions différentes de la légitimité, l’une ‚dynastique‘, l’autre qu’on pourrait dire (au sens romain) „républicaine“, qui ne sont pas vraiment en conflit, mais plutôt se renforcent l’une l’autre: la seconde, quand l’usurpateur échoue, renforce de ce fait la première, et quand il réussit, la recrée, soit que l’usurpateur se rattache à la dynastie, soit qu’il fonde une dynastie35.
Hierüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Byzantiner die verschiedenen Varianten des Herrscherwechsels beileibe nicht als gleichwertig betrachteten. Zwar prinzipiell gangbar, galt der Putsch als der moralisch verwerflichste Weg zur Krone, und obwohl in konkreten Fällen der Sturz unbeliebter Kaiser durch einen Kontrahenten gefeiert wird, lässt sich keine Formulierung eines Widerstandsrechtes finden. Insbesondere das Risiko, dass der Thronstreit in einen Bürgerkrieg münden und damit römisches, christliches Blut vergossen werden könnte, ließ interne Machtkämpfe zu einem bedrohlichen Szenario werden36. Man konnte den Thron zwar mit Waffen erkämpfen, doch durfte man sich der Anwendung von Gewalt nicht rühmen. Nachdem
nehmung durch die Byzantiner (7.–12. Jahrhundert): Die Frage der Legitimierung und Rechtfertigung, in: JÖB 60, 2010, S. 149–172, hier S. 155. Nach Fögen, Das politische Denken, S. 45, S. 81–82 ist die taxis als legitimatorischer „Zwischenschritt“ gar nicht nötig: „Um das politische Denken der Byzantiner unter der Vorgabe gottgewollter und gottähnlicher Herrschaft zu charakterisieren, darf die aus der Vorgabe folgende Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit nicht aus dem Konzept hinausinterpretiert – unter taxis versteckt oder in ‚Verfassung‘ eingefangen – werden. Kontingenz ist vielmehr als wesentlicher Bestandteil des Wissens von politischer Herrschaft zu akzeptieren“ (Zitat S. 82). 34 Vgl. Marie Theres Fögen, Rebellion und Exkommunikation in Byzanz, in: Marie Theres Fögen (Hg.), Ordnung und Aufruhr im Mittelalter. Historische und juristische Studien zur Rebellion (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 70), Frankfurt a. M. 1995, S. 43–80. 35 Paul Lemerle, Histoire et civilisation de Byzance, in: Annuaire du Collège de France. Résumé des courses de 1972–1973 (Zitat nach Patricia Karlin-Hayter, L’enjeu d’une rumeur. Opinion et imaginaire à Byzance au IXe s., in: JÖB 41, 1991, S. 85–111, hier S. 85). 36 Grundlegend: Stouraitis, Bürgerkrieg, bes. S. 153–155. Zur negativen Konnotation der Usurpation auch im lateinischen Westen siehe Gerald Schwedler, Usurpation: Term and concept. A missing entry in the ‚Geschichtliche Grundbegriffe‘, in: Gerald Schwedler / Eleni Tounta (Hgg.), Ritual and the science of ritual III: State, power, and violence, Wiesbaden 2010, S. 361–391, bes. S. 370–378.
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der General Isaakios (I.) Komnenos 1057 durch eine Usurpation zum Kaiser geworden war, ließ er ein neuartiges Münzbild kreieren. Dieses zeigte ihn in militärischer Gewandung, das blank gezogene Schwert in seiner Rechten gegen seine Schulter gestützt37. Das martialische Auftreten38 habe die Zeitgenossen irritiert, wie der Fortsetzer der Skylitzes-Chronik etwa eine Generation später schreibt: Auf diese Weise also erlangte Isaakios Komnenos die Kaiserherrschaft. Um sich seinen Ruf erwiesener Tapferkeit und den Nachweis seiner kriegerischen Tüchtigkeit zu bewahren, ließ er sich auf der kaiserlichen Währung sofort als Schwertträger abbilden. Nicht Gott schrieb er nämlich alles zu, sondern seiner eigenen Stärke und Kriegserfahrung39.
Es greift zu kurz, diese Einschätzung als absichtliche Fehlinterpretation der Darstellung von Seiten des Autors abzutun40. Selbst wenn Isaakios die Rolle Gottes bei seiner Usurpation wohl nicht bewusst in den Hintergrund drängen wollte, so war die intendierte Botschaft doch eindeutig kriegerisch. Das provokante Münzbild erregte zweifellos Aufsehen und lud geradezu dazu ein, als unangebrachte Erinnerung an den gewaltsamen Umsturz betrachtet zu werden. Bezeichnenderweise wurde das unziemliche Motiv vielleicht noch von Isaakios selbst41, jedenfalls aber von seinen Nachfolgern verworfen. Sich allein auf ihre Stärke zu berufen, war für Usurpatoren also zu wenig. Sie mussten sich weitaus intensiver um die Legitimation ihrer Herrschaft bemühen als die
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Philip Grierson, Leo III to Nicephorus III (717–1081) (Catalogue of the Byzantine coins in the Dumbarton Oaks Collection and in the Whittemore Collection 3/1–2), Washington, D. C. 21993, vol. 3/1, S. 126 sowie vol. 3/2, S. 759–760 und 762; Vasso Penna / Cécile Morrisson, Usurpers and rebels in Byzantium. Image and message through coins, in: Angelov / Saxby (Hgg.), Power and subversion, S. 21–42, hier S. 33–34. 38 Zum Auftreten der mittelbyzantinischen Kaiser als Krieger siehe jüngst Maria Parani, Dressed to kill: Middle Byzantine military ceremonial attire, in: Ayla Ödekan / Nevra Necipoğlu / Engin Akyürek (Hgg.), The Byzantine court: Source of power and culture. Papers from the Second International Sevgi Gönül Byzantine Studies Symposium, Istanbul 21–23 June 2010, Istanbul 2013, S. 145–156 (mit Hinweis auf die Münzprägung des Isaakios auf S. 153). 39 Skyl. Cont. S. 103, Z. 1–4 (Tsolakes): Τὸν μὲν οὖν τρόπον ὃν εἴρηται τὴν βασιλείαν ὁ Κομνηνὸς ἀναζωσάμενος δόξαν τε παρεσχηκὼς ἀνδρείας καὶ πεῖραν πολεμικῆς γενναιότητος, αὐτίκα τῷ βασιλικῷ νομίσματι σπαθηφόρος διαχαράττεται, μὴ τῷ Θεῷ τὸ πᾶν ἐπιγράψας, ἀλλὰ τῇ ἰδίᾳ ἰσχύι καὶ τῇ περὶ πολέμους ἐμπειρίᾳ. Dieselbe Kritik findet sich bei Zonaras 18.4.2 (Pinder/Büttner-Wobst S. 665, Z. 20–666, Z. 3): ὁ δὲ Κομνηνὸς τῇ βασιλείᾳ ἐγκαταστὰς ἑαυτῷ τὴν ταύτης ἐπιτυχίαν καὶ οὐ τῷ θεῷ ἐπεγράψατο, καὶ τοῦτο δῆλον ὅτι „τοῦτό μοι τὴν βασιλείαν, οὐχ ἕτερόν τι προυξένησε.“ 40 So Cécile Morrisson, Displaying the emperor’s authority and kharaktèr on the marketplace, in: Pamela Armstrong (Hg.), Authority in Byzantium, London 2016, S. 65–82, hier S. 80–81. Selbst wenn sich, wie Morrisson vermutet, das Münzbild an Darstellungen des Erzengels Michael orientierte, hat Isaakios die angriffslustige Pose ohne Zweifel bewusst gewählt, um seinen militärischen Hintergrund zu betonen. 41 Es ist ein zweites Münzbild des Isaakios belegt, das ihn in einer herkömmlichen Pose mit Feldzeichen (labarum) und dem Schwert in der Scheide zeigt. Grierson (DOC 3/2, S. 760) plädiert (vorsichtig) dafür, dass dieses zeitlich vor der Darstellung mit gezücktem Schwert datiert. Jedoch spricht Skyl. Cont. (siehe das Zitat in Anm. 39) explizit davon, dass Isaakios das provokante Motiv sofort (αὐτίκα) nach seiner Usurpation in Umlauf brachte.
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Nutznießer einer dynastischen Erbfolge, deren Rechtmäßigkeit außer Frage stand. Obwohl die Krone de iure eigentlich nicht vererbt werden konnte, galt die reibungslose und konsensuale Weitergabe der Herrschaft dennoch gewissermaßen als Idealtypus des Machtwechsels. Die Bedeutung der Herkunft und dynastischen Anbindung zeigt sich nicht nur in Heiratsprojekten und Adoptionen, sondern auch in der prophylaktischen Beseitigung unerwünschter potentieller Thronfolger durch Schur zum Mönch, Verstümmelung oder Kastration42. 1.1.2 Zur Definition des Usurpationsbegriffs in der vorliegenden Arbeit Die Unterscheidung zwischen „legitimer“ und „illegitimer“ Thronfolge ist also im Prinzip nur eine Frage der Perspektive oder beeinflusst von der nachträglichen Bewertung durch die überlieferten Quellen. Eindeutig als Usurpatoren können all jene Thronprätendenten verstanden werden, die einen regierenden Kaiser durch eine öffentliche Proklamation innerhalb oder außerhalb Konstantinopels herausforderten und im Anschluss mit primär militärischen Mitteln versuchten, sich Zugang zum Palast zu verschaffen und ihren Kontrahenten zu vertreiben (z. B. Georgios Maniakes, Leon Tornikios, Alexios I. Komnenos). Aus forschungspraktischer Sicht streng von diesen klassischen Usurpationen zu trennen43, aber dennoch zu berücksichtigen, sind jene Usurpatoren, die sich der Krone auf subtileren Wegen oder durch Palastrevolutionen bemächtigen wollten, indem sie den Amtsträger beseitigten, bevor sie ihre Ansprüche auf den nunmehr vakanten Thron äußerten (z. B. Ioannes I., Michael IV.). Als Usurpatoren werden ferner auch jene Kaiser betrachtet, die als Regenten für legitime Kindkaiser fungieren sollten, sich aber früher oder später zu vollwertigen Hauptkaisern ausrufen ließen (Romanos I., Nikephoros II., Ioannes I., Andronikos I.). Einige Fälle von Herrschaftsübernahmen, die sich im Graubereich der Legitimität bewegten, wurden ebenfalls berücksichtigt. Dazu zählt beispielsweise Romanos IV. Diogenes (1068–1071), der die Krone zwar seiner Heirat mit der verwitweten Kaiserin Eudokia verdankte, dabei aber deren minderjährigen Sohn verdrängte. Auch der Amtsantritt von Konstantinos X. Dukas (1059–1067), der zwar von Isaakios I. zum Nachfolger designiert worden sein soll, aber dessen Tod nicht abwartete, wird als Usurpation gewertet. Für die komparative Analyse des Verhaltens der Usurpatoren, aber auch des herausgeforderten Kaisers, wurden nicht nur erfolgreiche, sondern auch gescheiterte Putschversuche behandelt. Dies ermöglicht auch einen Einblick in ritualisierte Bestrafungen
42 Vgl. Fögen, Das politische Denken, S. 54–55. 43 Flaig, Konzeptionalisierung, S. 19–20 mit Anm. 15.
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Einleitung
von Hochverrätern. Nicht ausgewertet wurden hingegen jene Rebellionen gegen die kaiserliche Autorität, die andere Ziele als die Übernahme des Thrones verfolgten, z. B. die Etablierung einer regional begrenzten Herrschaft innerhalb des Reiches oder lokale Aufstände in den Provinzen, selbst wenn die Aufrührer – wie etwa Isaakios Komnenos auf Zypern – imperiale Symbole für sich beanspruchten44. Ein Usurpator kann in der politischen Realität bei erfolgreichem Verlauf seiner Unternehmung zum Kaiser werden bzw. nach seiner allfälligen Absetzung erneut wie ein Usurpator behandelt und als solcher bestraft werden45. Diesen Veränderungen ist bei der Analyse insofern Rechnung getragen worden, als für die Kategorisierung der behandelten Personen stets die Perspektive des faktischen Kaisers (unabhängig von den Umständen seines Amtsantrittes) eingenommen wurde, der eine liturgische Krönung in Konstantinopel gefeiert hatte und sich im Besitz des Palastes befand. Auf diese Weise ist es möglich, beispielsweise Andronikos I. zunächst als Usurpator (aus der Sicht von Alexios II.), dann als legitimen Kaiser (aus seiner eigenen Sicht) und nach seinem Sturz erneut als Usurpator (aus der Sicht von Isaakios II.) zu betrachten. Im Sinne größtmöglicher Klarheit werden Ordnungszahlen von Kaisern, die den Thron erfolgreich usurpierten, in Klammer gesetzt, solange sich die Schilderungen auf die Phase des offenen Thronkampfes beziehen. 1.1.3 Periodisierung des Untersuchungszeitraums Wie bereits erwähnt, kam mehr als die Hälfte der Kaiser der mittelbyzantinischen Zeit durch Usurpation an die Macht. Doch bot die Epoche auch zwischen dem frühen 10. Jahrhundert und 1204 keineswegs einen konstant fruchtbaren Nährboden für Thronkämpfe. Der Untersuchungszeitraum war im Gegenteil großen Veränderungen unterworfen und auch die Prämissen für Usurpationen änderten sich ständig. Dies erlaubt die Betrachtung von Usurpationen vor einer sich mehrfach wandelnden politischen Gesamtsituation und variablen Anforderungen bei der Legitimation von kaiserlicher Macht. Die Epoche umfasst sowohl dynastische Phasen (Makedonen, Komnenoi, Angeloi) in verschiedensten Entwicklungsstadien als auch Phasen, in denen die Krone frei von familiären Bindungen war. Besondere Beachtung verdient hierbei das stets wandelbare Verhältnis des Kaisertums zur Aristokratie (dynatoi). Wenngleich die Kro44
Cheynet, Pouvoir, S. 116–117 (Nr. 159). Siehe auch Michael Grünbart, How to become an emperor. The ascension of Isaakios Komnenos (of Cyprus), in: Sabine Rogge / Michael Grünbart (Hgg.), Cyprus in medieval times – a place of cultural encounter (Schriften des Instituts für Interdisziplinäre Zypern-Studien 11), Münster 2015, S. 11–27. Zu dem erst im Laufe des 11. Jahrhundert langsam einsetzenden Phänomen vgl. Jürgen Hoffmann, Rudimente von Territorialstaaten im byzantinischen Reich (1071–1210). Untersuchungen über Unabhängigkeitsbestrebungen und ihr Verhältnis zu Kaiser und Reich (Miscellanea Byzantina Monacensia 17), München 1974. 45 Vgl. Lilie, Statistik, S. 213–214.
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ne theoretisch von jedem beansprucht werden konnte, so erwies sich das Spiel um die Macht im Untersuchungszeitraum doch als elitär, und zumeist waren es Mitglieder mächtiger Familien, die den Thron beanspruchten. Obwohl nur mutatis mutandis mit dem feudalen Geburtsadel des lateinischen Westens vergleichbar, bildete die byzantinische Aristokratie in den hier behandelten Jahrhunderten eine relativ homogene Kaste mit ähnlichen wirtschaftlichen Grundlagen, Wertvorstellungen und Ambitionen46. Das Kräfteverhältnis zwischen der Zentralverwaltung in Konstantinopel und der aufstrebenden Aristokratie einerseits sowie jenes zwischen den einzelnen Familien andererseits prägte auch den politischen Diskurs. Angesichts der jeweils unterschiedlichen Konstellation der Elite, der schwankenden Autorität und moralischen Integrität des Kaisertums und der Miteinbeziehung anderer Machtfaktoren variierten auch die Strategien der Selbstinszenierung der Throninhaber und -prätendenten. So lassen sich Häufungen bestimmter performativer Handlungsmuster oder Bedeutungsschwankungen bestimmter Örtlichkeiten nicht ohne Kenntnis der grundlegenden politischen Entwicklungen verstehen. Der folgende Versuch einer Periodisierung des Untersuchungszeitraumes dient dabei nur einer groben Orientierung. Relevante sozio-historische Zusammenhänge und Entwicklungen werden bei Bedarf in den jeweiligen Kapiteln detaillierter und unter Angabe der relevanten Forschungsliteratur erläutert: Die Krone als Erbe der makedonischen Dynastie (ca. 915–1056)47 Basileios I. (867–886), der seine Herrschaft selbst einem Putsch verdankte, hatte eine der langlebigsten Herrscherdynastien der byzantinischen Geschichte begründet, deren Vertreter bis 1056 an der Spitze des Staates stehen sollten. Machtkämpfe brandeten vor allem dann auf, wenn die Krone an minderjährige Thronfolger der Dynastie überging, so nach dem Tod Kaiser Alexanders 913 oder Romanos’ II. 963. Die erfolgreichen Usurpatoren des 10. Jahrhunderts (Romanos I., Nikephoros II., Ioannes I.) haben ge46
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Aus der Fülle an Literatur zur byzantinischen Aristokratie im Untersuchungszeitraum hervorzuheben sind die Beiträge im Sammelband Michael Angold (Hg.), The Byzantine aristocracy, IX to XIII centuries (BAR International Series 221), Oxford 1984, darin bes. Alexander Kazhdan, The aristocracy and the imperial ideal, S. 43–57. Grundlegend auch die folgenden Untersuchungen: Michael Grünbart, Inszenierung und Repräsentation der byzantinischen Aristokratie vom 10. bis zum 13. Jahrhundert (Münstersche Mittelalter-Schriften 82), Münster 2015; Jean-Claude Cheynet: The Byzantine aristocracy and its military function (Variorum collected studies series 859), Aldershot 2006; Idem, Pouvoir; Idem, Bureaucracy and aristocracies, in: Elizabeth Jeffreys / John Haldon / Robin Cormack (Hgg.), The Oxford handbook of Byzantine studies, Oxford 2008, S. 518–526; Stephen A. Kamer, Emperors and aristocrats in Byzantium, 976–1081, Diss. Cambridge, Mass. – Ann Arbor 1983; Alexander Kazhdan / Silvia Ronchey, L’aristocrazia bizantina dal principio dell’XI alla fine del XII secolo. Nuova edizione riveduta e aggiornata, Palermo 21999. Zum Begriff der Aristokratie siehe auch Irene A. Antonopoulou, La question du terme ‚aristocratie‘ byzantine. Remarques sur l’ambivalence du terme ‚aristocratie‘ dans la recherche historique contemporaine, in: Symm 15, 2002, S. 257–264. Vgl. zum Folgenden Cheynet, Pouvoir, S. 321–339; Kamer, Aristocrats, S. 94–309.
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Einleitung
mein, dass sie nicht die Legitimität der Kindkaiser in Frage stellten, sondern jene der eingesetzten Regenten. Das byzantinische Konstrukt des Kaiserkollegiums mit einem Haupt- und einem oder mehreren Mitkaisern gestattete es den Usurpatoren, sich an die Spitze des Staates zu setzen, ohne ihre minderjährigen Konkurrenten beseitigen zu müssen. Zusätzlich wurden durch Heiratsprojekte verwandtschaftliche Beziehungen zur Dynastie geknüpft. Im Verhältnis zwischen Aristokratie und Kaisertum bedeutete die Regierungszeit von Basileios II. (976–1025) einen markanten Einschnitt. Mächtige aristokratische Häuser Kleinasiens (Phokas, Maleinos, Lakapenos, Melissenos u. a.), welche die treibenden Kräfte hinter den Usurpationen des 10. Jahrhunderts gewesen waren, verloren ihren Einfluss zu Gunsten neuer Familien (Komnenos, Botaneiates, Monomachos, Dukas, Tornikios, Batatzes, Taronites u. a.), deren Loyalität sich der Kaiser durch Vergabe von Ämtern und Titeln sicherte. Wirtschaftliche Maßnahmen sollten die Macht der aristokratischen Großgrundbesitzer ebenso eindämmen wie die Schaffung stehender Regimenter (tagmata) ein Gegengewicht zu den in den Provinzen ausgehobenen Thementruppen bilden sollte48. Die beabsichtigte Stabilisierung trat ein, und erst nach dem Tod von Basileios II. im Jahre 1025 brach eine neue Phase an Thronkämpfen los. Der Anspruch auf die Kaisermacht blieb dennoch eng an die Zugehörigkeit zur makedonischen Dynastie geknüpft: Nachdem im Jahre 1028 mit Konstantinos VIII. der letzte Makedonenkaiser ohne männlichen Erben verstarb, verdankten die folgenden vier Kaiser (Romanos III., Michael IV., Michael V., Konstantinos IX.) ihr Amt der Heirat mit bzw. Adoption durch Konstantinos’ Tochter Zoe. Die legitimatorische Kraft der dynastischen Linie ließ es sogar zu, dass Zoe und ihre Schwester Theodora (1042), schließlich auch Theodora allein (1055/56) eigenständig als Hauptkaiserinnen regieren konnten. Die Suche nach einem neuen Gleichgewicht (1056–1081)49 Auf den Tod Theodoras folgte eine der intensivsten Phasen von Thronkämpfen in der byzantinischen Geschichte. Das nunmehrige Fehlen einer Dynastie nahm Thronprätendenten die Hürde einer verwandtschaftlichen Beziehung zum Kaiserhaus – der Thron konnte nun grundsätzlich von jedem Mächtigen beansprucht werden. Die daraus resultierenden Machtkämpfe wurden fast ausschließlich unter jenen aristokratischen Familien ausgetragen, die seit der Expansion des Reiches im späten 10. und frühen 11. Jahrhundert und ihrem Aufstieg unter Basileios II. langsam an die Stelle der alten Elite getreten waren und nun den Thron beanspruchten. Bereits Konstantinos IX. (1042–1055) hatte sich mit einigen Usurpationsversuchen auseinandersetzen müssen, konnte sich aber noch auf einen Großteil der führenden Familien verlassen. Der
48 49
Kamer, Aristocrats, S. 95–119. Vgl. zum Folgenden Cheynet, Pouvoir, S. 339–356; Kamer, Aristocrats, S. 310–376.
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Sturz Michaels VI. im Jahre 1057 hingegen führte vor Augen, dass eine Allianz mehrerer Generäle mit aristokratischem Hintergrund ihre Ansprüche durchaus auch militärisch durchsetzen konnte. Maßnahmen der kaiserlichen Zentralgewalt zur Beschneidung der Macht der Magnaten, wie sie mehrfach für das 10. und die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts belegt sind, begegnen fortan nicht mehr. Bis zum Ende des Reiches 1453 sollte der Thron in der Hand einiger weniger Familien verbleiben. Verglichen mit früheren Jahrhunderten war es überdies immer wichtiger geworden, dass die in den Provinzen verwurzelte Elite auch Besitzungen und Niederlassungen in Konstantinopel ihr Eigen nannte, um näher am Kaiserhof zu sein50. In diesem teils recht freien Spiel der Mächte fiel Entscheidungsträgern innerhalb Konstantinopels ein stärkeres politisches Gewicht als gewohnt zu und so konnten bisweilen auch Patriarchen und der Senat als „Königsmacher“ fungieren. Auch die Sympathien der Stadtbevölkerung spielte in diesen Situationen eine weit bedeutendere Rolle als sonst. Stabilisierung unter den Komnenen (1081–1180)51 Die Thronkämpfe des 11. Jahrhunderts endeten erst unter Alexios I. Komnenos (1081– 1118), der den Thron selbst einer Usurpation verdankte. Zwar war auch Alexios besonders zu Beginn seiner Herrschaft mit Komplotten und versuchten Attentaten konfrontiert, doch gelang es keinem Herausforderer, eine nennenswerte militärische Macht hinter sich zu scharen52. Der Grund für die wiedergewonnene Stabilität, die sogar die Gründung einer neuen Herrscherdynastie ermöglichte, lag vor allem in der von Alexios betriebenen horizontalen Vernetzung der Aristokratie durch Heiratsverbindungen. Den Grundstein hierfür bildete Alexios’ eigene Ehe mit Eirene aus dem Hause Dukas. Rund um diese beiden Familien entspann sich so im Laufe der Zeit eine Koalition der mächtigsten Häuser. Wer an der Macht beteiligt sein wollte, musste verwandtschaftliche Beziehungen zu den Komnenen aufweisen. Der Kaiser stand damit nicht nur als oberster Herrscher an der Spitze des Reiches, sondern auch als Familienoberhaupt an der Spitze eines Clans, der die namhaften Familien einte. Die Stabilität dieses Konstrukts verringerte die Anzahl an Usurpationsversuchen immens. Die Herrschaft von Alexios’ Nachfolgern Ioannes II. und Manuel I. wurde kaum infrage gestellt – und wenn, dann vor allem von anderen Familienmitgliedern53.
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Cheynet, Pouvoir, S. 202; Peter Schreiner, Das byzantinische Reich: Hauptstadt und Peripherie, in: Werner Maleczek (Hg.), Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa (Vorträge und Forschungen 63), Ostfildern 2005, S. 137–170, hier S. 144–145. Cheynet, Pouvoir, S. 359–374, S. 413–424. Siehe die Zusammenstellungen bei B. Leib, Complots à Byzance contre Alexis I Comnène (1081– 1118), in: BSl 23, 1962, S. 250–275 und Cheynet, Pouvoir, S. 90–103. Cheynet, Pouvoir, S. 103–110.
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Einleitung
Krise und Zusammenbruch (1180–1204)54 Der Tod Manuels I. Komnenos im Jahre 1180 führte innerhalb weniger Jahre zu einer völligen Destabilisierung des mühselig aufgebauten Familienverbandes55. Aus den innerkomnenischen Kämpfen um die Regentschaft für den minderjährigen Thronfolger Alexios II. (1180–1183) sollte dessen Onkel Andronikos I. (1183–1185) hervorgehen, der seinen Schützling jedoch ermorden ließ und sich auch sonst von seiner Familie distanzierte. Die folgenden Jahre unter der Dynastie der Angeloi bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204 waren geprägt von einer Vielzahl an Usurpationen und bislang unüblicher Anwendung von Gewalt innerhalb der Elite. Die zahlreichen Thronkämpfe dieser Jahre wurden mit wenigen Ausnahmen als Palastrevolten geführt. Das politische Gewicht des Patriarchen nahm zu und immer öfter wurden die Konflikte auf den Straßen der Hauptstadt ausgetragen und entschieden. In den Quellen begegnen nun auch wiederholt bunt zusammengewürfelte Versammlungen von Klerikern, Adeligen und Stadtbevölkerung, die ihren Einfluss geltend machen wollten und schlussendlich sogar das Recht der Kaiserwahl für sich in Anspruch nahmen. Vor diesem Hintergrund gewann in den Thronkämpfen die Kontrolle symbolträchtiger städtischer Räume, insbesondere der Hagia Sophia an Bedeutung. 1.2 Methodologische Überlegungen Die vorliegende Arbeit versucht, aus der Analyse symbolischer Handlungen, die in historiographischen Texten überliefert sind, Rückschlüsse auf die Konzeption und Mechanismen der kaiserlichen Macht in Byzanz zu ziehen. Ein solches Vorhaben ist aus mehrfacher Sicht mit methodischen Gefahren verbunden. Zur Vermeidung derselben ist es erstens nötig, sich mit den soziologischen Grundlagen der Ritualwissenschaft vertraut zu machen, und zweitens nützlich, deren Adaption durch die Geschichtswissenschaften kritisch zu betrachten. 1.2.1 Der performative turn in den Geschichtswissenschaften Durch das Verständnis der Geschichtswissenschaft als umfassende Kulturwissenschaft lässt sich ihre methodologische Basis erweitern und es ergeben sich neue Möglichkeiten, vormoderne politische Strukturen und ihre Funktionsweisen genauer zu erfassen. Eine entscheidende Rolle bei diesem Ansatz spielt die Annahme einer sinnstiftenden Funktion menschlichen Handelns, die vor allem in Zeremonien und Ritualen sichtbar wird 54 55
Cheynet, Pouvoir, S. 427–454. Für einen differenzierten Blick auf die dramatische Epoche von 1180–1204 siehe die Beiträge in Simpson (Hg.), Byzantium, 1180–1204.
Methodologische Überlegungen
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(performative turn). Während sich speziell die westliche Mittelalterforschung bereits seit den 1980er Jahren diesen Blickwinkel für sich entdeckt hat56, beginnt sie in der Byzantinistik erst seit wenigen Jahren stärker Fuß zu fassen57. Im Folgenden sollen die soziologischen und ethnologischen Grundlagen des Ansatzes sowie die zentralen Begriffe der Methode kurz vorgestellt werden. Auch sind die heuristischen Grenzen des performative turn zu beleuchten und seine Relevanz für die vorliegende Studie zu prüfen58. Gesellschaft und Symbole Die Idee, von ritualisierten Verhaltensformen auf Habitus und Diskurs einer Gesellschaft schließen zu können, beruht auf der Konzeption, dass Kultur über die Fähigkeit des Menschen zur Symbolerzeugung definiert wird59 und dementsprechend auch die 56
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Siehe hierzu den Sammelband Jürgen Martschukat / Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 19), Köln/Weimar/Wien 2003 (mit Literatur) sowie Frank Rexroth, Rituale und Ritualismus in der historischen Mittelalterforschung. Eine Skizze, in: Hans-Werner Goetz / Jörg Jarnut (Hgg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung (Mittelalterstudien 1), München 2003, S. 391–406; Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27, 2000, S. 389–405. Hervorzuheben sind: Michael McCormick, Eternal victory. Triumphal rulership in late antiquity, Byzantium, and the early medieval West, Cambridge 1986; Idem, Analyzing imperial ceremonies, in: JÖB 35, 1985, S. 1–20; vgl. auch Idem, Clovis at Tours, Byzantine public ritual and the origins of medieval ruler symbolism, in: Evangelos K. Chrysos / Andreas Schwarcz (Hgg.), Das Reich und die Barbaren [Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 29], Wien/Köln 1989, S. 155–180); Albrecht Berger, Imperial and ecclesiastical processions in Constantinople, in: Nevra Necipoǧlu (Hg.), Byzantine Constantinople: Monuments, topography and everyday life (The Medieval Mediterranean. Peoples, Economies and Cultures, 400–1453, 33), Leiden/Boston/Köln 2001, S. 73–87; Michael Grünbart, Basileios II. und Bardas Skleros versöhnen sich, in: Millennium 5, 2008, S. 213–224; Idem, Der Kaiser weint. Anmerkungen zur imperialen Inszenierung von Emotionen in Byzanz, in: FMSt 42, 2008, S. 85–108; Idem, Become an emperor; in eine ähnliche Richtung weisen Arbeiten von Alexander Beihammer (Die Kraft der Zeichen. Symbolische Kommunikation in der byzantinisch-arabischen Diplomatie des 10. und 11. Jahrhunderts, in: JÖB 54, 2004, S. 159–189; Idem, Succession, S. 159–202); vgl. auch Alexandru Ş. Anca, Herrschaftliche Repräsentation und kaiserliches Selbstverständnis. Berührung der westlichen mit der byzantinischen Welt in der Zeit der ersten Kreuzzüge (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496), Münster 2010; Alexander Beihammer / Stavroula Constantinou / Maria Parani (Hgg.), Court ceremonies and rituals of power in Byzantium and the medieval Mediterranean. Comparative perspectives (The Medieval Mediterranean 98), Leiden/Boston 2013. Ergänzend zum folgenden Überblick über die Adaption der Ritualwissenschaft für die Geschichtsforschung siehe Alexander Beihammer, Comparative approaches to the ritual world of the medieval Mediterranean, in: Beihammer/Constantinou/Parani (Hgg.), Court ceremonies, S. 1–33 (mit Literatur). Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35), Berlin 2005, S. 9–24, hier S. 10.
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Einleitung
soziale Welt durch die Schaffung von Symbolsystemen (vor allem durch Sprache) generiert wird60. Als praktikabel erweist sich hierbei der recht weit gefasste Symbolbegriff von Clifford Geertz, demzufolge ein Symbol jedes Objekt, jede Handlung, jedes Ereignis, jede Charaktereigenschaft oder Beziehung sein kann, die als Träger einer Konzeption dient, die wiederum die Bedeutung des Symbols konstituiert61. Innerhalb der Symbolsysteme gibt es eine besondere Art von Zeichen, „die in verdichteter (verbaler, visueller, gegenständlicher oder gestischer) nichtdiskursiver Form über sich selbst hinaus auf etwas anderes, auf einen größeren Zusammenhang verweisen“62. Zu dieser Kategorie von Symbolen zweiter Ordnung zählen unter anderem Metaphern, Bilder, Artefakte und Gebärden, aber auch Rituale und Zeremonien, über die nicht zuletzt soziale und politische Realitäten geschaffen werden. Nicht zuletzt wird auf diese Weise auch Macht generiert, die mit Niklas Luhmann als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmittel aufgefasst werden kann63. Die hierfür nötigen symbolisch-expressiven Handlungen können zur leichteren Handhabe unter dem Begriff der „symbolischen Kommunikation“ subsumiert werden. Grundlegend für die moderne Kommunikationstheorie ist dabei, dass jeder Kommunikationsakt als Einheit und Differenz von Information, Mitteilung und Verstehen besteht. Kommunikation bedeutet demnach nicht das bloße Übermitteln einer Botschaft von Sender zu Empfänger, sondern es müssen drei Bedingungen erfüllt sein: (1) es gibt eine Information, die (2) mitgeteilt und (3) verstanden wird, wobei das, was vom Empfänger verstanden wird keineswegs mit der Intention des Senders übereinstimmen muss. Dieses Schema gilt für verbale Bereiche der Kommunikation ebenso wie für non-verbale. Damit die erwähnten drei Bedingungen erfüllt werden können, müssen innerhalb einer Gruppe (Gesellschaft) gewisse Regeln und Konventionen existieren, die den Individuen als unveränderlich und objektiv erscheinen, in Wirklichkeit aber in jedem kommunikativen Akt neu begründet werden müssen und somit offen sind für Modifikationen64. 60
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Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Idem, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt von Brigitte Luchesi / Rolf Bindemann, Frankfurt am Main 1987 (= Thick description. Toward an interpretative theory of cultural system, in: Idem, The interpretation of cultures. Selected essays, New York 1973, S. 3–30). Vgl. hierzu auch Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 21953, Nachdr. 1997. Vgl. Burckhard Dücker, Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2007. Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: Idem, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, S. 44–95, hier S. 49 (= Religion as a cultural system, in: Michael Banton [Hg.], Anthropological approaches to the study of religion, London 1966, S. 1–46). Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 11. Symbole werden demnach nicht als autonome Entitäten verstanden, sondern als sichtbares In-Beziehung-Setzen von verschiedenen Entitäten. Niklas Luhmann, Macht, Konstanz/München 42012, bes. S. 13–38. Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31, 2004, S. 489–527, hier S. 493–495.
Methodologische Überlegungen
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Da im Prinzip jede Form von Kommunikation immer auch symbolisch ist, ist der Begriff der „symbolischen Kommunikation“ auf das eigentlich symbolisch-expressive Handeln einzugrenzen, dessen Sinn die Ausführung der Handlung selbst ist. Dadurch unterscheidet es sich vom instrumentellen Handeln, das auf einen Zweck außerhalb seiner selbst abzielt65. Das Tragen einer Waffe beispielsweise impliziert auf instrumenteller Ebene, dass der Träger die Möglichkeit hat, sich durch den Gebrauch derselben mit Gewalt verteidigen kann. Auf symbolischer Ebene weist ihn das Tragen der Waffe als Mitglied einer Gruppe bzw. als Inhaber einer gewissen gesellschaftlichen Rolle aus, und das unabhängig davon, ob die Waffe funktioniert oder je verwendet wird. Außerdem ist zwischen symbolischer und begrifflich-abstrakter (oder diskursiver) Kommunikation zu unterscheiden. Während die letztgenannte möglichst eindeutige Aussagen generieren will und zu hoch komplexen Äußerungen befähigt, ist symbolische Kommunikation stets momenthaft-verdichtet, mehrdeutig und unscharf und bietet so mehr Spielräume für Interpretationen. Keine sprachliche Äußerung kann ausschließlich begrifflich-abstrakt sein, da sie implizit stets auch eine symbolische Dimension enthält66. Gesellschaften müssen sich um ihrer Stabilität willen regelmäßig der Gültigkeit ihrer Werte und Normen versichern67. Dies geschieht am effektivsten durch symbolische Handlungen, in denen diese Werte und Normen in performativen Akten verdichtet und damit empirisch wahrnehmbar werden68. Die Analyse von Ritualen und Zeremonien erlaubt dem Historiker nun einerseits Rückschlüsse auf grundlegende Ordnungen der Gesellschaft und andererseits auf die der untersuchten Gesellschaft immanenten Mechanismen, wie Sinnzuordnungen sich verändern bzw. aktiv verändert werden können. Gerade die Unschärfe von symbolischen Handlungen eröffnet nämlich diverse Freiräume für Interpretationen, welche Individuen nützen können, um Botschaften effizient zu vermitteln, beispielsweise um Machtansprüchen Ausdruck zu verleihen, Konfliktlösungen anzubahnen oder Streitigkeiten loszubrechen. Neben ihrer stabilisierenden Wirkung fungieren Rituale also gleichzeitig als Kristallisationskerne für die Austragung von Konflikten69, sei es, dass es dabei um die Besetzung symbolischer Po-
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69
Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 497–498. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 499. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 505. Diese Erkenntnis entstammt Erfahrungswerten aus der Ethnologie: Die zeitliche Begrenzung des Aktes, der überschaubare Kreis an Beteiligten sowie der festgelegte Ort und Anlass erleichtern bei beobachtbaren Ritualen die Analyse derselben. Vgl. Elisabeth Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Martschukat / Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 19), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 33–54, hier S. 38. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 505–506.
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Einleitung
sitionen im bestehenden Ordnungssystem geht, sei es, dass das Ordnungssystem und seine Deutungsvarianten als Ganzes kritisiert und unterlaufen werden70. Was unter dem Begriff „Ritual“ zu verstehen ist, lässt sich ungeachtet der Vielzahl an mehr oder minder nuancierten Ritualdefinitionen und -theorien71 am besten folgendermaßen beschreiben: Unter Ritualen versteht man im Allgemeinen kulturspezifische, kollektive, formalisierte und repetitive Handlungsweisen; diese dienen entweder dem Zweck, ihren Gegenstand – sei es eine Person, eine Sache oder die Gruppe selbst – zu verändern (so die „funktionalistischen“ Lesarten), oder aber, sie sollen bei den Beteiligten Wissen über die Sinnhaftigkeit der erfahrenen Welt und ihre Einbettung in größere, kosmische Zusammenhänge erzeugen, reorganisieren und externalisieren (so die „interpretativen“ Lesarten). Das bedeute, dass Rituale keine anthropologischen Universalien darstellen, sondern an ihren kulturellen Kontext gebunden bleiben72.
Das solcherart konstruierte und allgegenwärtige kulturelle Bedeutungsgeflecht hat dialektischen Charakter: Dem Einzelnen erscheint es als objektive, unveränderbare Tatsache, und seine Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten sind bis zu einem gewissen Grad durch das „Sinnuniversum“ vorgegeben; gleichzeitig werden aber eben diese als statisch wahrgenommenen Bedeutungszuschreibungen stets aufs Neue reproduziert und demgemäß, unwillkürlich oder willkürlich, modifiziert73. Was die Funktionsweise von Ritualen betrifft, wäre es naiv, davon auszugehen, dass diese in der Lage seien, die Gefühlswelt der beteiligten Personen direkt und automatisch umzuwandeln. Die auf Konventionen beruhenden, stereotypen Kommunikationsformen drängen im Gegenteil die privaten Gefühle der Akteure zu Gunsten ihrer Verpflichtung gegenüber der öffentlichen Moral in den Hintergrund. Es geht weniger um eine Katharsis der Ritualteilnehmer als vielmehr um eine disziplinierte Wiederholung der richtigen Einstellung74. Die hermeneutische Reflexion ist nicht Teil des symbolischen Handelns sondern erst der ethnologischen bzw. historischen Analyse75.
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Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 507. Vgl. hierzu die Zusammenstellung grundlegender Texte in deutscher Übersetzung in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 2 2003; Catherine Bell, Ritual. Perspectives and dimensions, Oxford u. a. 22009; Dücker, Rituale, S. 14–18. Rexroth, Ritual und Ritualismus, S. 393. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, S. 491; Eadem, Kulturgeschichte, S. 11. Stanley J. Tambiah, Eine performative Theorie des Rituals, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 22003; Catherine Bell, Ritual. Perspectives and dimensions, Oxford u. a. 22009, S. 227–250 (= A performative approach to ritual. Proceedings of the British Academy 1979, S. 116–142), neu abgedruckt in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 210–242, hier S. 220–221. Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 16–17.
Methodologische Überlegungen
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Bei alledem sollte man sich stets die individuelle „Gemachtheit“ von Ritualen vor Augen halten. Obgleich vorgeformte Handlungsmuster, müssen und können sie an die jeweilige Situation angepasst werden76. So muss nicht alles, was in normativen Textsammlungen als festgelegtes Prozedere erscheinen mag, auf lange gepflegten Traditionen beruhen. Es kann sich genauso gut um eine Momentaufnahme oder gar einen Versuch handeln, neu arrangierte oder (vermeintlich) wiederentdeckte Symbolhandlungen als verbindliches Modell für die Zukunft zu etablieren77. Gerade in der Byzantinistik tendierte die Forschung gerne dazu, dem im 10. Jahrhundert unter Konstantinos VII. kompilierte Zeremonienbuch De cerimoniis eine Jahrhunderte überdauernde Verbindlichkeit zu unterstellen. Hingegen ist mittlerweile klar, dass die Kompilation der Texte auf eine Wiederbelebung spätantiker, teilweise längst nicht mehr real inszenierter Rituale abzielte78. Das soll nicht heißen, dass symbolische Handlungen stets völlig neu erfunden werden konnten. Sie mussten durchaus etablierten Spielregeln folgen und traditionelle Elemente inkorporieren, um glaubwürdig zu sein. Allerdings konnten diese Bausteine durchaus flexibel arrangiert und verändert werden. Die Experten, die hier als Regisseure fungierten, diese „Ritualmacher“, sind in den Quellen zumeist nicht greifbar79. Überhaupt ist die Zuschreibung der Verantwortlichkeit, also der Handlungsmacht bzw. agency80 in Ritualen dadurch erschwert, dass die Planungen nur äußerst selten dokumentiert sind.
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Burkhard Gladigow, Der Herrscher als Dramaturg und Protagonist. Probleme von ritueller Inszenierung und Selbstinszenierung, in: Jörg Gengnagel / Gerald Schwedler (Hgg.), Ritualmacher hinter den Kulissen. Zur Rolle von Experten in historischer Ritualpraxis, (Performanzen. Interkulturelle Studien zu Ritual, Spiel und Theater 17), Münster 2013, S. 41–58, bes. S. 41. Grundlegend zum Konzept der „erfundenen Tradition“ vgl. die 1982 publizierte Aufsatzsammlung Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hgg.), The invention of tradition, Cambridge et al. 19 2010. Siehe hierzu die Argumente in Jeffrey M. Featherstone, De Cerimoniis: The revival of antiquity in the Great Palace and the ‚Macedonian Renaissance‘, in: Ayla Ödekan / Nevra Necipoğlu / Elgin Akyürek (Hgg.), The Byzantine court: Source of power and culture. Papers from the Second International Sevgi Gönül Byzantine Studies Symposium, Istanbul 21–23 June 2010, Istanbul 2013, S. 139–144; Idem, Der Große Palast von Konstantinopel: Tradition oder Erfindung?, in: BZ 106, 2013, S. 19–38. Ähnlich kritisch bereits Averil Cameron, The construction of court ritual: The Byzantine Book of Ceremonies, in: David Cannadine / Simon Price (Hgg.), Rituals of royalty. Power and ceremonial in traditional societies, Cambridge 1992, S. 106–136. Programmatisch zum neu geprägten Begriff des „Ritualmachers“ siehe Jörg Gengnagel / Gerald Schwedler, Ritualmacher. Überlegungen zu Planern, Gestaltern und Handlungsträgern von Ritualen, in: Jörg Gengnagel / Gerald Schwedler (Hgg.), Ritualmacher hinter den Kulissen. Zur Rolle von Experten in historischer Ritualpraxis (Performanzen. Interkulturelle Studien zu Ritual, Spiel und Theater 17), Münster 2013, S. 13–39, bes. S. 23–28. Zum Begriff der agency siehe Oliver Krüger / Michael Nijhawan / Eftychia Stavrianopoulou, „Ritual“ und „Agency“. Legitimation und Reflexivität ritueller Handlungsmacht (Forum Ritualdynamik 14), Heidelberg 2005 (http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/5785).
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Einleitung
Die kulturalistische Wende Besonders die westliche Mediävistik hat sich bereits intensiv mit Fragen der Funktion ritualisierten Verhaltens für politische Prozesse befasst und gelangte – bei aller gerechtfertigten Kritik81 – zu bemerkenswerten neuen Erkenntnissen. Prinzipiell sind in den bisher durchgeführten Studien drei Herangehensweisen zu unterscheiden: (1) Man geht von einer bestimmten Handlungsweise oder einem Ritual aus (Küssen, Investitur etc.) und versucht zu ermitteln, was diese Handlungen im spezifischen kulturellen Kontext bedeuten konnten. Das Ziel besteht dabei darin, das symbolische Vokabular einer Epoche zu entschlüsseln. (2) Man geht vom Kommunikationsziel aus (z. B. Unterwerfung) und geht der Frage nach, mit welchen symbolischen Handlungen dieses erreicht werden kann. (3) Man geht von einem Text aus und befasst sich mit der Art und Weise, wie der Verfasser symbolische Handlungen darstellt und welchen Zweck er damit verfolgt82. Zwar ist die Annahme, dass die Signifikanz symbolischer Handlungen direkt proportional zur Durchsetzung der Schriftlichkeit abgenommen habe, nicht haltbar83. Dennoch steht außer Zweifel, dass Ritualen und Zeremonien in Gemeinwesen, die zu einem Gutteil auf interpersonalen Beziehungen gründen, eine größere Bedeutung zugestanden werden muss als in den schriftbasierten Verfassungsstaaten der Moderne. Der hohe Stellenwert ritualisierter Handlungen in der Politik vormoderner Gesellschaften erklärt sich in erster Linie aus einer geringeren Autonomie ihrer politischen Verfahrenstechniken84. Wenn es daher – wie etwa bei den Thronfolgen im Byzantinischen Reich – kein Verfahren gab, dem man eo ipso Gültigkeit bescheinigen konnte, waren ritualisierte Handlungen umso wichtiger. Diese dienten dabei nicht nur der Legitimation der dabei getroffenen Entscheidungen, sondern auch zur Bestätigung der gesamten politisch-sozialen Ordnung, von deren Strukturen das Gelingen der Verfahren abhängig war. Pointiert formuliert lautet die zentrale Prämisse, von der das Gros der historischen Ritualforschung ausgeht und die sich aus den oben ausgeführten soziologischen Grundlagen ergibt, folgendermaßen:
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Siehe unten S. 35–36. Siehe die Zusammenstellung (samt Literatur) in Jürgen Martschukat / Steffen Patzold, Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: Jürgen Martschukat / Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 19), Köln/ Weimar/Wien 2003, S. 1–31, hier S. 12–16; Rexroth, Ritual und Ritualismus, S. 397, S. 402–403; Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, S. 389–390. Zu den Gründen für diese Entwicklung auf dem Gebiet der Politikforschung vgl. Eadem, Kulturgeschichte, S. 12–13. 83 Vgl. Rexroth, Ritual und Ritualismus, S. 402–403. Zur Ritualität auch der modernen Politik siehe David I. Kertzer, Ritual, Politik und Macht, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 22003, S. 365–390 (= Ritual, politics, and power, New Haven 1988, S. 1–14, S. 92–101). 84 Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/Main 92013, bes. S. 69–74.
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Jede institutionelle Ordnung bedarf symbolisch-ritueller Verkörperungen und beruht auf gemeinsam geglaubten Fiktionen. Fiktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jede soziale Ordnung auf sozialer Konstruktion und kollektiver Sinnzuschreibung beruht85.
Diese Grundannahme erlaubt es nun, „historische Phänomene immer als Ergebnisse (von impliziten oder expliziten) Sinnzuschreibungen, Geltungsbehauptungen und Deutungskonflikten der Akteure zu beschreiben“86. Dabei gilt es darauf zu achten, anachronistische Projektionen eigener Politik- und Wertvorstellungen zu vermeiden, eine möglichst große Distanz zu seinem Forschungsgegenstand aufzubauen und sozusagen eine „Perspektive der Fremdheit“87 zu schaffen. Die dazu notwendigen heuristischen Werkzeuge sind der Soziologie und Ethnologie entlehnt88. Der Rekonstruktion von Praktiken, Diskursen und Objektivationen, welche die Bedeutungsstrukturen einer Gesellschaft offenbaren, liegt also die „Dekonstruktion jedes überhistorisch-universalisierenden und essentialistischen Verständnisses politischer Handlungsformen und Institutionen, Wertvorstellungen und Motive“89 zugrunde. Kritik an der historischen Ritualforschung So vielversprechend es auch erscheinen mag, die Mechanismen einer Kultur über ihr symbolisches Handeln zu dechiffrieren, so ist die Anwendung soziologischer Methodik für den Historiker durch die zeitliche Distanz zum Untersuchungsobjekt oft mit unlösbaren Schwierigkeiten verbunden90. Während die ethnologische und soziologische Ritualforschung ihre Daten aus der direkten Beobachtung von performativen Akten bezieht – und selbst noch hier die Nichtzugehörigkeit zur Ritualgemeinschaft verzerrend wirken kann –, ist der Historiker auf Berichte in schriftlichen Quellen, allenfalls ergänzt um Bildzeugnisse und Realien, angewiesen. Neben dem Problem der zufälligen Überlieferungslage und dem schwankenden Grad an Genauigkeit in den Beschreibungen ist selbstverständlich auch die Intention der Quelle zu beachten: Bei sämtlichen Überlieferungen handelt es sich um Symbolisierungen zweiter Ordnung, die das Beobachtete mit einer bestimmten Absicht modifiziert wiedergeben. Der hohe Wert, der performativen Akten in vielen Quellen beigemessen wird, erlaubt zwar immerhin einen Einblick in den zeitgenössischen Diskurs und lässt die große Bedeutung
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Stollberg-Rilinger, Alte Kleider, S. 9. Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 12; Eadem, Symbolische Kommunikation, S. 492. Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 12; Eadem, Symbolische Kommunikation, S. 491. Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 12; Eadem, Symbolische Kommunikation, S. 491, sieht den „ethnologischen Blick“ im Prinzip nur als „Radikalisierung des historischen Blicks“. Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 13. Philippe Buc, The dangers of ritual. Between early medieval texts and social scientific theory, Princeton/Oxford 2001. Vgl. dazu Geoffrey Koziol, Review article: The dangers of polemics: Is ritual still an interesting topic of historical study?, in: Early Medieval Europe 11/4, 2002, S. 367– 388; vgl. auch Martschukat / Patzold, Performative turn, S. 16–18.
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der real durchgeführten Handlungen erkennen, doch ist es oftmals unmöglich, den Gegenstand der Überlieferung vom Prozess der Überlieferung zu trennen. Nicht nur von einer allzu positivistischen Herangehensweise ist abzuraten, sondern auch von einer allzu funktionalistischen. Gerade in Studien zum westlichen Frühmittelalter wird – basierend auf der älteren britischen Sozialanthropologie – häufig postuliert, dass die fehlenden staatlichen Strukturen durch gesellschaftsstabilisierende Rituale kompensiert worden seien91. Wiewohl Ritualen eine solche Funktion keinesfalls abgesprochen werden kann, tragen sie im Gegenteil jedoch ebenso Potential zur Auslösung oder Perpetuierung von Konflikten in sich. Rituale allein können auf die hochkomplexen Zusammenhänge des Funktionierens eines Staatswesens keine befriedigende Antwort geben. Zudem konnten sie stets von Gruppen oder Individuen bewusst ge- oder missbraucht werden, um persönliche Interessen zu verfolgen. Bisweilen sieht sich die Ritualforschung auch dem Vorwurf ausgesetzt, sich auf die Behandlung bloßer Äußerlichkeiten zu beschränken und dabei die „eigentlichen“ Dimensionen der Politik (militärische Macht, Netzwerke, Ressourcen etc.) zu übersehen92. Diese Kritik basiert meist auf der modernen Fehleinschätzung von „Inszenierung“ als Mittel der Ablenkung und Verschleierung. Allerdings ist es in der Tat notwendig, die „reale“ Politik nicht aus den Augen zu verlieren, denn nur das Zusammenspiel von symbolisch-ritueller und politischer Sphäre führen zu Erkenntnissen über die Struktur von Machtmechanismen und der Gesellschaft an sich93. Konsequenzen für die vorliegende Studie – Der Performanzbegriff Wenngleich die unreflektierte Anwendung von Ritualtheorien auf mittelalterliche Kontexte oft nicht zulässig ist94, besteht dennoch kein Zweifel daran, dass die Lektüre ritualwissenschaftlicher Texte zu einer potentiell fruchtbaren Neubetrachtung und -bewertung des zur Verfügung stehenden Quellenmaterials führt. Für die vorliegende Untersuchung wurden daher – abgesehen von Einführungen und Überblickswerken95 – im allgemeinen die Ritualtheorien von Clifford Geertz und Stanley J. Tambiah konsultiert, insbesondere aber auch die klassischen Werke von Arnold van Gennep und Victor Turner zu den sozialen Transformationsprozessen bei Übergangsriten (rites de passage)96. Methodologische Anregungen wurden, unter Be-
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Koziol, Dangers of polemics, S. 377. So beispielsweise Thomas Nicklas, Macht – Politik – Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86, 2004, S. 1–25. Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 15–16 und S. 18. Ausführlich hierzu Buc, Dangers of ritual, S. 204–261. Dücker, Rituale, S. 14–18; Belliger/Krieger (Hgg.), Ritualtheorien; Bell, Ritual. Geertz, Dichte Beschreibung; Idem, Religion; Tambiah, Performative Theorie; Arnold van Gennep, Les rites de passage, Paris 1909; Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/New York 2005 (= The ritual process, structure and anti-structure, New York 1969).
Methodologische Überlegungen
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rücksichtigung der genannten Kritikpunkte, vor allem der westlichen Mittelalter- und Frühneuzeitforschung97 entnommen. Bei der konkreten Arbeit mit den historiographischen Quellen, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, stellte sich rasch heraus, dass selbst ein denkbar weit gefasster Ritualbegriff nicht sämtliche inszenatorische Phänomene einschließen kann, die mit Machtkämpfen einhergingen. Angesichts der von Fall zu Fall sehr individuellen Situation fehlt häufig vor allem das repetitive Element, das Rituale kennzeichnet, oder es ist nur in Einzelaspekten von politischen Inszenierungen erkennbar (Verwendung von bestimmten Orten, Kleidung etc.). Praktikabler erweist sich daher der Begriff der Performanz98. Eine in den Kulturwissenschaften weit verbreitete Definition99 versteht diese als besondere Momentaufnahme kultureller Organisationen100, d. h. als ausdrucksstarke öffentliche Manifestation gesellschaftlichen Lebens. Dazu zählen künstlerische und nicht-künstlerische Aufführungen (z. B. Theater bzw. Sport), aber ebenso Rituale, Zeremonien und sonstige Feste und Veranstaltungen. Ereignissen dieser Art ist gemein, dass sie aufgrund ihres transitorischen Charakters nicht schriftlich fixierbar und damit nicht tradierbar sind: „Ihre Materialität wird geschaffen durch die Körper der Teilnehmer, die sich in spezifischer Weise durch den Raum bewegen, sprechen und/oder singen und Gegenstände manipulieren“101. Insofern ist jede performative Handlung einmalig und unwiederholbar und konstituiert sich immer erst zum Zeitpunkt ihrer Durchführung. Eine weitere 97
Hervorzuheben ist hierbei Björn Weiler, Kingship, rebellion and political culture, England and Germany, c. 1215–c. 1250 (Medieval Culture and Society), London 22011. Wertvoll sind auch die zahlreichen Studien von Gerd Althoff, u. a. Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003 (mit Literatur) und Hagen Keller, u. a. Ritual, Symbolik und Visualisierung in der Kultur des ottonischen Reiches, in: FmSt 35, 2001, S. 23–59, aber auch jene von Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008 (mit Literatur); siehe ferner Geoffrey Koziol, Begging pardon and favor. Ritual and political order in early medieval France, Ithaca/London 1992. 98 Einen hervorragenden Einstieg ins Thema Performanz bietet der Sammelband Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, darin bes. Idem, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illukotion, Iteration und Indexikalität, S. 9–60 sowie Christoph Wulf / Michael Göhlich / Jörg Zirfas (Hgg.), Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim/München 2001, darin besonders Kathrin Audehm, Die Macht der Sprache. Performative Macht bei Pierre Bourdieu, S. 101–122. 99 Martschukat/Patzold, Performative turn, S. 4–11 bietet einen guten Überblick über den Einfluss der Performanzforschung auf diverse Disziplinen. 100 Vgl. Fischer-Lichte, Schlüsselbegriffe, S. 38. 101 Fischer-Lichte, Schlüsselbegriffe, S. 38, weiter: „Die Gegenstände, die [dabei] Verwendung finden mögen, sind dabei nicht als fixierte Artefakte von Belang, sondern als Elemente in einem dynamischen Prozess. Die spezifische Materialität der Aufführung wird nicht von ihnen konstituiert – ebenso wenig wie von den Texten, die in ihnen Verwendung finden mögen. Sie wird vielmehr durch das Zusammenspiel mit den sich im Raum bewegenden, sprechenden oder auch singenden Akteuren – oder anderen Bewegungen und Lauten – hervorgebracht.“
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Besonderheit performativer Akte ist das Zusammenspiel von Akteuren und Zuschauer: Produktion und Rezeption erfolgen simultan und beeinflussen einander. Dementsprechend dürfen die Zuschauer nicht als passive Empfänger betrachtet werden. Sie sind vielmehr in die Handlung involviert, zumal sie die gesendeten Botschaften nicht nur wahrnehmen, sondern auch interpretieren. Aufgrund der begrenzten Wahrnehmungsmöglichkeiten – das Publikum kann nicht alle Sinneseindrücke gleichzeitig erfassen und reflektieren – entstehen Spielräume, was die Interpretation betrifft. Erst in der Phase ihrer Rezeption können performative Prozesse Bedeutung schaffen102. Die Würdigung performativer Akte bei der Konstruktion und Dekonstruktion von Macht sollte jedoch nicht zu der irrigen Annahme führen, dass diesen hierbei eine exklusive Rolle zufiel. Die performative Perspektive ist eher komplementär zu verstehen, zumal symbolische Handlungen nur e i n e Facette der Kämpfe um den byzantinischen Thron ausmachten und ihre Bedeutung für den Gewinn oder den Erhalt realer Macht von Fall zu Fall variierte. Die Analyse des vielfältigen Spektrums dieser Handlungen über einen Zeitraum von fast drei Jahrhunderten verspricht dennoch lohnende Einblicke in die Mechanismen der Herrschaft und den ideologischen Diskurs jener Zeit. 1.2.2 Behandelte Quellen Im Rahmen dieser Studie wurden primär historiographische Werke aus dem 10. bis 13. Jahrhundert ausgewertet, die trotz ihrer meist leicht erkennbaren Sympathien für eine der Konfliktparteien oft als einzige Quellen mehr oder minder detaillierte Berichte über die Selbstinszenierung der Usurpatoren, aber auch des bedrohten Kaisers überliefern. Für das 10. Jahrhundert lässt sich hierfür vor allem auf diverse Chroniken103 und auf das Geschichtswerk des Leon Diakonos104 zurückgreifen. Die zentralen Quellen
102 Fischer-Lichte, Schlüsselbegriffe, S. 39–40; Martschukat/Patzold, Performative turn, S. 27–29. 103 Symeonis magistri et logothetae chronicon, ed. Staffan Wahlgren (CFHB 44), Berlin/New York 2006; Theophanes continuatus, Ioannes Cameniata, Symeon Magister, Georgius Monachus, ex recognitione Immanuel Bekker (CSHB), Bonn 1838; siehe auch die neuen CFHB-Editionen der Bücher I–IV und V des Theoph. Cont.: Chronographiae quae Theophanis Continuati nomine fertur Libri I–IV, recensuerunt anglice verterunt indicibus instruxerunt Jeffrey M. Featherstone et Juan Signes-Codoñer nuper repertis schedis Caroli de Boor adiuvantibus, (CFHB 53), Berlin/Boston 2015; Chronographiae quae Theophanis continuati nomine fertur liber quo Vita Basilii imperatoris amplecititur, recensuit Anglice vertit indicibus instruxit Igor Ševčenko (CFHB 42), Berlin/Boston 2011. Vgl. Warren Treadgold, The middle Byzantine historians, Basingstoke et al. 2013, S. 110–120; S. 188–224. 104 Leonis Diaconi Caloensis Historiae libri decem et liber de velitatione bellica Nicephori Augusti. E recensione Charles-Benoît Hase (CSHB), Bonn 1828. Vgl. Treadgold, Historians, S. 236–246.
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für das 11. Jahrhundert sind die Synopsis des Ioannes Skylitzes105 und deren wohl ebenfalls von ihm selbst verfasste Fortsetzung106 und die stark persönlich geprägten Werke des Michael Psellos107 und des Michael Attaleiates108. Die für die komnenische Epoche zur Verfügung stehenden Hauptquellen – Nikephoros Bryennios109, Anna Komnene110, Ioannes Zonaras111 und Ioannes Kinnamos112 – wurden von Personen aus dem unmittelbaren Umfeld des Kaiserhauses verfasst, wobei sich Zonaras durchaus auch kritisch äußert. Eine Sonderstellung nimmt das Werk des Niketas Choniates ein, das die Ereignisse des 12. Jahrhunderts überliefert, aber erst nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer eine finale Redaktion erfuhr113. Für die dramatischen letzten Jahre der Dynastien der Komnenen und der Angeloi bieten Eustathios von Thessalonike114 und Nikolaos Mesarites115 wertvolle Zeitzeugenberichte.
105 Ioannis Scylitzae synopsis historiarum, rec. Hans Thurn (CFHB 5), Berlin 1973. Treadgold, Historians, S. 329–337. 106 Eudoxos T. Tsolakes, Ἡ συνέχεια τῆς χρονογραφίας τοῦ Ἰωάννου Σκυλίτση (Ioannes Skylitzes Continuatus (Hetaireia Makedonikon Spoudon 105), Thessalonike 1968. Treadgold, Historians, S. 338–339. 107 Diether Roderich Reinsch, Michaelis Pselli Chronographia, Band 1: Einleitung und Text. Band 2: Textkritischer Kommentar und Indices (Millennium-Studien 51/1–2), Berlin/Boston 2014; Übersetzung: Idem, Michael Psellos, Leben der byzantinischen Kaiser (976–1075). Chronographia. Griechisch-deutsch. Eingeleitet, herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen (Sammlung Tusculum), Berlin/München/Boston 2015. Vgl. auch die ältere Edition samt Übersetzung: Michele Psello, Imperatori di Bisanzio (Cronografia), I–II. Introduzione di Dario Del Corno, testo critico, a cura di Salvatore Impellizzeri, commento di Ugo Criscuolo, traduzione di Silvia Ronchey (Scrittori greci e latini), Turin 2012. Vgl. Treadgold, Historians, S. 271–308. 108 Michaelis Attaliatae Historia, ed. Eudoxos Th. Tsolakes (CFHB 50), Athen 2011. Vgl. Treadgold, Historians, S. 312–329. 109 Nicephori Bryennii Historiarum libri quattuor. Nicéphore Bryennios, Histoire. Introduction, texte, traduction et notes par Paul Gautier (CFHB 9), Brüssel 1976. Vgl. Treadgold, Historians, S. 344–354. 110 Annae Comnenae Alexias, I: Prolegomena et textus, recensuerunt Diether R. Reinsch / Athanasios Kambylis (CFHB 40), Berlin/New York 2001. Vgl. Treadgold, Historians, S. 354– 386. 111 Ioannes Zonarae epitomae historiarum: Libri XIII–XVIII, ed. Theodor Büttner-Wobst ex recensione Moritz Pinder, Bonn 1897. Vgl. Treadgold, Historians, S. 388–399. 112 Ioannis Cinnami epitome rerum ab Ioanne et Alexio Comnenis gestarum. Recensuit A. Meineke (CSHB), Bonn 1836. Vgl. Treadgold, Historians, S. 407–416. 113 Nicetae Choniatae Historia, I. Praefationem et textum continens, recensuit Jan-Louis van Dieten (CFHB 11/1), Berlin/New York 1975. Vgl. Treadgold, Historians, S. 422–456, bes. S. 434. 114 Eustazio di Tessalonica, La espugnazione di Tessalonica. Testo critico, introduzione, annotazioni di Stilpon Kyriakidis. Proemio di Bruno Lavagnini. Versione italiana di V. Rotolo (Istituto Siciliano di Studi Bizantini e Neoellenici. Testi e Monumenti 5), Palermo 1961. Vgl. Treadgold, Historians, S. 416–421. 115 August Heisenberg, Nikolaos Mesarites. Die Palastrevolution des Johannes Komnenos (Programm des k. alten Gymnasiums zu Würzburg für das Studienjahr 1906/1907), Würzburg 1907.
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Nach Verfügbarkeit wurden zu Vergleichszwecken auch andere Textgattungen wie Heiligenviten116, diverse Traktate (Militärhandbücher117, Zeremonienbücher118), Gesetzestexte, fallweise auch Gedichte, Reden und Briefe herangezogen. Wo möglich, wurde auch ein Abgleich mit lateinischen119 oder orientalischen120 Quellen angestrebt. 1.2.3 Zur Struktur dieser Arbeit Der Aufbau der vorliegenden Untersuchung orientiert sich am chronologischen Ablauf von Usurpationen. Dabei wird versucht, die gesamte Bandbreite performativer Handlungen, die sowohl vom Herausforderer des Throns als auch von seinem Kontrahenten auf dem Thron zu erfassen. Kapitel 2 untersucht das symbolische Handeln des Usurpators im Vorfeld, während und nach seiner Proklamation sowie allfällige inszenatorische Gegenmaßnahmen des herausgeforderten Kaisers. Im Zentrum steht hierbei die symbolträchtige (aber nicht standardisierte) Zeremonie der Proklamation, in welcher der Anspruch auf den Thron öffentlich gemacht wurde und die den Usurpator – zumindest aus seiner eigenen Sicht – zum neuen rechtmäßigen Kaiser machte.
116 Patricia Karlin-Hayter, Vita Euthymii Patriarchae CP (Bibliothèque de Byzantion 3), Brüssel 1970. 117 Three Byzantine military treatises. Text, translation, and notes by George T. Dennis (CFHB 25 = DOT 9), Washington, D. C. 1985; Constantine Porphyrogenitus, Three treatises on imperial military expeditions. Introduction, Edition, Translation and Commentary by John F. Haldon (CFHB 28), Wien 1990; Leonis VI Tactica. The Taktika of Leo VI. Text, translation and commentary by George Dennis (CFHB 49), Washington, D. C. 2010. 118 Constantin VII Porphyrogénète, Le livre des cérémonies. Sous la direction de Gilbert Dagron (†) – Bernard Flusin (CFHB 52, 1–5), Paris 2020; Constantini Porphyrogeniti imperatoris de cerimoniis aulae byzantinae libri duo. Graece et latine e recensione J. Reiske cum eiusdem commentarius integris, I–II, Bonn 1829; Jean Verpeaux, Pseudo-Kodinos, Traité des Offices (Le monde byzantin 1), Paris 1966. Zu letzterem siehe nun auch Ruth Macrides / Joseph A. Munitiz / Dimiter Angelov, Pseudo-Kodinos and the Constantinopolitan court: Offices and ceremonies (Birmingham Byzantine and Ottoman Studies 15), Farnham/Burlington 2013., Pseudo-Kodinus, Traité des Offices, Ed. Jean Verpeaux, Paris 1966. 119 So etwa: Liudprandi Cremonensis Antapodosis, Homelia Paschalis, Historia Ottonis, Relatio de Legatione Constantinopolitana, cura et studio Paolo Chiesa (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 156), Turnhout 1998; Villehardouin, La Conquête de Constantinople, éditée et traduite par Edmond Faral. Deuxième edition revue et corrigée, I–II, Paris 1961; Rober d’o Klari. Zavojuvaneto na Konstantinopol 1204 godina. Prevod ot starofrenski ezik, predgovor i beležki: Nikolaj A. Markov, Sophia 2007. 120 So etwa: Histoire de Yahya-ibn- Sa‛ïd d’Antioche. Continuateur de Sa‛ïd-ibn-Bitriq. Édition critique du texte arabe préparée par Ignatij Kratchkovsky et traduction française annotée par F. Micheau / G. Troupeau, I–III, I: PO 18/5 (1924) = 90, Nachdr. Paris 1957; II: PO 23/3 (1932) = 114, Nachdr. Turnhout 1976; III: PO 47/4 = 212, Turnhout 1997; Armenia and the crusades. Tenth to twelfth centuries. The Chronicle of Matthew of Edessa. Translated from the original Armenian with a commentary and introduction by Ara E. Dostourian, Lanham/New York/London 1993.
Methodologische Überlegungen
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In den meisten Fällen jedoch gelang die Realisierung dieser Ansprüche nicht und die Macht verblieb beim siegreichen Kaiser (Kapitel 3). Dieser konnte nun seinerseits den Körper seines geschlagenen Feindes als symbolisches Medium verwenden: In Triumphzügen nach antikem Vorbild etwa konnte der Sieg des Kaisers und seines Volkes zelebriert werden. Die Erlösung von der Gefahr eines Bürgerkrieges konkretisierte sich dabei am deutlichsten in der Zurschaustellung des abgeschlagenen Hauptes des Usurpators. Ergänzend oder alternativ konnte die demütigende Vorführung von Hochverrätern in ritualisierten Schandparaden deren Hybris und damit implizit auch die Stärke des Kaisers vor Augen führen. Einen ähnlichen Zweck verfolgten auch Verstümmelungsstrafen, die an den Körpern der unterlegenen Prätendenten vollzogen werden konnten. Andererseits bot die Niederschlagung einer Rebellion auch stets die Möglichkeit zur Inszenierung der kaiserlichen Gnade, zumal sich Gottes Menschenliebe (philanthrōpia) im Herrscher spiegeln sollte. Ging aus dem Thronstreit der Usurpator siegreich hervor (Kapitel 4), konnte dieser nunmehr auf den zeremoniellen Apparat Konstantinopels zurückgreifen, um seine neu gewonnene Herrschaft zu legitimieren. Die symbolträchtigen Zeremonien des Einzuges in die Hauptstadt (adventus) und der liturgischen Krönung in der Hagia Sophia dienten der Darstellung (aber auch der Herstellung) des Konsenses der Untertanen und Gottes. Die Absetzung des Kaisers wurde hingegen zumeist stillschweigend vollzogen. Umso größeres Aufsehen erregte daher die öffentliche Hinrichtung von Andronikos I. im Jahre 1185, die einer gesonderten Betrachtung bedarf. Der schematisch anmutende Eindruck einer solchen Kategorisierung soll freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Parameter von Usurpationen höchst variabel ausfallen konnten. Die von Fall zu Fall unterschiedliche Machtbalance erforderte jeweils individuelle Strategien der Vorbereitung und Durchführung des Coups, und so war auch die Wahl der militärischen, diplomatischen und performativen Mittel sehr verschieden121. Die behandelten Kategorien sind daher nicht als Gradmesser einer archetypischen Usurpation zu betrachten, sondern als grundsätzlich zur Verfügung stehendes Repertoire an symbolischen Kommunikationsformen zur Konstruktion und Dekonstruktion von Macht.
121 Vgl. Tounta, Usurpation, S. 447–448.
2. Performative Aspekte von Usurpationen Im Spiel um die Macht kam der Inszenierung von Raum und Körper auf verschiedensten Ebenen große Bedeutung zu. Im Byzantinischen Reich ging es bei Usurpationen nie darum, das Herrschaftssystem als solches zu verändern, sondern nur den Menschen an der Spitze des Staates zu ersetzen. Sobald der Usurpator seine Thronansprüche öffentlich machte, war die bewusste Imitation kaiserlicher Kleidung und kaiserlichen Verhaltens unabdingbar. Handelte es sich um eine Palastrevolution, die bis zuletzt der Geheimhaltung unterlag, manifestierte sich diese Nachahmung bisweilen erst in der liturgischen Krönung, also zu einem Zeitpunkt, als der Machtkampf bereits entschieden war. Die meisten Thronprätendenten nahmen das Wagnis des Staatsstreichs jedoch von außerhalb der Hauptstadt auf sich. Die räumliche Distanz ermöglichte und erforderte die Usurpation von kaiserlichen Prärogativen in Gestalt symbolträchtiger Gegenstände und Handlungen, um die Thronansprüche in aller Deutlichkeit zu artikulieren, die Anhängerschaft zu vergrößern und Druck auf den Kaiser in Konstantinopel auszuüben. Im Übrigen griff auch dieser bisweilen auf Möglichkeiten der Selbstinszenierung zurück, um seine Position gegenüber dem Herausforderer zu verbessern, oder trat zur Beilegung des Konfliktes zeremonielle Vorrechte ab. Im folgenden Abschnitt sollen diverse symbolische Handlungen beleuchtet werden, die während der Vorbereitung und der Durchführung einer Usurpation im Blickfeld der zeitgenössischen Historiographen lagen und für verschiedene Aspekte des Machtkampfes relevant waren. Dies umfasst sowohl Rituale, die zur Bekundung und/ oder Schaffung von Loyalitäten dienten (Eide, Akklamationen) als auch Inszenierungen von Herrschaft (öffentliche Auftritte, Ausüben von Regalrechten). Im Mittelpunkt der Ausführungen wird jedoch die Proklamation des Usurpators stehen, also die ritualisierte Ausrufung zum Kaiser, die mit einer Reihe hochgradig symbolischer Handlungen verbunden war.
Ausloten der Loyalitäten
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2.1 Ausloten der Loyalitäten Wollten Putschversuche von Erfolg gekrönt sein, waren bereits im Vorfeld wichtige Vorkehrungen zu treffen. Wirtschaftliche Grundlagen mussten gesichert, Belohnungen für Mitstreiter ausgehandelt werden. Usurpatoren mit größerer Weitsicht und Ressourcen richteten sich ein Hauptquartier ein, rekrutierten Truppen und brachten Mitglieder der eigenen Familie in Sicherheit1. Auch auf performativer Ebene konnte das Unternehmen durch Ausloten und Schaffen von Loyalitäten entsprechend vorbereitet werden. Einerseits sollten Eide die Bindungen unter den Verschwörern festigen, andererseits konnte die Selbstinszenierung des Thronprätendenten bei öffentlichen Zeremonien dazu beitragen, aus den Reaktionen des Publikums die Erfolgschancen eines möglichen Coups zu evaluieren. 2.1.1 Eide Hinter den aussichtsreichsten Usurpationen stand zumeist eine kleine Gruppe einflussreicher Persönlichkeiten mit ähnlichen Interessen. Speziell während der geheimen Vorbereitungsphase, die den meisten Putschversuchen vorausging, sollten gegenseitige Eide ein Auseinanderbrechen der Koalition verhindern2. Wohl nicht zufällig begegnet dieses Phänomen in Byzanz besonders häufig ab dem späten 10. Jahrhundert, als die großen Familien des Reiches als politischer Machtfaktor auf den Plan traten und den Wert von Koalitionen erkannten. Alternativ bzw. komplementär zum Aufbau verwandtschaftlicher Beziehungen, die vor allem in komnenischer Zeit tragend wurden, sollten Eide die Bündnisse zwischen den Häusern stabilisieren3. Ausdrücklich erwähnt sind Schwüre dieser Art unter anderem bei den Usurpationen von Bardas Phokas (972)4, Bardas Skleros (976)5, Leon Tornikios (1047)6, Isaakios (I.) Komnenos
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Zu den ersten organisatorischen Phasen einer Usurpation s. Cheynet, Pouvoir, S. 158–169. Cheynet, Pouvoir, S. 159; Catherine Holmes, Political literacy, in: Paul Stephenson (Hg.), The Byzantine world, London/New York 2010, S. 137–148, bes. S. 142. Eide waren ein fester Bestandteil sozialer Bindungen in Byzanz. Vgl. etwa auch: Claudia Rapp, Brother-making in Late Antiquity and Byzantium. Monks, laymen, and Christian ritual, Oxford 2016. Angeliki Laiou, The Emperor’s word: Chrysobulls, oaths and synallagmatic relations in Byzantium (11th–12th C.), in: Mélanges Gilbert Dagron (= Travaux et Mémoires 14), Paris 2002, S. 346– 362, hier S. 352–353. Leon Diak. 7.5 (S. 120 Hase); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις, I S. 88–90 (Nr. 41); Cheynet, Pouvoir, S. 24–25 (Nr. 6). Skylitzes S. 322 (Thurn); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις, I S. 94–96 (Nr. 45); Cheynet, Pouvoir, S. 28–30 (Nr. 11). Psellos, Chron. 6.121 (S. 162 Reinsch); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις, I S. 120–123 (Nr. 73); Cheynet, Pouvoir, S. 59–61 (Nr. 65).
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Performative Aspekte von Usurpationen
(1056)7, Nikephoros Bryennios (1077)8, Nikephoros (III.) Botaneiates (1077)9, Alexios (I.) Komnenos (1081)10, Andronikos Angelos (1183)11 und Theodoros Mangaphas (1188–1189)12. In vielen anderen Fällen, wie beispielsweise bei der Konspiration von Alexios (III.) Angelos gegen seinen Bruder Isaakios II.13 (1195) oder dem geplanten Putsch von Nikephoros Diogenes gegen Alexios I. (1094)14 ist es schwer vorstellbar, dass auf Eidesleistungen verzichtet worden ist. Persönliche Eide wurden üblicherweise schon im Vorfeld der offiziellen Ausrufung des Usurpators geleistet. Dabei stand die horizontale Verbindung der Verschwörer im Mittelpunkt; der Eid war dabei eher auf das Projekt der Usurpation als auf die Person des Usurpators zentriert. So soll der Rebellion des Nikephoros Bryennios eine eidliche Vereinbarung zwischen seinem Bruders Ioannes und Nikephoros Basilakios zugrunde gelegen haben, bevor er selbst in den Plan involviert wurde15. Isaakios (I.) Komnenos und seine befreundeten Generäle schworen sich zunächst in der Hagia Sophia darauf ein, sich an Michael VI. für dessen respektloses Verhalten ihnen gegenüber rächen zu wollen16. Erst im Anschluss einigten sie sich auf Isaakios als Kandidaten für den Thron, doch auch die neuerlichen Schwüre hatten betont reziproken Charakter: „so banden sie sich gegenseitig und sicherten ihr Vorhaben ab, so gut es ging“17. Unterstrichen wird dies dadurch, dass die Treueschwüre in der weiteren Vorbereitungsphase offenbar nicht Isaakios persönlich geleistet werden mussten: Auf eigene Faust nämlich holte Katakalon Kekaumenos weitere Generäle ins Lager der Rebellen. Im Zuge seiner Rekrutierungen fälschte er außerdem einen kaiserlichen Befehl, der es ihm erlaubte, die tagmata der Themen Koloneia und Chaldia sowie drei tagmata aus fränkischen und warägischen Soldaten für einen angeblichen Feldzug gegen die Seldschuken aus7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Skylitzes 487 (Thurn); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις, II S. 10–17 (Nr. 2); Cheynet, Pouvoir, S. 68–70 (Nr. 80). Bryennios 3.4 (S. 217 Gautier); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις, II S. 51–63 (Nr. 16); Cheynet, Pouvoir, S. 83–84 (Nr. 104). Attaleiates 202–203 (Tsolakes); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις, II S. 51–63 (Nr. 16); Cheynet, Pouvoir, S. 84–85 (Nr. 105). Anna Komnene, Alexias 2.4.6–9 (S. 63–65 Reinsch/Kambylis); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 89– 90 (Nr. 113). Choniates, Hist. S. 266 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 114 (Nr. 155). Choniates, Hist. S. 399 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 123 (Nr. 168); vgl. Theodoros Vlachos, Aufstände und Verschwörungen während der Kaiserzeit Isaakios II. Angelos (1185– 1195), in: Byzantina 6, 1974, S. 155–167, hier S. 162–163. Choniates, Hist., S. 450–451 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 128–129 (Nr. 180). Anna Komnene, Alexias 9.6.5 (S. 272 Reinsch/Kambylis); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 98–99 (Nr. 128). Bryennios 3.4 (S. 217 Gautier). Skylitzes S. 487, Z. 18–21 (Thurn): ἔπειτα καὶ ὑφ’ ἓν ἐν τῇ μεγάλῃ γενόμενοι ἐκκλησίᾳ, καὶ ὅρκους δόντες καὶ λαβόντες μὴ σιωπῆσαι, μηδ’ ἀνασχέσθαι, ἀλλὰ τοὺς ἐνυβρίσαντας τιμωρήσασθαι, δεσμοῖς, ὅ φασιν, ἀδαμαντίνοις ἠσφαλίσαντο τὴν ἐπιβουλήν. Skylitzes S. 487, Z. 31–32 (Thurn): οὕτω δὲ καταδεσμήσαντες ἀλλήλους, καὶ τὴν βουλήν, ὡς ἐνῆν, ἀσφαλισάμενοι.
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zuheben. Um die Truppen an die Usurpation zu binden, sei er auf eine List verfallen: Jeden Morgen habe er im Feldlager in der Ebene vor Nikopolis die Truppenführer bei morgendlichen Ausritten einzeln vor die Wahl zwischen Anschluss oder Tod gestellt. Die Zusage ihrer Loyalität ließ er sich durch Eide bestätigen18. Ebenfalls durch Eide gewann eine Generation später Ioannes Dukas seldschukische Krieger für die Usurpation von Alexios Komnenos19. Gewiss werden Usurpatoren auch nach ihrer Proklamation Treueeide verlangt haben, beispielsweise von neu rekrutierten Truppen, doch finden diese in den historiographischen Quellen kaum Beachtung20. Für die Verfassern der Texte waren die Eide zur Schilderung der geheimen Vorbereitung im kleinen Personenkreis als narratives Element offenbar attraktiver als anonyme Loyalitätsbekundungen der Armee. Über die Performanz der Eide ist wenig bekannt. Alexios (I.) Komnenos schloss seine Koalitionen im Rahmen persönlicher Treffen21. Ob es sich hierbei um Gespräche unter vier Augen handelte, oder zumindest – wie zu vermuten wäre – einzelne Zeugen anwesend waren, ist meist nicht überliefert. Isaakios (I.) Komnenos und seine Mitverschwörer versammelten sich gemeinsam, um sich ihrer gegenseitigen Unterstützung zu versichern22. Der kollektive Schwur hatte gewiss den Vorteil, den Druck auf die einzelnen Putschisten zu erhöhen. Schriftlich festgehaltene Treueeide, wie sie fallweise von Kaisern verlangt wurden, sind im Umfeld von Usurpatoren zwar nicht belegt, aber natürlich auch nicht auszuschließen23. Als Ort für ihr konspiratives Treffen hatten die Generäle um Isaakios (I.) die Hagia Sophia auserkoren. Eine solche religiöse Dimension der Eidesleistung ist auch für die Rebellion des Leon Tornikios überliefert, dessen Anhänger ihre Treue wohl auf Reliquien (καθ’ ἱερῶν) geschworen haben sollen24. Auf die Sakralität des Schwurs spielt auch eine Passage bei Leon Diakonos an: Konfrontiert mit dem Abfall einiger Verbündeter, habe Bardas Phokas diese beschuldigt „an Gott, den sie zum Zeugen und Hüter ihrer Schwüre gemacht hätten, Verrat zu üben“25. 18 19 20 21 22 23 24 25
Skylitzes S. 491 (Thurn). Anna Komnene, Alexias 2.6.8 (S. 72 Reinsch/Kambylis). So geschehen wohl bei Bardas Skleros (Skylitzes S. 322 [Thurn]) und Leon Tornikios (Psellos, Chron. 6.121 [S. 162 Reinsch]). Anna Komnene, Alexias 2.4.6–7–9 (S. 63–65 Reinsch/Kambylis). Koichi Inoue, The Rebellion of Isaakios Komnenos and the Provincial Oikoi, in: BSl 54, 1993, S. 268–278, hier S. 268; Aikaterine Christophilopoulou, Εκλογή, αναγόρευσις και στέψις του βυζαντινού αυτοκράτορος (Pragmateiai tes Akademias Athenon 22, 2), Athen 1956, S. 115. Siehe hierzu Kapitel 2.4.1. Für schriftliche Eide plädiert etwa Holmes, Political literacy, S. 142. Psellos, Chron. 6.121 (S. 162, Z. 9–10 Reinsch). Die Stelle ließe sich mit Reinsch, Chronographia, S. 451 jedoch auch metaphorisch als „hoch und heilig“ übersetzen. Leon Diak. 7.5 (S. 120, Z. 16–18 Hase): καὶ τοὺς ὑπολειφθέντας ἱκετείαις ἐξελιπάρει, μὴ καταπροδοῦναι λέγων αὐτὸν, καὶ ὃν συνίστορα Θεὸν καὶ ἔφορον τῶν ὅρκων πεποίηνται. Übersetzung: Nikephoros Phokas, ‚Der bleiche Tod der Sarazenen‘ und Johannes Tzimiskes. Die Zeit von 959 bis 976 in der Darstellung des Leon Diakonos, übersetzt von Franz Loretto (BGS 10), Graz/Wien/Köln 1961, S. 112.
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Performative Aspekte von Usurpationen
Abgesehen von eventuellen metaphysischen Konsequenzen stand bei einem Eidbruch vor allem die Ehre auf dem Spiel. Physische Sanktionen konnten hingegen kaum durchgesetzt werden, weil der Usurpator auf Deserteure in der Regel keinen Zugriff hatte. Eine Ausnahme ist hier Bardas Skleros, der seine beiden prominenten Unterstützer Theodoros und Niketas Hagiozacharites blenden ließ, nachdem sie von ihm abgefallen waren – ganz so, wie der Kaiser mit Majestätsverbrechern umzugehen pflegte26. 2.1.2 Performanz als Stimmungsbarometer Erfolgte eine Usurpation nicht mit militärischen Mitteln und hing ihr Erfolg primär von der Unterstützung innerhalb Konstantinopels ab, so ist bisweilen zu beobachten, dass öffentliche Anlässe genutzt wurden, um Thronansprüche zu artikulieren. Hierfür eigneten sich insbesondere Prozessionen, in denen sich die Hierarchie der Reichsspitze am deutlichsten manifestierte und man zugleich ein großes Publikum erreichte. Die Reaktion der Anwesenden auf bewusste Veränderungen dieser Rangordnung erlaubte ein besseres Einschätzen der Erfolgschancen für realpolitische Machtverschiebungen. Drei Fallbeispiele sollen zeigen, dass das Zeremoniell keineswegs nur als schmückendes Beiwerk zur Staatsführung anzusehen ist, sondern bei der Schaffung politischer Realitäten eine fundamentale Rolle spielte. Romanos (I.) Lakapenos und seine Söhne Selten ist der subtile Verlauf einer Usurpation so genau dokumentiert wie bei Romanos (I.) Lakapenos (921–944): Als Oberbefehlshaber der Flotte gelang es ihm zunächst, die Regentschaft für den minderjährigen Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos zu übernehmen, diesen mit seiner Tochter zu vermählen und so im Jahre 920 zum Mitkaiser aufzusteigen27. Romanos’ Ambitionen fanden von Anfang an auch auf performativer Ebene Ausdruck: Als er zu Schiff den Palast erreichte, verweigerte er die dem Porphyrogennetos zustehenden Akklamationen und setzte bereits als Mitkaiser das Recht auf das Tragen roter Schuhe durch28. Bei der Mitkaiserkrönung seines Sohnes Christophoros im Jahre 922 trat er bewusst in den Hintergrund und überließ – ordnungsgemäß – Konstantinos VII. die Durchführung der Zeremonie. Christopho-
26 Skylitzes S. 322 (Thurn). Zur Blendung als Bestrafung für Usurpatoren siehe Kapitel 3.3.2. 27 Vgl. Appendix P 2. 28 Liutprand, Ant. 3.26, 3.35 (Liudprandi Cremonensis Antapodosis, Homelia Paschalis, Historia Ottonis, Relatio de Legatione Constantinopolitana, cura et studio Paolo Chiesa (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 156), Turnhout 1998, S. 80, 84–85). Zum Vorrecht des roten Schuhwerks siehe Kapitel 2.2.4.3.
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ros ordnete sich im Kaiserkollegium an der letzten Stelle ein29. Wenige Monate später setzte sich Romanos selbst an die Spitze des Staates und verdrängte Konstantinos auf den zweiten Platz. Eine Vorreihung seines Sohnes auf den zweiten Platz der Thronfolge wagte der neue Hauptkaiser erstmals im Jahre 927, und zwar im Rahmen der Akklamationen bei der Hochzeit von Christophoros und Maria, der Tochter des bulgarischen Zaren30. Ob die Initiative hierfür von Romanos I. ausgegangen war, oder ob er ein entsprechendes Ansuchen der Bulgaren schlussendlich für seine dynastischen Zwecke gebrauchte, spielt eine untergeordnete Rolle31. In jedem Fall dürfte die hier geprobte neue Hierarchie dann auch de facto bis zum Tod des Christophoros im August 931 beibehalten worden sein. Sie fand sowohl bei der Unterfertigung von Urkunden als auch bei Akklamationen und nicht zuletzt bei Prozessionen Ausdruck32. Nach Christophoros’ Tod waren Romanos mit Stephanos und Konstantinos – neben dem bereits zum Patriarchen geweihten Theophylaktos – noch zwei leibliche Söhne verblieben, die seit 923 als Mitkaiser rangierten, aber in der Hierarchie stets hinter Konstantinos VII. Porphyrogennetos positioniert geblieben waren33. Eine neuerliche Änderung der Thronfolge scheint Romanos jedoch nach dem Tod des Christophoros nicht mehr im Sinn gehabt zu haben. Als sich die Möglichkeit ergab, einen der Thronfolger mit der Tochter Hugos von der Provence zu vermählen, sah der Kaiser für dieses prestigeträchtige Projekt keinen seiner eigenen Söhne vor, sondern Romanos (II.), den Sohn von Konstantinos VII., dem der Thron offenbar auf lange Sicht zufallen sollte34. Romanos’ benachteiligte Söhne versuchten dennoch, die Hierarchie zu ihren Gunsten zu verändern. Die Ankunft des Mandylions von Edessa in Konstantinopel am 15.
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Zum schrittweisen Verlauf der Usurpation bis zur Erhebung des Christophoros zum Mitkaiser vgl. Otto Kresten / Andreas E. Müller, Samtherrschaft. Legitimationsprinzip und kaiserlicher Urkundentitel in Byzanz in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts (Sitzungsberichte der Österr. Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. Klasse 630), Wien 1995, S. 7–14; Christophilopoulou, Eκλογή, S. 100–101. Die Zeremonie fand außerhalb Konstantinopels in der Theotokos-Kirche tēs Pegēs statt: Theoph. Cont. S. 414 (Bekker); Christophilopoulou, Eκλογή, S. 102. Vgl. Kresten/Müller, Samtherrschaft, S. 32. Zur Kirche siehe Janin, Siège de Constantinople, S. 232–237; Idem, Constantinople byzantine. Développement urbain et répertoire topographique, Paris 21964, S. 450–451. Theoph. Cont. S. 414, Z. 15–18 (Bekker): τῶν δὲ Βουλγάρων ἔνστασιν οὐ μικρὰν ποιησαμένων πρότερον εὐφημισθῆναι Χριστοφόρον, εἰθ’ οὕτω τὸν Κωνσταντῖνον, ὑπεῖξε τῇ ἐνστάσει τούτων Ῥωμανὸς ὁ βασιλεύς, καὶ γέγονεν ὅπερ ᾐτήσαντο; vgl. Skylitzes S. 224 (Thurn). Kresten/Müller, Samtherrschaft, S. 20–21, S. 28–31; Nach Liutprand, Ant. 3.37 (S. 86 Chiesa) nahm das Kaiserkollegium an Prozessionen in folgender Ordnung teil: Romanos – Christophoros – Konstantinos (VII.) – Stephanos und Konstantinos; vgl. auch Jean Skylitzès, Empereurs de Constantinople. Texte traduit par Bernard Flusin et annoté par Jean-Claude Cheynet (Réalités Byzantines 8), Paris 2003, S. 188, Anm. 62. Kresten/Müller, Samtherrschaft, S. 16–17; Christophilopoulou, Eκλογή, S. 102–103. Otto Kresten, Nochmals zu den Söhnen des Kaisers Konstantinos VII., in: Klaus Belke / Ewald Kislinger / Andreas Külzer / Maria Stassinopoulou (Hgg.), Byzantina Mediterranea. Festschrift für Johannes Koder zum 65. Geburtstag, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 327–352, hier S. 350–351.
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Performative Aspekte von Usurpationen
August 944 bot dafür den geeigneten Anlass. Kaiser Romanos I. musste der Prozession aus Krankheitsgründen fernbleiben35 und so nützten seine Söhne die öffentliche Bühne, um sich in den Vordergrund zu spielen36. Die öffentliche Zurückstellung von Konstantinos VII. scheint effizient gewesen sein, denn von seiner Präsenz wird nur in einer einzigen Quelle überhaupt Notiz genommen37. Den erhofften Erfolg brachte der Auftritt jedoch nicht, denn allem Anschein nach blieb die Thronfolge unverändert38. Im Gegenteil, möglicherweise nahm Romanos I. den Affront zum Anlass, am 1. September 944 testamentarisch zu verfügen, dass Konstantinos VII. Porphyrogennetos den Thron erben solle39. Selbst der erfolgreiche Putsch gegen ihren Vater im Dezember 944 verbesserte die Situation von Stephanos und Konstantinos nicht40: Die Einwohnerschaft Konstantinopels soll auf Konstantinos VII. als Thronfolger bestanden und beinahe revoltiert haben, als sich das Gerücht verbreitete, dass dieser gleichzeitig mit Romanos aus dem Palast entfernt worden sei41. Konstantinos’ Vorrang manifestierte sich auch in der Sitzordnung an der Tafel, doch hätte ihn die Inanspruchnahme dieses Privilegs fast das Leben gekos-
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Ein zeitnaher Bericht (André-Marie Dubarle, L’homélie de Grégoire le Référendaire pour la réception de l’image d’Édesse, in: REB 55, 1997, S. 5–51, hier S. 25 [cap. 19]) erwähnt hingegen ausdrücklich, dass Romanos I. die Prozession zu Fuß und in bescheidener Aufmachung angeführt habe: Καὶ προπορεύεται ὠραῖος σοι βασιλεὺς τῇ πεζοπορίᾳ μᾶλλον ἤ τοῖς τοῦ κράτους στέφεσι καλλυνόμενος. Dies ist jedoch wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass der Text bereits im Vorfeld der Prozession angefertigt wurde: Dubarle, L’homélie, S. 43; zur Prozession vgl. auch Kresten/Müller, Samtherrschaft, S. 38–40. 36 Ps.-Konstantinos 29.57 (ed. Ernst von Dobschütz, Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende, 2. Hälfte: Beilagen. Leipzig 1899, S. 81): Τῇ δὲ ἱκνουμένῃ τῶν ἡμερῶν, ἥτις ἑξκαιδεκάτη τοῦ μηνὸς ἦν, μετ’ αἰδοῦς καὶ εὐλαβείας πάλιν τὸν ἀσπασμὸν καὶ τὴν προσκύνησιν ποιησάμενοι καὶ λαβόντες αὐτὴν ἐκεῖθεν οἵ τε ἱερεῖς καὶ οἱ νεάζοντες βασιλεῖς – ὁ γὰρ γέρων οἰκουρὸς δι’ ἀσθένειαν κατελείπετο –, μετὰ ψαλμῶν καὶ ὕμνων καὶ δαψιλοῦς τοῦ φωτὸς διὰ τῆς πρὸς θάλασσαν καθόδου εἰς τὴν βασίλειον τριήρην αὖθις ἐνθέμενοι, τῆς πόλεως ἐν χρῷ σχεδὸν τὴν εἰρεσίαν ποιούμενοι, ἵνα τρόπον τινὰ διαζώσῃ τὸ ἄστυ διὰ τῆς ἐν θαλάσσῃ πορείας αὐτῆς. ἐκτὸς τοῦ πρὸς δύσιν τείχους τῆς πόλεως προσωρμίσθησαν. Vgl. auch Yahya I S. 732 (Kratchkovsky/Vasiliev): Les Grecs, entrés en possession du mandil, le portèrent à Constantinople, où il arriva le jeudi quinzième jour du mois d’août (ab). Alors Stéphane, son frère le patriarche Théophylacte et Constantin, enfants de l’empereur romain, sortirent vers la porte d’or pour aller au-devant (du mandil). Puis on l’apporta dans la grande église de Sainte-Sophie et de là au palais. 37 Theoph. Cont. S. 432, Z. 18–24 (Bekker): καὶ τῇ ἐπαύριον ἐξῆλθον ἐν τῇ Χρυσῇ πόρτῃ οἵ τε βασιλέως δύο υἱοὶ Στέφανός τε καὶ Κωνσταντῖνος καὶ ὁ γαμβρὸς αὐτοῦ Κωνσταντῖνος σὺν τῷ πατριάρχῃ Θεοφυλάκτῳ· καὶ μετὰ τῆς δεούσης τοῦτο ἀναλαβόντες τιμῆς, τῆς συγκλήτου πάσης προπορευομένης καὶ φωταγωγίας μεγίστης προαγούσης, μέχρι τοῦ ναοῦ τῆς ἁγίας Σοφίας πεζῇ διεκόμισαν, καὶ προσκυνηθὲν ἐκεῖσε ἐν τῷ παλατίῳ ἀνήγαγον. 38 Kresten/Müller, Samtherrschaft, S. 33–35. 39 So Kresten, Söhne, S. 350–351 (dort auch zur Datierung des Testamentes). Die Nachricht vom Testament überliefert Theoph. Cont. S. 435, Z. 3–10 (Bekker). Vgl. Steven Runciman, The Emperor Romanus Lecapenus and his reign. A study in tenth-century Byzantium, Cambridge 1929, S. 232; Kresten/Müller, Samtherrschaft, S. 42–43. 40 Zu dieser Usurpation s. Bourdara, Καθοσίωσις, Ι S. 74–76 (Nr. 32). 41 Liutprand, Ant. 5.22 (S. 136–137 Chiesa); vgl. Runciman, Romanus, S. 232–233.
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tet. Stephanos und Konstantinos Lakapenos sollen nämlich den Plan verfolgt haben, bei einem Mittagsmahl einen Streit um den Ehrenplatz vom Zaun zu brechen und den Hauptkaiser im entstehenden Tumult von ihren Anhängern töten zu lassen. Aufgrund einer rechtzeitigen Warnung habe Konstantinos VII. den Putschversuch antizipieren und seine beiden Rivalen um den Thron in eben jenes Kloster einweisen lassen können, in dem sich schon seit einigen Monaten ihr Vater befand. So lautet zumindest die Version der Geschichte, die der westliche Gesandte Liutprand von Cremona am Hof des schlussendlich siegreichen Kaisers Konstantinos zu hören bekam42. Michael V. Michael V. (1041–1042) ist nur mit Abstrichen als Usurpator zu bezeichnen. Er war von der verwitweten Kaiserin Zoe rechtmäßig adoptiert, proklamiert und gekrönt worden43. Der Versuch, seine Adoptivmutter und Gönnerin vom Thron zu stoßen44, wurde ihm dennoch als Majestätsverbrechen angelastet und entsprechend mit Blendung und Klosterhaft geahndet45. Eine mangelnde Vorbereitung seines Putschversuches kann Michael freilich kaum vorgeworfen werden. Sofort nach seiner Inthronisation hatte er damit begonnen, durch Vergabe von Würden und Ämtern Unterstützer an sich zu binden und umgab sich mit einer ihm ergebenen Entourage (hetaireia)46; er entließ Konstantinos Dalassenos und Georgios Maniakes aus der Haft und befreite sich aus der Abhängigkeit seiner eigenen Familie, indem er seinen übermächtigen Onkel, den orphanotrophos Ioannes, ins Exil schickte und andere männliche Verwandte entmannen ließ47. Michael muss sich bewusst gewesen sein, dass seine neuen Netzwerke die nicht (mehr) berücksichtigten Mächtigen in Opposition trieb48. In dieser heiklen Situation konnten die Einwohner Konstantinopels das Zünglein an der Waage sein. Mit Privilegien und Geschenken warb der Kaiser daher um die Gunst der Demen und
42 Liutprand, Ant. 5.22 (S. 136–137 Chiesa). 43 Hierzu siehe unten S. 165–166 und Appendix P 8. 44 Psellos, Chron. 5.17 (S. 89, Z. 1–4 Reinsch) führt als Motiv dafür Michaels Neid an, weil Zoe in Akklamationen vor ihm genannt worden sei. Zur legitimitätsstiftenden Funktion Zoes vgl. Lynda Garland, Byzantine empresses. Women and power in Byzantium, AD 527–1204, London/New York 1999, S. 136–140; Barbara Hill / Liz James / Dion Smythe, Zoe: the rhythm method of imperial renewal, in: Paul Magdalino (Hg.), New Constantines. The rhythm of imperial renewal in Byzantium, 4th–13th centuries, London 1994, S. 215–229, hier S. 217, S. 225–226. 45 Cheynet, Pouvoir, S. 54–55 (Nr. 56); Idem, Se révolter, S. 65–66; Garland, Empresses, S. 136– 144. S. 237, 335–338. 46 Zur hetaireia des Kaisers als eine außerinstitutionelle Gruppe seiner persönlicher Unterstützer siehe Hans Georg Beck, Byzantinisches Gefolgschaftswesen (Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 5), München 1965, bes. S. 27. 47 Attaleiates S. 8–9 (Tsolakes); Skylitzes S. 417 (Thurn); Zonaras 17.18 (S. 607–609 Pinder/ Büttner-Wobst); zur Beseitigung des orphanotrophos vgl. auch Psellos, Chron. 5.14–15 (S. 87– 88 Reinsch); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 54 (Nr. 55). 48 Maria Dora Spadaro, Interferenze politiche dei δυνατοί laici e religiosi nel sec. XI (1041–1057), in: Orpheus n. s. 9/2, 1988, S. 238–281, hier S. 246–250.
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Performative Aspekte von Usurpationen
Zünfte, die ihrerseits ihrem Wohltäter schmeichelten. Michael Psellos kommentiert dies in gewohnt spöttischem Ton: Sie freilich waren ihm ergeben und taten dies in zur Schau getragenen Gunsterweisen kund. Sie ließen ihn auch nicht auf dem bloßen Erdboden wandeln, sondern sahen es als schrecklich an, wenn er nicht auf Teppichen schritt und sein Pferd ihm nicht durch seidene Decken zur Freude gereichte49.
Bevor er den entscheidenden Schritt wagte, Zoe aufgrund angeblichen Hochverrats in ein Kloster auf den Prinzeninseln zu verbannen, hatte Michael zunächst seine engsten Vertrauten eingeweiht und Astrologen über seine Erfolgschancen befragt50. Danach testete er seine Beliebtheit im Volk ein letztes Mal in einer außergewöhnlich prunkvollen Prozession auf der Hauptstraße (Mesē) Konstantinopels am 17. April 104251. Die ausführlichste Schilderung stammt aus der Feder des zeitgenössischen Autors Michael Attaleiates: Die kaiserliche Prozession wurde von den Verantwortlichen der Mesē vorbereitet, indem kostbar gewebte Seidentücher auf dem Erdboden zwischen dem Palast und den Toren der ehrwürdigen und großen Kirche der heiligen Weisheit des göttlichen Wortes ausgebreitet wurden. Sie hatten alles prunkvoll vorbereitet, sodass der Kaiser mit seiner ihn umgebenden Entourage auf diesen wandeln konnte. Danach wurde die Prozession zu Pferde bis zur Nea Kyriake fortgesetzt. Hier breitete man die prächtigsten und teuersten Stoffe auf. Andere Dekoration, die vor Gold und Silber blitzte, wurde überall aufgehängt und die Mesē war in ihrer gesamten Länge mit Kränzen behangen und leuchtete, als ob sie eine Art Dankgottesdienst für die Errettung feierte. Die Prozession war wahrhaftig wunderbar und kaiserlich, von überall her unterstützt durch Akklamationen und gepriesen durch Danksagungen und Lobgesänge auf die Stadt; nur, dass die Prozession früher stattfand als gewöhnlich, erstaunte die Verständigeren unter den Zuschauern. Diese schlossen daraus, dass der Kaiser die Prozession eilig in Szene setzte, bevor das Spektakel vorbereitet war und sich die Straßen gefüllt hatten. Diese zeitliche Abweichung deutete man nicht gerade als gutes Omen52. 49 Psellos, Chron. 5.16 (S. 88, Z. 5–8 Reinsch): οἱ δὲ, ἐξήρτηντό γε ἐκείνου· καί τισι φαινομέναις εὐνοίαις τὰς γνώμας ἐγνώριζον, οὐδὲ προβῆναι ἐῶντες ἐπὶ ψιλοῦ τοῦ ἐδάφους, ἀλλὰ δεινὸν ὅλως ποιούμενοι, εἰ μὴ δι’ ὑφασμάτων προΐοι· καὶ ἐπιτρυφῴη αὐτῷ ὁ ἵππος τοῖς σηρικοῖς καταστρώμασι. 50 Psellos, Chron. 5.18 (S. 89 Reinsch). 51 Das Motiv findet sich explizit nur bei Skylitzes S. 417, 4–6 (Thurn): τῇ κυριακῇ οὖν τῇ μετὰ τὸ ἅγιον πάσχα προέλευσιν δημοσίαν κηρύξας ἐν τῷ τῶν ἁγίων ἀποστόλων ναῷ, καὶ δι’ αὐτῆς ἀποπειραθῆναι κρίνας τῆς γνώμης τῶν πολιτῶν. Michael Psellos überliefert die Prozession nicht, doch könnten sich seine Ausführungen über die Gunsterweise des Volkes (siehe oben) auf den konkreten Umzug beziehen. 52 Attaleiates S. 10, Z. 3–21 (Tsolakes): τῆς βασιλικῆς εὐτρεπιζομένης προόδου οἱ τῆς ἀγορᾶς προεξάρχοντες, πέπλα σηρικὰ πολυτελῶς ἐξυφασμένα τῇ γῇ καταστρώσαντες ἀπ’ αὐτῶν τῶν ἀνακτόρων μέχρι τῶν τοῦ σεβασμίου καὶ μεγίστου ναοῦ τῆς τοῦ Θεοῦ Λόγου Ἁγίας Σοφίας πυλῶν,
Ausloten der Loyalitäten
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Trotz dieses Makels fühlte sich Michael sicher genug, um die Verbannung Zoes noch am Abend desselben Tages in die Tat umzusetzen53. Sein Plan schien aufzugehen: die Prozession war am nächsten Tag das zentrale Gesprächsthema in Konstantinopel54. Als sich jedoch das Gerücht von der Verbannung Zoes zu verbreiten begann, gelang es Michaels Kontrahenten, die Empörung des Volkes zu schüren und gegen den Kaiser zu lenken55. Michael hatte seine Beliebtheit bzw. die Aussagekraft öffentlicher Gunstbeweise offenbar überschätzt. Der Kampf um den Thron entschied sich nun auf den Straßen Konstantinopels, doch persönlich trat Michael nicht mehr vor das Volk. Durch den Stadteparchen ließ er zwar noch öffentlich ein kaiserliches Schreiben verlesen, in welcher er seine Schritte gegen Zoe zu rechtfertigen suchte, doch die Menge ließ sich nicht mehr beruhigen56. Alexios Komnenos und Konstantios Dukas Als der Thron vom 31. März bis zum 2. April des Jahres 1078 vakant war57, soll auch der spätere Kaiser Alexios Komnenos die Straßen Konstantinopels als Stimmungsbarometer genutzt haben58. Nicht seine eigene Beliebtheit jedoch wollte er auf die Probe stellen, sondern jene des von ihm unterstützten Konstantios Dukas59, des Bruders des
ἐπὶ τούτοις τὸν βασιλέα μετὰ τῆς δορυφορούσης αὐτὸν εὐταξίας διελθεῖν φιλοτίμως παρεσκευάκασι. Μετὰ δὲ ταῦτα καὶ κατὰ τὴν Nέαν Kυριακὴν ἐφίππου τῆς προόδου γεγενημένης ἐπεριπετάννυντο ὧδε κἀκεῖσε τὰ πολυτελῆ τῶν ὑφασμάτων καὶ τίμια, καὶ κόσμος ἄλλος χρυσῷ καὶ ἀργύρῳ καταστράπτων συνεχῶς ὑπερήρτητο καὶ πᾶν τὸ τῆς ἀγορᾶς στεφανηφοροῦν καὶ οἷον ἑορτάζον χαρμόσυνά τινα καὶ σωτηριώδη κατελαμπρύνετο· ἡ δὲ προπομπὴ θαυμαστὴ τῷ ὄντι καὶ βασιλική, πανταχόθεν εὐφημίαις συγκροτουμένη καὶ χάρισι καὶ παιανισμοῖς ἐξαιρομένη τῆς πόλεως, πλὴν ὅσον τὸ τοῦ συνήθους πρωιαίτερον γενομένης τῆς προελεύσεως ἔκπληξις κατεῖχε τοὺς συνετωτέρους τῶν θεατῶν συμβάλοντας ὅπως πρὸ τοῦ κατασκευασθῆναι τὸ θέατρον καὶ πλησθῆναι τὰς ἀγυιὰς κατεσπουδασμένην ὁ βασιλεὺς τὴν πρόοδον ἐναπέδειξε· καὶ οἰωνὸς οὐκ ἀγαθὸς ἐδόκει τὸ ἔξωρον. 53 Attaleiates S. 10, Z. 21–27 (Tsolakes): Τέως δὲ τὸν μὲν βασιλέα αὖθις ὑποστρέψαντα ἐκ τοῦ μεγίστου ναοῦ τῶν κορυφαίων Ἀποστόλων εἶχε τὸ παλάτιον μέγα φρονοῦντα τῷ τυχεῖν τοιαύτης ἀποδοχῆς τε καὶ προπομπῆς, τὴν δὲ δέσποιναν πρὸς τὴν ἑσπέραν ἡ Πρίγκηπος, νῆσος δὲ αὕτη τῆς βασιλευούσης οὐ πόρρω, μελαμφοροῦσαν καὶ κεκαρμένην τὰς τρίχας εἰσδέχεται. 54 Attaleiates S. 11 (Tsolakes). 55 Spadaro, Interferenze, S. 252–253. 56 Zu den Abläufen siehe auch Anthony Kaldellis, How to usurp the throne in Byzantium: The role of public opinion in sedition and rebellion, in: Dimiter Angelov / Michael Saxby (Hgg.), Power and subversion in Byzantium. Papers from the forty-third Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Birmingham, March 2010 (Publications of the Society for the Promotion of Byzantine Studies 17), Farnham et al. 2013, S. 43–56, hier S. 50–52; Idem, Byzantine republic, S. 90–94. Zur Problematik von Kaldellis’ Interpretation der Rolle des Volkes siehe oben, S. 17, Anm. 15 und 16 sowie unten, S. 52, Anm. 64. Spadaro, Interferenze, S. 257. 57 Vgl. Christophilopoulou, Eκλογή, S. 122. 58 Bryennios, Anon. Praef. 5 (S. 57–59 Gautier). 59 Das anonyme Vorwort zum Geschichtswerk des Nikephoros Bryennios unterscheidet nicht zwischen Konstantios, dem Bruder Michaels VII. und Konstantinos, seinem Sohn. Aus Altersgründen kommt für den Putschversuch jedoch nur der etwa siebzehnjährige Konstantios Dukas in Frage: Gautier, Bryennios, S. 48–51.
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Performative Aspekte von Usurpationen
zurückgetretenen Kaisers Michael VII.60. Alexios legte ihm purpurfarbene Schuhe an und geleitete ihn zum Palast. Als das Volk aber seinem Unmut darüber freien Lauf ließ und kundtat, dass es Konstantios’ Ansprüche nicht zu unterstützen bereit sei, begann der Prätendent am Erfolg des Unternehmens zu zweifeln und überzeugte auch Alexios davon, es aufzugeben61. Der Vorfall ist in dieser Form nur im Vorwort zum Geschichtswerk des Nikephoros Bryennios überliefert, dessen anonymer Autor jedoch betont, dass das Ereignis in aller Munde sei und sich noch jeder gut daran erinnere62. Schlussfolgerungen Aus den gewählten Fallbeispielen eine Konklusion zu ziehen ist kaum möglich, und selbst wenn man weitere hinzuzöge, würden sich wohl keine einheitlichen Muster erkennen lassen. Der Anlass des öffentlichen Statements – und damit Ort, Zeit und Publikum – variierte ebenso wie seine Strategie, sein Ziel und schließlich sein Ausgang. Alexios’ Versuch, Konstantios Dukas auf dem Thron zu installieren, konnte nach den negativen Reaktionen ungestraft abgebrochen werden, während in anderen Fällen die Verwendung unangemessener Insignien mit Exil, Körperstrafen oder dem Tod geahndet wurden63. Michael V. ließ sich trotz aller Vorsicht von den Reaktionen seiner Untertanen täuschen. Er kann vielleicht als Beispiel dafür gelten, dass es nicht ausreichend war, die öffentliche Meinung zu k e n n e n – wenn man nicht in der Lage war, diese auch zu l e n k e n . Die Stimmung in der Stadtbevölkerung war prinzipiell nur in Ausnahmesituationen vonnöten, in denen der Druck der Massen den Thronkampf zu Gunsten eines der Prätendenten verändern konnte64. Häufig war es jedoch wichtiger,
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Demetrios I. Polemis, The Doukai. A contribution to Byzantine prosopography (University of London, Historical Studies 22), London 1968, S. 48–52 (Nr. 17). 61 Bryennios, Anon. Praef 5 (S. 57, Z. 16–24 Gautier): Ὅπως μὲν οὖν ὁ Κομνηνὸς τῷ ἀδελφῷ προσηνέχθη τοῦ Δούκα καὶ τοῦτον ὑπὸ τῇ οἰκείᾳ δυνάμει τε καὶ συνάρσει ἐγκαθιδρῦσαι τῷ τῆς βασιλείας θρόνῳ ἐσπούδαζε, θεὶς αὐτῷ τοῖς ποσὶ καὶ τὰ φοινικοβαφῆ πέδιλα καὶ ἀπάγων τοῦτον εἰς τὰ βασίλεια, καὶ ὅπως τούτων ἐν ταῖς λεωφόροις διερχομένων στόμα ἓν γεγονότες ὁ δῆμος μὴ θέλειν ὑπ’ αὐτοῦ βασιλεύεσθαι τρανῶς ἐξεβόησαν καὶ ὅπως καὶ ῥηθὲν παιδίον πρὸς τὸν θροῦν ἰλιγγιᾶσαν καὶ τοῖς τοῦ δήμου λόγοις ἐκδειματωθὲν τὴν ψυχὴν ἀπείχετο τῆς τοιαύτης προθέσεως, κατεδυσώπει δὲ καὶ τὸν Κομνηνὸν αὐτῆς ἀποσχέσθαι καὶ μὴ ἐπὶ πλέον τοῦτον παραβιάζεσθαι. Vgl. Kaldellis, How to usurp, S. 46. 62 Bryennios, Anon. Praef 5 (S. 59, Z. 1–3 Gautier): ταῦτα καὶ ἐν στόμασι πάντων κεῖται καὶ ὡμολόγηται παρὰ τοῖς εὖ φρονοῦσι καὶ ὅσοι μὴ τοῦ τῆς Λήθης πόματος ἐκπιόντες εὐμνήμονες τῶν γενομένων εἰσίν. Bryennios 3.20 (S. 247–248 Gautier) berichtet im Gegensatz zum anonymen Verfasser des Vorworts, Alexios habe Konstantios mit einer schriftlichen Einverständniserklärung Michaels VII. zum Antreten der Nachfolge überreden wollen. Das Anlegen der purpurnen Schuhe wird hier nicht thematisiert. 63 Vgl. hierzu Kapitel 3.2 und 3.3. 64 Eine größere Bedeutung will Anthony Kaldellis (Kaldellis, Byzantine republic; Idem, How to usurp), dem Volk einräumen, aber seine Fallbeispiele beschränken sich auf eben solche Ausnahmesituationen, in denen Mitglieder der Aristokratie die Stadtbevölkerung zur Unterstützung ihres Putsches motivieren wollten.
Die Proklamation
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die Loyalitäten in den engsten Kreisen der Macht65 auszuloten und die Akzeptanz von Veränderungen zu proben. Bei der Hochzeit des Christophoros Lakapenos wurde die veränderte Reihenfolge der Akklamationen gewiss nur von einem elitären Publikum gehört, doch wird dessen Meinung in diesem Fall bedeutender gewesen sein als jene des Volkes. 2.2 Die Proklamation Den offiziellen Beginn einer Usurpation markierte die Proklamation66 des Herausforderers, in deren Rahmen seine neue Identität als Kaiser erstmals kommuniziert – und damit konstituiert – wurde67. Im römisch-byzantinischen Verständnis von Herrschaft bedeutete der Akt der Proklamation die faktische Übernahme der Kaiserherrschaft mit allen sozialen, juristischen und zeremoniellen Konsequenzen. In ihr artikulierte sich der Konsens der Untertanen – im Idealfall repräsentiert durch Vertreter von Heer, Senat und Volk – in ritualisierter Art und Weise. Als erste öffentlich inszenierte Artikulation der Thronansprüche eines Usurpators war die Proklamation mit einer Reihe symbolischer Handlungen verbunden. Auf visueller Ebene sind die Präsentation des Thronkandidaten und das Anlegen von Insignien hervorzuheben. Eine hohe Bedeutung kam aber auch der auditiven Dimension zu, denn die Verwandlung war erst nach erfolgten Akklamationen abgeschlossen68. Aus frühbyzantinischer Zeit erhaltene Protokolle ermöglichen eine detaillierte Rekonstruktion der Proklamationen von Kaisern des 5. und 6. Jahrhunderts, jedoch zeugen bereits diese Zeremonien von einem großen Gestaltungsspielraum69. Bis zum zehnten
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Bedauerlicherweise ist diese Personengruppe meist äußerst schwer, oft auch gar nicht zu fassen. Vgl. hierzu im weitesten Sinne Kyritses, Imperial council; Idem, Constitutional crisis. 66 Die im Folgenden verwendeten Abkürzungen P 1–32 verweisen auf die entsprechenden Datenblätter im Appendix „Proklamationen“. 67 Gerald Schwedler / Eleni Tounta, Usurping rituals: The correlation between formalised repetitive behaviour and legitimacy, in: Gerald Schwedler / Eleni Tounta (Hgg.), Ritual and the science of ritual III: State, power, and violence, Wiesbaden 2010, S. 349–359, besonders S. 349–350. 68 Szidat, Usurpator, S. 247–248. Siehe hierzu im Detail auch Kapitel 2.2.3. 69 Die Protokolle des 5.–6. Jahrhunderts sind überliefert in De Cerim. 1.91–93 (Bd. 1, S. 410–426 Reiske); zum Ablauf der Proklamationen vgl. Christophilopoulou, Εκλογή, S. 28–46, S. 58–66; Gilbert Dagron, Emperor and priest. The imperial office in Byzantium, Cambridge 2007, S. 59–69; Pertusi, Insigne, S. 485–491; Otto Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im Zeremoniell. Vom oströmischen Staats- und Reichsgedanken, Jena 1938, Nachdr. Darmstadt 21956, S. 9–11; Szidat, Usurpator, S. 117–124; Bréhier, Institutions, S. 14–18; Beck, Senat, S. 11–17; Kai Trampedach, Kaiserwechsel und Krönungsritual im Konstantinopel des 5. bis 6. Jahrhunderts, in: Marion Steinicke / Stefan Weinfurter (Hgg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 275–290.
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Performative Aspekte von Usurpationen
Jahrhundert hatten sich einige Elemente völlig verändert – vor allem nahm die starke militärische Färbung des Rituals ab70 – aber auch danach blieb die Proklamation in hohem Grade von Fall zu Fall wandelbar71. In ihren Grundzügen weisen die Proklamationen von Kaisern – ob „legitim“ oder nicht – gemeinsame Elemente auf, wenngleich sich kein festes Protokoll zu entwickeln haben scheint. Je nach Ort der Ausrufung, Persönlichkeit des Kandidaten, Status der Unterstützer und Verfügbarkeit von zeremoniellen Räumlichkeiten und Insignien konnten Proklamationen beträchtlich differieren72. 2.2.1 Begrifflichkeiten Die byzantinischen Historiographen sind bei der Beschreibung von Proklamationen in ihrer Terminologie durchaus konsequent. Das für die Ausrufung von Usurpatoren verwendete Vokabular ist identisch mit jenem für Kaiser, die ihre Thronansprüche in geordneten Verhältnissen, beispielsweise als bereits designierte Nachfolger bei Thronvakanz, artikulierten. Die Ernennung eines Kaisers, unabhängig von der Legitimität seiner Ansprüche, geben die Quellen ab dem 8. Jahrhundert üblicherweise mit dem Begriff anagoreuō (ἀναγορεύω) wieder73, im Untersuchungszeitraum zumeist in der Form „N. N. anagoreuetai Romaiōn basileus / autokratōr (Ν. Ν. ἀναγορεύεται Ῥωμαίων βασιλεύς / αὐτοκράτωρ)“. Die genaue Formulierung kann je nach Autor variieren74, wo70 71
Beck, Senat, S. 18–38; Beihammer, Succession, S. 161. Christophilopoulou, Εκλογή, S. 124; Dagron, Emperor and priest, S. 78–79. Das scheint auch der Grund dafür zu sein, dass sich in der byzantinischen Kunst kein fester ikonographischer Typus zur Darstellung einer Proklamation entwickelt hat: Vasiliki Tsamakda, The illustrated chronicle of Ioannes Skylitzes in Madrid, Leiden 2002, S. 279. 72 Tounta, Usurpation, S. 447–448, 464; Christophilopoulou, Εκλογή, S. 140–141, S. 149–150; Dagron, Emperor and priest, S. 60. 73 Christophilopoulou, Εκλογή, S. 99. 74 Leon Diak. 6.1 (S. 94, Z. 1–2 Hase): αὐτοκράτορα Ῥωμαίων τὸν Ἰωάννην σὺν τοῖς τοῦ ἤδη βασιλεύσαντος Ῥωμανοῦ παισὶν ἀνηγόρευον (P 4); Skylitzes S. 256, Z. 10 (Thurn): Ῥωμαίων ἀναγορεύεται βασιλεύς (P 3); ebenda S. 316, Z. 10: Ῥωμαίων ἀναγορεύεται βασιλεύς (P 6); ebenda S. 332, Z. 67: τούτου δὲ ἀναγορευθέντος (P 7); ebenda S. 392, 28: ἀνηγόρευται δὲ ὁ Μιχαὴλ (P 8); ebenda S. 428, Z. 75: ἀναγορεύεται βασιλεύς (P 10); ebenda S. 439, Z. 88: ἀναγορεύεται βασιλεύς (P 11); ebenda S. 489, 27: ἀναγορεύουσι τοῦτον αὐτοκράτορα βασιλέα Ῥωμαίων (P 12); Skylitzes Cont. S. 185, Z. 3–4: βασιλεὺς παραυτίκα ἀναγορεύεται παρὰ τοῦ … στρατιωτικοῦ πλήθους (P 20); Attaleiates S. 146, Z. 12–14 (Tsolakes): βασιλέα Ῥωμαίων τοῦτον ἀνίστησιν … μετὰ τὴν ἀναγόρευσιν (P 16); ebenda S. 197, Z. 10–11: ἀναγορεύουσι τὸν Βοτανειάτην βασιλέα λαμπρᾷ τῇ φωνῇ (P 17); ebenda S. 236, Z. 8: βασιλέα τοῦτον ἀναγορεῦσαι (P 20); Bryennios 3.10 (S. 231, Z. 16 Gautier): βασιλεὺς Ῥωμαίων ἤδη ἀνηγόρευτο (P 18); Anna Komnene, Alexias 2.8.2 (S. 76, Z. 41–42 Reinsch/Kambylis): ἀναγορευομένῳ, ὡς ἔθος τοῖς βασιλεῦσιν ἐστί (P 21); Zonaras 17.14 (S. 586, Z. 10 Pinder/ Büttner-Wobst): πᾶσα ἡ πόλις τὸν νέον ἀνηγόρευεν αὐτοκράτορα (P 8); ebenda 17.19 (S. 611, Z. 16–612, Z. 1): ἡ Θεοδώρα βασιλὶς ἀνηγόρευτο (P 9); ebenda 18.19 (S. 724, Z. 13): ἀναγορεύεται βασιλεύς (P 20); Mesarites 5 (S. 22, Z. 29 Heisenberg): τοῦ ἀναγορευομένου (P 29); Choniates, Hist. S. 272, Z. 58 (van Dieten): Ἀνδρόνικος ἀνηγορεύετο (P 24); ebenda S. 345, Z. 82: βασιλεὺς
Die Proklamation
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bei bei der Verwendung der Herrschertitel basileus und autokratōr trotz zunehmender Differenzierung der Titel in der politischen Realität ab dem 11. Jahrhundert zumeist keine bewusste inhaltliche Unterscheidung erkennbar ist75. Eine nennenswerte Abweichung von diesem Grundschema findet sich bei Michael Attaleiates, dem zufolge Isaakios (I.) Komnenos zum sebastos ausgerufen worden sei (σεβαστὸς παρὰ πάντων ἀναγορευόμενος, Appendix P 12). Der Begriff ist hier jedoch gewiss nicht in seiner zeitgenössischen Bedeutung als hoher Würdentitel zu verstehen, sondern – seinem ursprünglichen Sinn folgend – als Übersetzung von augustus und somit als antikisierendes Synonym zu basileus bzw. autokratōr76. Es sei hier noch auf eine weitere Formulierung im Werk des Attaleiates hingewiesen, die sich auf die Ausrufung des Leon Tornikios (1047, P 11) bezieht und die in der jüngsten englischen Übersetzung77 des Textes von Anthony Kaldellis und Dimitris Krallis allem Anschein nach zu einer Fehlinterpretation geführt hat. Dort ist zu lesen: „Invested with the imperial insignia and garb, fugitive was acclaimed commander in chief by those present [Hervorhebung D. H.]“. Leon Tornikios sei also lediglich zum Oberbefehlshaber der Armee (stratēgos autokratōr) ausgerufen worden. Die der Übersetzung zugrundeliegende Textstelle liest sich in der Edition von Bekker wie folgt: καὶ τοῖς παρασήμοις κοσμηθεὶς μετὰ τῆς βασιλικῆς ἐσθῆτος ὁ φυγαδίας στρατηγὸς αὐτοκράτωρ παρὰ τῶν συνόντων ἀνηγορεύθη78. Aus grammatikalischer Sicht ist die vorgestellte Übersetzung durchaus in Ordnung. Es ist jedoch nicht schlüssig, weshalb Leon Tornikios kaiserliche Insignien annehmen und sich dann nur zum stratēgos autokratōr ausrufen hätte lassen sollen. Ohne Zweifel sind die Satzglieder in Attaleiates’ Formulierung dahingehend zu gruppieren, dass die Passage die Proklamation des geflohenen (ehemaligen) stratēgos zum autokratōr (und nicht die Proklamation des Geαὐτοκράτωρ Ῥωμαίων ἀναγορεύεται Ἰσαάκιος (P 25); ebenda S. 378, Z. 59–61: καὶ πρὸς παντὸς ἀναγορευθεὶς τοῦ στρατεύματος (P 26); ebenda S. 454, Z. 25–26: βασιλεὺς αὐτοκράτωρ ἀναγορεύεται (P 27); ebenda S. 455, Z. 67: ἀναγορεύουσιν αὐτοκράτορα (P 28); ebenda S. 526, Z. 45–46: βασιλέα Ῥωμαίων αὐτὸν ἀνηγόρευον (P 29); ebenda S. 541, Z. 46–47: καὶ βασιλεὺς Ῥωμαίων ὁ συνὼν ἐκείνοις Ἀλέξιος παρὰ τῶν Ἐπιδαμνιτῶν ἀνηγόρευτο (P 30). 75 Zur Entwicklung der Begriffe vgl. Christophilopoulou, Εκλογή, S. 207, 228. Nur in Fällen, wo es für das Verständnis nötig ist, verwenden die Texte die Begriffe gezielt, beispielsweise wenn es darum geht, dass Romanos IV. Diogenes zum Hauptkaiser (basileus autokratōr) ausgerufen wird und fortan dem basileus Konstantin VII. übergeordnet ist: Attaleiates S. 80 (Tsolakes). 76 Attaleiates S. 44 (Tsolakes). Zum sebastos-Titel vgl. Lucien Stiernon, Notes de titulature et de prosopographie byzantines: Sébaste et gambros, in: REB 23, 1965, S. 221–243, bes. S. 226–227. Für den byzantinischen Kaiser war die Bezeichnung längst obsolet geworden. Vgl. Panayotis Yannopoulos, Le couronnement de l’Empereur à Byzance: rituel et fond institutionnel, in: Byz 61/1, 1991, S. 71–92, hier S. 89. 77 Michael Attaleiates, The History. Translated by Anthony Kaldellis / Dimitris Krallis (Dumbarton Oaks Medieval Library 16), Cambridge, MA – London 2012, S. 39. 78 Michaelis Attaliotae Historia, opus a Wladimiro Bruneto de Presle inventum, descriptum, correctum. Recognovit Immanuel Bekker (CSHB), Bonn 1853, S. 23, 5–7. Die dort angegebene lateinische Übersetzung lautet: et insignibus ornatus cum regia veste exsul ille a praesentibus imperator dominus renuntiatus est.
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Performative Aspekte von Usurpationen
flohenen zum stratēgos autokratōr) beschreibt. Im Gegensatz zu Bekker trennt die jüngste Edition des Textes durch Tsolakēs die Sinneinheiten korrekt durch Setzen eines Kommas79. Alternativ zu anagoreuō finden sich vor allem auch die Termini anarreō (ἀναρρέω) und (ana)kēryttō ([ἀνα]κηρύττω), seltener auch analegō (ἀναλέγω) und phēmizō (φημίζω), die semantisch allesamt den auditiven Aspekt der Ausrufung hervorheben, die schließlich auch das Herzstück der Proklamation ausmachte. Wie auch bei den Wendungen mit anagoreuō schwankt der prädikative Nominativ zwischen verschiedenen Formen der Kaisertitulatur, ohne dass man hieraus auf eine bewusste Differenzierung schließen könnte80. Nur selten wird die Proklamation auf andere Art als die bisher genannten ausgedrückt oder umschrieben81. Bei allen Versuchen einer schematisierenden Darstellung des verwendeten Vokabulars muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Quellen selbst bisweilen nicht klar zwischen dem Akt der Ausrufung und jenem der Akklamation (euphēmēsis, euphēmia / εὐφήμησις, εὐφημία)82 unterscheiden. Letztere bezeichnet streng genommen nur das Akzeptieren des im Rahmen der Proklamation artikulierten Anspruchs auf den Thron durch Zuruf formalisierter Segenswünsche, im Idealfall in Anwesenheit des
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Attaleiates S. 19, Z. 6–8 (Tsolakes): Kαὶ τοῖς παρασήμοις κοσμηθεὶς μετὰ τῆς βασιλικῆς ἐσθῆτος ὁ φυγαδίας στρατηγὸς, αὐτοκράτωρ παρὰ τῶν συνόντων ἀνηγορεύθη … 80 Ἀναρρέω: Leon Diak. 7.1 (S. 113, Z. 19 Hase): Ῥωμαίων αὐτοκράτωρ ἀναφανδὸν ἀνεῤῥήθη (P 5); Skylitzes (S. 439, Z. 11–12 Thurn): βασιλεύς, ὡς ἐλέχθη, ἀναρρηθεὶς (P 11); Psellos, Chron. 4.3 (S. 52, Z. 1–2 und 9 Reinsch): ἡ ἑσπέριος ἐκείνη ἐσχηματίσθη ἀνάρρησις … ὁ μὲν Μιχαὴλ, βασιλεὺς αὐτοκράτωρ ἀναρρηθεὶς, περὶ τῶν συνοισόντων (P 8); ebenda 6.104 (S. 152, Z. 3–4): καὶ ὁπόσα δὴ αὐτοῖς ὁ καιρὸς ἐδίδου, ἐπὶ τῇ ἀναρρήσει πλασάμενοι (P 11); ebenda 7.103 (= 7a 11; S. 255–256, Z. 9–10): καὶ ὁπόσα εἴωθεν ἐπὶ ταῖς τῶν αὐτοκρατόρων ἀναρρήσεσι γίνεσθαι (P 25); Anna Komnene, Alexias 2.8.2 (S. 76, Z. 42 Reinsch/Kambylis): σὺν τῷ ἀναρρηθέντι ἐξ ὑμῶν (P 21); Zonaras 17.23 (S. 627, Z. 7–8 Pinder/Büttner-Wobst): εὐφημίας αὐτὸν αὐτίκα βασιλικῆς καὶ ἀναρρήσεως κατηξίωσαν (P 11); Choniates, Hist. S. 270, Z. 20–21 (van Dieten): διατιθέασι τὴν ἀνάρρησιν (P 24); 451, Z. 81: τὴν τοῦ ἀδελφοῦ ἀνάρρησιν ἐνηχούμενος (P 27). Ἀναρρέω wird auch bevorzugt für wiederholte Proklamationen herangezogen: Christophilopoulou, Εκλογή, S. 154. (Ἀνα)κηρύττω: Leon Diak. 5.9 (S. 91, Z. 5–6 Hase): τὸν Ἰωάννην αὐτοκράτορα Ῥωμαίων ὁμοφώνως ἐκήρυττον (P 4); Anna Komnene, Alexias 1.4.1 (S. 18, Z. 9 Reinsch/Kambylis): βασιλέα Ῥωμαίων ἀνακηρύττοντος (P 18); Zonaras 18.15 (S. 704, Z. 8–9 Pinder/Büttner-Wobst): τὸν δὲ Μιχαὴλ ἀνακηρύττουσιν αὐτοκράτορα (P 15); Mesarites 6 (S. 23, Z. 2 Heisenberg): ὑπὸ τοιούτων δορυφόρων ἀνακηρυσσόμενός (P 29). Ἀναλέγω: Skylitzes S. 332, Z. 66 (Thurn): Βάρδαν τὸν Φωκᾶν ἀνεῖπον βασιλέα (P 7); ebenda S. 487, Z. 29–30: βασιλέα Ῥωμαίων ἀνεῖπε τὸν μάγιστρον Ἰσαάκιον τὸν Κομνηνόν (P 12); Bryennios 2.17 (S. 177, Z. 16 Gautier): ἡ δὲ ᾖν βασιλέα τὸν καίσαρα ἀνειπεῖν Ῥωμαίων (P 16). Φημίζω: Leon Diak. 3.4 (S. 40, Z. 20–21 Hase): αὐτοκράτορα Ῥωμαίων καὶ κραταιὸν βασιλέα τὸν Νικηφόρον ἐφήμιζον, (P 3); Attaleiates S. 130, Z. 17–18 (Tsolakes): αὐτοκράτορα καὶ δεσπότην φημίζουσιν (P 15). 81 Leon Diak. 3.4 (S. 41, Z. 9–10 Hase): αὐτὸν … βασιλέα Ῥωμαίων προσαγορεύοντες (P 3); Zonaras 17.6 (S. 550, Z. 5–6 Pinder/Büttner-Wobst): τῷ Φωκᾷ Βάρδᾳ διάδημα περιέθεντο καὶ τῆς βασιλείας ἠξίωσαν (P 7); Skylitzes S. 256, Z. 7–8 (Thurn): τὴν πρόκλησιν ὑπεδέξατο (P 3). 82 S. Kapitel 2.2.3.
Die Proklamation
57
Kaisers oder Thronkandidaten83. Akklamationen begleiteten nicht nur die Ausrufung eines neuen Kaisers, sondern wurden bei einer Vielzahl an Gelegenheiten vorgetragen, bei denen der Herrscher mit seinen Untertanen in Interaktion trat84. Obgleich also nur Teilaspekt der Proklamation (anagoreusis, ἀναγόρευσις), kann das Verb euphēmizō (εὐφημίζω) bisweilen zur Umschreibung der gesamten Zeremonie dienen85, ebenso wie manche Quellen den Prozess der Proklamation bildhaft durch das Anlegen von Insignien wiedergeben86. Umgekehrt findet sich auch anarreō manchmal in Kontexten, in denen nicht eine erste Ausrufung gemeint sein kann, sondern bestätigende Akklamationen87. Diese semantische Nuance spiegelt sich auch in der Tatsache, dass sich das Verb im Kontext erneuerter Proklamationen findet, beispielsweise bei der Beförderung vom basileus zum autokratōr oder infolge von Veränderungen in der Hierarchie innerhalb eines Kaiserkollegiums88. Aus sprachlicher Sicht fällt auf, dass der Usurpator in kaum einem Fall das handelnde Subjekt darstellt. Verwendet werden fast exklusiv mediopassive und passive Verbformen. Wenn die entsprechenden Verben aktiv gebraucht werden, dienen die Unterstützer des Usurpators als Subjekt. Insofern verstärkt der sprachliche Ausdruck die Grundabsicht der ritualisierten Handlungen im Rahmen einer Proklamation, zumal der Thronanwärter dabei eine betont passive Rolle einnimmt. Das aktive Momentum liegt nicht bei ihm, sondern bei seinen Anhängern, die ihn auswählen, unter Umständen gar zur Annahme der Wahl nötigen, ihm die Insignien anlegen, ihn durch Akklamation anerkennen und ihm Reverenz erweisen89. Seine erste aktive Handlung unternimmt der Kandidat erst nach Abschluss der Investitur, indem er sich beispielsweise mit einer Ansprache an seine Unterstützer wendet. Diese Passivität ist nicht auf die Ausrufung von Usurpatoren limitiert: Weder die byzantinischen Proklamations- und Krönungsprotokolle noch die historiographischen Beschreibungen geregelter Thronfolgen kennen eine aktivere Rolle des Kandidaten. Im Moment seiner Erneuerung be-
83
Nur sehr selten gehen in den Schilderungen der Historiographen Akklamationen der Proklamation voraus, z. B. Bryennios 3.10 (S. 231 Gautier) (P 18) oder Leon Diak. 3.4 (S. 41 Hase) (P 3). 84 Vgl. ODB I S. 10–11, s. v. acclamations. 85 Skylitzes S. 392, Z. 30–393, Z. 31 (Thurn): δι’ εὐφήμου φωνῆς τὸν νέον ἐμεγάλυνον βασιλέα (P 8); Psellos, Chron. 5.37 (S. 100, Z. 11–12 Reinsch): βασιλίδα τὴν Θεοδώραν εὐφήμῳ στόματι κατωνόμασαν. 86 Vgl. Kapitel 2.2.4. 87 Zonaras 18.23 (S. 744, Z. 9–13 Pinder/Büttner-Wobst): καὶ ληιζόμενος ἀπῄτει τοὺς ἐν ταῖς πόλεσι δέχεσθαί τε αὐτὸν καὶ ἀξιοῦν βασιλικῆς ἀναρρήσεως. εἶτα εἴς τι πολίχνιον τῶν Θρᾳκικῶν ἀπελθὼν ἀπατηθείς τε παρὰ τῶν ἐν αὐτῷ καὶ ἀναρρηθεὶς εἰσελθών τε μετ’ ὀλίγων ἐντὸς συνεσχέθη καὶ ἐξεκόπη τοὺς ὀφθαλμούς; Choniates, Hist. S. 270, Z. 20–22 (van Dieten): ἀμέλει καὶ τῆς εὐφημίας κατάρχονται καὶ οὑτωσί πως διατιθέασι τὴν ἀνάρρησιν „Ἀλεξίου καὶ Ἀνδρονίκου μεγάλων βασιλέων καὶ αὐτοκρατόρων Ῥωμαίων τῶν Κομνηνῶν πολλὰ τὰ ἔτη“; ebenda S. 564, Z. 4–5: τὰς εἰωθυίας τῷ αὐτοκράτορι προσρήσεις ἀποδιδόασιν. 88 Christophilopoulou, Εκλογή, S. 139–142. 89 Zur Frage der Initiative bei Proklamationen vgl. Kapitel 2.2.7.
58
Performative Aspekte von Usurpationen
tont das römisch-byzantinische Kaisertum eine seiner zentralen Tugenden, die tranquillitas, welche die Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Amtes ausdrücken sollte90. Die passive Haltung des Kaisers bei seiner Proklamation ist gewiss auch ein Resultat der Fusion hellenistischer und römischer Konzepte von Herrschaft im byzantinischen Kaisertum, nämlich die Wahl des Herrschers durch göttliche Vorbestimmung einerseits und Kür durch das Volk andererseits91. Im Protokoll zur Ernennung von Kaisern gelang es bereits früh, die beiden Tendenzen zu integrieren und im Rahmen des Zeremoniells eine Koexistenz zwischen göttlicher Vorauswahl des Kandidaten und Akzeptanz durch die Untertanen zu etablieren92. Die Figur des Kaisers musste bei der ritualisierten öffentlichen Zurschaustellung des Auswahlprozesses als handelndes Subjekt in den Hintergrund treten und wurde geradezu als Spielball der Forderungen der Untertanen einerseits und der göttlichen Fügung andererseits dargestellt. Wenn die byzantinischen Historiographen die Initiative des Thronprätendenten nicht verschleiern, dann zumeist im Kontext von Usurpatoren, deren Proklamation sie als unrechtmäßig betrachten. So empört sich beispielsweise Anna Komnene über den seldschukischen Emir Tzachas, der sich in der Gegend von Smyrna ein eigenes kleines Reich errichtet hatte und sich selbst basileus nannte (βασιλέα ἑαυτὸν ὀνομάζων)93 oder wenn sie an anderer Stelle ausdrücklich meint, Nikephoros Basilakios habe sich zum Kaiser wählen und akklamieren lassen (αὐτὸς ἑαυτὸν καὶ χειροτονήσας εἰς βασιλέα καὶ εὐφημήσας)94. Gerne wird diese Willkür auch durch das Bild des eigenhändigen Anlegens von Insignien ausgedrückt, das im regulären Kaiserzeremoniell undenkbar war95. 2.2.2 Raum, Akteure, Publikum Das Ritual der Proklamation eines neuen Kaisers setzte sich in erster Linie aus der Übernahme von Herrschaftszeichen und der Artikulation der Zustimmung der Anwesenden durch Akklamation zusammen. Abgesehen von diesen beiden Grundelemen-
90 91
92 93 94 95
Cameron, Court ritual, S. 107. Bréhier, Institutions, S. 14–15; Pertusi, Insigne, S. 492–495 mit Literatur; Antonio Carile, Le insegne del potere a Bisanzio, in: Andrea Piras / Andrea Gariboldi / Antonio Carile / Giuseppe Ghini / Massimo Centini (Hgg.), La corona e i simboli del potere, Rimini 2000, S. 65–124, hier S. 66–70. Bréhier, Institutions, S. 50–51; Pertusi, Insigne, S. 494–496. Anna Komnene, Alexias 9.1.2 (S. 258 Reinsch/Kambylis). Anna Komnene, Alexias 1.7.2 (S. 28 Reinsch/Kambylis). So Bardas Phokas (P 5): Skylitzes S. 292, Z. 15 (Thurn): διάδημα περιθεὶς ἑαυτῷ καὶ τὰ λοιπὰ τῆς βασιλείας ἀνειληφὼς γνωρίσματα; Zonaras 17.2 (S. 525, Z. 7–8 Pinder/Büttner-Wobst): ἑαυτῷ περιθέμενος τὰ τῆς βασιλείας παράσημα; Georgios Maniakes (P 10): Skylitzes S. 428, Z. 74–75 (Thurn): αὐτὸς δ’ ἑαυτῷ περιθεὶς καὶ τὰ τῆς βασιλείας παράσημα ἀναλαβὼν ὰναγορεύεται βασιλεύς; Nikephoros Bryennios (P 18): Anna Komnene, Alexias 1.4.1 (S. 18, Z. 8–9 Reinsch/Kambylis): τὸ διάδημα ἑαυτῷ περιθεμένου.
Die Proklamation
59
ten gab es jedoch weder zeremonielle Vorschriften bezüglich des dafür gewählten Raumes, noch hing die Gültigkeit des Rituals von der Anwesenheit bestimmter Personen oder Körperschaftsvertretern ab und nicht einmal bei den zu verwendenden Insignien scheinen konkrete Vorgaben existiert zu haben. Der Ablauf der Proklamation war beeinflusst von der sozialen und beruflichen Stellung des Usurpators im Staat, seiner regionalen Machtbasis, seinen Unterstützern und der Art und Weise der Durchführung des Putschversuches insgesamt. Für eine vergleichende Analyse der vorliegenden Fälle, speziell zur Isolierung einzelner Handlungsmuster und für die Frage nach den Akteuren und verwendeten Requisiten, ist es sinnvoll, die Proklamationen nach räumlichen Kriterien zu ordnen. Hierbei ist primär zwischen Proklamationen außerhalb und innerhalb Konstantinopels zu unterscheiden. 2.2.2.1 Proklamationen außerhalb Konstantinopels Die Proklamation von Usurpatoren erfolgte in den meisten Fällen außerhalb der Kaiserstadt (Tabelle 1). Die Herausforderer der Krone – in fast allen Fällen Angehörige mächtiger aristokratischer Familien – hatten ihre Machtbasis oft fernab Konstantinopels in der Provinz, wo sie ihre Familie und Verbündeten (oikeioi) versammeln96, Truppen rekrutieren und auf ihre wirtschaftlichen Rücklagen zurückgreifen konnten; bisweilen bedienten sich Generäle für ihre eigenen Ziele auch der ihnen für einen Feldzug anvertrauten Truppen97. In der Provinz konnte der Schlag gegen den amtierenden Kaiser in Ruhe geplant und vorbereitet werden, bevor sich der Usurpator überhaupt zur Proklamation entschloss. Diese erfolgte üblicherweise in Anwesenheit der versammelten Truppen. Heerlager Stützte sich der Usurpator bei seinem Putschversuch in erster Linie auf die ihm unterstellten oder von ihm rekrutierte Truppen, so drängte sich das Heerlager als Bühne für die offizielle Proklamation geradezu auf (Tabelle 1)98. In einem Umfeld, das
96 Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 158–159; Inoue, Rebellion; Paul Magdalino, The Byzantine aristocratic oikos, in: Michael Angold (Hg.), The Byzantine aristocracy, IX to XIII centuries (BAR International Series 221), Oxford 1984, S. 92–111, besonders S. 92, S. 96. 97 So geschehen u. a. bei P 3, P 6, P 7, P 10 und P 20. 98 Zum Aufbau byzantinischer Heerlager s. Georgios Kolias, Περὶ ἀπλήκτου, in: EEBS 17, 1941, S. 144–184; Robert Grosse, Das römisch-byzantinische Marschlager vom 4.–10. Jahrhundert, in: BZ 22, 1913, S. 90–121; McGeer, Dragon’s teeth, S. 329–360; John Haldon, Warfare, State and society in the Byzantine world, London 1999, S. 139–189, bes. S. 152–154. Zur Rolle des Heerlagers als Bühne s. jüngst Dominik Heher, Mobiles Kaisertum. Das Zelt als Ort der Herrschaft und Repräsentation in Byzanz (Byzantinistische Studien und Texte 13), Berlin/Münster 2020, Kapitel 2 und 3.
Bardas Phokas
Bardas Skleros
Bardas Phokas
970
976
987
100 101 102 103 104
99
Leon Tornikios
Heerlager (?) bei Tarent (Apulien)
Heerlager bei Adrianopel (Thrakien)103
(abgesetzter) stratēgos autokratōr in Sizilien
ehem. patrikios und stratēgos von Melitene; dann zur Tonsur gezwungen
In Adrianopel befand sich die Machtbasis der Familie Tornikios104.
G. M. entschloss sich in Süditalien zur Usurpation, unterstützt von den ihm unterstellten Truppen.
Kappadokien war die Machtbasis der Familie Phokas; die Maleinoi waren enge Verbündete102.
Heerlager (?) beim Anwesen des Maleinos in Kaisareia (Kappadokien)
magistros, domestikos der Scholen des Ostens
Kappadokien war die Machtbasis der Familie Phokas Der Raum um Melitene bildete die Machtbasis der Skleroi101.
Heerlager bei Kaisareia (Kappadokien)
ehem. doux von Chaldia; im Exil in Amaseia
Kappadokien war die Machtbasis der Familie Phokas100
Grund für Ortswahl
magistros, ehem. stratēlatēs des Heerlager (?) bei Harput Ostens, doux der (in der Nähe von Melitene) tagmata von Mesopotamia
Heerlager bei Kaisareia (Kappadokien)99
Ort der Proklamation
stratēgos autokratōr im Osten
Titel bzw. Funktion
P 11
P 10
P7
P6
P5
P3
App.
Friedrich Hild / Marcell Restle, Kappadokien (Kappadokia, Charsianon, Sebasteia und Lykandos) (Tabula Imperii Byzantini 2), Wien 1981, S. 193– 196. Cheynet, Pouvoir, S. 213. Cheynet, Pouvoir, S. 215. Cheynet, Pouvoir, S. 213–214. Peter Soustal, Thrakien (Thrakē, Rodopē und Haimimontos) (Tabula Imperii Byzantini 6), Wien 1991, S. 161–167. Cheynet, Pouvoir, S. 220.
1047
Georgios Maniakes
Nikephoros (II.) Phokas
963
1042/43
Thronprätendent
Jahr
Tab. 1 Proklamationen außerhalb Konstantinopels
60 Performative Aspekte von Usurpationen
Nikephoros Basilakios
1078
Heerlager auf dem Feld von Gounaria105 in der Nähe von Kastamon (Paphlagonien) Heerlager bei Nikomedeia (Bithynien)
Heerlager bei Lampe (Phrygien)107 Akklamationen vor Nikaia Heerlager bei Traianupolis (Thrakien)109 Heerlager (?) bei Dyrrhachion (Epeiros)
kaisar, stratēgos, Onkel Kaiser Michaels VII.
kuropalatēs, doux des Anatolikon
proedros, (abgesetzter) doux von Dyrrhachion prōtoproedros, doux von Dyrrhachion
Ort der Proklamation
magistros, (abgesetzter) stratopedarchēs des Ostens
Titel bzw. Funktion
Ihm anvertraute Truppen
Die Machtbasis der Familie befand sichin Thrakien110
Die Machtbasis der Familie befand sich in Phrygien108; eigenes Anwesen in der Nähe von Lampe.
Nikomedeia unterstützte Roussel von Bailleul, der Ioannes zur Proklamation drängte oder zwang.
Machtbasis der Familie, eigenes Anwesen in der Nähe des Proklamationsortes.
Grund für Ortswahl
P 19
P 18
P 17
P 16
P 12
App.
105 Klaus Belke, Paphlagonien und Honōrias (Tabula Imperii Byzantini 9), Wien 1996, S. 204. 106 Die Revolte begann im Oktober 1077. Am 3. April 1078 zog er in Konstantinopel ein. Attaleiates S. 165 (Tsolakes) berichtet erst für den 2. Juli 1078 von einer Proklamation – also für einen Zeitpunkt, an dem der Umsturz bereits längst vollzogen war. Tsolakes schlägt daher eine Korrektur der Angabe auf den 2. April vor, also auf den Tag vor dem Einzug in Konstantinopel. Wenn dem so ist, müsste es sich um eine W i e d e r h o l u n g der gewiss schon im Herbst 1077 stattgefundenen Ausrufung gehandelt haben. Polemis, Notes, S. 71 will die Stelle auf Nikephoros’ Krönung in Konstantinopel beziehen, doch wird eindeutig eine Proklamation beschrieben. 107 Klaus Belke/Norbert Mersich, Phrygien und Pisidien (Tabula Imperii Byzantini 7), Wien 1990, S. 321–322. 108 Cheynet, Pouvoir, 217. 109 TIB 6, S. 482–484. 110 Cheynet, Pouvoir 219.
Nikephoros Bryennios
1077
1077/78106 Nikephoros (III.) Botaneiates
Ioannes Dukas
Isaakios (I.) Komnenos
1057
1073/74
Thronprätendent
Jahr
Die Proklamation
61
Alexios (I.) Komnenos
Pseudo Diogenes
Alexios Branas
Alexios (III.) Angelos
Alexios (IV.) Angelos
1081
1095
1187
1195
1203
Heerlager bei Kypsella (Thrakien)112
sebastokratōr, Bruder Kaisers Isaakios II.
Dyrrhachion? (Epeiros)
Heerlager bei Adrianopel (Thrakien)
sebastos, stratēgos an der Spitze der Armee gegen die Bulgaren
geflohener Sohn Kaiser Isaakios’ II.
Heerlager (?) in Thrakien (?)
Heerlager bei Schiza (bei Athyra, Thrakien)111
sebastos, megas domestikos Ein gewisser Charakenos gab sich als Sohn von Romanos IV. aus.
Heerlager (?) bei Damalis
ehem. stratēgos, evtl. im Exil auf Kos
Ort der Proklamation Heerlager bei Chrysopolis (Bithynien)
Titel bzw. Funktion stratēgos an der Spitze der östlichen Truppen, Bruder Kaiser Michaels VII.
Grund für Ortswahl
Station der ihn unterstützenden Kreuzfahrer auf dem Weg von Venedig nach Konstantinopel; wohl eher Akklamationen als Proklamation
Gemeinsamer Feldzug mit Kaiser Isaakios II. Günstige Gelegenheit für Putsch
Machtbasis der Familie
Dort eingefallene kumanische Truppen unterstützten Diogenes.
?
Das Machtzentrum der Melissenoi befand sich im Raum Dorylaion
ihm anvertraute Truppen (Heerlager)
111 Andreas Külzer, Ostthrakien (Eurōpē) (Tabula Imperii Byzantini 12), Wien 2008, S. 632–633 (Schiza), S. 270–273 (Athyra). 112 TIB 6, 330–331.
Nikephoros Melissenos
1080
Thronprätendent
Konstantios Dukas
Jahr
1079
P 30
P 27
P 26
P 23
P 22
P 21
P 20
App.
62 Performative Aspekte von Usurpationen
Die Proklamation
63
militärischer nicht sein könnte, war hier die akklamierende Instanz – im Gegensatz zum idealisierten Zeremoniell in Konstantinopel, bei dem Senat, Volk und Truppen ihren Konsens ausdrücken – meist auf Offiziere und Truppen limitiert. In einem Feldlager erfolgten mit Gewissheit die Proklamationen von Nikephoros (II.) Phokas (963, P 3), Bardas Phokas (970, P 5), Leon Tornikios (1047, P 11), Isaakios (I.) Komnenos (1057, P 12), Ioannes Dukas (1073/74, P 16), Nikephoros (III.) Botaneiates (1077, P 17), Nikephoros Bryennios (1077, P 18), Konstantios Dukas (1079, P 20), Alexios (I.) Komnenos (1081, P 22), Alexios Branas (1187, P 26) und Alexios (III.) Angelos (1195, P 27). Dass das Heerlager durchaus keine Notlösung darstellte, sondern als angemessener Raum empfunden wurde, zeigt die Proklamation des Isaakios (I.) Komnenos am 8. August 1057, die auch auf seinem Anwesen in Kastamon (Paphlagonien) unter Ausnutzung der dortigen baulichen Strukturen stattfinden hätte können. Stattdessen holten ihn seine Mitverschwörer von dort ab und versammelten die rekrutierten Truppen „an einem Ort, der flach und ausreichend weitläufig ist und Gunaria genannt wird“113. Unmittelbar nach der Proklamation wurde das Zeltlager stark befestigt114. Für das Gelingen des Putschversuches auf militärischem Wege war eine ausreichende Anzahl an Soldaten die Grundvoraussetzung. In einzelnen Fällen konnten charismatische Generäle wie Nikephoros (II.) Phokas und Georgios Maniakes die ihrem Kommando unterstellten kaiserlichen Truppen für die Unterstützung ihrer Usurpationen gewinnen115. In ähnlicher Weise versuchte auch Konstantios Dukas, der Sohn Kaiser Konstantinos’ X., die ihm für einen Feldzug gegen die Seldschuken anvertrauten Truppen umgehend für den Sturz von Kaiser Nikephoros III. zu begeistern (1079). Zwar konnte er seine Proklamation im Heerlager von Chrysopolis durchsetzen, doch war es dem Kaiser ein Leichtes, die ohnehin skeptischen Kommandanten und Truppen durch das Versprechen von Würden und Geschenken zum Desertieren zu überreden116. Die Instrumentalisierung kaiserlicher Truppen durch aufständische Generäle stellte jedoch die Ausnahme von der Regel dar. Im Normalfall spielte zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert vor allem die lokale Verwurzelung des Usurpators eine entscheidende Rolle bei der Wahl des Ortes, an dem die Proklamation stattfinden sollte. In ihren Heimatgebieten konnten die Thronprätendenten auf ihre oikeioi und auf verbündete Familien zählen. Bezeichnend ist das Vorgehen von Alexios Branas (1187, P 26), der zunächst versucht hatte, durch einen Auftritt in der Hagia Sophia innerhalb Konstantinopels genügend Unterstützer für einen spontanen Putsch zu finden, so wie
113
Skylitzes S. 489, Z. 74–75 (Thurn): κατά τινα τόπον ὁμαλὸν καὶ πλάτος ἱκανὸν ἔχοντα· Γουνάρια ὁ τόπος κατονομάζεται. Vgl. Inoue, Rebellion, S. 269; Cheynet, Pouvoir, S. 331–332. 114 Skylitzes S. 489, 79–80 (Thurn). 115 Leon Diak. 3.4–6 (S. 40–45 Hase); Skylitzes S. 427–428 (Thurn). 116 Skylitzes Cont. S. 185 (Tsolakes). Vgl. Demetrios I. Polemis, Notes on eleventh-century chronology (1059–1081), in: BZ 58, 1965, S. 60–76, hier S. 72–73.
64
Performative Aspekte von Usurpationen
es zwei Jahre zuvor Isaakios II. Angelos gelungen war. Als dieser Plan scheiterte, zog er sich nach Adrianopel zurück und ließ sich dort von seinen Verwandten und Freunden proklamieren117. Da die Familien der dynatoi, aus denen sich die byzantinischen Offiziere zumeist rekrutierten, bis zur Ankunft der Seldschuken 1071 zum Großteil in Kleinasien ansässig waren, verwundert es nicht weiter, dass die meisten Ausrufungen in den östlichen Provinzen des Reiches stattfanden. Erst ab dem Ende des 11. Jahrhunderts verschob sich dieses Verhältnis zunehmend in die westlichen Provinzen118. Wie eine Proklamation im militärischen Ambiente ablaufen konnte, vermittelt die Schilderung der Ausrufung von Nikephoros (II.) Phokas am 2. Juli des Jahres 963 (P 3) aus der Feder von Leon Diakonos: Nikephoros … brach mit Ioannes [Tzimiskes] und dem ganzen Herre im Eilmarsch nach Kaisareia auf. Dort ließ er für die Truppen ein Lager errichten. Innerhalb von wenigen Tagen war bei ihm die gesamte Kriegsmacht Kleinasiens versammelt, und als an einem Morgen – es war zu Anfang Juli – die Sonne mit ihren Strahlen die Erde in helles Licht tauchte, entblößten die Befehlshaber der einzelnen Abteilungen ihre Schwerter und umstellten das Feldherrnzelt … und riefen Nikephoros zum autokratōr und mächtigen Kaiser der Römer aus und wünschten ihm eine lange Regierungszeit. Jener aber weigerte sich zunächst, dieses Amt zu übernehmen … und erklärte sich bereit, zugunsten des Ioannes Tzimiskes auf die hohe Würde zu verzichten. Seinem Vorschlag pflichtete jedoch weder irgendeiner aus dem Heere noch Ioannes selbst bei, sondern einmütig riefen sie ihm ihre Segenswünsche zu und begrüßten ihn als den erhabenen Kaiser der Römer. So übernahm denn jener die Herrschaft und zog die roten Schuhe, das wichtigste Kennzeichen der Kaiserwürde an … Nun trat Nikephoros, der auf diese Weise zum Kaiser ausgerufen worden war, das Schwert an der Seite und sich auf einen Speer stützend, vor das Zelt119.
Eine Synthese der Darstellungen des Ereignisses im Geschichtswerk des Leon Diakonos und im Zeremonienbuch Konstantinos’ VII.120 ergibt folgendes Bild, das in seinen groben Zügen den Erhebungen von Soldatenkaisern in der Spätantike121 bzw. den militärisch geprägten frühbyzantinischen Proklamations- und Krönungsprotokollen122 entspricht (Tabelle 2). 117 Choniates, Hist. S. 377–378 (van Dieten); vgl. Vlachos, Aufstände, S. 159–160. 118 Cheynet, Pouvoir, S. 207–245. 119 Leon Diak. 3.4 (S. 40, 8–41, 23 Hase). Übersetzung nach Loretto, Der bleiche Tod, S. 43–47. Für den griechischen Text s. Appendix P 3. 120 De Cerim. 1.96 (Bd. 1, S. 434 Reiske). Für den kompletten Text s. Appendix P 3. 121 Vgl. Szidat, Usurpator, S. 244–250. 122 So etwa die Verwendung des Speeres bei den Proklamationen von Leon I. (457–474) und Justin I. (518–527): De cerim. 1.91, 92 (Bd. 1, S. 411, 429 Reiske). Vgl. Treitinger, Kaiseridee, S. 3, 9; Hendy, DOC 4/1, S. 160.
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Die Proklamation
Tab. 2 Die Proklamation von Nikephoros (II.) Phokas. Die Zahlen in Klammern geben die originale Abfolge der Textsegmente wider Handlung
Ort: Zelt/Feldlager Nik.
Leon Diakonos
Zeremonienbuch
Offiz. Heer
Offiziere und Truppen versammeln sich
Z
F
F
(1) οἱ τὰς τοῦ στρατοῦ παρειληφότες ἡγεμονίας … τὰ ξίφη γυμνώσαντες ἡγεμονίας καὶ τὴν στρατήγιον σκηνὴν κυκλωσάμενοι
Akklamationen
Z
F
F
(2) αὐτοκράτορα (2) ἀνηγόρευσαν αὐτὸν Ῥωμαίων καὶ κραταιὸν βασιλέα βασιλέα τὸν Νικηφόρον ἐφήμιζον, πολυχρόνιον κράτος αὐτῷ ἐπευχόμενοι.
Weigerung des Nikephoros
Z
Z
F
(3) ὁ δὲ τὰ πρῶτα μὲν ἀπείπατο τὴν τοιαύτην ἀρχὴν
(3) τοῦ δὲ μὴ βουλομένου
Proklamation im Zelt
Z
Z
F
(4) ἀλλ’ ὁμοθυμαδὸν αὐτὸν ἐπευφήμουν, σεβάσμιόν τε καὶ βασιλέα Ῥωμαίων προσαγορεύοντες.
–
Anlegen der roten Schuhe
Z
Z
F
(5) τὸ ἐρυθρὸν πέδιλον, ὃ τῆς βασιλείας παράσημον μέγιστον πέφυκεν, ὑποδύεται
(5) οὐ μὴν δὲ ἐφόρεσεν στέμμα ἢ ἄλλην τινὰ βασίλειον ἐσθῆτα, εἰ μὴ μόνον τὰ ὑποδήματα ἐναλλάξας ῥούσεα, ἤτοι κόκκινα
F
(6) Tοῦτον δὴ τὸν τρόπον τῆς βασιλείας ἀρχὴν ὁ Νικηφόρος ἀναδεξάμενος, τῆς σκηνῆς προῆλθεν,
(4) αὐτοὶ μᾶλλον σπεύσαντες βίᾳ καὶ μὴ βουλόμενον ἐκ τῆς τέντης ὑψώσαντες ἀνηγόρευσαν αὐτὸν βασιλέα
F
(7) ἀκινάκην διεζωσμένος καὶ δόρατι σκηριπτόμενος· ἐξ ἀπόπτου τε καί τινος περιωπῆς κατὰ τὸ ὕπαιθρον στὰς, ἔλεξε τοιάδε· …
–
Verlassen des Zeltes (und Schilderhebung?123) Rede an die Truppen in Waffen (Speer, Schwert)
Z➝F Z➝F
F
F
(1) ἐν τῷ κάμπῳ … συναχθέντες πάντες οἱ στρατηγοὶ καὶ τὰ τάγματα,
123 Eine Schilderhebung wurde in der Forschung wiederholt postuliert, scheint mir jedoch nicht plausibel. Zur Diskussion s. unten S. 131.
66
Performative Aspekte von Usurpationen
Ein ähnliches Bild zeichnet Nikephoros Bryennios von der Proklamation seines gleichnamigen Großvaters: Am Morgen versammelte sich das gesamte Heer mit den Generälen und Kommandanten rund um das Zelt und zwang ihn [scil. Bryennios], das Purpurgewand und die rotgefärbten Schuhe anzulegen. Der aber legte die Insignien erst nach langer Zeit und nur ihrem Druck nachgebend an und wurde dann sofort zum Kaiser der Römer ausgerufen124.
Die Parallelen zur Ausrufung des Nikephoros Phokas über ein Jahrhundert zuvor sind – mit Ausnahme der Annahme auch des Purpurgewandes durch Bryennios – unübersehbar. Darf daraus jedoch der Schluss gezogen werden, dass die Zeremonie der militärischen Proklamation im Idealfall genau diesem Schema entsprach, oder wollte der Geschichtsschreiber Bryennios, selbst General, seinen Vorfahren dem berühmten Militär Nikephoros II. angleichen? Eine wörtliche Übernahme aus dem Geschichtswerk des Leon Diakonos oder dem Zeremonienbuch liegt jedenfalls nicht vor125. Die Parallelquelle Michael Attaleiates, der als Parteigänger des herausgeforderten Kaisers Nikephoros III. Botaneiates den Usurpationsversuch des Bryennios nicht gutheißen kann, legt den Schwerpunkt auf die verwendeten Insignien, die Ioannes Bryennios für die Proklamation seines Bruders organisiert hatte, sowie auf die akustische Dimension; auch das militärische Ambiente wird vermittelt. Von der Weigerung des Prätendenten ist hingegen keine Rede: So legte er inmitten von Akklamationen und einer großen Leibwache das Purpurgewand an, zog an seinen Füßen rote Schuhe an und bestieg den Wagen, der die gleiche Farbe hatte, mit großer Arroganz und Überheblichkeit. Unter dem donnernden Ruf des Heeres machte er sich auf den Weg nach Adrianopel126.
Die Versionen von Bryennios und Attaleiates schließen einander zumindest nicht aus und sind sich zumindest bezüglich der verwendeten Insignien und der räumlichen Konzeption einig, sodass man mit einiger Sicherheit vermuten kann, dass die Proklamation in der Tat jener des Nikephoros Phokas geähnelt haben wird.
124 Bryennios 3.10 (S. 231, Z. 11–16 Gautier): ἕωθεν δὲ τὸ στρατιωτικὸν ἅπαν ἅμα στρατηγοῖς τε καὶ λοχαγοῖς συναθροισθὲν περὶ τὴν τούτου σκηνὴν ἐβιάζοντο τοῦτον τήν τε ἁλουργίδα περιθέσθαι καὶ τὰ κοκκοβαφῆ ὑποδύσασθαι πέδιλα· ὁ δ’ ὀψὲ καὶ μόλις εἴξας τῇ τούτων βίᾳ ταῦτα περιεβάλλετο καὶ βασιλεὺς Ῥωμαίων ἤδη ἀνηγόρευτο. Vgl. Chalandon, Les Comnène, I S. 46. 125 Auffällig ist einzig die Verwendung des Terminus λοχαγός (vgl. De cerim.), die sich im Werk des Bryennios nur an Stellen finden, welche die Proklamation des Nikephoros Bryennios zum Thema haben (3.8, 3.10). 126 Attaleiates S. 190, Z. 3–7 (Tsolakes): οὕτω τὴν ἁλουργίδα μετ’εὐφημίας καὶ δορυφορίας ἀπειλήφει πολλῆς, καὶ τοὺς πόδας τοῖς ἐρυθροῖς μεταμείψας πεδίλοις καὶ εἰς ταὐτοβαφὲς ἐπαναβὰς ὄχημα μετὰ πολλῆς ἀγερωχίας καὶ φρονηματισμοῦ καὶ τῆς τοῦ στρατοῦ βοῆς καὶ ἠχῆς εἰς Ἀδριανούπολιν ᾤχετο.
Die Proklamation
67
Verwandte Elemente weist auch die Proklamation von Alexios (I.) Komnenos auf. Gemeinsam mit seinem Bruder Isaakios hatte er bei Schiza (heute Altınşehir) in Thrakien die ihm zur Verfügung stehenden Truppen zusammengezogen: Die gesamte Armee versammelte sich rund um das Zelt, und alle waren gespannt. … Dann stand Isaakios auf, nahm den purpurfarbenen Schuh und versuchte ihn seinem Bruder anzulegen. Als der sich aber wiederholt weigerte, sagte Isaakios: „Hör auf damit! In deiner Person will Gott, dass unsere Familie zum Kaiseramt berufen wird.“ … Und sofort begannen die Dukas mit der Akklamation … Das restliche Heer aber stimmte in die Akklamation ein. Die Stimmen erschallten fast bis in den Himmel hinauf127.
Erneut begegnen die vier Grundbausteine: (1) Versammlung des Heeres (und insbesondere der engsten Vertrauten) rund um das Zelt des Prätendenten; (2) Weigerung des Prätendenten; (3) Anlegen von roten Schuhen; (4) Akklamation durch versammelte Anhänger. Die letzten drei Punkte betreffen Proklamationen im Allgemeinen und werden an gesonderter Stelle behandelt128. Zu besprechen bleibt an dieser Stelle also noch der Realitätsgehalt der Raumkonzeptionen in den historiographischen Texten. Das Antreten der Truppen in einem Kreis (oder Halbkreis) rund um das Zelt des zu proklamierenden Prätendenten evoziert die von Gott geschaffene und vom Kaiser gepflegte Weltordnung (taxis), die sich sonst insbesondere im kaiserlichen Zeremoniell artikulierte. Dieses idealisierte Bild ist höchstwahrscheinlich nicht nur als narratives Element zu betrachten, sondern wurde wohl tatsächlich schon im Ritual realisiert. Im Moment seiner Transformation zum Kaiser bot sich dem Usurpator hier eine willkommene Möglichkeit, seine ordnende Kraft unter Beweis zu stellen. Zudem muss es gerade im Heerlager ein Leichtes gewesen sein, große Menschenmengen in Formationen zu organisieren129. Im Zentrum des Kreises befand sich das Zelt des Usurpators/neuen Kaisers. Diesem messen die byzantinischen Quellen stets eine immense symbolische Bedeutung bei130. Während eines Feldzuges diente es als Ort für Versammlungen und für den
127 Anna Komnene, Alexias 2.7.4 (S. 74, Z. 77 – S. 75, Z. 18 Reinsch/Kambylis): συνείλεκτο τὸ ὁπλιτικὸν ἅπαν περὶ τὴν σκηνὴν μετέωροι ὄντες … Ἀναστὰς δὲ ὁ Ἰσαάκιος καὶ λαβὼν τὸ φοινικοβαφὲς πέδιλον ὑποδιδύσκειν τὸν ἀδελφὸν ἐπειρᾶτο. ὡς δὲ ἐκεῖνος πολλάκις ἀνένευεν, „ἔα“, φησί, „διὰ σοῦ ὁ Θεὸς τὸ γένος ἡμῶν ἀνακαλέσασθαι βούλεται.“ … Καὶ τὸ ἐντεῦθεν ἐξῆρχον οἱ Δοῦκαι τῆς εὐφημίας … Τὸ δέ γε λοιπὸν τοῦ στρατοῦ διαδεξάμενον τὴν εὐφημίαν σχεδὸν ἐς αὐτὸν οὐρανὸν ἀνέπεμπον τὰς φωνάς. 128 Vgl. Kapitel 2.2.4.3., 2.2.3, 2.2.5. 129 Vgl. auch die Proklamation von Leon V. (813–820) im Feldlager: Skylitzes S. 7 (Thurn). 130 Das Zelt in Byzanz als Raum sozialer Interaktion und ritualisierter Handlungen hat erst in jüngster Vergangenheit das Interesse der Forschung geweckt, vgl. Élisabeth Malamut, La tente impériale à Byzance: une cour ambulante (IVe–XIIe siècle), in: Dynamiques sociales au Moyen Âge en Occident et en Orient, Aix-en-Provence 2010, S. 65–88; Margaret Mullett, Experiencing the Byzantine text, Experiencing the Byzantine tent, in: Claire Nesbitt / Mark Jackson (Hgg.), Experiencing Byzantium. Papers from the 44th Spring Symposium of Byzantine Studies, Newcastle and Durham, April 2011 (Publications of the Society for the Promotion of Byzantine Studies 18),
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Performative Aspekte von Usurpationen
Empfang von Gesandtschaften und trat damit funktional an die Stelle des Palastes131. Das kaiserliche Zelt war durch seine rote Farbe erkennbar132 und sollte stets an der höchsten Stelle des Lagers errichtet werden, umringt von jenen der höchsten Würdenträger und persönlichen Bediensteten. Verstöße gegen diese Ordnung wurden bisweilen als Indiz bevorstehenden Hochverrats gedeutet133. Der Verlust des Zeltes an den Feind galt als besondere Demütigung134, und das Recht auf Benützung eines kaiserlichen Zeltes bedeutete ein großes Privileg135. Das Einstürzen des Zeltes des Usurpators konnte als Omen für das bevorstehende Scheitern der Rebellion betrachtet werden136. Außerhalb Konstantinopels bot das Zelt des Herrschers den wichtigsten räumlichen Rahmen zum Ausdruck kaiserlicher Macht. Insofern ist es naheliegend, dass Proklamationen im unmittelbaren Umfeld des Feldherrenzeltes stattfanden, das im Rahmen dieses Aktes zum Zelt des Kaisers wurde. Bezeichnend für die symbolische Bedeutung des Zeltes ist auch der Marsch des Nikephoros (III.) Botaneiates auf Konstantinopel in der Beschreibung von Michael Attaleiates: Am 3. Oktober wollte Botaneiates das kaiserliche [!] Zelt errichten lassen. Er trieb den Aufbau voran, weil er aufbrechen und gegen Konstantinopel ziehen wollte. Er war zuversichtlich, dass er die Hauptstadt rasch und in kaiserlicher Manier erreichen würde137.
131
132 133
134 135 136 137
Farnham 2013, S. 269–291; Eadem, Tented ceremony: Ephemeral performances under the Komnenoi, in: Alexander Beihammer / Stavroula Constantinou / Maria Parani (Hgg.), Court ceremonies and rituals of power in Byzantium and the medieval Mediterranean. Comparative perspectives (The Medieval Mediterranean 98), Leiden/Boston 2013, S. 487–451; Heher, Mobiles Kaisertum. Der Usurpator Nikephoros Bryennios verweigert einer Gesandtschaft die übliche Audienz im Zelt: Attaleiates S. 220 (Tsolakes); Basileios II. empfängt den geschlagenen Bardas Skleros: Skylitzes S. 338–339 (Thurn); Psellos, Chron. 1.27 (S. 16–17 Reinsch); Isaakios (I.) Komnenos empfängt die Gesandtschaft unter der Leitung von Michael Psellos: Psellos, Chron. 7.21–38 (S. 215–226 Reinsch); Alexios I. Komnenos hält in seinem Zelt thronend Gericht über den gefangenen Majestätsverbrecher Nikephoros Diogenes: Anna Komnene, Alexias 9.9.1–6 (S. 276–279 Reinsch/Kambylis); vgl. Bourdara, Έγκλημα καθοσιώσεως, S. 214. Zur Möblierung vgl. De exped. S. 104 (Haldon); ebenda S. 118 werden für den Transport des Zeltes 50 Packtiere (σαγμάρια) und 43 Packpferde (παρίππια) veranschlagt, nicht gerechnet die Garderobe (βεστιάριον) und Haushalt (ὑπουργία). Weitere Beispiele und Details zur Ausstattung in Heher, Mobiles Kaisertum, Kapitel 2.8 und 3.1. Heher, Mobiles Kaisertum, S. 47–50. Three military treatises S. 250–252, S. 306 (Dennis). Das kaiserliche Zelt wird auch als erstes aufbzw. abgebaut: ebenda S. 276, 284; De exped. 130 (Haldon) mit Erwähnung des zuständigen Personals; für das 14. Jh. vgl. Ps.-Kodinos 3 (S. 181 Verpeaux, S. 100 Munitiz). Vgl. Heher, Mobiles Kaisertum, S. 43. Bryennios 1.17 (S. 117–119 Gautier); Skylitzes S. 331 (Thurn); Psellos, Chron. 3.10 (S. 37 Reinsch). Psellos, Chron. 7.33 (S. 222 Reinsch). Reinsch, Chronographia, S. 619 übersetzt σκηνὴ βασίλειος/ skēnē basileios zwar mit „kaiserliche Residenz“, doch gibt es keinen Grund, von der Grundbedeutung „Zelt“ abzugehen. Vgl. Heher, Mobiles Kaisertum, S. 105–110. Attaleiates S. 221 (Tsolakes). Vgl. Heher, Mobiles Kaisertum, S. 44. Attaleiates S. 185, Z. 27–31 (Tsolakes): Τρίτην δὲ ἄγοντος τοῦ Ὀκτωβρίου μηνὸς καὶ μέλλοντος τοῦ Βοτανειάτου τὴν βασιλικὴν ἐπιστῆσαι σκηνὴν καὶ ταύτης σκηνοπηγίαν προτρεψαμένου γενέσθαι
Die Proklamation
69
Das kaiserliche Zelt selbst konnte einzig Alexios (III.) Angelos in seinen Besitz bringen, dessen Usurpation man am treffendsten als Palastrevolution außerhalb Konstantinopels bezeichnen könnte: Als Kaiser Isaakios II. die byzantinischen Truppen im Frühjahr 1195 gegen die Vlachen führte, ließ er bei Kypsella (heute İpsala, Türkei) das Lager aufschlagen. Während er am 8. April 1195 zu einem Jagdausflug ausritt, versammelten sich die höchsten Generäle beim Zelt des Kaisers und riefen Isaakios’ Bruder Alexios (III.) zum neuen Kaiser aus. Der gestürzte Kaiser wurde inhaftiert und geblendet138. Aus der schriftlichen Überlieferung geht zwar nicht hervor, in welcher Weise Alexios den usurpierten Raum nutzte, doch kann man sich vorstellen, dass er die kaiserlichen Insignien seines Bruders, die er sofort hatte suchen lassen, wohl innerhalb des Zeltes angelegt hat und erst nach der vollständigen Transformation zum Kaiser vor die Truppen trat. Jene, die nicht in den Plan eingeweiht gewesen waren, scheinen den Herrscherwechsel offenbar hingenommen zu haben139. Die Verwandlung des Feldherrenzeltes zum Zelt des Kaisers war streng genommen auch die Grundvoraussetzung für eine feierliche Rückkehr in die Hauptstadt, zumal der Adventus im Untersuchungszeitraum dem erfolgreich von einem Feldzug heimkehrenden Kaiser vorbehalten war. Erst durch diese ritualisierte Aufnahme des Kaisers in der Stadt durch Vertreter von Senat und Volk und die dabei stattfindende Verwandlung vom Krieger zum Friedensbringer konnten die Ansprüche des Thronprätendenten, dessen Unterstützung bis dahin einzig auf dem Heer basierte, Gültigkeit erlangen140. Sonstige Orte außerhalb Konstantinopels Aus den Quellen ist nicht immer eindeutig zu eruieren, ob eine Proklamation außerhalb Konstantinopels in einem Heerlager oder an einem anderen Ort durchgeführt wurde. In den Fällen von Bardas Skleros (976, P 6), dem zweiten Putschversuch von Bardas Phokas (987, P 7), Georgios Maniakes (1042/43, P 10), Nikephoros Basilakios (1078, P 19), Nikephoros Melissenos (1080, P 21) und einem Hochstapler, der sich als Sohn von Romanos IV. ausgab (1095, P 23), ist der Ort der Ausrufung zwar weder aus der Formulierung in den Quellen, noch aus dem unmittelbaren Kontext genau
διὰ τὴν ἔξοδον καὶ τὴν εἰς τὴν βασιλεύουσαν πρόοδον, ἐν πεποιθήσει γὰρ ἦν ὡς δρομαίως τῆς βασιλευούσης βασιλικῶς ἐπιβήσεται. Auch der Einsturz des Zeltes von Romanos IV. vor seinem fatalen Seldschukenfeldzug 1071 wurde als schlechtes Omen gedeutet: Attaleiates S. 112 (Tsolakes). 138 Choniates, Hist., S. 450–452 (van Dieten). 139 Tounta, Usurpation, S. 464, sieht bereits das Betreten des kaiserlichen Zeltes als „rite de passage which denoted Alexios Angelos’ transition to royal status“. Das Eintreten ins Zelt kann jedoch nur den Beginn der liminalen Phase des Übergangsritus markieren. Ohne das Anlegen der Insignien und die Akklamationen beim Verlassen des Zeltes kann die Statusveränderung keinesfalls als abgeschlossen betrachtet werden. Zu Unrecht behauptet Tounta außerdem, dass weder von Insignien noch von Akklamationen die Rede sei (vgl. aber P 27). 140 Tounta, Usurpation, S. 459–460. Vgl. Kapitel 4.1.1.
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Performative Aspekte von Usurpationen
erschließbar, doch hatten auch diese zum Zeitpunkt ihrer Ausrufung bereits eine beträchtliche Zahl an Truppen gesammelt, was also auch hier eine Proklamation vor den angetretenen Soldaten wahrscheinlich macht. Der in Zadar zur Flotte der Kreuzfahrer gestoßene Alexios (IV.) Angelos (1203, P 30) soll auf byzantinischem Boden zuerst von der Bevölkerung Dyrrhachions zum Kaiser ausgerufen worden sein, doch wird sich der von Choniates gebrauchte Begriff der ἀναγόρευσις in diesem Fall wohl nur auf eine Anerkennung durch Akklamation und nicht um eine zeremonielle Ausrufung beziehen141. Zumindest vermittelt die Schilderung von Villehardouin den Eindruck, als sei Alexios vor Dyrrhachion bereits als Kaiser aufgetreten142. 2.2.2.2 Proklamationen innerhalb Konstantinopels Die Ausübung der Kaisermacht war in Byzanz untrennbar mit der Kontrolle Konstantinopels verbunden. Die Beherrschung der Stadt war nicht nur nötig, um direkten Zugriff auf die Reichsverwaltung und die Gardetruppen zu haben, sondern auch um das erforderliche Zeremoniell – allem voran die liturgische Krönung – zu erfüllen143. Usurpatoren, die sich innerhalb Konstantinopels zum Kaiser ausrufen ließen, hatten den Vorteil, keine großen Armeen ausheben zu müssen. Innerhalb der Stadt entschied nicht das Militär über das Gelingen oder Scheitern einer Usurpation, sondern hochrangige Personen am Kaiserhof, der Senat, bisweilen Teile der Garde und ab dem 11. Jahrhundert in zunehmendem Maße der Klerus und die Bevölkerung Konstantinopels – eine Entwicklung, die nach 1180 ihren Höhepunkt erreichte144. Aufgrund dieses komplexen Zusammenspiels der Kräfte und der Vielfalt an symbolträchtigen Räumen in Konstantinopel verliefen die dort stattfindenden Proklamationen von Usurpatoren variantenreicher als jene in den Heerlagern in den Provinzen. Erneut bietet sich eine Kategorisierung nach räumlichen Aspekten an, die auch eng mit der Frage nach Öffentlichkeit und Akteuren verbunden ist. Palast Der Weg vom Inneren des Palastes auf den Thron (Tabelle 3) mag räumlich gesehen der kürzeste gewesen sein, doch war er zugleich jener mit den meisten Windungen und Fallstricken. Entscheidend war hier der Konsens jenes kleinen Zirkels, der unmit-
141 Choniates, Hist., S. 541 (van Dieten). 142 Villehardouin 111 (I S. 112–114 Faral): Et ensi partirent del port de Jadres, et orent bon vent, et alerent tant que il pristrent port a Duraz. Enqui rendirent cil de la ville la ville a lor seignor [scil. Alexios (IV.)], quant il le virent, mult volentiers et li firent fealté. 143 Vgl. Cameron, Court ritual, S. 130–131. Zur Krönung s. Kapitel 4.1.2. 144 Vgl. Kyritses, Constitutional crisis; Kaldellis, Byzantine republic.
Ioannes (I.) Tzimiskes
Michael (IV.) Paphlagon
Konstantinos (X.) Dukas
Romanos (IV.) Diogenes
Michael (VII.) Dukas
Andronikos (I.) Komnenos
Alexios (V.) Dukas Murtzuphlos
969
1034
1059
1068
1071
1182
1204
Kaiserin Senatoren, Kaiserin (Mutter), kaisar
magistros, stratēgos basileus
Verwandte, Waräger
Senatoren, Waräger
proedros
prōtobestiarios
Kaiserin
archōn des Pantheon
Senatoren
Kaiserin, Offiziere
domestikos der Scholen
Statthalter an der pontischen Küste im Raum Sinope/ Oinaion
Hofinterne Kritiker der Regentschaft
Belegte Unterstützer
kaisar, basileopatōr
Rang zum Zeitpunkt der Proklamation
?
Polytimos des Blachernenpalastes
Chrysotriklinos
Kapitol
145
Chrysotriklinos (?)
Chrysotriklinos
Chrysotriklinos
?
Ort
P 32
P 24
P 15
P 14
P 13
P8
P4
P2
App.
145 Angeblich von Konstantin d. Gr. auf einem Hügel zwischen dem Forum Tauri und dem Philadelpheion errichtet: Janin, Constantinople, S. 174–176. Die Bedeutung und Gestalt der Lokalität in mittelbyzantinischer Zeit ist unklar. 146 Zu diesen in den Quellen meist unsichtbaren Gremien an Entscheidungsträgern vgl. im weiteren Sinne Kyritses, Imperial council und Idem, Constitutional crisis.
telbaren Zugriff auf den Thron hatte und Verwandte des amtierenden Kaisers, höchste Würdenträger und Beamte sowie die Garde umfassen konnte146.
Romanos (I.) Lakapenos
Thronprätendent
921
Jahr
Tab. 3 Proklamationen im Palast
Die Proklamation
71
72
Performative Aspekte von Usurpationen
Zudem haben alle erfolgreichen Palastrevolutionen im Untersuchungszeitraum gemein, dass der ausgebootete Kaiser aus verschiedensten Gründen keine Möglichkeit hatte, sich aus eigener Kraft gegen den Herausforderer zu wehren: Ioannes Tzimiskes (969, P 4) und Michael IV. (1034, P 8) hatten die Gunst der jeweiligen Kaiserin erworben, bevor sie ihre Vorgänger im Amt beseitigen ließen, wobei die Proklamation jeweils noch in der Nacht des Mordes erfolgte147. Während in diesen beiden Fällen der Thron zum Zeitpunkt der Ausrufung also bereits vakant war, verdrängten Romanos I. Lakapenos (921, P 2) und Romanos IV. Diogenes (1068, P 14) die jugendlichen basileis Konstantinos VII. bzw. Michael VII. mit dem Einverständnis der jeweiligen Regentschaft in die zweite Reihe. Konstantinos X. Dukas (1059, P 13) war von Isaakios I. Komnenos schon zu Lebzeiten zum Nachfolger designiert worden, doch hatte er noch keine Insignien empfangen. Als Isaakios’ Gesundheit sich weiter verschlechterte, wollte die Unterstützergruppe des Konstantinos, darunter auch Michael Psellos, den Tod des Kaisers nicht mehr abwarten und nutzte dessen Hilflosigkeit am Krankenbett aus148. Auf die Hilfe von Psellos, aber auch auf jene seines Onkels, des kaisars Ioannes Dukas, konnte auch der bereits als Minderjähriger zum basileus proklamierte Michael VII. Dukas zählen (1071, P 15), als er in Abwesenheit des zunächst tot geglaubten und schließlich für abgesetzt erklärten Romanos IV. Diogenes als Hauptkaiser installiert wurde. An der Beseitigung seiner Mutter Eudokia, Romanos’ Ehefrau, beteiligten sich auch Palastgardisten, darunter vermutlich Waräger149. Andronikos I. (1182, P 24) ließ sich von seinen Unterstützern, darunter vor allem Männern senatorischen Standes, zum autokratōr ausrufen, wobei dem minderjährigen Alexios II. nichts anderes übrig blieb, als der Proklamation seinen Segen zu geben150. Der protobestiarios Alexios V. Dukas Murtzuphlos (P 32) schließlich nützte die Notlage kurz vor der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204, um den bedrängten Alexios IV. Angelos unter einem Vorwand zu beseitigen. Zuvor hatte er die Warägergarde und einen Eunuchen, welcher der kaiserlichen Schatzkammer vorstand, auf seine Seite gebracht151. Aus performativer Sicht bot die Proklamation im Palastgelände die besten Möglichkeiten, einen geordneten und legitimen Machtübergang zu inszenieren. Ausführlich beschreibt beispielsweise Michael Psellos die Proklamation Michaels IV. im Jahre 1034. Noch am Tag des Mordes an Michaels Vorgänger Romanos III. Argyros wurde die Zeremonie eilig durchgeführt: 147 Zur Usurpation von Romanos I. vgl. Runciman, Romanus, S. 55–60; Kresten/Müller, Samtherrschaft; Ioannes Tzimiskes: Leon Diak. 5.6–8 (S. 84–87 Hase); Michael IV.: Psellos, Chron. 3.23–26 (S. 47–50 Reinsch). 148 Psellos, Chron. 7.100–103 (= 7a.8–11; S. 254–256 Reinsch). 149 Attaleiates 130 (Tsolakes); Polemis, Notes, S. 63–65; Zur Frage der Beteiligung von Warägern s. Scheel, Skandinavien und Byzanz, S. 120–121, S. 159, S. 817–818. 150 Choniates, Hist., S. 270–271 (van Dieten). Zur Rolle des Senats unter Andronikos I. vgl. Beck, Senat, S. 49–50, S. 59; Kyritses, Constitutional crisis, S. 102–105. 151 Choniates, Hist., S. 564 (van Dieten).
Die Proklamation
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Sofort ließ sie [scil. Kaiserin Zoe] Michael herbeirufen und kleidete ihn in golddurchwirkte Gewänder. Dann setzte sie ihm die Kaiserkrone auf den Kopf, setzte ihn auf den kostbaren Thron [im Chrysotriklinos, Anm.152] und nahm selbst in gleicher Aufmachung neben ihm Platz. Sie befahl allen Palastbewohnern, ihnen beiden durch Proskynese und Akklamation Reverenz zu erweisen (proskynein te kai euphēmein). Dem kamen diese nach. Die Angelegenheit verbreitete sich auch außerhalb des Palastes und ganz Konstantinopel wollte die Αkklamationsformel aufnehmen. … Als nun jene Ausrufung zum Kaiser am Abend inszeniert wurde, erging eine doppelte Weisung an den Stadteparchen, nämlich gleich im Morgengrauen in den Palast zu kommen und gemeinsam mit den Senatoren dem neuen Kaiser die Proskynese zu erweisen und dem Verstorbenen [scil. Kaiser Romanos III.] die üblichen Ehren zu erweisen. Diese entsprachen der Anweisung. Und einer nach dem anderen betrat den Raum und warfen sich vor den thronenden Majestäten auf den Boden. Der Kaiserin (basilissa) brachten sie nur diese Ehre entgegen; dem Kaiser (autokratōr) aber küssten sie auch die rechte Hand. Danach wurde Michael zum Hauptkaiser (basileus autokratōr) proklamiert153.
Man darf davon ausgehen, dass auch andere palastinterne Proklamationen nach diesem Muster abliefen154. In den wenigsten Fällen sind Details der Zeremonie überliefert, doch lassen sich betreffend die Wahl der Räumlichkeiten Parallelen konstatieren. Die Ausrufungen von Ioannes I. Tzimiskes, Michael IV., Konstantinos X. Dukas und Michael VII. Dukas erfolgten allesamt im Chrysotriklinos155. Diesen Prunkraum hat
152 Skylitzes S. 391, Z. 3–4 (Thurn): τοῦ χρυσοτρικλίνου δὲ κοσμηθέντος ἐπὶ βήματος καθίσασα ἡ Ζωὴ. 153 Psellos, Chron. 4.2–3 (S. 52, Z. 10–9 Reinsch): καὶ εὐθὺς μετακαλεσαμένη τὸν Μιχαὴλ· καὶ τὴν χρυσοϋφῆ στολὴν ἐπενδύσασα· ἔπειτα δὲ καὶ τὴν βασιλικὴν στεφάνην τῇ κεφαλῇ προσαρμόσασα· ἐπί τε πολυτελοῦς θρόνου καθίσασα· καὶ αὐτὴ παρακαθισαμένη πλησίον ἐν ὁμοίῳ τῷ σχήματι, πᾶσιν ἐπιτάττει, ὅσοι τὸ βασίλειον τηνικαῦτα ᾤκουν, ἄμφω κοινῇ προσκυνεῖν τε καὶ εὐφημεῖν. οἱ μὲν οὖν οὕτως ἐποίουν· διαδόσιμον δὲ τὸ πρᾶγμα καὶ τοῖς ἐκτὸς [καὶ] τῶν ἀνακτόρων καθίστατο· καὶ πᾶσα ἡ Πόλις παραλαβεῖν τοῦ συνθήματος τὴν εὐφημίαν ἐβούλετο … Ἐπεὶ οὖν τοῖς περὶ τὸν βασιλέα ἡ ἑσπέριος ἐκείνη ἐσχηματίσθη ἀνάρρησις, διττὸν εὐθὺς πρόσταγμα ἀφικνεῖται τῷ ἐπάρχῳ τῆς Πόλεως, ἀφίξεσθαι ἅμα πρωῒ εἰς τὰ βασίλεια· καὶ τοὺς τῆς συγκλήτου βουλῆς· ὁμοῦ τε τῷ νέῳ προσκυνήσοντας βασιλεῖ· καὶ τῷ ἀπεληλυθότι τὴν νενομισμένην ποιήσοντας ἐκφοράν. καὶ ἀπήντησαν οὗτοι κατὰ τὸ σύνθημα· καὶ καθ’ ἕνα εἰσιόντες, προκαθημένοις τοῖς βασιλεῦσιν ἐπὶ γῆς ἐτίθουν τὰς κεφαλὰς, τῇ μὲν βασιλίσσῃ τοῦτο καὶ μόνον ἀφοσιοῦντες· τοῦ δέ γε αὐτοκράτορος καὶ τὴν δεξιὰν προσπτυσσόμενοι χεῖρα. Ἐπὶ τούτοις ὁ μὲν Μιχαὴλ βασιλεὺς αὐτοκράτωρ ἀναρρηθεὶς. 154 Als zusätzliches Element erwähnt einzig Zonaras 17.14 (S. 586 Pinder/Büttner-Wobst) die Anwesenheit des Patriarchen, der noch vor der Inthronisation die Vermählung Zoes und Michaels vorgenommen habe. Vgl. Christophilopoulou, Εκλογή, S. 112; Hill/James/Smythe, Zoe, S. 216–218 schließen eine Kombination von Hochzeit und Proklamation bzw. Krönung aus. 155 Zu diesem Bau siehe Janin, Constantinople, S. 115–117; Jeffrey M. Featherstone, The Great Palace as reflected in the De Cerimoniis, in: Franz A. Bauer (Hg.), Visualisierungen von Herrschaft. Frühmittelalterliche Residenzen. Gestalt und Zeremoniell. Internationales Kolloquium, Istanbul, 3.–4. Juni 2004 (BYZAS 5), Istanbul 2006, S. 47–61, hier S. 50–58. Nigel Westbrook, The Great Palace in Constantinople. An Architectural Interpretation (Architectural Crossroads. Studies in the History of Architecture 2), Turnhout 2019, S. 121–134.
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Performative Aspekte von Usurpationen
man sich gemäß den Angaben im Zeremonienbuch als oktogonalen Bau vorzustellen, der über sieben Seitengewölbe (kamarai, καμάραι oder bēla, βῆλα) verfügte, die vom Hauptraum durch Vorhänge abgetrennt waren. Die verbleibende Seite des Oktogons bildete eine Apsis, in der je nach Anlass verschiedene Throne und Sitzmöglichkeiten unterhalb eines Christusmosaiks aufgestellt waren. Der Chrysotriklinos stand mit diversen anderen Gebäuden in direkter Verbindung; mehrere Eingänge ermöglichten eine vielfältige zeremonielle Nutzung, beispielsweise für Audienzen von Gesandten, die Ernennung der höchsten Würdenträger und Bankette an hohen Feiertagen. Er bildete überdies die Schnittstelle zwischen den persönlichen Gemächern des Kaisers und den Repräsentations- und Verwaltungsräumen des Palastes. Kurz: Der Chrysotriklinos war mindestens bis ins 12. Jahrhundert das zeremonielle Herz des Großen Palastes und der Thronraum par excellence156. So verwundert es auch nicht, dass bei den oben erwähnten Proklamationen auch stets von einem Thron die Rede ist, der als Herrschaftszeichen herangezogen wurde. Außerdem erlaubte der Zugriff zu den Schatzkammern und Garderoben des Palastes die Ausstattung mit kaiserlicher Kleidung und Insignien. Passend zum in maiestatis thronenden Herrscher vervollständigten Reverenzerweisungen der Beamten durch Proskynese und Akklamationen die Proklamation157.
156 Featherstone, The Great Palace, S. 50–58 (mit Skizze auf S. 52); zu Throndarstellungen vgl. Maria G. Parani, Reconstructing the reality of images. Byzantine material culture and religious iconography (11th–15th centuries) (The Medieval Mediterranean. Peoples, economies and cultures, 400–1400, 41), Leiden/Boston 2003, S. 160–167. Einzelne Throninszenierungen beim Empfang von Gesandtschaften sind im 10. Jahrhundert auch in der alten Magnaura belegt (vgl. Rodolphe Guilland, Études de Topographie de Constantinople byzantine I–II [BBA 37], Berlin/Amsterdam 1969, I S. 141–150; Janin, Constantinople, S. 117–119), wo sich der Thron des Salomon mit den bekannten Klangautomaten befand (vgl. Albrecht Berger, Die akustische Dimension des Kaiserzeremoniells. Gesang, Orgelspiel und Automaten, in: Franz A. Bauer [Hg.], Visualisierungen von Herrschaft. Frühmittelalterliche Residenzen. Gestalt und Zeremoniell. Internationales Kolloquium, Istanbul, 3.–4. Juni 2004 [BYZAS 5], Istanbul 2006, S. 63–77; Gerard Brett, The automata in the Byzantine ‚Throne of Salomon‘, in: Speculum 29, 1954, S. 477–487; Carile, Insegne, S. 106–107). Die Nützung der Magnaura dürfte jedoch nur einer kurzlebigen Revitalisierung unter den Makedonenkaisern zu verdanken gewesen sein: s. Featherstone, Der Große Palast. Zum Thron in Byzanz s. auch Gilbert Dagron, Trônes pour un empereur, in: Anna Avramea / Angeliki Laiou / Evangelos Chrysos (Hgg.), Byzantio. Kratos kai Koinonia. Mneme Nikou Oikonomide, Athen 2003, S. 179–203. 157 Zur Proskynese s. Andreas Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 1970, S. 62–79; Bréhier, Institutions, S. 61–62; Treitinger, Kaiseridee, S. 84–90; Macrides/Munitiz/Angelov, Pseudo-Kodinos, S. 386–387; zum stehenden bzw. sitzenden Kaiser ebenda, S. 379–385; zum symbolischen Wert des Sitzens als Herrschaftszeichen im westlichen Mittelalter vgl. Hans-Werner Goetz, Der ‚rechte‘ Sitz. Die Symbolik von Rang und Herrschaft im Hohen Mittelalter im Spiegel der Sitzordnung, in: Gertrud Blaschitz / Helmut Hundsbichler / Gerhard Jaritz / Elisabeth Vavra (Hgg.), Symbole des Alltags. Alltag der Symbole. Festschrift Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, Graz 1992, S. 11–47. Für die Byzantinistik fehlen Studien dieser Art noch.
Die Proklamation
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Die Ausrufung von Andronikos (I.) Komnenos (P 24) im Jahre 1183 erfolgte im Blachernenpalast. Seit etwa 1100 hatte sich der Lebensmittelpunkt der Kaiser sowie der zeremonielle Fokus in diese im nordwestlichsten Bezirk Konstantinopels gelegene Palastanlage verschoben158. Als Räumlichkeit für die Proklamation wählte man einen Saal im Polytimos159, wo die Senatoren Andronikos vor dem Anlegen der Insignien – Diadem und Kleidung – auf einem vergoldeten Thron Platz nehmen ließen160. Erneut spielte das Momentum des Sitzens als Ausdruck der Herrschaft eine bedeutende Rolle. Hagia Sophia Als Schauplatz für Krönungen hatte sich die Hauptkirche Konstantinopels bereits seit dem Jahre 641 dauerhaft etabliert161. Für das gänzlich säkulare Ritual der Proklamation wurde sie hingegen lange Zeit nicht herangezogen. Im Untersuchungszeitraum spielt die Hagia Sophia erstmals beim Sturz Michaels V. (1042) eine Rolle. In seiner Empörung gegen die Verbannung Kaiserin Zoes aus dem Palast – so das von den Quellen gezeichnete Bild – habe sich die Stadtbevölkerung auf den Weg zum Petrion-Kloster gemacht, wo sich Zoes Schwester Theodora befand. Unter Androhung von Waffengewalt sei sie aus dem Kloster gezerrt worden und, in prachtvolle Kleider gehüllt, unter Akklamationen auf einem Pferd zur Hagia Sophia geführt worden162. Trotz des Eindrucks, den die Quellen zu evozieren suchen, dürfte die Initiative nicht vom gewöhnlichen Volk ausgegangen sein, sondern von aristokratischen Gegnern des Kaisers und vor allem auch der Patriarch scheint direkt involviert gewesen zu sein, was auch die Wahl der Hagia Sophia als vorläufige Residenz Theodoras erklärt, solange der Palast umkämpft war163. Trotz des Anlegens der Insignien handelte es sich im Falle Theodoras streng genommen um keine eigentliche Proklamation, sondern nur um Akklamationen, die sie in jener Funktion bestätigten, die sie als purpurgeborene Prinzessin ohne-
158 Janin, Constantinople, S. 125–126; Neslihan Asutay-Effenberger, The Blachernai palace and its defense, in: Scott Redford / Nina Ergin (Hgg.), Cities and citadels in Turkey from the Iron Age to the Seljuks, Leuven/Paris/Walpole 2013, S. 253–276; Ruth Macrides, The ‚other‘ palace in Constantinople: the Blachernai, in: Michael Featherstone / Jean-Michael Spieser / Gülru Tanman / Ulrike Wulf-Rheidt (Hgg.), The emperor’s house. Palaces from Augustus to the age of absolutism (Urban Spaces 4), Berlin/Boston 2015, S. 159–168. 159 Dieser Palast war von Kaiser Manuel I. Komnenos, wohl zu Ehren seiner Gattin Bertha/Eirene, im Blachernenviertel errichtet worden: Janin, Constantinople, S. 126–128. 160 Choniates, Hist., S. 271 (van Dieten). 161 Frank E. Brightman, Byzantine imperial coronations, in: The Journal of Theological Studies 211, 1901, S. 359–392, hier S. 377; Pertusi, Insigne, S. 528–529; Bréhier, Institutions, S. 18–19. 162 Psellos, Chron. 5.37 (S. 99–100 Reinsch); Attaleiates S. 13 (Tsolakes); Skylitzes S. 418 (Thurn); Zonaras 17.19 (S. 611–612 Pinder/Büttner-Wobst). 163 Schon das Wissen um den Aufenthaltsort Theodoras setzt die Beteiligung von Leuten aus dem Umfeld des Hofes voraus: Spadaro, Interferenze, S. 255–261. Michael Angold, Church and society in Byzantium under the Comneni, 1081–1261, Cambridge 1995, S. 22 hält den Patriarchen Alexios gar für den eigentlichen Drahtzieher. Kaldellis, How to usurp, S. 52 und Byzantine republic, S. 94 sehen den Aufruhr eindeutig als Sache des Volkes.
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Performative Aspekte von Usurpationen
hin innegehabt hatte, bis sie von ihrer Schwester Zoe ins Kloster verbannt wurde. Die zeitnahen Quellen tragen diesem Faktum auch Rechnung und geben den Prozess mit basilida/anassan euphēmein (βασιλίδα/ἄνασσαν εὐφημεῖν) wieder164. Aus Sicht ihrer Unterstützer war die erzwungene Tonsur Theodoras nichtig. In den Thronkämpfen des 11. Jahrhunderts begann die Kirche eine immer wichtigere Rolle zu spielen und auch die Hagia Sophia gewann als Versammlungsort von oppositionellen Mitgliedern des Senates, des Volkes und des Klerus an Bedeutung – die ausschließliche Unterstützung durch die Armee war für Usurpatoren nicht mehr ausreichend165. Noch während ihres Marsches auf Konstantinopel sollen beispielweise Isaakios (I.) Komnenos (1057) und Nikephoros (III.) Botaneiates (1078) von Versammlungen in der Hagia Sophia in Abwesenheit proklamiert worden sein166. Schon zuvor (1056) hatte der proedros Theodosios Monomachos, Neffe des verstorbenen Konstantinos IX., vergeblich versucht, die Kirchgänger zu einem Putsch gegen den frisch gekürten Kaiser Michael VI. anzustacheln167. Zusätzliches politisches Gewicht und oppositionelle Symbolkraft hatte das Gotteshaus ohne Zweifel auch durch seine Funktion als Zufluchtsort vor kaiserlicher Willkür168. Beide Aspekte führten in den Thronkämpfen nach dem Tode Manuels I. (1180) dazu, dass die Hagia Sophia geradezu zur Keimzelle von Usurpationen avancierte und dann auch als Raum für Proklamationen herangezogen wurde (Tabelle 4)169. Die Symbolkraft der Kirche als Ort für Proklamationen steht außer Frage, zumal neben der offensichtlichen Konsensbekundung der unterstützenden politischen Faktoren (Senat, Klerus, Volk) auch die göttliche Unterstützung des Vorhabens artikuliert werden konnte. Auf der anderen Seite barg die räumliche Nähe zur Zentralgewalt – die Hagia Sophia befand sich direkt neben dem Großen Palast – auch ein hohes Risiko für
164 Psellos, Chron. 5.37 (S. 100, Z. 11–12 Reinsch): βασιλίδα τὴν Θεοδώραν εὐφήμῳ στόματι κατωνόμασαν; Attaleiates S. 13 (Tsolakes): παρὰ πάντων εὐφημουμένη; Skylitzes S. 418 (Thurn): ἄνασσαν εὐφημοῦσι σὺν Ζωῇ. Einzig Zonaras 17.19 (S. 611, Z. 16–612, Z. 1 Pinder/Büttner-Wobst) spricht von einer Proklamation im engeren Sinne: ἡ Θεοδώρα βασιλὶς ἀνηγόρευτο. 165 Christophilopoulou, Εκλογή, S. 228; Spadaro, Interferenze, S. 238–245; Beck, Senat, S. 34–35 sieht Alexios III. Angelos (prokl. 1195) als letzten „Soldatenkaiser, der seinen Putsch ohne vorher eingeholten Konsens innerhalb Konstantinopels erfolgreich durchführen konnte“. Das ist grundsätzlich richtig, doch übersieht Beck m. E., dass sich Alexios mehr auf aufstrebende Familien stützte als auf seine Truppen im engeren Sinn (vgl. Michael Angold, Introduction, in: Michael Angold (Hg.), The Byzantine aristocracy, IX to XIII centuries [BAR International Series 221], Oxford 1984, S. 1–9, hier S. 5; Cheynet, Pouvoir, S. 440) und dass seine Ehefrau Euphrosyne zumindest noch vor dem Einzug ihres Gatten Verhandlungen in Konstantinopel führte (s. unten 79–80, 168–171, 302–303). 166 Skylitzes S. 498–499 (Thurn); Bryennios 3.19 (S. 245–247 Gautier); vgl. Beck, Senat, S. 45–46. 167 Skylitzes S. 481–482 (Thurn); Zonaras 18.1 (S. 655–656 Pinder/Büttner-Wobst). Vgl. Kaldellis, How to usurp, S. 44–45. 168 Vgl. Kapitel 3.2.3. 169 Vg. Beihammer, Succession, S. 189.
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Die Proklamation
Tab. 4 Die Hagia Sophia als Ort für Proklamationen Jahr
Thronprätendent
Ausgang
App.
1042
Theodora (?)
Proklamation? wird Kaiserin
P9
1056
Theodosios Monomachos
Proklamation wird verweigert
–
1057
in Abwesenheit: Isaakios (I.) Komnenos
wird Kaiser
P 12
1078
in Abwesenheit: Nikephoros (III.) Botaneiates
wird Kaiser
P 17
1185
Isaakios (II.) Angelos
Proklamation, wird Kaiser
P 25
1186
Alexios Branas
Proklamation wird verweigert
P 26
1191–93
Isaakios Komnenos
Proklamation wird verweigert
–
vor 1194
N. N., Sohn des Gouverneurs von Thessalonike
Proklamation wird verweigert
–
1200
Ioannes Komnenos Axuchos
Proklamation, Tod im Handgemenge
1201
N. N.
Proklamation wird von Warägern verhindert
–
1204
Nikolaos Kannabos
Proklamation, Inhaftierung, Tod
P 31
P 29
den Usurpator. Es ist wohl kein Zufall, dass die Hagia Sophia als Ort für Proklamationen erst beliebter wurde, als die Kaiser in einiger Entfernung im Blachernenpalast residierten. Bisweilen versuchten die Usurpatoren auch, eine zeitweilige Absenz des Kaisers zu nutzen, um Zeit zu gewinnen. Es ist jedoch bezeichnend, dass der Mehrzahl jener Prätendenten, die ihren Coup in der Hagia Sophia begannen, kein großer Erfolg beschieden war und es bei einigen nicht einmal zur angestrebten Proklamation reichte. Die erste sicher überlieferte Proklamation eines anwesenden Usurpators in der Hagia Sophia fand in der Nacht auf den 12. September 1185 statt. Der Prätendent, Isaakios (II.) Angelos, hatte sich schon 1183–1184 an einer Erhebung gegen Kaiser Andronikos I. Komnenos beteiligt. Als sich die Rebellenhochburg Nikaia ergeben musste, wurde ihm gestattet, sich in das Anwesen seiner Familie in Konstantinopel zurückzuziehen. In den folgenden Monaten verschlechterte sich der Stand des Kaisers in Konstantinopel dramatisch. Zunehmend paranoid ging Andronikos gegen führende Mitglieder der Aristokratie vor. Auch Isaakios Angelos geriet auf die schwarze Liste des Kaisers, entzog sich der Festnahme am 11. September 1185 aber im letzten Moment durch eine waghalsige Flucht und erschlug dabei einen der engsten Vertrauten des Kaisers. Doch anstatt Konstantinopel zu verlassen, galoppierte Isaakios auf direktem Weg zur Hagia Sophia und hoffte auf den Schutz des Kirchenasyls170. Noch im Laufe der Nacht
170 S. hierzu Kapitel 3.2.3.
78
Performative Aspekte von Usurpationen
scharte sich eine Gruppe Oppositioneller um Isaakios und rief ihn zum Kaiser aus. Ein Sakristan der Kirche holte mithilfe einer Leiter die so genannte Krone Konstantins des Großen, die über dem Hauptaltar aufgehängt war, herunter und setzte sie dem Usurpator auf den Kopf171. In der Zwischenzeit war Kaiser Andronikos I. vom Meludion-Palast auf der asiatischen Seite des Bosporus nach Konstantinopel aufgebrochen, um den Putschversuch niederzuschlagen, sah sich jedoch bald zur Flucht genötigt172. Der unverhoffte Erfolg der Aktion machte sie zu einem Präzedenzfall. In den folgenden Jahren versuchten auch Alexios Branas (1186)173, Isaakios Komnenos (1191–1193)174 und ein namentlich unbekannter Sohn des Gouverneurs von Thessalonike (vor 1194)175 auf eben diesem Wege die Bevölkerung Konstantinopels für politische Umstürze zu mobilisieren, allesamt jedoch ohne Erfolg. Auch im Sommer 1200, im Zuge der Proteste gegen die Machenschaften des kaiserlichen Vertrauten Ioannes Lagos wollte sich das Volk in der Hagia Sophia versammeln, um dort einen neuen Kaiser zu proklamieren. Der Zeitpunkt der Empörung war gut gewählt, denn Alexios III. Angelos befand sich gerade in Chrysopolis. Der Plan scheiterte jedoch, da Kaiserin Euphrosyne die Kirche vorsorglich von Warägern besetzen hatte lassen. Nach den Ereignissen der letzten beiden Jahrzehnte war man sich offenbar des subversiven Potentials des Ortes bewusst176. Kurz darauf kam es dann dennoch wieder zu einer tatsächlichen Proklamation innerhalb der Hagia Sophia: Am 31. Juli 1200 suchte Ioannes Komnenos Axuchos mit seinen Unterstützern um Asyl in der Hagia Sophia an. Laut Nikolaos Mesarites gab es keinen konkreten Grund dafür. Die fingierte Flucht habe nur dazu gedient, sich Zugang zur Kirche zu verschaffen177. Erneut wurde eine der über dem Altar hängenden Kronen heruntergefischt und Ioannes von einem Mönch damit gekrönt178. Kurz vor der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204 versammelten sich schließlich Senatoren, Volk und Bischöfe in der Hagia Sophia und wählten Nikolaos Kannabos zum Kaiser. Er scheint die Kirche als Hauptquartier verwendet zu
171 Vgl. Kapitel 2.2.4.1. 172 Choniates, Hist. S. 342–345 (van Dieten); Beihammer, Succession, S. 190–192, 196; Kaldellis, How to usurp, S. 45–46. 173 Choniates, Hist. S. 376–377 (van Dieten). 174 Choniates, Hist. S. 423 (van Dieten) bezieht Isaakios’ Handeln explizit auf den wenige Jahre zuvor erfolgreichen Putsch des Isaakios Angelos. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 125 (Nr. 172) 175 Choniates, Hist. S. 428 (van Dieten). Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 128 (Nr. 179). 176 Choniates, Hist. S. 525 (van Dieten); Angold, John the Fat, S. 121–122. 177 Mesarites 3 (S. 20 Heisenberg). Doch ist auch die Hypothese von Angold ( John the Fat, S. 122) nicht auszuschließen, dass Ioannes in die eben erwähnten Unruhen involviert war und tatsächlich Konsequenzen zu befürchten hatte. 178 Mesarites 3 (S. 20–21 Heisenberg); Choniates, Hist. S. 526–527 (van Dieten). Zum Putschversuch s. Michael Angold, The anatomy of a failed coup: The abortive uprising of John the Fat (31 July 1200), in: Alicia Simpson (Hg.), Sad quarter of a century, S. 113–134; Charles M. Brand, Byzantium confronts the West, 1180–1204, Cambridge, MA 1968, S. 113–134. Vgl. auch Kapitel 2.2.4.1.
Die Proklamation
79
haben, bis er von den Leuten Kaiser Alexios’ V. ergriffen und schlussendlich hingerichtet wurde. Über den genauen Ablauf der Proklamation sind wir nicht näher informiert. Die Formulierung des Niketas Choniates, dass Nikolaos zum Kaiser „gesalbt“ worden sei, ist wohl im übertragenen Sinne zu verstehen, zumal der Patriarch Ioannes X. Kamateros (1198–1206) höchstwahrscheinlich nicht zugegen war179. Straßen und Plätze Traditionell dienten die Straßen und Plätze Konstantinopels als Interaktionsraum zwischen Kaiser und Volk, wobei die Kommunikation für gewöhnlich recht einseitig verlief und sich auf Akklamationen im Rahmen von Prozessionen beschränkte. Der Stadtbevölkerung oblag es, dem eingesetzten Kaiser zu huldigen; bei seiner Wahl hingegen spielte es kaum jemals eine nennenswerte Rolle. Insofern ist auch verständlich, weshalb es in der gesamten byzantinischen Geschichte höchst selten zur Proklamation von Usurpatoren im öffentlich-städtischen Raum kam. Im Untersuchungszeitraum wurde einzig der sebastos und ehemalige chartoularios Alexios Kontostephanos (1195, P 28) auf der Mesē (ἐπ’ ἀγορᾶς) zum Kaiser proklamiert. Zu jenem Zeitpunkt hatte in Konstantinopel ein Machtvakuum bestanden, da Isaakios II. Angelos soeben im Heerlager bei Kypsella von seinem Bruder Alexios (III.) abgesetzt worden war, aber noch nicht als neuer Kaiser in die Hauptstadt zurückgekehrt war. Während Alexios’ Gattin Euphrosyne seinen Einzug vorbereiten ließ180, so Niketas Choniates, hätten der Pöbel 179 Choniates, Hist. S. 562 (van Dieten). Zur Abwesenheit des Patriarchen s. Benjamin Hendrickx / Corinna Matzukis, Alexios V Dukas Mourtzouphlos: His life, reign and death (?–1204), in: Hell 31, 1979, S. 108–132, hier S. 117, mit Anm. 5. Seit wann die erst nach 1204 sicher belegbare Salbung Teil des byzantinischen Krönungszeremoniells war, ist umstritten: Treitinger (Kaiseridee, S. 29) sieht sie als Phänomen der „Spätzeit“; Georg Ostrogorsky (Kaisersalbung und Schilderhebung im spätbyzantinischen Krönungszeremoniell, in: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte 4 H. 2/3, 1955, S. 246–256, hier S. 246–252) nimmt eine Einführung unter den Laskariden in Nikaia an; dieser Argumentation folgt auch Eleni Tounta, Die Konstruktion des Rituals: Macht des Individuums oder der Ideen? Überlegungen am Beispiel der byzantinischen Krönungszeremonie, in: Gerald Schwedler / Eleni Tounta (Hgg.), Ritual and the science of ritual III: State, power, and violence, Wiesbaden 2010, S. 71–90, bes. S. 81–84, allerdings offenbar in Unkenntnis der relevanten Stellen bei Choniates (S. 81: „von den historiographischen Quellen nicht erwähnt“) und widerspricht sich auf S. 76 selbst („Eine Kaisersalbung existierte bei den Byzantinern erst ab dem 12. Jahrhundert.“). Brightman (Coronations, S. 383–385) plädiert für das 12. Jh., ebenso Donald M. Nicol (Kaisersalbung. The unction of emperors in Late Byzantine coronation ritual, in: BMGS 2, 1976, S. 37–52) und Dagron (Emperor and priest, S. 58); Christophilopoulou (Εκλογή, S. 109–110, 142–144, 210–212; Eadem, Περὶ τὸ πρόβλημα τῆς ἀναδείξεως τοῦ βυζαντινοῦ αὐτοκράτορος, Β΄ Προσθήκαι καὶ διορθώσεις, in: Epistemonike Epeteris 13, 1962–1963, S. 375–399, hier S. 382–385) will die Einführung der Salbung konkret mit Manuel I. in Verbindung bringen, ebenso Pertusi (Insigne, S. 547–554); Wilhelm Sickel (Das byzantinische Krönungsrecht bis zum 10. Jahrhundert, in: BZ 7, 1898, S. 511–557, S. 524) glaubt an eine Tradition seit mindestens dem 9. Jh. Aus der Auswertung der Argumente der genannten Untersuchungen scheint mir das späte 12. Jh. als Zeitpunkt der Einführung plausibel, was aber nicht heißt, dass die „Salbung“ bei Choniates tatsächlich immer wörtlich verstanden werden muss. 180 Im Detail hierzu s. unten S. 302–303.
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und die Handwerker sich zusammengerottet und in ihrem Unmut gegen die Dynastie der Komnenen den erwähnten Alexios Kontostephanos zum autokratōr ausgerufen. Noch bevor ihr Gemahl Konstantinopel erreichte, ließ Euphrosyne das Volk umgehend zerstreuen und seinen Kandidaten inhaftieren181. Von allen Faktoren, die auf die Wahl eines Kaisers Einfluss nehmen konnten, war das Volk der mit Abstand schwächste. Selbst als die Stadtbevölkerung im letzten Viertel des 12. Jahrhundert eine zunehmend aktivere Rolle übernahm und stärker in Usurpationen involviert war182, reichte ihr politisches Gewicht nur ein einziges Mal zur Durchsetzung eines eigenen Kandidaten (Nikolaos Kannabos)183. Die Proklamation auf der Straße und das Fehlen jeglicher Insignien bei der Proklamation des Konto stephanos muss die mangelnde Unterstützung durch Klerus, Senat oder Garde klar vor Augen geführt haben, die sich schließlich auch in der mühelosen Zerschlagung des Aufstandes manifestierte. Ob es im Fall von Konstantinos Dukas im Jahre 913 (P 1) wirklich zu einer Proklamation gekommen ist, geht aus den Quellen nicht hervor. Dieser hatte als domestikos der Scholen versucht, das Machtvakuum nach dem Tode Kaisers Alexandros auszunützen, um die Regentschaft des minderjährigen Konstantinos VII. zu verdrängen. Unterstützt von hochrangigen Würdenträgern zog er noch vor dem Morgengrauen zum Tor des Hippodroms, wo ihm nach Auskunft mancher Quellen seine Unterstützer als autokratōr akklamierten. Die Torwächter blieben davon unbeeindruckt und so begab sich der domestikos unter weiteren Zurufen zum Chalkē-Tor, um von dort aus in den Palast zu gelangen. Im Hof der Exkubiten fiel der Usurpator jedoch im Handgemenge mit Gardisten184. Angesichts der politischen Situation ist es unwahrscheinlich, dass zuvor eine wirkliche Ausrufung stattgefunden hatte. Primär muss Konstantinos vorgehabt haben, in seiner Funktion als domestikos die Regentschaft zu stürzen und eventuell danach eine Proklamation samt Krönung anzustreben. Auch wird nirgends 181 Choniates, Hist. S. 455–456 (van Dieten). 182 Nach Choniates, Hist. S. 455, Z. 60–63 (van Dieten) soll die Stadtbevölkerung den Putsch durch Alexios III. zunächst durchaus positiv aufgenommen haben, obwohl sie ihres Rechtes der Wahl des Kaisers beraubt worden sei: ἠρέμησαν πρῶτα μὲν πάντες καὶ συνεπηυδόκησαν τοῖς ἀκουσθεῖσι, μήτε βατταρίσαντες, μήτ’ ἀναφλεγέντες πρὸς δικαίαν ὀργήν, οἷς εἰωθὸς αὐτοῖς βασιλέα χειροτονεῖν, ὑπὸ τῶν στρατοπέδων καὶ τοῦτο ἀφῄρηνται. Vgl. hierzu Kaldellis, Byzantine republic, S. 112. 183 Christophilopoulou, Εκλογή, S. 145; Cheynet, Pouvoir, S. 202–203; Pertusi, Insigne, S. 496; Kyritses, Constitutional crisis, S. 106–107. Vgl. dagegen die hohe Bedeutung, die Kaldellis (How to usurp; Byzantine republic) der Stadtbevölkerung zugestehen will. 184 Georg. Mon. Cont. S. 875, Z. 19–20 (Bekker): Ἐκεῖθεν οὖν εὐφημούμενος ἦλθε μέχρι τῆς λεγομένης Χαλκῆς; Skylitzes S. 198, 54 (Thurn): Κωνσταντῖνον ἀνευφημοῦντες αὐτοκράτορα; Zonaras 16.16 (S. 459, Z. 4–5 Pinder/Büttner-Wobst): οἳ καὶ ὡς βασιλέα αὐτὸν εὐφήμουν καὶ ἀνηγόρευον. Die Vita Euthymii 21 (S. 131–133 Karlin-Hayter) weiß hingegen nichts von einer Ausrufung und überliefert nur die Kampfhandlungen sowie den politischen Hintergrund: Noch vor dem Tod Kaiser Alexandros’ nämlich habe der Patriarch persönlich Konstantinos dazu aufgefordert, die Macht zu übernehmen, das Angebot aber sofort zurückgezogen, als er Teil der Regentschaft des minderjährigen Konstantinos VII. geworden sei.
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erwähnt, dass der Usurpator Insignien getragen habe. Die Akklamationen auf der Straße, so sie denn wirklich stattfanden, sind daher wohl eher als spontane Reaktion der Anwesenden zu verstehen. 2.2.2.3 Proklamationen in Abwesenheit Auf die Proklamation des Usurpators in Anwesenheit der eigenen Unterstützer folgten bisweilen eine weitere Ausrufung, die in den Quellen ebenfalls als anagoreusis (ἀναγόρευσις) genannt wird, sich aber im Graubereich zwischen Proklamation und Akklamation bewegt. Sie erfolgte in Abwesenheit des neuen Kaisers und diente primär dazu, die Öffentlichkeit über die Herausforderung bzw. die bereits geänderten Machtverhältnisse zu informieren und so um Unterstützung zu werben und eventuellen Widerstand zu unterbinden. Die Bühne für diese zweite Phase der Proklamation konnte variieren. Ioannes Tzimiskes (P 4) ließ am Morgen nach dem Mord an seinem Vorgänger Nikephoros II. auserwählte Männer durch die Straßen Konstantinopels ziehen, die ihn – gemeinsam freilich mit den minderjährigen basileis Basileios (II.) und Konstantinos (VIII.) – als autokratōr ausriefen185. Ähnliches hatten auch die Anhänger von Ioannes Komnenos Axuchos (P 29) im Jahre 1200 vor, wobei es dabei zu Tumulten und Zerstörungen gekommen sein soll186. Eine zusätzliche Proklamation konnte auch in der Hagia Sophia stattfinden. Bei den Usurpationen von Isaakios I. Komnenos (1057, P 12)187 und Nikephoros III. Botaneiates (1077, P 17)188 war diese Ausrufung das Resultat von Verhandlungen innerhalb einflussreicher Gruppierungen rund um hohe weltliche und geistliche Würdenträger, die durch ihr demonstratives Einverständnis grünes Licht für den Putschversuch gaben189. Botaneiates’ Parteigänger Michael Attaleiates berichtet gar von Zweigen tragenden Kinderchören, die während des Anmarsches des Usurpators dessen Namen in den Straßen Konstantinopels akklamiert haben sollen190. Um die Zurschaustellung von Konsens über die geänderten Machtverhältnisse ging
185 Leon Diak. 6.1 (S. 93–94 Hase). 186 Choniates, Hist. S. 526 (van Dieten). 187 Skylitzes S. 498–499 (Thurn); Jean-Claude Cheynet, Le patriarche ‚tyrannos‘: le cas Cérulaire, in: Marie Theres Fögen (Hg.), Ordnung und Aufruhr im Mittelalter. Historische und juristische Studien zur Rebellion (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 70), Frankfurt a. M. 1995, S. 1–16, hier S. 6–9; Maria Dora Spadaro, La deposizione di Michele VI: Un episodio di ‚concordia discors‘ fra chiesa e militari?, in: JÖB 37, 1987, S. 153–171; Eadem, Interferenze, S. 272– 277. 188 Attaleiates S. 197–199 (Tsolakes). 189 Christophilopoulou, Εκλογή, S. 115–116, S. 122; Cheynet, Pouvoir, S. 343–344. 190 Attaleiates S. 209, Z. 18–22 (Tsolakes): Καὶ ἦσαν ἐπὶ τρισὶν ἡμέραις ἀβασίλευτον τηροῦντες τὴν πόλιν καὶ ἄσυλον καὶ τοῦτο μονονουχὶ ἐπιφωνοῦντες συχνῶς ὅπερ καὶ ἐπὶ τοῦ ἐμοῦ Χριστοῦ οἱ παῖδές ποτε μετὰ κλάδων εὐφήμουν, τό „εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι Κυρίου βασιλεὺς εὐσεβέστατος“.
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es auch bei der Proklamation von Alexios III. im Vorfeld seines Einzuges in Konstantinopel. Zwar sei die Ausrufung laut Niketas Choniates nur durch einen korrupten Sakristan der Hagia Sophia erfolgt, doch wurde dieser Makel kompensiert, als sich schließlich auch der Patriarch auf die Seite des Putschisten schlug191. 2.2.3 Akklamationen Akklamationen sind als ritualisierte Kommunikationsform zwischen dem Kaiser und seinen Untertanen zu verstehen. Als mündlich vorgetragene Segenswünsche oder schmeichelnde Zurufe begleiteten sie jede Zeremonie und jeden öffentlichen Auftritt des Herrschers192. Die Ursprünge dieser Praxis mögen in spontanen Ausrufen zu suchen sein, doch hatten Akklamationen bereits in frühbyzantinischer Zeit formelhaften Charakter angenommen. Als fester Bestandteil des Hofzeremoniells wurden sie häufig auch in metrischer, choreografierter Form von Vertretern der Demen vorgetragen193. Die genauen Formeln wurden zunehmend auch verschriftlicht und sind sowohl an vielen Stellen des Zeremonienbuches als auch in historiographischen und chronistischen Werken überliefert. In ihrer einfachsten und üblichsten Erscheinungsform entspricht die Akklamation im Untersuchungszeitraum dem Schema: N. N. (im Genitiv) (αὐτοκράτορος/βασιλέως) πολλὰ τὰ ἔτη („Dem Kaiser N. N. viele Jahre!“)194. Zentrale Bestandteile waren demnach Name(n) und (optional) Titel des/der Adressaten sowie der Wunsch einer langen Lebens- oder Regierungszeit, weshalb die byzantinischen Quellen die Segenswünsche auch als polychronia bezeichnen195. Die genaue Formel sowie die Reihenfolge der genannten Personen wurde von der Kaiserkanzlei vorgege-
191 Choniates, Hist. S. 456 (van Dieten). S. auch Kapitel 2.2.4.1. 192 ODB I, S. 10–11, s. v. acclamations; Treitinger, Kaiseridee, S. 71–75; Alföldi, Repräsentation, S. 79–88; Bréhier, Institutions, S. 66–70. Als oft einziger Kommunikationskanal zwischen Volk und Herrscher konnten Akklamationen auch eine kritisierende Funktion einnehmen: Peter van Nuffelen, Beyond bureaucracy. Ritual mediation in Late Antiquity, in: Gerald Schwedler / Eleni Tounta (Hgg.), Ritual and the science of ritual III: State, power, and violence, Wiesbaden 2010, S. 231–246, hier S. 238–240. 193 Grundlegend: Paul Maas, Metrische Akklamationen der Byzantiner, in: BZ 21, 1912, S. 28–51; Hans-Ulrich Wiemer, Akklamationen im spätrömischen Reich. Zur Typologie und Funktion eines Kommunikationsrituals, in: Archiv für Kulturgeschichte 86, 2004, S. 27–73; vgl. jetzt Michael Grünbart, Die Macht des Klangs: Akustische Dimensionen des griechischen Mittelalters, in: Nikolas Jaspert / Harald Müller (Hgg.), Klangräume des Mittelalters (Vorträge und Forschungen 94), Ostfildern 2023, S. 161–198. 194 Christophilopoulou, Εκλογή, S. 207. Aus der Vielzahl an Beispielen aus dem Zeremonienbuch sei hier nur auf eine lange Reihe an Variationen dieser Formel verwiesen, die im Kontext von Siegesfeiern am Konstantinsforum vorgesehen waren: De cerim. S. 611–612. Vgl. auch Choniates, Hist. S. 270, Z. 21–22 (van Dieten): Ἀλεξίου καὶ Ἀνδρονίκου μεγάλων βασιλέων καὶ αὐτοκρατόρων Ῥωμαίων τῶν Κομνηνῶν πολλὰ τὰ ἔτη. 195 ODB I, S. 10, s. v. acclamations.
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ben. Die Provinzverwaltungen wurden schriftlich darüber benachrichtigt196. Die weitere Verbreitung der korrekten Formeln in weite Kreise der Bevölkerung war vermutlich durch die Verwendung in den Gottesdiensten gegeben. Im kaiserlichen Zeremoniell artikulierte sich in den Akklamationen der Konsens der Untertanen über jene Person, die gerade das höchste Amt im Reich bekleidete; die genannte Standardformel war dabei keineswegs dem regierenden Kaiser vorbehalten. Häufig wurden auch die Kaiserin, hohe Würdenträger oder Patriarchen mit diesem Segen bedacht197. Lediglich im Kontext von Proklamationen erfüllte die an sich sehr allgemein gehaltene Formel eine spezielle, nicht wiederholbare Funktion als Sprechakt, der im Augenblick seiner Äußerung die Realität verändert198: Durch die erste mündliche Nennung des neuen Kaisers wurde dessen Vorherbestimmung zur unumstößlichen Realität und das römische Kaisertum erneuert. Auch Usurpatoren bedienten sich der ritualisierten Kommunikationsform der Akklamation. Im Regelfall empfing der Thronprätendent diese erstmals nach dem Anlegen von Insignien im Rahmen seiner Proklamation durch die Unterstützer seines Putschversuches. Je nach Umstand konnte diese erste mündliche Anerkennung durch Soldaten, Senatoren, befreundete Familien oder Volksmassen erfolgen. Unabhängig davon, ob eine Usurpation im Heerlager, im Palast oder in der Hagia Sophia ihren offiziellen Anfang nahm, war bei der Proklamation nur ein wenig repräsentativer Teil der Gesamtheit der Untertanen zugegen. Weitere Huldigungen mussten folgen, um den Anspruch auf den Thron zu propagieren bzw. um bereits geänderte Machtverhältnisse bekannt zu machen. Die verschiedenen Funktionen der Akklamation im Kontext einer Usurpation verdeutlicht exemplarisch die Schilderung des Coups von Alexios (I.) Komnenos im Geschichtswerk seiner Tochter Anna. Alexios entschloss sich im Frühjahr des Jahres 1081 gemeinsam mit seinem Bruder Isaakios zum Putsch gegen Nikephoros III. Botaneiates, wobei zunächst nicht feststand, wer von beiden die Kaiserwürde anstreben würde. Auf dem Weg nach Konstantinopel traten alle Bewohner der kleineren Städte auf dem Lande … spontan zu ihm über und akklamierten ihm als Basileus, außer den Leuten aus Orestias [scil. Adrianopel]199.
196 Vgl. unten S. 90 mit Anm. 223. 197 De cerim. 2.43 (Bd 1, S. 651, Z. 5–8 Reiske): ὁ δεῖνα τοῦ ἁγιωτάτου καὶ οἰκουμενικοῦ πατριάρχου πολλὰ τὰ ἔτη … τῆς ἱερᾶς συγκλήτου πολλὰ τὰ ἔτη … τοῦ φιλοχρίστου στρατοῦ πολλὰ τὰ ἔτη; ebenda 1.92 (Bd. I, S. 419, Z. 5–6): πολλὰ τὰ ἔτη τῆς αὐγούστης. 198 Grundlegend zur Theorie der Sprechakte: John Austin, How to do things with words, Cambridge, MA 1962, auszugsweise übersetzt abgedruckt in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 63–82; Dücker, Rituale, S. 115–120. 199 Anna Komnene, Alexias 2.6.10 (S. 72, Z. 30–32 Reinsch/Kambylis): ἅπαντες οὖν οἱ κατὰ τὰς κωμοπόλεις αὐτόμολοι προσερχόμενοι ἐφήμιζον τοῦτον βασιλέα πλὴν τῶν κατὰ τὴν Ὀρεστιάδα.
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Nachdem alle nötigen Vorbereitungen getroffen waren, ließ sich Alexios im Feldlager in Schiza (Thrakien) proklamieren200, indem er die purpurfarbenen Schuhe anlegte. Alexios’ Tochter Anna schildert das Ereignis folgendermaßen: Und sofort danach begannen die Dukas mit der Akklamation, einmal, weil auch sie den Mann akzeptierten, insbesondere aber deshalb, weil ihre Verwandte Eirene, meine Mutter, nach dem Gesetz mit meinem Vater verbunden war. Zugleich mit Ihnen taten dasselbe bereitwillig auch alle, die aus demselben Blute wie er entsprossen waren. Das übrige Heer aber nahm die Akklamation auf und ließ seine Stimme bis fast hinauf zum Himmel erschallen. Und man konnte so ein merkwürdiges Geschehen beobachten: Die vorher verschiedener Meinung waren und lieber den Tod gewählt hätten, als in ihrem Verlangen enttäuscht zu werden [scil. die Anhänger des Isaakios Komnenos], waren von einem Augenblick zum anderen einer Meinung und zwar so sehr, dass man nicht einmal erkennen konnte, dass es überhaupt vorher eine Spaltung zwischen ihnen gegeben hatte201.
Am 1. April drangen Alexios’ Truppen mithilfe der kollaborierenden Wachmannschaft durch das Charisios-Tor in Konstantinopel ein. In seiner Bedrängnis sandte Kaiser Nikephoros III. Schiffe nach Damalis, um von dort den zweiten Thronprätendenten, Nikephoros Melissenos, herbeizuholen und zu dessen Gunsten abzudanken. Der Plan scheiterte, da sich Georgios Palaiologos, einer der wichtigsten Unterstützer des Alexios, Zugang zu einem der Schiffe verschaffte, und die Matrosen mit folgenden Worten auf seine Seite gebracht haben soll: Die Stadt ist eingenommen, wie ihr seht. Der frühere megas domestikos [scil. Alexios Komnenos] ist jetzt zum Kaiser (basileus) ausgerufen; und ihr seht die Bewaffneten und hört die Akklamation; für einen anderen wird kein Platz mehr sein im Kaiserpalast. [Nikephoros III., Anm.] Botaneiates ist ja schön und gut, aber die Komnenen sind um vieles besser. Sein Heer ist zahlreich, aber vielfach überlegen ist das unsere. Ihr solltet also nicht euer eigenes Leben, eure Frauen und Kinder mutwillig preisgeben; ihr könnt doch die Stadt überblicken, ihr seht, dass das gesamte Heer in sie eingedrungen ist und ihr seht die Fahnen, ihr hört den brausenden Ruf der Akklamation und dass der ehemalige megas domestikos sich jetzt als basileus dem Kaiserpalast nähert und bereits umgürtet ist mit dem Amt des autokratōrs202. Übersetzung: Anna Komnene, Alexias, 2., um ein Vorwort ergänzte Auflage, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Diether R. Reinsch, Berlin/New York 2001, S. 88. 200 Zum Ort s. oben S. 62 mit Anm. 111. 201 Anna Komnene, Alexias 2.7.7 (S. 75, 12–22 Reinsch/Kambylis). Für den griech. Text s. Appendix, P 22. Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 91–92. Vgl. Chalandon, Les Comnènes, I S. 46. 202 Anna Komnene, Alexias 2.11.3 (S. 82, Z. 40–83, 50 Reinsch/Kambylis): ἡ πόλις, ὡς ὁρᾶτε, ἑάλω. ὁ ποτὲ μέγας δομέστικος νῦν βασιλεὺς ἀνηγόρευται· καὶ τοὺς ὁπλοφόρους ὁρᾶτε καὶ τῆς εὐφημίας ἀκούετε· καὶ οὐκέτι χώραν ἕτερος ἐν τοῖς βασιλείοις ἕξει. καλὸς μὲν οὖν ὁ Βοτανειάτης, ἀλλὰ καὶ οἱ
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Sein Aufruf war von Erfolg gekrönt. Der Befehlshaber des Schiffes wurde gefangengenommen und Georgios übernahm das Kommando: Und sogleich stimmte Palaiologos die Akklamation an, und die Ruderer fielen ein … und so fuhr er dorthin, wo sich die Flotte befand und sorgte dafür, dass jetzt das gesamte Schiffsvolk in die Akklamation einstimmte … Nachdem er von dort zusammen mit der Flotte ausgelaufen war, gelangte er zur Akropolis [im Bereich der Serail-Spitze], und ließ laut akklamieren203.
Georgios’ Initiative stieß jedoch nicht überall auf Gegenliebe: Und als dann Georgios Palaiologos mit der Flotte ankam und mit der Akklamation begann, da beugten sich die Leute von der Komnenenpartei oben über die Brüstungen und versuchten, sie zum Schweigen zu bringen: Sie sollten nicht Eirene mit Alexios zusammen in der Akklamation nennen und sie gemeinsam hochleben lassen. Er aber wurde wütend und rief ihnen von unten zu: „Nicht für euch habe ich diesen großen Kampf auf mich genommen, sondern eben für die von euch genannte Eirene.“ Und gleichzeitig befahl er auch den Matrosen, Eirene zusammen mit Alexios hochleben zu lassen. Diese Vorfälle erfüllten die Dukas mit großer Unruhe204.
Annas Schilderungen können paradigmatisch für die verschiedenen Aspekte der Akklamation herangezogen werden, zu denen es im Rahmen der Proklamation eines Usurpators kommen konnte. Je nach Verlaufsstadium, räumlichen Bedingungen und Publikum konnten die simplen Formeln höchst unterschiedliche Funktionen erfüllen: a) Die Akklamation durch Mitverschwörer Zunächst geht es um die Huldigung im intimsten Kreise der Verschwörer während der Zeremonie der Ausrufung. Wie bereits erwähnt, manifestierte sich hier erstmals akustisch die Wandlung des Privatmannes zum Kaiser. Gleichzeitig band die AkklamaΚομνηνοὶ πολλῷ κρείττονες· πολλὴ ἡ τοῦ Βοτανειάτου στρατιά, ἀλλὰ πολλαπλάσιος ἡ ἡμετέρα. οὐ χρὴ τοιγαροῦν τὴν σφῶν αὐτῶν ζωὴν τάς τε γυναῖκας καὶ τοὺς παῖδας προδοῦναι, ἀλλὰ δεῖ τὴν πόλιν περιαθρήσαντας καὶ τὸ ὁπλιτικὸν ἅπαν ἐντὸς αὐτῆς θεασαμένους τάς τε σημαίας καὶ τὴν εὐφημίαν λαμπρὰν γινομένην ἀκούοντας τόν τε ποτὲ μέγαν δομέστικον νῦν βασιλέα τοῖς βασιλείοις πελάζοντα καὶ τὴν αὐτοκράτορα ἀρχὴν ἤδη περιζωννύμενον. Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 99–100. 203 Anna Komnene, Alexias 2.11.4–5 (S. 83, Z. 54–63 Reinsch/Kambylis): εὐθὺς οὖν τῆς εὐφημίας ὁ Παλαιολόγος ἐξῆρχε καὶ σὺν αὐτῷ οἱ ἐρέται … καὶ οὕτω προσορμίζει, ὅπου ὁ στόλος, καὶ πάνδημον ἐποιεῖτο ἤδη τὴν εὐφημίαν … ἀποπλεύσας οὖν ἐκεῖθεν συνάμα τῷ στόλῳ καταλαμβάνει τὴν ἀκρόπολιν τὴν εὐφημίαν λαμπρὰν ποιούμενος. Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 100. 204 Anna Komnene, Alexias 3.2.1 (S. 89, Z. 78–85 Reinsch/Kambylis): ἐπεὶ δὲ καὶ ὁ Παλαιολόγος Γεώργιος μετὰ τοῦ στόλου φθάσας τῆς εὐφημίας ἐξῆρχεν, οἱ περὶ τοὺς Κομνηνοὺς προκύπτοντες ἄνωθεν κατεσίγαζον, μὴ τὴν Εἰρήνην τῷ Ἀλεξίῳ κἀν τῇ εὐφημίᾳ συνάψαντας κοινῶς εὐφημεῖν. ὅ δ’ ἐμβριμησάμενος κάτωθεν αὐτοῖς φησίν· „οὐ δι’ ὑμᾶς τὸν τοσοῦτον ἀγῶνα ἀνεδησάμην αὐτός, ἀλλὰ δι’ἣν φατὲ Εἰρήνην“. ἅμα δὲ καὶ τοῖς ναυτικοῖς παρεκελεύετο Εἰρήνην σὺν τῷ Ἀλεξίῳ ἀνευφημεῖν. ταῦτα ταῖς μὲν ψυχαῖς τῶν Δουκῶν πολὺν ἐνέβαλε θόρυβον. Übersetzung Reinsch, Alexias, S. 108– 109.
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tion bislang unentschlossene Anwesende an das Vorhaben des Usurpators. Annas Beschreibung der Ausrufung impliziert, dass es unter den Versammelten durchaus noch Leute gab, welche Alexios’ Eignung in Frage stellten und in der Tat wäre ja auch dessen Bruder Isaakios zur Wahl gestanden, bis dieser selbst Alexios vorschlug. Der Erfolg des gesamten Unternehmens hing jedoch zu einem Gutteil von der Unterstützung des Hauses Dukas ab und es ist gut möglich, dass die anderen Unterstützer deren Placet abwarteten, bevor sie die Proklamation des Alexios guthießen205. Bei der geschilderten Spontaneität mag Anna Komnene übertrieben haben, zumal sie selbst schreibt, dass der Ausrufung ihres Vaters intensive Verhandlungen innerhalb der Bewegung vorangegangen waren. Die Passage zeigt dennoch, dass die Akklamation nicht nur den Kandidaten in den Mittelpunkt rückte, sondern auch seinen engsten Unterstützern die Möglichkeit gab, sich in den Vordergrund zu spielen, indem sie die Huldigungen anführten. b) Die Akklamation durch Städte Alexios soll bereits vor seiner ordentlichen Proklamation Huldigungen thrakischer Städte entgegengenommen haben, die seinen Putsch unterstützten. Einzig Adrianopel habe sich geweigert, vermutlich weil man dem Komnenen noch wegen seines Sieges gegen den aus dieser Stadt stammenden Nikephoros Bryennios feindlich gesinnt war. Für Usurpatoren, die ihre Unternehmung außerhalb Konstantinopels starteten, war eine der Grundbedingungen für einen erfolgreichen Verlauf, dass sich ihnen möglichst viele Siedlungen anschlossen. Nikephoros Bryennios, von dem gleich noch ausführlicher zu sprechen sein wird, wurde 1077 auf seinem Marsch durch Thrakien von allen Städten zwischen Traianupolis und Adrianopel akklamiert206. Häufig wird sich der Thronprätendent mit Sympathiebekundungen zufriedengegeben haben, doch ermöglichte die Kooperation – ob freiwillig oder nicht – Zugang zu Märkten und weitere Rekrutierungen. Über das Ritual der Akklamation konnten Siedlungen auch ganz bewusst Farbe bekennen und sich zu ihrem Favoriten bekennen. Nicht ohne Grund ließ Kaiserin Eudokia reichsweit verbieten, dass Städte den gestürzten Romanos IV. Diogenes mit kaiserlichen Ehren aufnahmen (1071/72)207. Wie genau die Städte ihre Huldigungen artikulierten, ist nur selten überliefert. In vielen Fällen wird der Thronprätendent über den Anschluss einer Siedlung nur mündlich oder schriftlich verständigt worden sein. Nahm die Stadt jedoch eine Schlüsselrol205 Zur Rolle der Dukas vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 359. 206 Attaleiates S. 203, Z. 21–23 (Tsolakes): Πᾶσα δὲ πόλις ἐπερχόμενον αὐτὸν ἐν ὑψηλῷ καὶ θείῳ βραχιόνι ἀσπασίως καὶ σὺν πολλῇ τῇ εὐφημίᾳ καὶ τοῖς ἀλαλαγμοῖς ὑπεδέχετο; Bryennios 3.10 (S. 231, 16–18 Gautier): Ἄρας οὖν ἐκεῖθεν ἐπὶ τὴν Ἀδριανούπολιν ἐχώρει καὶ παριόντα τοῦτον αἱ πόλεις καὶ αἱ κῶμαι ἅπασαι ἀνευφήμουν· φθάσαντες δὲ τὴν πόλιν περιχαρῶς οἱ τῆς πόλεως ὑπεδέχοντο ἅπαντες. 207 Attaleiates S. 130, Z. 10–13 (Tsolakes): διεπέμψατο δὲ καὶ δόγματα πρὸς πάσας τὰς ἐπαρχίας μὴ ὅλως δέξασθαι καὶ ἀπαντῆσαι τῷ Διογένῃ διαταττόμενα καὶ τὴν βασιλικὴν τούτῳ προσκύνησιν προσενεγκεῖν καὶ τιμήν.
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le ein, konnten regelrechte Adventus-Zeremonien inszeniert werden208. Nikephoros Bryennios wurde beispielsweise nach seiner Proklamation in seiner Geburtsstadt Adrianopel ein pompöser Empfang bereitet: Als Bryennios dabei war, feierlich in Adrianopel einzuziehen, besetzte fast die ganze Stadtbevölkerung das Gebiet vor der Stadt. Die Menge war auf dem Feld wie eine Herde verteilt und wartete auf sein Vorrücken. Als seine Standarten sichtbar wurden und seine Schlachtreihen näher rückten und seinen bedeutsamen Besuch ankündigten und Hörnerklang aus allen Richtungen auf etwas Beeindruckendes und Wunderbares hinwies, erschien jener mit den kaiserlichen Insignien, umgeben von einer gewaltigen Leibwache. Die Stadtbewohner, die herausgekommen waren, um sich das anzusehen, stellten sich in Reihen auf und die Soldaten hielten ihre Schilde vor den Körper und streckten gleichzeitig die Spitzen ihrer Waffen empor. Hörner und Trompeten erschallten und das Spektakel der Akklamation wurde von jedem aufgenommen. Die meisten hielten seine Ankunft für die eines sehr großen und mächtigen Kaisers und auch er selbst wähnte sich höher als Worte beschreiben können. Voller Hoffnungen und Stolz zog er in seine Heimatstadt ein209.
Auf ähnliche Weise wurde der kouropalatēs und doux des Antatolikon, Nikephoros (III.) Botaneiates in Nikaia empfangen, nachdem er in seiner phrygischen Heimat die kaiserlichen Insignien angelegt hatte: Als der Kaiser nach Nikaia vorrückte, präsentierten sich ihm ein gut eingestimmter Chor mit Einheimischen und eine überaus feierliche Geräuschkulisse durch Akklamationen. Alle beteiligten sich am Freudenfest und den Dankesbezeugungen und verkündeten so Zeichen ihrer Erlösung. Selbst die Gegner waren davon überrascht210.
Ähnlich überliefert Nikephoros Bryennios das Ereignis, betont aber die Spontaneität der Akklamationen, mit der Botaneiates nicht gerechnet habe. Im Gegenteil habe er gefürchtet, dass die in Reih und Glied vor der Stadt Aufstellung bezogenen Menschen208 Vgl. hierzu Kapitel 4.1.1. 209 Attaleiates S. 190, Z. 19–191, Z. 3 (Tsolakes): Ἐν δὲ τῷ μέλλειν εἰσελάσαι τὸν Βρυέννιον εἰς Ἀδριανούπολιν πᾶσα σχεδὸν ἡ πόλις τὴν προεκκειμένην περίχωρον κατελάμβανε, καὶ ἦν τὸ πλῆθος ἀγεληδὸν διακεχυμένον εἰς τὸ πεδίον, τὴν πρόοδον αὐτοῦ ἐκδεχόμενον. Ὡς δ’ ἀνεφάνησαν τὰ σημεῖα καὶ προσεχώρουν αἱ παρατάξεις αὐτοῦ, βαρεῖαν ἀπαγγέλλουσαι τὴν αὐτοῦ ἐπιφοίτησιν, καὶ τὰ κέρατα πανταχόθεν φοβερόν τι καὶ καταπληκτικὸν ἐπεσήμαινον, κἀκεῖνος ἐν παρασήμοις παρὰ πλείστων δορυφορούμενος κατελάμβανε, διατάξαντες ⟨δὲ⟩ ἑαυτοὺς στοιχηδὸν οἱ πρὸς θέαν ἐξιόντες πολῖται, οἵ τε στρατιῶται τὰς ἀσπίδας προτείνοντες καὶ τὰς αἰχμὰς τῶν ὅπλων ἐπισυναίροντες, ἠχή τε τῶν βυκίνων καὶ τῶν σαλπίγγων ἐγίνετο καὶ τὸ τῆς εὐφημίας ἤρθη παρὰ πάντων περίοπτον, ἔδοξαν οἱ πλείους τὴν παρουσίαν αὐτοῦ βασιλέως μεγίστου καὶ δυνατωτάτου καθίστασθαι· κἀκεῖνος ὑπεράνω παντὸς λόγου ἑαυτὸν λογισάμενος, μεστὸς ἐλπίδων καὶ αὐχήματος εἰς τὴν ἐνεγκαμένην αὐτὸν εἰσελήλυθε πόλιν; vgl. Bryennios 3.10 (S. 231–232 Gautier). 210 Attaleiates S. 204, Z. 13–18 (Tsolakes): Τῇ δὲ Νικαίᾳ τῷ βασιλεῖ προσεγγίσαντι χορεία τις ἐναρμόνιος τοῖς ἐγχωρίοις συνέστη καὶ κρότος εὐφημίαις ὑπέρσεμνος, πάντων χαρμόσυνα θυόντων καὶ χαριστήρια καὶ τῆς σωτηρίας προκηρυττόντων τὰ σύμβολα, ὡς καὶ αὐτοὺς ἐκπλαγῆναι τοὺς πολεμίους …
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massen seinem noch bescheidenen Rebellenheer eine Schlacht liefern wollten. Erst als sie ihm einstimmig akklamierten, sei er beruhigt gewesen und in die Stadt eingezogen211. Die geschilderten Zeremonien stellen ohne Zweifel die aufwendigste Form der Akklamation dar. Der feierliche Empfang durch Vertreter der Stadt und Soldaten vor den Toren der Stadt war eine der aussagekräftigsten Artikulationen des Konsenses. Der Usurpator wurde hierbei freilich in seiner bereits eingenommenen Rolle als legitimer Kaiser empfangen und als solchem stand ihm nun im urbanen Raum die Möglichkeiten offen, weitere kaiserliche Verhaltensformen zu imitieren und zu arrogieren. Bryennios ließ beispielsweise auf seinen Einzug einen Dankgottesdienst in der Kirche der Theotokos folgen und hielt danach Rat mit seinen wichtigsten militärischen und zivilen Unterstützern und machte so die Imitation eines kaiserlichen Adventus in Konstantinopel perfekt212. Botaneiates verteilte Beförderungen an seine Anhänger und Geschenke an die Bewohner der Stadt und gewährte seldschukischen Diplomaten Audienz213. c) Die Akklamation als Werbung Anna Komnene erwähnt eine Welle von Akklamationen, als die Truppen ihres Vaters gewaltsam in Konstantinopel eindrangen. Bezeichnenderweise wurde Alexios nicht von der Stadtbevölkerung gehuldigt, sondern weiterhin von seinen eigenen Anhängern, allen voran Georgios Palaiologos. Die Loyalitätsbekundungen dienten hier in erster Linie dazu, die Botschaft vom Umsturz möglichst rasch zu verbreiten und durch die akustische Inbesitznahme des Raumes eventuellen Widerstand bereits im Vorhinein zu brechen. Georgios Palaiologos brachte mithilfe der überall hörbaren Akklamationen die Matrosen auf seine Seite und benutzte diese umgehend dazu, die Huldigungsrufe zur Flotte und danach in weitere Stadtteile zu tragen. In ähnlicher Weise hatte bereits Leon Tornikios im Jahre 1047 versucht, durch Truppenparaden und Akklamationen vor den Mauern Konstantinopels die Stimmung innerhalb der Stadt zu seinem Vorteil kippen zu lassen214. Kurz vor der Usurpation des Alexios hatte auch Ioannes Bryennios, der Bruder des Usurpators Nikephoros, einen Aufstand in
211 Bryennios 3.17 (S. 241–243 Gautier). 212 Bryennios 3.10 (S. 231, Z. 18–23 Gautier): φθάσαντες δὲ τὴν πόλιν περιχαρῶς οἱ τῆς πόλεως ὑπεδέχοντο ἅπαντες. Ὁ δὲ ἐπὶ τὸν βαὸν φοιτήσας τῆς Θεομήτορος καὶ τῇ μητρὶ τοῦ Θεοῦ τὰ χαριστήρια θύσας οἲκαδε ἐπανέζευξε καὶ περὶ τῶν ἑξῆς ἐβουλεύετο καὶ στρατηγοὺς καὶ ἄρχοντας ἅπαντας εἰς ἐκκλησίαν ἐκάλει καὶ βουλὴν προὐτίθει εἰ δέον ἐστὶν ἀποπειρᾶσθαι τῶν τῆς μεγαλοπόλεως. Vgl. Kapitel 4.1.1. 213 Attaleiates S. 204 (Tsolakes). 214 Psellos, Chron. 6.107–109 (S. 153–155 Reinsch); Attaleiates S. 22, Z. 9–12 (Tsolakes): Καὶ ὁ μὲν τῷ τοιούτῳ προτερήματι κορεσθεὶς λαμπρῶς εἰς τὴν οἰκείαν παρεμβολὴν ἐπανέζευξε, φιλανθρώποις συναντήσεσι καὶ προσηγορίαις εὐφημοτάταις καὶ παιανισμοῖς παρὰ τῶν ἀμφ’ αὐτὸν ἀπαντώμενος. Siehe hierzu auch unten, S. 167–168 und 303.
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der Hauptstadt auszulösen gesucht, indem er seine Truppen gegenüber vom Blachernenviertel gut sichtbar Stellung beziehen und seinem Bruder akklamieren ließ: Er marschierte in Reih und Glied, sodass er für den Kaiser und die übrigen Stadtbewohner klar und deutlich sichtbar war. Dann ehrte er seinen Bruder durch Akklamationen, die von den einzelnen Abteilungen nacheinander vorgetragenen wurden215.
In beiden Fällen reichte die Suggestivkraft nicht aus; Bevölkerung und Garde blieben dem jeweiligen Kaiser gegenüber loyal. Auch im Falle der Usurpation durch Alexios (I.) Komnenos wäre die Werbeoffensive durch Akklamationen vielleicht fruchtlos geblieben, doch war es ihm im Gegensatz zu vielen anderen Usurpatoren gelungen, sich und seinen Truppen Zutritt zur Stadt zu verschaffen. Als komplementäre Elemente ebnete die militärische Präsenz also den Weg für die Akklamationen, die wiederum die prinzipielle Bereitschaft zu bewaffnetem Widerstand reduzierten. Akklamationen boten darüber hinaus auch die Möglichkeit, dem siegreichen Usurpator Wohlwollen zu signalisieren und Partei zu ergreifen. Von Basileios Lakapenos beispielsweise wird berichtet, dass er sogar sein Krankenbett verlassen habe, um sich nach dem Putsch des Ioannes Tzimiskes im Dezember 969 dem Jubelzug anzuschließen. Der neue Kaiser vergalt ihm die Unterstützung mit der Beförderung zum parakoimomenos216. d) Die Akklamation als programmatische Botschaft In Annas Bericht ist zudem eine vierte Funktion von Akklamationen erkennbar, nämlich die Vermittlung programmatischer Botschaften und Forderungen. Häufig begegnet dieser Aspekt der Huldigung bereits im Anfangsstadium von Usurpationen, wo Herrschaftsansprüche durch bewusste Veränderung der Reihenfolge artikuliert wurden217. Im hier analysierten Fallbeispiel des Coups von Alexios (I.) Komnenos soll Georgios Palaiologos die Gelegenheit genutzt haben, um die Dukas in die Akklamation mitaufzunehmen und somit auch deren Anspruch auf den Thron auszudrücken. Angesichts der Nähe des Georgios zum Haus Dukas – er war mit Alexios’ Schwägerin Anna Dukaina verheiratet218 – und der offenbar herrschenden Skepsis, dass diese von den Komnenen tatsächlich in gebührender Art und Weise an der Herrschaft beteiligt werden würden, ist Georgios’ Verhalten durchaus nachvollziehbar.
215 Attaleiates S. 193, Z. 18–22 (Tsolakes): καὶ θέμενος ἐν τοῖς τοῦ Στενοῦ μέρεσι τὴν παρεμβολὴν παρῆλθεν συντεταγμένος ὡς τῷ βασιλεῖ καὶ τοῖς λοιποῖς πολίταις ἐκ τοῦ προφανοῦς διοπτικώτερον φανησόμενος, καὶ τὸν αὐτάδελφον εὐφημίαις κατὰ διαδοχὴν ἑκάστου λόχου ἐτίμησεν; vgl. Bryennios 3.12 (S. 233–235 Gautier). 216 Leon Diak. 6.1 (S. 945 Hase). 217 Vgl. hierzu auch Kapitel 2.1.2. 218 Basile Skoulatos, Les personnages byzantins de l’Alexiade. Analyse prosopographique et synthèse (Recueil de travaux d’histoire et de philologie 6), Louvain 1980, S. 99–105 (Nr. 69).
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Die Textstelle wirft aber gleichzeitig einmal mehr das Problem der Überlieferung ritualisierter Handlungen in historischen Texten auf219. Es ist uns gänzlich unmöglich zu entscheiden, ob sich die Episode tatsächlich so abgespielt hat, oder ob es sich um eine Erfindung Annas handelt, um ihre eigenen narrativen Strategien zu verfolgen. Die Alexias diente der Glorifizierung Annas Vater, jedoch auch – und fast noch mehr – jener der Familie Dukas, aus der die Mutter der Geschichtsschreiberin stammte. Die bewusste Überlieferung der Akklamationen, bei denen die Dukas zunächst die entscheidende Rolle einnehmen und in denen sich danach der schwelende Konflikt der Allianz der beiden mächtigen Familien manifestierte, könnte Anna auch einfach zur Erinnerung an die entscheidende Rolle der Dukas gedient haben. In jedem Fall ist klar, dass Akklamationen einer der deutlichsten Gradmesser für die Beteiligung einer Person an der Herrschaft waren. Romanos (I.) Lakapenos (920– 944) oder Andronikos (I.) Komnenos (1183–1185) etwa artikulierten ihre Machtübernahme zuallererst durch die Veränderung der Akklamationsreihenfolge220. Wie die Formeln bisweilen auch als Stimmungsbarometer eingesetzt wurden, wurde bereits weiter oben ausgeführt221. Umgekehrt versuchten manche Usurpatoren ihre anfangs prekäre Position gerade dadurch zu festigen, indem sie andere Personen in ihre Akklamationen aufnahmen. So ließ sich Ioannes (I.) Tzimiskes (969–976) nur gemeinsam mit den minderjährigen basileis Basileios II. und Konstantinos VIII. akklamieren222. Einzigartig ist der Fall von Konstantinos X. Dukas (1059–1067), der in einer Verlautbarung (epanagnōstikon, ἐπαναγνωστικόν) an die Themengouverneure bezüglich seines Amtsantrittes betont, dass sein Vorgänger Isaakios I. Komnenos mit der Nachfolge einverstanden gewesen sei. Weiters verfügte der neue Kaiser, dass nicht nur ihm akklamiert werden solle, sondern auch Isaakios’ Witwe, Aikaterine – und das an erster Stelle223: Die Akklamation ist folgendermaßen zu leisten: „Der großen basilissa und autokratorissa Aikaterine viele Jahre und dem großen basileus und autokratōr Konstantinos viele Jahre!“
Eine reale Beteiligung an der Macht, geschweige denn einen rangmäßigen Vorrang, hatte Konstantinos dabei gewiss nicht im Sinn, aber angesichts der zweifelhaften Umstände seiner Herrschaftsübernahme224 konnte eine formale Einbindung Aikaterines
219 Grundlegend zur Gefahr einer allzu positivistischen Lesart: Buc, Dangers of ritual, besonders S. 79, S. 248–256, S. 261. 220 S. oben S. 46–49, S. 318–319. 221 S. oben S. 46–52. 222 Leon Diak. 6.1 (S. 93–94 Hase). 223 Paul Gautier, Basilikoi logoi inédits de Michel Psellos, in: Siculorum Gymnasium 33/2, 1980, S. 763 (Nr. 11): … καὶ οὕτω τὴν εὐφημίαν ποιήσασθαι· „Αἰκατερίνης μεγάλης βασιλίσσης καὶ αὐτοκρατορίσσης Ῥωμαίων πολλὰ τὰ ἔτη καὶ Κωνσταντίνου μεγάλου βασιλέως καὶ αὐτοκράτορος Ῥωμαίων τοῦ Δούκα πολλὰ τὰ ἔτη“. 224 S. Appendix P 13.
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nicht schaden. Die Verlautbarung ist auch insofern von großem Interesse, als es sich hierbei um einen raren Einblick handelt, wie die Ernennung eines neuen Kaisers bis in die Provinzen kommuniziert wurde. Der Wert des Wortes Es wäre naiv anzunehmen, dass ein ritualisierter Ausdruck des Konsenses die Loyalität der akklamierenden Untertanen garantieren hätte können. Die Aufrichtigkeit von Huldigungen ist schon insofern zu hinterfragen, als sie manchmal nur aus Opportunismus oder unter Zwang erfolgten225. Traianupolis beispielsweise hatte vor dem Heer des Nikephoros Bryennios die Tore verschlossen. Eines Nachts schlich sich der Sohn des Usurpators mit wenigen Truppen in die Stadt und zwang die Wachsoldaten mit Waffengewalt dazu, dem Bryennios von der Mauerkrone aus zu akklamieren. Einige stürzten sich lieber in den Tod, während die anderen mit zitternder Stimme dem Befehl nachkamen. Das Signal verfehlte seine Wirkung nicht: Als die Bewohner der Stadt erkannten, dass keine Hoffnung mehr auf Rettung bestand, riefen sie Nikephoros Bryennios vor den Augen seines Sohnes und der bereits eingedrungenen Truppen als Kaiser aus. Sofort wurde den nachdrängenden Soldaten Einhalt geboten; stattdessen sollten sie von draußen in die Akklamationen der Stadtbewohner einstimmen226. Die Stadt Rhaidestos, so Michael Attaleiates, der dort über Grund verfügte und Einblick in die Lokalpolitik hatte, habe dem Bryennios nur deshalb gehuldigt, weil der lokale Magnat Ioannes Batatzes und besonders seine Ehefrau sich in der Hoffnung auf persönliche Vorteile dafür eingesetzt hätten. Keineswegs sei der Anschluss der Stadt einstimmig erfolgt227. Außer Waffengewalt und persönlicher Parteinahme der Stadtelite konnten auch bloße ökonomische Überlegungen über die Leistung der Akklamation entscheiden, wie die folgende Passage aus dem so genannten Strategikon des Kekaumenos illustriert: Als er [scil. Kekaumenos’ Großvater, der Statthalter von Larissa] aber sah, dass [der Bulgarenzar, Anm.] Samuel völlig die Überhand hatte, da ließ er ihm huldigen und brachte es auf diese Weise wiederum fertig, dass er aussäen und ernten konnte. Er schrieb aber an den Porphyrogennetos, Herrn Basileios: „Ich habe, mein heiliger Herr, gezwungen durch den Tyrannen, den Leuten von Larissa befohlen, ihm zu huldigen. Daraufhin konnten sie
225 Beides führte freilich nicht zwangsläufig zur Ungültigkeit des Rituals. Im Gegenteil sind Zwang und Opportunismus häufig konstitutive Faktoren. Vgl. Philippe Buc, Religion, coercion, and violence in medieval rituals, in: Gerald Schwedler / Eleni Tounta (Hgg.), Ritual and the science of ritual III: State, power, and violence, Wiesbaden 2010, S. 149–162, hier S. 154–157; Koziol, Begging pardon, S. 291–292: „Ritual not only tolerates hypocrisy. It positively invites it by requiring participants to perform actions that they realize are completely out of sync with reality.“ 226 Bryennios 3.9 (S. 229–231 Gautier). 227 Attaleiates S. 191–192 (Tsolakes).
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aussäen und mit Gott ernten. So habe ich, zum Schutze deiner Majestät genug Lebensmittel zusammengebracht, um Larissa vier Jahre zu ernähren. Und siehe: Jetzt sind sie wieder die Knechte deiner Majestät228.
Dass Loyalitätsbekundungen in der Tat nicht immer zu trauen war, musste beispielsweise ein Hochstapler bemerken, der sich 1095 als Sohn des verstorbenen Romanos IV. Diogenes ausgegeben hatte und an der Spitze kumanischer Truppen Landstriche in Thrakien plünderte: Nachdem er in eine Ortschaft eingezogen war, deren Bewohner ihm als Kaiser gehuldigt hatten, wurde er von diesen gefangengenommen und geblendet229. Auch bei den Akklamationen, die Georgios Palaiologos von den Seeleuten der kaiserlichen Flotte erzwungen hatte, wurde wohl kaum davon ausgegangen, dass die ritualisierte Widergabe von Formeln Ausdruck einer tiefgreifenden inneren Veränderung war. Die Frage nach der Aufrichtigkeit von Akklamationen und ihrer Verbindlichkeit zu stellen, heißt daher, deren Zielsetzung falsch einzuschätzen. Vielmehr ging es primär um die kommunikative Außenwirkung. Der eigentliche Adressat der kommunizierten Botschaft war zumeist nicht der angesprochene Usurpator, sondern andere Anwesende in Hörweite. Bei einer Usurpation hatte die öffentlich dargebrachte Akklamation – ob freiwillig oder gezwungenermaßen – das Potential, eine wachsende Zahl an Unterstützern zu suggerieren und somit in einer Art Domino-Effekt weitere Unentschlossene zu überzeugen. Doch selbst im Kreise der engeren Unterstützer diente die Akklamation nicht nur der Anerkennung des Thronprätendenten. Der öffentlich inszenierte Abfall vom regierenden Kaiser führte jedem Anwesenden klar vor Augen, wer sich zur Rebellion bekannte und sorgte für die nötigen horizontalen Bindungen innerhalb der Putschbewegung230.
228 Kekaumenos 169 (Cecaumeno, Raccomandazioni e consigli di un galantuomo [Strategikon]. Testo critico, traduzione e note a cura di Maria Dora Spadaro, Alessandria 1998, S. 202–204): ὁπόταν δὲ εἶδεν αὐτὸν δυναστεύσαντα παντελῶς, εὐφήμισεν αὐτόν, καὶ οὕτως πάλιν αὐτὸν πραγματευσάμενος ἔσπειρε καὶ ἐθέρισεν. ἔγραψεν δὲ καὶ πρὸς τὸν πορφυρογέννητον κῦρ Βασίλειον ὅτι „ἐγώ, δέσποτά μου ἅγιε, ἀναγκασθεὶς παρὰ τοῦ ἀποστάτου προσέταξα τοῖς Λαρισσαίοις καὶ εὐφήμισαν αὐτόν, καὶ ἔσπειραν καὶ ἐθέρισαν σὺν Θεῷ. καὶ διὰ τῆς ἀντιλήψεως τῆς βασιλείας σου συνέβαλα τοὺς καρποὺς ἀρκοῦντας τοῖς Λαρισσαίοις ἐπὶ χρόνοις τέσσαρσι, καὶ ἰδού, πάλιν εἰσὶ τῆς βασιλείας σου δοῦλοι“. Übersetzung: Vademecum des byzantinischen Aristokraten. Das sogenannte Strategikon des Kekaumenos. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Hans-Georg Beck (BGS 5), Graz/Wien et al. 1964, S. 114. 229 Zonaras 18.23 (S. 744 Pinder/Büttner-Wobst); hinter dem Verrat steckte nach Anna Komnene, Alexias 10.4.1–4 (S. 290–292 Reinsch/Kambylis) ein Plan Kaiser Alexios’ I. Bei der Ortschaft dürfte es sich um die Festung Putza gehandelt haben: vgl. Marguerite Mathieu, Les faux Diogènes, in: Byz 22, 1952, S. 133–148, hier S. 135–136. 230 Eine ähnliche Funktion erfüllten Eide, vgl. Kapitel 2.1.1. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion von Ritualen vgl. Dücker, Rituale, S. 29
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2.2.4 Insignien Die Proklamation war in der Regel mit dem Anlegen von Insignien verbunden. Die Durchführung der Zeremonie konnte je nach Ort und Verfügbarkeit von Herrschaftszeichen stark variieren, doch bestand das Ziel stets in der Visualisierung des Herrschaftsanspruches durch demonstrative Verwendung kaiserlicher Symbole231. Während Werke wie das Zeremonienbuch Konstantinos’ VII. und der Traktat des Pseudo-Kodinos bei der Benennung der im kaiserlichen Zeremoniell verwendeten Kleidungsstücke und Insignien eine exakte Terminologie bemühen, geht aus den allgemein gehaltenen Formulierungen der historiographischen Quellen zumeist nicht hervor, welche Herrschaftszeichen von den Usurpatoren verwendet wurden. Sie sprechen wörtlich zumeist von kaiserlichen „Abzeichen“ (parasēma232), „Erkennungszeichen“ (gnōrismata233) oder „Symbolen“ (symbola234). In der Frage nach den wichtigsten Insignien des Kaisertums sind sich die byzantinischen Quellen nicht einig. Das Repertoire umfasst je nach Autor in erster Linie Feldherrnmantel (chlamys) mit Fibel, Schuhe, Diadem bzw. Krone und Thron. Andere Gegenstände, die in bildlichen Kaiserdarstellungen weit verbreitet sind, etwa diverse Szepter- und Labarumformen, Lanze, Schwert, Schild sowie die anexikakia/akakia spielten in den schriftlichen Quellen bestenfalls eine untergeordnete Rolle235. Welche dieser Herrschaftszeichen ein Usurpator zur Schau trug, hing primär von den Umständen des Unternehmens ab. Hatte er bereits zum Zeitpunkt der Proklamation die Kontrolle über den Palast, wie im Falle von Ioannes (I.) Tzimiskes (P 3), Michael (IV.) Paphlagon (P 8) und Konstantinos (X.) Dukas (P 13), so konnte auf genau jene Herrschaftszeichen (Krone, Thron, Kleidung) zurückgegriffen werden, die bereits vom Vorgänger im zeremoniellen Alltag verwendet worden waren. Notwendig
231 Cresci, Appunti, S. 108–112. 232 Skylitzes S. 316, Z. 8–9 (Thurn): διάδημα τε περιβάλλεται καὶ τὰ λοιπὰ τῆς βασιλείας ἀναλαμβάνει παράσημα (P 6); ebenda S. 428, 74–75: αὐτὸς δ’ἑαυτῷ περιθεὶς καὶ τὰ τῆς βασιλείας παράσημα ἀναλαβὼν (P 10); Bryennios 3.8 (S. 227, Z. 9 Gautier): τὰ τῆς βασιλείας παράσημα (P 18); Attaleiates S. 19, Z. 6 (Τsolakes): τοῖς παρασήμοις κοσμηθεὶς (P 11); ebenda S. 146, Z. 12–13: παρασήμοις βασιλικοῖς (P 16); ebenda S. 165, Z. 23–24: τῶν παρασήμων τῆς βασιλείας ἐπενδύσηται τὴν λαμπρότητα (P 17); ebenda S. 189, Z. 28–29: τὰ τῆς βασιλείας παράσημα (P 18); Michaelis Glycae Annales, recognovit Immanuel Bekker (CSHB), Bonn 1836, S. 594: τὰ παράσμα τῆς βασιλείας ἐνδύεται (P 10); Zonaras 17.2 (S. 525, Z. 7–8 Pinder/Büttner-Wobst): ἑαυτῷ περιθέμενος τὰ τῆς βασιλείας παράσημα (P 5); Anna Komnene, Alexias 9.1.2 (S. 258, Z. 21–22 Reinsch/Kambylis): τοῖς προήκουσι βασιλεῦσι χρᾶται παρασήμοις. 233 Skylitzes S. 292, Z. 15–16 (Thurn): διάδημα περιθεὶς ἑαυτῷ καὶ τὰ λοιπὰ τῆς βασιλείας ἀνειληφὼς γνωρίσματα (P 5); ebenda S. 332, Z. 66–67: διάδημά τε περιθέντες αὐτῷ καὶ τὰ λοιπὰ τῆς βασιλείας γνωρίσματα (P 7). 234 Psellos 7.103 (= 7a 11; S. 255, Z. 3–4 Reinsch): οὐδεῖς δὲ τῶν πάντων ἐθάρρει, τοῖς βασιλικοῖς τοῦτον κοσμῆσαι συμβόλοις (P 13); Choniates, Hist. 564, Z. 3 (van Dieten): τοῖς βασιλικοῖς κοσμεῖται συμβόλοις (P 32). 235 Pertusi, Insigne, S. 497–511.
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war dies im byzantinischen Herrschaftsverständnis aber nicht. Schon Sickel bemerkte richtig, dass die byzantinischen Insignien nicht bestimmte Sachen, sondern Sachen bestimmter Art waren: jedes Purpurgewand, jede Krone und jeder Schuh von vorgeschriebener Farbe und Gestalt war brauchbar. Reichsinsignien … hat es im byzantinischen Reiche nicht gegeben. Deshalb konnte auch der Besitz von älteren Insignien keine rechtliche Bedeutung für den Besitz des Imperium erhalten236.
In erster Linie ging es also um die Usurpation kaiserlicher Exklusivrechte auf die Verwendung bestimmter Objektkategorien (Kleidung, Krone, Thron) sowie gewisser Farben, allen voran purpur (bzw. rot). Verstöße gegen das Regalrecht auf Purpur setzt der Codex Iustinianus mit einem Majestätsverbrechen gleich237. Aus dem 10. Jahrhundert liegen Zeugnisse dafür vor, dass die Herstellung, der Verkauf und der Export gewisser Purpurstoffe strengen Gesetzen und Verboten unterlag238. Die Farbe war nicht nur wegen ihrer Exklusivität und ihres materiellen Wertes für die Selbstinszenierung des Kaisers unverzichtbar, sondern auch aufgrund ihrer visuellen Vorzüge, denn selbst in einer größeren Menschenmenge müssen die intensiven Rot- und Violetttöne die Identifizierung des Kaisers gewährleistet haben239. Auf symbolischer Ebene interpretieren zeitgenössische Quellen die Farbe als Anspielung auf Blut oder Feuer, wobei in beiden Fällen das Bild des Kaisers als Richter evoziert wird, der je nach Anlass über Leben und Tod, Aufbau und Zerstörung entscheidet240. Das Fehlen konkreter Herrschaftszeichen ermöglichte es Usurpatoren, sich an beliebigen Orten unter Zuhilfenahme mehr oder minder prächtiger Insignien proklamie236 Sickel, Krönungsrecht, S. 554 (Anm. 96); vgl. Tounta, Usurpation, S. 465–466. 237 Cod. Iust. 11.9.4; vgl. Bréhier, Institutions, S. 60–61; Carile, Insegne, S. 84–88; zum Purpur in Byzanz allgemein: Idem, Produzione e usi della porpora nell’impero bizantino, in: Oddone Longo (Hg.), La porpora. Realtà e immaginario di un colore simbolico. Convegno interdisciplinare di studio dell’istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, Venezia 24–25 ottobre 1996, Venezia 1998, S. 235–260. 238 Leonis Sapientis librum Praefecti. Das Eparchenbuch Leons des Weisen. Einführung, Edition, Übersetzung und Indices Johannes Koder (CFHB 33), Wien 1991, 8.1, 8.2, 8.4 (S. 102–104 Koder); Liutprand, Legatio, 54–55 (S. 211–212 Chiesa). 239 McCormick, Imperial ceremonies, S. 19; Treitinger, Kaiseridee, S. 60–63. 240 Feuer: Theophylaktos, Werke 4, (S. 209, 21–24 Gautier) (aus einer Rede an Konstantinos Dukas, Sohn Kaiser Michaels VII.): οἶδα γάρ, ὦ κάλλιστε βασιλεῦ, ὅτι τὰ κόκκινά σοι ὑποδήματα καὶ ἐνδύματα τοῦ πυρός εἰσι σύμβολα· τοῦ δὲ πυρὸς διπλῆ τις ἡ δύναμις φωτιστική τε καὶ καυστική, ὅπερ ἐστὶν εἰπεῖν, εὐεργετική τε καὶ τιμωρητική. Blut: Eustathios S. 50, Z. 28–29 (Kyriakides): κατεμπρήσας τὸ πᾶν, ἀντιφόρησις δὲ ἐρυθροῦ, αἰνιττομένη ὅσων κεφαλῶν καταψηφιεῖσθαι [scil. Andronikos I.] μέλλει αἵματα; Cassiodor, Variae 1.2.2 (Cassiodori Senatoris Variae, recensuit Theodor Mommsen (MGH Auct. Ant. 12), Berlin 1894, S. 11, 14–16): Color nimio lepore vernans, obscuritas rubens, nigredo sanguinea regnantem discernit, dominum conspicuum facit et praestat humano generi, ne de aspectu principis possit errari; vgl Corippus, In laudem 2.111–112 (Flavius Cresconius Corippus, In laudem Iustini Augusti minoris libri 4. Edited, with translation and commentary by Averil Cameron, London 1976, S. 51): Augustis solis hoc cultu conpetit uti, sub quorum est pedibus regum cruor.
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ren zu lassen241. Je nach Umstand variierte der Aufwand, mit dem man die Imitation betrieb: Isaakios (II.) Angelos (P 25) und Ioannes Komnenos Axuchos (P 29) verwendeten die in der Hagia Sophia aufgehängten Votivkronen für improvisierte Krönungen242. Alexios (III.) Angelos (P 27) nutzte im Heerlager von Kypsella einen Jagdausflug seines Bruders Isaakios II., um gemeinsam mit seinen Mitverschwörern dessen Zelt zu besetzen. Noch vor der Proklamation ließ er nach der Krone und kaiserlichen Gewändern suchen, die Isaakios mitgeführt hatte243. Eine adäquate Ausstattung ließ sich aber auch abseits des kaiserlichen Fundus auftreiben: Als Romanos IV. Diogenes in türkischer Tracht aus seldschukischer Haft entlassen wurde, besorgte er sich in Theodosiupolis kaiserliche Insignien, bevor er den Kampf um seinen verlorenen Thron aufnahm244. Nur selten sind die Herrschaftszeichen von Usurpatoren so detailliert überliefert wie im Fall des Nikephoros Bryennios (P 18), der sich über Monate nicht zum Putsch durchringen konnte. Diese Zeit ließ sein Bruder Ioannes nicht ungenützt verstreichen und organisierte Insignien für die Proklamation, darunter nicht nur rote Schuhe und purpurfarbene chlamys, sondern sogar einen roten Pferdewagen245. Sein Pferd hatte Nikephoros mit purpurnen Satteldecken und goldverziertem Zaumzeug schmücken lassen246. Seine Leibwache war zudem mit rhomphaiai bewaffnet, „wie man sie neben den Kaisern zu tragen pflegt“, so der Enkel des verhinderten Usurpators. Unter den erwähnten rhomphaiai sind höchstwahrscheinlich einschneidige Langäxte jener skandinavischer Palastgardisten zu verstehen, aus denen sich das berühmte Warägerkorps entwickelte247. Je länger der Erfolgslauf eines Usurpators anhielt, desto näher konnte sich seine Herrschaftsrepräsentation an jene des Kaisers annähern. Ein gutes Beispiel hierfür ist Isaakios (I.) Komnenos, dessen Kleidung und Gebaren beim
241 Zur Improvisation bei Proklamationen von Usurpatoren in der Spätantike s. Szidat, Usurpator, S. 247–248. 242 Vgl. Kapitel 4.1.2.2 243 Choniates, Hist. S. 451–452 und S. 454 (van Dieten). 244 Attaleiates S. 128–129, Z. 21–27 (Tsolakes): ὁ δὲ βασιλεὺς κατηντηκὼς εἰς Θεοδοσιούπολιν μετὰ τουρκικῆς τῆς στολῆς καὶ ὑποδεχθεὶς φιλοτίμως, ἡμέρας τινὰς ἐκεῖσε διεκαρτέρησε θεραπευόμενος μὲν τὴν χεῖρα, συνδιαναπαύων δὲ καὶ τὸ ἄλλο σῶμα καὶ ἀνακτώμενος, ῥωμαϊκήν τε σκευὴν ἄρτι καινίζων, καὶ τὴν ἄλλην ἐκεῖσε κατασκευάζων ἐπίτευξιν διὰ τὸ μέλλειν εἰς τὰ πρόσω τῆς Ῥωμαίων χωρεῖν. 245 Attaleiates S. 189–190 (Tsolakes); Bryennios 3.10 (S. 231 Gautier). 246 Bryennios 4.9 (S. 273, 22–25 Gautier): Ἀλέξιος … τῶν ἱπποκόμων ἕνα τοῦ Βρυεννίου καταβαλὸν ἐκείνου τῇ ἀλουργῷ έφεστρίδι καὶ τοῖς χρυσοῖς φαλάροις κοσμούμενον , ἔτι δὲ καὶ τὰς ἔθους τοῖς βασιλεῦσι παρεπομένας ῥομφαίας. Die Stelle findet sich leicht abgewandelt auch in Anna Komnene, Alexias 1.5.7 (S. 23 Reinsch/Kambylis). Zum kaiserlichen Zaumzeug vgl. De exped. 124 (Haldon); Elisabteh Piltz, Middle Byzantine court costume, in: Henry Maguire (Hg.), Byzantine court culture from 829 to 1204, Washington, D. C. 1997, S. 39–51, hier S. 43–44. 247 Zur Entwicklung der Warägergarde allgemein s. jetzt Roland Scheel, Skandinavien und Byzanz. Bedingungen und Konsequenzen mittelalterlicher Kulturbeziehungen, 2 Teilbände (Historische Semantik 23), Göttingen 2015, hier Band I, S. 118–124 (Diskussion der rhomphaia).
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Empfang von Gesandtschaften in seinem Lager sich überaus eng ans offizielle Zeremoniell anlehnte248. Werden im Kontext von Usurpationen konkrete Herrschaftszeichen erwähnt, so handelt es sich in der Regel um diverse Kronentypen, purpurfarbene Schuhe und prunkvolle Gewandung. Diese symbolisch aufgeladenen Kleidungsstücke sind im Folgenden im Detail zu behandeln. 2.2.4.1 Kronen Einige Usurpatoren sollen im Rahmen ihrer Proklamation auch eine Art Krone (diadēma, tainia) erhalten haben oder zumindest in weiterer Folge eine solche getragen haben249. Wie bereits erwähnt war im Byzantinischen Reich nicht eine bestimmte Krone mit der Herrschaft verbunden, sondern gewisse Kronentypen. Unter den makedonischen Kaisern trug der Hauptkaiser ein goldenes Ringdiadem, besetzt mit Perlen und einem zentralen Stirnjuwel (Abb. 1). Darunter wurde bisweilen eine meist purpurfarbene Kronhaube getragen. Unter Alexios I. Komnenos (1081–1118) wich dieser Typus dem so genannten kamēlaukion, einer geschlossenen, kuppelförmigen Kronenform mit seitlichen Pendilien (Abb. 2)250. Genauere Aussagen über die Gestalt der von den Usurpatoren verwendeten Kronen sind schwierig. Unter der tainia (ταινία) ist im Untersuchungszeitraum tendenziell eine kleinere Kronenform, wohl eine Art Diadem, zu verstehen251. Sie wurde noch vor der liturgischen Krönung von Nikephoros (II.) Phokas252 und Ioannes (I.) Tzimiskes253 getragen. Nach der Einführung des kamēlaukion (καμηλαύκιον) bezeichnete 248 Psellos, Chron. 7.21, 7.24 (S. 215 und S. 217 Reinsch). Im Detail hierzu siehe unten, Kapitel 2.3.3. 249 Zu Kronen als Herrschaftszeichen in Byzanz vgl. Elisabeth Piltz, Kamelaukion et mitra. Insignes byzantins impériaux et ecclésiastiques (Acta Universitatis Upsaliensis, Figura, N. S. 15), Uppsala 1974; Grierson, DOC 3/1, S. 127–129; Hendy, DOC 4/1, S. 164–167. Zu den im Zeremonienbuch erwähnten Kronen s. Gilbert Dagron, Couronnes impériales. Forme, usage et couleur des stemmata dans le cérémonial du Xe siècle, in: Klaus Belke / Ewald Kislinger / Andreas Külzer / Maria Stassinopoulou (Hgg.), Byzantina Mediterranea. Festschrift für Johannes Koder zum 65. Geburtstag, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 157–174. 250 RbK III Sp. 373–397; Piltz, Kamelaukion, S. 32–48, S. 74–75; Eadem, Court costume, S. 41; Grierson, DOC 3/1, S. 127–129; Hendy, DOC 4/1, S. 164–165; Parani, Reality of images, S. 27–28; Nikolaos Gioles, Byzantine imperial insignia, in: Byzantium. An oecumenical empire. Exhibition in the Byzantine and Christian Museum Athens, October 2001–January 2002, Athen 2002, S. 63–75, hier S. 68–70. Der Begriff begegnet für Kronen (aber auch andere kuppelförmige Dinge wie Baldachine, Gebäude, Hüte) bereits ab dem 6. Jahrhundert. Über die Aufwertung des Typus in komnenischer Zeit besteht kein Zweifel: Anna Komnene, Alexias 3.4.1 (S. 95 Reinsch/ Kambylis) bietet eine zeitgenössische Beschreibung des kamelaukion. 251 Piltz, Kamelaukion, S. 26 mit Beispielen. 252 Skylitzes S. 259 (Thurn). 253 Georgios Monachos, Chronicon Breve, ed. Eduard Muralt / Jacques-Paul Migne (PG 110), Paris 1863, Nachdr. Turnhout s. a., 1209.
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Abb. 1 Ringdiadem mit Stirnjuwel und Pendilien, basierend auf der Darstellung von Kaiser Konstantinos IX. in der Hagia Sophia
Abb. 2 Kamelaukion mit Pendilien, basierend auf der Darstellung von Kaiser Ioannes II. in der Hagia Sophia
die ταινία einen sekundären Typus254 und wurde beispielsweise bei der Mitkaiserkrönung von Andronikos I. aber auch schon zuvor bei der Proklamation von Manuel I. Komnenos verwendet255. Die Kronen, die bei der Ausrufung von Bardas Phokas (P5, P 7)256, Bardas Skleros (P 6)257, Georgios Maniakes (P 10)258, Nikephoros Bryennios (P 18)259 und Nikephoros Basilakios (P 19)260 benutzt worden sein sollen, werden von den Quellen als diadēmata bezeichnet. Der Terminus kann sowohl Diademe bezeichnen als auch die Hauptkaiserkrone, die häufig als stemma (στέμμα), stephos (στέφος) oder
254 Piltz, Kamelaukion S. 32, S. 48–50, S. 74–75. Fallweise kann mit ταινία ab dem 12. Jahrhundert auch eine Art Schärpe (ōmohorion, lōros) gemeint sein: vgl. ebenda S. 27, S. 41. 255 Choniates, Hist. 46, 270 (van Dieten). 256 Skylitzes 292, 332 (Thurn); vgl. Zonaras 17.6 (550 Pinder/Büttner-Wobst). Hingegen findet sich in Psellos, Chron. 1.10 (7, Z. 11 Reinsch) die singuläre Bezeichnung „kaiserliche Tiara“ (βασιλικὴ τιάρα). 257 Skylitzes S. 316, S. 332 (Thurn). 258 Skylitzes S. 428 (Thurn). 259 Anna Komnene, Alexias 1.4.1 (S. 18 Reinsch/Kambylis). 260 Anna Komnene, Alexias 1.7.1 (S. 27 Reinsch/Kambylis).
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stephanos (στέφανος) angesprochen wird, oder sich überhaupt ganz allgemein auf den Begriff der Krone beziehen und erlaubt daher keine detaillierteren Überlegungen zur Form – sofern die Wendungen nicht ohnehin metaphorisch zu verstehen sind261. Den Kronen kommt im Narrativ der Quellen auch keineswegs eine höhere Bedeutung zu als anderen Herrschaftszeichen. Etwas anders verhält es sich mit den Proklamationen von Isaakios (II.) Angelos (1185, P 25)262 und Ioannes Komnenos Axuchos (1200, P 29)263, die direkt mit einer Art Krönung in der Hagia Sophia verknüpft waren. Obwohl die beiden Ereignisse starke Parallelen in ihrem Ablauf aufweisen264, sind gerade auf performativer Ebene (bzw. bei deren Überlieferung) einige entscheidende Unterschiede festzuhalten. Zunächst ist auf die Rolle des Patriarchen zu achten. Zwar war dessen aktive Partizipation an der Krönung im byzantinischen Denken nicht zwingend erforderlich265, doch stellte sie im Untersuchungszeitraum den Standard dar und mangelnder Konsens des Patriarchen wurde als Makel empfunden266. Nicht umsonst ließ Ioannes Axuchos unmittelbar nach seiner Proklamation – bereits mit einer Krone auf dem Kopf – nach dem Patriarchen Ioannes X. Kamateros suchen, um auch dessen Sanctus zu erlangen. Um nicht gezwungenermaßen in den Machtkampf involviert zu werden, hielt sich dieser jedoch in seinen Gemächern versteckt, bis der Putschversuch niedergeschlagen war267. Auch bei der Ausrufung und „Krönung“268 von Isaakios (II.) war der Patriarch, damals Basileios II. Kamateros, nicht anwesend, sei aber von den Anhängern des Usurpators herbeigeholt und zur Mitwirkung genötigt worden269. Ob es tatsächlich auch zu einer Krönung durch den Patriarchen kam, lässt sich nicht eindeutig beantworten270, ebensowenig, ob Choniates’ Erwähnung einer Salbung wörtlich oder metaphorisch zu verstehen ist271. Über den Konsens des Patriarchen herrschte aber wohl spätestens 261 Piltz, Kamelaukion S. 34–36, S. 45–48. Zum synonymen Verständnis vgl. die Inthronisation von Michael IV. bei Psellos, Chron. 4.2 (S. 52, Z. 11–12 Reinsch): τὴν βασιλικὴν στεφάνην τῇ κεφαλῇ προσαρμόσασα und Zonaras 17.14 (S. 586, Z. 2 Pinder/Büttner-Wobst): διαδήματι τὴν ἐκείνου κεφαλὴν αὐτὴ ἀναδήσασα. 262 Brand, Byzantium, S. 69–72; Cheynet, Pouvoir, S. 119 (Nr. 163). 263 Angold, John the Fat; Cheynet, Pouvoir, S. 136–137 (Nr. 195) mit abweichender Datierung. 264 S. oben, S. 77–78. 265 Yannopoulos, Couronnement, S. 86–88. 266 Bereits ab dem 9. Jahrhundert hatte die Bedeutung des Patriarchen bei der Proklamation zugenommen: Christophilopoulou, Eκλογή, S. 146. 267 Mesarites 6 (S. 23 Heisenberg). 268 Die Beobachtung von Christophilopoulou, Εκλογή, S. 165, dass Choniates, Hist. S. 345, Z. 83–87 (van Dieten) die termini technici einer regulären Krönung bewusst vermeide, setzt eine begriffliche Exaktheit voraus, der die Quellen zumeist nicht entsprechen. Hier die relevanten Formulierungen: τινὸς τῶν νεωκόρων τὸ τοῦ μεγάλου Κωνσταντίνου στέφος … τῇ τοῦ Ἰσαακίου κεφαλῇ ἐφαρμόσαντος; ἐδυσκόλαινε πρὸς τὴν στεφηφορίαν. 269 Choniates, Hist. S. 346 (van Dieten); Robert von Clari 22 (S. 54 Markov), Text s. unten S. 316 (Anm. 156). 270 S. unten S. 316–317. 271 Choniates, Hist. S. 346 (van Dieten). Zur Frage der Salbung vor 1204 s. oben S. 79 mit Anm. 179.
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dann keine Unklarheit mehr, als er gemeinsam mit Isaakios aus der Kirche verließ und vor die Öffentlichkeit trat272. Beide Fälle haben gemein, dass bei der Wahl passender Insignien improvisiert werden musste: Isaakios hatte sich in größter Eile in die Kirche flüchten müssen273 und entwickelte seine Ambitionen auf die Krone möglicherweise wirklich erst aus seiner Notlage heraus. An hochrangigen Unterstützern werden zu Beginn nur zwei seiner Verwandten genannt. Dem Coup des Ioannes Axuchos wiederum lag eine an sich gut geplante Konspiration in aristokratischen Kreisen zugrunde274. Die Unternehmung sollte aber den Eindruck von Spontaneität erwecken; durch eine fingierte Flucht in die Hagia Sophia wollte Ioannes – so wie einst Isaakios – Unterstützer für sein Vorhaben sammeln. Vorbereitete Insignien hätten seine Intentionen also nur entlarvt und Nikolaos Mesarites überliefert, dass Ioannes selbst noch nach der „Krönung“ keine kaiserlichen Gewänder trug275. Umso wichtiger war die Rolle der Krone, die in beiden Fällen als einziges Herrschaftszeichen herangezogen werden konnte. Kronen standen in der Hagia Sophia in größerer Zahl zur Verfügung, auch wenn es sich dabei nur um Votivkronen handelte276. Erstmals hatte bereits Kaiser Maurikios im Jahre 593 der Kirche eine Krone gestiftet, die über dem Altar aufgehängt wurde277. Im Laufe der Zeit muss diese Praxis weiterbestanden haben278 und Antonius von Nowgorod berichtet um 1200 von mehr als dreißig kleinen Votivkronen279. Sowohl Isaakios (II.) Angelos als auch Ioannes Axuchos nützten dieses Angebot. Doch gerade hier lassen sich weitere Unterschiede erkennen: Während Isaakios die „Krone Konstantins des Großen“ immerhin aus der Hand eines Sakristans der Hagia Sophia empfangen habe, soll Ioannes Axuchos von einem zwielichtigen Mönch gekrönt worden sein. Die dabei verwendete Krone wird von Nikolaos Mesarites synonym als tainia und stephanos angesprochen280. Niketas Choniates zufolge handelte es sich lediglich um ein „Krönchen“ (stephaniskos)281. Die von Isaakios verwendete „Krone Konstantins des Großen“ war die wichtigste unter den Votivkronen. Konstantinos VII. zählt sie zu jenen herrscherlichen Insignien, die nicht von Menschenhand gefertigt wurden, sondern Konstantinos dem Großen
272 273 274 275 276 277 278 279 280 281
Choniates, Hist. S. 346 (van Dieten). Zu den Hintergründen siehe oben, S. 77–78. Angold, John the Fat, S. 123–125. Mesarites 8 (S. 24 Heisenberg). S. auch unten S. 107. Vgl. hierzu Aikaterine Christophilopoulou, Τὰ εἰς τοὺς ναοὺς τῆς Κωνσταντινουπόλεως αὐτοκρατορικὰ στέμματα, in: Hell 15, 1957, S. 279–285; Piltz, Kamelaukion, S. 28–29, S. 51–52. Theophanes AM 6093 (Theophanis Chronographia, rec. Carolus de Boor, I: Textum Graecum continens, Leipzig 1883, S. 281). Vgl. Piltz, Kamelaukion, S. 28–29. Leon Diak. 9.12 (S. 158 Hase). Antoine, Archevêque de Novgorod, Le livre du pèlerin, in: Itinéraires russes en Orient. 1/1, traduit par S. de Khitrovo. s. l. 1898, Nachdr. Osnabrück 1966, S. 87–111, hier S. 92. Mesarites 5 (S. 22, Z. 14, 27 und 35 Heisenberg). Choniates, Hist. S. 526, Z. 37–38 (van Dieten): τῶν στεφανίσκων ἕνα τῇ κεφαλῇ περιθείς.
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von Gott persönlich übermittelt worden seien und nur an höchsten religiösen Feiertagen verwendet werden durften282. Ihre genaue Gestalt ist unklar; aus dem Bericht des Antonius von Nowgorod wissen wir lediglich, dass sie größer gewesen sein muss, als die anderen, kleineren Votivkronen (věncy maly)283. Delbrueck vermutete hinter der „Krone“ Konstantins ein Juwelenkettendiadem284. In jedem Fall muss es sich aber um eine weniger voluminöse Krone gehandelt haben, als das seit Alexios I. Komnenos (1081–1118) übliche halbkugelförmige kamelaukion, das in jener Zeit auch für Krönungen herangezogen wurde285. Weshalb Ioannes Axuchos die Krone Konstantins des Großen offenbar nicht zur Verfügung stand, sondern nur eine der kleineren Votivkronen, geht aus den Quellen nicht hervor. Möglicherweise war sie von den Sakristanen in Sicherheit gebracht worden, während der Usurpator versuchte, sich Einlass in die Kirche zu verschaffen. Vielleicht wurde sie zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht mehr an einer so leicht zugänglichen Stelle aufbewahrt, nachdem seit dem erfolgreichen Putsch des Isaakios Angelos bereits mehrere Nachahmer eine Proklamation in der Hagia Sophia angestrebt hatten (vgl. Tabelle 3). Der weitere Weg der beiden Usurpatoren lässt zunächst durchaus Parallelen erkennen, denn beide waren genötigt, sich mit ihren Unterstützern den Weg in den Großen Palast freizukämpfen. Isaakios’ Anhängern gelang es, den Widerstand der Truppen des Andronikos I. zu brechen, der im Palast von Meludion auf der anderen Seit des Bosporus von den Ereignissen erfuhr. Sofort leitete er Gegenmaßnahmen ein und kehrte in den Großen Palast zurück, den er aber gegen die Übermacht seiner Gegner nicht verteidigen konnte. Choniates betont, dass Andronikos sich seiner Herrschaftszeichen entledigt habe: Anstelle der Krone trug er seinen charakteristischen spitz zulaufenden Hut und schlussendlich legte er auch seine purpurfarbenen Schuhe ab286. Zusätzlich wird ein weiteres Omen erwähnt, das die göttliche Wahl des Isaakios suggeriert: Eines von Andronikos’ kaiserlichen Pferden habe sich losgerissen und sei durch die Straßen gerannt, bis man es für Isaakios einfangen konnte, der sich sogleich in den Sattel schwang287.
282 Constantine Porphyrogenitus, De administrando imperio. Greek text edited by Gyula Moravcsik. English translation by Romilly J. H. Jenkins. New revised edition (CFHB 1), Washington, D. C. 1967, S. 66 (cap. 13). Vgl. Piltz, Kamelaukion, S. 28–29. 283 Antonius von Nowgorod S. 92 (De Khitrovo). 284 Richard Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts von Constantinus Magnus bis zum Ende des Westreichs (Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 8), Berlin/Leipzig 1933, unveränderter Nachdr. Berlin et al. 1978, S. 61; Piltz, Kamelaukion, S. 93–94. 285 Piltz, Kamelaukion, S. 32, S. 74–75; Gioles, Insignia, S. 70; Macrides/Munitiz/Angelov, Pseudo-Kodinos, S. 346. 286 Choniates, Hist. S. 346, S. 348 (van Dieten). 287 Choniates, Hist. S. 346 (van Dieten): Οὕτω τοίνυν εἰς βασιλέα χρισθέντος Ἰσαακίου, συνέβη καὶ ἕτερόν τι ἀξιαφήγητον. ἵππων γὰρ χρυσοφαλάρων βασιλικῶν ἐκ τῆς περαίας κατὰ τὸν πόρον τῶν
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Beim Einzug in den nunmehr gesicherten Großen Palast wurde Isaakios akklamiert. Dort residierte er nun etliche Tage, während derer er ohne Zweifel seine ersten Handlungen als neuer Kaiser setzte, darunter wohl auch Amtseinsetzungen, Beförderungen und Verteilung von Würdentitel für seine Unterstützer288. Die gleiche Strategie zusätzlicher Legitimierung wählte auch Ioannes Axuchos. Auf demselben Weg wie Jahre zuvor Isaakios gelangte er mit seinen Anhängern in den Großen Palast, wo er unverzüglich auf dem Thron im Justinianischen Triklinos Platz nahm, Audienzen gewährte und Beförderungen vornahm289. Im Gegensatz zu den Ereignissen des Jahres 1185 war der regierende Kaiser Alexios III. zum Zeitpunkt des Putschversuches in Konstantinopel anwesend. Er residierte im Blachernenpalast und organisierte von dort aus Gegenmaßnahmen, indem er sich einerseits öffentlich als legitimer Herrscher inszenierte und andererseits loyale Truppen in den Großen Palast sandte, die Ioannes und seine Unterstützer niedermachten290. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Strategien der beiden Usurpatoren beim Besetzen kaiserlich konnotierter Räume durchaus ähnlich waren. In den Beschreibungen des Niketas Choniates und des Nikolaos Mesarites wird dem Versuch des Ioannes Axuchos jedoch ein weitaus geringerer Grad an Legitimität unterstellt. Auf performativer Ebene artikuliert sich dieser Unterschied in der mangelnden Unterstützung des Patriarchen, der geringeren Wertigkeit der verwendeten Insignien und dem Verhalten des herausgeforderten Kaisers in der Öffentlichkeit. Ohne die Faktizität der geschilderten Ereignisse über Gebühr in Frage stellen zu wollen, sind die kleinen Makel im Rahmen der Proklamation des Ioannes Axuchos auch als narrative Strategien zu sehen, die den Verlierer im Spiel um die Macht für seinen Versuch ex eventu diskreditieren sollten. Der Vergleich der beiden Usurpationen und ihres Widerhalls in den Quellen führt deutlich vor Augen, dass die Art und Weise der Thronbesteigung nebensächlich ist, sofern der Prätendent die Macht durchsetzen und behalten konnte. Der performative Akt einer Proklamation musste in solchen Fällen nicht zwingend den Traditionen entsprechen. Andererseits konnten Makel und Unregelmäßigkeiten beim Ablauf eines Rituals in der Historiographie als Elemente aufgegriffen werden, um die mangelnde Legitimität und das schon a priori feststehende, unvermeidbare Scheitern eines Putschversuches zu unterstreichen. Umgekehrt konnten allfällige Nebenereignisse –
Κιονίων διαπορθμευομένων εἷς τοὺς πόδας ἀναβαλὼν καὶ τυραννήσας τὸν ἱπποκόμον ἔθεε διὰ τῶν λεωφόρων καὶ συλληφθεὶς εἰσάγεται Ἰσαακίῳ πρὸς ὄχησιν. Zu den Pferden s. unten S. 171. 288 Choniates, Hist., S. 347 (van Dieten). 289 Audienz: Mesarites 11 (S. 28 Heisenberg); Beförderungen: Choniates, Hist. S. 526 (van Dieten). 290 Mesarites 25 (S. 42–43 Heisenberg); Choniates, Hist. S. 527 (van Dieten). S. auch unten S. 168–171.
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wie die von Niketas überlieferte Anekdote von dem usurpierten kaiserlichen Pferd – herangezogen werden, um die Rechtmäßigkeit des Aktes zu suggerieren291. 2.2.4.2 Kaiserliche Kleidung Zur Proklamation eines neuen Kaisers – ob Usurpator oder designierter Thronfolger – gehörte das erstmalige Anlegen kaiserlicher Kleidung. Der byzantinische Hof war an strenge Kleiderordnungen gewohnt und der Kaiser selbst verfügte über eine Vielzahl verschiedener Kostüme, die je nach Zeremonie oder Festtag Teil der Garderobe waren292. Bildliche Darstellungen zeigen den Kaiser zumeist mit der chlamys293 (Abb. 3), einem prachtvollen Umhang, der speziell bei der Krönung eine wichtige Rolle spielte oder mit dem schärpenartigen lōros294 (Abb. 4), der nur an den höchsten Feiertagen getragen wurde. Doch selbst diese beiden kaiserlichen Kleidungsstücke par excellence waren nicht exklusiv dem Kaiser vorbehalten, sondern standen an hohen Feiertagen auch anderen Mitgliedern der kaiserlichen Familie und höchsten Würdenträgern zu. Allerdings war durch die situationsbezogene Kleiderordnung stets sichergestellt, dass der Kaiser eindeutig erkennbar blieb295. 291 Beihammer, Succession, S. 196–197 erkennt zwar auch bei der Schilderung von Isaakios’ Proklamation ironische und kritische Untertöne, doch ergreift Choniates in dieser Passage dennoch klar Partei für den neuen Kaiser, der zumindest die Herrschaft des Andronikos beenden konnte. 292 Gioles, Insignia, S. 63–68. 293 Die chlamys (χλαμύς) war ursprünglich ein knöchellanger Militärumhang, der aus einem einzigen Stück Stoff bestand und an der rechten Schulter mit einer Fibel geschlossen wurde. Bei prunkvolleren Varianten waren an beiden Enden des Umhanges Parallelogramme in kontrastierenden Farben aufgenäht (tablia), die zusammengesetzt ein durchgehendes Motiv ergaben, wenn die chlamys zentral über der Brust geschlossen wurde. Durch die übliche Fixierung an der rechten Schulter ist auf Abbildungen zumeist nur ein einziges tablion zu sehen, das sich zwischen der rechten Achsel und der Hüfte befindet: RbK 3, S. 424–427; Grierson, DOC 3/1, S. 117–119; Hendy, DOC 4/1, S. 151–152; Parani, Reality of images, S. 11–17; Jennifer L. Ball, Byzantine dress. Representations of secular dress in eighth- to twelfth-century painting, Basingstoke 2005, S. 29–35; Piltz, Court costume, S. 41–42; Gioles, Insignia, S. 66. Siehe jüngst auch Olga Karagiorgiou, ‚The Emperor’s new clothes‘. Looking anew at the iconography of the Tondi, in: Niccolò Zorzi / Albrecht Berger / Lorenzo Lazzarini (Hgg.), I tondi di Venezia e Dumbarton Oaks. Arte e ideologia imperiale tra Bisanzio e Venezia. The tondi in Venice and Dumbarton Oaks. Art and imperial ideology between Byzantium and Venice (Centro Tedesco di Studi Veneziani, Venetiana 21), Venedig 2019, S. 93–150, bes. S. 103–104. 294 Der lōros (λῶρος) ist eine Weiterentwicklung der konsularischen Toga (trabea triumphalis). Diese wurde in ihrer Länge reduziert und in ihrer Wickeltechnik vereinfacht. Ab der Mitte des 10. Jahrhunderts wurde sie zu einer durchgehenden Stoffbahn mit Halsausschnitt umgestaltet. Auf Abbildungen ist der lōros üblicherweise mit Perlen und Edelsteinen besetzt: RbK 3, S. 428–443; Grierson, DOC 3/1, S. 120–123; Hendy, DOC 4/1, S. 153–155; Parani, Reality of images, S. 18– 25; Ball, Byzantine dress, S. 12–28; Piltz, Court costume, S. 41; Gioles, Insignia, S. 66–68; Karagiorgiou, Clothes, S. 104. 295 Piltz, Court costume, S. 44–48 mit genauer Aufstellung der Kleidungsstücke nach Rang und Anlass (nach De Cerim.).
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Abb. 3 Chlamys. Zumeist wird die chlamys asymmetrisch an der rechten Schulter fixiert (Mitte), selten zentral vor Brust geschlossen, damit beide rautenförmigen Aufsätze (tablia) sichtbar sind. Skizze basierend auf Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. Coislin 79, f 2
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Abb. 4 Loros. Skizze basierend auf Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. Coislin 79, f. 2bisv
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Auch die im Zeremonienbuch am häufigsten erwähnten purpurfarbenen Kleidungsstücke – das unterhalb des lōros oder der chlamys getragene dibitēsion (Abb. 5) und das skaramangion – waren nicht dem Kaiser vorbehalten296. Regalrechte artikulierten sich allein in der situationsbezogen exklusiven Verwendung bestimmter Farben, zumeist Purpur.
Abb. 5 Skizze der Dalmatik Rogers II. von Sizilien (1130–1150; Kunsthistorisches Museum Wien, Weltliche Schatzkammer, Inv.-Nr. XIII 6.M). Ähnlich wird man sich das byzantinische dibitesion vorzustellen haben.
296 Dibitēsion (διβιτήσιον): Ein knöchellanges, seidenes Untergewand mit langen Ärmeln. Es konnte am Saum sowie den Enden der Ärmel aufwändige Bestickungen aufweisen. Darüber trug der Kaiser optional das skaramangion, eine kürzere Tunika mit Dreiviertelärmeln, welche den Blick auf den Dekor des dibitēsion frei ließen: Hendy, DOC 4/1, S. 157–158; Gioles, Insignia, S. 65. Vgl. Nikodim Pawlowitsch Kondakov, Les costumes orientaux à la cour byzantine, in: Byz 1, 1924, S. 7–49, bes. 12–18;
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Was die Kleidung von Usurpatoren (aber auch jene von regierenden Kaisern) betrifft, bleiben die historiographischen Texte wie gewohnt auf einer äußerst allgemeinen Ebene und verwenden üblicherweise generische Begriffe wie (βασιλικός) ἱματισμός297, σχῆμα298, ἐσθής299 oder στολή300. Andere Texte sprechen bisweilen von ἁλουργίς („Purpurkleidung“)301, wobei auch dieser Terminus nichts über Form und Kombination der tatsächlich getragenen Kleidungsstücke aussagt. Von Nikephoros Botaneiates wird berichtet, er habe im Rahmen seiner Proklamation χλαμύδα καὶ βύσσον καὶ ἁλουργίδα angelegt302. Was auf den ersten Blick nach einer detailreicheren Schilderung als sonst aussieht, entpuppt sich jedoch ebenfalls als sehr allgemeine Formulierung: Die Kombination von Purpurkleidung und Unterkleidern aus feinem Leinen (βύσσος), ein ursprünglich biblisches Bild303, ist bereits in frühbyzantinischer Zeit als Metapher für Reichtum und das Kaiseramt belegt304. Dennoch spricht nichts gegen die Vermutung, dass Botaneiates tatsächlich eine chlamys getragen hat. Ob man dann aber unter halourgis weitere purpurfarbene Kleidungsstücke (dibitēsion?, skaramangion?) verstehen darf, oder ob es sich nur um eine der üblichen redundanten Ausdrucksweisen des byzantinischen Griechischen handelt, sei dahingestellt. Über den Usurpator Bardas Phokas berichtet Michael Psellos, dass dieser eine kaiserlichen Krone anlegte und in ein durch seine Farbgebung – hier kann nur die Signalfarbe Rot gemeint sein – gekennzeichnete „Usurpatorengewand“ schlüpfte305. Ähnliches wird von einem Herausforderer des Alexios I. Komnenos berichtet, der auf dem Schlachtfeld „Rot trug und kaiserlich ausstaffiert war“306. Über die Kleidungsstücke selbst verraten uns allerdings auch diese beiden Stellen nichts Genaueres.
RbK 3, S. 420–423 und Piltz, Court Costume, S. 42–43, jedoch mit genau umgekehrter Benennung der beiden Kleidungsstücke dibitēsion und skaramangion (σκαραμάγγιον). Zur Verwendung: Ball, Byzantine dress, S. 15; vgl. Carile, Insegne, S. 91–92 mit den entsprechenden Stellen aus De cerim. 297 Choniates, Hist., S. 454 (van Dieten). 298 Psellos, Chron. 4.2, 6.104 (S. 52, 152 Reinsch); Zonaras 17.14 (S. 586 Pinder/Büttner-Wobst). 299 Attaleiates, S. 19 (Tsolakes). 300 Psellos, Chron. 1.10, 4.2, 5.37 (S. 7, 52, 99 Reinsch); Zonaras 18.3 (S. 661 Pinder/Büttner-Wobst); Choniates, Hist. 271 (van Dieten). 301 Attaleiates, S. 190 (Tsolakes); Bryennios 3.10 (S. 231 Gautier); Anna Komnene, Alexias 2.8.1–2 (S. 75 Reinsch/Kambylis); Skylitzes, S. 428 (Thurn). 302 Attaleiates, S. 165 (Tsolakes). 303 Neben anderen Beispielen: Lk 16:19: Ἄνθρωπος δέ τις ἦν πλούσιος, καὶ ἐνεδιδύσκετο πορφύραν καὶ βύσσον εὐφραινόμενος καθ᾽ ἡμέραν λαμπρῶς. 304 Agapetos 4 (Agapetos Diakonos, Der Fürstenspiegel für Kaiser Iustinianos. Erstmals kritisch herausgegeben von Rudolf Riedinger [Hetaireia tōn Philōn tou Laou, Kentro Ereunēs Byzantiou 4], Athen 1985, S. 28): Ἐπὶ προγόνων εὐγενείᾳ μηδεὶς ἐναβρυνέσθω· πηλὸν γὰρ ἔχουσι πάντες τοῦ γένους προπάτορα, καὶ οἱ ἐν πορφύρᾳ καὶ βύσσῳ καυχώομενοι καὶ οἱ ἐν πενίᾳ καὶ νόσῳ τρυχόμενοι. Vgl. hierzu Carile, Insegne, S. 88. 305 Psellos, Chron. 1.10 (S. 7, Z. 11 Reinsch): καὶ τοῦ ἐπισήμου χρώματος, τὴν τυραννικὴν στολὴν ἀμφιέννυται. Reinsch, Chronographia, S. 809 (Anm. 27) bezieht diese Angabe nur auf die Imitation des pupurfarbenen Schuhwerks des Kaisers. 306 Anna Komnene, Alexias 10.3.6 (S. 290, Z. 86–89 Reinsch/Kambylis): καὶ θεασάμενος ἐρυθροφοροῦντα καὶ βασιλικῶς ἐσταλμένον καὶ τοὺς περὶ αὐτὸν σκεδασθέντας, ἀνατείνας τηνικαῦτα
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Die genaue Zusammensetzung und Gestalt der Kleidung wird in der Realität je nach Verfügbarkeit ohnehin starken Variationen unterlegen sein. Beeinflusste aber die Qualität der „Kostümierung“ die Wahrnehmung durch den Betrachter? Zynisch äußert sich Nikolaos Mesarites bezüglich der Proklamation von Ioannes Komnenos Axuchos, der sich einer der in der Hagia Sophia befindlichen Kronen bemächtigt hatte und sich danach Zugang in den Großen Palast verschaffte: Ioannes bog nun vom Hippodrom zu den danebenliegenden dunklen Säulengängen ab, gelangte so zu dem zum Großen Kaiserpalast führenden Zugang und schlug an das Tor, welches Karea genannt wird. Er trug eine Krone, aber keinen Purpur und kein Gold, sondern es sah aus, als hätte jemand einen Schauspieler (ἄνθρωπον σκηνικόν) in alle Öffentlichkeit gebracht307.
Basierte diese Geringschätzung aber wirklich auf der unzureichenden Ausstattung des Usurpators? Ein sehr ähnliches Urteil hatte eineinhalb Jahrhunderte zuvor auch Michael Psellos über die Proklamation von Leon Tornikios (1047) gefällt – und das, obwohl dieser sich durchaus um ein standesgemäßes Auftreten bemüht hatte: Nachdem sie sich allesamt unerwartet versammelt hatten, kamen sie über ihre Absichten überein, dass Leon als Kaiser über sie herrschen sollte. Sie inszenierten die Proklamation so gut, wie es ihnen der Moment erlaubte und erhoben ihn, mit prachtvollen Kleidern geschmückt (διαπρεπεῖ ἐσθῆτι κοσμήσαντες), auf den Schild. Leon aber, einmal im Ornat aufgetreten, ganz so, als hätte er mit seinem Unternehmen bereits Erfolg gehabt und nicht so, als sei er nur ein Schauspieler auf einer Bühne oder ein Nachahmer (ὡς ἐπὶ σκηνῆς οἷον δραματουργῶν ἢ πλαττόμενος), gebot er gleich im Stile eines Herrschers und eines wirklichen Kaisers über diejenigen, die ihn zum Kaiser gemacht hatten – sie hatten ja gewollt, dass er die Herrschaft strenger ausübt308.
τὴν μάστιγα ἔπαιε τοῦτον κατὰ κεφαλῆς ἀφειδῶς ψευδώνυμον ἀποκαλῶν βασιλέα. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 99–100 (Nr. 129). 307 Mesarites 8 (S. 24, Z. 18–22 Heisenberg): Εἶχε μὲν οὖν τοῦτον ἀπὸ τοῦ ἱππικοῦ ἐπῖ τὰς συμπαρακειμένας τούτῳ σκοτεινώδεις στοὰς παρεκνεύσαντα ἡ ἐπὶ τὸ μέγα τῆς βασιλείας παλάτιον ἀπάγουσα πρόοδος, θυροκρουστοῦντα τὴν πύλην, ἣ Καρέα κατονομάζεται, ἐστεφανωμένον οὐ περιπόρφυρον οὐ πολύχρυσον, ἀλλ’ οἷον ἄν τις ἐπὶ μέσου φέροι ἄνθρωπον σκηνικόν. Übersetzung basierend auf: Die Kreuzfahrer erobern Konstantinopel. Die Regierungszeit der Kaiser Alexios Angelos, Isaak Angelos und Alexios Dukas, die Schicksale der Stadt nach der Einnahme sowie das ‚Buch von den Bildsäulen‘ (1195–1206) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates. Mit einem Anhang: Nikolaos Mesarites, Die Palastrevolution des Joannes Komnenos. Je übersetzt, eingeleitet und erklärt von Franz Grabler (BGS 7), Graz/Wien 1958, S. 279. 308 Psellos, Chron. 6.104 (S. 152 Reinsch); für den griechischen Text s. Appendix P 11. Übersetzung teils angelehnt an Reinsch, Chronographia, S. 429.
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In beiden zitierten Stellen wird darauf angespielt, dass der Usurpator – einem Schauspieler gleich – nur eine Rolle spiele309. Kleidung und Insignien dienen nicht als Herrschafts zeichen, sondern sind bloße Requisiten. Ausgehend von der schriftlichen Überlieferung ist die tatsächliche symbolische und kommunikative Bedeutung des Kleiderwechsels kaum abzuschätzen. Die Rezeption in den Quellen zeigt, dass die Sympathie des Historiographen und vor allem der reale Ausgang der Usurpation darüber entscheiden, ob die Annahme von Insignien in der Retrospektive als Beginn der legitimen Herrschaft angesehen wird oder als bloße Scharade. Diese ambivalente Wahrnehmung wird man nicht nur für die Autoren der im Nachhinein entstandenen Texte annehmen können, sondern realistischerweise ebenso für all jene Menschen, die den Usurpator tatsächlich in kaiserlicher Gewandung zu sehen bekamen: Je nach Gesinnung des Betrachters und Szenario des Treffens muss der Prätendent einen recht unterschiedlichen Eindruck erweckt haben. Für den symbolischen Wert des Kleiderwechsels war die subjektive Wahrnehmung jedoch ohnehin nebensächlich. Erstens boten sich kaum Möglichkeiten, etwaigen Dissens offen zu artikulieren (z. B. durch Spott310) und selbst kaiserliche Gesandte mussten das vom Usurpator eingeforderte Protokoll befolgen311. Zweitens ging es – unabhängig von subjektiv unterschiedlichen Eindrücken – um die Kommunikation einer klaren Botschaft: Usurpatoren legten kaiserliche Kleidung an, um ihr Verhalten durch möglichst weitreichende Imitation zu legitimieren und so ihren Anspruch am Leben zu erhalten. Wie bei allen Ritualen gilt auch hier, dass die Inszenierung nicht eo ipso die Gültigkeit der ausgedrückten Inhalte garantiert. Sie schaffen aber institutionell gesicherte Handlungsdispositionen; über ihren Erfolg wird später entschieden: Wichtig ist, dass durch die Aufführung einer symbolischen als rituellen Handlung ein solcher Zugewinn an symbolischer Bedeutung für die Wertfundierung des Referenzereignisses … erzeugt wird, dass dessen Geltungsanspruch, Geschichte zu bilden, institutionell legitimiert wird312. 309 In dieser Weise karikierte schon Ammianus 26.6.15 (Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte. Lateinisch und deutsch und mit einem Kommentar versehen von Wolfgang Seyfarth [Schriften und Quellen der Alten Welt 21/1–4], 4 Bde., Berlin 41978, IV 28–30) die Proklamation des Procopius, der in Ermangelung des paludamentum nur Purpurschuhe und ein goldbesticktes Unterkleid anlegen konnte. In der Hand hielt er Speer und einen Fetzen Purpurstoff, ut in theatrali scaena simulacrum quoddam insigne per aulaeum vel mimicam cavillationem subito putares emersum. 310 So beispielsweise Anna Komnene, Alexias 4.1.3 (S. 121–122, Z. 40–45 Reinsch/Kambylis): Der Normanne Robert Guiscard versucht vergeblich, einen Mann, den er als Michael VII. Dukas ausgibt, vor den Mauern von Dyrrhachion in Szene zu setzen: ὁ Ῥομπέρτος προστάσσει εὐθὺς τὸν Μιχαὴλ λαμπρῶς ἀμφιασθέντα ὑποδειχθῆναι τοῖς τῆς πόλεως οἰκήτορσιν, ἀπαγαγόντες δὲ τὸν τοιοῦτον μετὰ λαμπρᾶς προπομπῆς παντοίοις ὀργάνοις μουσικοῖς καὶ κυμβάλοις κατακτυπούμενον ὑποδεικνύουσιν. ἅμα δὲ τῷ τοῦτον θεάσασθαι ἄνωθεν μυρίαις ὕβρεσιν ἔπλυνον μὴ ἐπιγινώσκειν αὐτὸν ὅλως διισχυριζόμενοι, ὁ δὲ Ῥομπέρτος παρουδὲν ταῦτα θέμενος τοῦ προκειμένου ἔργου εἴχετο. Vgl. Bourdara, Ἔγκλημα καθοσιώσεως, S. 212. Nach Zonaras 17.23 (S. 627 Pinder/Büttner-Wobst) sei auch Leon Tornikios von den Bewohnern Konstantinopels verspottet worden. 311 Vgl. Kapitel 2.3.3. 312 Dücker, Rituale, S. 9, 63–66; Schwedler/Tounta, Usurping rituals, S. 349–350.
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Um den nicht unpassenden Vergleich mit einem Schauspieler aufzugreifen: Wollte man in der Rolle des Kaisers vom Publikum erkannt werden, waren Requisiten unerlässlich, denn erst die optische Veränderung ermöglichte die ritualisierte Interaktion mit Untertanen und Feinden und eröffnete somit zusätzliche Formen symbolischer Kommunikation. Dies betrifft zunächst die Proklamation selbst, aber auch Akklamationen313, Adventus-Zeremonien314, die Gewährung von Audienzen315 und nicht zuletzt das Auftreten am Schlachtfeld. Ein Hochstapler, der sich als Sohn von Romanos IV. Diogenes ausgab und Alexios I. Komnenos herausforderte, war beispielsweise im Kampf an seiner roten Kleidung und kaiserlichen Aufmachung erkennbar316 und Leon Tornikios präsentierte sich vor den Mauern auf einem kaiserlichen Schimmel317. Aufschlussreich ist auch der Bericht des Michael Psellos von seiner Gesandtschaft zum Usurpator Isaakios (I.) Komnenos (1056): Nach einem eher jovialen Empfang, bei dem der Usurpator lediglich seine Feldherrenuniform trug, gab er sich am folgenden Tag weitaus majestätischer, indem er in prachtvoller Kleidung auf einem Thron sitzend den Diplomaten eine offizielle Audienz gewährte318. 2.2.4.3 Schuhe Unter allen Insignien, die Usurpatoren anlegten, fällt auf, dass den roten oder purpurfarbenen Schuhen eine besondere Bedeutung zukam. Explizit unterstreicht Leon Diakonos den Wert dieses Herrschaftszeichens: Einmütig akklamierten sie ihm [scil. Nikephoros Phokas] und proklamierten ihn zum erhabenen Kaiser. Der übernahm die Macht und zog die roten Schuhe an, die das wichtigste Symbol des Kaisertums sind319.
Erst kurz vor dem Einzug in Konstantinopel habe Nikephoros dann auch Diadem und Purpurkleidung angenommen320. Diese Bewertung ist einigermaßen erstaunlich. Das eine Generation zuvor verfasste Zeremonienbuch Konstantinos’ VII. erwähnt eine Vielzahl von Kleidungsstücken
313 314 315 316 317 318
Vgl. Kapitel 2.2.3. Vgl. Kapitel 4.1.1. Vgl. Kapitel 2.3.3. Anna Komnene, Alexias 10.3.6 (S. 290, Z. 86–89 Reinsch/Kambylis). S. oben, Anm. 92. Psellos, Chron. 6.108 (S. 154 Reinsch). Eine Krone oder Diadem wird nicht erwähnt. Psellos, Chron. 7.21, 7.24 (S. 215–217 Reinsch). Vgl. Kapitel 2.3.3.2. 319 Leon Diak. 3.4 (S. 41, Z. 11–14 Hase): ἀλλ’ ὁμοθυμαδὸν αὐτὸν ἐπευφήμουν, σεβάσμιόν τε καὶ βασιλέα Ῥωμαίων προσαγορεύοντες. ὁ δὲ καταδέχεται τὴν ἀρχὴν, καὶ τὸ ἐρυθρὸν πέδιλον, ὃ τῆς βασιλείας παράσημον μέγιστον πέφυκεν, ὑποδύεται. 320 Zum Adventus des Nikephoros vgl. Kapitel 4.1.1.
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und Insignien, ohne den kaiserlichen Schuhen besondere Bedeutung beizumessen und, wie bereits erwähnt, wählen die byzantinischen Quellen zur metaphorischen Umschreibung der Kaiserherrschaft üblicherweise Krone, chlamys und Szepter321, während die Betonung der Schuhe in erster Linie bei Usurpatoren zum Tragen kommt322. Die Bedeutung des Anlegens des exklusiven Schuhwerks erregte auch in lateinischen Quellen Aufmerksamkeit323. Weshalb aber spielte ausgerechnet der Wechsel der Fußbekleidung eine so wichtige Rolle bei Putschversuchen? Wie bei allen anderen Elementen der Proklamation ging es in erster Linie um das Arrogieren von Regalrechten. Die Verwendung von rotgefärbten Schuhen mit hohem Schaft (nach Art der Legionärsstiefel [cothurni]?) soll auf Julius Caesar zurückgehen, der damit seine Abstammung von den Königen von Alba zur Schau stellen wollte, die sich so gekleidet haben sollen324. Bereits in der späten Kaiserzeit war dieses Schuhwerk, das spätestens seit Diokletian zusätzlich mit Perlen und Edelsteinen verziert war, dem römischen augustus vorbehalten325. Die insignienhafte Bedeutung der Schuhe scheint schon im 4. Jahrhundert etabliert gewesen zu sein: Als etwa Constantius II. im Jahre 350 den von ihm als Hochverräter betrachteten caesar des Ostens, Constantius Gallus, in Istrien ergreifen ließ, richteten ihn seine Häscher umgehend hin und brachten seine Schuhe im gestreckten Galopp an den kaiserlichen Hof in Mailand, um sie Constantius einer Trophäe gleich zu präsentieren326. Die Schuhe selbst werden nicht beschrieben, doch waren sie als Symbol für den Tod des Verräters offenbar aussagekräftig genug. Auch im mittelalterlichen Byzanz blieben die roten Schuhe weiterhin das Vorrecht des Kaisers und optional auch seiner Gattin327 und allfälliger Mitkaiser328.
321 So Choniates, Hist., S. 198 (van Dieten); Anna Komnene, Alexias 1.7.2 (S. 28 Reinsch/Kambylis); vgl. Christophilopoulou, Εκλογή, S. 151; Genesios 1.3 (S. 5 Lesmüller-Werner/ Thurn) – und ihm folgend Skylitzes, S. 8 (Thurn) – betonen hingegen den Wert von Szepter, chlamys und Schuhen. 322 Parani, Reality of images, S. 30–31; Christophilopoulou, Εκλογή, S. 123. 323 S. unten, S. 118–119. 324 Cassius Dio 43.43.2 (Dio’s Roman History with an English translation by Earnest Cary on the Basis of the Version of H. B. Foster, 9 Bde., London/Cambridge 31957, Bd. 4, S. 286): τῇ τε γὰρ ἐσθῆτι χαυνοτέρᾳ ἐν πᾶσιν ἐνηβρύνετο, καὶ τῇ ὑποδέσει καὶ μετὰ ταῦτα ἐνίοτε καὶ ὑψηλῇ καὶ ἐρυθροχρόῳ κατὰ τοὺς βασιλέας τοὺς ἐν τῇ Ἄλβῃ ποτὲ γενομένους, ὡς καὶ προσήκων σφίσι διὰ τὸν Ἴουλον, ἐχρῆτο. 325 Alföldi, Repräsentation, S. 183–184. 326 Ammian XV 1,2. 327 Eirene Dukaina trägt diese noch am Totenbett ihres Gatten Alexios I.: Anna Komnene, Alexias 15.11.18 (S. 502 Reinsch/Kambylis). 328 Anna Komnene, Alexias 9.6.1 (S. 270–271 Reinsch/Kambylis): Michael VII Dukas hatte die Söhne von Romanos IV. Diogenes ihrer roten Schuhe und ihrer Kronen beraubt und mitsamt ihrer Mutter verbannt. Ebd. 2.12.3 (S. 85): Nikephoros III. Botaneiates bietet Alexios Komnenos die Adoption an, sofern er im Palast bleiben dürfe und sie sich das Recht auf Purpurkleidung und Schuhe teilen würden; Choniates, Hist., S. 4–5 (van Dieten): Alexios I. erlaubt seinem Sohn Ioannes das Tragen von roten Schuhen; ebd. S. 16 und 38: Ioannes II. verleiht seinem erstgeborenen Sohn Alexios das Privileg von Purpurmantel und -schuhen.
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Die große Bedeutung der Schuhfarbe als Erkennungsmerkmal für den Rang innerhalb der Hierarchie der Reichsspitze manifestierte sich auch in der strengen Farbcodierung, die der byzantinische Hof im Lauf der Jahrhunderte etablierte329. So zählt im 11. Jahrhundert Christophoros von Mytilene gelbe Schuhe zu den äußerlichen Kennzeichen des Eparchen330 und das blieben sie, bis Andronikos II. Palaiologos (1282– 1328) die Farbe für seinen Neffen Ioannes reservierte, als er ihn zum panhypersebastos erhob. Von da an blieb die Farbe mit dieser Würde verbunden331. Blaues Schuhwerk war in komnenischer Zeit den sebastokratores und kaisares vorbehalten332, während es nur dem prōtobestiarios gestattet war, grüne Schuhe zu tragen333. Diese Farbregelungen hatten noch in der Mitte des 14. Jahrhunderts bestand334. In dieser Zeit wurde auch dem ab 1163 belegten despotes-Titel ein bestimmter Schuhtypus zugewiesen, der purpurfarben und weiß gewesen sein soll, mit Perlenbesatz in Adlerform auf dem Rist335. Bisweilen kam es auch zu Sonderregelungen, durch welche die farbliche Hierarchie umgangen werden konnten: Romanos Lakapenos wurden zu Beginn seiner Regentschaft zwar die purpurfarbenen Schuhe zugestanden, nicht aber das Recht, eine Krone
329 Zur Farbcodierung am spätbyzantinischen Hof s. Macrides/Munitiz/Angelov, Pseudo-Kodinos, S. 351–355. 330 Die Gedichte des Christophoros Mitylenaios, hg. von Eduard Kurtz, Leipzig 1903, 17 (Nr. 30.16– 18): πέδιλα κιρρά, σφόδρα λαμπρὰ τὴν χρόαν, ὡραῖον ὄντα τοὺς πόδας σε δεικν(ύει). Vgl. Parani, Reality of images, S. 71. 331 Ps.-Kodinos 1 (S. 26, Z. 12–16 Munitiz): Ὁ δὲ βασιλεὺς Ἀνδρόνικος τῶν Παλαιολόγων ὁ πρῶτος, ἐπάρας ἄπερ ἀρχῆθεν ἐφόρει ὁ ἔπαρχος κίτρινα, ἐφόρεσε ταῦτα Ἰωάννην τὸν Παλαιολόγον τὸν ἀνεψιὸν αὐτοῦ, τὸν τοῦ Πορφυρογεννήτου υἱόν, ποιήσας πανυπερσέβαστον. Vgl. ebd. 2 (S. 52, Z. 1 Munitiz): Τὰ ὑποδήματα τοῦ πανυπερσεβάστου κίτρινα. Vgl. Macrides/Munitiz/Angelov, Pseudo-Kodinos, S. 319. Vgl. Elisabeth Piltz, Le costume officiel des dignitaires byzantins à l’époque Paléologue (Acta Universitatis Upsaliensis, Figura Nova Series 26), Uppsala/Stockholm 1994, S. 15–16; Parani, Reality of images, S. 72. 332 Sebastokrator: Kinnamos, S. 23 (Meineke); Wolfram Hörandner, Theodoros Prodromos. Historische Gedichte (WBS 11), Wien 1974, S. 420 (Nr. 45, Z. 186–190). Kaisar: Choniates, Hist., S. 395 (van Dieten). Vgl. Piltz, Costume officiel, S. 14–15; Parani, Reality of images, S. 71–72. 333 Laut Ps.-Kodinos 1 (S. 26, Z. 8–10 Munitiz) sei grün die Farbe des prōtosebastos gewesen, bevor sie Michael VIII. Palaiologos seinem Neffen verlieh, als dieser prōtobestiarios wurde. Ebd. 2 (S. 52, Z. 5 Munitiz) wird diese Vorgabe explizit wiederholt: Τὰ ὑποδήματα αὐτοῦ πράσινα. Allerdings findet sich das grüne Schuhwerk des prōtobestiarios bereits bei Niketas Choniates (Hist., S. 507, Z. 48–49 [van Dieten]): τὰ βατράχεια τὸ χρῶμα πέδιλα τοῦ πρωτοβεστιαρίου. Auch ebd., S. 563, Z. 78–80 werden diese grünen Schuhe gemeint sein: ἐπῳκείωτο γὰρ ὑπὲρ ἅπαντας τιμηθεὶς πρωτοβεστιάριος καὶ τὰ τοῖς πολλοῖς ἑτερόχρωμα καθυποδούμενος πέδιλα. Vgl. Piltz, Costume officiel, S. 16. 334 Kaisar: Ps.-Kodinos 2 (S. 46, Z. 6–7 Munitiz): Αἱ κάλτζαι καὶ τὰ ὑποδήματα ἠεράνεα. Sebastokrator: ebenda 44, Z. 7–8: Τὰ ὑποδήματα αὐτοῦ ἠεαράνεα, ἔχοντα ἀετοὺς συρματεΐνους εἰς ἀέρα κόκκινον, ἐφ’ ὧν εἴρηται τόπων τῶν τοῦ δεσπότου (mit Goldfäden auf rotem Grund gestickten Adlern auf dem Rist); Prōtobestiarios: ebd., S. 52, Z. 5: Τὰ ὑποδήματα αὐτοῦ πράσινα. Vgl. Parani, Reality of images, S. 71–72. 335 Ps.-Kodinos 2 (S. 38, Z. 1–3 Munitiz): χρώματος ὀξέος καὶ λευκοῦ, ἔχοντα ἀετοὺς μαργαριταρεΐνους ἐκ πλαγίων τε καὶ ἐπὶ τῶν ταρσῶν, ἤτοι ἐπάνω τῶν τῶν ὑποδημάτων μουζακίων. Vgl. Piltz, Costume officiel, S. 13–14.
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zu tragen336. Konstantinos Dukas hatte nach der Abdankung seines Vaters Michael VII. auf Druck von Nikephoros III. Botaneiates seine roten Schuhe abgelegt. Der neue Kaiser ließ ihn jedoch weiterhin im Palast wohnen und ordnete an, er solle Schuhe aus bunten Seidenstoffen tragen, gleichsam aus scheuer Achtung vor dem jungen Mann und aus Bewunderung für seine Schönheit und zugleich seine hohe Abstammung. Dass nämlich von seinen Stiefeln ausschließlich das Rot erstrahlte, das hatte er ihm gleichsam missgönnt, aber er gestattete, dass das Rot an einigen Stellen in den Stoffen blühte337.
Die Signalwirkung der roten Farbe und die damit assoziierte Teilhabe an der Herrschaft wurden ohne Zweifel rasch wahrgenommen. Als das Reich beispielsweise nach der Abdankung von Michael VII. für drei Tage ohne Kaiser war (31. März bis 2. April), hatte Alexios (I.) Komnenos versucht, den Bruder des Kaisers, Konstantios Dukas, auf dem Thron zu installieren und führte ihn, mit roten Schuhen bekleidet in den Palast. Noch während des Zuges kam es zu Protesten und der Plan wurde verworfen338. Auch der Patriarch Michael Kerullarios trug in der Öffentlichkeit rote Schuhe und rechtfertigte sein Handeln damit, dass diese ein altes Zeichen der Priesterschaft seien339. Es ging hierbei wohl eher um eine demonstrative Imitation eines Vorrechts, das der Bischof von Rom für sich beanspruchte340 als um eine direkte Herausforderung des
336 Liutprand, Ant. 3.35 (S. 84–85 Chiesa). Diesen Umstand will Romanos ändern: Risum denique aliis non solum, sed mihi etiam ipsi moveo, dum pedibus imperatorem, capite communem imitari videar plebem. Nam quae comoedia, mimus quis melior? Igitur aut coronam praebete aut caligas imperiales, quis ridiculus populo videor, auferte. Auch hier begegnet der bereits oben (S. 107–108) erwähnte Topos des unvollständig ausstaffierten Kaisers, der nicht mehr gilt, als ein Schauspieler. Vgl. Franz Tinnefeld, Zum profanen Mimos in Byzanz nach dem Verdikt des Trullanums (691), in: Byzantina 6, 1974, S. 321–343, hier S. 334. 337 Anna Komnene, Alexias 3.4.5 (S. 97, Z. 15–19 Reinsch/Kambylis): ἐκ ποικίλων δὲ σηρικῶν ὑφασμάτων ὑποδήματα προσέταττε περιδεῖσθαι ὥσπερ τὸν νεανίσκον ἐπαισχυνόμενος καὶ τοῦ κάλλους ὁμοῦ καὶ τοῦ γένους ἀγάμενος· τὸ μὲν γὰρ κόκκινον διόλου ἀπαστράπτειν αὐτῷ τῶν πεδίλων οἷον ἐφθόνει, τὸ δέ τινας τόπους ἐκ τῶν ὑφασμάτων ἀνθεῖν τὸ κόκκινον ὑπεδίδου. Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 117. Vgl. Ball, Byzantine dress, S. 14. 338 Bryennios, Anon. Praef. 5 (S. 57 Gautier). Zu diesem Vorfall s. auch oben, S. 51–52 mit Anm. 142. 339 Dieses Detail ist nur überliefert in Skylitzes Cont., S. 105, Z. 1–4 (Tsolakes): Ἐπεβάλετο δὲ καὶ κοκκοβαφῆ περιβαλέσθαι πέδιλα τῆς παλαιᾶς ἱερωσύνης φάσκων εἶναι τὸ τοιοῦτον ἔθος καὶ δεῖν τούτοις κἀν τῇ νέᾳ κεχρῆσθαι τὸν ἀρχιερέα. Ἱερωσύνης γὰρ καὶ βασιλείας τὸ διαφέρον οὐδὲν ἢ αὶ ὀλίγον ἔλεγεν εἶναι. Auf dieses Schuhwerk wird sich jedoch auch Michael Psellos’ Ermahnung an den Patriarchen (ed. Ugo Criscuolo, Michele Psello, Epistola a Michele Cerulario. Seconda edizione riveduta e ampliata [Hellenica et byzantina neapolitana 15], Neapel 1990, S. 27 [6a]) beziehen, die „goldenen“ Schuhe jenen zu überlassen, für die sie gefertigt wurden: Τὸ δὲ χρυσοῦν πέδιλον φορείτωσαν οἷς ἐπικέκλωσται. 340 Das Papsttum berief sich bei der Verwendung der roten Schuhe auf die Konstantinische Schenkung. Selbst falls diese in Byzanz in jener Zeit noch nicht bekannt gewesen sein sollte, hatten die Konflikte mit dem Heiligen Stuhl um 1054 ohne Zweifel zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den angeblichen päpstlichen Vorrechten geführt. Zu diesem Thema vgl. Paul J. Alexander, The donation of Constantine at Byzantium and its earliest use against the Western Empi-
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Kaisers. Dennoch konnte das Verhalten des Patriarchen von den Zeitgenossen kaum anders denn als Majestätsbeleidigung interpretiert werden341. Da das einzigartige Schuhwerk untrennbar mit der Kaisermacht assoziiert wurde, ist es naheliegend, dass Usurpatoren sich dieses Vorrecht anmaßten, um ihre Thronansprüche zu artikulieren. Die Formulierungen variieren hierbei nur im Detail. Während die Schuhe im Allgemeinen mit den generischen Ausdrücken pedilon (πέδιλον [seltener im Plural: pedila, πέδιλα]342 oder hypodēmata (ὑποδήματα)343 wiedergegeben werden, schwankt das Adjektiv zur Angabe der rötlichen Färbung zwischen erythros/erythrobaphēs (ἐρυθρός/ἐρυθροβαφής), kokkinos/kokkobaphēs (κόκκινος/ κοκκoβαφής) und phoinikos/phoinikobaphēs (φοινικός/φοινικοβαφής). Genauere Beschreibungen sind selten344. Die Schilderung des Anlegens der Schuhe tritt häufig an die Stelle einer ausführlicheren Beschreibung der Proklamation und erweckt den Eindruck, als verwendeten die Autoren sie lediglich metaphorisch. Wenngleich dies nicht in allen Fällen ausgeschlossen werden kann, darf man in der Regel vermuten, dass der Schuhwechsel real vollzogen wurde. Bisweilen sind es Anekdoten, die uns ein Bild von rotbeschuhten Usurpatoren zeichnen, beispielsweise die bekannte Episode der Versöhnung von Kaiser Basileios II. und Bardas Skleros. Letzterer habe zwar vor dem Betreten des kaiser-
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re, in: ZRVI 8, 1963, S. 11–26; Hans-Georg Krause, Das Constitutum Constantini im Schisma von 1054, in: Hubert Mordek (Hg.), Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift Friedrich Kempf, Sigmaringen 1983, S. 131–158; Jean-Claude Cheynet, Patriarches et empereurs: de l’opposition à la révolte ouverte, in: Michael Grünbart / Lutz Rickelt / Martin M. Vučetić (Hgg.), Zwei Sonnen am Goldenen Horn? Kaiserliche und patriarchale Macht im byzantinischen Mittelalter. Akten der internationalen Tagung vom 3. bis 5. November 2010 (Byzantinistische Studien und Texte 4), Berlin 2013, S. 1–18, hier S. 7–8. Zu den angeblich zugestandenen Insignien vgl. Pertusi, Insigne, S. 499; zum Vorwurf des Hochverrats vgl. Bourdara, Καθοσίωσις II, S. 17–20 (Nr. 3); Michael Angold, Imperial renewal and orthodox reaction: Byzantium in the eleventh century, in: Paul Magdalino (Hg.), New Constantines. The rhythm of imperial renewal in Byzantium, 4th–13th centuries, London 1994, S. 231–246, hier S. 236–241. Cheynet, Patriarche tyrannos, S. 14. Beispielsweise: Leon Diak. 3.4 (S. 41, Z. 13–14 Hase): τὸ ἐρυθρὸν πέδιλον … ὑποδύεται; 5.9 (S. 90, Z. 15): τό τε πέδιλον τὸ ἐρυθρὸν τοῖς ποσὶν ἐνηρμόσατο; 7.1 (S. 113, Z. 17–18): τὸ μελαμβαφὲς παραιτησάμενος πέδιλον, τὸ ἐρυθρὸν … μετημφιάσατο; Attaleiates, S. 189, Z. 29–190, Z. 1 (Tsolakes): τὰ ἐρυθρὰ καὶ βασίλεια πέδιλα; καὶ τοὺς πόδας τοῖς ἐρυθροῖς μεταμείψας πεδίλοις; Bryennios 3.10 (S. 231, Z. 14–15 Gautier): τὰ κοκκοβαφῆ ὑποδύσασθαι πέδιλα; ebenda 4.31 (S. 301, Z. 6): τὰ κοκκοβαφῆ ὑποδησάμενος πέδιλα; Skylitzes Cont., S. 105, Z. 1–2 (Tsolakes): κοκκοβαφῆ … πέδιλα; Psellos, Chron. 1.27 (S. 16, Z. 11–12 Reinsch): φοινικοβαφοῦς πεδίλου; ἐρυθρὸν πέδιλον; Choniates, Hist., S. 378, Z. 59 (van Dieten): τὸ ἐρυθρὸν ὑποδύεται πέδιλον. Beispielsweise Zonaras 17.7 (S. 556, Z. 15 Pinder/Büttner-Wobst): ὑποδήμασι φοινικοῖς; Psellos 7.103 (= 7a 11; S. 255, Z. 6–7 Reinsch): τοῖς φοινικοῖς τέως ὑποδήμασι τοὺς πόδας ἁρμόζω; Anna Komnene, Alexias 2.7.7 (S. 75 Reinsch/Kambylis): τὸ ἐρυθροβαφὲς ἐνδιδύσκει ὑπόδημα; De cerim. 1.96 (Bd. 1, S. 434, Z. 14–15 Reiske): τὰ ὑποδήματα … ῥούσεα, ἤτοι κόκκινα. S. hierzu unten, S. 116–121.
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lichen Zeltes alle Insignien abgelegt, jedoch auf seine Schuhe vergessen345. Schon zuvor habe derselbe Bardas Skleros gegenüber einer Gesandtschaft auf sein Schuhwerk verwiesen, das es ihm, einmal angelegt, unmöglich mache, seine Ansprüche auf den Thron zurückzunehmen346. Von Bardas Phokas wird berichtet, er habe bei einem morgendlichen Ritt durch sein Heerlager seine roten Schuhe als schwarz wahrgenommen und seine Begleiter für die vermeintliche Verwechslung seiner Garderobe getadelt. Dass ihm seine Augen einen Streich gespielt haben, wird als schlechtes Omen für den Putschversuch interpretiert347. Zwar erfüllen diese Anekdoten in erster Linie eine narrative Funktion, doch können sie schwerlich mit Bildern gearbeitet haben, die allzu realitätsfremd waren. Selbiges gilt für jene Fälle, in denen die Quellen ausdrücklich einen Unterstützer des Usurpators hervorheben, der ihm beim Anlegen der Schuhe hilft: Selbst wenn sich diese Fälle nicht so abgespielt haben, muss die Handlung als solche doch plausibel erschienen sein348. Rein pragmatisch betrachtet, zählten rote Schuhe oder Stiefel zu jenen kaiserlichen Herrschaftszeichen, die mit dem geringsten Aufwand kopiert werden konnten. Fand die Usurpation im Palast statt, waren sie ohnehin verfügbar und auch außerhalb Konstantinopels müssen sie relativ leicht zu beschaffen gewesen sein. Eine gewisse Vorbereitungszeit war jedoch in jedem Fall nötig, was angeblich spontan erfolgte Proklamationen wie jene des Nikephoros Phokas relativiert. Je ausführlicher die Vorbereitungen, desto hochwertigere Insignien konnten für die Ausrufung herangezogen werden. Dank einer außergewöhnlich langen Vorlaufzeit von mehreren Monaten war es bei der Usurpation des Nikephoros Bryennios möglich, dass Ioannes, der Bruder des Usurpators, Purpurkleidung, Schuhe und sogar einen roten Pferdewagen hatte anfertigen lassen können349. So scheinen auch die Purpurschuhe von durchaus hoher Qualität gewesen zu sein und in ihrer Dekoration mit Perlen- und Steinbesatz wohl nahe an das kaiserliche Vorbild herangereicht haben. Nach der Niederschlagung der Usurpation sandte sie Alexios Komnenos – damals noch General – als Trophäe an Kaiser Nikephoros III. Botaneiates350. Aus ökonomischer Sicht scheint die Annahme der kaiserlichen Schuhe aufgrund der Klarheit ihrer Botschaft und der Einfachheit ihrer Beschaffung eine logische Wahl. Darüber hinaus ist jedoch auch hier die symbolische Dimension miteinzubeziehen. Wie ein-
345 Psellos, Chron. 1.27 (S. 16–17 Reinsch); Zonaras 17.7 (S. 556, Z. 15–17 Pinder/Büttner-Wobst): τὰ μὲν γὰρ ἄλλα τῆς βασιλείας γνωρίσματα ὁ Σκληρὸς ἀπεδύσατο, τὰ δὲ γε πέδιλα οὐκ ἀπέθετο „ἢ γᾶρ λάθετ’ ἢ οὐκ ἐνόηνσεν“; vgl. Grünbart, Versöhnung, S. 214–219. 346 Skylitzes, S. 317 (Thurn). Vgl. Cresci, Appunti, S. 110. 347 Leon Diak. 7.6 (S. 121 Hase). 348 Vgl. Kapitel 2.2.7. 349 Bryennios 3.8 (S. 227 Gautier). 350 Bryennios 4.16 (S. 281, Z. 27–30 Gautier): Τοῦτον οὖν λαβὼν αὐτὸς μὲν ἀπῄει ὡς πρὸς τὴν Κωνσταντινούπολιν· τὰ δὲ κοκκοβαφῆ πέδιλα, ἃ ἐκεῖνος βασιλειῶν ἐπεδύετο, μαργάροις ὄντα καὶ λίθοις κατάστικτα πρὸς τὸν κρατοῦντα ἐξέπεμπε, μηνύων αὐτῷ τὴν ἐκείνου κατάσχεσιν.
Die Proklamation
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gangs erwähnt, spielten die kaiserlichen Schuhe im Zeremoniell keine besondere Rolle, während je nach Anlass bestimmte Kleidungsstücke und Kronen aus der kaiserlichen Garderobe im Mittelpunkt standen. Möglicherweise liegt aber genau hier der Schlüssel zum Verständnis der Bedeutung des roten Schuhwerks: Als einziges Herrschaftszeichen scheint es untrennbar mit dem Körper des Kaisers verbunden. Die Schuhe definieren den Herrscher nicht nur für den Augenblick einer einzigen Zeremonie, stehen nicht für eine bestimmte Rolle oder Aufgabe, sondern sind ständiges Kennzeichen der Kaiserwürde, selbst ohne ergänzende zeremonielle Kleidung. Zumindest deuten vereinzelte Anekdoten auf diesen Schluss hin. Leon V. (813–820) etwa verrieten seine Stiefel, als er nachts den von ihm zum Tode verurteilten Michael (II.) besuchte351. Als der heilige Blasios einmal durch den Palast streifte, soll er den in Kalligraphie vertieften Leon VI. (886–912) nur an dessen roten Schuhen erkannt haben352 und zumindest Romanos III. Argyros (1028–1034) trug das exklusive Schuhwerk auch in der Schlacht353. In den Schuhen artikuliert sich der magische Wandel von der Privatperson zum Kaiser daher vielleicht am deutlichsten. Nicht umsonst sind die Schuhe in der Bildsprache der byzantinischen Historiographen bisweilen das letzte äußerliche Erkennungszeichen, das ein Kaiser abzulegen bereit ist. Man denke etwa an die erwähnte Kapitulation von Bardas Skleros (987), der beinahe noch in Purpurschuhen vor den siegreichen Kaiser Basileios II. getreten sei354. Michael Psellos berichtet anlässlich der Abdankung von Michael IV. (1041), dass dieser vor dem Gang ins Kloster die kaiserliche Robe gegen ein schlichtes Gewand tauschen wollte, doch hatten seine Diener vergessen, passende Schuhe aufzutreiben. Wütend trat Michael den Weg barfuß an. Mit roten Schuhen ins Kloster zu gehen, schien ihm – besser: dem Verfassser der Anekdote – gewiss unschicklich355. Angesichts der bevorstehenden Usurpation des Alexios (I.) Komnenos zeigte sich Nikephoros III. Botaneiates dazu bereit, auf die faktische Kaisermacht zu verzichten, solange er nur seinen Titel und seine roten Schuhe sowie das Anrecht auf standesgemäße Akklamationen behalten dürfte356. Andronikos
351 Skylitzes, S. 21, Z. 10–22, Z. 11 (Thurn): ἐκ τῶν φοινικῶν … ἐμβάδων. 352 AASS Nov. IV, S. 666; vgl. Henri Gregoire, Les Acta Sanctorum, in: Byz 4, 1927–1928, S. 791– 812, hier S. 806. 353 Psellos, Chron. 3.10 (S. 37, Z. 16–17 Reinsch): κατηγόρει γὰρ τοῦτον, τὸ περὶ τῷ πεδιλῳ χρῶμα. Vgl. Piotr Ł. Grotowski, Arms and armour of the warrior saints. Tradition and innovation in Byzantine iconography (843–1261) (The Medieval Mediterranean. Peoples, Economies and Cultures, 400–1500 87), Leiden/Boston 2010, S. 193 mit Anm. 263 sieht hierin, meines Erachtens zu Unrecht, ein Versäumnis des Kaisers, die Schuhe vor der Schlacht zu wechseln. Für eine solche Praxis liegen keinerlei Indizien vor. Schon von Herakleios (610–641) berichtet Theophanes AM 6116 (S. 314, Z. 17 de Boor), dass er in der Schlacht an seinen Schuhen erkannt worden sei: ἐκ γὰρ τῶν ἀληθινῶν τζαγγίων ἐγνωρίζετο. 354 Skylitzes, S. 338–339 (Thurn); Psellos, Chron. 1.27 (S. 16 Reinsch). S. auch oben, S. 113–114. 355 Psellos, Chron. 4.54 (S. 79 Reinsch). 356 Anna Komnene, Alexias 2.12.2 (S. 84, Z. 96–85, Z. 9 Reinsch/Kambylis). S. auch unten, S. 173.
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I. Komnenos sah sich 1185 zur hastigen Flucht aus dem Palast genötigt. Als letztes Zeichen seiner Herrschaft streifte er, so Niketas Choniates, noch die Purpurschuhe ab und setzte einen Hut auf, bevor er sich in sein Boot begab357. Abschließend sei der Frage nachgegangen, wie die Schuhe des Kaisers – und damit auch jene des Usurpators – ausgesehen haben. Genaue Angaben zur Gestalt des Schuhwerks sind im Untersuchungszeitraum zwar selten; bezieht man jedoch frühere und spätere Jahrhunderte mit ein, so lässt sich zumindest eine Hypothese zur kostümgeschichtlichen Entwicklung entwerfen (vgl. Tabelle 5). Für das 6. Jahrhundert ist die Situation relativ klar: Als Teil des militärischen Kriegskostüms, bestehend aus vergoldetem Brustpanzer, chlamys und knielanger Tunika358, trug der spätrömische und frühbyzantinische Kaiser purpurfarbene cothurni359, also bis zur Mitte der Wade reichende Militärsandalen, welche vorne geschnürt wurden und die Zehen freiließen. Der cothurnus ist auf Kaiserdarstellungen bis ins 6. Jahrhundert belegt, etwa auf dem berühmten Barberini-Diptychon(Tab. 5, Zeile 1)360. Das militärische Friedenskostüm361 war in frühbyzantinischer Zeit hingegen durch campagi abgerundet worden. Darunter sind Sandalen zu verstehen, welche nur Ferse und Zehen bedeckten und mittels einer Spange am Knöchel oder einem über die Länge des Fußes verlaufenden Riemen befestigt wurden362; darunter trug man Strümpfe. Besonders detailreiche Abbildungen dieses Schuhtyps lassen sich auf der so genannten Reiterschale aus Kertsch (4. Jh.) und auf dem Justinian-Mosaik in San Vitale (6. Jh.) finden (Tab. 5, Zeile 3)363.
357 Choniates, Hist., S. 346 (van Dieten): τρέπεται πρὸς φυγὴν καὶ τὸ φοινικοβαφὲς πέδιλον τοῦ ποδὸς ἀφελιξάμενος. Die Übersetzung von Magoulias (O City of Byzantium. The annals of Niketas Choniatēs, translated by Henry J. Magoulias. Detroit 1984), S. 200: „taking wing in his purple-died buskins“ ist inkorrekt. Zum Verb ἀφελίσσω s. das entsprechende Lemma in LBG. 358 Alföldi, Repräsentation, S. 175–184; RbK 3, S. 372; Pertusi, Insegne, S. 501; Gioles, Insignia, S. 63. 359 Explizit erwähnt im 6. Jh. als purpureus cothurnus von Corippus, In laudem 2.104 (S. 50 Cameron). Vgl. Pertusi, Insigne, S. 499. 360 Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. OA 9063. 361 Alföldi, Repräsentation, S. 184–186; RbK 3, S. 371; Pertusi, Insegne, S. 501; Gioles, Insignia, S. 63. 362 Eine ausführliche Beschreibung aus dem 6. Jahrhundert findet sich in De magistratibus 1.17 (De magistratibus rei publicae Romanae. Ioannes Lydus on powers or the magistracies of the Roman state. Introduction, critical text, translation, commentary, and indices by Anastasius C. Bandy, Philadelphia 1983, S. 31–32): καὶ ὑπόδημα μέλαν, ὑποσάνδαλον, δι’ ὅλου γυμνόν, βραχεῖ τινι ἀναστήματι τὴν πτέρνην, ἐπ’ ἄκρου δὲ τοὺς δακτύλους τῶν ποδῶν συσφίγγον, ἱμάντων ἑκατέρωθεν ἐπὶ τοὺς ἀστραγάλους ὑπὸ τὸ ψαλίδωμα τοῦ ποδὸς διελκομένων, ἐπὶ τὸ στῆθος ἀνθυπαντώντων ἀλλήλοις καὶ διαδεσμούντων τὸν πόδα, ὥστε βραχὺ λίαν ἔκ τε δακτύλων ἔμπροσθεν καὶ ἐξόπισθεν διαφαίνεσθαι τὸ ὑπόδημα, ὄλον δὲ τὸν πόδα τῇ περισκελίδι διαλάμπειν. Κάμπαγον αὐτὸ καλοῦσιν ἐκ τῆς ἐπὶ τὸν κάμπον, οἷον εἰ τὸ πεδίον, χρείας ἔτι καὶ νῦν· ἐπὶ γὰρ τοῦ πεδίου γινόμενοι τὰς προαγωγὰς τῶν ἀρχόντων Ῥωμαῖοι ἐπετέλουν, ἐφ’ οὗ τοῖς τοιούτοις ἐστέλλοντο ὑποδήμασιν. 363 RbK III, S. 447–448; ODB II, S. 796, s. v. footgear; Gioles, Insignia, S. 68.
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Die Proklamation
Tab. 5 Hypothetische Entwicklung des kaiserlichen Schuhwerks (Skizzen nach Bildern/Realien) Kostüm militärisch
zivil
Bezeichnung cothurni
Beschreibung
Nachweis
Skizze
Geschnürte Legionärsstiefel
Bild/Realie
Text
–6. Jh.
bis mind. 5. Jh.
tzangia
Kniehohe Stiefel
9.–11. Jh.
5.–14. Jh.
campagi/ kampagia
Sandalen, die nur Zehen und Ferse bedecken + Strümpfe
4. Jh., 6. Jh.,
6. Jh.–10. Jh.
campagi/ kampagia (Variation?)
Elemente von Riemensandalen
10. Jh.
6. Jh.–10. Jh.
Halbhohe Stiefeletten (?)
11. Jh.?
–
11. Jh.?, 12.–13. Jh.
11.–14. Jh.
?
„hypodēmata“ Halbschuhe aus Samit + Strümpfe
Wie das kaiserliche Schuhwerk – abgesehen von roter Farbe und Perlenbesatz364 – in der Zeit der Makedonen- und Komnenenkaiser auszusehen hatte, ist in der Forschung umstritten365. Als vermeintlicher terminus technicus für das kaiserliche Schuhwerk begegnet ab dem 5. Jahrhundert bisweilen der Pluralbegriff tzangia (τζάγγια, spätbyz. 364 So zu sehen auf der Mosaikdarstellung Kaiser Alexandros’ in der Hagia Sophia; vgl. auch Bibl. Nat. Madrid, Cod. Vitr. 26–2 („Skylitzes Matritensis“), 12v, 28v (oben), 42v, 45r, 46v, 47r. 365 Zu vereinfachend daher die Aussage in ODB II, S. 795, s. v. footgear: „the emperor and his family are always depicted wearing the same type of high red boots, adorned with little rows of pearls, esp. at the tips and ankles.“ Ausführlich zu byzantinischem Schuhwerk: Phaidon Koukoules, Βυζαντινῶν βίος καί πολιτισμός, 5 Bde., Athen 1948–1952, Bd. 4, S. 395–418 und Grotowski, Arms and armour, S. 187–203.
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Performative Aspekte von Usurpationen
τζάγκια)366, der je nach Bearbeiter oder Bearbeiterin der Thematik als kniehohe Reiterstiefel367, niedrige Soldatenstiefel368 oder weiche, knöchelhohe Seidenschuhe369 interpretiert wurde. Meines Erachtens sind die tzangia in jedem Fall als eine Art Stiefel zu verstehen: Theophanes überliefert ihre Verwendung in der Schlacht370 und noch um die Mitte des 14. Jahrhunderts wiesen die tzangia einen Schaft auf, auf dem Adler aus Perlen aufgenäht sein konnten371. Im Zeremoniell waren sie vor allem bei manchen Prozessionen (zu Pferde?) vorgesehen, für die man reit- (oder geh-)taugliches Schuhwerk benötigte372. Demnach sind wohl auch jene kniehohen, purpurfarbenen Reiterstiefel, die Basileios II. auf Folio 3r des Cod. Marc. gr. 17 trägt, als tzangia anzusprechen (Tab. 5, Zeile 2). Stiefel dieser Art rundeten – wie auch auf der eben erwähnten Darstellung – das militärische Kaiserkostüm ab. Auch Wilhelm von Apulien dürfte sich auf die roten Stiefel beziehen, wenn er zur Usurpation des Georgios Maniakes poetisch meint, dieser „habe seinen Fuß mit rotem Leder geschmückt, wie es jene zu tun pflegen, die die Kaiserherrschaft innehaben“373. Unklar ist hingegen, ob auch Liutprand von Cremona von solchen Stiefeln spricht, wenn er im 10. Jahrhundert von der Sitte der byzantinischen Kaiser berichtet, caligae imperiales aus rotem Leder zu tragen374. Die Trennung von militärischem und zivilen Schuhwerk scheint sich nämlich aus der frühbyzantinischen Zeit erhalten zu haben 366 De cerim. 1.91 (Bd. 1, S. 416–417 Reiske): Proklamation Leons I.; Theophanes AM 6015 (S. 168 de Boor): Der Lazenkönig Tzathios erhält Insignien von Kaiser Justinian I.; ebd. AM 6274 (S. 456): Proklamation des Usurpators Elpidios auf Sizilien; Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1064 (Migne): Mitkaiserkrönung Basileios’ (I.); ebd., S. 1068: geplante Ernennung des Basiliskianos zum Mitkaiser; In Digenis Akrites 3.121 (Digenis Akritis. The Grottaferrata and Escorial versions. Edited and translated by Elisabeth Jeffreys [Cambridge Medieval Classics], Cambridge 1998, S. 50) begegnen die tzangia als Schuhwerk – und offenbar Herrschaftszeichen – des Emirs (vgl. ebd. S. 51, Anm. zu den Versen 119–121). 367 RbK III, S. 446; Gioles, Insignia, S. 68. 368 Grotowski, Arms and armour, S. 191–193. 369 Ball, Byzantine dress, S. 13–14. 370 Theophanes AM 6116 (S. 314 de Boor), vgl. oben, S. 115, Anm. 353. 371 Ps.-Kodinos 3 (S. 171–172 Verpeaux, S. 78–80 Munitiz): Ἔστι καὶ ἕτερον εἶδος ὑποδημάτων, ἃ καλοῦνται τζαγκία, ἔχοντα ἐκ πλαγίων κατὰ τὰς κνήμας καὶ ἐπὶ τῶν ταρσῶν ἀετοὺς διὰ λίθων καὶ μαργάρων. 372 De cerim. 1.91 (Bd. 1, S. 416–417 Reiske): Beim Bankett nach der Krönung Leons I. trug der Kaiser selbst campagi, während die geladenen Gäste in tzangia erscheinen sollten, da sie direkt von der Prozession (πρόκενσον) kamen. 373 Wilhelm von Apulien 124–126 (Guillaume de Pouille, La Geste de Robert Guiscard. Édition, traduction, commentaire et introduction par Marguerite Mathieu avec une préface de Henri Grégoire [Istituto Siciliano di Studi Bizantini e Neoellenici, Testi e Monumenti. Testi 4], Palermo 1961): Assumitur imperialis | Purpura; pes dexter decoratur pelle rubenti, | Qua solet imperii qui curam suscipit uti. 374 Liutprand, Ant. 3.35 (S. 84–85 Chiesa): … rubricatarum pellium caligis, ut isthic imperatorum moris est uteretur. Caligae sind grundsätzlich die Riemensandalen der römischen Legionäre. Im mittelalterlichen Latein kann caligae aber auch Stiefel, später auch Strümpfe und Beinschienen meinen: Mediae Latinitatis Lexicon Minus, composuit Jan Frederik Niermeyer, Leiden/New York/ Köln 21997, S. 115, s. v. caligae.
Die Proklamation
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und gerade für die Zeit Liutprands lässt sich auch das Tragen der sandalenartigen campagi weiterhin belegen375: Das Zeremonienbuch erwähnt die Verwendung von kampagia (καμπάγια) beim Adventus von Nikephoros Phokas und bei einem Triumphzug von Basileios I.376. Auch Elfenbeinschnitzereien und Emailarbeiten aus dieser Zeit zeigen kaiserliche Schuhe, die als Weiterentwicklung der frühbyzantinischen campagi mit geschlossenem Zehenbereich sowie Elementen von Riemensandalen anzusprechen sind(Tab. 5, Zeile 4)377. Nach dem 10. Jahrhundert verlieren sich die Zeugnisse für die Verwendung von campagi endgültig. Die Terminologie ist im 11. und 12. Jahrhundert denkbar unscharf und spricht das kaiserliche Schuhwerk nur noch mit dem allgemeinen Begriff für Schuhe als hypodēmata (ὑποδήματα) an378. Die bildlichen Zeugnisse helfen kaum weiter, doch begegnen auf Kaiserdarstellungen nun erstmals auch halbhohe Stiefeletten, die eine Entsprechung in den zeitgenössischen Soldatenstiefeln haben könnten(Tab. 5, Zeile 5)379. Detailreichere Kaiserbilder, wie etwa auf der so genannten Monomachoskrone380 oder dem runden Marmorrelief der Dumbarton Oaks Collection381 zeigen zwar stilisierte Verstärkungen im Zehen- und Knöchelbereich, erlauben aber keine nähere Beschreibung des Schuhwerks. Es gibt jedoch weitere Indizien, dass die campagi irgendwann nach dem 10. Jahrhundert durch geschlossene Schuhe ersetzt wurden. So erwähnt ein Zeremonienhandbuch des 14. Jahrhunderts als Alternative zu den hypodēmata lediglich die tzangia. Diese wurden in dieser Zeit nur noch für die Prokypsis-und die Peripatoszeremonie
375 Grotowski, Arms and armour, S. 198–203 hält um die Waden gewickelte Lederbänder für den letzten Rest der campagi in mittelbyzantinischer Zeit, stellt aber keine Verbindung zum Terminus καμπάγια her. 376 De Cerim. 1.96, 2.52 (Bd. 1, S. 439, 742 Reiske); De exped., S. 145 (Haldon). 377 Etwa die Elfenbeintafel mit der Darstellung der Krönung von Konstantinos’ VII. durch Christus im Staatlichen Museum der bildenden Künste Moskau, Inv.-Nr. П-162. 378 Taxiarchis Kolias, Byzantinische Waffen. Ein Beitrag zur byzantinischen Waffenkunde von den Anfängen bis zur lateinischen Eroberung (Byzantina Vindobonensia 17), Wien 1988, S. 72 meint, dass hiermit die kniehohen Stiefel gemeint seien. Allerdings verwenden die Quellen ὑποδήματα als generischen Begriff für verschiedenste Schuhtypen. Grotowski, Arms and Armour, S. 194 mit Anm. 270 folgt Kolias, übersieht aber die Konsequenz, dass der hohe Soldatenstiefel auch als Standardschuh für das „zivile“ Kaiserornat angenommen werden müsste (vgl. Psellos, Chron. 7a.11 [S. 255 Reinsch]), was er aber S. 191–193 ausschließt, da er als Schuhwerk des Kaisers τζάγγια mit niedrigem Schaft annimmt. 379 Etwa auf einer Steatitikone des hl. Theodoros Stratelates (11. Jh.) im Museo Sacro della Biblioteca Apostolica, Inv.-Nr. 982; ähnlich: Bibl. Nat. Madrid, Cod. Vitr. 26–2, 46r (oben), 171r (oben). An anderen Stellen (53v, 196r) scheint der thronende Kaiser hingegen höhere Stiefel zu tragen. In vielen Fällen lässt sich nicht entscheiden, ob es sich um Halbschuhe und gleichfarbige Strümpfe oder Hosen oder um Stiefel mit einem Querriemen am Knöchel handelt: 102r (Mitte, unten), 204v, 208v, 210r. 380 Budapest, Ungarisches Nationalmuseum, Inv-Nr. 99/1860. 381 Washington, D. C., Dumbarton Oaks Collection, Inv.-Nr. BZ.1937.23.
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Performative Aspekte von Usurpationen
verwendet382. Das mag für schlichteres Schuhwerk sprechen, denn bei beiden genannten Gelegenheiten waren die Füße des Kaisers ohnehin nicht zu sehen, befand er sich doch auf einem Balkon bzw. spazierte auf einer Galerie383. Über die hypodēmata (zumindest jene des despotēs) selbst erfahren wir an anderer Stelle derselben Quelle, dass auch sie adlerförmigen Perlenbesatz aufweisen konnten, allerdings nicht am Schaft, sondern am Rist384, wohl weil es sich um eine Art Halbschuh handelte, der mit Strümpfen kombiniert wurde385. Schuhe dieser Art sind in der byzantinischen Elite zweifelsfrei bereits ab dem späten 12. Jahrhundert belegt: Niketas Choniates kritisiert, dass der ihm zufolge verweichlichte Gouverneur von Thessalonike sich stets nur in goldbestickten Schuhen gezeigt habe, die ihm bis zum Knöchel reichten386. Ähnliche Schuhe (saullers) dürften auch bei der Krönung Balduins von Flandern zum Kaiser von Konstantinopel im Jahre 1204 verwendet worden sein387, was vermuten lässt, dass diese – wie auch die anderen hierbei verwendeten Insignien – zu diesem Zeitpunkt Bestandteil der byzantinischen kaiserlichen Garderobe waren388. Gestützt wird diese Hypothese durch eine Ekphrasis eines Tjostturniers, in der auch die Kleidung eines anwesenden byzantinischen Kaisers, höchstwahrscheinlich Manuels I. Komnenos (1143–1180), beschrieben wird389. Die Schilderung der Schuhe lässt zwar keine Rückschlüsse auf deren F o r m zu, doch entspricht die D e k o r a t i o n einerseits jener der hypodēmata des 14. Jahrhunderts und andererseits den erhaltenen
382 Ps.-Kodinos 3 (S. 171–172 Verpeaux, S. 78–80 Munitiz): Ἔστι καὶ ἕτερον εἶδος ὑποδημάτων, ἃ καλοῦνται τζαγκία … ἅτινα καὶ φορεῖ ὁ βασιλεὺς εἴς τε τοὺς περιπάτους καὶ τὰς προκύψεις. Καὶ ὁ ταῦτα ποιῶν οὐ τζαγκάριος, ὡς οἱ ἕτεροι, ἀλλὰ τζαγκὰς ὀνομάζεται. 383 Zu den beiden Zeremonien vgl. Macrides/Munitiz/Angelov, Pseudo-Kodinos, S. 401–413. Zur Prokypsis s. auch Treitinger, Kaiseridee, S. 113–120; Michael Jeffreys, The Comnenian prokypsis, in: Parergon, N. S. 5, 1987, S. 38–53; Henry Maguire, Art, Ceremony, and spiritual authority at the Byzantine court, in: Ayla Ödekan / Nevra Necipoğlu / Elgin Akyürek (Hgg.), The Byzantine court: Source of power and culture. Papers from the Second International Sevgi Gönül Byzantine Studies Symposium, Istanbul 21–23 June 2010, Istanbul 2013, S. 111–121. 384 Ps.-Kodinos 2 (S. 36, Z. 4–38, Z. 3 Munitiz): Tα δ’ ὑποδήματα αὐτοῦ διβολέα, χρώματος ὀξέος καὶ λευκοῦ, ἔχοντα ἀετοὺς μαργαριταρεΐνους ἐκ πλαγίων τε καὶ ἐπὶ τῶν ταρσῶν, ἤτοι ἐπάνω τῶν τῶν ὑποδημάτων μουζακίων. 385 Ps.-Kodinos 2 (S. 36, Z. 4 Munitiz): αἱ καλτζαι κοκκιναι. 386 Choniates, Hist., S. 298 (van Dieten): πεδίλων κομψῶν ἐστιγμένων χρυσῷ ἐς αὐτὸν ἀποληγόντων ἀστράγαλον. Vgl. Grünbart, Aristokratie, S. 63. 387 Robert von Clari 93–95 (S. 138–142 Markov). 388 Robert von Clari 83 (S. 128–130 Markov) erwähnt, dass die Kreuzfahrer im Blachernenpalast Kronen und Gewänder vorgefunden haben; vgl. Hendy, DOC 4/1, S. 144. 389 Ed. Spyridon Lampros, Ἔκφρασις τῶν ξυλοκονταριῶν τοῦ κραταίου καὶ ἁγίου ἡμῶν αὐθέντου καὶ βασιλέως, in: Neos Hellenomnemon 5, 1908, S. 3–18, hier S. 18: Τὸ πέδιλον ἐρυθρὸν καὶ ὄντως βασιλικόν. Ἀετοὶ λευκοὶ τοῖς πεδίλοις ἀπὸ μαργάρου γεγράφατο, ἵνα καὶ τῷ λευκῷ τῶν μαργάρων καὶ τῷ ὑψιπετεῖ τῶν πτηνῶν ὅλον ἐνζωγραφῆται τὸ τοῦ βασιλέως αἰθέριον; vgl. Henry Maguire, The Heavenly court, in: Henry Maguire (Hg.), Byzantine court culture from 829 to 1204, Washington, D. C. 1997, S. 247–258, hier S. 253–254; Parani, Reality of images, S. 31; Paul Magdalino / Robert Nelson, The emperor in Byzantine art of the twelfth century, in: BF 8, 1982, S. 123–183, hier S. 167–168.
Die Proklamation
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Sammitschuhen des normannischen, später römisch-deutschen Königsornats (Tab. 5, Zeile 6)390. Trotz massiver Umgestaltung im 16. oder 17. Jahrhundert stammt die Grundform letzterer aus dem 12. Jahrhundert und wurde über Strümpfen getragen391. Die kaiserlichen Halbschuhe, die man also bis mindestens in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts zurückverfolgen kann, wird man sich ähnlich vorzustellen haben. Der Übergang von den kampagia zu diesem Schuhtyp muss irgendwann zwischen ca. 950 und 1150 stattgefunden haben; eine weitere Eingrenzung ist auf Grundlage des bisher ausgewerteten Quellenmaterials nicht möglich. 2.2.5 Kaiser wider Willen? Die Weigerung oder das Zögern des Thronanwärters im Vorfeld – oder noch während – einer Proklamation ist ein beliebtes Motiv der byzantinischen Historiographie. Nach seiner Proklamation soll etwa Nikephoros II. Phokas in voller Rüstung vor seine Truppen getreten sein und seine Ansprache folgendermaßen begonnen haben: Meine Mitstreiter! Dass ich die kaiserlichen Insignien nicht aus dem Wunsch nach einer Rebellion (tyrannis) heraus annahm, sondern von euch, dem Heer, dazu gezwungen wurde, das könnt ihr selbst mir bezeugen. Gegen meinen Willen habt ihr mich, obwohl ich es abwenden wollte, dazu gedrängt, eine solch große Aufgabe und die Sorge um die Allgemeinheit auf mich zu nehmen. Ich möchte, dass ihr alle wisst, dass ich mich für einen solch großen Kampf nur aus Wohlwollen euch gegenüber und zu meiner eigenen Sicherheit hergebe392.
Bereits vor der Proklamation soll er sich gegen die Annahme der Wahl gewehrt haben. Nach Leon Diakonos habe er den Tod seiner Ehefrau und seines Sohnes als Vorwände angeführt; das Zeremonienbuch berichtet sogar, dass er von seinen Anhängern mit Gewalt aus seinem Zelt getragen werden musste393.
390 Kunsthistorisches Museum Wien, Weltliche Schatzkammer, Inv.-Nr. XIII 13. Vgl. Maria Andaloro (Hg.), Nobiles Officinae. Perle, filigrane e trame di seta del Palazzo Reale di Palermo. I: Catalogo della mostra, Palermo 30 marzo–13 giugno 2004, Palermo 2006, S. 62–63 (Nr. I.5); weitere einst zum Ornat gehörende Schuhe sind nur bildlich überliefert: Kunsthistorisches Museum Wien, Bibliothek, Inv.-Nr. 35.326/VIII. Vgl. Nobiles Officinae, S. 86 (Nr. I.13e). 391 Vgl. auch hier die Strümpfe des Kaiserornats der weltlichen Schatzkammer in Wien (Inv.-Nr. XIII 12). Vgl. Nobiles Officinae, S. 61 (Nr. I.4). 392 Leon Diak. 3.5 (S. 42, Z. 1–7 Hase): „Ὅτι μὲν οὐκ ἐφέσει τυραννίδος, ὦ συστρατιῶται, τόδε τὸ σχῆμα τῆς βασιλείας ἀνείληφα, κατανάγκῃ δὲ ὑμῶν τοῦ στρατοῦ βιασθεὶς, μαρτυρεῖτέ μοι καὶ αὐτοὶ, οἵ γε καὶ ἀποτροπιαζόμενόν τε τὴν τοσαύτην φροντίδα καὶ πρόνοιαν τοῦ παντὸς, καὶ ἄκοντα κατηναγκάσατε δέξασθαι. ὅτι δὲ εὐνοίᾳ μᾶλλον ὑμῶν τε καὶ ἀσφαλείᾳ ἑαυτοῦ πρὸς τὸν τοσοῦτον ἀγῶνα ἐπέδωκα ἐμαυτὸν, εἰδέναι βούλομαι πάντας ὑμᾶς“. 393 Leon Diak. 3.4 (S. 40–41 Hase); De cerim. 1.96 (Bd. 1, S. 434 Reiske). S. auch oben S. 64–65 und Tabelle 2.
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Performative Aspekte von Usurpationen
All das ist weder außergewöhnlich noch neu. Im Römischen Reich war die demonstrative Zurückweisung des angetragenen Herrscheramtes seit dem Machtantritt des Octavian/Augustus zu einem mehr oder weniger festen Bestandteil von Kaisererhebungen geworden394. Gerade die Machtverdichtung in den Händen eines Mannes machte ein Instrument nötig, das die ehrgeizigen Ambitionen des Herrschers in den Hintergrund rückte und den Konsens des Volkes (oder zumindest der Entscheidungsträger) betonte. Dies freilich war umso nötiger, wenn die Herrschaft tatsächlich mit Gewalt erworben wurde oder werden sollte. Es ist daher nur logisch, dass sich die recusatio imperii schon im 3. und 4. Jahrhundert besonders häufig im Kontext der Erhebung von Usurpatoren im Feldlager beobachten lässt395. Die byzantinische Praxis schließt hier nahtlos an, auch wenn die recusatio weit seltener begegnet als in der Zeit des Prinzipats und der Tetrarchie396. Die individuell ins Feld geführten Begründungen sind dieselben wie schon in römischer Zeit und reichen von der Klage über die Bürde der Herrschaft bis hin zur Furcht um Leib und Leben oder Sorge um die mangelnde Eignung für das Amt397. Ob es sich um ein berechnendes Manöver, Understatement, vorgeschobene Ausflüchte oder ernst gemeinte Bedenken handelt, muss offen bleiben. Wenn sich etwa Nikolaos Kannabos in der chaotischen Lage 1204 dagegen sträubt, von einem Teil der Bevölkerung Konstantinopels zum Kaiser ausgerufen zu werden und Theodora während des Sturzes von Michael V. im Jahre 1042 nur mit Gewalt aus ihrem Kloster geholt werden kann, so mag man diese Weigerungen noch am ehesten als natürliche Reaktion ansehen398. In jenen Fällen hingegen, in denen der Proklamation eine längere Phase der Planung voranging, ist davon auszugehen, dass sich die Entscheidungsträger bereits im Vorfeld auf einen gemeinsamen Kandidaten geeinigt hatten, und das Zögern einen Teil der Inszenierung darstellte. So soll Nikephoros Bryennios trotz monatelanger Vorbereitung seiner Usurpation sich noch bei der Proklamation geziert haben und erst dem Drängen seiner Truppen nachgegeben haben399. Bezeichnend ist auch das Verhalten von Alexios (I.) Komnenos, der bis zum
394 Grundlegend: Ulrich Huttner, Recusatio imperii. Ein politisches Ritual zwischen Ethik und Taktik (Spudasmata 93), Hildesheim/Zürich/New York 2004. 395 Huttner, Recusatio, S. 160–213 zur Inszenierung im Feldlager und S. 409–412 zur recusatio von Usurpatoren. Hierzu siehe auch Szidat, Usurpator, S. 74–75. 396 Zur recusatio byzantinischer Usurpatoren s. im Detail auch Heher, Mobiles Kaisertum, S. 117–122. Eine systematische Erforschung des Phänomens der recusatio in Byzanz steht noch aus. Außerhalb des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit sei noch exemplarisch die Weigerung von Leon V. (813–820): Skylitzes, S. 7 (Thurn) im Feldlager genannt. 397 Für die römischen Beispiele siehe Huttner, Recusatio, S. 442–457. 398 Theodora wurde nach Psellos, Chron 5.37 (S. 99 Reinsch) gar mit Waffengewalt überzeugt; Attaleiates (S. 13 Tsolakes), Skylitzes, S. 418 (Thurn) und Zonaras 17.19 (S. 611–612 Pinder/Büttner-Wobst) erwähnen die Weigerung nicht; zu Nikolaos Kannabos s. Choniates, Hist., S. 563 (van Dieten). 399 Bryennios 3.10 (S. 231 Gautier). S. oben, S. 66 und Appendix, P 18.
Die Proklamation
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Zeitpunkt seiner Ausrufung stets seinem Bruder Isaakios den Vorrang zugestanden haben soll, wohl wissend, dass die Gruppierung der Verschwörer ihn selbst als Kandidaten favorisierte. Schließlich soll es Isaakios gewesen sein, der seinen Bruder dazu gezwungen habe, die purpurnen Schuhe anzulegen400. Wenig aufrichtig mutet auch die Überraschung Andronikos’ (I.) Komnenos angesichts seiner Mitkaiserkrönung an401. Die Frage nach der Aufrichtigkeit der Weigerung zu stellen, ist allerdings ohnehin ebenso aussichtslos wie müßig. Es geht nicht um das persönliche Empfinden des Kandidaten, sondern um das inszenierte Ritual. Man mag einwenden, dass die Weigerung nur ein literarischer Topos ohne reale Implikation ist. Immerhin betonen häufig vor allem die den Usurpatoren wohlwollenden Quellen ihr zögerliches und bescheidenes Verhalten. Eine nachträgliche Apologie literarischer Art schließt jedoch nicht aus, dass eine solche nicht auch in ritualisierter Form einen Bestandteil mancher Proklamation gebildet haben mag. Außerdem ist ein rein literarischer Topos ohne jede glaubhafte Referenz zur Realität kaum vorstellbar402. Gerade bei Proklamationen in militärischem Umfeld und mit der konkreten Aussicht auf Kampfhandlungen, in denen zwangsweise das Blut von Landsleuten vergossen würde, ist eine offizielle Rechtfertigung im Vorhinein durchaus wahrscheinlich. 2.2.6 Die Schilderhebung Die Proklamation des Usurpators Leon Tornikios im Jahre 1047 folgte mit der Einkleidung in kaiserliche Gewänder und Akklamationen durch seine Truppen grundsätzlich dem üblichen Muster403. Dem Zeitzeugen Michael Psellos, dem wir die detaillierteste Schilderung von Leons Usurpation verdanken, weiß jedoch von einem weiteren vollzogenen Ritual zu berichten: Sie wählten Leon zu ihrem Kaiser und organisierten die Proklamation so gut es ihnen die Zeit erlaubte. Sie statteten ihn mit prächtigen Kleidern aus u n d e r h o b e n i h n a u f d e n S c h i l d 404.
400 Anna Komnene, Alexias 2.7.7 (S. 75 Reinsch/Kambylis). 401 Choniates, Hist., S. 271 (van Dieten); Eustathios, S. 50 (Kyriakides). 402 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen auch Huttner, Recusatio, S. 36–42 für die römische Kaiserzeit und für das westliche Mittelalter: Björn Weiler, The Rex Renitens and the Medieval Ideal of Kingship, ca. 900 – ca. 1250, in: Viator 31, 2000, S. 1–42 403 Attaleiates 19, Z. 6–8 (Tsolakes): Kαὶ τοῖς παρασήμοις κοσμηθεὶς μετὰ τῆς βασιλικῆς ἐσθῆτος ὁ φυγαδίας στρατηγὸς, αὐτοκράτωρ παρὰ τῶν συνόντων ἀνηγορεύθη; Skylitzes, S. 439 (Thurn): … καὶ χεῖρα ἱκανὴν συστησάμενος ἀναγορεύεται βασιλεύς, καὶ ἅπαντα τὸν ὑπ’ αὐτὸν ἀγείρας λαὸν ὀξὺς ἐπιφαίνεται τῇ βασιλίδι. 404 Psellos, Chron. 6.104 (S. 152, Z. 3–5 Reinsch): … αἱροῦνται τὸν Λέοντα. καὶ ὁπόσα δὴ αὐτοῖς ὁ καιρὸς ἐδίδου, ἐπὶ τῇ ἀναρρήσει πλασάμενοι, διαπρεπεῖ ἐσθῆτι κοσμήσαντες, αἴρουσιν ἐπ’ ἀσπίδος. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 59–61 (Nr. 65); Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 120–123 (Nr. 73).
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Performative Aspekte von Usurpationen
Diese Erwähnung einer Schilderhebung405 ist insofern bemerkenswert, als es sich um den einzigen eindeutigen Beleg eines solchen Aktes im Rahmen einer Proklamation eines byzantinischen Kaisers bzw. Usurpators zwischen ca. 600 und 1254 handelt406. Natürlich wäre es möglich, dass Michael Psellos die Wendung bloß metaphorisch verwendet, um die Proklamation zu umschreiben. Allerdings legt der Höfling und Beamte üblicherweise großen Wert auf die Korrektheit von Zeremonien und ist von deren Wirkmacht überzeugt. Besonders in seinen Augenzeugenberichten schildert er Rituale so detailliert wie kein anderer Geschichtsschreiber seiner Zeit. Die Proklamation des Leon Tornikios hat er zwar nicht persönlich gesehen, doch ist er über die Rebellion insgesamt gut informiert. Auch spricht die Erwähnung der Einkleidung vor der Schilderhebung gegen eine sinnbildliche Bedeutung, die auf solche Details hätte verzichten können407. Es herrscht also kein Grund zur Annahme, dass Psellos seiner Genauigkeit gerade hier zugunsten einer metaphorischen Wendung untreu geworden sein sollte. Die Frage nach der Kontinuität der Schilderhebung ist im vorliegenden Zusammenhang insofern von Interesse, als es darum geht, ob Leon Tornikios mit seiner Schilderhebung eine Imitation des gängigen Hofzeremoniells anstrebte, oder ob er sich eines längst aus der Mode gekommenen Rituals bediente. Um die Funktion und Symbolik des Aktes im Denken des 11. Jahrhunderts ergründen zu können, ist es nötig, Ursprung und Entwicklung des Rituals näher zu beleuchten. Die Ursprünge des Rituals Die Schilderhebung begegnet erstmals im Jahre 69 n. Chr., als nach dem Bericht des Tacitus der Germanenstamm der Bataver im Vorfeld eines Aufstandes gegen die römische Herrschaft einen gewissen Brinno auf diese Weise more gentis zu ihrem Anführer ausrief408. In einem römischen Kontext ist das Ritual erstmals im Februar 360 belegt, als der caesar Julian bei Lutetia zum augustus ausgerufen und zu diesem Zwecke 405 Grundlegend zur Schilderhebung in Byzanz: Hans Teitler, Raising on a shield. Origin and afterlife of a coronation ceremony, in: International Journal of the Classical Tradition 8/4, 2002, S. 501–521; Apostolos G. Mantas, Die Schilderhebung in Byzanz. Historische und ikonographische Bemerkungen, in: Byzantina 21, 2000, S. 537–582; Christopher Walter, Raising on a shield in Byzantine iconography, in: REB 33, 1975, S. 133–175; Idem, The coronation of a Co-Emperor in the Skylitzes Matritensis, in: Actes du XIVe Congrès International des Études Byzantines, Bucarest, 6–12 septembre 1971, Rapports. Bukarest 1974, S. 453–458; Ernst Kantorowicz, Oriens Augusti – Lever du Roi, in: DOP 17, 1963, S. 117–177; Ostrogorsky, Kaisersalbung; Hans Peter L’Orange, Studies on the Iconography of the Cosmic Kingship, Oslo 1953; Wilhelm Ensslin, Zur Torqueskrönung und Schilderhebung bei der Kaiserwahl, in: Klio 35, 1942, S. 268– 298; Johannes A. Wohlfahrt, De inauguratione principum super clypeo disputatio, Halle a. d. Saale 1770. 406 Ostrogorsky, Kaisersalbung, S. 252–253. 407 Teitler, Raising on a shield, S. 510. 408 Tacitus, Hist. 4.15: igitur ipso rebellis familiae nomine placuit impositusque scuto more gentis et sustinentium umeris vibratus dux deligitur. Vgl. Teitler, Raising on a shield, S. 504.
Die Proklamation
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auf einen Schild erhoben wurde. Der militärische Charakter der Proklamation wurde noch unterstrichen, indem Julian in Ermangelung eines Diadems mit einem torques, dem Halsreif der Soldaten, gekrönt wurde409. Die Anwesenheit germanisch- oder keltischstämmiger Hilfstruppen, die Verwendung des torques sowie die genannte Stelle bei Tacitus haben dazu geführt, dass die Forschung zumeist eine direkte germanische Vermittlung des Rituals annimmt410. Für die Hypothese einer solchen Tradition können jedoch keine stichhaltigen Belege ins Feld geführt werden. Im Gegenteil sind ethnische Zuweisungen für Bräuche im bunt zusammengewürfelten spätrömischen Heer äußerst problematisch. Das Ritual kann durchaus aus verschiedenen Elementen originär für den konkreten Anlass zusammengestellt worden sein411. In jedem Fall ist anzunehmen, dass die Schilderhebung hier zum ersten Mal für die Proklamation eines römischen Thronprätendenten angewandt wurde412. Wenige Jahre später soll auch Kaiser Valentinian I. (364–375) in Nikaia mit einem ähnlichen Ritual von seinen Soldaten proklamiert worden sein (364)413. Beide Schilderhebungen waren zwar mit einer Krönung verbunden, fanden aber nicht im Kontext einer regulären Amtseinsetzung 409 Ammianus 20.4.17–18 (Bd. 2, S. 95 Seyfarth): Impositusque scuto pedestri, et sublatius eminens, nullo silente, Augustus renuntiatus, iubebatur diadema proferre, negansque umquam habuisse, uxoris colli decus vel capitis poscebatur. Eoque affirmante, primis auspiciis non congruere aptari muliebri mundo, equi phalera quaerebatur, uti coronatus speciem saltem obscuram, superioris praetenderet potestatis. Sed cum id quoque turpe esse asseveraret, Maurus nomine quidam, … abstractum sibi torquem, quo ut draconarius utebatur, capiti Iuliani imposuit; Zosimos 3.9.2 (Zosime, Histoire Nouvelle, 3 Bde., Texte établi et traduit par François Paschoud, Paris 1971–1989, Bd. 2/1, S. 21): κατάγουσι δημοσίᾳ τὸν Καίσαρα, καὶ ἐπί τινος ἀσπίδος μετέωρον ἄραντες ἀνεῖπόν τε σεβαστὸν αὐτοκράτορα, καὶ ἐπέθεσαν σὺν βίᾳ τὸ διάδημα τῇ κεφαλῇ. Vgl. auch die Anspielung auf das Ereignis in einer Rede des Libanios: Libanii opera, recensuit Richard Förster, 12 Bde., Bd. 2: orationes XII–XXV, Leipzig 1903, S. 74 (or. 13.34). 410 Vgl. Teitler, Raising on a shield, S. 505–506; McCormick, Clovis at Tours, S. 165; Treitinger, Kaiseridee, S. 23–24. 411 Philipp von Rummel, Habitus barbarus: Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 55), Berlin et al. 2007, S. 120–128; Ensslin, Torqueskrönung. S. 293. 412 Dafür sprechen Eigenheiten in der Formulierung sowohl bei Ammianus Marcellinus als auch bei Zosimos. Erstgenannter orientiert sich bei seiner Schilderung sprachlich an Tacitus, lässt aber dessen Zusatz more gentis weg. Laut Teitler (Raising on a shield, S. 506–507) ist diese Auslassung bewusst geschehen, zumal es sich ja um keine römische Tradition handelte. Zosimos (bzw. seine Quelle für das Ereignis) spricht von „irgendeinem“ Schild, auf den Julian platziert worden sein soll. Für Mantas (Schilderhebung, S. 538) ist dies ein Indiz, dass das Ritual nicht vorbereitet war, weil es eben keinen Präzedenzfall gegeben habe. Ähnlich von Rummel, Habitus, S. 124–125. Die Meinung von Alföldi, Repräsentation, S. 172, dass spätere, christliche Kaiser wohl kaum eine Tradition des Apostaten übernommen hätten und die Schilderhebung daher schon eine ältere römische Tradition sein müsse, kann durch keine Quellen gestützt werden. Diese Annahme wurde schon von Ensslin, Torqueskrönung, zurückgewiesen. 413 Philostorgius. Kirchengeschichte. Mit dem Leben des Lucian von Antiochien und den Fragmenten eines arianischen Historiographen, hrsg. von Joseph Bidez. Zweite, überarbeitete Auflage besorgt von Friedhelm Winkelmann, Berlin 1972, S. 109 (cap. 8.8): ἐπὶ τῆς ἀσπίδος ἐποχούμενον τὸν βασιλέα … Andere Quellen wissen nichts von der Schilderhebung, betonen aber zumindest den militärischen Charakter der Proklamation. Vgl. Mantas, Schilderhebung, S. 538.
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Performative Aspekte von Usurpationen
statt, sondern in Ausnahmesituationen, als es galt, Ansprüche auf den Thron in einem militärischen Ambiente zu artikulieren414. Die Schilderhebung als Teil von Krönungszeremonien Der rasche Aufstieg Konstantinopels zum unumstrittenen politischen Zentrum machte ab dem 5. Jahrhundert eine Krönung innerhalb der Stadtmauern unerlässlich415. Der Inthronisationsritus wurde in dieser frühen Phase noch häufig verändert, war aber zunächst stark militärisch geprägt und fand ursprünglich am Hebdomon statt. Die Schilderhebung ist erstmals für die Proklamation von Anastasios I. im Jahre 491 belegt. Die Zeremonie war zwar mittlerweile ins Hippodrom verlegt worden, doch oblag die Ausrufung weiterhin den Soldaten. Anastasios wurde – wie einst Julian – mit dem torques gekrönt und unter Akklamationen auf den Schild erhoben. Seine Transformation zum Friedenskaiser erfolgte erst danach durch Kleiderwechsel, Einzug in den Palast und Krönung durch den Patriarchen. Nach Abschluss der Verwandlung zeigte sich Anastasios einmal mehr im Kathisma des Hippodroms und nahm nun auch die Akklamationen des Volkes entgegen416. Bezeichnenderweise gehörte die Schilderhebung aber weiterhin zur Phase der Proklamation und nicht der Krönung, die spätestens seit 457 der Patriarch vornahm417. Für eine Kontinuität der Schilderhebung seit Julian und Valentinian I. gibt es keine Hinweise. Selbst bei der 474 stattgefundenen und außerordentlich detailliert überlieferten Proklamation von Leon I. (457–474) wird keine Schilderhebung erwähnt, und das trotz betont militärischer Färbung der Zeremonie mit Torqueskrönung am Hebdomon418. In jedem Fall hat das Ritual spätestens unter Anastasios Eingang in das höfische Protokoll gefunden. Es ist auch bei der Amtseinsetzung Justinos’ I. (518) überliefert419 und kurz davor hatten Gardetruppen im Hippodrom ihren Gegenkandidaten auf den Schild erhoben und zum Kaiser proklamieren wollen420.
414 Während Julian eindeutig als Usurpator gelten kann, fand die Ausrufung Valentinians I. nach dem Tod Jovians streng genommen in einem Machtvakuum statt. 415 Vgl. hierzu Beck, Senat, S. 22–28. 416 De Cerim. 1.92 (Bd. 1, S. 423, Z. 7–11 Reiske): ἐσηκώθη οὖν ἐπάνω τοῦ σκουταρίου ἱστάμενος καὶ ἀνελθὼν τῶν λαγκιαρίων καμπιδούκτωρ τὸ ἲδιον μανιάκιν ἐπέθηκεν εἰς τὴν κεφαλὴν αὐτοῦ καὶ εὐθέως τὰ σίγνα ὀρθώθη καὶ εὐφημήθη παρὰ τῶν στρατιωτῶν καὶ τῶν δημοτῶν˙ καὶ μετὰ τοῦτο κατῆλθεν ἐκ τοῦ σκουταρίου. 417 S. unten, S. 324–325. 418 De cerim. 1.91 (Bd. 1, S. 411–416 Reiske). 419 De Cerim. 1.94 (Bd. 1, S. 429, Z. 3–4 Reiske): καὶ ἐν τῷ σκουταρίῳ ἐφόρεσεν τὸν μανιάκιν ἐπιτεθέντα αὐτῷ παρὰ Γωδίλα τοῦ καμπιδούκτορος τῶν λαγκιαρίων. Vgl. Szidat, Usurpator, S. 71–72. Vgl. Walter, Raising on a shield, S. 140, 164–166. 420 De Cerim. 1.93 (Bd. 1, S. 427, Z. 14–17 Reiske): οἱ ἐξκουβίτορες ἄνω ἐν τῷ ἱππικῷ ἀναγορεύουσιν βασιλέα Ἰωάννην τινὰ τριβοῦνον, οἰκειούμενον τῷ τῆς θείας λήξεως Ἰουστίνῳ, ὃς μετὰ ταῦτα ἐπίσκοπος Ἡρακλείας ἐγένετο, καὶ ἀνήγαγον αὐτὸν εἰς τὸ σκουτάριον.
Die Proklamation
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Der Kaiserhof in Konstantinopel hatte das militärische Ritual der Schilderhebung also regelrecht usurpiert und „domestiziert“. Die militärischen Komponenten gingen nun kontinuierlich verloren. Schon beim Nika-Aufstand (532) begegnet das Ritual in gänzlich zivilem Gewande, als die D e m e n einen Verwandten des verstorbenen Kaisers Anastasios mit Namen Hypatios zum Kaiser proklamierten, indem sie ihn am Konstantinsforum auf einen Schild erhoben und krönten421. Auch beim Amtsantritt von Justinos II. (565–578) ist eine Schilderhebung überliefert. Die Inszenierung der Proklamation und Inthronisation erfolgte zur Gänze innerhalb des Palastes und weist abgesehen von der Präsenz von Gardisten keinerlei militärische Elemente auf. Der Schild wurde von vier ausgewählten Jünglingen getragen und der Kaiser wird von seinem Lobredner Corippus mit der aufgehenden Sonne verglichen422. Nach seinem erfolgreichen Militärputsch gegen Kaiser Maurikios ließ sich der Usurpator Phokas im Jahre 602 am Hebdomon vor versammeltem Volk und Senat proklamieren und krönen. Wenn der Bericht des Ioannes von Antiochien zutrifft, wurde er hierbei von Vertretern der Demen auf den Schild erhoben423. Die Zeremonie fügt sich damit nahtlos in die beobachtete Entmilitarisierung des Rituals im Umfeld Konstantinopels424. Im militärischen Kontext existierte es jedoch parallel auch weiterhin. So beförderten die an der Donau stationierten Truppen im Jahre 588 aus Unzufriedenheit mit Kaiser Maurikios einen gewissen Germanos auf eigene Faust per Schilderhebung zum stratēgos425 und auch die Usurpation des Phokas wurde 602 dadurch eingeläutet, dass die Truppen ihn vom Zenturio zum exarchos erhoben426. 421 Zonaras 14.6 (S. 155, Z. 8–11 Pinder/Büttner-Wobst): καί τινα συγγενῆ τοῦ βασιλέως Ἀναστασίου περισχόντες Ὑπάτιον, πῇ μὲν ἄκοντα, πῇ δέ γε καὶ πεπεισμένον, εἰς τὸν τοῦ μεγάλου Κωνσταντίνου Φόρον ἀπάγουσι, καὶ ἐπὶ ἀσπίδος αὐτὸν μετάρσιον ἄραντες. 422 Corippus, In laudem 2.137–158 (S. 51–52 Cameron): Quattuor ingentem clipei sublimius orbem | Attollunt lecti iuvenes manibusque levatus | Ipse ministrorum supra stetit … Adstitit in clipeo princeps fortissimus illo | Solis habens specimen. Lux altera fulsit ab urbe … Grundlegend zur Sonnensymbolik der Schilderhebung: L’Orange, Cosmic kingship; Kantorowicz, Oriens Augusti, bes. S. 152. 423 Ioannis Antiocheni Fragmenta ex Historia chronica. Introduzione, edizione critica e traduzione a cura di Umberto Roberto (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 154), Berlin/New York 2005, S. 548 (Fragment 318): προσερρύησαν οὖν καὶ τὰ β΄ μέρη, Πράσινοι καὶ Βενετοί, καὶ πάντες, καὶ ἀνήγαγον τὸν Φωκᾶν εἰς σκουτάριν ἐν τῷ τριβουναλίῳ τοῦ κάμπου καὶ ἀνηγόρευσαν αὐτὸν βασιλέα. Paul Speck (Die Schilderhebung des Phokas, in: Hell 39, 1988, S. 157–158) hält die Wendung εἰς σκουτάριν für eine spätere Glosse. Das von ihm angeführte Argument, das Verb ἀνήγαγον sei für eine Schilderhebung ungewöhnlich, ist jedoch nicht zutreffend: vgl. die auf Quellen des 6. Jahrhunderts beruhende Schilderung in De cer. 1.93 (Bd. 1, S. 427, Z. 17 Reiske): ἀνήγαγον αὐτὸν εἰς τὸ σκουτάριον. 424 Es fällt auf, dass es in beiden Fällen nicht zu einer Proklamation zum K a i s e r kam. Vgl. auch Mantas, Schilderhebung, S. 541. 425 Theophanes, AM 6079 (S. 260, Z. 22–23 de Boor): ὁ δὲ στρατὸς … τόν τε Γερμανὸν ἄκοντα στρατηγὸν ἀνηγόρευσαν ἐπὶ ἀσπίδος ὑψώσαντες). 426 Theophanes A. M. 6094 (S. 287, Z. 6–8 de Boor): τὰ δὲ πλήθη συναθροισθέντα προβάλλονται ἔξαρχον Φωκᾶν τὸν κένταρχον, καὶ ἐπὶ ἀσπίδος τοῦ τον ὑψώσαντες εὐφήμησαν ἔξαρχον; Simokattes, Hist. 8.7 (Theophylacti Simocattae Historiae, hg. von Carolus de Boor / Peter Wirth, Leipzig 1887, Nachdr. Stuttgart 1972, 326, Z. 16–21): … τοῦτο οἱ ἡγεμόνες τοῦ ὁπλιτικοῦ θεασάμενοι
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Performative Aspekte von Usurpationen
Schilderhebungen in mittelbyzantinischen Texten Nach der beachtlichen Dichte an überlieferten Schilderhebungen im 6. Jahrhundert ist das Ritual im Rahmen der Proklamation eines Kaisers erst wieder im Jahre 1254 bei der Investitur von Theodoros II. Laskaris belegt, der nach dem Tod seines Vaters auf diese Weise im Kaiserreich von Nikaia an die Macht kam. Umso erstaunlicher ist nach dieser über sechs Jahrhunderte dauernden Zäsur daher die Bemerkung von Georgios Akropolites, dass Theodoros n a c h d e m B r a u c h (ὡς ἔθος) zum Kaiser proklamiert worden sei427 Noch erstaunlicher ist, dass wir im Text des Akropolites den Kaiser plötzlich sitzend (!) auf dem Schild vorfinden In der Forschung wurde daher bisweilen angenommen, dass die Schilderhebung als Teil des Proklamations- und Krönungszeremoniells auch in den dazwischen liegenden Jahrhunderten kontinuierlich gepflegt worden sei und die Zäsur lediglich dem Zufall der Überlieferung geschuldet sei428. Meines Erachtens lässt sich jedoch nicht schlüssig erklären, weshalb die Zeremonie ausgerechnet in den mittelbyzantinischen Quellen überhaupt keinen Niederschlag gefunden haben sollte. Routinemäßige Abläufe liegen zwar häufig nicht im Blickfeld der Zeitgenossen, doch ergäbe sich ein merkwürdiger Kontrast zu den zahlreichen Belegen des 5./6. und 13.–15. Jahrhunderts429. Selbst bei der Annahme einer Zäsur bleibt offen, wann das Ritual wieder als Teil der Krönungszeremonie eingeführt wurde, als welcher es 1254 begegnet. Die Ansichten der Forschung schwanken zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert430.
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ἀποκλίνουσιν εἰς φυγὴν καὶ πρὸς Πέτρον τὸν στρατηγὸν παραγίνονται. ἑτέραν δὲ καὶ τῇ ἐς ὕστερον ἐκκλησίαν πεποιηκότα τὰ πλήθη ἔξαρχον τὸν ἑκατόνταρχον Φωκᾶν προεστήσαντο, ἐπὶ ἀσπίδος τε εἰς ὕψος ἐξάραντες εὐφήμουν ἐκτόπως τὴν ἀναγόρευσιν. Georgii Acropolitae opera, recensuit August Heisenberg, 2 Bde., Leipzig 1903. 53 (Bd. 1, S. 105, Z. 18–21 Heisenberg): Οὕτω μὲν οὖν ὁ βασιλεὺς Θεόδωρος τῶν βασιλείων ἐπείληπτο θρόνων. τὴν νενομισμένην γοῦν ὁσίαν ἀποδοὺς τῷ βασιλεῖ καὶ πατρὶ καὶ καθεσθεὶς ἐπ’ ἀσπίδος ὡς ἔθος καὶ ὑπὸ πάντων φημισθεὶς αὐτοκράτωρ. Vgl. auch Gregoras 3.1 (Nicephori Gregorae Byzantina Historia, hg. von Ludwig Schopen, Bd. 1 [CSHB 19], Bonn 1829, S. 55, Z. 1–3): ὰνηγορεύετο δ’ ὕστερον παρ’ ἑκόντων τῶν ὑπηκόων ἁπάντων· καθεσθείς ἐπ’ ἀσπίδος κατά τὸ ἐν τούτοις ἐπικρατοῦν ἒθος. Vgl. Ostrogorsky, Kaisersalbung, S. 252–253. Teitler, Raising on a shield, S. 512; Christophilopoulou, Εκλογή, S. 157; Treitinger, Kaiseridee, S. 23–24; Brightman, Coronations, S. 381; Tsamakda, Illustrated chronicle, S. 280, Anm. 4. Zu den spätbyzantinischen Belegen s. Mantas, Schilderhebung, S. 543–544. Kazhdan (Aristocracy, S. 51 vermutet, dass das Ritual unter Isaak I. Komnenos (1057–1059) im Zuge einer allgemeinen Militarisierung wiederbelebt worden sei. Mit derselben Argumentation plädiert Mantas (Schilderhebung, S. 545) für eine Wiedereinführung durch Alexios I. Komnenos (1081–1118) – gleichzeitig mit der Einführung der Prokypsis-Zeremonie (s. hierzu auch S. 120, Anm. 383). Walter (Raising on a Shield, S. 140, 173) legt sich nicht fest, sieht es aber als gesichert an, dass das Ritual im 11. Jahrhundert noch/wieder bekannt gewesen sein muss; Ostrogorsky (Kaisersalbung S. 255–256) sieht das Legitimationsbedürfnis des nizänischen Reiches als Auslöser für zeremonielle Veränderungen. So sei nicht nur die Salbung erstmals bei Theodoros II. Laskaris angewandt, sondern auch die Schilderhebung nach knapp 600 Jahren Unterbrechung für das Krönungszeremoniell reaktiviert worden. Abzulehnen ist Ostrogorskys Behauptung (unter Berufung auf Jean Longnon, L’Empire latin de Constantinople, Paris 1949, S. 50–51), dies sei in
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Blieb die Schilderhebung aber trotz ihres Fehlens im höfischen Zeremoniell grundsätzlich im symbolischen Repertoire der Byzantiner? Anlass zum Zweifel an der durchgehenden Kenntnis des Rituals in Byzanz bot der Forschung vor allem die Beschreibung des Herrschaftsantritts des Magyaren Árpád (ca. 893) in einer wenige Jahrzehnte nach dem Ereignis verfassten Abhandlung Kaiser Konstantinos’ VII. Porphyrogennetos: οἱ Τοῦρκοι [scil. die Magyaren] τὸν Ἀρπαδὴ γενέσθαι προέκριναν ἄρχοντα … ὃν καὶ ἄρχοντα κατὰ τὸ τῶν Χαζάρων ἔθος καὶ ζάκανον πεποιήκασι, σηκώσαντες αὐτὸν εἰς σκουτάριον431.
Die Stelle wurde zumeist in folgendem Sinne dahingehend interpretiert, dass Árpád bei seiner Ausrufung zum Herrscher der Ungarn – einem chazarischen Brauch folgend – auf den Schild erhoben wurde432. Dies wiederum wurde von Ostrogorsky als Indiz dafür angeführt, dass der byzantinische Hof die Schilderhebung im 10. Jahrhundert nicht mehr gekannt habe433. Analysiert man den relevanten Satz genauer, so ist zunächst festzuhalten, dass sich die problematische adverbiale Wendung (κατὰ τὸ τῶν Χαζάρων ἔθος καὶ ζάκανον) im Gliedsatz mit finitem Verb (ἄρχοντα … πεποιήκασι) befindet und nicht in der nachgestellten Partizipialkonstruktion (σηκώσαντες αὐτὸν εἰς σκουτάριον), welche die Schilderhebung zum Inhalt hat. Die Formulierung lässt daher neben der genannten Interpretation auch eine andere zu: Árpád wurde nach chazarischem Ritus und Recht zum Herrscher gemacht und z u s ä t z l i c h auf den Schild erhoben434. Dass Konstantinos VII. die Schilderhebung als exklusive chazari-
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Nachahmung der lateinischen Kaiser Konstantinopels geschehen, da auch Balduin I. bei seiner Krönung auf den Schild erhoben worden sei. Wie schon Walter (Raising on a shield, S. 160) richtig bemerkt hat, spricht keine einzige Primärquelle von einem solchen Akt. Villehardouin 261 (Bd. 2, S. 66–68 Faral) erwähnt zwar, dass Balduin zur Hagia Sophia getragen worden sei (l’emporterent el mostier), nicht aber, dass hierfür ein Schild verwendet wurde. Gegen die Annahme einer Kontinuität (ohne Mutmaßungen über die Wiedereinführung) auch Cameron, In Laudem Iustini, S. 161; vgl. Janet L. Nelson, Symbols in context. Ruler’s inauguration rituals in Byzantium and the West in the Early Middle Ages, in: Derek Baker (Hg.), The Orthodox Churches and the West. Papers read at the Fourteenth Summer Meeting and the Fifteenth Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society (= Studies in Church History 13), Oxford 1976, S. 97–119, hier: S. 100–101 mit Anm. 17. De admin. Imp. 38 (S. 172, Z. 48–53 Moravcsik/Jenkins). So auch die Übersetzung der Stelle in der Edition von Moravcsik/Jenkins, S. 173: „and so they made him prince according to the custom, or ‚zakanon‘, of the Chazaras, by lifting him upon a shield.“ Vgl. Klaus Belke / Peter Soustal, Die Byzantiner und ihre Nachbarn. Die De administrando imperio genannte Lehrschrift des Kaisers Konstantinos Porphyrogennetos für seinen Sohn Romanos (BGS 19), Wien 1995, S. 191: „Sie machten ihn nach Sitte und Brauch (zakanon) der Chazaren zum Archon, i n d e m sie ihn auf seinen Schild hoben.“ Ostrogorsky, Kaisersalbung, S. 254. So auch Kazhdan, Aristocracy, S. 51. So auch die Argumentation von Mantas (Schilderhebung, S. 541), dessen Auswertung der Stelle allerdings zwei Ungenauigkeiten aufweist: Zunächst wird Árpád nicht zum neuen Fürsten der Chazaren ausgerufen, sondern zu einem Archon der Magyaren. Gravierender ist das Missverständnis von ζάκανον als Fürstentitel (anstelle von „Brauch“, „Gesetz“), was Mantas zum Schluss bringt, dass die chazarische Tradition sich auf die „doppelte Ausrufung des Arpades zum Herrscher u n d
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sche Tradition angesehen haben könnte, ist schon insofern unwahrscheinlich, als sich die beiden genannten Beispiele von Schilderhebungen Anastasios I. und Justinos I. in dem auf seine Initiative hin redigierten Zeremonienbuch erhalten haben435. Konstantinos scheint die Schilderhebung Árpáds sprachlich sogar an jener von Anastasios I. angelehnt zu haben436. Dass umgekehrt die frühen Ungarn bzw. die Chazaren, unter deren Herrschaft und in deren Nachbarschaft sie eine Zeit lang lebten437, das Ritual der Schilderhebung kannten, mutet insofern befremdlich an, als die Verwendung von Schilden bei den nur leicht bewaffneten Reiterkriegern weder literarisch noch archäologisch greifbar ist438. Es ist hingegen möglich, dass Konstantinos VII. seine ungarischen Quellen439 missverstand. Für reiternomadische Kulturen ist nämlich ein Proklamationsritual bekannt, das der Schilderhebung nahe kam: Dabei wurde der auserwählte Herrscher von hohen Stammesrepräsentanten auf einem (meist schwarzen) Filztuch sitzend emporgehoben. Erstmals belegt ist dieses Ritual bei der türkisch-mongolischen Konföderation der Toba/Tabgatsch im nördlichen China im Jahre 531, als man aber offenbar ältere Traditionen wieder aufgriff. Die Nachweise häufen sich dann in der Zeit der Mongolenherrschaft über China im 13. und 14. Jahrhundert. Bei den Tartaren begegnet das Ritual noch im 20. Jahrhundert440. Was Konstantinos VII. für die Ungarn beschreibt, mag also eine Interpretation dieses Rituals sein, die mit der Vorstellungswelt der Byzantiner kompatibel war. Es ist nicht zu bestreiten, dass dem byzantinischen Hof das Ritual der Schilderhebung im 10. Jahrhundert ein Begriff gewesen sein. Jedoch sagt die bloße Kenntnis nichts darüber aus, ob es auch Teil zeitgenössischer byzantinischer Proklamationen war. Die schriftlichen Quellen des 7. bis 13. Jahrhunderts können eine solche Annahme nicht stützen. Einzig Michael Psellos überliefert zwei Schilderhebungen, wobei
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Z a k a n o n [Hervorhebung D. H.]“ beziehe. Vgl. Belke/Soustal, Nachbarn, S. 77 sowie LBG s. v. ζάκανον, τὸ. Constantine Porphyrogenitus, De Administrando Imperio, Bd. 2: Commentary, ed. Romilly J. H. Jenkins. London 1962, S. 148–149 geht nicht auf den Begriff ein. Die Übersetzung in der Edition (Moravcsik/Jenkins, S. 173, s. o., Anm. 432) ist jedoch korrekt. Siehe oben, S. 126. De Cerim. 1.92 (Bd. 1, S. 423, Z. 7 Reiske): ἐσηκώθη οὖν ἐπάνω τοῦ σκουταρίου. Die Kombination von σηκόω und σκουτάριον ist nur in diesen beiden Textstellen belegt. In den übrigen Beschreibungen ist eher eine Verbindung von ἀσπίς und ὑψόω oder αἲρω gebräuchlich. De admin. Imp. 38 (S. 170 Moravcsik/Jenkins). Überblick in: István Fodor / Mária Wolf / Ibolya M. Nepper (Hgg.), The ancient Hungarians. Exhibition Catalogue, Budapest 1996, S. 43–47. Konstantinos wird seine Informationen vor allem über den byzantinisch-ungarischen Gesandtenaustausch bezogen haben: Jenkins, Commentary, S. 146; Sándor László Tóth, Princes and dignitaries in the ninth-century Magyar tribal federation, in: Chronica. Annual of the Institute of History, University of Szeged 3, 2003, S. 21–36, hier S. 26. Peter A. Boodberg, Marginalia to the history of the Northern dynasties, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 4, 1939, S. 230–283, hier S. 240–246.
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jene des Leon Tornikios (1047) einen Usurpator441 und jene des Peter Deljan (1040) einen bulgarischen Thronprätendenten und Rebellen gegen die byzantinische Oberherrschaft betrifft442. Bisweilen begegnet in der Forschung die Behauptung, dass es auch bei der Proklamation des Nikephoros Phokas durch seine Truppen in Kleinasien (963) zu einer Schilderhebung gekommen sei443. Es ist jedoch nur davon die Rede, dass der Usurpator von seinen Mitverschwörern gegen seinen Willen „hochgehoben“ worden sei444. Die Formulierung scheint eher zu bedeuten, dass Nikephoros – vielleicht auf den Schultern seiner Generäle445 – aus seinem Zelt getragen wurde. Abseits der historiographischen Texte446 sei noch eine weitere Belegstelle für eine Schilderhebung im Roman Rhodante und Dosikles aus dem späten 12. Jahrhundert erwähnt: Dort lässt sich in einem fiktiven antiken Setting der Barbarenkönig Bryaxes vor einer Seeschlacht gegen seinen Kontrahenten Mistylos von seinen Männern auf den Schild erheben, um von dort aus eine Schlachtrede zu halten447. Der Akt hat hier sein übliches rituelles Umfeld zur Gänze verloren, zumal keine Proklamation vorliegt448. Was jedoch 441 Psellos, Chron. 6.104 (S. 152 Reinsch). 442 Psellos, Chron. 4.40 (S. 71, Z. 18–19 Reinsch): καὶ ἐπὶ τῆς ἀσπίδος ἄραντες, τὴν ἀρχὴν αὐτῷ ἐγχειρίζουσι. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 49 (Nr. 45). Es sei hier daran erinnert, dass sich auch diese Schilderhebung auf dem Boden des byzantinischen Reiches abspielte und nicht außerhalb, wie Mantas (Schilderhebung, S. 545) meint. Meines Wissens ist dies der einzige bekannte Fall einer bulgarischen Schilderhebung. Wenngleich eine eigenständige bulgarische Tradition nicht ausgeschlossen ist, drängt sich die Vermutung auf, dass hier ein byzantinisches Ritual übernommen wurde. 443 Herbert Hunger, Reditus Imperatoris, in: Günter Prinzing / Dieter Simon (Hgg.), Fest und Alltag in Byzanz, München 1990, S. 17–35, hier S. 21; Dagron, Emperor and priest, S. 73; vorsichtiger Ostrogorsky, Kaisersalbung, S. 253. 444 De Cerim. 1.96 (Bd. 1, S. 434, Z. 12–13 Reiske): αὐτοὶ μᾶλλον σπεύσαντες βίᾳ καὶ μὴ βουλόμενον ἐκ τῆς τέντης ὑψώσαντες ἀνηγόρευσαν αὐτὸν βασιλέα. 445 V. a. Christophilopoulou, Εκλογή, S. 105–106. Ihr folgen Walter, Raising on a shield, S. 159 und Mantas, Schilderhebung, S. 541–542; Teitler, Raising on shield, S. 504–512 ignoriert den Vorfall in seiner ansonsten recht ausführlichen Aufzählung. 446 Nicht korrekt ist die Behauptung von Heisenberg (Palastrevolution, S. 59), der auch beim Usurpationsversuch des Ioannes Komnenos Axuchos im Jahre 1200 eine Schilderhebung ausmachen will: „[Diese] bestand also bei dieser tumultarischen Kaiserwahl darin, daß man Johannes den Dicken emporhob, um die über dem Altar der Sophienkirche aufgehängte Kaiserkrone herabzureißen.“ Weder Mesarites 5 (S. 22 Heisenberg) noch Choniates, Hist., S. 526 (van Dieten) erwähnen die Verwendung eines Schildes. 447 Rhodante und Dosikles, Bd. 5, S. 107–114 (Theodori Prodromi de Rhodanthes et Dosiclis amoribus libri IX, hg. von Miroslav Marcovich, Stuttgart 1992, S. 77): Ἐπεὶ δ’ ἐς αὐτὰς τὰς πόλεις τοῦ Μιστύλου | ὁ τοῦ Βρυάξου πλησίον φθάσοι στόλος, | εὐθὺς Βρυάξης ἀνιὼν ἐπ’ ἀσπίδα, | κάτωθεν ἀνδρῶν χερσὶν ἐστηριγμένην | καὶ τοὺς πατοῦντας ἀντερείδουσαν πόδας, | ἔλεξε ταῦτα, τῶν νεῶν ἠθροισμένων | καὶ κύκλον ὥσπερ εὐφυᾶ μιμουμένων, ἐξ οἷα κέντρου τοῦ κρατοῦντος ἠργμένου. 448 Insofern ist auch der Kommentar in der deutschen Übersetzung (Theodoros Prodromos, Rhodante und Dosikles, eingel. übers. und erläutert von Karl Plepelits [Bibliothek der griechischen Literatur 42], Stuttgart 1996, S. 162, Anm. 56) zu relativieren, der meint: „Dieses Motiv ist ein Anachronismus, denn es beschreibt keine antike Sitte, sondern … den zeitgenössischen Brauch der bei der Wahl des byzantinischen Kaisers üblichen Schilderhebung: ihm wurden zuerst unter dem Dach eines hochgehobenen Schilds die Chlamys, das makedonische Kriegerkleid, das
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auch in dieser fiktiven Szenerie erhalten bleibt, ist der militärische Hintergrund des Rituals, welcher auch für die beiden Schilderhebungen im Geschichtswerk von Michael Psellos charakteristisch ist. Bildliche Darstellungen Angesichts der spärlichen schriftlichen Erwähnungen überrascht das große Repertoire an bildlichen Darstellungen von Schilderhebungen449. Speziell in mittelbyzantinischen Handschriften ist das Thema präsent und die Häufigkeit der Abbildungen nimmt im 11. Jahrhundert massiv zu. Allerdings beziehen sich fast alle Darstellungen des Themas auf die Herrschaftsübernahme alttestamentlicher Könige. Dabei kann die Schilderhebung allein abgebildet sein, aber auch in Kombination mit einer Krönung, Salbung oder Segnung auftreten450. Illustriert werden damit in erster Linie Psalter, in denen jedoch nicht von Schilderhebungen die Rede ist. Da es keinen Grund für die Annahme gibt, dass das Ritual im alten Israel existierte, wurde offenbar die byzantinische Bildsprache auf die Sujets des Alten Testaments projiziert. Allerdings orientieren sich die mittelbyzantinischen Psalter zumeist an ikonographischen Traditionen des 5. und 6. Jahrhunderts451. Dies gilt auch für die detailreiche Umsetzung des Themas in der so genannten Leo-Bibel (Vat. reg. gr. 1, fol. 285v) aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, für die angenommen wurde, dass sie von der Krönung Romanos’ II. zum Mitkaiser (945) inspiriert worden sei452. Die Darstellung ähnelt, wenngleich leicht variiert und gespiegelt, jenen des Pariser Psalters (ca. 975) und des Bristol-Psalters (ca. 1000), die allerdings beide auf eine gemeinsame Vorlage aus dem 5. Jahrhundert zurückgehen453. Gerade in dieser Zeit hatten sich Schilderhebungen zumindest kurzzeitig zu einem wichtigen Faktor bei Kaiserkrönungen entwickelt und eigneten sich gewiss als Symbol für einen Thronwechsel. Für die zeremonielle
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Paludamentum, der römische Feldherrenmantel, und die purpurnen Kaiserstiefel angelegt; anschließend wurde er auf den Schild gehoben und so dem Heer, dem Volk und dem Senat gezeigt.“ Unabhängig von der Frage nach der hier postulierten Kontinuität des Rituals unterscheidet sich dieses von der Handlung des Bryaxes in zu vielen Parametern (Zielsetzung, Ort, Publikum), als dass man von einer direkten Übernahme eines zeitgenössischen Rituals in die Welt des Romans sprechen könnte. Für einen ausführlichen Überblick über die Handschriften mit Darstellungen von Schilderhebungen sowie ikonographische Analysen vgl. die grundlegende Studie von Walter (Raising on a shield) und die Ergänzungen von Mantas, Schilderhebung. Mantas, Schilderhebung, S. 553–565. Mantas, Schilderhebung, S. 546–547. Cyril Mango, The date of Cod. Vat. Regin. Gr. 1 and the ‚Macedonian Renaissance‘, in: Acta ad archaeologiam et artium historiam pertinentia 4, 1969, S. 121–126, hier S. 124. Vgl. Walter, Raising on a shield, S. 170. Mantas, Schilderhebung, S. 553–555, der aber keinen Vergleich zwischen der Leo-Bibel und den beiden Psaltern zieht. Walter (Raising on a shield, S. 174) nimmt sehr wohl eine gemeinsame Abstammung der drei Interpretationen an.
Die Proklamation
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Realität des 11. Jahrhunderts können die Darstellungen jedoch nicht als Beleg herangezogen werden. Die einzigen beiden Darstellungen von Schilderhebungen von Personen aus der b y z a n t i n i s c h e n Geschichte enthält die berühmte illuminierte Skylitzes-Chronik in der Nationalbibliothek Madrid (Cod. Vitr. 26–2). Eines der Bilder (fol. 230r, Abb. 6) illustriert ausgerechnet die Usurpation des Leon Tornikios (1047). Der Rebellengeneral steht in kaiserlichem Gewand und mit Krone auf dem Haupt auf einem Rundschild, das von zwei Figuren vom Boden aufgehoben wird. Zu beiden Seiten befinden sich akklamierende Zuschauer. Die Illustration ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Schilderhebung zwar bei Michael Psellos überliefert ist, nicht aber im Text der Skylitzes-Handschrift. Da die Vorlage des Madrider Codex im höfischen Milieu Konstantinopels entstanden sein muss, ist es durchaus möglich, dass dem Miniaturenmaler die Texte des Psellos bekannt waren. Auch wurde die Vermutung geäußert, das Bild könnte eine verlorene illuminierte Handschrift der Chronographia zum Vorbild gehabt haben454. Dabei stellt sich aber die Frage, weshalb dann die Proklamation des Peter Deljan – die laut Psellos ebenfalls im Kontext einer Schilderhebung stattfand – nicht als solche dargestellt wurde455. Naheliegender ist daher der Gedanke, dass der Illuminator das Sujet der Usurpation intuitiv mit dem Bild einer Schilderhebung verband456.
Abb. 6 Schilderhebung des Leon Tornikios Madrid, Biblioteca Nacional de España, Cod. Vitr. 26–2, f. 230r (Detail)
454 Mantas, Schilderhebung, S. 550. 455 Cod. Vitr. 26–2, fol. 215r: Peter Deljan wird bei seiner Proklamation von einer Gruppe Bulgaren emporgehoben, jedoch nicht einem Schild, sondern auf ihren gekreuzten Armen. 456 So auch Mantas, Schilderhebung, S. 550–551: „Leon Tornikes wurde bei seinem Aufstand von der Armee unterstützt. Es ist also wahrscheinlich, daß die Schilderhebung eine Konvention war, die für die Abbildung der Kaiserproklamation von Usurpatoren, die die Unterstützung der Truppen hatten, benutzt wurde, weil die Zeremonie in solchen Fällen höchstwahrscheinlich stattgefunden hat.“ Dennoch stellt er diese Theorie (S. 568) zugunsten seiner Vermutung einer verlorenen illuminierten Psellos-Handschrift zurück.
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Performative Aspekte von Usurpationen
Gestützt wird diese Annahme durch eine zweite Darstellung in derselben Handschrift (fol. 10v, Abb. 7) mit der Überschrift Krieg der Rhomäer mit den Bulgaren und Aufstand von Leon [scil. V.] dem Armenier (πόλεμος Ῥωμαίων καὶ Βουλγάρων καὶ ἀποστασία Λέοντος τοῦ Ἀρμενίου457). Die eigenartige Bildkomposition mit zwei auf einem Schild stehenden Figuren in kaiserlichem Ornat, wobei die größere der beiden die kleinere krönt, wurde wohl zu Recht als Vermischung zweier zeitlich getrennter Sequenzen interpretiert458: Eine Schilderhebung ist bei der Proklamation des Usurpators Leon zwar nicht überliefert, dürfte vom Miniaturenmaler aber als passend empfunden worden sein. Die gleichzeitig im Bild enthaltene Krönungsszene wurde von Walter als Darstellung der Mitkaiserkrönung Leons V. durch Kaiser Michael I. (811–813) gedeutet459, doch hat eine solche nie stattgefunden. Die Krönung dürfte eher metaphorisch als Übergabe der Insignien zu verstehen sein, die der zum Abdanken bereite Michael I. dem Usurpator übersendet haben soll460.
Abb. 7 Schilderhebung Leons V. Madrid, Biblioteca Nacional de España, Cod. Vitr. 26–2, f. 10v (Detail)
457 Abzulehnen ist die Lesung ἀναστασία Λέοντος bei Walter, Raising on a shield, S. 138 und Mantas, Schilderhebung, S. 561. 458 Walter, Co-Emperor, S. 454–455; Idem, Raising on a shield, S. 167; Mantas, Schilderhebung, S. 561. 459 Walter, Raising on a shield, S. 138–139; Idem, Co-Emperor, S. 454–455. Ihm folgt uneingeschränkt Mantas, Schilderhebung, S. 560–561. 460 Genesios 1.3 (S. 5 Lesmüller-Werner/Thurn); Skylitzes, S. 8 (Thurn). Vgl. Christophilopoulou, Εκλογή, S. 84–85.
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Die Schilderhebung in der byzantinischen Symbolwelt Das Grundproblem bei der Frage nach einer etwaigen Kontinuität der Schilderhebung konnte von der Forschung bisher nicht befriedigend gelöst werden. Dies liegt nicht nur am Mangel an aussagekräftigen Quellen, sondern auch an einem Missverständnis, das den meisten wissenschaftlichen Bearbeitungen des Themas zugrunde liegt: Zumeist wurde nach der Kontinuität des Rituals im Rahmen einer regulären Kaiserkrönung in Konstantinopel gesucht, wie es in den Proklamationsprotokollen des Petros Patrikios aus dem 6. Jahrhunderts überliefert ist. Dabei geriet in Vergessenheit, dass die Schilderhebung zuerst nur bei Usurpationen vor rein militärischem Hintergrund außerhalb der Hauptstadt auftrat. Erst danach wurde das Ritual von „legitim“ gewählten Kaisern usurpiert und domestiziert. Der militärische Aspekt geriet zusehends in den Hintergrund. In seiner höfischen Funktion ist der Akt nach der Krönung von Kaiser Phokas im Jahre 602 nicht mehr belegt. Es mag durchaus sein, dass sein Nachfolger Herakleios (610–641) sich bei seinem Herrschaftsantritt bewusst vom Tyrannen Phokas distanzieren wollte461. Auch mag der Verzicht auf das Ritual der tendenziellen „Entmilitarisierung“ des Kaisertums unter der Dynastie des Herakleios geschuldet gewesen sein462. Auch die Tatsache, dass es erst 695 zum nächsten erfolgreichen Putsch kam, mag das Kopieren des Rituals durch den legitimen Kaiser unnötig gemacht haben463. Wendet man den Blick Richtung Westen, so lässt sich beobachten, dass Fälle von Schilderhebung im ostgotischen Italien sowie im Frankenreich – völlig synchron mit Byzanz – nur für die Zeit zwischen dem letzten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts und 584 belegt ist464. Mit dem Wegfall der Zeremonie am byzantinischen Hof hatte sich offenbar auch deren Nachahmung im Westen erledigt. Wenngleich die Schilderhebung im Hofzeremoniell also relativ rasch wieder außer Gebrauch geriet, scheint sie sich in ihrer ursprünglichen, rein militärischen Grundform als Usurpationsritual in der byzantinischen Symbolsprache erhalten zu haben465.
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Speck, Schilderhebung, S. 157, Anm. 1. Christophilopoulou, Εκλογή, S. 60. Nelson, Symbols in context. S. 101, Anm. 17. Es sind dies der Frankenkönig Chlodwig (Schilderhebung durch die Rheinfranken nach 490), der Ostgotenkönig Witichis (536), der Frankenkönig Sigibert I. (575) sowie Gundowald, der 582 die Königswürde von Aquitanien usurpierte. Eine bisweilen für Pippin III. angenommene Schilderhebung ist aus den Quellen nicht abzuleiten. Zu den genannten Beispielen (samt Quellenangaben) s. Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte. Leipzig 1892, Band 2, S. 29–30 mit Anm. 31. Ob es zwischen den belegten Einzelfällen eine Kontinuität des Rituals gab, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 465 Eine Trennung des Rituals nach seinen beiden verschiedenen Kontexten nahm zwar bereits (die nunmehr überholte) Untersuchung von Wohlfahrt (De inauguratione), doch wurde dieser Gedanke kaum aufgegriffen. Auch Ostrogorsky (Kaisersalbung, S. 252–253) dürfte seiner Untersuchung stillschweigend eine solche Trennung zugrunde gelegt haben. Wenn er meint, dass es für das Ritual keinen einzigen schriftlichen Beleg zwischen dem 7. und dem 13. Jahrhundert gebe, so kann dies nur so gedeutet werden, dass er sich ausschließlich auf die Schilderhebung als Teil
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Die wenigen Belege für Schilderhebungen aus mittelbyzantinischer Zeit sind deutlich in einen exklusiv militärischen Rahmen außerhalb Konstantinopels eingebettet und Miniaturenmaler empfanden das Ritual offenbar als geeignet, um Usurpationen zu illustrieren. Auch wenn nicht jede Usurpation mit einer Schilderhebung verbunden gewesen sein muss, so befand sie sich dennoch im byzantinischen Ritual-Repertoire466. Leon Tornikios scheint sich bei seiner Usurpation im Jahre 1047 der Schilderhebung als passende Zeremonie erinnert zu haben, die zwar nicht das kaiserliche Zeremoniell imitierte, aber im Bewusstsein seiner Zeitgenossen als markante Manifestation seines Herrschaftsanspruches verstanden werden musste. 2.2.7 Ritualhelfer Wie aus dem bisher Geschilderten klar hervorgeht, waren Proklamationen von Usurpatoren stets mit einer Reihe an symbolträchtigen Handlungen verbunden, deren kommunikativer Wert außer Zweifel steht. Dennoch sollte man sich vergegenwärtigen, dass sich auch die historiographischen Quellen dieser Bedeutung bewusst waren und Beschreibungen von Ritualen und Zeremonien gezielt als aussagekräftige Bilder einsetzten, um ihre intendierte Botschaft an den Leser zu bringen. Das muss freilich nicht heißen, dass jede Form symbolischer Kommunikation, die wir in den zeitgenössischen Texten antreffen, manipuliert sein muss, doch liegt häufig der Gedanke nahe, dass die Bedeutung einzelner Details und beteiligter Personen bisweilen gezielt hervorgehoben oder heruntergespielt wird. Im Folgenden soll diese Problematik anhand von fünf Proklamationen von Usurpatoren im Spiegel ihrer Rezeption in je einem Geschichtswerk illustriert werden, in welchem die Verantwortlichen für die Durchführung des Rituals explizit betont werden. Folgende Ausrufungen und Quellen wurden ausgewählt: a) b) c) d) e)
Nikephoros (II.) Phokas, 963 Isaakios (I.) Komnenos, 1056 Konstantinos (X.) Dukas, 1059 Nikephoros Bryennios, 1077 Alexios (I.) Komnenos, 1081
Quelle: Quelle: Quelle: Quelle: Quelle:
Leon Diakonos Ioannes Skylitzes Michael Psellos Nikephoros Bryennios Anna Komnene
des Krönungsrituals konzentriert (wie ja auch im Titel der Studie angedeutet wird), nicht aber als Proklamationsritual von Usurpatoren. 466 So auch Walter, Raising on a shield, S. 160: „Possibly it [scil. the ritual] never died out in military circles, where it would have been revived on the occasions when the army espoused the cause of a usurper or participated actively in the choice of an emperor.“
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Auf die Szenerie bei der Proklamation des Nikephoros (II.) Phokas durch seine Truppen wurde bereits eingegangen467. Eine Version des Ablaufs ist in einem Kapitel des Zeremonienbuchs erhalten, das unter der Herrschaft des Nikephoros ergänzt wurde468: Am 2. Juli der 2. Indiktion (= 963) wurde unser frommer und christusliebender basileus Nikephoros in den östlichen Provinzen von seinem Heer zum Kaiser der Römer ausgerufen. In Kaisareia, das heute in der Provinz Kappadokien liegt, versammelten sich alle Generäle und Truppen und proklamierten ihn zum Kaiser; er war damals magistros und domestikos der Scholen. Der aber wollte das gar nicht, bemühte er sich doch um den Krieg gegen die Muslime und darum, das Heer gegen diese zu führen. Sie jedoch ereiferten sich, ihn, der nicht wollte, mit Gewalt aus dem Zelt zu tragen und zum Kaiser zu proklamieren. Er trug aber weder eine Krone noch andere kaiserliche Kleidung und tauschte nur seine Schuhe gegen rötliche oder scharlachrote aus469.
Dasselbe Ereignis liest sich im Geschichtswerk des Leon Diakonos folgendermaßen: Die Truppenführer zogen gleichzeitig mit dem General Ioannes [Tzimiskes] ihre Schwerter und stellten sich um das Feldherrenzelt auf; dies war den Generälen und Kommandanten von Ioannes befohlen worden. … Sie riefen Nikephoros zum mächtigen autokratōr und basileus der Römer aus und akklamierten ihm. Jener aber weigerte sich zunächst, das Amt anzunehmen … und erklärte sich bereit, zugunsten von Ioannes Tzimiskes auf die hohe Würde zu verzichten470.
Erst als das Heer und Ioannes selbst diesen Wunsch ablehnen und auf Nikephoros bestehen, nimmt dieser die Wahl an und lässt sich die roten Schuhe anlegen. Grundsätzlich bestehen beide Schilderungen aus denselben Elementen, doch während im Zeremonienbuch einzig der mittlerweile zum Kaiser avancierte Usurpator selbst im Mittelpunkt steht, nimmt Ioannes Tzimiskes in der zweiten Passage eine gleichwertige Rolle ein, indem betont wird, dass er es war, der die Zeremonie initiiert und angeleitet hatte471. Dies ist insofern bemerkenswert, als Leon Diakonos sein Werk zwar erst nach der Herrschaft des Nikephoros (und des Ioannes Tzimiskes) verfasste, Nikephoros durchaus wohlgesinnt war und seine Informationen wohl vor allem von einem Offi-
467 S. oben, S. 64–65 mit Tabelle 2. 468 Jeffrey M. Featherstone, Theophanes Continuatus VI and De Cerimoniis I, 96, in: BZ 104, 2011, S. 115–123. 469 De cerim. 1.96 (Bd. 1, S. 434 Reiske). Für den griechischen Text s. Appendix P 3. 470 Leon Diak. 3.4 (S. 40–41 Hase). Für den griechischen Text s. Appendix P 3. 471 Die prominente Rolle des Ioannes übernimmt auch Skylitzes, S. 256 (Thurn): ὑπὸ τοῦ Τζιμισκῆ Ῥωμαίων ἀναγορεύεται βασιλεύς. Die im Vat. gr. 163 überlieferte Variante lässt die Proklamation von Ioannes Tzimiskes, Romanos Kurkuas, Nikephoros Exakionites und den anderen Truppenführern ausgehen: Athanasios Markopoulos, Le témoignage du Vaticanus gr. 163 pour la période 945–963, in: Symm 3, 1979, S. 83–119, hier S. 100.
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Performative Aspekte von Usurpationen
zier aus dem Lager des Nikephoros bezogen haben soll472. Vielleicht entspricht Leons Darstellung also eher dem realen Ablauf, während in der „offiziellen“ Version nur die Person des Nikephoros Platz finden konnte. Ein ähnliches Szenario wie die Ausrufung des Nikephoros Phokas bietet jene von Isaakios (I.) Komnenos im Jahre 1057, bei der in der Schilderung des Ioannes Skylitzes der General Katakalon Kekaumenos eine wichtige Rolle spielt. Bei der Proklamation vor den versammelten Truppen in Paphlagonien war dieser zwar nicht einmal anwesend, doch hätte er bereits bei der ersten Versammlung der Verschwörer in der Hagia Sophia die Initiative übernommen und für die Wahl des Isaakios verantwortlich gezeichnet: Hierauf versammelten sie sich in der Großen Kirche und tauschten Eide aus, weder zu schweigen noch klein beizugeben, sondern dass die, die sie beleidigt hatten, bestraft werden … Als der Plan in Richtung Verwirklichung fortschritt, überlegten sie, einen der ihren zum Kaiser auszurufen. Dies schien ihnen ein Leichtes, zumal sie derselben Meinung waren, dass Kekaumenos dafür würdig sei, da er den anderen an Alter, Tapferkeit und Erfahrung überlegen war. Der aber beeilte sich, diese Bürde von sich selbst abzuschütteln und mit einer vehementen Rede beendete er die Diskussionen: Plötzlich stand er auf, rief den magistros Isaakios Komnenos zum Kaiser der Römer aus und befahl den übrigen, es ihm gleich zu tun473.
Keine der anderen zur Verfügung stehenden Quellen weiß von der herausragenden Rolle des Kekaumenos zu berichten. Im Gegenteil: Michael Psellos behauptet, dass (der spätere und von ihm unterstützte Kaiser) Konstantinos Dukas die erste Wahl der Putschisten gewesen sei und Isaakios nur nach dessen Verzicht der Kandidat der Rebellen geworden sei474 – eine Information, die freilich angesichts Psellos’ Parteinahme nicht allzu glaubwürdig erscheint. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass individuelle Unterstützer der Rebellion die Möglichkeit genutzt haben, ihre eigene Bedeutung im Rahmen der Proklamation zu artikulieren. In den beiden erwähnten Fällen ist jedoch verdächtig, dass Ioannes Tzimiskes bzw. Katakalon Kekaumenos auch andernorts in den erwähnten Quellen auffällig hervorgehoben werden. Man darf daher mit einiger Sicherheit annehmen,
472 Treadgold, Historians, S. 239–240. 473 Skylitzes, S. 487, Z. 18–31 (Thurn): ἔπειτα καὶ ὑφ’ ἓν ἐν τῇ μεγάλῃ γενόμενοι ἐκκλησίᾳ, καὶ ὅρκους δόντες καὶ λαβόντες μὴ σιωπῆσαι, μηδ’ ἀνασχέσθαι, ἀλλὰ τοὺς ἐνυβρίσαντας τιμωρήσασθαι … λοιπόν τινα διεσκοποῦντο εἰς ἔργον προχωροῦντος αὐτοῖς τοῦ βουλεύματος ἀνειπεῖν βασιλέα. καὶ πᾶσιν ἁπλῶς ἐφαίνετο τοῖς συνωμόταις, ὡς καὶ γήρᾳ καὶ ἀνδρείᾳ καὶ ἐμπειρίᾳ τῶν ἄλλων προὔχων ὁ Κεκαυμένος ἄξιος εἰς τοῦτο. ὁ δὲ ἀφ’ ἑαυτοῦ τὸ βάρος ἀποσείσασθαι σπεύδων συντόνῳ λόγῳ διέλυσε τὰς πολυλογίας· ἀναστὰς γὰρ εὐθέως βασιλέα Ῥωμαίων ἀνεῖπε τὸν μάγιστρον Ἰσαάκιον τὸν Κομνηνόν, τοῦτο δὲ αὐτὸ ποιῆσαι καὶ τοὺς λοιποὺς παρεσκεύασεν. 474 Psellos, Chron. 7.88 (S. 249 Reinsch).
Die Proklamation
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dass die Geschichtswerke von Leon Diakonos bzw. Ioannes Skylitzes teils auf (nicht erhaltenen) Quellen basieren, die aus dem direkten Umfeld der beiden erwähnten Protagonisten stammten und diese in ein gutes Licht stellen wollten475. Ebenso schwierig einzuschätzen ist die Situation, wenn der Historiograph selbst in die Ereignisse involviert war, wie es bei Michael Psellos und der Proklamation von Konstantinos (X.) Dukas der Fall war. Nach Eigenaussage des Geschichtsschreibers sei er selbst es gewesen, der die Ausrufung des zögerlichen Konstantinos in die Wege geleitet habe, obwohl der regierende Kaiser Isaakios I. zwar schwer erkrankt war, doch zu diesem Zeitpunkt noch unter den Lebenden weilte: Niemand wagte es, ihn [scil. Konstantinos X. Dukas] mit den kaiserlichen Insignien auszustatten. Nur ich allein erkühnte mich, da alle mir die beste Entscheidung zutrauten, und ich ließ ihn auf dem kaiserlichen Thron Platz nehmen und zog ihm zunächst die purpurnen Stiefel an. Darauf folgte dann alles übrige: die Zusammenkunft der hohen Beamtenschaft, ihre Defilés vor dem Kaiser, die dem Kaiser gebührende Reverenz, die Proskynese und was sonst noch anlässlich der Proklamation von Kaisern zu geschehen pflegt476.
Der Text entstammt jenen Kapiteln der Chronographia, die mit einigen Jahren Abstand zu den eigentlichen Ereignissen etwa in der Mitte der Regierungszeit von Michael VII. Dukas (1071–1078) entstanden sind. Die Schilderung erfüllt somit einen doppelten Zweck: Zum einen erlaubt sie Psellos, sich selbst als entschlossenen Politiker und loyalen Parteigänger der Dukas zu inszenieren, der maßgeblich dazu beigetragen hat, der Familie des regierenden Kaisers schon damals den Thron zu sichern; zum anderen dient sie der Apologie des Michael Dukas, dem beim vorgezogenen Thronwechsel eine betont passive Rolle zugesprochen wird477. Vergleichbare Elemente bieten die Proklamationen von Nikephoros Bryennios und Alexios (I.) Komnenos, wie sie von ihren direkten Nachfahren Nikephoros Bryennios dem Jüngeren (Nikephoros’ Enkel) beziehungsweise Anna Komnene (Alexios’ Tochter) überliefert wurden. Um ihre Verwandten vom Stigma des Majestätsverbrechens
475 Zur Darstellung des Ioannes Tzimiskes in der zeitgenössischen Historiographie vgl. Morris, Succession, S. 209–214; zur Rolle des Katakalon Kekaumenos bei Skylitzes vgl. Jonathan Shepard, A suspected source of Scylitzes’ Synopsis Historion: the great Catacalon Cecaumenos, in: BMGS 16, 1992, S. 171–181. Jüngst führte Shepard sogar Argumente ins Feld, dass es sich bei der Kekaumenos-freundlichen Quelle um von diesem selbst verfasste Memoiren handeln könnte: Jonathan Shepard, Memoirs as manifesto: the rhetoric of Katakalon Kekaumenos, in: Teresa Shawcross / Ida Toth (Hgg.), Reading in the Byzantine empire and beyond, Cambridge 2018, S. 185–214. 476 Psellos, Chron. 7.103 (= 7a 11; S. 255, Z. 3–256, Z. 1 Reinsch). Übersetzung leicht verändert nach Reinsch, Chronographia, S. 711. Für den griechischen Text s. Appendix P 13. 477 Efthymia Pietsch, Die Chronographie des Michael Psellos. Kaisergeschichte, Autobiographie und Apologie (Serta Graeca 20), Wiesbaden 2005, S. 111–128, besonders S. 119–121; vgl. Angold, Orthodox reaction, S. 243.
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Performative Aspekte von Usurpationen
reinzuwaschen, wenden sowohl Nikephoros als auch Anna eine sehr ähnliche narrative Strategie an: Beide Usurpatoren hätten um ihr Leben fürchten müssen und ihr einziges Heil im Umsturz gesehen478. Obwohl dieser unvermeidbar gewesen sei, hätten beide vor der Proklamation gezögert479. Es sind schlussendlich ihre Verwandten, denen die Initiative zugeschrieben wird. Im Falle des Bryennios habe sein Bruder Ioannes ihn in Briefen wiederholt an die Notwendigkeit eines Putsches erinnert480 und ihm kaiserliche Insignien organisiert481. Schließlich habe Nikephoros’ Sohn seinem Vater durch die eigenmächtige Einnahme von Traianupolis mit anschließenden Akklamationen482 seinem Vater keinen anderen Ausweg mehr gelassen, als die Usurpation zu wagen. Für Alexios Komnenos soll sein Bruder Isaakios eine ähnliche Rolle gespielt haben. Längere Zeit sei unklar gewesen, wem von beiden bei erfolgreichem Verlauf der Unternehmung die Herrscherwürde zufallen sollte483. Als die Sympathien des Heeres jedoch eindeutig zu Gunsten von Alexios kippten, habe Isaakios durch sein energisches Handeln die Wahl perfekt gemacht, indem er seinem Bruder vor den versammelten Unterstützern die purpurnen Schuhe angelegt habe484. Wie die Beispiele zeigen, ist es schier unmöglich zu entscheiden, ob die Hervorhebung individueller Kollaborateure dem realen Ablauf des Rituals entsprach, oder allein auf textlicher Ebene erfolgte. Die Botschaft wäre in beiden Fällen dieselbe: moralische Entlastung des Anführers des Staatsstreiches und/oder Auszeichnung eines besonders wertvollen Unterstützers. Die angeführten Beispiele mögen aufgrund ihrer subjektiven glorifizierenden oder apologetischen Absicht und mangelnder Parallelen in anderen Quellen den Verdacht erwecken, dass sie das Ritual der Proklamation für ihren Zweck instrumentalisiert und ausgeschmückt haben. Um reine literarische Erfindungen wird es sich dennoch nicht gehandelt haben, sondern eher um einen Prozess bewusst selektiver Rezeption: Aus den vielen Komponenten, aus denen eine Proklamation bestanden haben muss, konnten sich die Historiographen jener Elemente bedienen, die dem Zweck ihres Narrativs am besten dienten.
478 Bryennios 3.5 (S. 217–219 Gautier); Anna Komnene, Alexias 2.4.1–2 (S. 61–62 Reinsch/Kambylis). 479 S. oben, S. 121–123. 480 Bryennios 3.5, 3.7 (S. 219, 223 Gautier). 481 Bryennios 3.8 (S. 227 Gautier). 482 Hierzu s. oben, S. 86 und 91. 483 Auch das kurz nach der Proklamation einlangende Schreiben des Nikephoros Melissenos wendet sich noch an beide Komnenen: Anna Komnene, Alexias 2.8.2 (S. 76 Reinsch/Kambylis). 484 Anna Komnene, Alexias 2.7.4–7 (S. 74–75 Reinsch/Kambylis).
Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster
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2.3 Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster Die formelle Proklamation und die Investitur mit den Insignien der Macht leiteten eine Phase intensiver Imitation kaiserlicher Handlungsmuster ein, die in Einzelfällen bis zum Prägen eigener Münzen reichte485. Usurpiert wurden vor allem auch Regalrechte, die eng mit ritualisierten Handlungen verknüpft waren und so auf performativer Ebene die Möglichkeit zum Ausdruck des Herrschaftsanspruches boten486. Dies gilt auch für die ersten offiziellen „Amtshandlungen“ eines Gegenkaisers, zu denen die Vergabe von Ämtern, das Ausstellen von Urkunden und der Empfang von Gesandtschaften zählten. 2.3.1 Vergabe von Ämtern und Würden Weltliche Ämter und Titel wurden in Byzanz in der Regel im Rahmen feierlicher Zeremonien verliehen, bei denen auch die entsprechenden Amtszeichen und Urkunden übergeben wurden. Aus dem Zeremonienbuch kennen wir die entsprechenden Räumlichkeiten des Palastes, die im 10. Jahrhundert für solche Gelegenheiten herangezogen wurden und auch den ungefähren Ablauf der Verleihungen, in der Regel in Anwesenheit des Kaisers487. So wie dieser selbst von Gott in sein Amt berufen worden war, sollte er, für jedermann sichtbar, die irdische Hierarchie (taxis) ordnen488. Auch Usurpatoren, die ihren Coup außerhalb Konstantinopels organisierten, nahmen bisweilen Amtseinsetzungen und Beförderungen vor. Ihre Entourage war mit dem komplexen Verwaltungsapparat in Konstantinopel zwar nicht vergleichbar, doch war die Vergabe der militärischen Kommandos für den laufenden Feldzug ohnehin unumgänglich und mit hohen Würden konnten treue Parteigänger belohnt und zögerliche Unterstützer überzeugt werden489. Belegt ist unter anderem die Verleihung des kou485 Eigene Münzen ließen u. a. Nikephoros Bryennios (1077–1078), Nikephoros Melissenos (1080– 1081), Isaakios Komnenos (Zypern, 1184–1191) und Theodoros Mangaphas (1188–1191) prägen, wobei die beiden letztgenannten nicht das Kaisertum anstrebten, sondern regionale Autonomie in Zypern bzw. Philadelpheia: Cheynet, Pouvoir, S. 83–84, 88–89, 116–117, 168 (Nr. 104, 111, 159, 123). Vgl. Grünbart, Become an emperor. Zu den Münzprägungen byzantinischer Usurpatoren und der Wahl ihrer Motive (jedoch mit wenigen Beispielen für den hier behandelten Zeitraum) s. nun Penna/Morrisson, Usurpers. 486 Auch der kaiserliche adventus in Provinzstädten konnte nachgeahmt werden: s. oben, S. 86–88; singulär ist die Imitation der imperialen Justiz bei der Blendung von Überläufern durch Bardas Skleros (Skylitzes, S. 332 [Thurn]). Zur Blendung als Paradestrafe für Usurpatoren vgl. Kapitel 3.3.2. 487 Pertusi, Insigne, S. 558–560; Piltz, Court costume, S. 44–47; Featherstone, The Great Palace, S. 56. 488 Pertusi, Insigne, S. 526–527. Zum Konzept der taxis vgl. Ahrweiler, Idéologie, S. 136–138. 489 So versprach Alexios Komnenos Gregorios Pakurianos das Amt des domestikos, wenn er seinen Staatsstreich zu unterstützen bereit sei: Anna Komnene, Alexias 2.4.7 (S. 64 Reinsch/Kam-
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Performative Aspekte von Usurpationen
ropalatēs-Titels für engste Vertraute490 sowie die Ernennung von hetaireiarchēs491. Wie genau die Amtseinsetzungen durch Usurpatoren erfolgt sind, ist in keinem einzigen Fall überliefert, doch wahrscheinlich ließ man das mediale Potential nicht ungenutzt und verlieh die Titel vor Publikum. Ioannes, der Bruder des Usurpators Nikephoros Bryennios, besaß laut Michael Attaleiates spezielle Waffen bzw. Rüstung (hopla, ὅπλα) und eigene Siegel (sēmantra, σήμαντρα) sowie angeblich grüne Pferdewägen (ochēmata, ὀχήματα)492. Man mag sich wundern, dass Ioannes gleich mehrere Wägen besessen haben soll, wo doch selbst sein Bruder, der Usurpator, offenbar nur einen einzigen (roten) sein Eigen nannte493. Man könnte an eine fehlerhaften Übertragung denken, die aus schēmata (σχῆματα, „Gewänder) ochēmata werden ließ, zumal die Passage nur in einer einzigen Handschrift des 12. Jahrhunderts überliefert ist. Jedoch hatte der Verfasser der zeitnahen Skylitzes-Fortsetzung eine frühere, identische Abschrift zur Hand und offenbar keine Probleme damit, die Attaleiates-Stelle fast wortwörtlich zu rezipieren494. Ob es nun Wagen oder Gewänder waren – entscheidend war offenbar ohnehin die exklusive Farbe. Grüne Gewänder standen etwa zumindest ab dem späten 12. Jahrhundert in der Hierarchie des byzantinischen Hofes nur dem prōtobestiarios zu. Es ist durchaus vorstellbar, dass Ioannes seine insignienhaften Gegenstände erhalten hatte, als er von seinem Bruder zum kouropalatēs und domestikos der Scholen ernannt worden war495. In der Regel galt ein Titel, der nicht vom Kaiser persönlich verliehen wurde, als nichtig. Bei Kapitulationsverhandlungen boten Kaiser mitunter jedoch an, die unrechtmäßig verliehenen Ämter und Würden anzuerkennen496. Ob die Amtseinsetzung dann einer offiziellen Wiederholung und Legitimation bedurfte, ist nicht überliefert.
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bylis). Vgl. Rudolphe Guilland, La collation et la perte ou la déchéance des titres nobiliaires à Byzance, in: REB 4, 1946, S. 24–70, hier S. 27–29. So Ioannes Bryennios (s. unten) und Katakalon Kekaumenos (Skylitzes, S. 500 [Thurn]). Zur Entwicklung des kouropalatēs-Titels vgl. Rudolphe Guilland, Couropalate, in: Byzantina 2, 1970, S. 187–249 (Nachdr. in Idem, Titres et fonctions de l’Empire byzantin, London 1976, III). Bryennios 4.2 (S. 259–261 Gautier); Skylitzes, S. 318 (Thurn). Ioannes Komnenos war von seinem Bruder Isaakios zum Kommandanten der Leibwache ernannt worden (Psellos, Chron. 7.22 [S. 216 Reinsch]). Attaleiates, S. 196, Z. 7 (Tsolakes). Attaleiates, S. 190, Z. 1–6 (Tsolakes). S. auch oben, S. 95, Anm. 245 und S. 114, Anm. 349. Skylitzes Cont., S. 175, Z. 24–25 (Tsolakes). Es wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt, dass es sich hierbei um Amtsabzeichen handelt, doch wurden diese Gegenstände laut Attaleiates, S. 196 (Tsolakes) von der kaiserlichen Armee erbeutet, als Ioannes aus einer Schlacht floh. Bryennios 3.11 (S. 233 Gautier) erwähnt beide Titel; Attaleiates, S. 192 (Tsolakes), Zonaras 18.17 (S. 716 Pinder/Büttner-Wobst) und Skylitzes Cont., S. 174 (Tsolakes) überliefern nur die Ernennung zum kouropalatēs. Die Beschreibung des regulären Einsetzungszeremoniells eines kouropalatēs im 10. Jh. bietet De cerim. 1.44–45 (Bd. I, S. 228–231 Reiske), wo jedoch nur ein purpurfarbenes divitēsion verliehen wird; vgl. Piltz, Court costume, S. 48; Pertusi, Insigne, S. 559. Guilland, Couropalate, S. 191. Dies bedingten sich u. a. Bardas Skleros (Psellos, Chron 1.26 [S. 16 Reinsch] und auch Isaakios (I.) Komnenos (Psellos, Chron 7.33 [S. 222–223 Reinsch]) bei den Kapitulationsverhandlungen
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2.3.2 Ausstellung von Chrysobullurkunden Potentielle Unterstützer erreichte das Versprechen von Titeln zumeist in der Form von chrysoboulloi logoi497. Die feierlichste aller Urkunden durfte freilich nur von der kaiserlichen Kanzlei ausgestellt werden und wurde vom Kaiser eigenhändig unterfertigt498. Auch die Verwendung roter Tinte für die Unterschrift war exklusiv dem Kaiser vorbehalten499. Usurpatoren bot sich hier also eine weitere Möglichkeit der Imitation kaiserlicher Prärogative. Laut Michael Attaleiates kursierten im Kontext der parallel verlaufenden Usurpationen von Nikephoros Bryennios und Nikephoros Botaneiates bereits so viele Chrysobullurkunden, dass niemand mehr die enthaltenen Versprechungen ernst nahm, wenn sie laut verlesen wurden500. Für die aufwändige Ausstellung mussten die Usurpatoren zumindest rudimentär geschulte Sekretäre beschäftigen, die jedoch selten in den Quellen aufscheinen. Einzig von Alexios Komnenos wissen wir, dass er für solche Zwecke einen gewissen Georgios Manganes in seinem Personalstand führte501 und sogar dessen Fässchen für die rote Tinte wird ausdrücklich erwähnt502. Die Performanz des Unterzeichnens und Überreichens von Urkunden ist von der byzantinistischen Diplomatik bisher noch nicht systematisch erforscht worden503.
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aus. Nikephoros Bryennios lehnte ein solches Angebot von Nikephoros III. Botaneiates ab: Attaleiates, S. 219 (Tsolakes). Diese Versprechen wurden jedoch nicht immer gehalten, Amnestien (z. B. von Nikephoros I. gegenüber Bardanes Turkos) bisweilen gebrochen. Vgl. Guilland, Titres nobiliaires, S. 27–29: „Le soin que l’on prenait de stipuler la confirmation des titres nobiliaires conférés par un prétendant est une preuve évidente que ces titres étaient sans valeur, s’ils n’étaient pas confirmés par l’empereur légitime.“ (Zitat S. 29). Anna Komnene, Alexias 2.8.4 (S. 77 Reinsch/Kambylis) = Regesten der Kaiserurkunden des Oströmischen Reiches von 565–1453, bearb. von Franz Dölger. 2. Teil: Regesten von 1025–1204. Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage bearb. von Peter Wirth, mit Nachträgen zu Regesten Faszikel 3, München 1995, S. 86 (Nr. 1063); Bryennios 3.10 (S. 231–233 Gautier). Franz Dölger, Die Kaiserurkunde der Byzantiner als Ausdruck ihrer politischen Anschauungen, in: HZ 159, 1939, S. 229–250, hier S. 235–239. Vgl. Anna Komnene, Alexias 13.12.28 [S. 423 Reinsch/ Kambylis]) zum Vertragsschluss von Devol (1108) zwischen Alexios I. und Bohemund: τὸν μὲν οὖν ἔγγραφον ὅρκον τοῦτον ὁ αὐτοκράτωρ παρὰ τοῦ Βαϊμούντου ἔλαβεν, ἀντιδέδωκε δὲ πρὸς αὐτὸν τὸν εἰρημένον ἄνωθεν χρυσόβουλλον λόγον ἐνσεσημασμένον διὰ κινναβάρεως, ὡς ἔθος, διὰ βασιλικῆς δεξιᾶς. Zum Verbot der Verwendung von Purpur: Cod. Iust. 11.9.4; Vgl. Bréhier, Institutions, S. 60–61; Carile, Insegne, S. 84–88. Zur Tinte vgl. Peter Schreiner / Doris Oltrogge, Byzantinische Tinten-, Tuschen- und Farbrezepte (Denkschriften der Österr. Akad. d. Wissenschaften, philosoph.-hist. Klasse 419 = Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters 4/4), Wien 2011, bes. S. 45–48, S. 129–131. Attaleiates, S. 197 (Tsolakes); Cheynet, Pouvoir, S. 83–85 (Nr. 104, 105). Anna Komnene, Alexias 2.8.3–4 (S. 76–77 Reinsch/Kambylis); Cheynet, Pouvoir, S. 88 (Nr. 111); Georgios Manganes profitierte vom Erfolg des Alexios – er ist 1092 und 1094 als prōtoproedros belegt: Skoulatos, Personnages, S. 96–97 (Nr. 66). Anna Komnene, Alexias 2.10.1 (S. 79 Reinsch/Kambylis). Nichts zum praktischen Unterzeichnungsverfahren findet sich bei Franz Dölger / Johannes Karayannopoulos, Byzantinische Urkundenlehre: Die Kaiserurkunden (Handbuch der
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Performative Aspekte von Usurpationen
Im Gegensatz zum mittelalterlichen Westen504 sind darüber hinaus die Zeugnisse für eine solche Praxis rar gesät505. Die ostentative Inanspruchnahme des kaiserlichen Monopols auf Purpurtinte, die Symbolkraft der Befehlsgewalt durch bloßes Setzen des eigenen Namens und die Zurschaustellung der Funktionstüchtigkeit der Kanzlei und Verwaltung machen eine Inszenierung der Unterzeichnung zumindest gewisser Urkunden vor Publikum aber auch für Byzanz wahrscheinlich. Umso mehr könnten auch Usurpatoren die performative Wirkung eines solchen Aktes für sich genutzt haben, wenngleich Belege in den Quellen fehlen. Ebenso wie bei der Verleihung von Titeln muss die Annahme einer Inszenierung der Handlung daher hypothetisch bleiben.
Altertumswissenschaft, Abteilung 12: Byzantinisches Handbuch. Teil 3, Band 1), München 1968; Dölger, Kaiserurkunde, geht zwar auf formale und inhaltliche Aspekte ein, welche die kaiserliche Ideologie stützen, nicht aber auf ein etwaiges Ausstellungs- bzw. Übergabezeremoniell. Auch die für die spätbyzantinische Kanzlei maßgebliche Untersuchung von Oikonomidès enthält keine Informationen über den performativen Aspekt der Unterzeichnung: Nicolas Oikonomidès, La chancellerie impériale de Byzance du 13e au 15e siècle, in: REB 43, 1985, S. 167–195, 183–184 zur eigenhändigen Unterschrift des Kaisers. 504 Grundlegend: Hagen Keller (Hg.), Öffentlichkeit und Schriftdenkmal in der mittelalterlichen Gesellschaft. Ein Kolloquium des Teilprojekts A1 ‚Urkunde und Buch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften und Herrschaftsverbände‘ im Sonderforschungsbereich 496, Münster, 27.–28. Juni 2003 (= FMSt 38), Berlin 2008, darin besonders die Beiträge von Hagen Keller, Schriftgebrauch und Symbolhandeln in der öffentlichen Kommunikation. Aspekte des gesellschaftlich-kulturellen Wandels vom 5. bis zum 13. Jahrhundert, S. 1–24, bes. S. 7–18; Idem, Mediale Aspekte der Öffentlichkeit im Mittelalter: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – symbolische Interaktion, S. 277–286; Idem, Hulderweis durch Privilegien: symbolische Kommunikation innerhalb und jenseits des Textes, S. 309–321; Benoît-Michel Tock, La mise en scène des actes en France au Haut Moyen Age, S. 287–296; Hartmut Beyer, Urkundenübergabe am Altar. Zur liturgischen Dimension des Beurkundungsaktes bei Schenkungen der Ottonen und Salier an Kirchen, S. 323–346; s. jetzt auch den Sammelband: Marco Mostert / Paul Barnwell (Hgg.), Medieval Legal Process. Physical, Spoken and Written Performance in the Middle Ages (Utrecht Studies in Medieval Literacy 22), Turnhout 2011, darin besonders die Beiträge von Georges Declerq, Between Legal Action and Performance: The firmatio of Charters in the Early Middle Ages, S. 55–73 und Hagen Keller, The privilege in the Public Interaction of the Exercise of Power: Forms of Symbolic Communication beyond the Text, S. 75–108; vgl. auch Geoffrey Koziol, A father, his son, memory, and hope. The joint diploma of Lothar and Louis V (Pentecost Monday, 979) and the limits of performativity, in: Jürgen Martschukat / Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur 19), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 83–103. 505 Die einzig mir bekannte Stelle, wo vermutlich von einer inszenierten Unterzeichnung von Urkunden durch den Kaiser die Rede ist, findet sich in Mesarites 24 (S. 41 Heisenberg). S. dazu unten, S. 170.
Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster
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2.3.3 Empfang von Gesandtschaften Die Proklamation eines Usurpators leitete einen regen diplomatischen Austausch ein: Gesandte des Kaisers überbrachten Drohungen, Zugeständnisse oder Kapitulationsangebote506 und auch mit potentiellen Verbündeten trat der Prätendent in Kontakt507. In der Regel fanden die Audienzen von Usurpatoren in Feldlagern statt508. Die Gestaltung der Empfänge orientierte sich zwar auch dort nach einem ungefähren Protokoll, doch implizieren Militärhandbücher einen hohen Grad an Flexibilität und Gestaltungsspielraum im Umgang mit Diplomaten im Feld509. Der Informationsaustausch erfolgte dabei zwar primär auf schriftlicher Ebene510, doch bot der Empfang von Gesandtschaften mit all seinen ritualisierten Elementen auch eine weitere Möglichkeit, sich als rechtmäßiger Kaiser zu inszenieren511. 506 507 508 509 510
Cheynet, Pouvoir, S. 170–172; Cresci, Appunti, S. 112–117. Cheynet, Pouvoir, S. 160. Heher, Mobiles Kaisertum, S. 114–123. Leon VI., Taktika 20.129 (S. 616 Haldon). Zur Schriftlichkeit in der Diplomatie vgl. Margaret Mullett, The language of diplomacy, in: Jonathan Shepard / Simon Franklin (Hgg.), Byzantine diplomacy. Papers from the Twenty-fourth Spring Symposium of Byzantine Studies, Cambridge, March 1990, Aldershot 1992, S. 203–216, mit Verweis auf die Ikonographie von Gesandtschaftsempfängen im Skylitzes Matritensis, die stets auf dem Austausch von Schriftrollen basiert. Zu ritualisierten Handlungen bei Gesandtschaften vgl. Paolo Cammarosano, Scrittura, parola e ritualità nelle ambascerie medievali, in: Hagen Keller (Hg.), Öffentlichkeit und Schriftdenkmal in der mittelalterlichen Gesellschaft. Ein Kolloquium des Teilprojekts A1 ‚Urkunde und Buch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften und Herrschaftsverbände‘ im Sonderforschungsbereich 496, Münster, 27.–28. Juni 2003 (= FMSt 38), Berlin 2008, S. 347–353. 511 Grundlegend zu Gesandtschaften in Konstantinopel: Nicolas Drocourt, Diplomatie sur le Bosphore. Les ambassadeurs étrangers dans l’empire byzantine des années 640 à 1204, 2 Bde., (Association pour la Promotion de l’Histoire et de l’Archéologie Orientales, Université de Liège, mémoires 11), Louvain/Paris/Bristol 2015; Tinnefeld, Ceremonies, bes. S. 202–207; Treitinger, Kaiseridee, S. 197–202; Peter Schreiner, Zu Gast in den Kaiserpalästen Konstantinopels. Architektur und Topographie in der Sicht fremdländischer Betrachter, in: Franz A. Bauer (Hg.), Visualisierungen von Herrschaft. Frühmittelalterliche Residenzen. Gestalt und Zeremoniell. Internationales Kolloquium, Istanbul, 3.–4. Juni 2004 (BYZAS 5), Istanbul 2006, S. 101–134; Maria Parani, Designing receptions in the palace (De cerimoniis 2.15), in: Alexander Beihammer / Stavroula Constantinou / Maria Parani (Hgg.), Court ceremonies and rituals of power in Byzantium and the Medieval Mediterranean. Comparative perspectives (The Medieval Mediterranean 98), Leiden/Boston 2013, S. 465–485; Robin Cormack, But is it art?, in: Jonathan Shepard / Simon Franklin (Hgg.), Byzantine diplomacy. Papers from the Twenty-fourth Spring Symposium of Byzantine Studies, Cambridge, March 1990, Aldershot 1992, S. 237–248; Alexander Beihammer, Der harte Sturz des Bardas Skleros. Eine Fallstudie zu zwischenstaatlicher Kommunikation und Konfliktführung in der byzantinisch-arabischen Diplomatie des 10. Jahrhunderts, in: RHM 45, 2003, S. 21–57, bes. 30–31; Otto Kresten, ‚Staatsempfänge‘ im Kaiserpalast von Konstantinopel um die Mitte des 10. Jahrhunderts. Beobachtungen zu Kapitel II 15 des sogenannten ‚Zeremonienbuches‘ (Sitzungsberichte der Österr. Akad. d. Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 670), Wien 2000; Jon N. Sutherland, The mission to Constantinople in 968 and Liudprand of Cremona, in: Traditio 31, 1975, S. 55–81; Daniel Nerlich, Diplomatische Gesandtschaften zwischen Ost- und Westkaisern 756–1002 (Arbeiten aus dem Historischen Semi-
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Performative Aspekte von Usurpationen
2.3.3.1 Die Gesandtschaft des Manuel Straboromanos Es versteht sich von selbst, dass die Überlieferung gerade performativer Akte in schriftlichen Quellen je nach Perspektive des Autors sehr unterschiedlich ausfallen kann. Wie Historiographen die Schilderung ritualisierter Handlungen zur Konstruktion ihres Narrativs gebrauchen und wie viel Vorsicht bei der Interpretation von Details geboten ist, illustriert die Beschreibung der dritten Gesandtschaft von Kaiser Nikephoros III. Botaneiates an seinen Herausforderer Nikephoros Bryennios, für die uns mit Michael Attaleiates und Nikephoros Bryennios (der gleichnamige Enkel des Usurpators) zwei unabhängige Überlieferungen zur Verfügung stehen, deren Autoren in einem Naheverhältnis zu den betroffenen Konfliktparteien standen512. Was den Inhalt der Verhandlungen und den negativen Ausgang des Empfangs betrifft, decken sich unsere beiden Quellen, doch weisen sie gerade bei der Schilderung der ritualisierten Aspekte des Treffens beträchtliche Unterschiede auf. Zunächst sei das Ereignis mit den Worten des Historiographen Nikephoros Bryennios des Jüngeren wiedergegeben, des Enkels des involvierten gleichnamigen Usurpators: Entsandt wurden [von Kaiser Nikephoros III.] Konstantinos Choirosphaktes513, der es zum proedros gebracht hatte, ein verständiger und eloquenter Mann, der mit allen Qualitäten, die einen Staatsmann ausmachen, geschmückt war und [Manuel] Straboromanos514, der aus Pentapolis in Phrygien stammte, ein mächtiger und energischer Mann der sein Geschlecht von … herleitete und mit Kaiser Nikephoros verwandt war. Sie brachen also auf und erreichten Bryennios, der seine Truppen bei Theodorupolis Aufstellung nehmen ließ und langsam vorrückte. Bereits aus der Ferne sahen sie die Truppenformationen, bewunderten die perfekt aufgestellte Schlachtordnung und priesen die Mannschaftsstärke, die Ordnung und die Führung. Als sie näher kamen, kündigten sie die hetaireiarcheis beim Thronprätendenten (basileiōn, βασιλειῶν) an. Der aber befahl den Truppen anzuhalten. Er nahm ausgewählte Männer zur Seite, den archōn der Makedonen, die stratēgoi der Thraker, die ilarchoi [Schwadronführer, Anm.] und die archontes, und entfernte sich ein wenig vom Hauptheer. Alle waren abgesessen und nach Rängen geordnet aufgestellt. Nur Bryennios selbst blieb hoch zu Ross, auf einem Schimmel, der für seinen Gebrauch reserviert war. Er trug keine Rüstung, sondern kaiserliche Kleidung, in der Annahme, dass ihn diese besser schmückte. Er war ein Mann, stattlich in seinem Äußeren und versiert in Konversationen. nar der Universität Zürich 92), Bern 1999; Henry F. Amedroz, An embassy from Baghdad to the Emperor Basil II, in: Journal of the Royal Asiatic Society, 1914, S. 915–942. 512 Vgl. Cresci, Appunti, S. 115–116. 513 Vgl. Paul Gautier, Le synode des Blachernes (fin 1094). Étude prosopographique, in: REB 29, 1971, S. 213–284, hier S. 251–252. 514 Vgl. Paul Gautier, Le dossier d’un haut fonctionnaire d’Alexis Comnène: Manuel Straboromanos, in: REB 23, 1965, S. 168–204.
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Die Unterhändler kamen näher und entboten freundliche Grüße, wie es Gesandten geziemt. Der Anführer (kratōn, κρατῶν) erwiderte diese und gab sich freundlich. Dann bat er sie zu erklären, aus welchem Grund sie zu ihm gekommen waren. Sie entgegneten, dass sie wegen eines Friedensvertrages und des Angebots einer Beteiligung an der Herrschaft zu ihm geschickt worden seien. Bryennios wiederum forschte bei ihnen, die um die Übereinkunft baten, nach und sie trugen detailliert alle [Angebote] des Kaisers vor … Bryennios antwortete sofort, dass er den Vertrag gutheiße, dass er den Frieden begrüße und den Bürgerkrieg beenden wolle und dass er die vom Kaiser angebotene Würde annehme515.
Weitaus weniger harmonisch liest sich der Bericht von der Gesandtschaft im Geschichtswerk des Michael Attaleiates, seines Zeichens Anhänger und enger Berater von Nikephoros III.: Εr [scil. Nikephoros III.] schickte nämlich einen seiner engsten Vertrauten, der in der Rede und im Zuhören geschult und in solchen Angelegenheiten sehr erfahren war, nämlich den prōtoproedros und megas hetaireiarchēs Romanos [scil. Manuel Straboromanos]. Als dieser beim Usurpator (tyrannos, τύραννος) ankam, wurde er nicht umgehend als Gesandter des Kaisers empfangen und ihm wurde auch das Vorsprechen nicht gestattet, wie es üblich ist, wenn das Heer draußen in Zelten lagert. Für die Dauer eines Tages wurde er vielmehr am Weiterkommen gehindert. Erst nach einigen Tagen wurde er zur Befragung gerufen. Bryennios aber empfing ihn im Freien und sah ihn zu Fuß, in den Disteln stehend und von den ihn umgebenden Leuten verspottet, während er selbst im Sattel blieb. Die Vertragsbedingungen lehnte er weiterhin ab und entließ Romanos auf ehrlose Art und Weise, wie es das Gesetz nicht einmal wahren Kaisern bei einem Gesandten des Häuptlings eines unbedeutenden Barbarenstammes erlaubt. Ein Gesandter wird nämlich als heilige
515 Bryennios 4.2 (S. 259, Z. 23–263, Z. 18 Gautier): ἐπέμποντο ὅ τε Χοιροσφάκτης Κωνσταντῖνος εἰς προέδρους τότε τέλων, ἀνὴρ νουνεχής τε καὶ λόγιος καὶ πᾶσι κομῶν τοῖς καλοῖς ὁπόσα πολιτικὸν ἄνδρα κοσμοῦσι, καὶ ὁ Στραβορωμανός, ὃς ἐκ Πενταπόλεως ὥρμητο τῆς Φρυγίας, ἀνὴρ δεινὸς καὶ δραστήριος, τὸ γένος ἀνέλκων εἰς †τούτους† καὶ συγγενὴς ὢν τῷ βασιλεῖ Νικηφόρῳ. Ἀπελθόντες οὖν ἐντυγχάνουσι τῷ Βρυεννίῳ περὶ τὴν Θεοδωρούπολιν τὴν φάλαγγα τάξαντι καὶ βάδην πορευομένῳ· ἔτι δὲ πόρρω ὄντες καὶ τὰς τάξεις θεώμενοι καὶ τὴν φάλαγγα κοσμίως συντεταγμένην ἐθαύμαζόν τε τὸ πλῆθος ὁμοῦ καὶ τὴν τάξιν καὶ τὸν ἄγοντα ἐμεγάλυνον. Ἐπεὶ δ’ ἐγένοντο πλησίον, οἱ ἐπὶ τῶν ἑταιρειῶν τεταγμένοι καὶ τὰ τούτων πρὸς τὸν βασιλειῶντα ἀνέφερον. Ὁ δὲ κελεύσας τὰς τάξεις στῆναι καὶ τοὺς λογάδας παραλαβών, τόν τε Μακεδόνων ἄρχοντα καὶ Θρᾳκῶν στρατηγούς τε καὶ ἰλάρχας καὶ ἄρχοντας, μικρόν τι τῆς φάλαγγος ὑπεξῄει καὶ πάντων ἀποβάντων τῶν ἵππων καὶ στοιχηδὸν παρ’ ἀλλήλων στάντων μόνος ἔφιππος ἦν, ἵππου λευκοῦ τὴν χρείαν αὐτοῦ πληροῦντος· ἵστατο δὲ οὐκ ἐν τοῖς ὅπλοις, ἀλλ’ ἐν κόσμῳ βασιλικῷ, ὃν ἐδόκει μᾶλλον ἐκεῖνος κοσμεῖν, ἀνὴρ ὢν ἀγαθός τε τὸ εἶδος καὶ ὁμιλῆσαι δεινότατος. Ἐγγισάντων δὲ τῶν πρέσβεων καὶ τὴν συνήθη πρεσβεῦσι ποιησαμένων προσηγορίαν καὶ αὐτοῦ τοῦ κρατοῦντος ἀντιπροσαγορεύσαντος καὶ αὐτοῖς ἠπίως προσφερομένου, πήρετο ἀναδιδάσκειν αὐτοὺς δι’ ἣν αἰτίαν τὴν παρ’ αὐτὸν ἐποιήσαντο ἄφιξιν χάριν εἰρήνης τε καὶ σπονδῶν φαμένων καὶ κοινοπραγίας πεμφθῆναι παρὰ τοῦ κρατοῦντος, αὖθις ἐπήρετο ἐπὶ τίσι τὰς ξυμβάσεις αἰτοῦσιν, οἱ δὲ πάντα διεξῄεσαν τὰ παρὰ βασιλέως … Εὐθὺς ἀπεκρίνατο τὰς συμβάσεις ἐθέλειν καὶ τὴν εἰρήνεν ἀσπάζεσθαι καὶ τὸν πόλεμον καταλῦσαι ἐμφύλιον καὶ τὴν παρὰ βασιλέως τιμὴν δέχεσθαι.
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Performative Aspekte von Usurpationen
Instanz angesehen, weil er ein Vermittler zwischen Gegnern ist, Frieden aushandelt, viele Streitpunkte zur Gänze abschwächt und kriegerische Krisen verhindert. Da fiel das Zelt des Bryennios von selbst in sich zusammen, als ob sein Dach rundherum von unsichtbaren Händen gelöst worden wäre. Dies wurde von den Weisen als sicheres Zeichen für seinen Untergang gedeutet …516
Was das zentrale Element der Inszenierung des Treffens betrifft, sind sich die beiden Berichte einig: Die Begegnung findet unter freiem Himmel im Feldlager der Rebellen statt und die hochrangigen Gesandten werden im Feldlager zu Fuß vor Bryennios geführt, der für die Audienz jedoch nicht von seinem Schimmel absteigt517. Prinzipiell scheint es sich hierbei um eine gängige, ans Feldlager angepasste Alternative zur Audienz vor dem thronenden Kaiser gehandelt zu haben, die auch andernorts belegt ist518. Rund um diesen Kern des Szenarios entwickeln beide Autoren Strategien zur Legitimierung bzw. Diffamierung des Usurpators. Dies schlägt sich einerseits im verwendeten Vokabular nieder – Bryennios umschreibt den Usurpator durch die als Substantive gebrauchten Partizipien basileiōn (etwa: Prätendent) und kratōn (= Befehlshaber, Herrscher), während ihn Attaleiates unumwunden als tyrannos (= Usurpator) bezeichnet – andererseits aber vor allem in der Betonung des Verhaltens der beiden Parteien. Bryennios unterstreicht hierbei vor allem den harmonischen Ablauf. Nach
516 Attaleiates, S. 220, Z. 11–221, Z. 4 (Tsolakes): Πέπομφε γὰρ ἕνα τῶν πιστοτάτων αὐτῷ, καὶ εἰπεῖν καὶ ἀκοῦσαι πεπαιδευμένον καὶ πεῖραν ἐν τοῖς τοιούτοις ἐκ πλείονος ἔχοντα, Ῥωμανὸν πρωτοπρόεδρον καὶ μέγαν ἑταιρειάρχην. Ὃς καὶ ἀφικνούμενος πρὸς τὸν τύραννον οὐκ εὐθὺς ἐδέχθη ὡς ἐκ βασιλέως ἀποστελλόμενος καὶ λόγου ἠξιώθη κατὰ τὸ σύνηθες τοῖς στρατευομένοις περὶ τὰς ὑπαίθρους σκηνάς, ἀλλ’ ἐκ διαστήματος ἡμέρας τοῦ πρόσω βαδίζειν κωλυθεὶς μεθ’ ἡμέρας τινὰς μετεπέμφθη πρὸς τὴν ἐρώτησιν. Ἔξωθεν δὲ δεξάμενος τοῦτον ἔφιππος ὁ Βρυέννιος πεζὸν εἶδεν, ἐν ἀκάνθαις ἱστάμενον καὶ παρὰ τῶν ἀμφ’ αὐτὸν κατειρωνευόμενον. Μηκέτι δὲ τὰς συνθήκας δεξάμενος ἀτίμως τοῦτον ἀπέπεμψεν, ὅπερ οὐδ’ εἰς ἐθνάρχου τῶν εὐτελεστέρων πρέσβυν νόμος τοῖς ἀληθῶς βασιλεῦσι ποιεῖν· ἱερὸν γὰρ σῶμα ὁ πρέσβυς λελόγισται, οἷα τοῖς ἀντιθέτοις μεσίτης γινόμενος καὶ τὴν εἰρήνην διαπορθμεύων καὶ πολλὰ τῶν ἀμφισβητημάτων ὡς ἐπίπαν καταπραΰνων καὶ πολεμικὰς περιστάσεις ἀποσοβῶν· Ἔπεσε δὲ τηνικαῦτα ἐξ αὐτομάτου ἡ τοῦ Βρυεννίου σκηνή, τοῦ ὀρόφου ταύτης παραλυθέντος κυκλόθεν ἀοράτοις χερσίν. Ὅπερ καταστροφῆς αὐτοῦ σύμβολον ἀψευδὲς τοῖς συνετοῖς διεγνώσθη … Nach Attaleiates, S. 112 (Tsolakes) habe sich dasselbe böse Omen vor dem verheerenden Seldschukenfeldzug von Kaiser Romanos IV. im Jahre 1071 ereignet. 517 Schon in spätrömischer Zeit war es üblich, dass Gesandte bei einer Audienz vor dem sitzenden Kaiser stehen mussten: Alföldi, Repräsentation, S. 44–45. In Konstantinopel war es Gesandten üblicherweise erlaubt, den Weg bis zum Palast zu Pferde anzutreten, dort aber abzusteigen: Franz Tinnefeld, Ceremonies for foreign ambassadors at the court of Byzantium and their political background, in: BF 19, 1993, S. 193–213, hier S. 199–200. Dass Liutprand (Legatio 2 [S. 187 Chiesa]) die Benutzung eines Pferdes auf dem gesamten Weg von seinem Quartier zum Palast verwehrt wurde, ist wohl, wie er selbst vermutet, als Schikane zu sehen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch eine Szene in Digenis Akrites (3.120–123 [S. 50 Jeffreys]): Die Etikette befiehlt dem Empfangskomitee sofort vom Pferd abzusteigen, als der Emir zu Fuß aus dem Zelt tritt. Weitere Beispiele in Heher, Mobiles Kaisertum, S. 103–105. 518 Vgl. den Empfang seldschukischer Gesandter durch Alexios I. (Zonaras 18.27 [S. 758 Pinder/ Büttner-Wobst]); Heher, Mobiles Kaisertum, S. 96.
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seiner Beschreibung verlief der Empfang der Gesandtschaft perfekt nach Protokoll: Eine Abordnung eskortiert die kaiserlichen Gesandten ins Lager, die beim Usurpator vorstellig werden, der ihren Gruß erwidert. Dass der Usurpator während der Audienz nicht absitzt, wird von Bryennios keineswegs kritisiert. Im Gegenteil, die erhöhte Position auf dem ihm vorbehaltenen Schimmel und seine kaiserliche Kleidung verleihen ihm majestätische Ausstrahlung519. Der Usurpator ist absoluter Herr der Lage: Seine Führungsstärke und Eignung zum Kaiser manifestierten sich in der perfekten Ordnung (taxis) seiner Armee und der von ihm etablierten Hierarchie in der Kommandostruktur. Der beschriebene Ablauf folgt exakt den Empfehlungen byzantinischer Militärhandbücher, denen zufolge „es nicht richtig ist, die Gesandten der Feinde respektlos zu behandeln“520. Die Unterhändler sind freundlich zu empfangen und nach höflicher Konversation in Ehren zu entlassen521. Im Bericht des Attaleiates hingegen verstößt der Usurpator gegen sämtliche Aspekte des Protokolls: in seiner Überheblichkeit habe er die Gesandten bewusst gedemütigt, indem er sie über Gebühr und grundlos warten ließ522, sie im Freien empfing, nicht vom Pferd abstieg und sogar zuließ, dass sie von seinen Anhängern verspottet werden. Schlussendlich entließ er die Gesandtschaft ehrlos (ἀτίμως). „Wahre Kaiser“ (οἱ ἀληθῶς βασιλεῖς) würden sich nach Ansicht von Attaleiates niemals zu einer solchen Demütigung eines Diplomaten herablassen. Schlimmer noch als die Unhöflichkeit ist der zur Schau gestellte Unwille, sich um Frieden zu bemühen und Blutvergießen zu vermeiden523. Welche Zusätze die beiden Autoren völlig frei erfunden haben, um ihre Erzählung stimmiger zu gestalten, muss freilich offen bleiben. In manchen Aspekten wird es sich aber weniger um reine Erfindungen handeln, als um einen Prozess selektiver Rezeption. Aufschlussreich ist daher die Frage, welche Details die beiden Autoren jeweils verschweigen (Tabelle 6). Falls die Anekdote mit dem eingestürzten Zelt sich wirklich so ereignete, tat Bryennios gut daran, sie nicht zu überliefern, da sie mit seinem Bild der strikten Ordnung im Lager des Usurpators nicht zu vereinen gewesen wäre. Diese soll nicht nur die militärischen Fähigkeiten seines Großvaters illustrieren, son-
519 Der Schimmel war bereits im alten Rom dem Kaiser und wichtigen Beamten als Reittier vorbehalten gewesen: Ann Hyland, Equus. The horse in the Roman world, New Haven 1990, S. 238–239. 520 Leon VI., Taktika 20.33 (S. 548, Z. 174–175 Dennis): τῶν ἐναντίων τοὺς πρεσβευτὰς ὑβρίζειν οὐ δίκαιον. 521 Leon VI., Taktika 17.5 (S. 394 Dennis); vgl. Three military treatises, S. 124–125 (Dennis). 522 Vgl. die Empörung Liutprands von Cremona (Legatio 2 [S. 187–188 Chiesa] über die lange Wartezeit vor einer Audienz, wenngleich dies ein Empfang im Kaiserpalast zu Konstantinopel war. Im Felde versuchte man in der Regel den Aufenthalt von Gesandtschaften möglichst kurz zu gestalten (vgl. Kapitel 2.3.3.2. zum Empfang des Michael Psellos durch Isaakios Komnenos). 523 Skylitzes Cont., S. 179–180 (Tsolakes) folgt seiner Hauptquelle Attaleiates auch hier und erwähnt nur den unehrenhaften Umgang mit der Gesandtschaft; vgl. auch Zonaras 18.19 (S. 721 Pinder/Büttner-Wobst).
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Performative Aspekte von Usurpationen
dern vielmehr implizieren, dass er als wahrer Kaiser die Einhaltung der Weltordnung (taxis) garantieren kann524. Diese dem Kaiser eigene Ordnungsmacht weiß Attaleiates wiederum keines Wortes zu würdigen. Tab. 6 Gegenüberstellung der erwähnten/unterschlagenen performativen Handlungen bei der Gesandtschaft von 1078 (gemeinsame Elemente in Majuskelschrift) Michael Attaleiates
Nikephoros Bryennios
–
Truppen in Reih und Glied organisiert
Wartezeit
Sofortiger Empfang durch abgesessene Kommandanten EMPFANG IM FREIEN GESANDTE ZU FUSS NIKEPHOROS ZU PFERDE
(Kritik an Überheblichkeit)
(Bewunderung für kaiserliches Gehaben)
–
Kaiserliche Kleidung, Schimmel
–
Gegenseitige Begrüßung
Gesandtschaft wird verspottet
– AUDIENZ
(Angebot wird abgelehnt)
(Angebot wird vorerst angenommen, die Verhandlungen scheitern aber an Details)
Gesandte werden unehrenhaft entlassen
–
Einstürzen des Zeltes
–
2.3.3.2 Die Gesandtschaft des Michael Psellos Die Dekonstruktion der beiden Berichte von Michael Attaleiates und Nikephoros Bryennios zeigt einerseits die starke Einflussnahme des Autors auf die Beschreibung performativer Handlungen und andererseits, dass Usurpatoren den Empfang von Gesandtschaften durchaus zur Selbstinszenierung nutzen konnten. In beiderlei Hinsicht interessant ist auch der Augenzeugenbericht des Michael Psellos von seiner diploma-
524 Zum Begriff der taxis als gottgegebene Ordnung der Welt s. oben, S. 20. Vgl. ODB III, S. 2018 (s. v.); Ahrweiler, Idéologie politique, S. 136–139; s. auch Stouraitis, Civil War, S. 104; zum Niederschlag dieser Vorstellung in der Ordnung des Hofes vgl. Nicolas Oikonomidès, Les listes de préséance byzantines des IXe et Xe siècles, Paris 1972. Die Betonung und Wertschätzung der militärischen Ordnung ist gewiss auch dadurch bedingt, dass der Historiograph Nikephoros Bryennios selbst General war.
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tischen Mission beim Usurpator Isaakios (I.) Komnenos im Jahre 1057525. Nachdem Isaakios die ihm von Kaiser Michael VI. entgegengeschickten Truppen geschlagen hatte, sollte eine Gesandtschaft, bestehend aus Michael Psellos, Konstantinos Leichudes und Theodoros Alopos, versuchen, den Aufrührer durch das Angebot des kaisar-Titels von seinem Putschversuch abzubringen526. Psellos’ Schilderung ist mit Vorsicht zu begegnen, zumal die gesamte Passage dem Autor primär der Lobpreisung der eigenen Person dient527. Ins Zentrum des Berichts stellt Psellos nicht die Legitimierung einer der beiden Parteien528, sondern die Demonstration seines eigenen Mutes, seiner Bedeutung am Hofe, seiner Eloquenz, seiner Argumentationskraft und seiner Qualitäten als Berater und Schriftsteller. Wenngleich Psellos’ Sinneseindrücke mitunter übertrieben erscheinen, gibt es wenig Grund, an der prinzipiellen Faktizität der beschriebenen Ereignisse zu zweifeln. Ablauf und räumlicher Rahmen529 Die Gesandten treffen per Schiff am Abend des 24. August 1057 in der Nähe von Isaakios’ Heerlager bei Nikomedeia ein, wo sie umgehend von dessen Kommandanten herzlich mit Hand- und Stirnküssen begrüßt werden. Eskortiert vom Empfangskomitee530, machen sich die Diplomaten zu Pferde auf dem Weg ins Lager. Vor dem persönlichen Zelt des Usurpators steigt die Eskorte ab und bittet die Gesandten, es ihr gleich
525 Psellos, Chron. 7.19–38 (S. 215–226 Reinsch); vgl. Skylitzes, S. 462 (Thurn). 526 Vgl. Bourdara, Καθοσίωσις II, S. 10–17 (Nr. 2); Cheynet, Pouvoir, S. 68–70 (Nr. 80); vgl. Kapitel 2.3.3.2. 527 Vgl. Michael Jeffreys, Psellos and ‚his emperors‘: fact, fiction and genre, in: Ruth Macrides (Hg.), History as literature in Byzantium. Papers from the 40th Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Birmingham, April 2007 (Publications of the Society for the Promotion of Byzantine Studies 15), Farnham 2010, S. 73–92, hier S. 80–81; Anthony Kaldellis, The argument of Psellos’ Chronographia (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 68), Leiden/Boston/Köln 1999, S. 150–152; Pietsch, Chronographie, S. 105–109; Roderick Beaton, ‚De vulgari eloquentia‘ in twelfth century Byzantium, in: James D. Howard-Johnston (Hg.), Byzantium and the West, c. 850–c. 1200, Amsterdam 1988, S. 261–268, hier S. 261–262; Georg Misch, Geschichte der Autobiographie III: Das Mittelalter, Teil 2. Das Hochmittelalter im Anfang, Hälfte 2. Bern 1962, S. 798–802. 528 Auch wenn Sklitzes, S. 497 (Thurn) Recht haben sollte, dass die Gesandtschaft an einer Usurpation des Isaakios durchaus interessiert war und seine Bestrebungen unterstützte, so wirkte sich dies offenbar nicht auf Psellos’ Narrativ aus. Bezeichnend hierfür auch die ironische Bemerkung, Isaakios habe auf dem Thron so angestrengt auf seine majestätische Haltung geachtet, dass er bereits rot angelaufen sei: Psellos, Chron. 7.24 (S. 217 Reinsch). 529 Für eine detaillierte Beschreibung des Ablaufs vgl. auch Dion C. Smythe, Why do barbarians stand round the emperor at diplomatic receptions?, in: Jonathan Shepard / Simon Franklin (Hgg.), Byzantine Diplomacy. Papers from the Twenty-fourth Spring Symposium of Byzantine Studies, Cambridge, March 1990, Aldershot 1992, S. 305–312, hier S. 305–307. 530 Die Eskortierung von Gesandten ist üblich, um den Bewegungsfreiraum und damit die Möglichkeit zur Spionage und unautorisierte Kontaktaufnahme mit Soldaten und Truppenführern einzuschränken. Vgl. Three military treatises, S. 124–125 (Dennis). Auch beim Rückweg zum Schiff wird die Gesandtschaft begleitet: Psellos, Chron 7.33 (S. 222 Reinsch).
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Performative Aspekte von Usurpationen
zu tun und vor dem Zelt zu warten. Weil es mittlerweile dunkel ist und Isaakios aus Sicherheitsgründen nicht zu viele Personen in seinem Zelt haben will, dürfen nur die Gesandten selbst (also ohne Gefolge) eintreten531. Die erste Begegnung verläuft informell: Isaakios sitzt in Generalsuniform auf einem erhöhten Stuhl (thōkos), umgeben von wenigen Leibwächtern. Er erhebt sich leicht zum Gruße und lässt die Gesandten Platz nehmen. Nach einer kurzen Rechtfertigung seines Feldzuges und gemeinsamem Trunk dürfen sich die Diplomaten zur Nachtruhe in ihre eigenen Zelte zurückziehen, die in der Nähe seines eigenen aufgestellt wurden532. Im Morgengrauen des nächsten Tages holt eine Eskorte die Gesandten ab und führt sie zu einem weit größeren Zelt, das von Truppen umringt ist. Am Zelteingang steht Ioannes Komnenos, Isaakios’ Bruder und Hauptmann seiner Leibwache, der Psellos und seine Kollegen aufhält, ins Zelt geht, wieder herauskommt, wortlos den Vorhang zur Seite schlägt und den Blick ins Zelt freigibt533. Im Inneren thront Isaakios, diesmal in kaiserlicher Aufmachung und umgeben von einer großen Zahl an Unterstützern und Kriegern534. In diesem majestätischen Rahmen befiehlt der Usurpator, dass ihm das kaiserliche Schreiben übergeben werde. Zusätzlich trägt Psellos das darin enthaltene Angebot einer Ernennung zum kaisar und designierten Thronfolger vor versammeltem Publikum vor. Als dessen Empörung immer weiter steigt, beendet Isaakios die Audienz535. Im Anschluss an Psellos’ Rede nimmt Isaakios die Gesandten zur Seite. Am selben Tisch sitzend informiert er sie darüber, die Bedingungen anzunehmen, wenn ihm zugesichert werde, dass seine Unterstützer ihre von ihm verliehenen Titel behalten dürften und er neue Dokumente erhalte, welche die Thronfolge ausdrücklich zu seinen Gunsten verändern536. Die Gesandtschaft hat das erwünschte Ergebnis erreicht und kehrt zurück nach Konstantinopel, wo Psellos Kaiser Michael VI. Bericht erstattet. Die entsprechenden Verträge werden aufgesetzt und am übernächsten Tag reisen die Diplomaten erneut zum Usurpator, der sein Lager mittlerweile in Rheai aufgeschlagen hat. Dort kommt es zunächst wieder zu einem informellen Empfang: Isaakios trägt nun bescheidenere Kleidung. Er nimmt das kaiserliche Schreiben entgegen und lässt es verlesen. Seine ihn umgebenden Unterstützer zeigen sich zufrieden mit den Bedingungen537. In einem anschließenden persönlichen Gespräch überbringt Psellos dem Usurpator eine weitere, geheime Nachricht von Michael VI. mit dem Inhalt, dass die Einsetzung als kaisar bereits in wenigen Tagen stattfinden solle, sobald der Kaiser das Volk und den Senat darüber informiert habe538. 531 532 533 534 535 536 537 538
Psellos, Chron. 7.20 (S. 215 Reinsch). Psellos, Chron. 7.21 (S. 215 Reinsch). Psellos, Chron. 7.22 (S. 216 Reinsch). Psellos, Chron. 7.24 (S. 217 Reinsch). Psellos, Chron. 7.27–31 (S. 218–221 Reinsch). Psellos, Chron. 7.32–33 (S. 221–223 Reinsch). Psellos, Chron. 7.34 (S. 223 Reinsch). Psellos, Chron. 7.34 (S. 224 Reinsch).
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Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster
Ebenen der Öffentlichkeit Diplomatische Prozesse sind in der Regel geprägt vom Wechsel zwischen öffentlichen, semiöffentlichen und geheimen Kommunikationsformen539. So bestanden auch Gesandtschaftsempfänge in Konstantinopel aus einer Abfolge von beeindruckenden Audienzen, informellen Gesprächen und Banketten wobei die Auswahl von Örtlichkeit, Requisiten und Publikum von der empfangenden Instanz diktiert wurde. Die Kontrolle der Situation artikuliert sich vor allem in der Vorgabe des Zeitplans und der Verweigerung bzw. Erlaubnis des Zutritts zu bestimmten Räumlichkeiten. Auch beim Empfang im Heerlager des Isaakios ist zu beobachten, dass sich die verschiedenen Phasen der Verhandlungen in durchaus unterschiedlichen Settings abspielen (Tabelle 7). Tab. 7 Räumliche Aspekte der Gesandtschaft von 1078 Örtlichkeit
Handelnde Personen
Sonstige Anwesende
Requisiten
Sonstige Abläufe
Lager bei Nikomedeia Isaakios’ Zelt
Isaakios
Garde
Generalsuniform, Stuhl
informeller Empfang, gemeinsamer Trunk
Großes Zelt
Isaakios, Gesandte
Engste Unterstützer, Garde, Truppen, Söldner
Kaiserliches Ornat, Thron
Akklamationen, Audienz, Reaktionen der Anwesenden
Großes Zelt
Isaakios, Gesandte
–
Kaiserliches Ornat, Thron
Privates Gespräch
Isaakios’ Zelt
Isaakios, Gesandte
?
?
Gemeinsames Mahl
Lager in Rheai Isaakios’ Zelt
Isaakios, Gesandte
Engste Unterstützer
Bescheidene Kleidung
Privates Gespräch
?
Psellos, Isaakios
–
?
Vertrauliches Gespräch
Zunächst nützte Isaakios das Ambiente des Heerlagers für seine Selbstinszenierung als General. Er war über das Eintreffen der Gesandtschaft informiert gewesen und hätte bereits den ersten Empfang am Morgen nach ihrer Ankunft im großen Repräsentativ-
539 Tinnefeld, Ceremonies, S. 202. Allgemein zu den verschiedenen Ebenen der Öffentlichkeit im Vorfeld ritualisierter Handlungen s. Gerd Althoff, ‚Colloquium familiare‘ – ‚Colloquium secretum‘ – ‚Colloquium publicum‘. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: FmSt 24, 1990, S. 145–167; Weiler, Kingship, S. 130–150.
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Performative Aspekte von Usurpationen
zelt veranstalten können. Bewusst – und für Psellos durchaus überraschend – setzte er sich jedoch noch am Abend der Ankunft als umgänglicher Feldherr in Szene540. Noch informeller scheint Psellos den Empfang in Rheai empfunden zu haben, der wohl wieder im privaten Zelt des Usurpators stattfand, wobei Isaakios diesmal noch bescheidener gekleidet war541. Angesichts der Tatsache, dass es nur noch um die Bestätigung des ausgehandelten Vertrages ging, war ein allzu großer inszenatorischer Aufwand offenbar nicht mehr nötig. Wenn Psellos behauptet, die kaiserliche Nachricht sei „vor allen“ (εἰς ἐπήκοον πάντων ἀναγνωσθῆναι προστέταχε, κεχαρισμένος ἅπασιν ἔδοξεν) verlesen worden, sind damit wohl die engsten Unterstützer Isaakios’ gemeint, die von den Vertragsinhalten betroffen waren. Abgesehen von den militärischen Nuancen orientierte sich der Empfang stark am Protokoll des Palastes, bzw. des kaiserlichen Heerlagers, das auf Feldzügen an dessen Stelle trat542. Selbst für Details wie die Abholung der Gesandten am Hafen, die Nachfrage Isaakios’ nach dem Reiseverlauf – sowohl beim informellen Empfang am Abend der Ankunft als auch im Rahmen der offiziellen Audienz – und die Unterbringung der Gesandten gibt es Parallelbeispiele aus dem Palastzeremoniell für Konstantinopel543. Die Funktion der Vorhänge, die den Blick auf den thronenden Kaiser erst zu einem bestimmten Zeitpunkt freigeben, wird im Feldlager vom Zelteingang übernommen544. Auch der Wechsel zwischen verschiedenen Örtlichkeiten je nach zeremonieller Eignung begegnet bei den Empfängen im Großen Palast545. Sowohl dort als auch im Feldlager ist zu beobachten, dass die Inhalte der diplomatischen Mission nicht im Rahmen der prunkvollen Audienzen diskutiert wurden, sondern in einem intimeren Personenkreis546. Die bei Empfängen im Palast übliche Proskynese der Gesandten entfällt im
540 Psellos, Chron. 7.21 (S. 215, Z. 1–3 Reinsch): Ἀσπάζεται γοῦν εἰσιόντας ἡμᾶς. ἐκάθητο δὲ ἐπὶ θώκου τινὸς ὑψηλοῦ, βραχείας τινὸς περὶ αὐτὸν οὔσης δορυφορίας· ἐσκεύαστο δὲ οὐ τοσοῦτον βασιλικώτερον, ὅσον στρατηγικώτερον. 541 Psellos, Chron. 7.34 (S. 223, Z. 2–4 Reinsch): οὐκ ἐν τῷ αὐτῷ σχήματι προκαθημένῳ, ᾧ πρότερον ἑωράκειμεν, ἀλλ’ ἐν ὑφειμένῳ τε καὶ ἐλάττονι. 542 Die Simulation des Palastes erfolgte durch Sichtbarmachung der sozialen Hierarchie, dem Befolgen der Etikette und die Zurschaustellung von Pracht und Reichtum. Vgl. ebd. S. 72, 77–99. Zum Empfang ausländischer Gesandter durch den Kaiser im Feldlager vgl. Malamut, Tente impériale, S. 84–85; Zur Abhängigkeit des Empfangszeremoniells von den räumlichen Gegebenheiten im Palast vgl. Cormack, But is it art?, S. 218, 222, 224–227. 543 Vgl. die Beispiele bei Tinnefeld, Ceremonies, S. 198–199 und 207; zum Zeltlager als Spiegelung des Palastes vgl. Mullett, Tented ceremony, S. 504 und Heher, Mobiles Kaisertum, Kapitel 3. 544 Zu den Vorhängen im Palastzeremoniell s. z. B. Psellos, Chron. 6.146 (S. 173 Reinsch) und Attaleiates, S. 56–57 (Tsolakes); vgl. Alföldi, Repräsentation, S. 28, 36–38; Treitinger, Kaiseridee, S. 55–56. Zu Vorhängen am Zelteingang vgl. auch die Darstellung auf fol. 153r im Skylitzes Matritensis. 545 Die erhaltenen Beschreibungen erwähnen die Nutzung der Magnaura (vgl. Guilland, Topographie I, S. 141–150), des Justinianischen Triklinos (vgl. ebd., S. 153–154) sowie des Chrysotriklinos (vgl. Janin, Constantinople, S. 115–117). Vgl. Tinnefeld, Ceremonies, S. 200–202. 546 Tinnefeld, Ceremonies, S. 202.
Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster
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Lager des Usurpators wohl aus dem einfachen Grunde, dass die Geste einer Anerkennung der Ansprüche auf den Thron gleichgekommen wäre547. Das Herzstück des Empfangs war nach allen Regeln des byzantinischen Zeremoniells gestaltet und fand im größten verfügbaren Zelt statt, das nach Psellos’ enthusiastischer Meinung „ein ganzes Heer samt Hilfstruppen hätte aufnehmen können“548. In der Manier des byzantinischen Herrschers saß Isaakios nun auf einem erhöhten vergoldeten Thron549 mit Suppedaneum und trug kaiserliche Kleidung550 (wenngleich Psellos kein Diadem erwähnt) und entsprach damit dem Archetypus des byzantinischen Kaisers, der eine Gesandtschaft empfängt551. Doch nicht nur Architektur und Requisiten dienten ihm zur Zurschaustellung seiner maiestas, auch die übrigen Aspekte des Empfangs, die im Folgenden noch zu besprechen sein werden, zielten auf eine eindeutige Imitation kaiserlichen Verhaltens ab. Die Botschaft war primär an die Gesandten adressiert, doch sollte sie ohne Zweifel auch die eigenen Unterstützer erreichen. Wie schon Konstantinos VII. Porphyrogennetos in der Einleitung seines Zeremonienbuches schrieb, sollte das Kaisertum durch sein Zeremoniell sowohl den Fremden als auch den eigenen Untertanen noch wunderbarer erscheinen552. Die kommunikative Wirkmacht des Zeremoniells entfaltete sich auf mehreren Ebenen der sinnlichen Wahrnehmung gleichzeitig. Im Folgenden sollen die Gestik des Usurpators, der akustische Rahmen und die räumliche Anordnung der Anwesenden einer näheren Analyse unterzogen werden. Gesten Ironisch kommentiert Psellos Isaakios’ Anstrengungen, beim Einlass der Gesandten möglichst majestätisch zu wirken, indem er seinen Kopf hoch hielt und seine Brust herausstreckte, wobei die Anstrengung seine Wangen rötete. Sein entrückter Blick soll547 Zur Proskynese vgl. Tinnefeld, Ceremonies, S. 203–204. 548 Psellos, Chron. 7.22 (S. 216, Z. 5–6 Reinsch): μείζονι οὖν σκηνῇ ἐντυγχάνομεν, ὁπόση καὶ στρατοπέδῳ καὶ ξενικαῖς ἀρκέσειεν ἂν δυνάμεσιν. Aus dem arabischen Raum sind Beschreibungen von Zelten überliefert, die mehr als 500 Personen aufnehmen konnten. Vgl. Mullett, Tented ceremony, S. 503; Mullett, Byzantine tent, S. 282. 549 Aufgrund der Bezeichnung als „Thron mit zwei Köpfen“ (ἀμφικεφάλος θρόνος) vermute ich, dass es sich hierbei eigentlich um eine Liege handelte, die als Herrschersitz diente – wie es bei Empfängen im Feldlager üblich gewesen sein dürfte. Im Detail hierzu s. Heher, Mobiles Kaisertum, S. 93–96. 550 Psellos, Chron. 7.24 (S. 217, Z. 5–7 Reinsch): αὐτὸς μὲν ὁ βασιλεὺς ἐπ’ ἀμφικεφάλου καθῆστο θρόνου (μετέωρος δὲ ἦν· καὶ χρυσὸς τοῦτον ὑπήλειφε), σκίμπους τε ὑπέκειτο τοῖς ποσὶ· καὶ τὸ σῶμα ἐσθὴς λαμπρὰ καθωράϊζεν. Zum Suppedaneum als Herrschaftszeichen vgl. Lydie Hadermann-Misguich, Tissus de pouvoir et de prestige sous les Macédoniens et les Comnènes. À propos des coussins-de-pieds et de leurs représentations, in: DChAE 17, 1993/94, S. 121–128. 551 Corippus, In laudem 3.231–244 (S. 67–68 Cameron). Liutprand, Ant. 6.5 (S. 147 Chiesa); Treitinger, Kaiseridee, S. 94–97, 197–202; zum Zelt als Thronsaal vgl. Mullett, Byzantine tent, S. 275; Malamut, Tente impériale, S. 67–68; Heher, Mobiles Kaisertum, S. 89–93. 552 De cerim., Praef. (Bd. 1, S. 3–4 Reiske).
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Performative Aspekte von Usurpationen
te veranschaulichen, wie tief er in Gedanken versunken war553. Psellos deutet an, dass Isaakios damit eine Imitation kaiserlichen Verhaltens angestrebt habe. Die Symbolik der Körperhaltung des Kaisers wurde für Byzanz bisher nur unzureichend erforscht554. Grundsätzlich ist aber bei der Gestik des Herrschers ein ausgeprägter Minimalismus festzustellen. In der Regel blieb der Kaiser in Zeremonien möglichst unbewegt und beschränkte sich auf Kopf- oder Handzeichen. Dahinter verbarg sich nicht nur der Wunsch nach möglichst würdevollem Verhalten, sondern auch die Vorstellung, dass wahre Autorität nur kleine Signale benötigt, um die erwünschten Handlungen auszulösen555. Aus einer Analyse des Zeremonienbuches aus dem 10. Jahrhundert schloss Otto Treitinger: Alles muß sich in vornehmer Ruhe, die der Verehrung und Hoheit des Kaisers Rechnung trägt, abspielen, ein leichter Wink ist hier Gruß des Kaisers und dort Befehl … Darüber hinaus aber ist die bloße Gebärde statt des Wortes im täglichen Leben Zeichen der Geringschätzung oder des gesellschaftlichen Abstandes. Dieses Gefühl des Abstandes, der Hoheit und Macht des Kaisers formt und bedingt auch die Zeichensprache; immer und überall geht alles auf einen Wink des Kaisers zurück.
Eben dieses kaiserliche Ideal verfolgt auch Isaakios bei der Audienz: Als die Gesandten eintreten, reicht sein Handzeichen und sein Nicken, um die Diplomaten anzuweisen, sich nach links zu begeben556. Die lautstarken Proteste seiner Soldaten gegen Psellos’ Rede unterbindet er durch bloßes Heben der Hand557. Einmal mehr offenbart sich im Zeremoniell der höchst unterschiedliche Charakter zum ersten, informelleren Empfang im Privatzelt, bei dem sich Isaakios zur Begrüßung sogar leicht aus seinem Stuhl erhob und den Gesandten einen Sitzplatz und gemeinsamen Trunk anbot558.
553 Psellos, Chron. 7.24 (S. 217, Z. 7–11 Reinsch): ὑπερανεστήκει τε τὴν κεφαλὴν· καὶ τὸ στέρνον προβέβλητο· τήν τε παρειὰν ὁ ἀγὼν κατεφοίνισσε· καὶ τὰ ὄμματα, πεπηγότα ἐπὶ συννοίας καὶ πλήρη ἐνθυμημάτων τὴν καρδίαν δεικνύοντα, αὖθις ἀνέφερον, ὥσπερ ἐκ βυθοῦ εἰς γαλήνην προσορμιζόμενα. 554 Alföldi, Repräsentation, konzentriert sich eher auf die Gesten der Untertanen in Gegenwart des Kaisers. Für den mittelalterlichen Westen grundlegend: Jean-Claude Schmitt, La raison des gestes dans l’occident médiéval, Paris 1990, allerdings mit wenigen Angaben zur Gestik des Königs (S. 229–232). Zu Gesten im alten Rom s. Gregory S. Aldrete, Gestures and acclamations in ancient Rome, Baltimore 1999. 555 Vgl. Treitinger, Kaiseridee, S. 54, mit Anm. 30 (dort zahlreiche Belegstellen aus dem Zeremonienbuch). 556 Psellos, Chron. 7.25 (S. 218, Z. 2–4 Reinsch): τῇ χειρὶ καλέσας· καὶ βραχύ τι τὴν κεφαλὴν ἐπινεύσας, ὅσον ἡμᾶς παρεγλῖναι εἰς τὰ εὐώνυμα. 557 Psellos, Chron. 7.31 (S. 221, Z. 6 Reinsch): ὁ δὲ γε βασιλεὺς, τῇ χειρὶ τούτους κατασιγάσας. 558 Zum Privileg des Sitzens vgl. Treitinger, Kaiseridee, S. 94–97; Alföldi, Repräsentation, S. 44–45.
Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster
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Akustik Die akustische Dimension war ein konstitutiver Bestandteil jeder kaiserlichen Zeremonie. Insbesondere choreografierte Akklamationen und hymnische Gesänge sowie Orgelmusik, dazu auch Klangautomaten spielten eine tragende Rolle559. Obwohl im Heerlager die zeremoniellen Gestaltungsmöglichkeiten vergleichsweise limitiert waren, zeigt Psellos’ Gesandtschaftsbericht auf, dass der akustischen Rahmung durchaus Bedeutung beigemessen wurde (Tabelle 8). Beim Empfang im Zelt des Kaisers (sic!)560 lässt sich beobachten, dass die Geräuschkulisse einer sorgfältigen Inszenierung unterlag, die auf dem Wechsel von Lärm und Stille sowie von Ordnung und Chaos basierte. Als die Gesandtschaft im Morgengrauen vor Isaakios’ Repräsentationszelt geführt wird, findet es Psellos bemerkenswert, dass die ringsherum angeordneten Truppenkontingente absolute Stille wahren561. Diese wird erst gebrochen, als Ioannes Komnenos wortlos und abrupt den Zelteingang öffnet und den Blick auf die Thronszene freigibt. Die visuelle Machtdemonstration – „im Stil eines Gewaltherrschers und furchterregend“562 – wird nun durch lautes Brüllen der Soldaten im Zelt (und wohl auch jener außerhalb) gesteigert. Psellos ist aber nicht nur von der Lautstärke beeindruckt: Zunächst dröhnten uns die Ohren vom Gebrüll der Truppen, doch die Stimmen erklangen nicht alle gleichzeitig: Die erste Reihe gab durch das Beenden ihrer Akklamation das Startsignal für die nächste und diese dann für die hinter ihr und es gab immer neue Variationen. Dann, nachdem die letzte Reihe akklamiert hatte, brachen sie alle zugleich sofort in gemeinsames Brüllen aus und donnerten gleichsam auf uns nieder563.
Danach enden die choreographierten Akklamationen und der Gesandtschaft wird der Weg zum Thron freigegeben. Nach kurzer Erkundigung über den Reiseverlauf befiehlt
559 Zu Gesängen und Akklamationen vgl. Jacques Handschin, Das Zeremonienwerk Kaiser Konstantins und die sangbare Dichtung, Basel 1942; Maas, Metrische Akklamationen; zu Orgeln vgl. Nikos Maliaras, Die Orgel im byzantinischen Hofzeremoniell des 9. und des 10. Jahrhunderts. Eine Quellenuntersuchung (Miscellanea Byzantina Monacensia 33), München 1991; Berger, Akustische Dimension; zu Klangautomaten vgl. Reinhold Hammerstein, Macht und Klang. Tönende Automaten als Realität und Fiktion in der alten und mittelalterlichen Welt, Bern 1986; Brett, Automata; Constantin Canavas, Automaten in Byzanz. Der Thron von Magnaura, in: Klaus Grubmüller / Markus Stock (Hgg.), Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 17), Wiesbaden 2003, S. 49–72. 560 Psellos, Chron. 7.23 (S. 216, Z. 1–2 Reinsch): ἐντός τε τῆς τοῦ βασιλέως σκηνῆς. 561 Psellos, Chron. 7.22 (S. 216 Reinsch). 562 Psellos, Chron. 7.23 (S. 216, Z. 4–5 Reinsch): Ἦν γὰρ δὴ πάντα τυραννικὰ τῷ ὄντι καὶ φρίκης μεστά. 563 Psellos, Chron. 7.23 (S. 216, Z. 5–10 Reinsch): τὰ μὲν οὖν πρῶτα κατάκροτοι τὰ ὦτα τοῖς τοῦ πλήθους ἀλαλαγμοῖς ἐγεγόνειμεν. αἱ δὲ φωναὶ οὐχ ὁμοῦ ξύμπασαι· ἀλλ’ ἡ πρώτη τάξις πληροῦσα τὴν εὐφημίαν, τῇ ἐφεξῆς ἐδίδου τὸ σύνθημα· κἀκείνη, τῇ μετ’ ἐκείνην· καὶ ἦν τοῦτο καινὸν ἀσύμφωνον. εἶτα δὴ, ἐπειδὴ ὁ τελευταῖος κύκλος ἠλάλαξεν, αὖθις ὁμοῦ ξύμπαντες συμπεφωνηκότες, μικροῦ δεῖν ἡμᾶς κατεβρόντησαν.
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Performative Aspekte von Usurpationen
Tab. 8 Akustische Elemente des Gesandtschaftsempfangs durch Isaakios Komnenos Akustischer Effekt Stille
Handelnde Person(en) Truppen vor Zelt
Auslöser Nahen der Gesandtschaft
Gebrüllte (aber geordnete) Truppen vor/im Zelt Akklamationen
Aufschlagen des Zelteinganges
Stille
Truppen im Zelt
automatisch bei Ende der choreographierten Akklamationen
Befehl mit lauter Stimme
Isaakios
eigene Initiative
Rede
Psellos
Isaakios’ Befehl
Zwischenrufe mit steigender Intensität
Truppen im Zelt
Inhalt von Psellos’ Rede
Stille
Truppen im Zelt
Isaakios hebt Hand
Isaakios mit lauter Stimme, dass ihm das kaiserliche Schreiben übergeben werde und gibt die Möglichkeit, dessen Inhalte durch eine Rede zu erläutern. Als Psellos das Angebot der Verleihung der kaisar-Würde referiert, bleibt der engste Kreis von Isaakios’ Unterstützern ruhig, während die hinteren Ränge der Soldaten in empörte Zwischenrufe ausbrechen, die sich stetig steigern. Isaakios beendet das drohende Chaos, indem er seine Unterstützer mit einer simplen Handbewegung zum Verstummen bringt564. Die bewusste Steuerung der Geräuschkulisse ermöglichte die Kommunikation einer Reihe von Botschaften. Der Einsatz von Akklamationen durch bewaffnete Truppen zielte darauf ab, die Gesandten zu beeindrucken und einzuschüchtern. Demselben Zweck diente wohl auch das Zulassen von Zwischenrufen während Psellos’ Rede, denen Isaakios erst nach geraumer Zeit ein Ende setzte. Eben dieses Durchsetzen von Stille ist zudem ein weiteres Element, das im Hofzeremoniell anzutreffen ist und in dem sich der sakral-mystische Charakter des Kaisers, aber auch seine schiere Autorität manifestiert565. In ihrer militärischen Ausprägung wird diese auch im sorgfältig choreographierten Ablauf der Akklamationen fassbar. Raumordnung Der räumliche Rahmen, der Ablauf des Empfanges, die Gesten des Usurpators und die Steuerung der Akustik dienten in erster Linie der Zurschaustellung der vom Usurpator ausgehenden Ordnung von Raum und Menschen, kurz: der Umsetzung der gottgewollten taxis auf Erden. In der byzantinischen Staatsideologie fiel diese Ordnungs-
564 Psellos, Chron. 7.25–31 (S. 218–221 Reinsch). 565 Zum zeremoniellen Schweigen im Umfeld spätrömischer Kaiser und dem mystisch-religiösen Hintergrund vgl. Alföldi, Repräsentation 38; für die frühbyzantinische Zeit vgl. Treitinger, Kaiseridee, S. 52–53.
Purpur verpflichtet: Usurpierte Handlungsmuster
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macht allein dem Kaiser zu und manifestierte sich im Hofzeremoniell566. Beliebt war hierfür vor allem die Anordnung von Individuen nach ihrem Rang in der irdischen Hierarchie, wobei sich die Position in der Entfernung vom Herrscher widerspiegelte. Der Kaiser befand sich nicht nur an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide, sondern wurde durch exklusive Positionierung (erhöhter Thron), Ausstattung (Insignien, Farben) und Handlungsmonopole gleichsam auf eine andere Ebene gehoben. Abgesehen von den ideologischen Aspekten dieser sakralisierenden Überhöhung hatte die Zurschaustellung der taxis freilich auch den ganz profanen Zweck, die Rangordnung des Reiches, insbesondere der staatstragenden Elite im unmittelbaren Umfeld des Kaisers, sichtbar zu machen. Diese Informationen wiederum sind in erster Linie innerhalb der Gruppe der Akteure von Belang, die somit gleichzeitig als Teil des Publikums fungieren567. Im Einklang mit diesem Schema scheint auch Isaakios Komnenos sich selbst und seine Vertrauten, Kommandanten und Truppeneinheiten arrangiert zu haben. Der detaillierte Gesandtschaftsbericht ermöglicht eine relativ genaue Rekonstruktion der Aufstellung568. Die räumliche Staffelung der Anhänger des Usurpators erfolgte in konzentrischen Kreisen (Tabelle 9): Tab. 9 Die Anordnung von Isaakios’ Unterstützern bei der Audienz Zentrum
ὁ βασιλεῦς ἐπὶ … θρόνου
Kaiser (sic!) Isaakios Komnenos
1. Kreis
οἱ πρῶτοι (ἄνδρες … τῶν … καλλίστων γενῶν)
Engste Unterstützer (prōtoi) mit aristokratischem Hintergrund
2. Kreis
ὑπασπισταὶ τούτων καὶ πρωταγωνισταὶ + οἱ τῶν ἐφεξῆς λόχων + ἡμιλοχῖταί τῶν πρώτων
Gefolge der Aristokraten und Kommandanten + die nächsthöheren Ränge + Unterkommandanten der prōtoi (linke Seite)
3. Kreis
οἱ ἄζωνοι καὶ ἐλεύθεροι
Soldaten ohne Ränge und Milizionäre
4. Kreis
αἱ συμμαχικαὶ δυνάμεις (Ἰταλοί τε καὶ Ταυροσκύθαι)
Normannische und warägische? („tauroskythische“) Söldner
5. Kreis
πολύ πλῆθος
Truppen außerhalb des Zeltes
566 Ahrweiler, Idéologie politique, S. 136–140. 567 Vgl. hierzu auch die Beobachtungen – wenngleich für einen anderen kulturellen Kontext (französische Aristokratie des 17.–18. Jahrhunderts) von Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 423), Frankfurt a. M. 2002, bes. S. 135–152. 568 Außerhalb des Zeltes: Psellos, Chron. 7.22 (S. 216 Reinsch); innerhalb des Zeltes 7.24 (S. 217 Reinsch).
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Performative Aspekte von Usurpationen
Die Formation ist in gewisser Weise durch die Zeltarchitektur vorgegeben569 und begegnet auch bei Proklamationen von Usurpatoren in Feldlagern570. Eine Thronszene im Zelt von Alexios I. in der Alexias scheint sich auf den ersten Blick als Vergleichstext anzubieten, doch hat Anna Komnene den Ablauf und die Anordnung der Personen bis hin zu einzelnen Handlungen und Gesten teils sogar wörtlich aus dem Gesandtschaftsbericht des Psellos übernommen571. Zirkuläre Personenarrangements sind jedoch auch dem byzantinischen Palastzeremoniell durchaus vertraut. Die 1042 für einige Monate gemeinsam regierenden Kaiserinnen Zoe und Theodora waren bei Gerichtsverhandlungen, aber auch bei Audienzen von (halb-)kreisförmig in Reih und Glied aufgestellten Vertretern des Staates umringt, wobei den innersten Kern die Kaiserinnen mit ihrer engsten Entourage und Beamten bildete, umgeben von einem Kreis aus Gardisten, darunter auch Waräger. Hinter diesen befand sich ein zweites Regiment der Leibwache. Dahinter waren die erste, zweite und dritte Klasse der Senatoren aufgestellt572. Ein Gesandtschaftsempfang im Triklinos der Magnaura im 10. Jahrhundert zeigt eine ähnliche Anordnung der Teilnehmer an der Zeremonie mit den höchsten Beamten neben und hinter dem Thron, während die Leibgarde an den Wänden aufgereiht stand573. Der Ablauf, die akustische Atmosphäre, die Gesten und die Raumordnung bei Isaakios’ Empfang kommunizierte also eine klar imperiale Botschaft, die an die Gesandten und die eigenen Anhänger in gleichem Maße gerichtet war. Welche Aspekte und Tugenden des Kaisertums genau vermittelt werden konnten, war zweifellos vom jeweiligen Rezipienten abhängig. Es ist beispielsweise nicht auszuschließen, dass die Präsenz bewaffneter „tauroskythischer“ (= warägischer?) und normannischer Söldnerkontingente in den Augen mancher Betrachter den ökume-
569 Bildliche Darstellungen byzantinischer Zelte lassen fast immer auf einen kreisrunden Grundriss schließen. Vgl. Mullett, Tented ceremony; Mullett, Byzantine tent, S. 282; Heher, Mobiles Kaisertum, S. 8–16. 570 S. Kapitel 2.2.2.1. 571 Anna Komnene, Alexias 9.9.1–6 (S. 276–279 Reinsch/Kambylis). Im Gegensatz zur jüngsten Edition der Alexias (S. 277 Reinsch/Kambylis), gehen Mullett, Tented ceremonies, S. 494, Malamut, Tente impériale, S. 68 und Smythe, Barbarians, S. 310–311 trotz Behandlung beider Stellen nicht auf die Abhängigkeit des Textes von Psellos ein. 572 Psellos, Chron. 6.3 (S. 107, Z. 1–108, Z. 13 Reinsch): Σχῆμα δὲ βασιλείας ταῖς ἀδελφαῖς ἐποιοῦντο, ὁποῖον καὶ τοῖς φθάσασι εἴθιστο αὐτοκράτορσι. προκάθηντο γὰρ ἄμφω τοῦ βασιλικοῦ βήματος, ἐπὶ μιᾶς ὥσπερ γραμμῆς βραχύ τι πρὸς τὴν Θεοδώραν παρεγκλινούσης· καὶ ἀγχοῦ μὲν, οἱ ῥαβδοῦχοι καὶ ξιφηφόροι· καὶ τὸ γένος ὅσοι τὸν πέλεκυν ἀπὸ τοῦ δεξιοῦ ὤμου κραδαίνουσι. τούτων δὲ ἐνδοτέρω μὲν, τὸ ἄγαν εὐνούστατον· καὶ οἱ διαχειριζόμενοι τὰ καθήκοντα. περιεστεφάνου δὲ αὐτὰς ἔξωθεν, ἑτέρα τις δορυφορία δευτέραν ἔχουσα τάξιν τῆς πιστοτέρας, σὺν αἰδοῖ ξύμπαντες καὶ βλέμματι ἀπερειδομένῳ πρὸς γῆν· μεθ’ οὓς ἡ πρώτη βουλὴ καὶ ἡ τάξις ἡ ἔκκριτος· καὶ ἐφεξῆς, οἱ τὰ δευτερεῖα λαχόντες· καὶ αἱ τριττύες, στιχηδὸν πάντες· καὶ συνηρμοσμένοι ἐκ διαστήματος. καὶ ἐπὶ τούτοις τἄλλα ἐγίνετο: δικῶν διαλύσεις· δημοσίων ἀμφισβητήσεις ἢ συνεισφοραὶ· χρηματισμοὶ πρέσβεων· ἀντιλογίαι ἢ συνομολογίαι· καὶ τἄλλα ὁπόσα τὴν βασιλείαν οἶδε πληροῦν. 573 De cerim. 2.15 (Bd. I, S. 577–579 Reiske); vgl. Parani, Designing receptions, S. 474.
Der bedrohte Kaiser
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nischen Herrschaftsanspruch des Thronprätendenten ausdrücken sollte574. Vor allem aber werden sie jene einschüchternde Rolle gespielt haben, die der Garde auch bei zeremoniellen Anlässen im Kaiserpalast zukam575. Bezeichnenderweise durften Psellos und seine Gefährten nicht direkt vor den Thron treten, sondern mussten sich ihren Weg zu ihrem Ungemach wischen den äußersten beiden Kreisen bahnen, im Schatten der waffenstarrenden Barbaren576. Es bleibt noch zu erwähnen, dass die Inszenierung nicht allein der Person des Isaakios galt, sondern auch jener der prōtoi im innersten Kreis, Männer von höchster Abstammung und Isaakios’ engste Kollaborateure. In ihrem Rücken, so betont Psellos, hatten ihre Gefolgsleute und ihre Unterkommandanten Aufstellung genommen577. Die Rebellion stützte sich von Anfang an auf eine Koalition von Generälen, die der höchsten kleinasiatischen Aristokratie entstammten578. Im Zeremoniell sollte nicht zuletzt ausgedrückt werden, auf wessen Unterstützung der Thronprätendent zählen konnte. 2.4 Der bedrohte Kaiser Die Handlungsinitiative liegt bei Usurpationen notwendigerweise zunächst bei jenem, der nach der Macht greift. Der regierende Herrscher ist daher genötigt, auf die Strategie und das Verhalten seines Gegenspielers zu reagieren und dieses nach Möglichkeit zu antizipieren, um aktiv Schritte setzen zu können. Die Gegenmaßnahmen der bedrohten Kaiser im Untersuchungszeitraum artikulierten sich jedoch nicht nur in Truppenverschiebungen und diplomatischen Kunstgriffen. Auch symbolische Handlungen mussten gesetzt werden, um das provokante Auftreten des Herausforderers zu kontern, besonders, wenn es darum ging, die Sympathien der Bevölkerung Konstantinopels für die eigene Sache zu gewinnen. Bestehende oder zweifelhafte Loyalitäten mussten durch Eidesleistungen abgesichert und die Rechtmäßigkeit und Würdigkeit der eigenen Herrschaft in öffentlichen Akten zur Schau gestellt werden.
574 So die Vermutung von Smythe, Barbarians, S. 311–312; zur Frage der Ethnizität der „Tauro skythen“ s. Scheel, Skandinavien und Byzanz, S. 113–126 und 816–817. Mittlerweile überholt: Sigfús Blöndal, The Varangians of Byzantium. An aspect of Byzantine military history, translated, revised and rewritten by Benedikt S. Benedikz, Cambridge et al. 1978, Nachdr. 2007, hier S. 108–109. 575 Corippus, In laudem 3.237–242 (S. 68 Cameron); Anna Komnene, Alexias 14.3.8 (S. 437–438 Reinsch/Kambylis). 576 Psellos, Chron. 7.25 (S. 218 Reinsch). 577 Psellos, Chron. 7.24 (S. 217 Reinsch). 578 Zu seinen Unterstützern zählten u. a. Katakalon Kekaumenos, Michael Burtzes, Konstantinos und Ioannes Dukas, Romanos Skleros, Nikephoros Botaneiates, Leon Antiochos und die Söhne von Basileios Argyros. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 68–70 (Nr. 80).
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Performative Aspekte von Usurpationen
2.4.1 Eide Die römische Praxis von Gefolgschaftseiden von Senatoren, Beamten und Soldaten auf den Kaiser fand im Byzantinischen Reich eine nahtlose Fortsetzung und wurde im Laufe der Zeit auf alle konstituierenden Gruppen des Staates (Armee, Senat, Volk) ausgedehnt579. Erstmals ist diese umfassende Eidesleistung für Leon IV. (775–780) belegt, der sich die Akzeptanz seines Sohnes als Thronfolger zusichern ließ580. Bis ins späte 12. Jahrhundert, als sich Schwüre dieser Art als gängige Praxis in der Interaktion des byzantinischen Kaisers mit seinen Untertanen etablierten581, sind Treueeide jedoch nur sporadisch belegt und sollten in erster Linie zur Vermeidung von Konflikten bei Machtübergängen dienen582. Insbesondere Kaiser, die ihre eigene Herrschaft oder jene ihrer designierten Nachfolger durch potentielle Usurpatoren konfrontiert sahen, griffen gerne auf Eidesleistungen von Einzelpersonen oder ganzen Gruppen von Untertanen zurück583. So verlangte etwa der schwerkranke Konstantinos X. (1059–1068) von seiner Gemahlin Eudokia einen schriftlichen Eid, dass sie die Thronfolge seines Sohnes Michael VII. nicht durch eine neuerliche Heirat gefährde. Schriftlich festhalten ließ er auch die Schwüre der Senatoren, ausschließlich einen seiner Söhne als zukünftigen Kaiser anzuerkennen584. Auch Manuel I. Komnenos (1143–1180) plagten schon 1155 berechtigte Sorgen, was die Weitergabe der Krone betraf. Zu diesem Zeitpunkt noch in Ermangelung eines Sohnes sollte der Thron an seinen Schwiegersohn Béla-Alexios und seine Tochter Maria fallen. In der Blachernenkirche ließ er die Großen des Reiches einen Eid darauf schwören, die Thronfolge des Paares anzuerkennen. Die Schwüre wurden dabei auch schriftlich festgehalten. Als Manuel doch noch ein Sohn geboren wurde, 579 Grundlegend: Peter Herrmann, Der römische Kaisereid. Untersuchungen zu seiner Herkunft und Entwicklung (Hypomnemata 20), Göttingen 1968; Nicolas G. Svoronos, Le serment de fidelité à l’empereur byzantin et sa signification constitutionnelle, in: REB 9, 1952, S. 106–142, mit überlieferten Eidformeln (106–108); vgl. auch Nicolas Oikonomidès, Le serment de l’impératrice Eudocie (1067). Un épisode de l’histoire dynastique de Byzance, in: REB 21, 1963, S. 101–128, bes. S. 105–108 und S. 112. 580 Svoronos, Serment, S. 109; Beck, Senat, S. 37; Pertusi, Insegne, S. 532. Bereits das römische Kaisertum hatte auch einen Treueeid der gesamten Reichsbevölkerung gekannt, doch hat sich diese aus dem hellenistischen Kulturkreis übernommene Praxis nicht bis in die spätere Kaiserzeit hinein erhalten. Vgl. Herrmann, Kaisereid, S. 114–115. 581 Svoronos, Serment, S. 111–113, 135–139 vermutet hier einen Einfluss des westlichen Feudalsystems. Dieser zeige sich auch in der Reziprozität des Eides in palaiologischer Zeit, während der römisch-byzantinische Kaisereid nie bilateral verstanden worden war. Für eine direkte Kausalität sind die Indizien m. E. aber keinesfalls ausreichend. 582 Svoronos, Serment, S. 109–110. 583 Dagron, Emperor and priest, S. 22; Svoronos, Serment, S. 116–117; Pertusi, Insegne, S. 532; Fögen, Das politische Denken, S. 75–76. 584 Attaleiates, S. 92 (Bekker); Skylitzes Cont., S. 118 (Tsolakes); Zonaras 18.9 (S. 682 Pinder/ Büttner-Wobst); vgl. Oikonomides, Eudocie, zum historischen Hintergrund bes. S. 116–128; Kamer, Aristocrats, S. 356.
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ließ er die geleisteten Treueeide auf diesen übertragen585. Romanos III. (1028–1034) wiederum hegte berechtigte Zweifel an der Loyalität des kaisar Michael und ließ ihn seine Treue, eventuell sogar auf Reliquien, schwören586. In prekären Situationen bestanden auch Regentschaften darauf, dass allzu ambitionierte Generäle schworen, die Herrschaft von Kindkaisern zu respektieren587. Auch die Rückholung mächtiger Personen aus Exil oder Haft war bisweilen an die Leistung eines Treueeides geknüpft588. Doch auch noch in akuten Krisensituationen wurden Eide herangezogen. Noch während der diplomatischen Verhandlungen mit dem Usurpator Isaakios (I.) Komnenos ließ Michael VI. (1056–1057) sich von den Senatoren schriftlich zusichern, dass sie den Herausforderer niemals als Kaiser akzeptieren würden – und das, obwohl er diesem parallel die Adoption und damit die Thronfolge zugesichert hatte. Als Isaakios dann schon übersetzte und in der Hauptstadt eine Revolte ausbrach, forderten die Senatoren den Patriarchen dazu auf, sich beim Kaiser dafür einzusetzen, dass sie von ihrem erzwungenen Treueeid entbunden würden, um sich dem heiklen Loyalitätskonflikt zu entziehen589. Nikephoros III. Botaneiates bestand angesichts des Usurpationsversuches von Konstantios Dukas (1079) darauf, dass die Senatoren ihre Treueschwüre ihm gegenüber erneuerten590. Möglicherweise hatte er dies bereits zwei Jahre zuvor bei der Revolte des Nikephoros Bryennios verlangt591. Dass Eidesleistungen dieser Art erst ab dem 11. Jahrhundert regelmäßig erwähnt werden, muss nicht auf einen Zufall in der Überlieferung zurückzuführen sein. Man wird hierin wohl eine kaiserliche Reaktion auf die steigende Bedeutung von reziproken Eiden unter den mächtigsten Familien des Reiches sehen dürfen, die sich seit dem 10. Jahrhundert wiederholt gegen den Kaiser verschworen592. Dieselbe Entwicklung manifestiert sich auch in der zunehmenden Bereitschaft der Herrscher, Usurpatoren Amnestien in der Form schriftlicher Eide anzubieten. Hier offenbart sich eine bis dahin in diesem Maße unbekannte Bilateralität im Umgang des Kaisers mit seinen Untertanen593.
585 Choniates, Hist., S. 112, 137, 169, 229 (van Dieten). 586 Psellos, Chron. 3.21 (S. 46 Reinsch). Es muss offen bleiben, ob die Wendung καθ’ ἱερῶν sich auf Schwurreliquien bezieht, oder im übertragenen Sinne mit „hoch und heilig“ zu übersetzen ist (so Reinsch, Chronographia, S. 157). 587 So Romanos Lakapenos, Nikephoros Phokas und Bardas Phokas (s. u.). 588 Der exilierte Bardas Phokas erhielt gegen Leistung eines Treueeides das Oberkommando im Kampf gegen Bardas Skleros: Skylitzes, S. 324 (Thurn); Psellos, Chron. 1.6 (S. 5 Reinsch). Michael VII. verlangte den Treueschwur von Roussel von Bailleul: Attaleiates, S. 195 (Tsolakes). 589 Skylitzes, S. 499 (Thurn). Vgl. Beck, Res Publica Romana, S. 398–399; Kamer, Aristocrats, S. 327–329. 590 Attaleiates, S. 236 (Tsolakes). 591 Attaleiates, S. 221–222 (Tsolakes). 592 Laiou, Emperor’s word, S. 354; vgl. Kapitel 2.1.1. 593 Laiou, Emperor’s word, S. 354.
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Die Leistung eines Eides erfolgte in Byzanz üblicherweise durch Sprechen einer Formel und – optional – durch das Unterzeichnen einer entsprechenden schriftlichen Fassung, wobei beide Handlungen im Rahmen derselben Zeremonie durchgeführt worden sein dürften594. Bei Eiden hochrangiger Einzelpersonen war gewiss die Elite des Reiches anwesend, die als Zeugen für die Gültigkeit des Versprechens dienen konnten595. Ein etwaiger Meineid kam einem Majestätsverbrechen gleich, doch war die Bestrafung eines erfolgreichen Eidbrechers de facto oft unmöglich. Die Nutzung sakraler Räumlichkeiten als Ort für die Zeremonie596 sowie die Verwendung von religiösen Objekten, wie der Heiligen Schrift597 oder Reliquien598, auf die geschworen werden musste, sollte daher zusätzliche metaphysische Sanktionen in Aussicht stellen599. Die Performanz des Treueeides verfolgte demnach zwei Strategien: Die anwesenden Zeugen sollten sozialen Druck ausüben und an das Ehrgefühl und die Loyalität des Eidleisters appellieren, während die religiösen Implikationen des Rituals an die Heiligkeit des Schwurs und des legitimen Kaisers erinnerten. Auf symbolrationaler Ebene wurde getan was man konnte600. Was jedoch die reale Wirksamkeit von Eiden betrifft, führen die Aufzeichnungen der Historiographen zu einem ernüchternden Befund: Romanos Lakapenos (913)601, Nikephoros Phokas (963)602 und Bardas Phokas (978)603 brachen allesamt ihre Eide ge-
594 Svoronos, Serment, S. 108. 595 Vgl. die Eidesleistung von Kaiserin Eudokia: Attaleiates, S. 73, Z. 15–17 (Tsolakes): Προκατησφαλίσθη γὰρ ἡ αὐγούστα μὴ δευτέροις γάμοις προσομιλῆσαι ἀρχιερατικῇ καὶ συγκλητικῇ συνελεύσει. 596 Die Vereidigung von Bardas Phokas als domestikos der Scholen erfolgt in einer nicht näher genannten Kirche: Psellos, Chron. 1.6 (S. 5 Reinsch); vgl. Skylitzes, S. 324 (Thurn) ohne Erwähnung der Kirche. Roussel von Bailleul wird in der Blachernenkirche vereidigt: Attaleiates, S. 195 (Tsolakes). Dort lässt sich auch Manuel I. Komnenos das Einverständnis mit der Thronfolge seines Schwiegersohnes Bela/Alexios eidlich zusichern: Choniates, Hist., S. 112, 137 (van Dieten). In eben dieser Kirche lässt er 1171 diesen Treueeid auf seinen leiblichen Sohn Alexios übertragen (ebd. S. 169–170). 597 So bei der überlieferten Eidformel in Justinians Novelle 8; vgl. den Treueeid der Truppen bei der Proklamation Manuels I.: Choniates, Hist., S. 46 (van Dieten). 598 Der Eid von Michael V. und seinen Verwandten gegenüber Zoe wurde auf die Hand (!) von Johannes dem Täufer geschworen: Attaleiates, S. 8–9 (Tsolakes); vgl. Psellos, Chron. 5.4 (S. 81 Reinsch); Romanos Lakapenos musste auf ein Stück des wahren Kreuzes schwören: Skylitzes, S. 208 (Thurn). 599 Eine Initiative von Konstantinos VIII. (1025–1028), Majestätsverbrechen mittels Synodalbeschluss überhaupt mit dem anathema bestrafen zu lassen, hielt sich aufgrund der Ablehnung durch die Kirche nur kurz und auch die Reaktivierung des Beschlusses durch Manuel I. (1143–1180) überlebte den Kaiser nicht. Vgl. Fögen, Rebellion und Exkommunikation, S. 46–47; Svoronos, Serment, S. 114–115; Oikonomides, Eudocie, S. 115; Bourdara, Καθοσίωσις Ι, S. 181–182; Eadem, Έγκλημα καθοσιώσεως, S. 228–229. 600 Zum Begriff der Symbolrationalität vgl. Dücker, Rituale, S. 104. 601 Skylitzes, S. 208 (Thurn); vgl. Kresten/Müller, Samtherrschaft, S. 3–4. 602 Leon Diak. 2.12 (S. 34 Hase). 603 Skylitzes, S. 324 (Thurn); Psellos, Chron. 1.6 (S. 5 Reinsch).
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genüber den minderjährigen Kaisern (Konstantinos VII. bzw. Basileios II. und Konstantinos VIII.) und deren Regenten. In Sonderfällen gab es sogar die Möglichkeit, sich offiziell von abgelegten Eiden befreien zu lassen. Ob des sakralen Charakters der Schwüre wenig überraschend, wandte man sich hierfür an den Patriarchen. So ließ die oben erwähnte Kaiserin Eudokia ihr Versprechen gegenüber ihrem Gatten von Ioannes Xiphilinos für nichtig erklären und brachte durch eine neuerliche Heirat Romanos IV. Diogenes (1068–1071) auf den Thron604. Eine Generation zuvor hatte sich die Einwohnerschaft Konstantinopels an Michael Kerullarios, gewandt, um von ihrem Treueeid gegenüber Kaiser Michael VI. entbunden zu werden, zumal die Machtübernahme durch Isaakios I. unmittelbar bevorstand. Auch in diesem Fall entsprach der Patriarch dem Ansinnen und schlug sich damit endgültig auf die Seite des Usurpators605. Nach seiner gelungenen Usurpation ließ Andronikos I. (1183–1185) den Patriarchen Basileios Kamateros und die Synode seinen Treueschwur auf Manuel I. und seinen Sohn aufheben. Auch allen anderen Betroffenen wurden schriftliche Nichtigkeitserklärungen ausgehändigt606. 2.4.2 Öffentliche Auftritte Wenn sich der Kontrahent bereits in der Nähe bzw. innerhalb Konstantinopels befand, war es für den regierenden Kaiser unerlässlich, seinen Rückhalt in der Hauptstadt nicht zu verlieren bzw. zurückzugewinnen. Vor allem galt es, Palast und Bevölkerung durch inszenierte öffentliche Auftritte an den legitimen Charakter der Herrschaft zu erinnern und Stärke zu zeigen. Obwohl nur wenige Beispiele überliefert sind, so zeigen diese dennoch das Repertoire an Möglichkeiten, wie Kaiser versuchten, prekäre Situationen nicht zuletzt auch durch symbolische Handlungen zu ihren Gunsten zu verändern. Deeskalation Michael V. (1041–1042) hatte seine Macht der Adoption durch die Kaiserinwitwe Zoe zu verdanken, deren Legitimität als letzte Erbin der makedonischen Dynastie seit mehr als zwei Jahrzehnten außer Frage stand und die durch Heirat bereits Romanos III. und Michael IV. auf den Thron gebracht hatte607. Als er seine Adoptivmutter im April 1041 in ein Kloster auf den Prinzeninseln einwies, um fortan alleine an der Spitze des Staates zu sehen608, sah sich Michael V. mit einer empörten Stadtbevölkerung ver604 Skylitzes Cont., S. 123 (Tsolakes). Vgl. Oikonomides, Eudocie, S. 124–125; Angold, Orthodox reaction, S. 244; Cheynet, Patriarches, S. 10. 605 Skylitzes, S. 499 (Thurn); vgl. Cheynet, Patriarches, S. 7–8. 606 Choniates, Hist., S. 276 (van Dieten). 607 Garland, Empresses, S. 140–141; Hill/James/Smythe, Zoe, S. 217, 225–226. 608 Psellos, Chron. 5.17 (S. 89 Reinsch) führt als Hauptmotiv für diesen Schritt an, dass Michael es nicht länger ertragen habe, dass seine Adoptivmutter bei Akklamationen stets vor ihm genannt worden sei.
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mutlich unter Leitung einiger dynatoi und wohl auch des Patriarchen609 konfrontiert, die gegen Zoes Entfernung aus dem Palast protestierte610. In einem verzweifelten Versuch, die aufgebrachten und zum Palast strömenden Aufständischen zu besänftigen, ließ Michael Zoe aus ihrem Kloster zurück nach Konstantinopel schaffen und präsentierte sich gemeinsam mit ihr vom Kathisma des Hippodrom aus den Massen. Zwar behauptet Ioannes Skylitzes, dass Zoe dabei in kaiserlichem Ornat vorgeführt worden sei611, doch dürfte eben diese Umkleidung n i c h t erfolgt sein. Nach Ioannes Zonaras habe gerade der Anblick Zoes als Nonne den Zorn der Aufständischen geschürt612, was sich auch mit den Ausführungen des Augenzeugen Michael Psellos deckt613. Dieser kritisiert, dass Zoe, anstatt den ihr zustehenden Purpur zu nehmen, sich aus Zuneigung zu Michael einverstanden gezeigt habe, sich nach der Beruhigung der Situation umgehend wieder in ihr Kloster zurückzuziehen. Auch, dass sie bei ihrem Auftritt im Hippodrom nicht sofort von allen erkannt worden sein soll, legt nahe, dass sie dort ihr Nonnengewand getragen haben dürfte614. Michaels Inszenierung sollte offenbar nicht die Rehabilitierung Zoes kommunizieren, sondern ihr Einverständnis mit der verän-
609 S. oben, S. 49–51. 610 Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 115–117 (Nr. 68–69); Cheynet, Pouvoir, S. 54–55 (Nr. 56); Garland, Empresses, S. 141–144. 611 Skylitzes, S. 419, Z. 41–47 (Thurn): ὁ δὲ πρὸς τὴν ὀργὴν τοῦ λαοῦ καὶ τὴν κίνησιν ἀποδειλιάσας, εὐθὺς ἀποστείλας ἤγαγε τὴν Ζωὴν ἐν τῷ παλατίῳ, καὶ ἀποδύσας αὐτὴν τὰ μοναχικὰ μετημφίασε βασιλικοῖς περιβλήμασι. προκύψας οὖν ἀπὸ τοῦ ἐν τῷ ἱπποδρομίῳ καθίσματος καὶ δημηγορῆσαι πειραθεὶς πρὸς τὸν λαόν, ὅτι τε ἡ βασιλὶς ἤχθη, καὶ ὅτι πάντα καλῶς ἔχει αὐτοῖς τὰ κατὰ σκοπόν, οὐ συνεχωρήθη, ὕβρεσί τε πανταχόθεν πλυνόμενος καὶ λίθοις κάτωθεν καὶ τόξοις βαλλόμενος. 612 Zonaras 17.19 (S. 611, Z. 2–9 Pinder/Büttner-Wobst): ἤδη δὲ τὴν βασιλίδα ἀνακομισθεῖσαν στήσαντες ἐπὶ μετεώρου ἐν τῷ θεάτρῳ τοῖς στασιάζουσιν ἐπεδείκνυον, ἵνα δῆθεν αὐτοῖς κατευνασθῇ ὁ θυμός, ἀνακληθεΐσης τῆς σφετέρας δεσπότιδος. τοῖς δὲ τοῦτο μᾶλλον ἀνῆψε τὸν θυμὸν καὶ ἐξέκαυσε τὴν ὀργήν. ὡς γὰρ μετημφιεσμένην αὐτὴν ἑωράκεισαν, ἐπὶ πλέον ἀνερρώγεσαν εἰς τὸν πόλεμον καὶ τῆς κακοηθείας τὸν τυραννοῦντα μισήσαντες ἀφίστανται μὲν τῆς βασιλίδος Ζωῆς … 613 So auch Garland, Empresses, S. 143. 614 Psellos, Chron. 5.32 (S. 97, Z. 1–15 Reinsch): Ἐν τοσούτῳ δὲ καὶ ἡ βασιλὶς, ἐν τοῖς ἀνακτόροις κομίζεται, οὐ μᾶλλον χαίρουσα τοῖς ἐπ’ αὐτῇ τελουμένοις παρὰ τοῦ Κρείττονος, ἢ περιδεῶς ἔχουσα, μὴ πάθοι παρὰ τοῦ πονηροῦ βασιλέως δεινότερον. ὅθεν οὐδὲ τοῦ καιροῦ γίνεται· οὐδὲ ὀνειδίζει τῷ τυράννῳ τὴν συμφορὰν· οὐδὲ μεταλλάττει τὸ σχῆμα· ἀλλὰ καὶ συναλγεῖ· καὶ ἀφίησι δάκρυον ἐπ’ αὐτῷ· ὁ δὲ, δέον αὐτῇ τὸ σχῆμα μεταβαλεῖν· καὶ τὴν περιπόρφυρον ἐσθῆτα περιβαλεῖν, καὶ ἐγγύας αὐτὴν εἰσπράττεται, μὴ ἂν ἄλλως βιῶναι τῆς τρικυμίας κατευνασθείσης, ἢ ὡς ἔχει σχήματος· καὶ ἀγαπῆσαι τοῖς ἐπ’ αὐτῇ δόξασιν. ἡ δὲ πᾶν ὁτιοῦν ἐπαγγέλλεται· καὶ τὴν συμμαχίαν ἐπὶ τοῖς δεινοῖς τιθέασι. καὶ οὕτως αὐτὴν ἐπὶ μετεώρου τοῦ μεγάλου θεάτρου ἀναγαγόντες, τῷ στασιάσαντι δήμῳ δεικνύουσιν, ἀξιοῦντες, λῆξαι τούτοις τὰ τοῦ θυμοῦ πνεύματα, ἀνακομισθείσης αὐτοῖς τῆς δεσπότιδος· οἳ δὲ οὐκ ἔφθασάν γε εἰδέναι τὴν δεικνυμένην. ὅσοι δὲ καὶ ἐγνώκεισαν, ἔτι μᾶλλον τὴν τοῦ τυράννου γνώμην ἐμίσησαν, μηδ’ ἐν τοῖς δεινοῖς ἀποθεμένην τὸ ἄγριον καὶ κακόηθες. Spadaro, Interferenze, S. 254– 255 nimmt die Szene als weiteres Indiz dafür, dass nicht das einfache Volk, sondern die dynatoi hinter dem Putsch gestanden seien, denn nur Mitglieder des Hofes hätten Zoe auf dem Kathisma identifizieren können. Während eine aristokratische Beteiligung in der Tat sehr wahrscheinlich ist, ist es schwer vorstellbar, dass die Kaiserin nach mehr als zehn Jahren an der Spitze des Staates und einer beträchtlichen Zahl öffentlicher Auftritte nicht auch von normalen Bürgern erkannt worden sein soll.
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derten Situation. Er hatte die Situation jedoch unterschätzt. Anstelle der erwünschten Deeskalation entlud sich die Wut des Volkes umso mehr und kostete den Kaiser schlussendlich Krone und Augenlicht615. Legitimität Konstantinos IX. (1042–1055) sah im Jahre 1047 das Heer des Thronprätendenten Leon Tornikios vor den Mauern Konstantinopels Stellung beziehen616. Verstärkungen aus den östlichen Reichsteilen waren zwar bereits in Marsch gesetzt worden, doch musste die Hauptstadt bis zu deren Eintreffen gehalten werden617. Andererseits konnte Tornikios die Stadt nur landseitig belagern und wollte keinen verlustreichen Sturm auf die seit Jahrhunderten unüberwindbaren Mauern riskieren. Einen Schlüsselfaktor stellte in dieser Situation die Loyalität der Stadtbevölkerung und der wenigen in Konstantinopel stationierten Truppenkontingente dar, um deren Unterstützung sich vor allem der Usurpator von Anfang an intensiv bemühte618. Der Kaiser genoss zwar prinzipiell Rückhalt in der Stadt619, konnte den Versprechungen seines Kontrahenten aber wenig entgegensetzen. Ein Gichtanfall und Diarrhoe hatten ihn schon seit längerem dazu gezwungen, seine öffentlichen Auftritte auf das notwendige Minimum zu reduzieren, sodass bereits Gerüchte von seinem Ableben kursierten und über die Auslieferung der Stadt diskutiert wurde620. Gerade in dieser Krise war daher physische Präsenz unerlässlich; Konstantinos positionierte sich trotz körperlicher Schwäche majestätisch in kaiserlichem Ornat thronend auf einem Balkon der Blachernenzitadelle621, in Blickweite des feindlichen Heeres und in unmittelbarer Nähe der eigenen Unterstützer gleichermaßen622. Glaubt man dem Augenzeugenbericht des Michael Psellos, der sich damals ebenfalls auf dem Balkon befand, war Konstantinos offenbar fest entschlossen, nicht von seiner exponierten Position oberhalb der Mauer zu weichen. Selbst als ein Pfeil den Kaiser nur knapp 615 616 617 618 619 620 621
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Zur Blendung Michaels V. s. unten, S. 336–338. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 120–123 (Nr. 73); Cheynet, Pouvoir, S. 59–61 (Nr. 65). Psellos, Chron. 6.105 (S. 153 Reinsch). Das Repertoire reicht hierbei von Versprechungen einer besseren Herrschaft (Psellos, Chron. 6.109; 6.111 [S. 155–156 Reinsch], über demonstrative Milde (6.114 [S. 158]) bis hin zu Erpressung (6.117 [S. 159–160]). Vgl. Kaldellis, How to usurp, S. 47. Spadaro, Interferenze, S. 263–264. Psellos, Chron. 6.106 (S. 153 Reinsch); vgl. Spadaro, Interferenze, S. 268–270. Explizit genannt nur bei Attaleiates, S. 19 (Τsolakes), jedoch aus dem Kontext auch aus Skylitzes, S. 439–440 (Thurn) und Zonaras 17.23 (S. 627–628 Pinder/Büttner-Wobst) zu erschließen, wo das Lager des Tornikios gegenüber vom Blachernenviertel verortet wird. Genau genommen wird es sich um ein kaiserliches Gemach gehandelt haben, das westseitig durch eine Art Balkon oder Loggia geöffnet war. Vgl. Psellos, Chron. 6.109 (S. 155, Z. 3–4 Reinsch): ἐπί τινος προβεβλημένου τῶν ἀνακτόρων οἰκήματος. Psellos, Chron. 6.109 (S. 155 Reinsch); Zonaras 17.23 (S. 628 Pinder/Büttner-Wobst). Maguire, Ceremony, S. 119 sieht in der Inszenierung eine (gescheiterte) Anlehnung an die Zeremonie der Prokypsis.
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verfehlte, ließ er seinen Thron nur ein Stück weit nach hinten verlegen. Auch vor den unerträglichen Beschimpfungen und dem Spott der Rebellen zog er sich nicht zurück, sondern versuchte diese durch die Anlage eines den Mauern vorgelagerten Graben auf größere Distanz zu halten623. Sogar als der Kampf bereits verloren schien, schlug er den Vorschlag seiner Schwester aus, in einer Kirche Zuflucht zu suchen, sondern hielt die Stellung624. Kampfpausen nützte Konstantinos, um seinen Mitstreitern für ihre Loyalität zu danken und Belohnungen in Aussicht zu stellen, wenn sie ihm weiter treu ergeben blieben625. Konstantinos war nie ein Feldherr oder Krieger gewesen und präsentierte sich auch jetzt nicht so. Dafür legte er Wert auf ein möglichst majestätisches Auftreten in vollem Ornat, um seine Würde und vor allem seine Rechtmäßigkeit zu betonen. Neben dem Kaiser hatten auch seine Gattin Zoe und deren Schwester Theodora Platz genommen626, gleichsam als Inkarnationen der Legitimität der makedonischen Dynastie, in die Konstantinos eingeheiratet hatte627. Die Wahl der Bühne an der sowohl strategisch als auch symbolisch neuralgischen Stelle an der umkämpften Stadtmauer legt nahe, dass diese Botschaft sowohl an die Truppen des Usurpators als auch an die eigenen Unterstützer gerichtet war. Souveränität Mit einer Usurpation innerhalb der Stadtmauern war Alexios III. (1195–1203) im Jahre 1200 konfrontiert628. Ioannes Komnenos Axuchos, genannt „der Dicke“, hatte sich mit seinen bewaffneten Unterstützern gewaltsam Zutritt zum Großen Palast verschafft und hielt das Areal teilweise besetzt. Kaiser Alexios III. befand sich zu diesem Zeitpunkt im Blachernenpalast am anderen Ende Konstantinopels, der seit etwa einem Jahrhundert als Hauptresidenz diente. Auf den Putschversuch des Ioannes, so Nikolaos Mesarites, soll Alexios mit betonter Gelassenheit reagiert haben: Überallhin und zu jedem Orte drang wie eine Gottheit das Gerücht, dass der Leiter des römischen Reiches, der Schützer der Stadt Konstantins, dessen Milde, dessen Langmut sich, dem Strahlen der Sonne gleich, über alles Land unter der Sonne ergießt, in der Feste der Blachernen als Kaiser throne, nicht erschüttert, nicht verwirrt, voll von Mut und Zuversicht; auf seinem hohen Sitz zeigte er sich, angetan mit dem Purpur, wie er alles Land und Meer durch mit roter Tinte unterzeichnete Schreiben lenkt und verwaltet. Jegliche
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Psellos, Chron. 6.111–112 (S. 156–157 Reinsch). Psellos, Chron. 6.116 (S. 159 Reinsch). Psellos, Chron. 6.117 (S. 159–160 Reinsch). Psellos, Chron. 6.109 (S. 155, Z. 1–6 Reinsch): ὁ δέ γε αὐτοκράτωρ πολιορκούμενος ἔσωθεν …, ἐσθῆτι βασιλικῇ κοσμηθεὶς, ἐπί τινος προβεβλημένου τῶν ἀνακτόρων οἰκήματος ἅμα ταῖς βασιλίσι καθῆστο, ὀλίγον μὲν ἐμπνέων· βραχὺ δ’ ἀναστένων, καὶ τοσοῦτον ὁρῶν τοῦ στρατεύματος, ὁπόσον εἱστήκει ἐγγύς τε καὶ κατὰ μέτωπον. 627 Es war auch nicht die erste Gelegenheit, bei der sich das Kaiserkollegium in dieser Form präsentierte: s. unten, S. 180–181. 628 Angold, John the Fat; Cheynet, Pouvoir, S. 136–137 (Nr. 195).
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Ergebenheit und Zuneigung werde ihm zuteil, von überallher sammelten sich Streitkräfte, er sei nicht entschlossen, den Rücken zu beugen, sondern verhalte sich wie ein Zögling des Hermes und des Ares, er sei endlose Widerstände gewohnt und habe sich über alle als Sieger gezeigt. Durch diese seine Haltung stärkte er auch die Kleinmütigen und richtete ihren gesunkenen Mut wieder auf, „Seht, hier bin ich!“, sagte er gleichsam: „Wer will mich belangen? Er trete offen vor mich hin! Nicht im Verborgenen sorge ich für das Heil. Ich lasse mich durch meinen Verstand leiten, meine Gedanken sind nicht verwirrt, dieser Aufstand reißt mich nicht mit sich fort, ich schwanke nicht wie ein Schiff das zu wenig geladen hat, in mir herrscht Ruhe und glatte See. Meine Seele ist stark, mein Leib ist ausdauernd. Ich weiche nicht, ich zittere nicht angesichts des ungewöhnlichen Kampfes, denn ich verfolge den Krieg, solange er nicht herrscht und wenn er da ist, liebe ich ihn. Mühen und Plagen machen mich nicht erbittert und ich hänge nicht an Vergnügen. Was mir das göttliche Schicksal zugeteilt hat, nehme ich ohne Widerwillen und ohne Trübsinn an. Festigkeit ist in mir, Unerschütterlichkeit, hoher Sinn, Würde und Größe.“ Und seine Gattin, die Kaiserin an seiner Rechten, trug nicht nur goldenes, mit vielen Farben geschmücktes Gewand, sondern noch mehr zierten sie Einsicht und scharfer Verstand und die ganze Liste der übrigen Tugenden629.
Auf textlicher Ebene verwendet Mesarites die Episode als Kontrapunkt zum Verhalten des illegitimen Usurpators, der zur selben Zeit in mangelhaftem Ornat, alleingelassen und apathisch im Justinianischen Triklinos thronte630. Die Gelassenheit Alexios’ III. hingegen gereicht dem Autor als Idealbild, um die Rechtmäßigkeit und Stabilität seiner Herrschaft zu betonen. Dass dies mit spürbarem Pathos und Elementen der Panegyrik geschieht, ist ob der klaren Parteinahme Mesarites’ für den siegreich
629 Mesarites 24 (S. 41, Z. 6–29 Heisenberg): ἡ φήμη θεὸς ὣς διικνεῖτο πάντη καὶ πανταχοῦ, ὡς ὁ τὴν Ῥωμαΐδα διέπων, τὸ τῆς Κωνσταντίνου ἀλέξημα, οὗ τὸ πρᾶον, οὗ τὸ μακρόθυμον καθά τις ἡλιακὴ λαμπηδὼν ἐφ’ἅπασαν διέδραμε τὴν ὑφ’ ἥλιον, ἐπὶ τὸ τῶν Βλαχερνῶν βασιλικῶς προκάθηται φρούριον, οὐ σεσοβημένος. οὐ τεθορυβημένος, πλήρης θάρρους, ὑψοῦ προφαινόμενος καὶ ἁλουργίδι ἠμφιεσμένος, ἐπιτροπεύων ἐφ’ ἅπασαν γῆν τε καὶ θάλασσαν δι’ ἐρυθροσημάντων γραφῶν, εὔνοια πᾶσα περὶ αὐτὸν καὶ δυνάμεις πολλαὶ πανταχόθεν συναγειρόμεναι, οὐ κλῖναι νῶτα σκεπτόμενος ἀλλ’ ὡς ἐντεθραμμένος Ἑρμῇ τε καὶ Ἄρεϊ καὶ ἀντιπαρατάξεων ἀπείρων ἐθὰς καὶ τροπαιοῦχος ἐπὶ πᾶσιν ἀναδειχθείς. κατὰ τοῦτο καὶ τοὺς καταπεπτωκότας τὸν νοῦν ἀνεστήριζεν, ἀνερρώννυεν, „ἰδοὺ ἐγὼ πάρειμι“, λέγων, „τίς ὁ διώκων; ἴτω πρός με· τὴν σωτηρίαν οὐ πραγματεύομαι λαθρηδόν, νῷ κυβερνῶμαι, οὐ ταράττομαι τὴν διάνοιαν, οὐ φέρομαι τῇ παρούσῃ στάσει, οὐκ ᾄττομαι ὡς τὰ ἀνερμάτιστα πλοῖα, ἐν ἐμοὶ γαλήνη καὶ ἠρεμία· ἔρρωται ἡ ψυχή μου, πρὸς καρτερίαν εὖ συμπέφυκέ μοι τὸ σῶμα. οὐχ ὑποχωρῶ, οὐ δειμαίνομαι ἰδὼν ἀσυνήθεα πόλεμον, ὃν καὶ ἀπόντα διώκω καὶ παρόντα ἀγαπῶ, οὐκ ἀπεχθάνομαι τῷ πόνῳ, οὐ χαίρω τῇ ἡδονῇ, οὐκ ἀηδῶς ἔχω οὐδ’ ἀλιπάρως πρὸς τῶν ὑπὸ τὴς θείας μοίρας συγκεκλωσμένων μοι· εὐστάθεια ἐν ἐμοί, ἀταραξία μεγαλοψυχία σεμνότης μεγαλοπρέπεια.“ καὶ ἡ τούτου σύζυγος καὶ βασίλισσα ἐκ δεξιῶν αὐτοῦ οὐκ ἐν ἱματισμῷ διαχρύσῳ μόνον περιβεβλημένη, πεποικιλμένη, ἀλλὰ φρονήσει μᾶλλον κεκοσμημένη καὶ ἀγχινοίᾳ καὶ τῷ καταλόγῳ τῶν λοιπῶν ἀρετῶν. Übersetzung eng nach Grabler, Kreuzfahrer, S. 303–304. 630 Mesarites 11 (S. 28 Heisenberg).
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verbliebenen Kaiser wenig verwunderlich. Trotzdem ist davon auszugehen, dass die Schilderung sich in ihrem Kern durchaus auf reale Begebenheiten bezieht, zumal der Text nicht lange nach dem Putschversuch entstand und die potentielle Leserschaft631 die Ereignisse aus nächster Nähe miterlebt hatte. Selbst die dem Kaiser in den Mund gelegte pathetische Rede gibt ohne Zweifel die intendierte psychologische Wirkung des Aktes wieder632. Ähnlich wie Konstantinos IX. im vorigen Beispiel inszenierte sich Alexios III. als Prototyp des gottgewollten Kaisers. Majestätisch thronend und ausgestattet mit den kaiserlichen Insignien wollte er der Legitimität und allgemeinen Akzeptanz seiner Herrschaft Ausdruck verleihen. Seine neben ihm thronende Gattin Euphrosyne komplettierte das Bild nach bekannter byzantinischer Tradition. Gerade in dieser Situation war die symbolische Rolle der Kaiserin jedoch weitaus mehr als ein zeremonieller Aufputz. Die aus dem mächtigen Hause der Dukai-Kamateroi stammende Euphrosyne war bereits an der Machtergreifung ihres Gatten durch Putsch gegen dessen Bruder Isaakios II. maßgeblich beteiligt gewesen, hatte Alexios’ Politik entscheidend mitgeprägt und bei öffentlichen Anlässen stets eine ihrem Gatten gleichwertige Position eingenommen633. Einer Affäre verdächtigt, war sie zwar 1197 für einige Monate des Palastes verwiesen worden; nach ihrer Rehabilitierung aber war Euphrosyne stärker denn je in die Herrschaft involviert gewesen. Kurz vor der Palastrevolution des Ioannes Axuchos hatte sie während der Abwesenheit ihres Gatten eigenmächtig einen Putschversuch durch einen gewissen Kontostephanos abgewehrt634. Ihre Präsenz trug zweifellos zur Glaubwürdigkeit von Alexios’ Botschaft bei635. Der Auftritt des Kaiserpaares war jedoch nicht als bloßes tableau vivant inszeniert worden. Mesarites behauptet, Alexios habe publikumswirksam Urkunden mit roter Tinte unterfertigt. Ob dieser Akt als außergewöhnlich empfunden wurde, ist schwer zu beantworten, da die performativen Aspekte der Urkundenausstellung und -übergabe in Byzanz kaum erforscht sind636. In der konkreten Situation wählte Isaakios in jedem Fall einen semi-öffentlichen Raum im Blachernenpalast dafür. Welche Personengruppen das Publikum umfasste, geht aus dem Text nicht hervor, doch wird es sich in erster Linie um Leute des Hofes gehandelt haben. Die erwünschte Breitenwir-
631 Obgleich sich der Autor mehrfach an die „Anwesenden“ wendet, dürfte dies nach Heisenberg, Mesarites, S. 56 nur ein rhetorisches Element sein. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Text tatsächlich als Rede konzipiert war. 632 Eine ganz ähnliche Strategie wird von Alexios I. angesichts der vor Konstantinopel lagernden Kreuzfahrer im Jahre 1097 berichtet: Anna Komnene, Alexias 10.9.4 (S. 310 Reinsch/Kambylis). 633 Zu Euphrosynes Rolle bei der Usurpation Alexios’ III. vgl. Choniates, Hist., S. 455–456 (van Dieten); Angold, John the Fat, S. 116–122; Garland, Empresses, S. 212–214; zu ihrer Abstammung ebd., S. 210. 634 Choniates, Hist., S. 519 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 191 (Nr. 134). 635 Choniates, Hist., S. 487–489, 519 (van Dieten); Garland, Empresses, S. 216–219. 636 Vgl. Kapitel 2.3.2.
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kung verfehlte Alexios dennoch nicht, denn en passant erwähnt Mesarites, dass sich die Kunde der kaiserlichen Machtinszenierung überall verbreitete (ἡ φήμη θεὸς ὣς διικνεῖτο πάντη καὶ πανταχοῦ)637. Der Aspekt der mündlichen Verbreitung performativer Handlungen muss stets mitberücksichtigt werden, obwohl er in den Quellen nur sehr selten greifbar ist. Durch gezielte Kommunikation des inszenierten Aktes und die sich entwickelnde Mundpropaganda konnte die vom Kaiser intendierte Botschaft weit über das tatsächlich anwesende Publikum hinaus verbreitet werden. Wie stark der Erfolg symbolischer Handlungen jedoch von den Rahmenbedingungen abhing, zeigt der direkte Vergleich zwischen Alexios III. und Andronikos I., der seinen Thron im Jahre 1185 verlor638. Die Ausgangssituation war ähnlich: Der Usurpator Isaakios (II.) Angelos und seine Anhängerschaft hatten sich bei der Hagia Sophia in unmittelbarer Nähe des Großen Palastes versammelt. Andronikos erfuhr von der drohenden Gefahr im Palast von Meludion auf der anderen Seite des Bosporus. Um dem Usurpator den Wind aus den Segeln zu nehmen, forderte der Kaiser die Bevölkerung in einem kurzen Schreiben dazu auf, vom Aufruhr abzulassen und auch seine Unterstützer versuchten, die Situation zu beruhigen. Außerdem scheint Andronikos einen großen Auftritt geplant zu haben, denn offenbar befahl er, die goldgeschirrten kaiserlichen Pferde zu einer Anlegestelle „bei den Säulen“ (κατὰ τὸν πόρον τῶν Κιονίων), also in die Gegend der Serail-Spitze (Sarayburnu) zu verschiffen639. Dieser Schritt legt die Vermutung nahe, dass Andronikos seine Rückkehr nach Konstantinopel in Form einer Parade inszenieren wollte640, deren Verlauf sich an den Triumphzügen von Ioannes II. und Manuel I. Komnenos orientierte641. Es würde nicht überraschen, wenn Andronikos wie schon so oft in seinem Leben auf sein Charisma vertraut hätte, um die Stimmung zu seinen Gunsten kippen zu lassen. Doch er hatte die Lage unterschätzt. Seine Beliebtheit in der Stadtbevölkerung war seit Monaten im Schwinden begriffen. An die Durchführung einer Parade war nicht zu denken. Im Gegenteil blieb ihm nach seiner Ankunft auf einer kaiserlichen Dromone keine Wahl, als sich im Großen Palast zu verschanzen. Doch schon bald verschafften sich die Unterstützer des Isaakios Zugang zum Palast und Andronikos’ Tage als Kaiser waren gezählt.
637 Vgl. die Verbreitung der Nachricht von Machtwechseln durch Akklamationen (Kapitel 2.2.3). 638 Zum Folgenden s. Brand, Byzantium, S. 68–71. 639 Choniates, Hist., S. 346 (van Dieten). Der Auftrag zur Verschiffung der Pferde wird nicht ausdrücklich Andronikos zugeschrieben, doch kamen sie bereits an, bevor Isaakios die Hagia Sophia verließ und der Palast gestürmt wurde. Außerdem waren die Pferde offenbar nicht für Isaakios gedacht, denn ihm wurde nur deshalb eines zugeführt, weil es sich losgerissen hatte. Zur Lokalisierung der Anlegestelle „bei den Säulen“ s. unten 298–299 (mit Literatur). 640 So die kaum rezipierte These von Brand, Byzantium, S. 71, Anm. 100. 641 Choniates, Hist., S. 18–19 und 157–158 (van Dieten). S. auch unten S. 295 mit Anm. 46.
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2.4.3 Abgabe zeremonieller Vorrechte In wenigen Fällen – allesamt aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts – waren Kaiser in Bedrängnis mitunter bereit, einem Usurpator die Würde eines kaisar anzubieten und ihn so als Adoptivsohn und designierten Nachfolger an ihrer Macht teilhaben zu lassen. Isaakios Komnenos wäre 1057 bereit gewesen, auf diesen Kompromiss einzugehen, doch wurde Michael VI. vor Abschluss der Vereinbarung ohnehin abgesetzt642; Nikephoros Bryennios wähnte sich 1077 stark genug, die von Nikephoros III. angebotene Würde auszuschlagen beziehungsweise weitere Forderungen zu stellen, die zum Scheitern der Verhandlungen führten643; Alexios Komnenos lehnte 1081 die offerierte Teilhabe an der Herrschaft ebenfalls ab644. Einerseits war der Erfolg seiner Usurpation bereits absehbar, andererseits wollte die Familie der Dukas sicherstellen, dass Alexios den Thron i h r e r Kooperation verdankt und nicht dem herrschenden Kaiser645; Alexios selbst führte Parallelverhandlungen mit Nikephoros Melissenos, einem weiteren Thronprätendenten und vermochte dessen Ambitionen durch die Zusicherung des kaisar-Titels zu zerstreuen646. Gepokert wurde bei den Verhandlungen mit symbolischem Kapital; die überlieferten Details offenbaren die Bedeutung, die den mit dem Amt verbundenen zeremoniellen Vorrechten beigemessen wurde. So ließ Melissenos seine Gesandten folgende Forderung an Alexios und seinen Bruder Isaakios übermitteln: [Eine sichere Herrschaft] wird für uns dann gewährleistet sein, wenn ihr, nachdem ihr mit Gottes gnädiger Zustimmung die Stadt eingenommen habt, die Geschicke des Westens lenkt, wobei einer von euch [als Kaiser] ausgerufen wird, ihr mir aber einräumt, dass ich die Verwaltung Asiens zugesprochen bekomme, wobei ich zusammen mit demjenigen von euch, der proklamiert wird, die Krone trage, mich in Purpur kleide und proklamiert werde, wie es für die Kaiser Brauch ist, so dass man uns gemeinsam akklamiert647.
642 Cheynet, Pouvoir, S. 68–70 (Nr. 80). 643 Cheynet, Pouvoir, S. 83–84 (Nr. 104). 644 Anna Komnene, Alexias 2.12.2 (S. 84, Z. 96–85, Z. 9 Reinsch/Kambylis): „ὁ βασιλεὺς ὑμῖν τάδε μηνύει· γέρων μὲν ἐγὼ ἤδη καὶ μόνος μήθ’ υἱὸν κεκτημένος μήτ’ ἀδελφὸν μήτε τινὰ τῶν γνησίων, καὶ εἰ βούλει“, πρὸς τὸν ἀρτιφανῆ βασιλέα τὸν Ἀλέξιον ἀποτείνων τὸν λόγον, „σὺ γενοῦ μοι θετὸς υἱός. κἀγὼ οὐκ ἀφέλωμαί τι ὧν ἑκάστῳ τῶν συστρατευομένων σοι πεφιλοτίμησαι οὐδέ τινός σοι ἐξουσίας ἐπικοινωνήσω βασιλικῆς, ἀλλὰ μόνον ἔσομαι ψιλοῦ τοῦ τῆς βασιλείας μετέχων ὀνόματος καὶ τῆς εὐφημίας καὶ τῶν ἐρυθρῶν πεδίλων, ἔτι δὲ καὶ τοῦ διαναπαύεσθαι εἰς τὰ ἀνάκτορα, σοὶ δὲ ἡ τῶν τῆς βασιλείας πραγμάτων μελήσει πάντως διοίκησις“. 645 Anna Komnene, Alexias 2.12.2–3 (S. 85 Reinsch/Kambylis). 646 Cheynet, Pouvoir, S. 88–89 (Nr. 111). 647 Anna Komnene, Alexias 2.8.2 (S. 76, Z. 38–43 Reinsch/Kambylis): τοῦτο δὲ πάντως ἡμῖν ἐσεῖται, εἰ Θεοῦ νεύσει τῆς πόλεως παρ’ ὑμῶν ἑαλωκυίας ὑμεῖς μὲν τὰ τῆς ἑσπέρας διεξάγοιτε πράγματα θατέρου ὑμῶν ἀναρρηθέντος, ἐμοὶ δὲ τὰ τῆς Ἀσίας ἀποκληρωθῆναι ἐκχωρήσοιτε στεφηφοροῦντι καὶ ἁλουργὰ περιβεβλημένῳ καὶ ἀναγορευομένῳ, ὡς ἔθος τοῖς βασιλεῦσιν ἐστί, σὺν τῷ ἀναρρηθέντι ἐξ ὑμῶν, ὥστε κοινὴν τὴν ἡμῶν εὐφημίαν γίνεσθαι; Übersetzung: Reinsch, Alexias, S. 92–93.
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Eine geographische Teilung der Herrschaft kam freilich ebenso wenig infrage wie der basileus-Titel samt Proklamation. Das Gegenangebot der Komnenen beinhaltete aber zumindest die Herrschaft über Thessalonike sowie die kaisar-Würde mit entsprechendem Diadem (ταινία) und das Anrecht auf Akklamationen. Notgedrungen akzeptierte Melissenos, verlangte aber eine Bestätigung der Verhandlungsergebnisse in Form einer Chrysobullurkunde648. Οbwohl Nikephoros III. (1078–1081) seinem Konkurrenten Nikephoros Bryennios die kaisar-Würde anbot – inklusive des Rechts, das angelegte rote Schuhwerk und seine Kleidung zu behalten649 – versuchte sich der Usurpator weitere Sonderkonditionen auszuhandeln. Aus Sorge um seine eigene Sicherheit sollte die Ernennung zum kaisar nicht in Konstantinopel stattfinden. Stattdessen forderte Bryennios, dass Kaiser und Patriarch nach Damokrania bei Athyra kommen sollten, um die Zeremonie in der dortigen Michaelskirche durchzuführen. Diesen unverschämten Forderungen wiederum wollten die Gesandten des Kaisers nicht entsprechen, womit die Verhandlungen gescheitert waren650. Großzügiger zeigte sich Michael VI. (1056–1057), der von sich aus bereit war, Isaakios (I.) Komnenos neben der kaisar-Würde weitere Zugeständnisse einzuräumen und kraft einer kaiserlichen Urkunde zu garantieren, wie der Verhandlungsführer Michael Psellos überliefert: „Alle Forderungen sind zu erfüllen“, sagte er, „und es soll ihm an nichts fehlen, was er verlangt. Er soll vielmehr eine Kaiserkrone (stemma, στέμμα) tragen und nicht eine gewöhnliche (stephanē, στεφάνη), auch wenn diese nicht zur Aufmachung eines kaisar gehört. Er
648 Anna Komnene, Alexias 2.8.3–4 (S. 76, Z. 47–56 Reinsch/Kambylis): τῇ δὲ μετ’ αὐτὴν μετακαλεσάμενοι τούτους τὰ αὐτοῖς εἶπον δοκοῦντα. τὰ δὲ ἦν τιμηθῆναι τὸν Μελισσηνὸν τῷ τοῦ καίσαρος ἀξιώματι καὶ ταινίας ἀξιωθῆναι καὶ εὐφημίας καὶ τῶν ἄλλων, ὅσα τῷ τοιούτῳ προσήκει ἀξιώματι, δοθῆναι δέ οἱ καὶ τὴν Θετταλοῦ μεγίστην πόλιν. Zur Urkunde vgl. Dölger/Wirth, Regesten II, S. 86 (Nr. 1063). Dass zeremonielle Vorrechte in Urkunden festgehalten wurden, zeigt der in Anna Komnene, Alexias 3.4.5–6 (S. 96–97 Reinsch/Kambylis) überlieferte Chrysoboullos Logos (Dölger/Wirth, Regesten II, S. 86 [Nr. 1064]), in welchem sämtliche Zugeständnisse Alexios I.’ an Konstantinos Dukas enthalten sind. Vgl. hierzu Bernard Leib, Un basileus ignoré – Constantin Dukas (1074–1094), in: BSl 17, 1956, S. 341–359; Viktor Tiftixoglu, Zum Mitkaisertum des Konstantinos Dukas (1081–1087/88), in: FM 9 = Forschungen zur Byzantinischen Rechtsgeschichte 19, 1993, S. 97–111. 649 Attaleiates, S. 219, Z. 9–11 (Tsolakes): τὴν καίσαρος τύχην προφέροντας ἵνα μὴ τὸ σχῆμα τῶν πεδίλων καὶ τῆς ἄλλης περιβολῆς ἐναλλαγήν τινα δέξηται. 650 Bryennios 4.3 (S. 263, Z. 25–265, Z. 1 Gautier): Βούλεται οὖν πρότερον τὸν βασιλέα βεβαιῶσαι τὰ παρ’ αὐτοῦ σφίσιν ἐκείνοις ἐπαγγελθέντα καὶ οὕτω τῆς πόλεως ἐξελθεῖν σὺν τῷ πατριάρχῃ καὶ περὶ τὸν ναὸν γενέσθαι τοῦ ταξιάρχου τῶν ἄνω δυνάμεων Μιχαήλ, ὃς ἵδρυται ἐν τῷ περὶ τὴν Θρᾴκην χωρίῳ Δαμοκρανίας κἀκεῖσε τὰ τῆς υἱοθεσίας ἐπὶ τοῖς καίσαρσι γίνεσθαι καὶ τῷ στεφάνῳ ταινιωθῆναι συνήθως.
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soll mit mir gemeinsam das Reich regieren und Beamte einsetzen. Ihm soll ein eigenes kaiserliches Zelt zugeteilt werden und eine ausgezeichnete Leibwache“.651
Die Beispiele demonstrieren vor allem die Anpassungsfähigkeit des Hofzeremoniells, die wir auch aus anderen problematischen Machtkonstellationen kennen652. Es zeigt sich hier eines der Grundprinzipien der byzantinischen Politik, nämlich die Adaption (oikonomia) der gottgewollten Ordnung (taxis) angesichts realpolitischer Notwendigkeit. Die strenge Rangordnung und die durchdachte Etikette förderten das kompetitive Verhalten innerhalb der Reichselite und boten manch Anlass zum Streit653. Andererseits erlaubte dasselbe System die Eingliederung eines Herausforderers in die bestehende Hierarchie und ermöglichte so Kompromisslösungen in Machtkämpfen, ohne dass eine der beiden Seiten ihr Gesicht verlor oder vernichtend geschlagen wurde. Details in Zeremoniell und Kleidung gewährleisteten die eindeutige Unterscheidung zwischen dem autokratōr und dem kaisar; doch zeigen gerade die Zugeständnisse an Usurpatoren, dass der Kaiser – und nur er – durchaus Möglichkeiten hatte, diese zeremonielle Kluft zu verkleinern, indem er zur Lösung des Konfliktes die kaisar-Würde mit höherem symbolischen Kapital versah.
651 Psellos, Chron. 7.33 (S. 222, Z. 11–17 Reinsch): „Ἀλλὰ ποιητέον“ φησί „ξύμπαντα· καὶ μηδενὸς ἐκεῖνος ἀτυχησάτω ὧν βούλεται· ἀλλὰ και στεφανηφορείτω λαμπρότερον, στέμματι ἀλλ’ οὐ στεφάνῃ τὴν κεφαλὴν ἀναδούμενος, εἰ καὶ μὴ τοιοῦτον τὸ σχῆμα τοῦ καίσαρος· παραδυναστευέτω τῷ κράτει· καὶ παραδιοικείτω τὰς ἀρχαιρεσίας· ἰδία τε αὐτῷ ἀποτετάχθω σκηνὴ βασίλειος· καὶ δορυφορία παρακεχωρήσθω λαμπρά.“ Reinsch (Chronographia, S. 619) übersetzt σκηνή mit „Residenz“; Ronchey (Psellos, Chron., S. 221) mit „pompa“ (= Pomp, Prunk). Mir scheint die Primärbedeutung „Zelt“ naheliegender. Im Detail s. Heher, Mobiles Kaisertum, S. 109–110. 652 Vgl. etwa die abgestufte Sitzordnung der Kaiserinnen Zoe und Theodora (Psellos, Chron. 6.3 [S. 107–108 Reinsch]) bzw. die Zugeständnisse Alexios’ I. an seinen Mitkaiser Konstantinos Dukas (Anna Komnene, Alexias 3.4.5–6 [S. 96–97 Reinsch/Kambylis). 653 Günter Prinzing, Zur byzantinischen Rangstreitliteratur in Prosa und Dichtung, in: RHM 45, 2003, S. 241–286, bes. S. 241–247.
3. Alles beim Alten – Der Sieg des Kaisers Usurpatoren artikulierten ihre Machtansprüche durch performative Akte und versuchten – im Falle ihres Erfolges – ihre neu gewonnene Herrschaft durch physische Präsenz in Ritualen und durch öffentliche Auftritte legitimieren und festigen. Doch auch im Falle ihres Scheiterns spielten ihre Körper und der öffentliche Raum eine zentrale Rolle bei der Auflösung des Konflikts. Die Macht über beides lag nun jedoch beim siegreich verbliebenen Kaiser: In triumphalen Siegesparaden konnte er etwa die göttliche Unterstützung seiner Herrschaft zelebrieren und dabei entweder seiner gerechten Härte oder gottgleichen Gnade Ausdruck verleihen. Majestätsverbrecher wurden für diese Zwecke dem Spott der Massen ausgesetzt und mussten publikumswirksam um Mitleid flehen, oder wurden durch Körperstrafen lebenslang für ihre Hybris stigmatisiert oder gar hingerichtet. Wieder andere wurden zu Mönchen geschoren, erfuhren also einen Wechsel des sozialen Status durch körperliche Transformation. Der siegreiche Kaiser konnte sich eines breiten Repertoires an symbolischen Handlungen bedienen, um den geschlagenen Feind oder sich selbst in Szene zu setzen. Die Wahl der Mittel war jedoch nicht völlig frei und unterlag Traditionen und ethischen Grundsätzen. 3.1 Siegesfeiern Öffentliche Siegesfeiern spielten in der römisch-byzantinischen Welt eine bedeutende Rolle. Die identitätsstiftende Funktion gemeinsam gefeierter Siege ist in den Kulturwissenschaften allgemein bekannt. Zwar erlaubt unser entfernter Blick auf das Ritual es nicht, die individuellen Emotionen und Motive der Teilnehmer zu rekonstruieren, die zwischen Stolz, Freude, Genugtuung, Spott, Schaulust und Schadenfreude oszillieren können, doch hat schon allein ihre körperliche Präsenz im Raum semantisches Gewicht. Die Teilnahme an der Feier impliziert eine Identifikation des Individuums mit der zelebrierenden Gruppe – und sei es lediglich durch die Abgrenzung vom besiegten „anderen“ – und somit auch die Akzeptanz jener Eliten, die über die Inszenie-
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rung der Feier und somit über die Deutungsmacht des Rituals verfügten1. Sie führten den Byzantinern die Stärke ihres Reiches vor Augen und – auf metaphysischer Ebene – die auserwählte Stellung des römischen Volkes und seines Kaisers im Heilsplan Gottes2. Siegesfeiern im (halb-)öffentlichen Raum begegnen in Byzanz in verschiedener Gestalt und reichten von liturgischen Feiern über ritualisierte Demütigungen der Gegner bis hin zu opulenten Triumphzügen. Auch Siege über Usurpatoren und Majestätsverbrecher wurden nicht in einheitlicher Form zelebriert. Wie zu zeigen sein wird, war der Charakter der Feier von den Umständen der Bedrohung und des Sieges selbst abhängig. 3.1.1 Triumphzüge Aus dem reichen römischen Erbe3 hatte sich in Byzanz mit dem Triumphzug (triumphus) auch die antike Siegesfeier par excellence erhalten4. Seit den Zeiten der römischen Republik hatte sich dessen Gestalt freilich grundlegend geändert5. Durch die zunehmende Dezentralisierung des Reiches in der Spätantike waren die Siegesfeiern 1
Zwar war die Teilnahme an öffentlichen Zeremonien für gewisse Personenkreise verbindlich (vgl. Eparchenbuch 1.4 [S. 76 Koder] mit Sanktionen für Notare, die einer kaiserlichen Prozession oder Veranstaltungen im Hippodrom trotz Einladung durch den Eparchen fernbleiben), im Allgemeinen kann man aber bei Spektakeln dieser Art davon ausgehen, dass ein Großteil der Zuschauer freiwillig anwesend war. 2 Vgl. Hunger, Reditus, bes. S. 28 und S. 18–19: „Die emotionelle Steigerung des Erlebnisses einer kaiserlichen Epiphanie war immer dann gegeben, wenn das Erscheinen des Herrschers mit einem für die Massen besonders erfreulichen Ereignis verbunden war.“ 3 Zum Bewusstsein der antik-römischen Wurzeln des Triumphzuges vgl. Theoph. Cont., S. 271 (Bekker = S. 40 Ševčenko); Attaleiates, S. 149–150 (Tsolakes). 4 Aus der umfangreichen älteren Literatur zum römischen Triumphzug sei hier verwiesen auf Henk S. Versnel, Triumphus. An inquiry into the origin, development and meaning of the Roman triumph, Leiden 1970 und Aldo Petrucci, Il trionfo nella storia costituzionale romana dagli inizi della repubblica ad Augusto (Pubblicazioni della Facoltà di Giurisprudenza della II Università degli Studi di Roma. Sezione di Storia e Teoria del Diritto 2), Mailand 1996 (mit umfangreicher Aufzählung der Triumphzüge in der dort behandelten Zeitspanne). Der performative turn in den Geschichtswissenschaften führte in jüngerer Zeit zu einer intensivierten Beschäftigung mit Triumphzügen Vgl. Richard Brilliant, ‚Let the trumpets roar!‘ The Roman triumph, in: Bettina Bergmann / Christine Kondoleon (Hgg.), The art of ancient spectacle (Studies in the history of art 56), Washington, D. C. 1999, S. 220–229; Tanja Itgenshorst, Tota illa pompa: Der Triumph in der römischen Republik (Hypomnemata 161), Göttingen 2005 und Mary Beard, The Roman triumph, Cambridge, Mass. 2007; Ida Östenberg, Staging the world. Spoils, captives, and representations in the Roman triumphal procession, New York, N. Y. 2010 mit weiterführender Literatur. Zum Fortleben des Triumphzuges in Byzanz s. McCormick, Eternal victory; der Teilaspekt des Empfanges des siegreichen Kaisers findet sich bei Hunger, Reditus. 5 Beard, Roman triumph, S. 318–325 plädiert daher dafür, die Geschichte des römischen Triumphes spätestens im 4. Jahrhundert enden zu lassen. Spätere Siegesfeiern seien als bloße Nachahmungen zu betrachten. Dies ist insofern richtig, als ab diesem Zeitpunkt die einzelnen Elemente des Triumphes zunehmend freier kombiniert wurden.
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nicht mehr nur in Rom abgehalten worden und hatten somit auch die einst obligatorische Bindung an die Topographie der Hauptstadt verloren6. Die starke religiöse Prägung der Triumphe zur Zeit der Republik war bereits im Prinzipat der Fokussierung auf den Kaiser gewichen7. Der Aufstieg des Christentums schließlich machte die bis dahin praktizierten Opferrituale obsolet und ersetzte sie durch Dankgottesdienste oder ergänzte den Zug um andere liturgische Elemente8. Auch die ursprünglich strengen Auflagen des Senates, die ein Feldherr erfüllen musste, um einen Triumphzug feiern zu dürfen, waren aufgeweicht worden9. Über Jahrhunderte war es verbindlich gewesen, die Reichsgrenzen in einem Krieg gegen einen äußeren Feind zu erweitern, um das Privileg des prestigeträchtigen Umzugs zu erlangen. Wie in so vielen Bereichen markierte auch hier die Regierungszeit Konstantins I. einen Einschnitt: Seine Ankunft in Rom nach der Schlacht an der Milvischen Brücke ist der erste überlieferte Fall eines triumphalen Einzuges nach einem Sieg gegen einen Thronkonkurrenten, einen inneren, römischen Feind also und keinen Barbarenfürsten, der die Außengrenzen bedrohte10. Der einst nur in Details veränderliche Charakter des republikanischen Triumphzuges war bereits im Prinzipat einem neuen, flexibleren Modell gewichen und zu einer Prozession geworden, die sich eines vielfältigen Repertoires an Siegesritualen und -symbolen bedienen und deren Route sich von Fall zu Fall ändern konnte11. Auch die ursprüngliche Trennung zwischen der feierlichen Rückkehr des Feldherren (adventus) und dem danach stattfindenden Triumphzug (triumphus) war weggefallen, da 6 7
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Die Route war aber wohl schon damals nicht so strikt festgelegt, wie die Forschung lange Zeit vermutet hatte. Vgl. Beard, Roman triumph, S. 92–105, die dennoch einräumt, dass die meisten Züge wohl dieselben Wegpunkte passiert haben werden. Gérard Freyburger, La supplication d’action de grâces sous le Haut-Empire, in: Wolfgang Haase (Hg.), Religion (Heidentum, Römische Religion, Allgemeines) (Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 16/2), Berlin 1978, S. 1419–1432, hier S. 1432; zu den religiösen Aspekten des Zuges und der Frage nach der Verkörperung des Numinosen durch den Feldherren vgl. auch B eard, Roman triumph, S. 225–238 und besonders S. 295–305. McCormick, Eternal victory, S. 45–47 und bes. S. 101–107. Schon im Prinzipat war es beispielsweise nicht mehr nötig, den Krieg vollständig beendet zu haben, um einen Triumph feiern zu dürfen. Vgl. den Triumph des Germanicus (17 n. Chr.) nach Teilerfolgen gegen die Germanen: Tacitus, Annalen 1.55. Vgl. Petrucci, Trionfo, S. 1–9, S. 255–261; Beard, Roman triumph, S. 107–108 und allgemein zu den Auflagen ebd., S. 199–205, jedoch mit der Warnung, für die Zeit der Republik eine allzu rigide Handhabung dieser Vorgaben zu unterstellen. Ähnlich bereits Versnel, Triumphus, S. 108, der schon in der Zeit der Punischen Kriege Siegesfeiern für Teilerfolge ausmacht. Zu den Auflagen für Triumphfeiern ebd., S. 164–195. Panegyrici Latini 9.18.3 und 10.31.4–5 (Panegyrici Latini. Panégyriques latins, I [I–V]–II [VI–X: Les panégyriques constantiniens]. Texte établi et traduit par Édouard Galletier, Paris 1949– 1952, Bd. 2, S. 138 und II 191); vgl. Beard, Roman triumph, S. 123. McCormick, Eternal victory, S. 131–132, wenngleich „vollständige“ Triumphzüge bis ins 11. Jahrhundert zumeist derselben Wegführung durch das Goldene Tor über die Mesē zum Palast zu folgen pflegten (vgl. ebenda 209). Schon im alten Rom gab es neben vollständigen Triumphzügen entlang der traditionellen Route zum Kapitol auch kleinere Feiern (ovationes): Versnel, Triumphus, S. 165–168; Beard, Roman triumph, S. 62–63, S. 323–324.
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sich Kaiser zusehends auch dann feiern ließen wenn sie nicht selbst ins Feld gezogen waren12. Die zunehmende Aufweichung verbindlicher Regeln spiegelt sich auch in der uneindeutigen byzantinischen Terminologie: Der Βegriff thriambos (θρίαμβος) konnte eine Parade bezeichnen, die grosso modo der Anordnung der antiken römischen Züge ähnelte, sich aber ebenso gut auf eine Schandprozession beziehen, in deren Rahmen nur die geschlagenen Feinde oder die Köpfe ihrer gefallenen Anführer dem Spott der Öffentlichkeit ausgesetzt werden sollten, und noch allgemeiner auf jede Form einer Siegesfeier im öffentlichen Raum13. Trotz unklarer Terminologie, Wandelbarkeit der einzelnen Elemente und variabler Häufigkeit lassen sich Triumphzüge in Byzanz bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts als konstante Ausdrucksform des siegreichen Kaisertums belegen14. Triumphzüge im Untersuchungszeitraum Nur selten erlauben die byzantinischen Quellen eine genauere Rekonstruktion der Parade. Lässt man jene Fälle beiseite, bei deren Beschreibung der Fokus klar auf der Verspottung von Gefangenen oder der Präsentation von Kopftrophäen liegt, bleiben im Untersuchungszeitraum nur wenige Beispiele für „echte“ Triumphzüge, die nach Siegen gegen Usurpatoren veranstaltet wurden. Basileios II. gewährte seinem General Bardas Phokas im Jahre 979 die Durchführung einer solchen Parade, nachdem er Bardas Skleros (vorübergehend) vertrieben hatte15. Unter Konstantinos IX. wurde dem sebastophoros Stephanos Pergamenos, der sich als Bezwinger des Georgios Mani12
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Hunger, Reditus, S. 18–20; McCormick, Eternal victory, S. 47, 90–93. Cyril Mango, The triumphal way of Constantinople and the Golden Gate, in: DOP 54, 2000, S. 173–188, hier 173–174 unterscheidet zwischen (1) „full triumphs“ mit Einzug eines Kaisers durch das Goldene Tor, Präsentation von Gefangenen und Beute sowie Prozession über die gesamte Länge der Mesē und (2) anderen Triumphfeiern, die sich nur einzelner dieser Elemente bedienten. Vgl. Beard, Roman triumph, S. 322–324. Zum Adventus s. auch Kapitel 4.1.1. Hunger, Reditus, S. 20. McCormick, Eternal victory, sieht Siegesfeiern aller Art unterschiedslos als „triumph“. Ähnlich Mango, Triumphal way, S. 173: „… it would be pedantic to argue that they should not be called triumphs because they differed in many significant respects from their Roman prototype and from one another. Dieser Ansicht ist prinzipiell beizupflichten, doch möchte ich hier eine engere Eingrenzung treffen: Unter „Triumphzügen“ sind im Folgenden jene Paraden zu verstehen, bei denen der Fokus auf der Darstellung der Sieger liegt; jene Umzüge hingegen, die in erster Linie die Niederlage des Gegners zum Thema haben (Spottzüge mit lebenden Gefangenen oder den Köpfen der Rädelsführer) werden an gesonderter Stelle näher beleuchtet (Kapitel 3.3.3. und 3.1.2). Die Unterscheidung zwischen diesen Facetten derselben Botschaft ist durchaus sinnvoll, weil ihre Inszenierungen anderen Spielregeln folgten. Psellos, Chron. 1.10 (S. 7, Z. 1–3 Reinsch): Ὁ δὲ γε Φωκᾶς Βάρδας, τῷ βασιλεῖ Ῥωμαίων ἐπαναζεύγνυσι· καὶ τὴς τε τροπαιοφόρου ἐπετυχήκει πομπῆς· τοῖς τε περὶ τὸν βασιλέα συναρίθμιος ἐτύγχανεν ὤν. Recht unspezifisch dagegen Skylitzes, S. 327 (Thurn): Τῆς δὲ τοῦ Σκληροῦ τροπῆς ἀγγελθείσης τῷ βασιλεῖ διὰ γραμμάτων τοῦ Φωκᾶ καὶ τῆς εἰς Βαβυλῶνα ἀναχωρήσεως, τοῦτον μὲν ὁ βασιλεὺς ἀποδεξάμενος ἀξίως ἐτίμησε. Leon Diak. 10.7 (S. 170 Hase) erwähnt gar keinen Empfang. Vgl. Bourdara, Καθοσίωσις Ι, S. 94–96 (Nr. 45); Cheynet, Pouvoir, S. 27–29 (Nr. 11); Catherine Holmes, Basil II and the governance of empire (976–1025), Oxford 2005, S. 243–245.
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akes feiern ließ, ein Triumphzug zugestanden (1043)16 und wenige Jahre später (1047) fand eine möglicherweise noch spektakulärere Feier nach dem Sieg über den Usurpator Leon Tornikios statt17. Einen weiteren mehr oder weniger vollständigen Triumphzug ließ auch Kaiser Michael VII. angesichts der Gefangennahme des von Roussel von Bailleul zur Usurpation gezwungenen Ioannes Dukas (1073) abhalten18. Die Quellen beschränken sich zumeist auf die bloße Erwähnung solcher Züge19. Details sind lediglich im Falle des Stephanos Pergamenos überliefert. Michael Psellos hinterließ einen Augenzeugenbericht: Als das Heer, größtenteils mit Siegeskränzen geschmückt, zurückkehrte und bereits vor der Stadt am Fuße der Mauern das Lager aufgeschlagen hatte, erkannte der Kaiser, dass ein Triumphzug vonnöten sei, um die Trophäen herumzuführen. Und er, der sich darauf verstand, solche Spektakel zu inszenieren und in solchen Angelegenheiten aufzutrumpfen, arrangierte die Parade folgendermaßen: Er befahl, dass die leichten Truppen in Bewaffnung vorangingen, Schild-, Bogen-, und Lanzenträger bunt gemischt und in loser Ordnung. Auf sie sollte die Elite der gepanzerten Kavallerie in voller Rüstung folgen, die furchterregend anzusehen war, sowohl wegen ihrer Erscheinung als auch wegen ihrer militärischen Zucht. Sodann kamen die Truppen des Usurpators, nicht in Reih und Glied oder schöner Form, sondern verkehrt auf Eseln sitzend und mit geschorenen Köpfen. Um den Nacken trugen sie demütigende Abfälle. Hinter ihnen wurde der Kopf des Usurpators hergetragen und dann ein Teil seiner Ausstattung. Dann folgten Schwertträger und Ordnungshüter (rabdouchoi) sowie diejenigen, die ihre Äxte auf der rechten Schulter tragen [scil. Waräger]. Eine große Schar an Soldaten zog dem Feldherren voraus und auf sie folgte jener [scil. Stephanos Pergamenos], erkennbar an Ross und Kleidung, und dann die gesamte Leibwache. Auf diese Weise marschierten sie also. Der prächtige und stolze Kaiser [scil. Konstantinos IX.] aber thronte auf dem so genannten Chalkē-Gefängnis, das denselben Namen trägt,
16 Psellos, Chron. 6.87–88 (S. 142–143 Reinsch): Text s. unten; Skylitzes, S. 428, Z. 95–97 (Thurn): καὶ διὰ μέσης τῆς Πλατείας θριαμβεύσας προηγουμένης τῆς κεφαλῆς ἄνωθεν δόρατος, καὶ τῶν ἀποστατῶν ὄνοις ἐποχουμένων, αὐτὸς ὄπισθεν εἵπετο, ἵππῳ λευκῷ ἐφεζόμενος; Attaleiates, S. 16, Z. 9–12 (Tsolakes): Θριαμβεύσας δὲ ὁ τὴν ἡγεμονίαν ἐσχηκὼς τοῦ πολέμου σεβαστοφόρος Στέφανος διὰ τῆς ἀγορᾶς, τὰ πρῶτα παρὰ τῷ βασιλεῖ μετὰ πολλῆς τῆς λαμπρότητος ἔσχηκε, καὶ ζηλωτὸς πᾶσι καὶ περισπούδαστος ἐγνωρίζετο; Glykas, S. 594 (Bekker); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις Ι, S. 118–119 (Nr. 70); Cheynet, Pouvoir, S. 57–58 (Nr. 61). 17 Die Schilderung bei Skylitzes, S. 442, Z. 83–85 (Thurn) klingt zwar eher nach einer Spottparade (δημεύονται δὲ καὶ ὁπόσοι παρέμειναν ἕως τέλους εὔνοοι τῷ τυραννήσαντι, ἀτίμως πρότερον περιαχθέντες διὰ τῆς ἀγορᾶς καὶ ἐξορίᾳ παραπεμφθέντες), doch Psellos (Chron., S. 162, Z. 11–12 Reinsch]) hält den Zug offenbar für noch großartiger als jenen, der nach dem Sieg gegen Maniakes gefeiert wurde: Ἐπὶ τούτοις θρίαμβον ὁ βασιλεὺς μέγιστον τῶν πώποτε θρυλουμένων κατάγει. S. Appendix S 17. 18 Attaleiates, S. 149 (Tsolakes): Text s. unten, S. 187, Anm. 59; vgl. Bourdara, Καθοσίωσις ΙI, S. 48–49 (Nr. 12); Cheynet, Pouvoir, S. 78–79 (Nr. 97). 19 Zur Problematik der Quellen vgl. Hunger, Reditus, S. 28.
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wie jene Kirche, die der große Kaiser Ioannes, der nach Nikephoros Phokas regiert hatte, errichten hatte lassen. Zu seinen beiden Seiten saßen die Kaiserinnen [scil. Zoe und Theodora] und sahen dem Triumphzug zu. Und so beendete Konstantinos die Parade und kehrte unter herrlichen Lobgesängen und mit dem Siegerkranz bekränzt in den Palast zurück20.
Wenngleich es in Byzanz keine verbindlichen Vorgaben bei der Gestaltung von Triumphzügen gab, weist der hier beschriebene Bericht Parallelen zu vergleichbaren Siegesfeiern auf21. Über die Routenführung sind wir nicht im Detail informiert, wissen aber, dass die Soldaten des Stephanos nach ihrer Rückkehr noch vor den Theodosianischen Landmauern lagerten. Sofort nach dem Schlachtensieg war der Kopf des Maniakes nach Konstantinopel transportiert und auf dem höchsten Punkt des Hippodroms ausgestellt worden. Erst danach hatte sich Konstantinos IX. entschlossen, einen Triumphzug durchzuführen22. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde für den Einzug in die Stadt das Goldene Tor gewählt, das seit Jahrhunderten als zeremonieller Einlass bei Triumphzügen fungierte23. Danach muss der Zug der Mesē bis zu ihrem Ende gefolgt sein, denn Psellos berichtet, dass der Kaiser das Spektakel vom Baukomplex der Chalkē aus beobachtete. An seiner Seite thronten seine Ehefrau Zoe und seine Schwägerin Theodora. Die Teilhabe der letzten beiden Erbinnen der makedonischen Dynastie an der Kaisermacht sollte für jedermann sichtbar sein24. Exakt dieselbe Kon-
20 Psellos, Chron. 6.87–88 (S. 142, Z. 1–143, Z. 18 Reinsch): Ὡς δὲ καὶ ἡ φάλαγξ ἐπανεληλύθει, ἀριστείοις στεφάνοις τῶν πλειόνων κεκοσμημένων· καὶ πρὸ τοῦ Ἄστεος ἤδη ηὐλίσαντο, ἀγχοῦ τῶν τειχῶν, ὁ αὐτοκράτωρ θρίαμβον δεῖν ἔγνω ἐπὶ τοῖς τροπαίοις καταγαγεῖν. καὶ οἷος ἐκεῖνος σκηνὰς πλάττειν εἰδὼς· καὶ μεγαληγορεῖν ἐν τοῖς πράγμασιν, οὑτωσὶ διατίθεται τὴν πομπήν: διατάττεται γὰρ, τὸ μὲν ψιλὸν τῆς φάλαγγος, μεθ’ ὅπλων προϊέναι συμμίγδην καὶ ἀσυντάκτως, ἀσπίδας καὶ τόξα καὶ δόρατα φέροντας· καὶ ἐπὶ τούτοις, τοὺς ἐπιλέκτους ἱππέας, ὅπλοις καταφράκτους ἕπεσθαι, φοβεροὺς ἰδεῖν ἀπό τε τοῦ σχήματος· ἀπό τε τῆς στρατιωτικῆς τάξεως· εἶτα δὴ τὸ μετὰ τοῦ τυράννου στρατόπεδον, οὐκ ἐν τάξει· οὐδ’ ἐν καλῷ σχήματι· ἀλλ’ ἐπ’ ὄνων πρὸς οὐρὰν ἀντεστραμμένους· καὶ ἐξυρημένους τὰς κεφαλὰς· καὶ πολύν τινα συρφετὸν αἰσχύνης περὶ τὸν τράχηλον φέροντας. ἐφ’ οἷς ἡ τοῦ τυράννου διἐθριαμβεύετο κεφαλὴ· καὶ μετ’ ἐκείνην ἄλλο τι τοῦ τυραννικοῦ σχήματος. μεθ’ ἃ ξιφηφόροι τινὲς καὶ ῥαβδοῦχοι· καὶ οἱ τοὺς πελέκεις ἀπὸ τοῦ δεξιοῦ σείοντες ὤμου, πολύ τι πλῆθος προϊόντες τοῦ τῶν στρατευμάτων ἡγεμονεύσαντος. καὶ ἐπὶ πᾶσιν ἐκεῖνος ἐπίσημος καὶ ἵππῳ καὶ τῇ στολῇ· καὶ ἐπὶ τούτῳ τὸ δορυφορικὸν ξύμπαν. Οὗτοι μὲν οὖν, οὓτω προῄρεσαν. ὁ δὲ αὐτοκράτωρ, λαμπρὸς πάνυ καὶ ὑψηλὸς προὐκάθητο τῆς ὅυτως λεγομένης Χαλκῆς Φυλακῆς, μετ’ αὐτοῦ δὴ τοῦ θείου τεμένους, ὃ ὁ μέγας ἐν βασιλεῦσιν Ἰωάννης ἐκεῖνος ὁ μετὰ Φωκᾶν Νικηφόρον ἐδείματο. αἵ τε βασιλίδες ἐκατέρωθεν αὐτῷ συγκαθίσασαι θεωροὶ τοῦ θριάμβου ἐγίγνοντο. καὶ οὕτω δὴ τὴν τοιαύτην ξυντελέσας πομπήν, σύν ἐγκωμίοις λαμπροῖς στεφανηφορῶν ἐχώρει πρὸς τὰ βασίλεια. Übersetzung teilweise nach Reinsch, Chronographia, S. 403–405. 21 Vgl. Mango, Triumphal way (mit schematischer Darstellung auf S. 178). 22 Psellos, Chron. 6.86–88 (S. 142–143 Reinsch). Hunger, Reditus, S. 20 ortet einen sarkastischen Unterton, weil Psellos unterstellt, der Kaiser habe erst an die Möglichkeit eines Triumphzuges gedacht, als die Armee mit den Siegestrophäen zurückgekehrt sei. 23 Zur Gestalt des Tores vgl. Mango, Triumphal way, S. 181–186. 24 Die legitimitätsstiftende Funktion der beiden Schwestern, hatte man wenige Jahre zuvor sehen können, als Michael V. mit seinem Versuch Zoe vom Thron zu stoßen, gescheitert war: Psellos, Chron. 5.47–50 (S. 104–106 Reinsch); s. auch Kapitel 2.1.2. Vgl. Auch eine Darstellung des Kai-
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stellation der genannten Personen findet sich im Übrigen auf der so genannten Monomachos-Krone, die heute im Nationalmuseum von Budapest aufbewahrt wird. Timothy Dawson hat sogar die Vermutung angestellt, dass das einzigartige Stück eigens für den Triumph gegen Maniakes angefertigt worden sein könnte. Ihm zufolge seien die sieben Emailplaketten nicht Teile einer Krone, sondern eines Armreifen (armilla) gewesen, das für den siegreichen General Stephanos Pergamenos angefertigt worden sei25. So ist für den Triumphzug von Kaiser Theophilos (831 oder 837) belegt, dass der Eparch dem siegreichen Kaiser eine goldene und juwelenbesetzte „Krone“ (stephanos) überreichten, die er über den rechten Arm streifte26. Da es insgesamt den Anschein hat, als sei der der Zug des Stephanos Pergamenos jenem des Theophilos nachempfunden worden, ist eine Nachahmung auch einer solchen Kronenübergabe nicht von der Hand zu weisen. Eine eilige Anfertigung – der Kaiser entschloss sich ja offenbar recht spontan zum Triumphzug – könnte auch die technischen und orthographischen Mängel der Monomachos-Krone erklären helfen27. Dass die drei Majestäten dem Zug von der Chalkē aus beiwohnten, war gewiss kein Zufall. Ursprünglich war diese als monumentales Hauptportal des Großen Palastes angelegt worden. Überreste der einst prachtvollen Anlage kamen in jüngerer Vergangenheit bei archäologischen Grabungen im Bereich des ehemaligen Sultanahmet-Gefängnisses südöstlich der Hagia Sophia zum Vorschein28. Das Portal befand sich am Ende der Via Regia, in der sich die Hauptarterie Konstantinopels, die Mesē, nach dem Milion fortsetzte29. Seit Justinian I. (527–565) hatte das Chalkē-Tor vermutlich die Gestalt eines etwa Nord-Süd gerichteten, querrechteckigen Vestibüls, das in drei Seg-
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sers, seiner Gattin und seiner Schwägerin im Cod. Sinait. 364 aus dem 11. Jh. (André Grabar, L’Empereur dans l’art byzantin, Straßburg 1936, Nachdr. 1971 176–177, Taf. XIX, Abb. 2). Ich danke Michael Grünbart/Münster für diesen Hinweis. Timothy Dawson, The Monomachos crown. Towards a resolution, in: Symm 19, 2009, S. 183– 193. Die Hypothese einer Verwendung der Krone für eine Triumphfeier findet sich bereits in Etele Kiss, The State of Research into the Monomachos Crown and Some Further Thoughts, in: Olenka Z. Pevny (Hg.), Perceptions of Byzantium and its neighbours (843–1261), New York 2000, S. 60–83, hier S. 76, doch tendiert Kiss eher dazu, sie als eigens angefertigtes diplomatisches Geschenk zu interpretieren. De exped., S. 148, Z. 847–849 (Haldon): ὁ ἔπαρχος τῆς πόλεως χρυσοῦν στέφανον κατεσκευασμένον ἐκ λίθων τιμίων καὶ μαργάρων πολυτίμων, ὃν καὶ λαβόμενος ὁ βασιλεὺς ἐφόρεσεν αὐτὸν ἐπὶ τοῦ δεξιοῦ βραχίονος. Die Echtheit der Plaketten wurde daher bisweilen überhaupt in Frage gestellt. So etwa Nicolas Oikonomidès, La couronne dite de Constantin Monomaque, in: TM 12, 1994, S. 241–262. Çiğdem Girgin, La porte monumentale trouvée dans les fouilles pres de l’ancienne prison de Sultanahmet, in: Anatolia Antiqua 16, 2008, S. 259–290, bes. S. 267; Asuman Denker, Excavations at the Byzantine Great Palace (Palatium Magnum) in the area of the Old Sultanahmet jail, in: Ayla Ödekan / Nevra Necipoğlu / Elgin Akyürek (Hgg.), The Byzantine court: Source of power and culture. Papers from the Second International Sevgi Gönül Byzantine Studies Symposium, Istanbul 21–23 June 2010, Istanbul 2013, S. 13–18. Nigel Westbrook, The Great Palace in Constantinople. An architectural interpretation (Architectural Crossroads. Studies in the History of Architecture 2), Turnhout 2019, S. 190–193.
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mente untergliedert war. Der mittlere Bereich wurde von einer auf vier Bögen ruhenden Kuppel überspannt, während nördlich und südlich Seitenschiffe angeschlossen waren, die zum Hauptraum hin offen waren30. Die Fassade dürfte eine Länge von über 50 Metern gehabt haben31. Als Schwelle zwischen Stadt und Palastareal hatte im Zeremoniell, unter anderem als Beginn oder Ende von Prozessionen, spielte die Chalkē eine große Rolle32. Auch beim Triumphzug Kaiser Theophilos’ im Jahre 831 war vor der Chalkē ein Podium mit goldener Orgel und Thron aufgebaut worden33. Dürfen wir uns ähnliche bauliche Strukturen auch im Jahre 1043 vorstellen? In den Jahrhunderten zwischen diesen beiden Ereignissen hat sich die städtische Topographie rund um die Chalkē massiv verändert. Ihren ursprünglichen Zweck als Hauptportal des Palastes muss die Chalkē im Laufe des 10. Jahrhundert verloren haben, spätestens als Nikephoros II. Phokas im Jahre 969 die regelmäßig benutzten Palastbauten im Südwesten (Boukoleon) durch eine Mauer vom Rest der Anlage abtrennen ließ und man fortan in der Regel durch das Tor unterhalb des Kathisma im Hippodrom in den Palast gelangte34. Einige Jahre zuvor hatte Romanos I. Lakapenos dafür die Chalkē mit einer Christuskapelle ausstatten lassen, die nur über labyrinthartige Wendeltreppen erreichbar war, sich also zumindest im oberen Teil des Gebäudes, vermutlich aber eher auf dem Dach befunden haben muss35. Diesen Vorgängerbau ließ Ioannes I. Tzimiskes im Jahre 972 erheblich
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Vgl. die Beschreibung bei Prokop, Bauten 1.10.11–15 (Procopii Caesariensis Opera Omnia, Vol. IV: Peri Ktismaton libri VI sive De aedificiis cum duobus indicibus praefatione excerptisque Photii adiectis recognovit Jakob Haury. Editio stereotypa correctior addenda et corrigenda adiecit Gerhard Wirth, Leipzig 1964, S. 40). Vgl. Neslihan Asutay-Effenberger / Arne Effenberger, Zur Kirche auf einem Kupferstich von Ǧugas İnciciyan und zum Standort der Chalke-Kirche, in: BZ 97, 2004, S. 51–94, hier S. 52–53. 31 Westbrook, Great Palace, S. 181–196 und Idem, The Chalkê: The Bronze Gate of the Byzantine Great Palace, in: Julia Gatley (Hg.), Cultural crossroads. Proceedings of the 26th International SAHANZ Conference, 2–5 July 2009, Auckland 2009. 32 Vgl. Rodolphe Guilland, Sur les Itinéraires du Livre des Cérémonies, in: Athena 65, 1961, S. 74–100, Nachdr. in: Guilland, Topographie I, 217–248; Cyril Mango, The Brazen house. A study of the vestibule of the imperial palace of Constantinople (Arkaeologisk-kunsthistoriske Meddelelser udgivet af Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab 4/4), Kopenhagen 1959, S. 73–78. 33 De exped., S. 148, Z. 858–861 (Haldon): ἐν δὲ Χαλκῇ τοῦ παλατίου ἔστη ἔμπροσθεν τῆς πύλης πούλπιτον, καὶ εἰς τὸ ἓν μέρος τὸ χρυσοῦν ὄργανον τὸ λεγόμενον πρωτόθαυμα, εἰς δὲ τὸ ἕτερον μέρος τὸ χρύσοῦν καὶ διάλιθον, μέσον δὲ τούτων ὁ χρυσοῦς σταυρὸς καὶ διάλιθος ὁ μέγας. Vgl. Hunger, Reditus, S. 25. 34 Mango, Brazen house, S. 34–35; Leslie Brubaker, The Chalke Gate, the construction of the past and the Trier ivory, in: BMGS 23, 1999, S. 258–285. Zu dieser Phase der Palastentwicklung s. Cyril Mango, The Palace of the Boukoleon, in: Cahiers Archéologiques 45, 1997, S. 41–50; Featherstone, The Great Palace 58–59; Idem, Revival; Eugenia Bolognesi Recchi Franceschini / Jeffrey Michael Featherstone, The boundaries of the palace: De Ceremoniis II, 13, in: Mélanges Gilbert Dagron (= TM 14), Paris 2002, S. 37–46, hier S. 39–41. 35 Zur Kapelle: Scriptores Originum Constantinopolitanarum, recensuit Theodor Preger, Leipzig 1901, II S. 282 (cap. 3.213). Mango, Brazen house, S. 152 nimmt an, dass Romanos’ Kapelle auf
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erweitern und verschönern, wobei sich die neue Kirche nach Auskunft von Ioannes Skylitzes über einem Bogen des Chalkē-Tores erhoben haben soll36. Von diesem einzigartigen Bauwerk ist heute nichts mehr erhalten. Eine Identifikation der Anlage mit dem osmanischen Arslanhane („Löwenhaus“) wurde vorgeschlagen, das auch auf älteren Bildzeugnissen zu finden ist37. Bezüglich dieser Gleichsetzung gibt es jedoch auch kritische Stimmen38. Wie Michael Psellos in der zitierten Stelle richtig bemerkt, handelte es sich bei der Chalkē zum Zeitpunkt des Triumphzuges um ein Gefängnis. In den Patria Konstantinoupoleos ist überliefert, dass bereits Kaiser Herakleios I. (610–641) Teile der Chalkē zu einem Gefängnis umbauen habe lassen39. Eine Verwendung als solches ist dann wiederholt in den Quellen bis 1204 belegbar40. Wo genau die Zellen untergebracht waren, geht zwar aus den Texten nicht hervor, in Frage kommen aber im Grunde nur ebenerdige oder unterirdische Geschosse von Gebäudetrakten, die südlich oder nördlich an das Vestibül anschlossen41. einer Plattform neben dem Torbau errichtet worden sei. Die Beschreibung der Zugangssituation bei Leon Diak. 8.1 (S. 128–129 Hase) spricht aber eher für einen Aufgang innerhalb der Chalkē und nicht für einen Nebenbau. So auch Asutay-Effenberger / Effenberger, Standort, S. 54. 36 Skylitzes, S. 311, Z. 74–76 (Thurn): Ὁ δὲ βασιλεὺς χαριστήρια τῶν τροπαίων ἀποδιδοὺς τῷ σωτῆρι Χριστῷ ναὸν ἄνωθεν τῆς ἁψῖδος τῆς Χαλκῆς ἀνῳκοδόμησεν ἐκ καινῆς, μηδενὸς φεισάμενος τῶν εἰς πολυτέλειαν συντεινόντων καὶ κόσμον. Mango, Brazen house, S. 73–92 und bes. S. 152, Anm. 24 schließt das aus und bevorzugt eine Lokalisierung nördlich neben dem Torgebäude. 37 Im Untergeschoss hielten die Sultane Raubtiere, während in den oberen Räumen die Palastmaler untergebracht waren: Asutay-Effenberger/Effenberger, Standort, S. 51, 57–58. Vgl. auch die dort (Taf. I–VIII) gesammelten frühneuzeitlichen Abbildungen der Kirchenruine, bes. Abb. 1. Die wichtigste (und letzte) Bildquelle, der Kupferstich von Ǧugas İnciciyan aus dem Jahre 1804, findet sich auch in Wolfgang Müller-Wiener, Bildlexikon zur Topographie Istanbuls. Byzantion – Konstantinupolis – Istanbul bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Renate und Wolf Schiele, mit einem Beitrag von Nezih Fıratı, Tübingen 1977, S. 81, Abb. 62; Girgin, Porte monumentale, S. 265–267. 38 Nigel Westbrook, The Freshfield Folio view of the Hippodrome in Istanbul and the Church of St. John Diippion, in: Geoffrey Nathan / Lynda Garland (Hgg.), Basileia. Essays on imperium and culture in Honour of E. M. and M. J. Jeffreys (Byzantina Australiensia 17), Brisbane 2011, S. 231–262 und Idem, Chalkê (jeweils ohne Kenntnis der Publikation von Asutay-Effenberger/Effenberger). 39 Patria 3.15 (II 218 Preger). Mango, Brazen house, S. 152–153; Asutay-Effenberger/Effenberger, Standort, S. 55. 40 Theoph. Cont., S. 175, 430 (Bekker = S. 250, 39 Ševčenko) belegen die Verwendung für die Mitte des 9. und die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts. Laut Zonaras 18.1 (S. 656 Pinder/Büttner-Wobst) befreite der Usurpator Theodosios Monomachos im August 1056 die dort inhaftierten Gefangenen um die Zahl seiner Unterstützer zu vergrößern; vgl. Skylitzes, S. 481 (Thurn); Bourdara, Καθοσίωσις ΙΙ, S. 8–9 (Nr. 1); Cheynet, Pouvoir, S. 67 (Nr. 78). Noch unter Isaakios II. Angelos existiert das Gefängnis: Choniates, Hist., S. 443, 526 (van Dieten). Vgl. Mango, Brazen house, S. 34–35 (allerdings ohne die Stelle bei Psellos). 41 Vgl. Mango, Brazen house, S. 34: Die Funktion als Gefängnis „should probably be understood to mean that various dependencies and undergrounds of the monumental vestibule were used as prison cells.“ Diese Mutmaßung findet sich auch bei Ioanna Zervoù-Tognazzi, Propilei e Chalké. Ingresso principale del Palazzo di Costantinopoli, in: Bisanzio e l’Occidente. Arte, Archeo-
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Kehren wir nach diesen topographischen Überlegungen noch einmal zum Augenzeugenbericht des Michael Psellos zurück: Οὗτοι μὲν οὖν, οὓτω προῄρεσαν. ὁ δὲ αὐτοκράτωρ, λαμπρὸς πάνυ καὶ ὑψηλὸς προὐκάθητο τῆς ὅυτως λεγομένης Χαλκῆς Φυλακῆς μετ’ αὐτοῦ δὴ τοῦ θείου τεμένους, ὃ ὁ μέγας ἐν βασιλεῦσιν Ἰωάννης ἐκεῖνος ὁ μετὰ Φωκᾶν Νικηφόρον ἐδείματο42.
Die Wortwahl lässt offen, ob Konstantinos, Zoe und Theodora – ganz so wie Jahrhunderte vor ihnen Theophilos – v o r oder, unter Ausnutzung der neuen räumlichen Möglichkeiten, a u f dem Chalkē-Komplex (Psellos nennt ihn pars pro toto „Gefängnis“) thronten. Der Ausdruck προκάθημαι begegnet mehrfach in der Chronographia. Zumeist wird er absolut gebraucht und ist mit „thronen“ zu übersetzen43. Aufgrund des Genitivobjektes fällt diese Variante für unsere Stelle aus und müsste damit in seiner Grundbedeutung „v o r etwas sitzen“ wiedergegeben werden44. Allerdings verwendet Psellos das Wort mindestens einmal auch in Verbindung mit einem Objekt im Genitiv, wenn er beschreibt, dass Zoe und Theodora προὐκάθηντο γὰρ ἄμφω τοῦ βασιλικοῦ βήματος45. Ohne Zweifel ist hier gemeint, dass die beiden Kaiserinnen a u f dem Kaiserthron saßen, wobei die Präposition nur implizit enthalten ist. Unsere Textstelle dürfte einem analogen Muster folgen und so zu verstehen sein, dass die Hoheiten a u f dem Gebäude thronten46. So dürfte zumindest auch Ioannes Zonaras, der den Bericht des Psellos paraphrasierend wiedergibt, die räumliche Anordnung verstanden haben: „Ein Triumphzug wurde veranstaltet und der Kaiser thronte im dem Platz [scil. dem Augustaion] zuge-
logia, Storia. Studi in onore di Fernanda de’ Maffei, Rom 1996, S. 33–59. Janin, Constantinople, S. 108, 110–111, und Guilland, Topographie I, S. 7–32 gehen auf die Verwendung als Gefängnis nicht ein. Das Vorhandensein von Zellen würde auch die Hypothese einer nachträgliche Nützung als osmanisches Arslanhane („Löwenhaus“) (s. oben) unterstützen, in dem wilde Tiere untergebracht waren. 42 Psellos, Chron. 6.88 (S. 143, Z. 1–5 Reinsch). 43 Psellos, Chron. 2.6 (S. 27, Z. 5–6 Reinsch): αὐτὸς τὸ μὲν ὅσον ἐς τὸ χρηματίσαι πρέσβευσιν· ἢ ἄλλο τι τῶν ῥᾴστων διοικήσασθαι, προὐκάθητο μάλα βασιλικῶς· Ebd. 6.58 (S. 130, Z. 6–7 Reinsch): καὶ οἱ μὲν, προὐκάθηντο· ἡ δὲ σύγκλητος, ἐπὶ τῷ καινῷ εἰσῄεσαν γράμματι. 44 Bei dieser Gelegenheit sei auch darauf hingewiesen, dass die Übersetzung von Sewter, (Fourteen Byzantine rulers. The Chronographia of Michael Psellus. Translated, with an introduction, by E. R. A. Sewter. Revised edition, Harmondsworth 1966, S. 198–199: „The emperor, meanwhile, very distinguished and proud, was seated in front of the so-called Chalke Phylake, i n t h e a c t u a l p r e c i n c t of the sacred church …“) die Sachlage unnötig verkompliziert: „τέμενος“ (häufig, wie hier, in Kombination mit θεῖος) meint bei Psellos stets „Kirche“. Vgl. auch McCormick, Eternal victory, S. 182 („The emperor watched in pomp from its forecourt“), der aber davon ausgeht, dass das gesamte Tor zu einer Kirche umgebaut worden sei. 45 Psellos, Chron. 6.3 (S. 107, Z. 3–5 Reinsch): προκάθηντο γὰρ ἄμφω τοῦ βασιλικοῦ βήματος, ἐπὶ μιᾶς ὥσπερ γραμμῆς βραχύ τι πρὸς τὴν Θεοδώραν παρεγκλινούσης· καὶ ἀγχοῦ μὲν, οἱ ῥαβδοῦχοι καὶ ξιφηφόροι· καὶ τὸ γένος ὅσοι τὸν πέλεκυν ἀπὸ τοῦ δεξιοῦ ὤμου κραδαίνουσι· 46 So auch die jüngste Übersetzung von Reinsch, Chronographia, S. 405: „thronte der Autokrator in vollem Glanz hoch oben auf dem Chalke-Gefängnis“
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wandten Vorhof (protemenisma) der Erlöserkirche bei der Chalkē“47. Zonaras, und mit ihm auch die moderne Forschung48, verortet die Majestäten demnach vor der Kirche, also oberhalb des Torbogens. Dies wiederum führt zur Frage, wo sich das Protemenisma befunden haben soll49. Mit einem veritablen Atrium wird aufgrund des knappen Platzangebots wohl nicht zu rechnen sein. Die Möglichkeit, sich oben auf der Chalkē zu präsentieren, scheint es zur Zeit des Triumphzuges aber auf jeden Fall gegeben haben: Am 9. März des Jahres 1044, also ein knappes Jahr nach dem Triumphzug, begab sich Konstantinos IX. mit großer Eskorte zur Erlöserkirche bei der Chalkē. Als er dort sein Pferd besteigen wollte, um sich zur Kirche der Vierzig Märtyrer zu begeben, entlud sich der Zorn des Volkes, das lautstark seinen Unmut gegenüber der Mätresse des Kaisers, Maria Skleraina, kundtat. Der Tumult hätte den Kaiser das Leben kosten können, so die Chronik des Ioannes Skylitzes, wären nicht in letzter Sekunde Zoe und Theodora „von oben“ (anōthen) erschienen, um die aufgebrachte Menge zu beruhigen50. Man wird sich demnach zumindest eine Art Balkon oder Brüstung oberhalb des Tores vorzustellen haben51. Konstantinos nützte demnach die inszenatorischen Möglichkeiten, die sich aus den Umbauten der Chalkē im 10. Jahrhundert ergeben hatten. Im Gegensatz zu Kaiser Theophilos, der im Jahre 831 (oder 837) noch mit einem Bühnenaufbau vor dem Tor Vorlieb hatte nehmen müssen, konnte er seine Erhabenheit nun auch durch eine größere Distanzierung von Umzug und Publikum zum Ausdruck bringen. Der gewählte Platz verfügte auch über großes symbolisches Potenzial. Die Chalkē markierte die Schwelle zwischen öffentlichem Raum und Palast, selbst nachdem sie
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Zonaras 17.22 (S. 623, Z. 19–21 Büttner-Wobst): θρίαμβος γίνεται, τοῦ βασιλέως ἐν τῷ πρὸς τὴν ἀγορὰν ἐπεστραμμένῳ προτεμενίσματι τοῦ ἐν τῇ Χαλκῇ λεγομένῃ τοῦ Σωτῆρος ναοῦ προκαθημένου. 48 Mango, Brazen house, S. 152–153; Asutay-Effenberger/Effenberger, Standort, S. 55. 49 Vgl. die entsprechende Aporie bei Asutay-Effenberger/Effenberger, Standort, S. 79. Προτεμένισμα muss kein großes Atrium bedeuten. In diesem Fall kann auch schlicht gemeint sein, dass das Kaiserkollegium vor dem Eingangsbereich der Kirche thronte. Vgl. LBG, s. v.: „Vorhalle“, „Narthex“; Christos Theodoridis, Photii patriarchae lexicon I–III, I (Α–Δ), II (E–M), III (N–Φ), Berlin/New York 1982, 1998, 2013, III 287, setzt προτεμενίσματα mit προπύλαια gleich, ebenso wie Hesychii Alexandrini Lexicon, III: Π–Σ, editionem post Kurt Latte continuans recensuit et emendavit Peter A. Hansen (Sammlung griechischer und lateinischer Grammatiker 11/3), Berlin/New York 2005, Nr. 3976. Vgl. auch Anastasios K. Orlandos / Ioannis N. Traulos, Λεξικόν ἀρχαιῶν ἀρχιτεκτονικῶν ὅρων (Bibliotheke tes en Athenais Archaiologikes Hetaireias 94), Athen 1986, S. 225. 50 Skylitzes, S. 434, Z. 60–63 (Thurn): καὶ εὐθὺς συνεχύθη τὰ πάντα, καὶ ταραχὴ κατέσχε τὸ πλῆθος, καὶ ἐζήτει τὸν βασιλέα διαχειρίσασθαι. καὶ εἰ μὴ τάχιον αἱ βασιλίδες προκύψασαι ἄνωθεν κατεστόρεσαν τὸ πλῆθος, ἀπωλώλεισαν ἂν οὐκ ὀλίγοι, ἴσως δὲ καὶ αὐτὸς ὁ βασιλεύς. 51 Asutay-Effenberger/Effenberger, Standort, S. 61 führen eine osmanische Miniatur der Arslanhane/Chalkē-Kirche aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts an, auf der Sultan Ahmet III. von einem Balkon über einem Tor aus eine Parade der Janitscharen abnimmt (Cod. A. 3593 der Topkapı Sarayı Kütüphanesi, Fol. 16A). Eine Abbildung findet sich bei Filiz Çağman, Saray Nakkaşhanesinin Yeri Üzerine Düşünceler, in: Sanat Tarihinde Doğudan Batıya: Ünsal Yücel Anısına Sempozyum Bildirileri, Istanbul 1989, S. 35–46, hier S. 43, Abb. 4.
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ihre Funktion als Hauptportal bereits eingebüßt hatte52. In der Symbolik des Zeremoniells stand jedoch nie die Funktion des Tores als verbindender Durchlass im Mittelpunkt, sondern jene als trennende Schwelle, die nur von ausgewählten Personen übertreten werden durfte. Bezeichnenderweise endete auch die Parade im Sommer 1043 vor dem Tor – selbst nach ihrer Niederlage sollten die Feinde des Kaisers nicht in den Palast vordringen können53. Möglicherweise wies die Wahl des Ortes noch eine weitere symbolische Facette auf, die den Kaiser nicht nur als Torwächter, sondern auch als Richter für die vor ihn geführten Gefangenen in Szene setzte, denn Basileios I. (867–886) hatte die Chalkē renovieren und mit einem Gerichtshof ausstatten lassen54. Ob dieser im 11. Jahrhundert noch aktiv war, ist nicht überliefert, aber angesichts des gut dokumentierten benachbarten Gefängnisses vorstellbar55. Die Route, die Anordnung des Zuges mit Gefangenen, Gardetruppen und dem siegreichen General auf einem Pferd im hinteren Teil des Zuges – all das folgte bekannten Mustern. Während jedoch andere Feldherren die mitgeführten Gefangenen nach Stattlichkeit auswählten und neu einkleideten, um den Eindruck von der Großartigkeit des errungenen Sieges noch zu erhöhen56, legte Konstantinos IX. den Fokus auf die Demütigung des geschlagenen Feindes. Auch der aufgespießte Kopf des Maniakes weist in diese Richtung. Ohne Zweifel gewann das Ereignis dadurch an Unterhaltungswert, büßte dabei aber zugleich seinen solennen Charakter ein. Auch die in anderen Fällen wahrnehmbare religiöse Facette von Triumphzügen ist – bis auf die Einbeziehung der Chalkē-Kirche – nicht erkennbar. Trotz des profanen und derben Charakters des Triumphzuges konnte Konstantinos seine eigene Ehrwürdigkeit wahren, indem er dem Spektakel nur als beobachteter Zuseher und nicht als aktiver Teilnehmer beiwohnte57.
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Zum Bedeutungsverlust der Chalkē als Tor und Empfangsgebäude s. oben, S. 182. Trotzdem spielte sie im Zeremoniell weiterhin eine Rolle als Start- oder Endpunkt von Prozessionen, so auch bei der eben erwähnten Prozession vom 9. März 1044: Skylitzes, S. 434 (Thurn). Zur Symbolfunktion der Chalkē s. Brubaker, Chalke Gate, S. 259. Auch die spärlichen anderen überlieferten Beschreibungen von Triumphzügen gegen äußere Feinde lassen eine sehr starke Flexibilität und bewusste individuelle Wahl von Raum und Symbolik erkennen. Vgl. McCormick, Eternal victory. Theoph. Cont., S. 259–260 (Bekker = 120 Ševčenko). Vgl. Mango, Brazen house, S. 34; Brubaker, Chalke Gate, S. 259; Robert Ousterhout, Reconstructing ninth-century Constantinople, in: Leslie Brubaker (Hg.), Byzantium in the ninth Century: Dead or alive?, Hampshire 1998, S. 115–130, geht nicht auf die Chalkē ein. S. oben, S. 183. So Nikephoros Phokas nach der Eroberung Kretas: Leon Diak. 2.8 (S. 27 Hase) oder Manuel I. nach seinem Ungarnfeldzug (1152): Choniates, Hist., S. 93 (van Dieten); vgl. Hunger, Reditus, S. 32. Vgl. hierzu Kapitel 3.3.3.
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Voraussetzungen Die wenigen Beispiele machen deutlich, dass Triumphzüge bei der Feier von Siegen gegen Usurpatoren nicht die Regel waren. Sehr wohl aber fand das Ritual relativ regelmäßig statt wenn byzantinische Heere äußere Feinde bezwungen hatten. Hatten die Byzantiner – wie schon einst ihre römischen Ahnen – Skrupel, in Bürgerkriegen errungene Triumphe und das auf beiden Seiten vergossene römische Blut zu feiern?58 Zumindest Michael Attaleiates äußert sich kritisch gegenüber dem Spektakel nach der Unterwerfung Roussels von Bailleul und des von ihm als Gegenkaiser installierten Ioannes Dukas59: Erstaunen erfüllte [die verständigen Männer] darüber, wie römische Generäle, die mit solchem Prunk und Glanz gegen ihre Landsmänner in den Krieg gezogen waren, nun so ehrlos, trübsinnig, schäbig und niedergeschlagen zurückkehrten. Anstelle eines glänzenden und ruhmreichen Triumphzuges, wie ihn früher die alten Römer abgehalten hatten, veranstalteten sie ein äußerst schäbiges Spektakel, indem sie nicht nur die Niederlage ihrer Kameraden, sondern auch ihren eigenen Kummer und hartes Los schmerzlich zur Schau trugen. Welch deutlicheres Anzeichen für die das Missfallen Gottes könnte es geben als dies?60
Diese Kritik dürfte jedoch weniger aus Attaleiates’ Moralverstellungen resultieren als vielmehr durch seine tiefe Abneigung gegen den siegreichen Kaiser Michael VII. Dukas motiviert sein. Selbst in einer ruhmreichen Parade konnte sich aus Sicht des Historiographen nur die Schlechtigkeit und Verkommenheit der Regierung manifestieren. Vergleichbare Kritik ist ansonsten kaum anzutreffen. Im Grunde hatten die byzantinischen Kaiser kein Problem damit, ihre Siege gegen Thronprätendenten feierlich zu begehen. Die geringe Zahl an Triumphzügen resultiert vielmehr vor allem daraus, dass Usurpatoren nur selten in Schlachten außerhalb Konstantinopels geschlagen wurden. In 58 59
Beard, Roman triumph, S. 123. Die Rolle, die Ioannes Dukas in dieser Affäre wirklich spielte, ist unklar. Attaleiates, S. 146 (Tsolakes), Zonaras, S. 710–711 (Pinder/Büttner-Wobst) und Skylitzes continuatus, S. 159 (Tsolakes) beschreiben ihn als Gefangenen und Marionette Roussels. Einzig in der Version des Nikephoros Bryennios (2.17, S. 177–179 Gautier) tritt Ioannes aktiver auf und unterstützt den Plan. Dies ist umso bemerkenswerter, als Bryennios vermutlich direkt auf eine Quelle aus dem Umfeld des Ioannes oder sogar auf dessen eigene Memoiren zurückgriff. S. hierzu Leonora Neville, A history of the Caesar John Doukas in Nikephoros Bryennios’ Material for History?, in: BMGS 38/2, 2008, S. 168–188 und Eadem, Heroes and Romans in twelfth-century Byzantium: The Material for History of Nikephoros Bryennios, Cambridge 2012, S. 49–59. 60 Attaleiates, S. 149, Z. 19–28 (Tsolakes): Ἐπῄει οὖν θάμβος τοῖς ὅπως οἱ Ῥωμαίων ἀρχηγοὶ μετὰ τοσαύτης περιφανείας καὶ λαμπρότητος κατὰ τῶν ὁμοφύλων ἐπιστρατεύοντες οὕτως ἀτίμως καὶ γοερῶς καὶ μετὰ τοιαύτης εὐτελείας καὶ δυσθυμίας πεποίηνται τὴν ἐπάνοδον, ἀντὶ τοῦ πρὶν τελουμένου τοῖς πάλαι Ῥωμαίοις λαμπροῦ καὶ στεφανηφόρου θριάμβου καταγέλαστον κατάγοντες καὶ πανευτελέστατον θέατρον, τὴν ἧτταν οὐ τῶν συστρατιωτῶν μόνον ἀλλὰ καὶ τὴν ἑαυτῶν κακοπάθειαν καὶ σκληροτυχίαν ὀδυνηρῶς θριαμβεύοντες. Tί τούτου γένοιτ’ ἂν διαδηλότερον θεοβλαβείας ὑπόδειγμα;
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solchen Fällen – wie bei Bardas Phokas oder Stephanos Pergamenos – konnte durchaus ein großer Triumphzug inklusive Zurschaustellung von Gefangenen veranstaltet werden. Der Grad an Öffentlichkeit der Siegesfeier verhielt sich proportional zur potenziellen Bedrohung. Während Verschwörungen innerhalb des Palastes meist nur für den regierenden Kaiser und seine Unterstützer Gefahren bargen, bedeuteten abtrünnig gewordene Generäle, die sich mit militärischer Unterstützung den Weg auf den Thron erst erkämpfen mussten, eine Bedrohung für die gesamte Bevölkerung Konstantinopels und seines Umlandes. Es kann daher kaum verwundern, dass gerade Siege gegen solche Aggressoren von Kaiser und Volk gemeinsam im öffentlichen Raum zelebriert wurden. Die meisten Usurpatoren fielen jedoch nicht im Kampf in die Hände des Kaisers, sondern nach Verrat oder Flucht bzw. wurden des Hochverrats überführt noch bevor es zu bewaffneten Zusammenstößen kam. Einzelne Kaiser schreckten zwar nicht davor zurück, auch bescheidene kriegerische Erfolge mit größtem Aufwand zu feiern61, doch niemals ging man soweit, nach einem gänzlich ohne militärische Mittel erfochtenen Sieg einen Triumphzug zu veranstalten. Alternative Paraden Auf eine öffentliche Zurschaustellung des Triumphes musste jedoch auch dann nicht verzichtet werden, wenn der Majestätsverbrecher mit nicht-militärischen Mitteln bezwungen wurde. In solchen Fällen wurden die Rädelsführer von Usurpationen häufig Schandparaden unterzogen, die an späterer Stelle noch ausführlicher zu behandeln sind62. Im Gegensatz zu Triumphzügen waren diese nicht militärisch konnotiert, sondern fanden auch bei der Bestrafung gewöhnlicher Verbrecher Anwendung und waren somit für jede Art von Majestätsverbrechen angemessen. Im Gegensatz zu Siegen gegen äußere Feinde war zudem bei Siegen gegen Usurpatoren kaum mit exotischen Beutestücken oder spektakulären Trophäen – man denke an die erbeutete Theotokos-Ikone durch Ioannes I. Tzimiskes nach seinem Sieg gegen die Bulgaren (971)63 oder die Demontage der Stadttore von Tarsos und Mopsuestia durch Nikephoros II. Phokas64 – zu rechnen. Der Fokus der Botschaft verschob sich zwangsläufig vom siegreichen Kaiser und seinen Truppen zur Niederlage des Gegners. Die Macht des Kaisers, dessen Würde es verbot sich dem derben Treiben aktiv anzuschließen, artikulierte sich nicht in der Stärke seiner Truppen, der Zahl der überwundenen Feinde und der Menge an Beutestücken, sondern in der Verhöhnung seiner Gegner, die den Versuch unternommen hatten, seine gottgegebene Stellung in Frage zu stellen. 61 62 63 64
So beispielsweise Basileios I. nach seinem Feldzug gegen die Paulikianer: De exped., S. 140–146 (Haldon); vgl. McCormick, Eternal victory, S. 154, 197. Vgl. Kapitel 3.3.3. Leon Diak. 10.12 (S. 157–159 Hase); Skylitzes, S. 310 (Thurn); Zonaras 17.4 (S. 535–536 Pinder/ Büttner-Wobst); vgl. Hunger, Reditus, S. 29; McCormick, Eternal victory, S. 173–174. Skylitzes, S. 270 (Thurn); Zonaras 16.25 (S. 502–503 Pinder/Büttner-Wobst); vgl. McCormick, Eternal victory, S. 169–170.
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Rennen und liturgische Feiern Im alten Rom wurden Triumphzüge oft von Gladiatorenkämpfen oder Tierhetzen begleitet65. Im hellenistisch und christlich geprägten Konstantinopel hatten sich hingegen schon vom 4. Jahrhundert an Wagenrennen als bevorzugte Form der Massenunterhaltung und dementsprechend auch im Rahmen von Siegesfeiern etabliert66. Das Hippodrom diente zudem in zunehmendem Maße auch als Bühne für kaiserliche Triumphe und avancierte so zum deutlichsten architektonischen Siegessymbol Konstantinopels67. Bei Triumphfeiern nach dem Sieg gegen äußere Feinde und – seltener – Usurpatoren stellten die Rennen vor allem im 10. Jahrhundert und sporadisch bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts ein beliebtes Zusatzelement dar68. Im Untersuchungszeitraum werden Wagenrennen explizit bei der Schandparade des Basileios Peteinos und seiner Mitverschwörer (960/61) erwähnt. Die Parade dürfte in diesem Fall nicht der Anlass für die Rennen gewesen zu sein. Im Gegenteil scheint man einen Renntag abgewartet zu haben, um diesen für die Zurschaustellung der Usurpatoren zu nützen69. Auch an die Bestrafung des Theophilos Erotikos im Hippodrom (1042) dürften sich sportliche Wettkämpfe angeschlossen haben70. Siegesfeiern konnten bisweilen auch mit liturgischen Dankesfeiern in Gestalt von Gottesdiensten oder Prozessionen verbunden sein. Eine Beteiligung von Klerikern an kaiserlichen Triumphen ist bereits ab dem 4. Jahrhundert belegt71 und insgesamt lässt
65 Vgl. André Piganiol, Recherches sur les jeux romains (Notes d’archéologie et d’histoire religieuse. Publications de la Faculté des lettres de l’Université de Strasbourg), Straßburg 1923, S. 75, 83–84; Versnel, Triumphus, S. 103–104; McCormick, Eternal victory, S. 17. 66 Gilbert Dagron, L’hippodrome de Constantinople. Jeux, peuple et politique (Bibliothèque des Histoires), Paris 2011, bes. S. 13–25; zum Ablauf der Rennen s. Idem, L’organisation et le déroulement des courses d’après le Livre des Cérémonies, in: TM 13, 2000, S. 1–200; McCormick, Eternal victory, S. 42. 67 McCormick, Eternal victory, S. 93. 68 Im Rahmen von Triumphzügen ließ beispielsweise Kaiser Theophilos Wagenrennen abhalten (831/37): De exped., S. 150 (Haldon); Georg. Mon. Cont., S. 798 (Bekker). Mit Wagenrennen und Schauspielen beging Basileios Hexamilites im Herbst 956 seinen Seesieg gegen die Araber: De cerim. 2.19 (Bd. I, S. 607 Reiske). Nikephoros II. feiert nach der Eroberung von Tarsos und Mopsuestia einen Triumph und veranstaltet danach Rennen: Leon Diak. 4.4 (S. 61 Hase); Skylitzes, S. 470 (Thurn); Zonaras 16.25 (S. 502–503 Büttner-Wobst). Nach der Niederschlagung des bulgarischen Aufstandes unter Peter Deljan veranstaltete Michael IV. 1041 einen triumphalen Einzug in Konstantinopel bis zum Palast, wobei die Gefangenen durch das Hippodrom geführt wurden: Psellos, Chron. 4.49–51 (S. 76–78 Reinsch). Danach ließ er Wettkämpfe abhalten: Attaleiates, S. 8, Z. 17–18 (Tsolakes): κατηγάγετο θρίαμβον, καὶ ἀγῶνα ἱππικόν τε καὶ πεζικὸν ἑορτάσας. Vgl. Dagron, Hippodrome, S. 25–28; Rodolphe Guilland, La disparition des Courses, in: Mélanges offerts à Octave et Melpo Merlier, Athen 1955, S. 1–17, Nachdr. in: Guilland, Topographie I, S. 542–555. 69 Skylitzes, S. 251, Z. 72–74 (Thurn): καὶ κατ’ αὐτὴν τὴν τοῦ ἀγῶνος ἡμέραν θριαμβευθέντες, ἐξορίᾳ παρεπέμφθησαν καὶ ἀπεκάρησαν μοναχοί. 70 Zur Spottparade des Theophilos Erotikos s. Appendix, S 14. 71 Der früheste Beleg für eine vom Kaiser verordnete Dankesmesse nach einem Sieg gegen einen Usurpator datiert aus dem Jahr 394. Danach hielten immer mehr christliche Praktiken Einzug in
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sich bis zum hier untersuchten Zeitraum eine stetige Verchristlichung der Triumphe feststellen72. Dankgottesdienste waren zu einem fixen Bestandteil von Siegesfeiern avanciert73, weshalb diese Verbindung zumindest auch für die wenigen oben angeführten Fälle nach Siegen gegen Usurpatoren anzunehmen ist. Schandparaden scheinen hingegen nie mit liturgischen Elementen versetzt worden zu sein und somit ihre betont profane Sphäre nie verlassen zu haben74. Selbst der erwähnte Triumphzug des Stephanos Pergamenos, an dem Kaiser Konstantinos IX. nicht aktiv teilnahm und bei dem der Fokus auf der Verspottung der Gefangenen lag, scheint ohne abschließenden Gottesdienst in der Hagia Sophia ausgekommen zu. Michael Psellos betont, der Kaiser habe sich unmittelbar nach Abnahme der Parade in den Palast zurückgezogen. Eine Dankesmesse hatte er schon vor dem Umzug gefeiert75. 3.1.2 Der Kopf des Usurpators Im Kontext des erwähnten Triumphzuges von Stephanos Pergamenos wurde auch der abgetrennte und auf eine Lanze gespießte Kopf des bezwungenen Usurpators Georgios Maniakes mitgeführt. Das makabre Detail faszinierte den Maler der entsprechenden Miniatur im Skylitzes Matritensis offenbar so sehr, dass es die Szene dominiert (Abb. 8). Auch das Publikum wird die Vorstellung als außergewöhnlich emfunden haben, zumal die Verwendung von Kopftrophäen bei Siegesfeiern im Untersuchungszeitraum nicht sehr oft belegt ist. Dennoch war sie ein fixer Bestandteil des rituellen Repertoires und verdient eine genauere Betrachtung.
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die Siegesfeiern. Theodosios II. beispielsweise ließ aus Freude über die Beseitigung des Usurpators Ioannes (425) die Wagenrennen abbrechen und zunächst einen Dankgottesdienst, später auch eine Prozession abhalten: McCormick, Eternal victory, S. 45, 59–60. Besonders an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert lässt sich eine „liturgification of victory celebrations“ (McCormick, Eternal victory, S. 63) erkennen. Stark religiös geprägt waren beispielsweise die Rückkehr Herakleios’ I. aus den Perserkriegen (628) und die Triumphzüge von Theophilos (831/37) und Basileios’ I. (873/79). Konstantinos VII. vollzog 956 auf dem Konstantinsforum eine calcatio colli bei einem unterworfenen arabischen Emir. Die Feier umfasste auch liturgische Prozessionen, die mit der Anwesenheit des Patriarchen und der Theotokoskirche am Forum in Verbindung standen: De cerim. 2.19 (Bd. I, S. 607–612 Reiske). Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem Verzicht des Ioannes Tzimiskes, den Triumphwagen zu besteigen und stattdessen eine im Bulgarenkrieg erbeutete Ikone darauf zu platzieren (971). Basileios II. feierte nach seinem Sieg gegen die Bulgaren einen Dankgottesdienst in Athen, bevor er triumphierend in Konstantinopel einzog. Zu den genannten Beispielen s. McCormick, Eternal victory, S. 71–73, 147–149, 154–157, 160, 163, 171–175; Hunger, Reditus, S. 20, 23–25, 29–30. Vgl. Kapitel 3.3.3. Psellos, Chron. 6.86, 6.88 (S. 142–143 Reinsch).
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Abb. 8 Georgios Maniakes’ Kopf auf einer Lanze. Biblioteca Nacional de España, Cod. Vitr. 26–2, f. 224v (unten)
Sich des Kopfes eines erschlagenen Feindes als Trophäe zu bemächtigen war eine in zahlreichen kriegerisch geprägten Kulturen verbreitete Praxis76. Mehr als jeder andere Körperteil macht er die Identität und Individualität eines Menschen aus. Auf mystisch-psychologischer Ebene führte diese Eigenschaft wohl zu der Annahme, dass die Stärke des Verlierers durch das Abtrennen des Kopfes auf seinen Bezwinger übergeht77. Als Trophäe kommunizierte das Haupt zudem die Niederlage des Feindes, den man nun noch im Tode verspotten konnte. Auch den Römern war die Praxis vertraut78. Seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. lässt sich die Tendenz erkennen, dass Köpfe – speziell
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S. die Bibliographie bei Jean-Louis Voisin, Les Romains, chasseurs de têtes, in: Du châtiment dans la cité. Supplices corporels et peine de mort dans le monde antique. Table ronde organisée par l’École Française de Rome avec le Concours du Centre national de la recherche scientifique, Rome 9–11 novembre 1982 (Collection de l’École française de Rome 79), Rom 1984, S. 241–293, hier 241–242, besonders Anm. 1–4, mit Berücksichtigung ethnologischer Literatur zur Kopfjagd auch bei außereuropäischen Kulturen. Voisin, Chasseurs de têtes, S. 274. Die ersten schriftlichen Belege für die Kopfjagd bei den Römern bewegen sich zwischen Historie und Legende und stehen in Zusammenhang mit den Gründungsmythen der Stadt. Hier ist der kriegerische Ursprung noch am klarsten erkennbar: Zumeist sind es Zweikämpfe zwischen namentlich genannten Helden, wobei es dem Sieger in erster Linie um den erworbenen Ruhm geht. Ab der Mitte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts läuft die Kopfjagd bisweilen weit weniger heroisch ab. Prämien werden auf Häupter römischer Bürger ausgesetzt, Meuchelmorde ersetzen den Kampf Mann gegen Mann. In zunehmendem Maße begegnen auch abgeschlagene Köpfe von Frauen. In der Kaiserzeit schließlich finden Enthauptungen noch häufiger statt und werden sozusagen zu einem üblichen Mittel der staatlichen Exekutive. Als unrechtmäßige Grausamkeit galt der Akt nur dann, wenn er als willkürliches Mittel zur Erlangung eines persönlichen Vorteils benutzt wurde. Vgl. Voisin, Chasseurs de têtes, S. 263–267, 276–278.
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jene von Usurpatoren und Thronkonkurrenten – immer häufiger im Reich umher geschickt und/oder an medial wirksamen Orten auf Speeren oder Pflöcken aufgepflanzt werden79. Auch für Paraden wurden die schauerlichen Trophäen herangezogen, etwa als die Köpfe des Usurpators Maximinus und seines Sohnes schon im Jahre 238 feierlich in Rom empfangen und durch die Straßen getragen wurden80. Den eigentlichen Triumphzügen der römischen Republik und des Prinzipats war das Mitführen von menschlichen Körperteilen als Trophäen fremd, selbst dann, wenn Gefangene im Rahmen des Triumphzugs hingerichtet wurden81. Der Sieg Konstantins des Großen an der Milvischen Brücke im Oktober 312 war der erste Anlass, bei dem es zu einer nachweislichen Verbindung eines Triumphzuges mit der Zurschaustellung eines abgeschlagenen Kopfes kam82. Konstantins Rivale Maxentius war bei der Schlacht in den Tiber gestürzt und ertrunken. Seinen Leichnam barg man jedoch und trennte ihm den Kopf ab, um ihn im Anschluss in einem Triumphzug durch die Straßen Roms zu tragen. Symbolisch nahm der Kopf auf der Lanze den Platz des unterworfenen feindlichen Heerführers ein. Eine zeitgenössische Quelle überliefert die Reaktionen des Publikums: Nachdem daher der Körper gefunden und verstümmelt worden war, wurde das gesamte römische Volk von Freude und Rachlust ergriffen. Wo immer in der ganzen Stadt auch der Kopf, der auf eine Lanze gesteckt worden war, herumgetragen wurde, ließ man nicht davon ab, diesen als Sühneopfer zu entehren während man ihn ungestraft verspottete, weil das eben die Späße bei einem Triumphzug sind83.
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Siehe die Auflistungen bei Voisin, Chasseurs de têtes, S. 248–252 und Szidat, Usurpator, S. 326, Anm. 1356. Beispiele aus der Zeit der Republik bei Jan den Boeft / Jan W. Drijvers / Daniël den Hengst / Hans C. Teitler, Philological and historical commentary on Ammianus Marcellinus XXVI, Leiden/Boston 2008, S. 277. 80 Herodian 8.6.6–7 (Herodiani Ab Excessu Divi Marci Libri Octo, edidit Kurt Stavenhagen, Stuttgart 1922, Nachdr. 1967, S. 217–218). 81 Vgl. Östenberg, Staging the world, S. 128–163; Beard, Roman triumph, S. 118–132. Iulius Caesar führte laut Appian, Bella Civilia 2.101 (Appian’s Roman History III. The Civil Wars. With an English translation by Horace White, Cambridge, MA 41964, 414) bei der Parade nach seinem Triumph in Ägypten lediglich ein Bild von der Enthauptung des Potheinos mit. 82 Zu Konstantins Triumphzug s. Christian Ronning, Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin. Studien zur symbolischen Kommunikation in der römischen Kaiserzeit (Studien und Texte zu Antike und Christentum 42), Tübingen 2007, S. 331–333; Raymond van Dam, Remembering Constantine at the Milvian Bridge, Cambridge 2011, S. 144–145; McCormick, Eternal victory, S. 36; Beard, Roman triumph, S. 124–128; Franz Altheim, Konstantins Triumph von 312, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 9, 1957, S. 221–231 geht nicht auf die Kopftrophäe ein. 83 Panegyrici Latini 9.18.3 (Bd. II, S. 138 Galletier): Reperto igitur et trucidato corpore universus in gaudia et vindictam populus Romanus exarsit nec desitum tota urbe, qua suffixum hasta ferebatur, caput illud piaculare foedari, cum interim, ut sunt ioci triumphales, rideretur gestantis iniuria … Vgl. auch Panegyrici Latini (Nazarius) 10.31.4–5 (Bd. II, S. 191 Galletier): Sequebatur hunc comitatum suum tyranni ipsius taeterrimum caput ac, si qua referentibus fides est, suberat adhuc saevitia et horrendae frontis minas mors ipsa non vicerat. Iaciebantur vulgo contumeliosissimae uoces. Nam et Iudibriis op-
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Vom Einzug Konstantins in Rom an – und verstärkt ab dem 5. Jahrhundert – wurde es zur gängigen Praxis, Köpfe geschlagener Feinde im Rahmen von Siegesfeiern auf Lanzen durch die Straßen zu tragen84. Daneben begegnen weiterhin auch jene Fälle, in denen nur von der Überbringung oder einer statischen Zurschaustellung von Köpfen die Rede ist, wenngleich dies eine Parade innerhalb der Stadt freilich nicht ausschließt85.
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pressoris sui auspicari libertatem iuvabat et mira cum voluptate conceptus e vita terror insultatione interitus obterebatur. Der Kopf des Usurpators Nepotius wird auf einem Speer durch Rom getragen (350): Nepotiani caput pilo per urbem circumlatum (Chronica minora. Saec. IV, V, VI, VII, edidit Theodor Mommsen, I–II [MGH SS Auct. Ant. 9, 11], Berlin 1892–1893, I S. 454); die ähnliche Formulierung lässt darauf schließen, dass auch Magnentius’ Kopf nach seinem Tod nicht nur im Reich umhergeschickt worden sein dürfte, sondern dass es auch zu einem Umzug kam (353): ut Iuliani ad eos mitteret caput perduellis ingrate specie illa, qua Magnentii circumlatum meminerat caput … (Ammianus 22.14.4 [Bd. III S. 48 Seyfarth]); Der Kopf des Usurpators Eugenius (394) wurde in seinem eigenen Heerlager auf einer Lanze herumgetragen: Zosimos 4.58.3 (Bd. II/2, S. 327–328 Paschoud); jenen des Praefectus Praetorio Rufinus trug man durch Konstantinopel (395): Zosimos 5.7.6. (III, S. 14 Paschoud); Philostorgios 11.3 (S. 135 Bidez); im Jahre 425 wurde der Usurpator Johannes nach einer Schandparade im Zirkus von Aquileia enthauptet: Philostorgios 12.13 (S. 149 Bidez), Prokop, Kriege 3.3.9 (Procopii Caesariensis Opera Omnia, Vol. I: De Bellis Libri I–IV, recognovit Jakob Haury. Editio stereotypa correctior addenda et corrigenda adiecit G. Wirth, Leipzig 1962, S. 320); der Kopf von Denzegich, einem Sohn Attilas, wurde in Konstantinopel während der Pferderennen im Hippodrom präsentiert und danach in einer Parade über die Mesē getragen, um schließlich außerhalb der Stadtmauern ausgestellt zu werden (469): Chron. Min. II, S. 90 (Mommsen); vgl. Chronicon Paschale. Exemplar Vaticanum, recensuit Ludwig Dindorf, I– II (CSHB), Bonn 1832, I, S. 598. Kaiser Zeno ließ 488 aus Verdacht auf Hochverrat die Isaurier Leontius und Illus töten, ihre Köpfe nach Konstantinopel tragen und im Hippodrom ausstellen. Danach folgte eine weitere Zurschaustellung bei Hagios Konon in Sykai (Galata): Ioannis Malalae Chronographia, recensuit Hans Thurn (CFHB 35). Berlin/New York 2000, S. 315 (cap. 15.14), Theophanes AM 5980 (S. 132 de Boor), Chron. Min. II, S. 93 (Mommsen); zu Sykai vgl. Janin, Constantinople, S. 466–467. Nach der Niederschlagung einer isaurischen Revolte wurden die Köpfe der Rädelsführer nach Auskunft des Euagrios 3.35 (The Ecclesiastical History of Evagrius. With the scholia, edited with introduction, critical notes, and indices by Joseph Bidez / Léon Parmentier, London 1898, Nachdr. Amsterdam 1964, S. 134–135) an Kaiser Anastasios I. gesandt und danach ebenfalls in Sykai auf Lanzen aufgespießt (498). Sein Bericht enthält auch eine der raren Schilderungen der Publikumsreaktion: ἡδὺ θέαμα τοῖς Βυζαντίοις ἀνθ’ ὧν κακῶς πρὸς Ζήνωονς καὶ Ἰσαύρων ἐπεπόνθεσαν. Theophanes AM 5988 (S. 139–140 de Boor) fügt hinzu, dass auch eine Parade im Rahmen von Rennen im Hippodrom stattgefunden habe. Die Chronik des Marcellinus (Chron. Min. II, S. 95 [Mommsen]) spricht von Hinrichtungen erst nach der Parade. Nur ein Athenodoros sei bereits davor enthauptet worden. Seinen Kopf habe man vor der Stadt Tarsos in Kilikien aufgestellt. Die Schilderung von Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches, Stuttgart 2009, S. 142, der Kaiser habe die Rebellenführer lebend nach Konstantinopel schaffen und dort öffentlich enthaupten lassen, ist durch die Quellen nicht belegbar. Vgl. allgemein zu den genannten Fällen Szidat, Usurpator, S. 325–326, Anm. 1356; McCormick, Eternal victory, S. 36–63, besonders 40–46, neigt dazu, die meisten Fälle mit einem Triumphzug in Verbindung zu bringen. Diesbezüglich skeptischer ist Ronning, Herrscherpanegyrik, S. 333, Anm. 183, der wiederum übersieht, dass Maximinus’ Kopf nicht nur nach Rom g e s c h i c k t , sondern dort auch auf einer Stange herumgetragen wurde. Herodian (s. oben, Anm. 80) spricht außerdem davon, dass das Volk in Freude zusammengeströmt sei. Der Kopf des Usurpators Procopius wurde den Einwohnern von Philippopolis gezeigt (366): Ammianus 26.10.4 (IV, S. 46 Seyfarth); Nach seinem Staatsstreich wurde Magnus Maximus
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Die Flexibilität im Umgang mit den Trophäen steht ohne Zweifel im Zusammenhang mit dem jeweils recht individuellen Charakter der Siegesfeiern86. Ein verbindlicher Standard hat sich nie entwickelt. Die Häufung der Berichte von Kopftrophäen hängt auch mit der steigenden Zahl an Usurpationsversuchen im 4. und 5. Jahrhundert zusammen. Der Kampf gegen innere Feinde und ihre Machtnetzwerke machte es erforderlich, die Beseitigung von Kontrahenten durch öffentliche Rituale publik zu machen und durch den Konsens der Triumphgemeinschaft von Sieger und Publikum die Position des regierenden Kaisers zu stärken87. Gewiss hoffte man auch auf eine abschreckende und demoralisierende Wirkung. Außerdem erschwerte die Zurschaustellung des Kopfes, dass Trittbrettfahrer die Identität des geschlagenen Usurpators annahmen und den Konflikt fortführten88. Letzteres hing freilich stark vom Ort der Präsentation und der zeitlichen Distanz ab. So war es möglich, dass sich im Jahre 931 ein gewisser Basileios aus Makedonien im Thema Opsikion sich als Konstantinos Dukas ausgab, der 913 in Konstantinopel getötet und enthauptet worden war89. Die Kopfjagd in Byzanz Das inflationäre Vorkommen von Kopftrophäen im 5. Jahrhundert sollte vorübergehen. Dennoch blieb das Abtrennen von Köpfen zwecks anschließender Zurschaustellung auch danach Teil des performativen Repertoires bei der Bestrafung politischer Feinde90. Kaiser Phokas stellte nach seiner gelungenen Usurpation im Jahre 602 die Köpfe des von ihm vom Thron gestürzten Maurikios und seiner fünf Söhne am Hebdomon außerhalb der Stadtmauern aus91. Nach der Tötung Justinians II. (711) wurde dessen Haupt zwar nicht in Konstantinopel zur Schau gestellt, zu diesem Zweck aber enthauptet und der Kopf dem Kaiser geschickt (388): Panegyrici Latini 12.41.2 (III, S. 106–107 Galletier); Die Häupter der Usurpatoren Gainas (400) und Konstantinos (III., a. 411) wurden nach Konstantinopel gebracht: Chron. Min. II, S. 66 bzw. I, S. 246 (Mommsen); Chron. Pasch. I, S. 567 (Dindorf); jener von Iovianus nach Ravenna: Consularia Italica a. 411, a. 413, in MGH Auct. Ant. 9 (S. 300 Mommsen). 86 Vgl. McCormick, Eternal victory, S. 78. 87 Vgl. McCormick, Eternal victory, S. 83. 88 Zu den Funktionen der Zurschaustellung vgl. Voisin, Chasseurs de têtes, S. 268–271. 89 Theoph. Cont., S. 421–422 (Bekker); Skylitzes, S. 228 (Thurn); vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 74 (Nr. 31); zu Konstantinos Dukas s. unten. 90 Nicht nur Gegner des Kaisers waren davon betroffen: In der Regierungszeit Anastasios’ I. tötete der Mob einen häretischen Mönch und trug dann seinen Kopf auf einer Stange durch die Straßen Konstantinopels: Euagrios 3.44 (S. 146 Bidez/Parmentier), Ioannes von Nikiu 89.64 (R. H. Charles, The Chronicle of John, Coptic Bishop of Nikiu (c. 690 A. D.), being a history of Egypt before and during the Arab conquest (Text and Translation Society 3), London 1916, Nachdr. Amsterdam 1981, S. 129); Malalas 16.19 (S. 333–334 Thurn). Letzterer überträgt seine eigene Lebensrealität auch auf biblische Inhalte, wenn er beschreibt (18.2 [S. 355 Thurn]), wie David Goliaths Kopf als Trophäe a u f e i n e r L a n z e nach Jerusalem getragen habe (vgl. 1 Sam 17:54). 91 Theophanes AM 6095 (S. 291 de Boor): ἐν τῷ Κάμπῳ τοῦ τριβουναλίου. Zum campus tribunalis am Hebdomon s. Janin, Constantinople, S. 450.
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nach Rom und Ravenna geschickt, wo es auf einer Lanze aufgespießt herumgetragen wurde92. Konstantinos V. ließ den Kopf eines zentralen Kollaborateurs des Usurpators Artabasdos drei Tage lang am Milion ausstellen (743)93. Im Rahmen eines Triumphzuges taucht die Sitte erst wieder unter Michael III. auf: nach dem Sieg gegen den Emir von Melitene (863) wurden dessen Kopf sowie jene einiger seiner Mitstreiter durch Konstantinopel getragen94. Auch im Untersuchungszeitraum setzte sich die Nutzung von Köpfen getöteter Feinde fort95, nicht zuletzt auch von jenen gescheiterten Usurpatoren. Im Jahre 913 wagte der erwähnte domestikos der Scholen Konstantinos Dukas einen gewaltsamen Putsch gegen die Regentschaft des minderjährigen Konstantinos VII. Der Versuch, nachts über das Hippodrom in das Palastareal einzudringen, scheiterte, und so blieb nur der Weg durch das Chalkē-Tor96. Die Rebellen gelangten bis zu den Kasernen der Exkubiten, wo sich ihnen Truppen unter dem Regenten Ioannes Eladas entgegenstellten. Im anschließenden Gefecht fanden zahlreiche Kämpfer auf beiden Seiten den Tod, darunter auch Konstantinos Dukas selbst. Der Kopf des Usurpators wurde mit dem Schwert abgetrennt und dem jungen Kaiser überbracht. Er sollte allen als Abschreckung vor Hochverrat dienen, so der Fortsetzer der Theophanes-Chronik. Ob sich dies auf den Hofstaat oder ein größeres städtisches Publikum bezieht, muss offenbleiben. Eine Parade oder die Positionierung an prominenter Stelle ist nicht überliefert97.
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Agnellus Ravennatis 142 (Agnelli Ravennatis Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis, cura et studio Deborah Mauskopf Deliyannis [Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 199], Turnhout 2006, S. 320): Factum est autem, cum per singulas plateas duceretur iam dictum caput in summitate lanceae fixum; Theophanes AM 6203 (S. 381 de Boor); Nicephori Patriarchae Constantinopolitani Breviarium Historicum. Edidit, anglice vertit, commentario instruxit Cyril Mango (CFHB 13), Washington, D. C. 1990, S. 112 (cap. 45); vgl. McCormick, Eternal victory, S. 235. 93 Theophanes AM 6235 (S. 420 de Boor); vgl. McCormick, Eternal victory, S. 134. 94 Ps.-Sym. Mag. 666 (Symeonis Magistri Annales, in: Theophanes continuatus, Ioannes Cameniata, Symeon Magister, Georgius Monachus, ex recognitione Immanuel Bekker [CSHB], Bonn 1838, S. 602–760); Georg. Mon. Cont. 825 (Bekker); vgl. Vita Antonii Iunioris 15 (François Halkin, Saint Antoine le Jeune et Pétronas, le vainqueur des Arabes en 863 [d’après un texte inédit], in: AnBoll 62, 1944, S. 187–225, hier S. 219–220); George Huxley, The emperor Michael III and the battle of Bishop’s Meadow (A. D. 863), in: GRBS 16, 1975, S. 443–450 geht auf den Adventus mit den Kopftrophäen nicht ein. Vgl. McCormick, Eternal victory, S. 150–151. 95 So ließ der General Kantakuzenos seinem Kaiser Alexios I. nach seinem Sieg gegen die Normannen 1108 einige auf Lanzen aufgespießte Köpfe zukommen: Anna Komnene, Alexias 13.6.2 (S. 401 Reinsch/Kambylis). 96 Vgl. Mango, Brazen house, S. 35. 97 Theoph. Cont., S. 383, Z. 16–18 (Bekker): ξίφει τὴν τούτου ἀπέτεμε κεφαλήν, ἥτις τῷ βασιλεῖ προσενήνεκτο καταφανὴς ἅπασι τῆς ἀπάτης εἰς ἀποτρόπαιον; Vita Euthymii 21 (S. 131–133 Karlin-Hayter); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1131 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 876 (Bekker); Skylitzes, S. 199 (Thurn); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 57–58 (Nr. 15). Die Enthauptung des Konstantinos Dukas soll bereits von Leon VI. prophezeit worden sein: Theoph. Cont., S. 373–374 (Bekker).
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Das Schicksal des Kopfes von Bardas Phokas ist besser dokumentiert. Der kampferprobte Feldherr fiel am 13. April 989 in einer Schlacht bei Abydos, wobei die genauen Umstände seines Todes unklar sind98. Man enthauptete den Leichnam und vergrub den restlichen Körper am Schlachtfeld. Der Kopf wurde nach Konstantinopel zum Kaiser gesandt und dort im Rahmen eines Triumphzuges auf einer Lanze durch die Straßen getragen. Danach schickte man ihn zurück nach Kleinasien, wohl um verbliebene Anhänger des Usurpators vom kaiserlichen Sieg zu überzeugen99. Ein ähnliches Ende fand auch der General Georgios Maniakes. Dieser hatte sich in Tarent von seinen Truppen zum Kaiser ausrufen lassen und war erst bei Thessalonike von der Armee Konstantinos’ IX. gestellt worden (1043). Die Schlacht neigte sich bereits zu Gunsten des Usurpators, als dieser plötzlich im Kampf fiel. Sein Haupt wurde abgetrennt und Kaiser Konstantinos überbracht. Dieser platzierte den Kopf zunächst hoch oben am Hippodrom – also wohl oberhalb der Startboxen –, „damit er für alle auch aus großer Entfernung gut sichtbar sei“100. Schließlich entschloss er sich, die Trophäe seines Sieges für einen Triumphzug zu nutzen: Die Gefangenen aus der Rebellenarmee wurden in der Mitte des Zuges verkehrt auf Eseln reitend, kahlgeschoren und mit Unrat behangen, dem Spott der Stadtbevölkerung ausgesetzt. Hinter ihnen trug man den Kopf ihres gefallenen Generals auf einer Lanze101. Erst etwa eineinhalb Jahrhunderte nach der Niederlage des Georgios Maniakes kam es zu einer vergleichbaren Leichenschändung eines abtrünnigen Generals. Als Andronikos I. die oppositionelle Stadt Nikaia belagerte (1184), leitete Theodoros Kantaku98
Skylitzes, S. 337 (Thurn) vermutet eine Vergiftung. Psellos 1.17 (11 Reinsch) weist dies nicht von der Hand, hält aber auch andere Todesursachen für möglich. 99 Leon Diak. 10.10 (S. 174, Z. 25–175, Z. 5 Hase): καὶ τὸ μὲν γιγαντῶδες τούτου σῶμα κατὰ τὴν Ἄβυδον τῇ γῇ κατορύττεται· ἡ δὲ κεφαλὴ, πρὸς τὴν βασιλεύουσαν ἐκπεμφθεῖσα καὶ δορατίῳ περιπαρεῖσα, κατὰ τὰς ἀγυιὰς θριαμβεύεται, καὶ τοῖς κατὰ τὴν Ἀσίαν καταπέμπεται στασιάζουσι. καὶ οὕτω τὰ τῆς ἀποστασίας εἰς σταθηρὰν γαλήνην μετεσκευάζετο. Skylitzes, S. 337 (Thurn) erwähnt die Enthauptung nicht. Laut Psellos, Chron. 1.17 (S. 11 Reinsch) wurde Phokas’ Leichnam zerstückelt und sein Kopf dem Basileios übergeben. Eine Parade wird nicht erwähnt. Zonaras 17.7 (S. 553–554 Pinder/Büttner-Wobst) beschränkt seine Schilderung auf den Schlachtentod; vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 99–102 (Nr. 50); Cheynet, Pouvoir, S. 31–33 (Nr. 15); Holmes, Basil II, S. 461. 100 Psellos, Chron. 6.86 (S. 142, Z. 5–10 Reinsch): καὶ πρὶν ἢ πρὸς τὸν αὐτοκράτορα ἐπανελθεῖν τὰ στρατεύματα, ἡ τοῦ τυραννήσαντος ἐκπέμπεται κεφαλή. καὶ ὃς καθαπερεί τινος καλύπτοντος ἀπαλλαγεὶς κύματος· καὶ βραχύ τι ἐξαναπνεύσας, τῷ μὲν Θεῷ εὐχαριστηρίους ἀναπέμπει φωνὰς· τὴν δέ γε κεφαλὴν, ἐν μετεώρῳ τοῦ μεγάλου θεάτρου πήγνυσιν, ὡς ἂν ἔχοιεν ξύμπαντες καὶ πόρρωθεν ταύτην διὰ πολλοῦ μέσον τοῦ ἀέρος ὁρᾶν. 101 Psellos, Chron. 6.87 (S. 142 Reinsch). Die Beschreibung bei Skylitzes, S. 428 (Thurn) weicht nur in einem Detail ab: der Kopf sei den geschorenen Soldaten v o r a n getragen worden. Psellos’ Version ist hier zu bevorzugen. Erstens war er als Augenzeuge anwesend und zweitens lassen die Beschreibungen von Triumphzügen seit der römischen Antike darauf schließen, dass innerhalb der Gruppe der gefangenen Feinde die interne Hierarchie gewahrt wurde, der General also auf seine Truppen folgte. Vgl. hierzu McCormick, Eternal victory, S. 180–181. Attaleiates, S. 15–16 (Tsolakes) erwähnt nur den Triumphzug ohne Details; Zonaras 17.22 (S. 623 Pinder/Büttner-Wobst) schildert sowohl die Zurschaustellung am Hippodrom als auch die Parade; vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 118–119 (Nr. 70); Cheynet, Pouvoir, S. 57–58 (Nr. 61).
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zenos die Verteidigung der Stadt. Bei einem Ausfallversuch jedoch kam sein Pferd zu Sturz und er blieb schwer verletzt und wehrlos liegen, bis er auf Geheiß des Andronikos in Stücke gehauen wurde. Den Kopf trennte man ab und führte ihn auf einer Lanze aufgespießt in einer Parade quer durch Konstantinopel102. Wenige Jahre danach (1187) ließ sich der sebastos und General Alexios Branas zum Kaiser ausrufen. Kaiser Isaakios II. Angelos schickte den kaisar Konrad von Montferrat gegen ihn aus, der ihn im Lanzenkampf vom Pferd stoßen konnte. Konrads Leibwache tötete den Usurpator und schlug ihm den Kopf ab. Bei der folgenden Parade durch Konstantinopel trug man nicht nur Branas’ Haupt auf einer Lanze durch die Straßen Konstantinopels, sondern auch einen seiner Füße103, außerdem noch den Kopf eines gewissen Poietes (oder Dichters – falls der Name als Berufsbezeichnung zu verstehen ist), der am Kampf unbeteiligt war104. Anschließend habe Isaakios aus Anlass seines Sieges ein Festmahl veranstaltet. Damit jeder eintreten und einen Blick auf den triumphierenden Kaiser werfen konnte, seien die Tore des Palastes geöffnet worden. Nach dem Essen, so Niketas Choniates, habe Isaakios den Kopf des Branas zur Belustigung der Tischgesellschaft herbeibringen lassen, um ihn wie einen Ball hin und her zu werfen105. 102 Choniates, Hist., S. 284, Z. 42–44 (van Dieten): ἡ τοῦ Καντακουζηνοῦ προσάγεται κεφαλὴ κοντῷ μετέωρος ταῖς ἀγυιαῖς τῆς πόλεως ἐμπομπεύουσα. Eustathios, S. 54–56 (Kyriakidis) berichtet nur von der Eroberung der Stadt, ebenso Michael Syros 21.3 (Chronique de Michel le Syrien. Patriarche Jacobite d’Antioche (1166–1199), editée pour la première fois et traduite en français par Jean-Baptiste Chabot, III, Paris 1905, Nachdr. Brüssel 1963, S. 395), der zudem Nikaia mit Philadelphia verwechselt. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 115 (Nr. 157). 103 Der Grund hierfür ist nicht klar. Es ist aber möglich, dass es sich um eine parodistische Anspielung auf eine offenbar kursierende Prophezeiung handelte. Branas sei vorhergesagt worden, er werde Konstantinopel im Triumph betreten, was sich ja schlussendlich auch bewahrheitet habe, wie Niketas Choniates (Hist., S. 388 [van Dieten]) zynisch bemerkt. Der Fuß könnte dementsprechend das Bild des Betretens der Stadt verstärkt und karikiert haben. Die Amputation von Extremitäten von Usurpatoren ist in Byzanz selten belegt, aber nicht unbekannt (s. Kapitel 3.3.1). Das Umhertragen der abgeschlagenen Körperteile begegnet eher in Spätantike und in frühbyzantinischer Zeit. Dem praefectus praetorio Rufinus schlug man beispielsweise im Jahre 395 nicht nur den Kopf, sondern auch seine rechte Hand ab, um auf seine ehemalige Funktion als Steuereintreiber anzuspielen: Zosimos 5.7.6. (III, S. 14 Paschoud). Kaiser Herakleios ließ den rechten Arm und die Genitalien des von ihm gestürzten Kaisers Phokas – also die am stärksten mit Machtsymbolik behafteten Körperteile – auf Stangen durch Konstantinopel tragen. Sein Bruder und zwei Mitverschwörer sollen dieselbe Bestrafung erlitten haben: Nikephoros, Brev. 1 (S. 36 Mango). 104 Choniates, Hist., S. 388, Z. 52–58 (van Dieten): … εἰς τὴν τοῦ Βρανᾶ κεφαλὴν μετάγων τὰ προρρηθέντα καὶ τὸν ἕτερον αὐτοῦ τῶν ποδῶν, ἅπερ τῆς ἡμέρας ἐκείνης διὰ τῆς ἀγορᾶς ἐμπεπαρμένα κοντοῖς ἐνεπόμπευσαν, σὺν αὐτῇ δὲ καὶ κεφαλήν τινος ἀγοραίου, Ποιητοῦ λεγομένου, ἣν οὐδεμία πολεμία χεὶρ ἀφείλετο, αὐτὸς δὲ βασιλεὺς μετὰ τὴν λαμπρὰν ἐκείνην νίκην καὶ τὴν τῶν ἐναντίων καταπολέμησιν ἀποτμηθῆναι προσέταξεν, οὐκ οἶδα ἐφ’ ὅτῳ συνοίσοντι ἢ κατορθώματι. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 122–123 (Nr. 167). 105 Choniates, Hist., S. 388, Z. 59–389, Z. 67 (van Dieten): αὐτὸς δὲ ὁ βασιλεὺς τραπόμενος εἰς ἑστίασιν πᾶσαν τῶν ἀρχείων ἀνῆκε πύλην αὔλειον καὶ παράθυρον προσκήνιον, ὥστε τοὺς βουλομένους εἰσιέναι καὶ θεᾶσθαι αὐτὸν τροπαιοῦχον. ἐν δὲ τῷ ἅπτεσθαι τῶν σιτανείων χανδὸν καὶ τὰς χεῖρας κινεῖν εἰς τὸν τῶν προκειμένων ἐδεστῶν πόλεμον, ἐπεισόδιόν τι οὐκ εὐπρεπὲς καὶ ἄθυρμα ἐπιδείπνιον τὴν
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Um 1193 erreichte Isaakios ein weiterer Kopf eines Möchtegern-Usurpators. Dieser hatte sich als Kaiser Alexios II. ausgegeben, der 1183 getötet worden war. Ein Priester hatte ihm bei einem Gelage in Harmala die Kehle durchschnitten und den Beweis für seine Tat an den Kaiser geschickt. Eine öffentliche Zurschaustellung wird nicht erwähnt106. Zu einer Variation der Leichenschändung kam es bei der Palastrevolution von Ioannes Komnenos Axuchos (31. August 1200)107. Als Enkel Manuels I. Komnenos hatte dieser Ansprüche auf den von Alexios III. Angelos besetzten Thron angemeldet und sich zum Kaiser proklamieren lassen. Mit Waffengewalt gelangte er zwar ins Palastareal, doch gewannen die von Alexios III. entsandten Truppen und die Warägergarde rasch die Oberhand108. Nach dem erfolglosen Versuch, sich im Muchrutas109 zu verschanzen, blieb dem Usurpator nur noch die Flucht vor den Kaiserlichen, die jedoch
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τοῦ Βρανᾶ παρεισαχθῆναι κεκέλευκε κεφαλήν. ἡ δὲ ὡς εἰσῆκτο, ἐπ’ ἐδάφους ἔρριπτο, σεσηρυῖα καὶ μεμυκυῖα τὼ ὀφθαλμώ, ὧδέ τε κἀκεῖσε δίκην σφαίρας διαγομένη τε καὶ μεταγομένη διηκοντίζετο. Choniates, Hist., S. 422 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 124 (Nr. 170). Zum Folgenden Mesarites 26–31 (S. 43–49 Heisenberg); Choniates, Hist., S. 526–528 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 136–137 (Nr. 195); Angold, John the Fat; Scheel, Skandinavien und Byzanz, S. 241–248; Brand, Byzantium, S. 122–123; Idem, The Turkish element in Byzantium, eleventh-twelfth centuries, in: DOP 43, 1989, S. 1–25, hier S. 10–11. Zur Rolle der Waräger s. Scheel, Skandinavien und Byzanz, S. 241–248, 865 (B 84), 855–858 (B 63, 66, 68, 69). Guilland, Topographie I, S. 159 setzt den Muchrutas mit dem Lausiakos gleich. Ablehnend: Mango, Boukoleon, S. 50, Anm. 25 und vor allem Neslihan Asutay-Effenberger, ‚Muchrutas‘. Der seldschukische Schaupavillon im Großen Palast von Konstantinopel, in: Byz 74, 2004, S. 313–329 (mit Zusammenfassung der Diskussion), die den Muchrutas als kleinen Pavillon (Sockelbau: ca. 6×6 Meter) versteht und ihn zwischen der Sphendone des Hippodroms und dem Marmarameer lokalisiert (S. 323–328). Dies ist jedoch zum einen problematisch, weil der Muchrutas nach Auskunft des Nikolaos Mesarites westlich an den Chrysotriklinos grenzen müsste und zum anderen ein Bauwerk von so kleinen Dimensionen nicht zum Ablauf der Ereignisse passt: Ioannes soll bei der Ankunft der kaiserlichen Truppen vom Triklinos des Justinian in das obere Geschoss des Muchrutas geflohen sein. Dann versuchte er noch zu den kaiserlichen Ställen zu gelangen, wurde aber auf dem Weg dorthin gefasst. Die feindlichen Soldaten zerrten ihn im Anschluss über die Stufen des Muchrutas hinunter und schafften ihn zum justinianischen Triklinos. Die Schilderung der versuchten Flucht innerhalb des Muchrutas („Hinter ihm her rannte ein Teil unserer Streitkräfte, ein anderer Teil stürmte, wie in einem Labyrinth hierhin und dorthin laufend, auf den Weg, der zum kaiserlichen Pferdestand [im Hippodrom] führte“ – Übersetzung: Grabler, Kreuzfahrer, S. 311) erweckt nicht den Eindruck eines kleinen Gartenpavillons. Zur narrativen Funktion der Ekphrasis im Text des Mesarites (orientalische Dekadenz) s. Alicia Walker, Middle Byzantine aesthetics of power and the incomparability of Islamic art: The architectural ekphraseis of Nikolaos Mesarites, in: Muqarnas 27, 2010, S. 79–101 und Eadem, The Emperor and the world. Exotic elements and the imagining of Middle Byzantine imperial power, ninth to thirteenth centuries C. E., Cambridge 2012, S. 152–156. Die erwähnte These von Asutay-Effenberger lehnt die Autorin ab (S. 100, Anm. 61). Der Muchrutas „is thought to have occupied a space in the area of the longitudinal hall to the west of the Chrysotriklinos“ (S. 91). Zur Größe des Gebäudes äußert sich Walker nicht, scheint im Prinzip aber Asutay-Effenberger zu folgen (S. 97, Anm. 15). Zum Weg des Ioannes vgl. auch den Kommentar von Heisenberg, Palastrevolution, S. 63.
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noch vor den Palaststallungen ein Ende fand. Seine Häscher zerrten ihn gewaltsam bis zum Triklinos Justinians II.110 Noch während er um sein Leben flehte, stieß ihm ein Soldat sein Schwert in den Körper. Den Kopf trennten sie [scil. die kaisertreuen Soldaten] ab und brachten ihn dem Kaiser. Damit jedermann ihn sehen konnte, wurde er – noch triefend vor Blut, fürchterlich grinsend und mit geschlossenen Augen – an einem Triumphbogen auf der Mesē aufgehängt. Der Rest von Ioannes’ Leichnam wurde unter freiem Himmel beim Südtor des Blachernenpalastes auf eine Bahre gelegt. Von unten konnte man sehen, dass der Kaiser beim Betreten der über diesem Tor befindlichen kaiserlichen Wohnräume auf den Leichnam herabblickte, der aufgedunsen war wie ein gewaltiges Rindvieh und wie er sich an dem Anblick ergötzte und mit dem Erfolg prahlte. Dann entfernte man den Körper von dort und warf ihn Hunden und Vögeln zum Fraß vor111.
Nikolaos Mesarites, seines Zeichens skeuophylax der Kirche der Muttergottes beim Pharos, hatte den Putschversuch als Augenzeuge miterlebt. Seine Schilderung spiegelt die Faszination des Grauens wider112: Beim ersten Hahnenschrei wurde ich zu dem vortrefflichen Herrscher [scil. Alexios III.] gerufen – eine sehr wichtige Angelegenheit zwang ihn dazu. Mir war auch danach, zum Leichnam des Ioannes zu gehen. Ich sah ihn also ohne Kopf lang hingestreckt liegen, seine Glieder waren ganz zerstückelt und bis zu den Brustwarzen war er nackt. Ein dünnes, von seinem Blut gerötetes Tuch bedeckte seinen Brustkorb. Von den Knöcheln an war er bis zu dem dicken, fetten Bauch zerschlagen113.
Räumlichkeit und Performanz Aus den genannten Beispielen im Untersuchungszeitraum lassen sich einige Überlegungen zum Umgang mit Kopftrophäen ableiten. Zunächst ist festzuhalten, dass das Abtrennen des Hauptes stets post mortem durchgeführt wurde. In keinem Fall wurde
110 Guilland, Topographie I, S. 153–154. 111 Choniates, Hist., S. 527, Z. 68–528, Z. 77 (van Dieten): … καὶ τὴν κεφαλὴν ἀφελόμενοι τῷ βασιλεῖ προσάγουσι. καὶ ἡ μὲν τῇ κατὰ τὴν ἀγορὰν ἁψῖδι μετεωρίζεται πρὸς θέαν πάνδημον, ἔτι τοῦ αἵματος ἀποβλύζουσα σεσηρυῖά τε δεινὸν καὶ μεμυκυῖα τὼ ὀφθαλμώ· ὁ δὲ λοιπὸς Ἰωάννης ἀρθεὶς ἐπὶ κλίνης αἴθριος προτίθεται κατὰ τὴν μεσημβρινὴν πύλην τῶν ἐν Βλαχέρναις ἀρχείων. Καὶ βασιλεὺς τὰς ἄνωθεν αὐτῆς ἀρχικὰς διαίτας εἰσανιὼν ἐθεᾶτο κάτωθεν, ὁμοῦ μὲν τὰς ὄψεις διδοὺς τῷ πτώματι ὑπὲρ βοῦν διῳδηκότι μεγαλόπλευρον, ὁμοῦ δὲ καὶ διαχεόμενος τῷ ὁράματι καὶ καταλαζονευόμενος τὸ κατόρθωμα. μετὰ δὲ τὸ σῶμα ἐκεῖθεν ἀρθὲν κυσὶ καὶ ὄρνισι βορὰ παρατίθεται. 112 Mesarites 31 (S. 48, Z. 29–35 Heisenberg): ὅτέ δε τὸ πρῶτον οἱ ἀλέκτορες ᾖδον, παρὰ τοῦ ἀριστέως δεσπότου μετακληθείς – ἀναγκαιοτάτη γὰρ χρειώ τις τοῦτον ἠνάγκαζεν – ἀφικέσθαι προεθυμήθην καὶ ἐπὶ τὸν τοῦ Ἰωάννου νεκρόν. εἶδον οὖν τοῦτον ἀκέφαλον, ἡπλωμένον ἐκτάδην, κατακερματισθέντα τὰ πάμπλειστα, γυμνὸν ἄχρι καὶ ἐς μαζούς, φάρος ᾑμα[τωμένον τού]τῳ λεπτὸν περιέπον τὸν θώρακα, ἐξ ἀστραγάλων αὐτῶν ἐκκε[κομμένον μέχρι καὶ εἰς τὴν] παχείαν γαστέρα λιπώδη. 113 Übersetzung angelehnt an Grabler, Kreuzfahrer, S. 316.
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die Enthauptung in irgendeiner Art und Weise vor Publikum inszeniert. In der Regel wurde der Kopf am Ort des Kampfes abgetrennt. Unabhängig davon, wer für die Tötung des Usurpators verantwortlich war – bezeichnenderweise sind die Ausführenden der Tat selten namentlich bekannt – galt der Kopf als Trophäe des Kaisers, dem sie auf schnellstem Wege zugestellt wird. In einigen Fällen gab der Kaiser den Kopf des Usurpators der öffentlichen Zurschaustellung preis. In erster Linie sollte hiermit die Bevölkerung Konstantinopels angesprochen werden; selbst der Kopf des Bardas Phokas, der nach Kleinasien geschickt wurde, wohl um die verbliebenen Anhänger des Usurpators zu demoralisieren, war zuvor in der Hauptstadt ausgestellt worden. Die Köpfe von Bardas Phokas, Georgios Maniakes, Theodoros Kantakuzenos und Alexios Branas wurden im Rahmen von Paraden auf Lanzen aufgespießt durch die Straßen Konstantinopels getragen. Alternativ – oder zusätzlich – konnte der Kopf auch an einer prominenten Stelle der Stadtarchitektur platziert werden, wie es mit jenem des Georgios Maniakes (Hippodrom) und jenem des Ioannes Komnenos Axuchos (Triumphbogen auf Mesē) geschah. Bei letzterem beschränkte sich die makabre Zurschaustellung nicht auf das Haupt, denn auch der restliche entstellte Leichnam wurde als Zeichen des Triumphes des Kaisers verwendet und außerhalb des Blachernenpalastes abgelegt. Alexios III. legte offenbar Wert darauf, dass auch er selbst Teil der Inszenierung war, indem er sich als Triumphator am Fenster oberhalb des Leichnams zeigte. Das Verhalten erinnert an jenes seines Bruders Isaakios II., der sich beim Mahl nach der Parade des Kopfes von Alexios Branas beobachten hatte lassen114. Dass der gesamte Körper zur Schau gestellt wurde, mag auch der legendären Körperfülle des Ioannes, der auch den Beinamen „der Dicke“ trug, geschuldet gewesen sein und provozierte zweifellos zusätzlichen Spott. Dass Ioannes’ übergewichtiger Körper noch dazu halbnackt zur Schau gestellt wurde, machte die postmortale Demütigung des Usurpators perfekt115.
114 S. oben, S. 197, Anm. 103. 115 Zum Spottnamen: Choniates, S. 526, Z. 35–36 (van Dieten): προκοίλιος δ’ ὢν καὶ πιθώδης τὴν πλάσιν τοῦ σώματος τὸν Παχὺν εἰς ἐπώνυμον εἴληχεν. Auch in einer Rede an Alexios III. (Nicetae Choniatae orationes et epistulae, recensuit Jan-Louis van Dieten (CFHB 3), Berlin/New York 1972, S. 87–89 [or. 10]) spottet Choniates über den übergewichtigen Usurpator. Man vergleiche auch die zynischen Bemerkungen des Nikolaos Mesarites (8 [S. 25 Heisenberg]): Je sechs Männer hätten sich beim Tragen der Bahre abgewechselt und seien wiederholt unter dem Gewicht des Leichnams zusammengebrochen; der zerstückelte Körper sei ein so großes Fleischopfer gewesen, dass nicht einmal Hades selbst es hätte auf einmal verschlingen können (ebd. S. 28 [S. 64, Z. 8–10]); selbst auf dem Thron sitzend macht Ioannes keine majestätische Figur: τεθέαμαι … ὤμους πιμελεῖς τε καὶ ὑπερόγκους, μετάφρενα διῳδηκότα τὲ καὶ κατάσαρκα, τοῦ βασιλικοῦ ἐκείνου θρόνου ἄχθος ἐτώσιον, προγάστορα καὶ προκοίλιον (ebenda 11 [S. 28]); vgl. Brand, Turkish element, S. 10–11, S. 23–24.
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Spielregeln Die Zurschaustellung von Köpfen folgte gewissen ethischen Grundsätzen116. Damit die Inszenierung nicht als Zeichen der Grausamkeit interpretiert wurde, musste das Haupt als Siegestrophäe im Kampf gewonnen werden. Eine Parade scheint nur in jenen Fällen zulässig gewesen zu sein, in denen der jeweilige Usurpator in einer größeren Schlacht bezwungen wurde. Dies gilt für Bardas Phokas, Georgios Maniakes, Theodoros Kantakuzenos und Alexios Branas, die allesamt als Generäle auf Schlachtfeldern außerhalb Konstantinopels gefallen waren. Konstantinos Dukas und Ioannes Komnenos Axuchos waren beide bei Scharmützeln im Palastareal getötet worden. Wenngleich daher in diesen beiden Fällen kein Triumphzug zur Diskussion stand, konnte man ihre Häupter dennoch als Kriegstrophäen betrachten und solcherart verwenden. Jener Hochstapler, der sich als Alexios II. ausgegeben hatte, war hingegen einem Meuchelmord zum Opfer gefallen und hatte wohl auch keine ernstzunehmende Bedrohung dargestellt. Dies ließ sich schwerlich als militärische Leistung verkaufen. Es scheint hier noch jene Kriegerethik nachzuwirken, die das Abtrennen des Kopfes eines geschlagenen Feindes in ihrem Ursprung begründet hatte. Dass nicht mehr der tatsächliche Sieger des Zweikampfes die Trophäe behält, sondern der Ruhm allein dem Kaiser zufällt, tut dieser Logik keinen Abbruch. Im Gegenteil ist schon seit der römischen Kaiserzeit zu beobachten, dass militärische Siege dem Herrscher persönlich zugeschrieben wurden117. Ein Widerspruch zu der vom Kaiser geforderten göttlichen Tugend der Menschenliebe (philanthrōpia) im Umgang selbst mit Majestätsverbrechern118 bestand hier nicht, denn das Dilemma zwischen nötiger Härte und Milde war obsolet, wenn der Feind im Kampf getötet wurde. Hier war der Kaiser Krieger, nicht Richter, und musste nur den Anspruch der Stärke, nicht den der Güte, erfüllen. Die erkennbaren Spielregeln lassen sich nicht aus der römischen Antike herleiten, die bisweilen keinerlei Skrupel hatte, die Köpfe hingerichteter oder auf der Flucht getöteter Staatsfeinde auszustellen119. Auch im Vergleich mit den byzantinischen Gewohnheiten vor dem 10. Jahrhundert scheint in dieser Hinsicht ein Paradigmenwechsel stattgefunden zu haben120. Auffällig ist auch, dass die Präsentation in Form einer Pa-
116 Zum Folgenden s. Dominik Heher, Heads on stakes and rebels on donkeys. The use of public parades for the punishment of usurpers in Byzantium (c. 900–1200), in: Elodie Guilhem (Hg.), Rencontres annuelles des doctorants en études byzantines 2013 (= Porphyra: Confronti su Bisanzio 2, 2015): www.porphyra.it. 117 Vgl. die triumphalen Einzüge Kaiser Maximus’ nach der Beseitigung seines Kontrahenten Maximinus, an der er selbst keinen direkten Anteil hatte. McCormick, Eternal victory, S. 18–19, S. 112– 120. 118 Vgl. Kapitel 3.2.2. 119 Vgl. Voisin, Chasseurs de têtes, S. 257–267. 120 S. oben, Anm. 103 zu den Fällen der gestürzten Kaiser Phokas (603), Justinian II. (711) und des Usurpators Artavasdos (743).
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rade121 sich nicht lückenlos in die Spätantike zurückverfolgen lässt: Siegesparaden hatte es immer wieder gegeben, auch Zurschaustellungen der Köpfe von Usurpatoren. Die Kombination beider Elemente ist in Konstantinopel hingegen zwischen dem 5. und dem 10. Jahrhundert nicht belegt122. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die bewussten Rückgriffe der makedonischen Kaiser auf spätantikes Palastzeremoniell123 aber auch auf alte Triumphrituale (z. B. calcatio colli124) befruchtend auf das eigene zeremonielle Repertoire auswirkten. Die daraus resultierende Häufung von Triumphzügen in den Jahren 956 bis 972125 und die parallele Zunahme von Schandparaden schon seit Beginn des 10. Jahrhunderts126 ebneten den Weg für die Prozession mit auf Lanzen getragenen Köpfen von Usurpatoren nach den Vorbildern des 4. und 5. Jahrhunderts127. Das Fehlen jeglicher Fälle von postmortaler Verspottung von Usurpatoren zwischen der Mitte des 11. Jahrhunderts und dem Ende des 12. Jahrhunderts fügt sich ins allgemeine Bild. In dieser Zeit lässt sich das allgemeine Zurückweichen von Gewalt im öffentlichen städtischen Raum Konstantinopels beobachten. Erst die Regierungszeit Andronikos’ I. markierte einen Bruch mit dieser Praxis und so fügt sich die spürbare Häufung von Leichenschändungen von Usurpatoren zwischen 1183 und 1204 nahtlos in das Bild, das auch die Vollstreckung von Verstümmelungsstrafen und Hinrichtungen zeichnet128. 3.2 Die Inszenierung von Leben und Tod Das römische Recht kannte bei Hochverrat keine Gnade. Wer das Wohl des Staates, später auch des Kaisers oder seiner Repräsentanten gefährdete, geschweige denn einen Putsch plante, hatte den Tod zu erwarten129. Die byzantinische Legislative knüpfte
121 Ich wähle hier bewusst den weit gefassten Begriff der „Parade“, zumal die Quellen zumeist keine Aussage darüber erlauben, ob es sich um einen Spottzug, einen Adventus oder einen vollständigen Triumphzug handelt. Zudem sind die Grenzen zwischen den letzten beiden Kategorien in mittelbyzantinischer Zeit ohnehin längst verwischt. Vgl. Hunger, Reditus; McCormick, Eternal victory, S. 90–91. 122 Es kann freilich nicht ex silentio ausgeschlossen werden, dass der Transport zum Präsentationsort oder die Ankunft eines Kopfes beim Stadttor mit Elementen einer Parade verbunden sein konnte. 123 Featherstone, Revival. 124 Vgl. McCormick, Eternal victory, S. 57–58, 71–73, 144, 160 mit weiterführender Literatur. 125 McCormick, Eternal victory, S. 159–178. 126 Vgl. Kapitel 3.3.3. 127 Beim Triumphzug Michaels III. 863 waren zwar Köpfe mitgetragen worden, aber nur solche seiner muslimischen Feinde. S. oben, S. 195. 128 S. unten, S. 209–213. 129 Zur Bestrafung von Hochverrat im alten Rom s. RAC 23, Sp. 1135–1156 (s. v. maiestas [crimen maiestatis]) mit Literatur. Zu den rechtlichen Grundlagen in byzantinischer Zeit vgl. Wolfram Brandes, Kaiserprophetien und Hochverrat. Apokalyptische Schriften und Kaiservaticinien als Medium antikaiserlicher Propaganda, in: Wolfram Brandes / Felicitas Schmieder (Hgg.),
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hier nahtlos an. Auf Grundlage der im Codex Iustinianus im Kapitel Ad legem Iuliam maiestatis versammelten Gesetze durfte bei Verdacht auf Hochverrat die Folter angewandt werden. Überführten Delinquenten drohte ohne Rücksichtnahme auf Rang und Namen die Todesstrafe und Enteignung130. Die Institutiones sahen für Agitation gegen Kaiser oder Reich ebenfalls die Todesstrafe samt Verdammung des Andenkens vor131. Der strenge Umgang mit Hochverrätern setzte sich in den mittelbyzantinischen Gesetzbüchern fort: Der Procheiros Nomos aus dem späten 9. Jahrhundert droht mit Verlust von Leben und Besitz132 und auch die Basilika orientieren sich bei Majestätsverbrechen am römischen Erbe: Das Zwölftafelgesetz gebietet, über denjenigen, der die Feinde aufwiegelt oder den Feinden einen römischen Bürger ausliefert, die Todesstrafe zu verhängen. Das Gesetz betreffend Hochverrat (ὁ δὲ νόμος ὁ δεμαïεστάτις) sieht vor, dass derjenige, der dem Staat durch eine Rebellion Schaden zufügt, davon betroffen sei133.
Es folgt eine Aufzählung all jener Verbrechen, die unter dieses Gesetz fallen, in erster Linie Kollaboration mit dem Feind und Verschwörungen, die das Wohl des Reiches gefährden konnten134. Auf dieser rechtlichen Grundlage konnte jeder Angriff gegen die Person des Kaisers, seine Familie oder gegen den Staat mit dem Tode bestraft werden. Dieses Konzept findet sich in extremer Auslegung in einer Anekdote aus dem Leben Kaiser Basileios’ I.: Während eines Jagdausfluges am Philopation im Jahre 886 soll sich ein Hirsch mit seinem Geweih im Gürtel des Kaisers verfangen und diesen so vom Pferd gerissen und mitgeschleift haben. Ein Leibwächter sei ihm zur Hilfe geeilt und habe den Gürtel mit seinem Schwert durchtrennt. Anstatt dem Soldaten für sein beherztes Eingreifen zu danken, habe Basileios jedoch dessen Enthauptung befohlen, da
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Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen (Millennium-Studien 16), Berlin 2008, S. 157–200, hier S. 160. Cod. Iust. 9.8.1–6, bes. 9.8.5: Quisquis cum militibus vel privatis, barbaris etiam scelestam inierit factionem aut factionis ipsius susceperit sacramenta vel dederit, de nece etiam virorum illustrium qui consiliis et consistorio nostro intersunt, senatorum etiam (nam et ipsi pars corporis nostri sunt), cuiuslibet postremo qui nobis militat cogitarit (eadem enim severitate voluntatem sceleris qua effectum puniri iura voluerunt), ipse quidem utpote maiestatis reus gladio feriatur, bonis eius omnibus fisco nostro addictis. Inst. 4.18.3: Publica autem iudicia sunt haec. lex Iulia maiestatis, quae in eos qui contra imperatorem vel rem publicam aliquid moliti sunt suum vigorem extendit. cuius poena animae amissionem sustinet, et memoria rei et post mortem damnatur. Proch. Nom. 39.10 ( JGR II, S. 217): Ὁ κατὰ τῆς σωτηρίας τοῦ βασιλέως μελετήσας, φονέυεται καὶ δημεύεται. S. auch Eisagoge 40.12 ( JGR II, S. 361). Bas. 60.36.3: Ὁ δωδεκάδελτος κελεύει τὸν διερεθίζοντα τοὺς πολεμίους ἢ τὸν παραδιδόντα πολεμίοις Ῥωμαῖον κεφαλικῶς κολάζεσθαι· ὁ δὲ νόμος ὁ δεμαïεστάτις προστάττει τὸν βλάψαντα τῇ δημοσίᾳ καθοσιώσει καέχεσθαι. Vgl. Dig. 48.4.3. Die Passage findet sich auch im Cod. Theod. 9.8. Bas. 60.36.0–18; vgl. Dig. 1.8.11, 48.4.1–10; s. neben dieser Auflistung auch Bas. 19.1.8 und 58.12.8; vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 142–145.
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er sein Schwert gegen den Kaiser gezückt habe135. Wenngleich sich diese Episode wohl niemals in dieser Form zugetragen hat, illustriert sie das Bewusstsein für die theoretische Gesetzeslage136. Diese bot dem Herrscher die rechtliche Absicherung für den Umgang mit Majestätsverbrechern und enthob die Bestrafung des Verdachts persönlicher Rachegelüste. So pflegte etwa Michael VII. (1067–1078) zu betonen, dass nicht er für die Enteignung und die Degradierung jener verantwortlich sei, die gegen ihn intrigiert hatten, sondern das Gesetz137. Auch am Ende des hier behandelten Zeitraumes berief sich Andronikos I. Komnenos (1183–1185) auf die Gesetze für Majestätsverbrechen berufen, um Hinrichtungen von politischen Gegnern zu rechtfertigen: Sobald er von den Henkern erfahren hatte, dass die Übeltäter ihr Leben auf elende Weise beendet hatten, sagte er, dass er die Männer des Mitleides für würdig befunden hätte und weinte, als er so sprach. Er meinte, die Strenge und Autorität der Gesetze seien stärker gewesen als sein eigener Antrieb und guter Wille. Der Beschluss der Richter habe mehr Gewicht als seine Entscheidung138.
In ähnlicher Weise hatte er bereits zuvor einen Prozess wegen Hochverrats gegen Maria von Antiochia, die Mutter des eigentlichen, aber noch minderjährigen, Kaisers Alexios II. angestrengt, auf dessen Grundlage er diese töten lassen konnte. Angeblich sei aufgrund des richterlichen Urteils sogar ihr Sohn gezwungen gewesen, das Urteil mit seiner Unterschrift zu bestätigen139. Wenngleich das byzantinische Recht bei Majestätsverbrechen theoretisch keinen Spielraum kannte, zeigt die Historiographie, dass in den meisten Fällen im Untersuchungszeitraum von der Todesstrafe Abstand genommen wurde. Der Kaiser konnte sich selbst in jenen Fällen, bei denen die historiographischen Quellen explizit einen
135 Logothetenchronik 132.27 (S. 270 Wahlgren). Vgl. Ps.-Sym. Mag., S. 699 (Bekker); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1088 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 848 (Bekker); Glykas, S. 552 (Bekker). 136 Die in der Vita Eutyhmii 1 (S. 3–5 Karlin-Hayter) geschilderte – frühere – Version weiß nichts von einer Hinrichtung. Dort ist nur davon die Rede, dass Basileios eine Untersuchung des Falles eingeleitet habe: Τότε τις τῶν ἀπὸ τῶν Φαρφάνων λεγομένων σύνδρομος τῷ ἐλάφῳ γίνεται καὶ ἐπὶ χεῖρα γυμνὴν σπάθην λαβόμενος τὸν ἐν τοῖς κέρασι κωλυόμενον ζωστῆρα διέκοψε. Πέπτωκε δὲ ὁ βασιλεῦς ἐπ’ ἐδάφους λειποθυμῶν. ὡς δὲ εἰς ἑαυτὸν κατέστη, τὸν τοῦ κινδύνου τοῦτον ἀπαλλάξαντα φρουρεῖσθαι προσέταξε καὶ τὴν ὑποβολὴν τῆς τοιαύτης αὐθαδείας ἐξετάζεσθαι παρεκελεύετο. ἔλεγεν γάρ· „οὐ ζωῶσαι, ἀλλὰ θανατῶσαί με τὸ ξίφος προέτεινεν.“ Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 43–44 (Nr. 8) nimmt die Anekdote in ihren Katalog von Anschlägen auf. 137 Skylitzes Cont., S. 118 (Tsolakes). 138 Choniates, Hist, S. 295, Z. 49–53 (van Dieten): καὶ γνοὺς ἐκ τῶν ἀναρτησάντων κακοὺς κακῶς καταστρέψαι τὸν βίον, συμπαθείας εἶπε τοὺς ἄνδρας καταξιοῦν καὶ ἐπεδάκρυσε τούτῳ τῷ ῥήματι, ἰσχυροτέραν φάμενος εἶναι τῆς οἰκείας ὁρμῆς καὶ προθέσεως τὴν τῶν νόμων αὐστηρίαν καὶ αὐθεντίαν καὶ τὴν τῶν δικαστῶν ἀπόφασιν ὑπερκεῖσθαι τῆς αὐτοῦ προαιρέσεως. Vgl. Brand, Byzantium, S. 56; Oktawiusz Jurewicz, Andronikos I. Komnenos, Amsterdam 1970, S. 94–96. 139 Choniates, Hist., S. 367–368 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 114–115 (Nr. 156); Brand, Byzantium, S. 49.
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ordentlichen Prozess samt Verurteilung erwähnen140 kraft seiner gottähnlichen Menschenliebe über die vom Gesetz geforderte Hinrichtung hinwegsetzen und dem Usurpator das Leben schenken141. Wie auch immer sich der siegreiche Kaiser entschied, boten sich Möglichkeiten der Inszenierung seiner Härte oder seiner Gnade. 3.2.1 Hinrichtungen Im Juni 913 versuchte der domestikos der Scholen Konstantinos Dukas, seine Ansprüche auf die Regentschaft für den siebenjährigen Kaiser Konstantinos VII. gewaltsam durchzusetzen142. Dukas und seinen bewaffneten Unterstützern gelang es zwar ins Palastareal vorzudringen, doch stießen sie bei den Kasernen der Exkubiten auf Widerstand. In dem für beide Seiten verlustreichen Kampf143 fiel nach seinem Sohn und seinem Neffen auch Konstantinos Dukas selbst. Die übrigen Beteiligten erlitten vielfältige Strafen: Gregoras, magistros und Schwiegervater des Usurpators sowie die patrikioi Leon Choirosphaktes und Konstantinos Eladikos – letzterer nach öffentlicher Demütigung – kamen lediglich in Klosterhaft, während andere patrikioi geblendet wurden. Der patrikios Aigides und etliche verdiente Generäle wurden auf Befehl der siegreich gebliebenen Regentschaft entlang des Weges zwischen Damalis (heute Üsküdar) und Leukation – also an der Konstantinopel gegenüberliegenden Bosporusküste – an der Furca gehängt144. Konstantinos, den Sohn eines gewissen Eulampios, 140 So Theoph. Cont., S. 263 (Bekker = S. 129 Ševčenko) zu Symbatios und Georgios Peganes; Psellos, Chron. 6.147–149 (S. 174–175 Reinsch) zu Romanos Boilas; Attaleiates, S. 77–78 (Tsolakes) zu Romanos Diogenes; ebd., S. 159 (Tsolakes) zu Roussel von Bailleul. Zu all diesen Fällen vgl. Kapitel 3.2.2. 141 Der Kaiser war theoretisch an keine Gesetze gebunden, doch wurde tugendhafte Selbstbindung vorausgesetzt: Fögen, Das politische Denken, S. 69–72. 142 Vita Euthymii 21 (S. 131–133 Karlin-Hayter); Theoph. Cont., S. 381–384 (Bekker); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1128–1133 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 874–877 (Bekker); Skylitzes, S. 197–199 (Thurn); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 55–59 (Nr. 15); Runciman, Romanus, S. 49–50. 143 Die Vita Euthymii 21 (S. 131 Karlin-Hayter) spricht von 800 Toten auf beiden Seiten. 144 Theoph. Cont., S. 384 (Bekker). Zur Lokalisierung der Orte s. Janin, Constantinople, S. 495– 496 (Damalis) und S. 500–501 (Leukation/Leukate) sowie Karten 13 und 14. Was die Tötungsart betrifft, ist Skylitzes, S. 199–200 (Thurn) in der Formulierung ungenauer (ἀνεσκολόπισαν) als seine Vorlage Theoph. Cont. (διδύμοις ξύλοις … ἀνεσκολόπισεν). Dies hat sowohl Flusin ( Jean Skylitzès, S. 169) als auch Wortley ( John Skylitzes, A synopsis of Byzantine history, 811–1057. Introduction, text and notes. Translated by John Wortley, Cambridge 2010, S. 194) zu einer falschen Übersetzung („furent empalés“ bzw. „impaled“) verleitet. Vgl. hierzu Dominik Heher, Der Tod am Pfahl, in: JÖB 63, 2013, S. 127–151, hier S. 144–145. Zur Praxis des Hängens an der Furca s. Pio Franchi de’ Cavalieri, Della furca e della sua sostituzione alla croce nel diritto penale romano, in: Nuovo Bollettino di Archeologia Cristiana 13, 1907, S. 63–114, bes. S. 75–77; Otto Kresten, Die Hinrichtung des Königs von Gai ( Jos. 8, 29). Der realienkundliche Beitrag des Skylitzes Matritensis zur Klärung eines ikonographischen Problems im Josua-Rotulus der Bibliotheca Apostolica Vaticana (Cod. Vat. Pal. Gr. 431), in: Anzeiger der phil.-hist. Kl. der Österr. Akad.
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und einige andere Verschwörer ließ der Eparch Philotheos in der Sphendone, der Südkurve des Hippodroms, enthaupten145. Ungewöhnlich war die Anzahl der Hinrichtungen, die sich nur durch die schwache Position der Regentschaft einerseits und die breite Unterstützung des Usurpators andererseits erklären lässt. Wenngleich die Quantität und Härte der Bestrafung singulär ist, so ist die Differenzierung der Strafen und Richtorte für den Untersuchungszeitraum durchaus charakteristisch. Schauriges Spektakel – Richtstätten innerhalb der Stadtmauern Bei der Bestrafung der Putschisten von 913 fällt auf, dass es zwei Kategorien der Todesstrafe gab: Während der ansonsten unbekannte und offenbar titellose Konstantinos, Sohn des Eulampios, mit weiteren namentlich nicht genannten Verschwörern im Stadion im Stadtzentrum geköpft wurden, wurden Aigides und die anderen Generäle außerhalb der Stadt zum Tod durch Hängen an der Furca verurteilt. Eine systematische Durchsicht der historiographischen Quellen im Untersuchungszeitraum zeigt deutlich, dass Hinrichtungen an prominenten Plätzen Konstantinopels in der Regel nur Majestätsbeleidiger ohne prominenten familiären Hintergrund betrafen. Häufiger als die Enthauptung sah man in der Kaiserstadt jedoch Verbrennungen146: Leon VI. war im Jahre 903 nur knapp einem Attentat in der Kirche des Heiligen Mokios147 entronnen. Dem Meuchelmörder, einem nicht näher bekannten Stylianos148, wurden daraufhin Hände und Füße abgehackt, bevor er in der Sphendone des Hippodroms öffentlich verbrannt wurde149. Der Feuertod, diesmal am Forum Amastrianon voll-
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d. Wiss. 126, 1989, S. 111–129; Paul Speck, Der Tod an der Furca, in: JÖB 40, 1990, S. 349–351; Idem, Eine Quelle zum Tod an der Furca, in: JÖB 42, 1992, S. 83–85; RE 7/1, 305–307, s. v. Furca (H. F. Hitzig). Vgl. jetzt Michael Grünbart, Ein tödliches Kinderspiel und seine prognostische Bewältigung. Zu Proc. Bella 5(1).20, 1–4, in: BZ 115, 2022, S. 875–884. Theoph. Cont., S. 384, Z. 12–14 (Bekker): Κωνσταντῖνον δὲ τὸν τοῦ Εὐλαμπίου υἱὸν καὶ ἑτέρους σὺν αὐτῷ Φιλόθεος ὕπαρχος ὁ τοῦ Λαμπούδη ἐν τῇ τοῦ ἱππικοῦ σφενδόνῃ ἀπέτεμεν. Singulär ist die Hinrichtung eines Kammerdieners Kaiser Basileios’ II., der auf Geheiß des Usurpators Xiphias den Kaiser vergiften sollte und dafür angeblich den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde: Skylitzes, S. 367 (Thurn); Zonaras 17.9 (S. 567 Pinder/Büttner-Wobst) weiß nichts von dem Löwen; vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 102 (Nr. 51); Cheynet, Pouvoir, S. 36–37 (Nr. 21). Zur Existenz von Löwen am Kaiserhof in mittelbyzantinischer Zeit vgl. Nancy P. Ševčenko, Wild animals in the Byzantine park, in: Antony Littlewood / Henry Maguire / Joachim Wolschke-Bulmahn (Hgg.), Byzantine garden culture, Washington, D. C. 2002, S. 69–86, besonders S. 76–80 (unter Berücksichtigung auch der hier besprochenen Stelle auf 78–79). Zu dieser Prozession s. De cerim. 1.17 (Bd. I, S. 98–108 Reiske). Die nicht erhaltene Kirche des Heiligen Mokios befand sich wohl unweit der gleichnamigen Zisterne gleich außerhalb der Konstantinischen Mauern im Südwesten der Stadt: Janin, Constantinople, S. 205; Idem, Le siège de Constantinople et le Patriarcat œcuménique. Les églises et les monastères (La géographie ecclésiastique de l’Empire Byzantin I/3), Paris 1953, S. 367–371. Vita Euthymii 11 (S. 67 Karlin-Hayter): τις ἀνήρ, Στυλιανὸς μὲν τῇ κλήσει, ἀγνώριστος δὲ πάντη καὶ μὴ παρά τινος γινωσκόμενος. Theoph. Cont., S. 365 (Bekker); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1108 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 861 (Bekker); Skylitzes, S. 181 (Thurn); Glykas, S. 554 (Bekker); die Vita Euthymii 11 (S. 67 Karlin-Hayter) erwähnt die Amputationen und den Ort der Verbrennung nicht; vgl.
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streckt, ereilte auch einen gewissen Basileios aus Makedonien (931), der im Thema Opsikion eine Rebellion gestartet hatte. Zunächst war er dafür nur mit dem Abschlagen einer Hand bestraft worden. Erst als er seinen Versuch wiederholte, wurde er zum Tode verurteilt150. Nikephoros II. Phokas zögerte nicht, über eine Frau und ihre Tochter die Todesstrafe in Form von Verbrennung in Honoratai151 zu verhängen, weil sie ihn bei einer Prozession mit Steinen beworfen hatten (967)152. Andronikos I. Komnenos ließ Mamalos, den Sekretär seines Schwiegersohnes Alexios bei lebendigem Leibe nackt im Hippodrom verbrennen, weil dieser seinem Herrn mithilfe von Büchern die Kaiserherrschaft prophezeit hatte153. Es handelt sich hierbei um einen der wenigen detaillierten Augenzeugenberichte einer solchen Hinrichtung, die sich in ihrem Ablauf von dem geläufigen Modell des Verbrennens auf dem Scheiterhaufen unterscheidet. Niketas Choniates berichtet: Das Feuer wurde also angezündet und die Flamme loderte hoch in die Lüfte empor in der Sphendone des Hippodroms … Mamalos wurde gefesselt und nackt hergebracht … Als wäre er ein heiliges Opfer, stießen die Heizer den Jüngling mit langen Stangen ins Zentrum des Feuers. Als dieser sich der Hitze näherte und er Schmerzen litt, war ihm, wie jedem Menschen, sein Leben teuer und in der Hoffnung, vielleicht dem bereits unausweichlichem Tod zu entrinnen, stemmte und warf er sich gegen die Stangen, zumal er die von diesen verursachten Schmerzen für erträglicher hielt als das Lodern des Feuers und die ausgebreitete Holzkohle. Als er jedoch von den Heizern in die Mitte der Flammen zurückgestoßen wurde und Feuer fing, schnellte er zurück, wie es sprungkräftige Schlangen tun, und rannte um sein Leben … Das war zu viel und es rührte das Publikum zu Tränen. Nach einiger Zeit fiel er erschöpft auf den Rücken und das wütende Feuer umfing sein Fleisch, woraufhin er rasch starb. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg in die Luft auf und die Ausbreitung des Rauches war für die Nasen der Menschen, die sich dort irgendwie annäherten, unerträglich154.
Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 49–51 (Nr. 13); Romilly J. H. Jenkins, The ‚flight‘ of Samonas, in: Speculum 23/2, 1948, S. 217–235, Nachdr. in Idem, Studies on Byzantine history of the 9th and 10th centuries, London 1970, X; Reginald H. Dolley, The date of the St. Mokios attempt on the life of the Emperor Leo VI, in: Παγκάρπεια. Mélanges H. Grégoire (Annuaire de l’Institut de philologie et d’histoire orientales et slaves 10), Brüssel 1950, II, S. 231–238. 150 Τheoph. Cont., S. 421 (Bekker); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1177 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 912 (Bekker); Skylitzes, S. 228 (Thurn); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 74 (Nr. 31). 151 Vgl. Janin, Constantinople, S. 486. 152 Leon Diak. 4.7 (S. 65 Hase) war als Augenzeuge anwesend. Skylitzes, S. 276 (Thurn) weiß nichts von der Hinrichtung; vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 85–86 (Nr. 39); Cheynet, Pouvoir, S. 22 (Nr. 3). 153 Cheynet, Pouvoir, S. 117–118 (Nr. 160); Brand, Byzantium, S. 54–56; Prophezeiungen über den Nachfolger eines regierenden Kaisers boten in Byzanz wiederholt Anstoß für Prozesse wegen Hochverrats: Brandes, Kaiserprophetie, bes. S. 164 zur Hinrichtung des Mamalos. 154 Choniates, Hist., S. 311, Z. 71–89 (van Dieten): Ἀμέλει τοι καὶ τὸ μὲν ἀνῆπτο καὶ διεχεῖτο ἡ φλὸξ ἐπὶ τοῦ ἀέρος πολὺ κατὰ τὴν τοῦ σταδίου σφενδόνην … ὁ δὲ παρῆκτο σχοινόδετος καὶ γυμνός, …
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Bereits vor seinem Herrschaftsantritt (1182) hatte Andronikos an derselben Stelle einen Obdachlosen verbrennen lassen, weil dieser nachts um sein Zelt geschlichen war155. Die genannten Beispiele zeigen, dass es für Hinrichtungen kein standardisiertes Procedere gegeben zu haben scheint, ebenso wenig eine fixe Richtstätte. Die Enthauptungen und Verbrennungen fanden entweder in der Sphendone des Hippodroms, auf dem Forum Amastrianon oder aber in Außenbezirken statt. In jedem Fall gestattete die Wahl des Ortes die Präsenz einer breiten Öffentlichkeit. Richtstätten außerhalb des Stadtzentrums Die ohnehin selteneren Hinrichtungen von hochrangigen Militärs oder Mitgliedern namhafter Familien erfolgten hingegen im Normalfall außerhalb der Stadtmauern. Exekutionen außerhalb der Stadt (Pera, Abydos), bei denen ein kleineres Publikum angenommen werden kann, scheinen an weniger Regeln gebunden gewesen zu sein und sich möglicherweise eher am Kriegsrecht orientiert zu haben156. Das zeigt bereits die Massenexekution des patrikios Aigides und der anderen Generäle 913 zwischen Chrysopolis und Leukation157. Ganz ohne Verfahren erfolgte auch die Hinrichtung von Kalokyros Delphinas, einem General des Usurpators Bardas Phokas (988), der in seinem Heerlager bei Chrysopolis gehängt wurde158. Dieselbe Strafe erlitt möglicherweise auch ein weiterer Unterstützer des Phokas namens Atzypotheodoros in Abydos159. Zu den höherrangigen Opfern von Exekutionen zählt schließlich noch der aus Georgien stammende patrikios Pherses, der im Übrigen als einziger Mitverschwörer des Usurpators Nikephoros Phokas (1010) zum Tode verurteilt wurde. Ioannes Skylitzes begründet dies damit, dass er sich nicht nur als erster der Verschwörung angeschlos-
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παραστησάμενοι οὖν ὡς ἱερεῖον τὸν μείρακα οἱ καμινευταί … ἐνώθουν μετὰ καμάκων μηκίστων ἐς τὸ μεσαίτατον τοῦ πυρός. ὁ δὲ προσομιλῶν τῇ καμίνῳ καὶ ἀλγυνόμενος, φιλοψυχῶν δὲ καὶ ὡς ἄνθρωπος, ἴσως δὲ καὶ ὡς φευξεῖται διανοούμενος τὸν ἤδη ἀνυπεξάλυκτον θάνατον, νῦν μὲν ἐμπίπτων ἀντέβαινε ταῖς διακοντίσεσι μετριωτέρας κρίνων τὰς ἐκ τούτων ὀδύνας τῆς τοῦ πυρὸς ἐρωῆς καὶ τοῦ ἐπ’ ἀνθράκων ἁπλώματος, νῦν δὲ τοῖς ἐμπυρευταῖς εἰς τὸ τῆς φλογὸς μεσαίτατον ἐμβαλλόμενος καὶ ὑπὸ τῆς πυρᾶς διειλημμένος κατὰ τοὺς τῶν ὄφεων ἀκοντίας τῆς καμίνου ἐξετινάσσετο τὸν περὶ ψυχῆς τρέχων καὶ ὑπὲρ τὸ Θετταλὸν διαλλόμενος πήδημα. καὶ τοῦτο ἐφ’ ἱκανὸν γινόμενον εἰς δάκρυα ἐκίνει τοὺς θεατάς. ὀψὲ δὲ καμὼν ἐξυπτίασε, τὸ δὲ πῦρ λάβρον τὰς ἐκείνου σάρκας περιχυθὲν ἐν βραχεῖ συνετέλεσε, κνίσσα δ’ ἐς οὐρανὸν ἀνιοῦσα τὸν κύκλῳ διέφθειρεν ἀέρα καὶ ἦν τὸ τῆς λιγνύος ἀποφερόμενον ῥισὶν ἀνθρώπων ἐκεῖ που προσπελαζόντων ἀπρόσιτον. Choniates, Hist., S. 256 (van Dieten). Schon Belisar hatte auf einem Hügel bei Abydos im 6. Jh. massagetische Söldner wegen ihres Ungehorsams hängen lassen: Prokop, Kriege 3.12 (I, S. 366 Haury/Wirth). S. oben, S. 205. Leon Diak. 10.9 (S. 174 Hase); Skylitzes, S. 336 (Thurn); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 99– 102 (Nr. 50); Cheynet, Pouvoir, S. 31–33 (Nr. 15); Heher, Tod am Pfahl, S. 145. Die Hinrichtung von Atzypotheodoros ist nur in einer Handschrift der Chronik des Skylitzes überliefert: Flusin, Jean Skylitzès, S. 281, Anm. 97.
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sen hatte, sondern auch vier kuratores benachbarter Archonten töten hatte lassen und einen kaiserlichen Eunuchen eigenhändig geköpft hatte160. Die Durchführung und der Ort der Hinrichtung sind in seinem Fall jedoch nicht überliefert. Es folgten mehr als eineinhalb Jahrhunderte, in denen überhaupt keine Exekutionen von Majestätsverbrechern belegt sind. Es sollte bis zum Jahr 1184 dauern, als Andronikos I. Komnenos mit der Hinrichtung von Konstantinos Makrodukas und Konstantinos Dukas erstmals wieder der Tod namhafter politischer Feinde inszenierte161. Inszenierungen des Todes unter Andronikos I. Die Hinrichtung der beiden Dukas, die angeblich die Machtansprüche des Isaakios Komnenos auf Zypern unterstützt haben sollen, war aufsehenerregend. Andronikos I. hatte sich an Christi Himmelfahrt (21. Mai) des Jahres 1184 zum „äußeren Philopation“ (κατὰ τὸ ἔξω λεγόμενον Φιλοπάτιον) außerhalb der theodosianischen Landmauern begeben und ließ den Hof nachkommen162. Die Hinrichtung fand dann neben den „Palastanlagen des Manganes“ (τὰ λεγόμενα τοῦ Μαγγάνη παλάτια) im „inneren Philopation“ (κατὰ τὸ ἐντὸς Φιλοπάτιον) vorgesehen. Sobald das Publikum versammelt war, ließ er die beiden Verurteilten aus ihren Zellen im Erdgeschoss dieses Gebäudes herbeiführen und trotz ihres demütigen Flehens steinigen. Stephanos Hagiochristophoritzes, des Kaisers rechte Hand, machte den Anfang und spornte die Menge an, es ihm gleichzutun. Nach Drohungen fanden sich die meisten dazu bereit, an der Hinrichtung mitzuwirken. Andronikos wohnte dem Spektakel von einem oberen Stockwerk des Palastes des Manganes bei. Halbtot wurden die beiden Verurteilten auf Maultieren zu ihren endgültigen Richtstätten in Pera abtransportiert: Dukas wurde beim Juden-
160 Skylitzes, S. 367 (Thurn). Zur Verschwörung allgemein s. Nicholas Adontz / Henri Grégoire, Nicéphore au col roide, in: Byz 8, 1933, S. 203–212. 161 Choniates, Hist., S. 293–294 (van Dieten); vgl. Polemis, Doukai, S. 132–133 (Nr. 104) und S. 192–193 (Nr. 226); Cheynet, Pouvoir, S. 116–117 (Nr. 59); Brand, Byzantium, S. 56; Francesco Cognasso, Partiti politici e lotte dinastiche in Bisanzio alla morte di Manuele Comneno (Memorie della Reale Accademia delle Scienze di Torino. Ser. 2, 62), Turin 1912, S. 65. 162 Zum Philopation s. jüngst Dominik Heher, Das „Philopation“ im Manganenviertel – ein topographisches Phantom, in: Jörg Drauschke et al. (Hgg.), Lebenswelten zwischen Archäologie und Geschichte. Festschrift für Falko Daim zu seinem 65. Geburtstag, Vol II. (Römisch-Germanisches Zentralmuseum. Monographien/150,1–2), Mainz 2018, S. 701–710 (mit umfassenden Literaturangaben); Henry Maguire, The Philopation as a setting for imperial ceremonial and display, in: Charalambos Bakirtzis / Nikos Zekos / Xenophon Moniaros (Hgg.), Byzantine Thrace: Evidence and remains; Komotini 18–22 April 2007: Proceedings (= BF 30, 2011), S. 71–82; Idem, The gardens and parks of Constantinople, in: DOP 54, 2000, S. 251–264, hier S. 252–254. Vgl. auch Janin, Constantinople, S. 143–145, 411, 452; TIB 12, S. 587–588.
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friedhof gehängt oder anderswie an einem Pfahl fixiert163, Makrodukas gegenüber vom Mangana-Kloster164. Die Ortsangaben bei Niketas Choniates hat in der Forschung bisweilen zur Annahme geführt, dass die Steinigung im Manganenviertel im äußersten Osten Konstantinopels stattfand, wo man einzig auf Basis dieser Textstelle die Existenz eines „inneren Philopation“ annahm165. Wie gezeigt wurde, wurden prominente Personen jedoch in der Regel nicht innerhalb der Stadtmauern exekutiert. Darüber hinaus ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Andronikos und der gesamte Hofstaat quer durch die ganze Stadt gezogen sein sollen, um die Hinrichtung zu vollziehen. In der Tat ergab eine systematische Analyse der Ortsangaben bei Choniates und anderer Belegstellen für das Philopation, dass die Hinrichtung mit Sicherheit am Philopation außerhalb der Mauern stattfand166. Mehr noch hat sich gezeigt, dass es für die Existenz eines zweiten, „inneren“ Philopation keinerlei Beweise gibt167. Nachdem die Frage nach der Richtstätte geklärt ist, stellt sich noch die Frage nach dem potentiellen Publikum, dem auch eine aktive Rolle an der Steinigung zugedacht war. Primär war Andronikos an der Anwesenheit des Hofstaates gelegen. Auf das Erscheinen der Geladenen wurde offenbar geachtet, denn das blutige Spektakel begann erst, als eine enorme Menschenmenge versammelt war und „niemand mehr fehlte, dessen Anwesenheit nötig war“168. Unklar ist, ob Choniates mit dem „regen Zulauf von Menschen aller Nationen und Rassen“ die erwähnten Mitglieder des Hofes und Gesandte meint, oder einen zusätzlichen Zuschauerstrom aus weniger wohlgeborenen Bevölkerungsschichten samt den ansässigen ausländischen, vor allem italienischen, Händlern169. Auffällig ist auch, dass der Kaiser selbst die Rolle des Beobachters einahm und sich betont passiv verhielt. Wie schon öfter vor und auch nach diesem Vorfall legte Andronikos Wert darauf, dass die Verantwortung für Grausamkeiten nicht allein auf seinen Schultern lastete, sondern er lediglich der Vollstrecker des herrschenden Ge163 Polemis, Doukai, S. 133 und 193 spricht in beiden Fällen fälschlicherweise von „body … was cut into pieces“ bzw. „body … was dismembered“. Die Wendung bei Choniates (ἀνασκολοπίζονται ἀμφότεροι) bezieht sich eindeutig auf eine Tötung an einem Pfahl. Außerdem war entgegen Polemis’ Schilderung nicht nur Makrodukas, sondern auch Konstantinos Dukas nach der Steinigung noch am Leben. Auch die Interpretation von Cognasso, Partiti, S. 277 („corpi … messi in croce“) ist abzulehnen. Vgl. Heher, Tod am Pfahl, S. 148 mit Anm. 158. 164 Für die von Jurewicz, Andronikos, S. 106 ausgemachten „raffinierten Foltern“, die öffentlich vollstreckt worden sein sollen, gibt es keine textliche Grundlage. 165 Zum angeblichen inneren Philopation s. Janin, Constantinople, S. 40, 411, 453. 166 Heher, Philopation; Korrekte Verortung schon bei Cognasso, Partiti, S. 65; Maguire, Philopation. S. 76. 167 Heher, Philopation, S. 706–707. 168 Choniates, Hist., S. 293, Z. 91–92 und 98–99 (van Dieten). ἀθροισμὸς ἐκ προσκλήσεως γίνεται τῶν περὶ τὴν βασίλειον ἁπάντων αὐλήν … καὶ ἐπεὶ πολυάνθρωπος ἦν ἡ συνέλευσις, πάνυ μέντοι πολυάνθρωπος, καὶ ἀπῆν οὐδείς, ὃν παρεῖναι ἐχρῆν. 169 Choniates, Hist., S. 293, Z. 92–93 (van Dieten): καὶ ἦν διὰ τοῦτο τοῖς ἐκ παντὸς ἔθνους καὶ γένους συνδρομὴ καὶ ὁρμὴ ἔνθα ὁ βασιλεὺς ἐνηυλίζετο.
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setzes war170. Interessant ist hierbei auch die Praäambel eines nie umgesetzten Gesetzesentwurfes von 1185, der vorsah, dass künftig nicht nur Majestätsverbrecher selbst, sondern auch ihre Angehörigen den Tod erleiden sollten. Darin erklären Andronikos’ Berater, dass sie allein der Wille Gottes und keine kaiserliche Weisung dazu gebracht hätte, die weitreichenden Beschlüsse zu fassen171. Noch beim Prozess nach seiner Absetzung rechtfertigte er sich mit dieser Argumentation172. Die inszenierte Hinrichtung der beiden Dukas, so Niketas Choniates, habe den Einwohnern Konstantinopels erstmals die Grausamkeit Kaiser Andronikos’ I. vor Augen geführt und das dürfte auch der Realität entsprechen173. Die Tötung von Alexios II.174 und seiner Mutter Maria-Xene von Antiochia175 hatten unter gänzlichem Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Das Massaker an den Verteidigern von Nikaia und Bursa176, darunter Leon Synesios und Manuel Lachanas, fand in einiger Entfernung von Konstantinopel statt. Eine Verschwörung unter der Führung von Andronikos Angelos, Andronikos Kontostephanos und Basileios Kamateros im Sommer 1183 wurde zwar mit aller Härte unterdrückt, doch wurden die Rädelsführer nur geblendet. Auch zu Hinrichtungen soll es gekommen zu sein, wobei Choniates weder Zahl noch Namen nennt177. Weitere Todesurteile sollen verhängt worden sein, als Andronikos nach der Eroberung Thessalonikis durch die Normannen (August 1185) zunehmend paranoid geworden sei. Auch von diesen sind jedoch keine Details oder konkrete Namen überliefert178. Die einzige öffentliche Hinrichtung im Stadtzentrum betraf den Sekretär Mamalos179. Im Sommer 1184 ließ Andronikos zudem die an einer vermeintlichen Verschwörung seines Schwiegersohnes Alexios Komnenos180 beteiligten Brüder Seba-
170 So etwa im Kontext der Verurteilung von Maria-Xene oder bei der Hinrichtung der Sebastianoi-Brüder: Choniates, Hist., S. 295, Z. 49–53 (van Dieten). 171 Choniates, Hist., S. 336, Z. 29–30 (van Dieten): Θεόθεν κινηθέντες καὶ οὐκ ἐξ ὁρισμοῦ τοῦ κραταιοῦ καὶ ἁγίου ἡμῶν αὐθέντου καὶ βασιλέως ψηφηφοροῦμεν καὶ ἀποφαινόμεθα … Kyritses, Constitutional crisis, S. 104–105 argumentiert glaubwürdig, dass die Initiative für den Gesetzesentwurf tatsächlich bei den Beratern lag, an die Andronikos nach der Eroberung Thessalonikis durch die Normannen vermehrt Macht delegiert hatte. 172 Choniates, Hist., S. 337 (van Dieten). 173 Choniates, Hist., S. 293 (van Dieten). 174 Choniates, Hist., S. 273–274 (van Dieten); Eustathios von Thessalonike, S. 52 (Kyriakides); vgl. Brand, Byzantium, S. 49. 175 Maria wurde nach einer formalen Verurteilung, die auch von ihrem Sohn Alexios II. unterschrieben worden war, ertränkt: Niketas Choniates, Hist., S. 267–268, 273–274 (van Dieten); Eustathios von Thessalonike, S. 40 (Kyriakides); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 114–115 (Nr. 156); Brand, Byzantium, S. 45–47, 49; Jurewicz, Andronikos, S. 94–96; Cognasso, Partiti, S. 50–53. 176 Choniates, Hist., S. 286; Eustathios 56 (Kyriakides); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 115 (Nr. 157); Jurewicz, Andronikos, S. 98. Die seldschukischen Verbündeten wurden demonstrativ in einem Kreis um die Stadt gehängt. Vgl. Heher, Tod am Pfahl, S. 148. 177 Choniates, Hist., S. 266–267 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 114 (Nr. 155). 178 Choniates, Hist., S. 334 (van Dieten). 179 S. oben, S. 207. 180 Brand, Byzantium, S. 54.
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steianos181 gegenüber der Fährstation von Perama182, also in Galata hängen183. Der Grad an öffentlicher Inszenierung verhielt sich also, wie schon in den Jahrhunderten davor, indirekt proportional zum sozialen Rang des Verurteilten. Abgesehen von den genannten Fällen sind keine weiteren Hinrichtungen belegt, die Andronikos zu verantworten hatte. Wenn Eustathios von Thessalonike in einer düsteren Analogie davon spricht, dass der purpurne Krönungsmantel des Kaisers das Blut all jener symbolisiert habe, die er während seiner Regierungszeit zum Tode verurteilen sollte, so spricht daraus wohl weniger das Entsetzen über die Vielzahl der betroffenen Personen, sondern über die Vollstreckung des Todesurteils überhaupt184. Das harte Vorgehen des Andronikos gegen Verschwörer, besonders auch die sprunghaft angestiegene Zahl an Blendungen185, hatte zweifellos zu einer Verschiebung der moralischen Standards geführt. Die seit dem 11. Jahrhundert so charakteristische Hemmschwelle für Todesstrafen für hochrangige Persönlichkeiten war damit gefallen, ebenso wie die ungeschriebene Verpflichtung des Kaisers zur philantrōpia186. Den Höhepunkt dieser Entwicklung markierte der Sturz des Andronikos selbst, der in einem beispiellosen Akt öffentlicher Gewalt seinen Tod fand: Sein Nachfolger, Isaakios II. Angelos, ließ ihn zunächst im Anemas-Turm inhaftieren und verstümmeln. An einem Auge geblendet, die rechte Hand abgeschlagen, kahlgeschoren und die Zähne ausgeschlagen, wurde Andronikos danach in einer Spottparade vom Blachernenpalast bis zum Hippodrom getrieben und dort der Lynchjustiz der Volksmenge überlassen. Auf der Spina wurde er zwischen zwei Säulen in der Nähe der bronzenen Wölfin kopfüber aufgehängt. Für seinen endgültigen Tod sorgten laut Niketas Choniates schließlich zwei Lateiner, die wetteiferten, wessen Schwerthieb tiefer in den Körper des Andronikos eindringe187. Die Hinrichtung des Andronikos blieb in ihrer exzessiven Grausamkeit und Öffentlichkeit ein Einzelfall. Die Scheu vor Blendungen und Hinrichtungen war zwar für die kommenden Jahrzehnte gefallen, doch mieden auch die Kaiser nach ihm eine allzu öffentliche Vollstreckung der Urteile. Getötet wurden in den folgenden Jahren auch zwei Betrüger, die sich für den verstorbenen Alexios II. auszugeben versucht hatten
181 Laut Theodoros Skutariotes (Ανωνύμου σύνοψις χρονική, ed. Konstantinos Sathas [Mesaionike Bibliotheke 7] Venedig/Paris 1894, Nachdr. Paris s. a., S. 344, 347) handelte es sich bei den beiden um Andronikos’ Großonkel mütterlicherseits. 182 Choniates, Hist. 296 (van Dieten). 183 Niketas Choniates, Hist., S. 296, 309 (van Dieten); Cheynet, Pouvoir, S. 117–118 (Nr. 160); Brand, Byzantium, S. 56; Jurewicz, Andronikos, S. 106. 184 Eustathios, S. 40, 50–54 (Kyriakides). 185 S. unten, S. 225. 186 Vgl. Kapitel 3.2.2. 187 Choniates, Hist., S. 350 (van Dieten). Zur Hinrichtung des Andronikos s. auch unten, S. 331–333.
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(1191188, 1195189) sowie Isaakios Komnenos, der Neffe des Andronikos (1191/93)190 – allesamt jedoch nicht vor Publikum. 3.2.2 Die Gnade des Kaisers Insgesamt fällt auf, dass die Zahl an öffentlichen Hinrichtungen angesichts der eindeutigen rechtlichen Grundlagen, der starken medialen Wirkmacht und der hohen Zahl an Usurpationen erstaunlich niedrig ist. Nur sehr selten wurde das Gesetz in seiner vollen Härte ausgelegt. In der Regel schwächte der siegreich verbliebene die Strafen kraft seiner Gnade ab, vor allem, wenn die Betroffenen der Elite angehörten191. Das Konzept der Gnade Die Inszenierung des Todes von Thronkonkurrenten konnte als starkes Ausdrucksmittel von Macht instrumentalisiert werden192. Ihr seltenes Vorkommen in einer stark ritualisierten Gesellschaft wie der byzantinischen überrascht zunächst und erfordert eine Erklärung193. Im Grunde ist diese relative Milde gegenüber Majestätsverbrechern eine logische Konsequenz der byzantinischen Rechtsentwicklung. Bereits die Geset-
188 Dem Hochstapler schnitt nach einem Trinkgelage in Harmala ein Priester die Kehle durch: Choniates, Hist., S. 422–423 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 124 (Nr. 170). 189 Die Tötung erfolgte durch einen Meuchelmörder in der Festung von Gangra (Çankırı): Choniates, Hist., S. 463 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 130 (Nr. 182); Brand, Byzantium, S. 136. 190 Choniates, Hist., S. 423 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 125 (Nr. 172). 191 Timothy E. Gregory, The ekloga of Leo III and the concept of ‚philanthropia‘, in: Byzantina 7, 1975, S. 267–287, hier S. 284. 192 Für das westliche Mittelalter s. etwa Nicole Gonthier, Le châtiment du crime au Moyen Âge, Rennes 1998; Sylvia Kesper-Biermann / Diethelm Klippel, Verbrechen und Strafen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Neue Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in: Sylvia Kesper-Biermann (Hg.), Kriminalität in Mittelalter und Früher Neuzeit. Soziale, rechtliche, philosophische und literarische Aspekte, Wiesbaden 2007, S. 7–11; Linda-MArie Günther / Michael Oberweis (Hgg.), Inszenierungen des Todes – Hinrichtung, Martyrium, Schändung (Sources of Europe 4), Berlin 2006. 193 Vgl. George T. Dennis, Death in Byzantium, in: DOP 55, 2001, S. 1–8, hier S. 7: „It must be said, however, that the Byzantine attitude toward the death penalty differed from other societies of the time and may well be of some relevance today. The Byzantines, so it seems, preferred to sentence a guilty person to exile or to confinement in a monastery or else to subject him to mutilation or blinding rather than put that person to death. Sometimes, of course, such punishments did result in death, but, cruel though they may have been, they did allow the condemned person time to repent and to serve as a cautionary example to those who might be thinking of crime or rebellion … This reluctance to take a person’s life, even when legally and morally permissible, is exceptional in the history of mankind and surely merits further study. For it was not until well into the second half of the twentieth century that such sentiments were forcefully expressed and received broad support. Emphasis on the Byzantine respect for life is one unexpected result of this cursory research on death.“
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zessammlung Justinians hatte die Anwendung der im Codex Theodosianus noch im Überfluss enthaltenen Todesstrafe drastisch reduziert und teilweise zu Verstümmelungen umgewandelt. Diese Entwicklung setzte sich in der Eklogē Kaiser Leons III. fort und bestimmte fortan die byzantinische Rechtspraxis194. Die Todesstrafe existierte zwar weiterhin für etliche Verbrechen und Sittlichkeitsdelikte, wurde aber speziell bei Hochverrat ab dem 8. Jahrhundert zunehmend durch die Blendung ersetzt195. Man kommt schwer umhin, hinter dieser Entwicklung den Einfluss des Christentums zu erkennen, das vor allem ab dem 6. Jahrhundert auch den Charakter des Kaisertums entscheidend veränderte. Neue Tugenden wurden vom Herrscher über die christliche Welt verlangt, nicht zuletzt Menschenliebe (philanthrōpia). Der Begriff der Philanthropie war ursprünglich ausschließlich auf Götter angewandt worden, bevor er ab dem 4. Jahrhundert auch zur Beschreibung von Kaisern dienen konnte, in denen sich die göttliche Liebe zu den Menschen spiegeln sollte196. Diese manifestierte sich nicht nur im Schutz der Bevölkerung vor Feinden, der Versorgung mit Nahrung und der Stiftung öffentlicher Bauten, sondern auch in der gerechten Handhabung der Justiz197. Mehr noch – die philanthrōpia sollte über den Gesetzen stehen und den Kaiser zu einer mildtätigen und gnädigen Anwendung der rechtlichen Grundlagen führen, ganz nach Gottes Vorbild, der dem fehlerhaften Menschen seine Sünden verzeiht und korrigierend einwirkt198. Gänzlich auf eine Bestrafung zu verzichten, konnten sich die byzantinischen Kaiser dennoch zumeist nicht erlauben. Bezeichnend für den Umgang mit Majestätsverbrechern ist das Urteil Basileios’ I. gegen die patrikioi Symbatios und Georgios im Jahre 867:
194 Vgl. auch die Revision der Todesstrafe gegen Überläufer (Dig. 49.16.3.10) durch die Novelle 67 Leons VI. (S. 216–218 Troianos). 195 S. Kapitel 3.2.1. 196 Grundlegend: Herbert Hunger, Φιλανθρωπία. Eine griechische Wortprägung auf ihrem Wege von Aischylos bis Theodoros Metochites, in: Anzeiger der phil.-hist. Kl. d. Österr. Akad. d. Wiss.100, 1963, S. 1–20; Glanville Downey, Philanthropia in religion and statecraft in the fourth century after Christ, in: Historia 4, S. 1955, S. 199–208, hier S. 199; Gregory, Philanthropia, S. 279; vgl. Franz Dvornik, Early Christian and Byzantine political philosophy. Origins and background, I–II (DOS 9), Washington, D. C. 1966, S. 539–540, 551–557, 618–625, 685–691. 197 Hunger, Φιλανθρωπία, S. 10–12 und 14–16 zur Berufung auf die philanthrōpia in der Gesetzgebung; Gregory, Philanthropia, S. 279–280. 198 Vgl. einen Brief Kaiser Julians (L’Empereur Julien, Œuvres complètes, I/2: Lettres et fragments. Texte revu et traduit par Joseph Bidez, Paris 21960, S. 156–157 [Brief 89b]): ἡ δὲ φιλανθρωπία πολλὴ καὶ παντοία· καὶ τὸ πεφεισμένως κολάζειν τοὺς ὰνθρώπους ἐπὶ τῷ βελτίονι τῶν κολαζομένων, ὣσπερ οἱ διδάσκαλοι τὰ παιδία, καὶ τὸ τὰς χρείας αὐτῶν ἐπανορθοῦν, ὣσπερ οἱ θεοὶ τὰς ἡμετέρας. („Die φιλανθρωπία aber ist vielfältig und verschieden: die Menschen maßvoll strafen, um die Bestraften zu bessern, wie die Lehrer die Kinder, und ihnen in ihrer Not aufzuhelfen, wie die Götter es mit unserer [Not machen]“). Übersetzung: Hunger, Φιλανθρωπία, S. 11. Vgl. Jürgen Kabiersch, Untersuchungen zu dem Begriff der Philanthropia bei dem Kaiser Julian (Klassisch-philologische Studien 21), Wiesbaden 1960.
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Da sie anschließend durch Beweise überführt wurden, drohte ihnen von Gesetz wegen die äußerste Strafe, das heißt nach Einzug und Verfall all ihres Besitzes auch ihre Hinrichtung. Die Menschenfreundlichkeit des Kaisers begnügte sich jedoch damit, dass die Rädelsführer dieses bösen Planes bloß geblendet wurden und er hätte seine Strafforderungen noch mehr beschränkt, wenn er nicht gewusst hätte, dass höchste Menschenliebe gegen diese auch andere zu solch frevelhaften Taten angestachelt hätte, und er sich dann in die Notlage gebracht sehe, mit schweren Vergeltungsmaßnahmen vorzugehen. Deshalb gab er durch die erwähnte Bestrafung diesen Gelegenheit zur Reue, die anderen Bösewichte aber brachte er dadurch zur Besinnung199.
Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nahm die kaiserliche Bereitschaft zur Vergebung im Verlauf des 11. Jahrhunderts zu und avancierte zum neuen Standard. Bezeichnend für diesen Paradigmenwechsel ist Michael Attaleiates’ Beschreibung der Verurteilung des abgesetzten Kaisers Romanos IV. Diogenes (1067): Ihm [scil. Romanos] wurde von den Vorsitzenden des Senates der Prozess wegen Umsturzplänen gemacht und er wurde zum Tode verurteilt. Weder antwortete er darauf, noch erfand er Gegenargumente und er widersprach auch nicht der Anklage, sondern überführte sich durch sein Geständnis selbst … D a h e r [Hervorhebung D. H.] wurde er auf eine Insel verbannt200.
Gnade für Usurpatoren? In typisch byzantinischer Manier pflegten Kaiser auf Usurpationsversuche zunächst mit diplomatischen Mitteln zu reagieren. Boten überbrachten den Putschisten Warnungen vor den Konsequenzen ihrer Handlungen, verbunden mit dem Angebot einer großzügigen Amnestie im Falle einer umgehenden Kapitulation. Zu einer Aufgabe ihrer Ambitionen in einem so frühen Stadium ließen sich Usurpatoren freilich nie über-
199 Theoph. Cont., S. 263, Z. 13–264, Z. 1 (Bekker = 128, Z. 11–130, Z. 21 Ševčenko): ἀκολουθησάντων δὲ τῶν ἐλέγχων ἐπήρτητο μὲν ἀπὸ τῶν νόμων αὐτοῖς ἡ ἐσχάτη τιμωρία, τουτέστι, μετὰ καὶ δήμευσιν καὶ τῶν ὄντων ἁπάντων ἔκπτωσιν, καὶ ἡ τῆς ζωῆς αὐτῆς ἀλλοτρίωσις. ἀλλ’ ἡ τοῦ γενναίου βασιλέως φιλανθρωπία μόνῃ τῶν ὀφθαλμῶν ἐκκοπῇ τὴν τιμωρίαν ὡρίσατο τέως τῶν προκαταρξάν των τῆς πονηρᾶς συμβουλῆς. καὶ πλέον δ’ ἂν τὴν εἴσπραξιν ἐμετρίασεν, εἰ μὴ τὴν εἰς τούτους ἄκραν φιλανθρωπίαν ἐγίνωσκε καὶ ἄλλους προτρέψεσθαι πρὸς τὴν μίμησιν καὶ τότε εἰς ἀνάγκην ὑπαχθῆναι αὐτὸν καὶ βαρυτέρας ἀνταποδόσεως. διὰ τοῦτο τῇ λεχθείσῃ ποινῇ τούτοις τε μετανοίας παρέσχε καιρὸν καὶ τοὺς λοιποὺς τῶν πονηρῶν ἐσωφρόνιζε. Übersetzung nach: Vom Bauernhof auf den Kaiserthron: Leben des Kaisers Basileios I., des Begründers der makedonischen Dynastie. beschrieben von seinem Enkel, d. Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos. Übersetzt, eingeleitet u. erklärt von Leopold Breyer (BGS 14), Graz/Wien et al. 1981, S. 80–81. 200 Attaleiates, S. 78, Z. 4–10 (Tsolakes): Κριθεὶς τοίνυν παρὰ τῶν πρώτων τῆς συγκλήτου βουλῆς τῷ τῶν ἐπιβούλων νόμῳ ἑάλω καὶ κατεψηφίσθη θανεῖν, μὴ ἀντερίσας ἢ ἀντιθέσεις πλασάμενος ἢ τὴν κατηγορίαν ἀπαρνησάμενος, ἀλλ’ αὐτέλεγκτος ἐκ τῆς ὁμολογίας γενόμενος … Διὸ καὶ ὑπερορίᾳ ἀπεστάλη πρὸς νῆσον.
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reden201. Attraktiv wurden Kapitulationsangebote erst dann, wenn aus militärischer Sicht kein erfolgreiches Ende der Bewegung mehr zu erwarten war. Doch selbst, wenn die Feinde der Krone bis zum bitteren Ende an ihrem ehrgeizigen Projekt festhielten, hatten sie gute Chancen auf kaiserliche Gnadenerweise. Wie bereits ausgeführt, fand die vom Gesetz vorgesehene Todesstrafe im Untersuchungszeitraum nur in den seltensten Fällen Anwendung und bereits die Abschwächung zu Verstümmelungsstrafen konnte als Akt der Gnade betrachtet werden. Im günstigsten Fall blieben Leib und Besitz unangetastet; mitunter kam es auch zu einer vollständigen Rehabilitierung nach kurzem Exil oder einer öffentlichen Demütigung202. Dem siegreichen Kaiser bot sich dabei die Möglichkeit, seine Güte und Menschenliebe unter Beweis zu stellen und so ist es nicht verwunderlich, dass Begnadigungen und Versöhnungen mitunter vor einem mehr oder minder großen Kreis an Zuschauern in Szene gesetzt wurden. Die Gnade der Makedonenkaiser Als Bardas Skleros im Jahre 989 gewahr wurde, dass ihn auch sein zweiter Usurpationsversuch nicht auf den Thron bringen würde, fand er sich bereit, auf die Kapitulationsbedingungen von Kaiser Basileios II. einzugehen und den Konflikt in einer Weise zu lösen, bei der beide Kontrahenten ihr Gesicht wahren konnten. Für die formelle Versöhnung empfing Basileios seinen Kontrahenten in seinem Zelt, das außerhalb Konstantinopels errichtet worden war, um dem immer noch herrschenden Kriegszustand Rechnung zu tragen. Erst nach Ablegen aller Insignien durfte Skleros das Zelt betreten und die Kapitulation samt Begnadigung wurde ratifiziert203. Michael Psellos schmückt den Bericht dahingehend aus, dass sich die Protagonisten umarmten und dass der Kaiser seinem Gegner ein Getränk aus einem gemeinsamen Kelch anbot. Dieses bemerkenswerte Treffen zwischen einem Kaiser und seinem Usurpator ist eines der wenigen Ereignisse der byzantinischen Geschichte, das eine detaillierte Analyse in Bezug auf ritualisierte Handlungsmuster erfahren hat204 und bietet einen Einblick in Strategien der Konfliktlösung, wie sie zumindest für die Historiographen des 11. Jahrhunderts existierten205. 201 Cheynet, Pouvoir, S. 170. 202 S. Kapitel 3.3.3. 203 Psellos, Chron. 1.27–28 (S. 16–17 Reinsch); Skylitzes, S. 338–339 (Thurn); Zonaras 16.7 (S. 555– 557 Pinder/Büttner-Wobst). 204 Grünbart, Versöhnung. 205 Grünbart, Versöhnung, S. 217–220. Gemeinsamer Trunk bzw. gemeinsames Mahl sind auch in anderen vergleichbaren Kontexten überliefert. Nach der Tonsur des abgesetzten Romanos IV. Diogenes lud der siegreiche General Andronikos Dukas seinen entmachteten Gegner zu einem Bankett in seinem Zelt: Psellos, Chron. 7.162 (= 7b41; S. 282 Reinsch). Grundlegend für den Westen: Gerd Althoff, Der friedens-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahles im früheren Mittelalter, in: Irmgard Bitsch / Trude Ehlert / Xenja von Ertzdorff (Hgg.), Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit. Vorträge eines interdisziplinären Symposions, Gießen, 10.–13. Juni 1987, Gießen 1987, S. 13–25.
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Abgesehen von diesem Vorfall sind demonstrative Versöhnungen oder inszenierte Begnadigungen dieser Art unter den Kaisern der makedonischen Dynastie jedoch bis zu deren Erlöschen im Mannesstamm 1028 nicht belegt. Das soll nicht bedeuten, dass in dieser Zeit die kaiserliche Rechtsprechung keine Milde kannte: Anstelle der Todesstrafe wurden meist Blendung und andere Verstümmelungsstrafen verhängt206; in einigen Fällen kamen gescheiterte Usurpatoren sogar mit Tonsur und/oder Exil davon und selbst dieses wurde bisweilen nach einiger Zeit wieder aufgehoben207. Die Bereitschaft des Kaisers zur Vergebung sollte aber im Laufe des 11. Jahrhunderts eine neue Dimension erreichen, die erst mit den Thronkämpfen nach dem Tod Manuels I. Komnenos im Jahre 1180 abrupt enden sollte. Auffällig ist hierbei der völlige Verzicht auf Exekutionen zwischen 1010 und 1184208 und der massive Rückgang von Blendungen zwischen 1043 und 1183209. Selbstverständlich ist bei dieser Betrachtung die äußerst geringe Zahl an Usurpationsversuchen zwischen 1108 und 1183 in Rechnung zu stellen210 und in ihren unterschiedlichen Prämissen und Verlaufsformen waren die Putschversuche individuell so verschieden, dass eine rein quantitative Auswertung von Begnadigungen nur geringe Aussagekraft hat. Die These einer neuen Wertschätzung kaiserlicher philanthrōpia im 11. Jahrhundert soll daher im Folgenden durch eine qualitative Analyse gestützt werden. Der neue Wert der Menschenliebe Zunächst ist in den historiographischen Quellen eine veränderte Bewertung der möglichen Höchststrafen zu bemerken, die einen neuen moralischen Standard suggeriert. Die Todesstrafe war, wie erwähnt, bereits seit der ersten Hälfte des 11. Jahrhundert nicht mehr ernsthaft als mögliche Sanktion in Betracht gezogen worden. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, in denen das Auslöschen des Augenlichtes noch als Milderung der Todesstrafe betrachtet werden konnte211, wurde nun aber auch die Blendung zunehmend als unmenschlicher Akt verurteilt. In apologetischer Weise suchen Geschichtsschreiber nunmehr nach Rechtfertigungen, wenn ihnen nahestehende Kaiser dennoch die Exekution der Strafe anordneten. So spricht Michael Psellos Kaiser Michael VII. Dukas (und nebenbei auch sich selbst) von der Schuld an der Blendung 206 Für die Zeit von 867–1028 s. die Fälle bei Bourdara, Καθοσίωσις Ι, Nr. 2, 4, 6, 9, 15, 19, 20, 25, 28, 41, 42, 43, 51, 53, 54, 55); vgl. Cheynet, Pouvoir, Nr. 6, 7, 8, 20, 23, 24, 25, 26, 27, 28). 207 So unter anderem die folgenden Fälle bei Bourdara, Καθοσίωσις Ι, Νr. 24, 28, 30, 34, 36). 208 S. Kapitel 3.2.1. 209 S. Kapitel 3.3.2. 210 Cheynet, Pouvoir, S. 413. 211 Zur Blendung als Akt kaiserlicher Gnade s. Theoph. Cont., S. 128, Z. 14–130, Z. 16 (Ševčenko): ἀλλ’ ἡ τοῦ γενναίου βασιλέως φιλανθρωπία μόνῃ τῶν ὀφθαλμῶν ἐκκοπῇ τὴν τιμωρίαν ὡρίσατο τέως τῶν προκαταρξάντων τῆς πονηρᾶς συμβουλῆς; ebd. S. 160, Z. 8–12: ἀλλὰ πάλιν ἡ τοῦ γενναίου βασιλέως φιλανθρωπία τὴν τῶν νόμων αὐστηρίαν παρέθραυεν καὶ τὰς ποινὰς ἐμετρίαζεν· διὸ τοῦ προεξάρχοντος ἐκκοπέντος τοὺς ὀφθαλμούς, οἱ λοιποὶ διὰ τῶν εἰς τὸ σῶμα πληγῶν καὶ τῆς ἀφαιρέσεως τῶν τριχῶν φιλανθρώπως ἐσωφρονίζοντο.
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des gestürzten Romanos IV. Diogenes frei, die einzig auf Betreiben einiger kaiserlicher Berater ausgesprochen worden sei212. Michael Attaleiates, Parteigänger von Romanos IV., sieht dies naturgemäß anders und verurteilt den Akt213, nur um an anderer Stelle die Blendung von Nikephoros Bryennios auf Geheiß von Nikephoros III. Botaneiates durch politische Notwendigkeit zu rechtfertigen214. In Anna Komnenes Alexias erscheint die Strafe als äußerstes Mittel im Umgang mit Feinden des Kaisers. Mit der Blendung der Verschwörer Nikephoros Diogenes und Kekaumenos Katakalon soll Alexios I. nichts zu tun gehabt haben215. Auf die Nachricht der (vorgetäuschten) Blendung von Roussel von Bailleul durch Alexios reagiert dessen Cousin Theodoros Dokeianos empört, und „bezichtigte den stratēgos [scil. Alexios] der Grausamkeit, und er tadelte ihn dafür und machte ihm Vorwürfe, dass er einen so tüchtigen, ja geradezu heldenhaften Mann der Augen beraubt habe, den er doch ungestraft hätte davonkommen lassen müssen“216. An späterer Stelle empfindet die Autorin die Androhung derselben Strafe für Michael Anemas und seine Mitverschwörer als zu grausam, wobei sie erneut den pragmatischen Einwand anführt, dass das Reich dadurch einen fähigen General verlöre217. Deutlich artikuliert findet sich diese Grundhaltung auch bei Michael Attaleiates, der den blinden Zorn Michaels VII. im Umgang mit Roussel von Bailleul kritisiert: Der Kaiser hatte nicht vor, ihn vor seine Augen treten zu lassen und etwas zu beschließen, das der kaiserlichen Geduld und Großmut würdig gewesen wäre, nämlich einen Prozess gegen ihn anzustrengen und ihn nach der Urteilsfindung zum Tode zu verurteilen, dann jedoch dem gerechtfertigten Zorn Milde und Menschenliebe entgegenzusetzen und somit dem Römischen Reich einen so mächtigen Krieger und General zu erhalten …, sodass dieser für seine Rettung dem Kaiser zu Dank verpflichtet gewesen wäre …218.
212 Psellos, Chron. 7.163 (= 7b 42; S. 283–284 Reinsch). 213 Attaleiates, S. 135–136 (Tsolakes). 214 Attaleiates, S. 224 (Tsolakes). Ebd., S. 230–231 wird hingegen die Blendung von Nikephoros Basilakios kommentarlos hingenommen. 215 Anna Komnene, Alexias 9.9.6 (S. 279 Reinsch/Kambylis). Zu Kekaumenos Katakalon s. Skoulatos, Personnages, S. 163–164 (Nr. 105). 216 Anna Komnene, Alexias 1.3.4 (S. 17, Z. 83–88 Reinsch/Kambylis): τὸν Οὐρσέλιον τὰ τῆς τυφλώσεως σύμβολα φέροντα καὶ ὑπό του χειραγωγούμενον, βύθιόν τι στενάξας καὶ ἐπιδακρύσας τῷ Οὐρσελίῳ ὠμότητα κατηγορήκει τοῦ στρατηγοῦ καὶ μέμψιν αὐτῷ ἐπῆγε τούτου καταβοώμενος ὡς τοιοῦτον ἄνδρα γεννάδαν τὲ καὶ ἄντικρυς ἥρωα τοὺς ὀφθαλμοὺς ἀφελομένου, ὃν ἐχρῆν ἀτιμώρητον διασώσασθαι. Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 31–32. 217 Anna Komnene, Alexias 12.6.6 (S. 375 Reinsch/Kambylis). 218 Attaleiates, S. 159, Z. 19–27 (Tsolakes): Ὁ δὲ βασιλεὺς μὴ προθέμενος εἰς ὄψιν ἑαυτοῦ καὶ θέαν τοῦτον ἐλθεῖν καί τι καὶ βουλεύσασθαι βασιλικῆς ἀνεξικακίας καὶ μεγαλοφροσύνης ἐπάξιον καὶ προθεῖναι κατ’ αὐτοῦ δικαστήριον καὶ μετὰ διάγνωσιν καταδίκῃ μὲν θανατηφόρῳ τοῦτον ὑποβαλεῖν, ἀντιστῆσαι δὲ τῷ δικαίῳ χόλῳ τὸ ἠπιώτατον καὶ φιλάνθρωπον καὶ οὕτω φυλάξαι τῇ Ῥωμαίων ἀρχῇ τηλικοῦτον στρατιώτην καὶ στρατηγόν δυνάμενον …, ὥστε χάριτας ὁμολογήσαντα τῆς σωτηρίας τῷ βασιλεῖ …
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In gleichem Maße wie die Unfähigkeit zur Vergebung immer mehr als Makel empfunden wird, heben die Autoren des 11. Jahrhunderts zunehmend die philanthrōpia als Herrschertugend hervor. Michael Psellos lobt Konstantinos IX. Monomachos (1042–1055) dafür, dass er selbst bei der Bestrafung von Majestätsverbrechern auf Todes- und Verstümmelungsstrafen verzichtet habe219. Das Lob ist teilweise berechtigt: In den meisten Fällen beschränkte sich der Kaiser auf Verbannung und Enteignung220; lediglich Leon Lampros wurde im Juli 1043 für seine geplante Palastrevolution geblendet und Konstantinos Barys soll aus demselben Grund seine Zunge verloren haben221. Ironisches Detail am Rande: Der Usurpator Leon Tornikios ließ 1047 vor den Stadtmauern Gefangene frei und beschwor seine Kämpfer, kein römisches Blut mehr zu vergießen. Durch diese Demonstration seiner clementia wollte er die Sympathie der Bevölkerung Konstantinopels gewinnen. Das Verhalten habe laut Psellos auch Kaiser Konstantinos beeindruckt und verängstigt: „Nur eines beunruhigt mich, nämlich dass dieser furchtbare Mann, der sich in die Usurpation gestürzt hat, so menschenfreundliche und sanfte Töne äußert. Ich fürchte, er könnte damit die göttliche Kraft auf sich ziehen“222. Als sich das Blatt zu seinen Gunsten wandte, schwor der Kaiser vor Gott und auf sein eigenes Haupt, dass er eine Generalamnestie verkünden wolle, ließ sich aber dann doch dazu hinreißen, Leon Tornikios und Ioannes Batatzes zu blenden223. Bemerkenswert ist dagegen der Umgang mit Romanos Boilas im Jahre 1050. Von Psellos als Hofnarr abgetan, hatte der Aufsteiger Boilas es in die Entourage des Kaisers geschafft und war zu einem seiner engsten Vertrauten geworden. Als er bezichtigt wurde, ein Attentat auf Konstantinos zu planen, flüchtete er sich an einen Altar und gestand seine Schuld224. Am nächsten Tag kam es zum Prozess, doch anstelle einer Bestrafung 219 Psellos, Chron. 6.167 (S. 182, Z. 4–13 Reinsch): ἐγὼ τῶν ἄλλων ἐξαίρω, ὁπόσα αὐτῷ τὴν κρείττονα ὑπόληψιν ἔσχηκε. τί ποτέ ἐστι τοῦτο; ᾖδει τὴν αὐτοῦ ψυχὴν ἐπιεικεστάτην· καὶ φιλανθρωποτάτην τυγχάνουσαν· καὶ οὐδενὶ τῶν πάντων, ὁπόσοι κατ’ ἐκείνου λυττᾶν ἠβουλήθησαν, εἰδυῖαν μνησικακεῖν. τοῖς μὲν οὖν μέτρια ἡμαρτηκόσι (λέγω δὴ μέτρια, ὁπόσα ἀνθρώποις κακίας οὐκ ἔχει ὑπερβολὴν), ἀπραγμόνως ἐχρῆτο τῇ τοιαύτῃ τῆς ψυχῆς ἕξει. οὓς δὲ ἐγνώκει ἄχρις αὐτοῦ τοῦ Κρείττονος ἀδικίαν λαλήσαντας, τούτους δὴ ἢ ὑπερορίᾳ καταδικάζων· ἢ ὅροις εἵργων περιγράπτοις· ἢ δεσμὰ περιβάλλων ἄφυκτα, ὅρκοις ἑαυτὸν ἐδέσμει ἐν ἀπορρήτῳ, μὴ ἄν ποτε δοῦναι ἐκείνοις τὴν ἄφεσιν. 220 Die Soldaten von Georgios Maniakes wurden 1043 in einer Spottparade durch die Stadt getrieben; weitere Strafen sind nicht überliefert; Leon Tornikios wurde für seine erste Verschwörung nur zum Mönch geschoren (1047); ein gewisser Nikephoros wurde verbannt und enteignet, dann aber zurückgeholt und reich beschenkt (1050); Romanos Boilas wurde verziehen und er erhielt Geschenke (ca. 1050); Argyros wurde verbannt, seine Söhne inhaftiert (1054); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 57–62, 64 (Nr. 61, 64, 66, 69, 73). 221 Cheynet, Pouvoir, S. 64–65 (Nr. 75). 222 Psellos, Chron. 6.115 (S. 158, Z. 3–159, Z. 6 Reinsch): „Τοῦτό με μόνον τῶν ἄλλων θράττει δεινῶς“ πρὸς ἐμὲ στραφεὶς ἔφησε „ὅτι τυραννεῖν ὁ δεινὸς ἀνὴρ ἐπιβαλόμενος, φιλανθρώπους ἀφιήσι καὶ ἡμέρους φωνάς. δέδοικα γὰρ, μὴ ἐντεῦθεν τὴν θείαν ἑαυτῷ συνεπισπάσηται δύναμιν.“ 223 Psellos, Chron. 6.123 (S. 162–163 Reinsch); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 58–61 (Nr. 62, 64). 224 Zur Person des Romanos Boilas s. Alexios G. C. Savides, Romanus Boilas: Court jester and throne counterclaimant in the mid-eleventh century, in: BSl 56, 1956, S. 159–164; Spyridon Lampros, Ἦτο ὁ Ῥωμανὸς Βοΐλας γελωτοποίος; in: Nea Hestia 9, 1912, S. 301–304; Stauroula D.
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vergab der Kaiser seinem Freund und lud ihn zu einem feierlichen Bankett. Erst auf Druck der Kaiserin Theodora schickte er Boilas auf die Prinzeninseln, nur um ihn zehn Tage später zurückzuholen225. Auch Konstantinos X. (1059–1067) wird von Psellos dafür gerühmt, dass er selbst bei schweren Verbrechen stets auf die Todesstrafe und sogar auf Verstümmelungen verzichtet habe226. Wenige Jahre später preist Michael Attaleiates die philanthrōpia seines Favoriten Nikephoros III. Botaneiates (1078–1081). Bei genauerer Prüfung seiner Urteile ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei Konstantinos IX: Während Nikephoros Bryennios und Nikephoros Basilakios (beide 1078) geblendet wurden, gingen ihre Anhänger zum Großteil völlig straffrei aus227. Ebenso kamen aufständische Barbaren der Palastwache (1078 oder 1079/80)228 und Konstantios Dukas (1079)229 ohne körperliche Bestrafung davon. Im Jahre 1079 erließ Nikephoros III. zudem ein Gesetz, das singulären Charakter hat, zumal es ausschließlich an den Kaiser selbst gerichtet ist230. So wie im Bienenstaat einzig die Königin ohne Stachel sei, so heißt es im Prooimion des Gesetzes, so möge auch der Kaiser sich durch seine Milde auszeichnen231. Damit der Herrscher nicht aus
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Chondridou, Ὁ Κωνσταντίνος Θ´ Μονομάχος και η εποχή του (ενδέκατος αιώνας μ.Χ.), Thessalonike 2002, S. 145–147; Eadem, Η επιβουλή του Ρωμανού Βοΐλα. Μια μορφή πρόληψης συνωμοσίας στα μέσα του 11ου αιώνα, in: Symm 14, 2001, S. 49–56. Psellos, Chron. 6.134–150 (S. 167–175 Reinsch); Skylitzes, S. 473–474 (Thurn); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 62–63 (Nr. 59). Psellos, Chron. 7.96 (= 7a 4; S. 252, Z. 5–6 Reinsch): … καὶ οὐτε ψυχὴν ἀφείλετό τίνος, κἀν τὰ ἒσχατα τῶν κακῶν ἐπεπράχει, οὒτε τινος τῶν ἀκρωτηρίων ἐστέρησεν. Bryennios’ höchste Unterstützer mussten eine Schandparade über sich ergehen lassen und einzelne wurden enteignet, erhielten dafür aber Kompensationen (S. Appendix, S 19); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 83–84, 86–87 (Nr. 104, 108). Lediglich die Rädelsführer wurden an abgelegene Posten versetzt. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 86 (Nr. 107). Obwohl spätere Quellen von der Warägergarde sprechen, ist für diese Epoche noch kein eigenes Korps anzunehmen: Scheel, Skandinavien und Byzanz, S. 176–178, 822 (B14), 834–835 (B34), 848 (B54). Konstantios Dukas wurde zum Mönch geschoren und verbannt; vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 88 (Nr. 110). Ludwig Burgmann, A law for emperors: Observations on a chrysobull of Nikephoros III Botaneiates, in: Paul Magdalino (Hg.), New Constantines. The rhythm of imperial renewal in Byzantium, 4th–13th centuries, London 1994, S. 247–257, hier S. 255; der Gesetzestext ist u. a. ediert in JGR I, Coll. IV, Nov. XII (283–288). Auch Attaleiates, S. 241, Z. 12–19 (Tsolakes) geht ausführlich auf das Gesetz ein: Ὁ δὲ φιλανθρωπότατος οὑτοσὶ βασιλεὺς ἀφορμῆς φιλανθρωπίας εὑρίσκειν βουλόμενος καὶ τῷ ἐλέῳ τὸν ἔλεον ἀντικαταλλάττεσθαι οὐχ ἑαυτῷ μόνῳ παρεφυλάξατο τὴν τῆς νομοθεσίας ταύτης ὑπόθεσιν καὶ τὴν ἀναβολὴν εἰς ἑαυτὸν ἀπεκρύψατο, τὸ φιλάνθρωπον οὐ κοινὸν ἀλλ’ ἴδιον ποιησάμενος διὰ φιλαυτίας ἐπίδειξιν, ἀλλὰ καὶ τοῖς μετὰ ταῦτα βασιλεῦσι τηρεῖσθαι τοῦτο θερμότατα βουλευσάμενος καὶ εὶς πάντας χεθῆναι τὸ ἀγαθὸν καὶ ὁδεύειν φιλοτιμούμενος. Dieselbe Metapher – mit derselben Forderung an den Kaiser – findet sich bei Theophylaktos von Ochrid (S. 209, Z. 9–17 [Gautier]): Ἡ φιλανθρωπία δὲ πόση τις ἔσται τῷ αὐτοκράτορι; Ὅση Θεῷ πρὸς ἀνθρώπους· οὐ γὰρ προηγουμένως τῷ ξίφει χρήσεται, ἀλλὰ ἀναγκαίως καὶ βιαζόμενος· τὸν γὰρ ἄνω βασιλέα μιμήσεται, εἰ δὲ μὴ τὸν βασιλέα, τὴν μέλισσαν αἰσχυνθήσεται, ἣν τῶν ἄλλων μελιττῶν μόνην ἡ φύσις παρήγαγεν ἄκεντρον.
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dem Zorn heraus falsche Entscheidungen fälle, sollen zwischen der Verurteilung und der Exekution von Körperstrafen und Hinrichtungen dreißig Tage vergehen232. So habe das einst schon das Gesetz des Theodosios (Cod. Theod. 9.40.13) vorgesehen, das aber in Vergessenheit geraten sei und nun erneuert werden müsse233. Ein Zuwiderhandeln gegen die Verfügung würde – mangels zuständiger irdischer Instanzen – direkt von Gott sanktioniert werden. Ludwig Burgmann vermutete als Antrieb für dieses ungewöhnliche Gesetz, das sich nur an den Kaiser selbst wendet, eine Anbiederung Nikephoros’ III. an die Kirche, doch mag auch die reale Sorge um das eigene Seelenheil die Gesetzgebung motiviert haben234. Die Inszenierung der Gnade Die philanthrōpia war also im 11. Jahrhundert zu einem zentralen Thema in der Ausübung des Kaiseramtes avanciert und so verwundert es auch nicht, dass Berichte über inszenierte Gnadenerweise zunehmen. Konstantinos IX. ließ Leon Tornikios und Ioannes Batatzes nach ihrer Blendung und nach einem pompösen Triumphzug antreten, um sich mit den Verschwörern zu versöhnen235. Ähnlich verhielt sich Nikephoros III., der den geblendeten Bryennios und seine Mitverschwörer nach einer Spottparade zu sich zitierte. Zunächst schalt er den Rädelsführer für seine Anmaßung, verkündete dann jedoch eine Generalamnestie. Einzelne wurden enteignet, erhielten dafür aber Kompensationen. Selbst Bryennios erhielt Würden, „sodass alle überrascht waren von der Unberechenbarkeit seiner [scil. des Kaisers] Güte“, wie Michael Attaleiates hervorhebt236. Dieser war als Augenzeuge anwesend, weil er die Aufgabe hatte, eine Dankesrede an den siegreichen Kaiser zu halten, womit wir bei diesem Akt der Vergebung zumindest vom engeren Hofstaat als Publikum ausgehen dürfen.
232 Außerdem verfügt das Gesetz, dass Familienangehörige eines abgesetzten Kaisers nicht willkürlich enteignet werden dürfen und dass der Patriarch den Kaiser alle vier Monate an all jene erinnert, die dieser verbannen ließ, damit keiner in Vergessenheit gerate. Burgmann, Law for emperors, S. 247. 233 Zu den Hintergründen dieses Gesetzes s. John F. Matthews, Codex Theodosianus 9.40.13 and Nicomachus Flavianus, in: Historia 46/2, 1997, S. 196–213. Das Gesetz des Theodosios findet sich auch im Cod. Iust. 9.47.20 und in den Basilika 60.51.57. Vgl. Burgmann, Law for emperors, S. 251. 234 Burgmann, Law for emperors, S. 255–256. 235 Psellos, Chron. 6.124 (S. 163 Reinsch), wenngleich aus der Formulierung εὐμενέστατα πρὸς τοὺς ἐπιβουλεύσαντας διαλύεται nicht hervorgeht, ob die Versöhnung die beiden Geblendeten oder ihre Komplizen betraf. 236 Attaleiates, S. 225, Z. 27 – S. 226, Z. 11 (Tsolakes): Ἕτερον δὲ οὐδένα τῶν ἄλλων δι’ αἵματος ἠνέσχετο τιμωρῆσαι ὁ βασιλεύς, ἀλλὰ καὶ μᾶλλον ἰσόθεον πρᾶγμα πεποίηκε, πάντας τοὺς συναποστατήσαντας τῷ Βρυεννίῳ, στένοντάς τε καὶ τρέμοντας τοὺς περὶ ἐπιβούλων νόμους καὶ τὴν τῶν ἡμαρτημένων δεινὴν ἐπεξέλευσιν, συμπαθείας καθολικῆς ἀξιώσας καὶ τὰς οὐσίας αὐτοῖς δι’ ἄφατον εὐσπλαγχνίαν ἀποκεκληρωκώς, πλὴν τριῶν ἢ τεσσάρων, οἷς τὸ τοῖς οἰκείοις ἐμφιλοχωρεῖν οὐκ ἀκίνδυνον ἦν. Ἀλλὰ καὶ τούτοις ἀντιπαροχαῖς ἑτέρων ἰσοτάλαντον τὴν φιλοτιμίαν εἰργάσαντο. Oὐ μόνον δ’ ἐν τούτοις τὸ φιλότιμον ταῖς βασιλικαῖς εὐσπλαγχνίαις ἐστήσατο, ἀλλὰ καὶ τιμαῖς παντοδαπαῖς αὐτὸν κατεκόσμησεν, ἐνίους δὲ καὶ χαρίσμασιν, ὡς πάντας ἔκπληξιν κατασχεῖν τῷ ἀνεξιχνιάστῳ τῆς αὐτοῦ ἀγαθότητος.
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Unter Alexios I. Komnenos (1081–1118) erreichte die Inszenierung kaiserlicher philanthrōpia ihren Höhepunkt237 und zu Recht lobt Theophylaktos von Ochrid, dass es damals keine einzige Hinrichtung eines Rhomäers zu sehen gegeben habe – zumindest nicht wegen Hochverrats238. Nach einem gescheiterten Attentatsversuch während einer Polo-Partie vergab der Kaiser dem Attentäter umgehend, stattete ihn mit Geschenken aus und ließ ihn gehen239. Gerüchte wurden laut, dass hinter dem Anschlag Nikephoros Diogenes, der Sohn des gestürzten Romanos IV., steckte. Nach einem weiteren Verdachtsmoment während eines Feldzuges ließ Alexios diesen schließlich inhaftieren240. Seine Mitverschwörer wurden ins kaiserliche Zelt zitiert und über sie Gericht gehalten. Alexios nutzte die Bühne, um vor der versammelten Elite eine generelle Amnestie zu verkünden und sich bei dieser Gelegenheit ebenso furchteinflößend wie menschenfreundlich zu gebärden. Anna Komnenes Bericht orientiert sich zwar eng an einer Szene aus der Chronographia des Michael Psellos, doch ist an der prinzipiellen Authentizität des Ereignisses nicht zu zweifeln241. Nikephoros Diogenes und Kekaumenos Katakalon sollten in Kaisaropolis eingesperrt werden, wurden aber – angeblich ohne Alexios’ Wissen – geblendet. Der Hauptverschwörer durfte sich danach auf seine Ländereien zurückziehen und wurde trotz angeblicher Verwicklung in eine weitere Konspiration begnadigt242. Kein Zweifel an der Verantwortung bestand hingegen, als auf Alexios’ Befehl hin Michael Anemas und seine Mitverschwörer auf dem Forum Amastrianon geblendet werden sollten. Die Strafe wurde jedoch nicht exekutiert, weil Alexios’ schriftliche Begnadigung den Zug der Verurteilten gerade noch rechtzeitig erreichte; die Leibesstrafe wurde in temporäre Gefängnishaft umgewandelt243. Anna Komnene, die der Parade 237 Einen Überblick über die zahlreichen Putschversuche gegen Alexios bieten Bourdara, Έγκλημα καθοσιώσεως, S. 212–216 und Leib, Complots. 238 Theophylaktos von Ochrid, S. 231, Z. 14–15 (Gautier). Οὐδὲ γὰρ εἶναι τῆς Ἀλεξίου βασιλείας ἀνδρὸς Ῥωμαίου φόνον θεάσασθαι. 239 Anna Komnene, Alexias 9.7.5–7 (S. 273–274 Reinsch/Kambylis). 240 Anna Komnene, Alexias 9.7.1–4 und 9.8.1–9.8.4 (S. 275–276 Reinsch/Kambylis); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 98–99 (Nr. 128); Leib, Complots, S. 256–264. 241 Anna Komnene, Alexias 9.9.1–9.9.6 (S. 276–279 Reinsch/Kambylis); s. oben, S. 160, Anm. 571. 242 Anna Komnene, Alexias 9.10.2–3 (S. 280 Reinsch/Kambylis). 243 Anna Komnene, Alexias 12.6.5–9 (S. 374–376 Reinsch/Kambylis); Leib, Complots, S. 266–269. Alexios nützte eine alte Tradition, die mit dem Amastrianon als Richtort in Zusammenhang stand: Erreichte eine Begnadigung den Zug der Delinquenten noch vor einer Bronzeskulptur in der Form von Händen, so wurde das Urteil aufgehoben. Nach dem Passieren des Monuments kam hingegen jede Hilfe zu spät. Bei der Skulptur handelte es sich ursprünglich um ein silbernes Hohlmaß für Korn und zwei bronzene Hände, die sich seit Valentinian III. auf einem Bogen vor dem Forum befanden und angeblich potentielle Betrüger mit dem Verlust der rechten Hand bedrohen sollten: Albrecht Berger, Untersuchungen zu den Patria Konstantinopoleos (Poikila Byzantina 8), Bonn 1988, S. 342–346. Vgl. jetzt Michael Grünbart, Alternative Losentscheidungsverfahren oder imitationes sortium in Byzanz, in: Klaus Herbers / Hans Christian Lehner (Hgg.), Dreams, nature, and practices as signs of the future (Prognostication in history 10), Leiden/Boston 2022, S. 232–251, 238–240 (3. Helfende Hände).
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damals beiwohnte, führt in ihrer Beschreibung die Amnestie auf ihr und ihrer Mutter Flehen zurück244. Eher ist davon auszugehen, dass Alexios die Begnadigung von vornherein als Teil der inszenierten Bestrafung eingeplant hatte. So erwähnt Anna ausdrücklich, dass die mit der Parade betrauten skēnikoi äußerst langsam vorangeschritten seien, wohl um die rechtzeitige Ankunft des Boten zu garantieren245. Ähnlich dramatisch hatte Alexios außerdem bereits 1087 einem namentlich unbekannten Majestätsverbrecher seine bevorstehende Hinrichtung vor Augen geführt und ihn im Hof des Palastes an einen Pfahl binden lassen, nur um ihn in der Folge nach einer demütigenden Schur freizulassen246. Mit einer Erniedrigung im Rahmen von Schandparaden gab sich der Kaiser auch bei der Bestrafung von Konstantinos Humbertopulos und Ariebes (1091) zufrieden, von denen zumindest der Franke kurze Zeit später wieder in den Dienst des Kaisers trat247. Gregorios Taronites wurde nach einer Spottparade und vorübergehender Inhaftierung reich beschenkt und rehabilitiert248. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, als die öffentliche Demütigung des Delinquenten in der Regel nur zusätzlich zu Verstümmelungsstrafen oder Verbannung praktiziert wurde, kam es unter Alexios I. also zu einer Aufwertung der Ehrenstrafe, die eine rasche Re-Integration der Staatsverbrecher ermöglichte249. Der rebellierende Michael von Amastris kam sogar ganz ohne Bestrafung davon: Er wurde gefangengenommen, zum Tode verurteilt, doch noch am selben Tag mit Geschenken bedacht und entlassen250. Die Entwicklung der Wertigkeit der philanthrōpia als kaiserliche Tugend würde eine eigenständige monographische Untersuchung erfordern und eine systematische Auswertung sowohl historiographischer als auch panegyrischer Texte einschließen müssen. Grundsätzlich dürfte die mildere Rechtsprechung im 11. Jahrhundert jedoch in erster Linie als ein Resultat struktureller Veränderungen innerhalb der byzantinischen Aristokratie anzusprechen sein. Mit dem Tod von Basileios II. im Jahre 1025 wurde rasch deutlich, wie wichtig seine Autorität gewesen war, um die Ambitionen der nunmehr etablierten großen aristokratischen Familien in Schranken zu halten. Sein Bruder und letzter männliche Vertreter der makedonischen Dynastie, Konstantinos VIII. (1025–1028), reagierte auf Usurpationen mit ausgesprochener Härte und ließ Mitglie-
244 Anna Komnene, Alexias 12.6.7–8 (S. 375 Reinsch/Kambylis). 245 Anna Komnene, Alexias 12.6.7 (S. 375 Reinsch/Kambylis). Zu den skēnikoi s. unten, S. 261, Anm. 460. 246 Theophylaktos, Werke, S. 231 (Gautier); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 95 (Nr. 122). S. auch Heher, Tod am Pfahl, S. 146–147. 247 Cheynet, Pouvoir, S. 96 (Nr. 124); Leib, Complots, S. 252; s. unten, S. 277. 248 Anna Komnene, Alexias 12.7.4 (S. 377–378 Reinsch/Kambylis); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 101 (Nr. 131); Leib, Complots, S. 269–270. Vgl. Appendix, S 22. 249 Vgl. Kapitel 3.3.3. 250 Anna Komnene, Alexias 14.3.5 (S. 436 Reinsch/Kambylis); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 102 (Nr. 133); Leib, Complots, S. 273.
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der der Familien Burtzes, Komnenos, Phokas, Skleros, Kurkuas und Glabas blenden251. Die folgenden Kaiser versuchten sich mehr oder minder mit den dynatoi zu arrangieren oder diese durch den Aufbau eigener Netzwerke in den Hintergrund zu drängen252. Die Regierung Konstantinos’ IX. Monomachos (1042–1055) bedeutete gewissermaßen eine Wasserscheide im Umgang des Kaisers mit den Aristokraten. Mehr als zuvor wurden jene Familien, die seit der Zeit Basileios’ II. an Macht gewonnen hatten, in die Ausübung der Herrschaft involviert253. Die Usurpation von Leon Tornikios (1047) war seit knapp fünf Jahrzehnten der erste ernsthafte Versuch eines Vertreters der Aristokratie, die Kaiserkrone im Kampf zu erlangen. Trotz ihres Scheiterns markierte sie den Beginn einer neuen Phase der Koexistenz zwischen dem Kaisertum und den dynatoi, ohne deren Konsens das Reich immer schwieriger zu regieren war. Die zunehmend wichtiger werdenden persönlichen Bindungen des Kaisers an die mächtigen Familien erforderten mehr Kompromisse und Rücksichtnahme als unerbittliche Härte, wobei es gleichzeitig galt, keine Schwäche zu zeigen254. Das Konzept der philanthrōpia half bei dieser Gratwanderung, zumal es erlaubte, Gnade walten zu lassen und dabei noch das eigene Ansehen zu steigern. Umso mehr Wert wurde offenbar auch auf die Inszenierung der Gnadenakte gelegt. Dass die kaiserliche Milde durchaus selektiv angewandt wurde, illustriert die Tatsache, dass die in den Quellen hervorgehobenen Gnadenerweise im Rahmen der Usurpationsversuche von Leon Tornikios (1047), Nikephoros Bryennios (1078) und Nikephoros Diogenes (1094) nur die Anhänger der Putschisten betrafen, während die Rädelsführer erst rehabilitiert wurden, nachdem sie geblendet und somit unschädlich gemacht worden waren. Das System der horizontalen Vernetzungen verdichtete sich während der Herrschaft der Komnenen durch den gezielten Aufbau verwandtschaftlicher Beziehungen zum Kaiserhaus. Die Effizienz dieser Stabilisierungsmaßnahmen beweist die verschwindend geringe Zahl an Usurpationsversuchen unter Ioannes II. (1118–1143) und Manuel I. (1143–1180)255. Ioannes stand gar im Rufe, dass er während seiner gesamten Amtszeit niemanden zum Tode oder zu Leibesstrafen verurteilt habe256. Da die Majestätsverbrecher jedoch fast immer mit dem Herrscherhaus verwandt waren und die Stabilität der Koalition oberster Priorität hatte, fielen Bestrafungen tendenziell noch milder aus als im 11. Jahrhundert257. Typisch hierfür ist der Umgang von Ioannes II. mit dem Komplott, das seine Schwester Anna gegen ihn ersonnen hatte, um ihren Gatten Nikephoros Bryennios auf den Thron zu bringen. Als der Plan dem Kaiser bekannt wurde, ließ er die Beteiligten enteignen, gab ihnen aber alsbald ihre Besitztümer zu251 252 253 254 255 256 257
Cheynet, Pouvoir, S. 38–40 (Nr. 23–28); vgl. Kamer, Aristocrats, S. 158–169. Kamer, Aristocrats, S. 174–216; Cheynet, Pouvoir, S. 296–297. Kamer, Aristocrats, S. 240–248, 284–286; Cheynet, Pouvoir, S. 202. Cheynet, Pouvoir, S. 298, 369. Cheynet, Pouvoir, S. 413. Choniates, Hist., S. 47 (van Dieten); vgl. Dennis, Death, S. 7. Cheynet, Pouvoir, S. 103–110 (Nr. 135–149); Bourdara, Έγκλημα καθοσιώσεως, S. 216–219.
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rück258. Unter Manuel I. widerfuhr einzig dem epi tou kanikleiou Theodoros Styppeiotes die Blendung und das Herausschneiden der Zunge, weil der Verdacht bestand, er wolle den Kaiser beseitigen lassen259. Bezeichnenderweise war er nicht mit dem Clan der Komnenen verwandt. Die nach dem Tode Manuels I. ausbrechenden Thronkämpfe drängten die philanthrōpia als kaiserliche Tugend jedoch wieder in den Hintergrund. Leibesstrafen, allen voran die Blendung, und selbst Hinrichtungen fanden erneut Einzug in den üblichen Strafenkatalog für Majestätsverbrechen260. Das unbarmherzige Durchgreifen von Andronikos I. Komnenos (1183–1185) gegen jegliche Opposition, auch innerhalb der eigenen Familie261, setzte für die Jahre bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204 einen neuen Standard. Die Abkehr von der im Laufe von drei Jahrhunderten etablierten und unter den Komnenenkaisern geradezu institutionalisierten kaiserlichen Gnade selbst Majestätsverbrechern gegenüber muss Zeitgenossen schockiert haben. Nicht das Übertreten der Gesetze konnte man Andronikos jedoch vorwerfen, sondern ihre allzu genaue Auslegung und ihre willkürliche Nutzung, um persönliche Vorteile daraus zu ziehen262. Kaiserliche Gnadenerweise und deren Inszenierung sind nun kaum noch belegbar. Wie sehr sich die Realität von der immer noch postulierten kaiserlichen Tugend der philanthrōpia entfernt hatte, illustriert auch folgende Episode: Nach der Begnadigung der beiden Normannen Balduin und Richard (1185) verkündete Kaiser Isaakios II. Angelos (1185–1195) dem versammelten Hofe, dass Verstümmelungsstrafen in Zukunft nicht einmal mehr gegen Usurpatoren ausgesprochen werden sollen263. Allein, der Vorsatz blieb ein Lippenbekenntnis und Isaakios griff beinahe ebenso hart gegen Herausforderer seiner Macht durch wie sein Vorgänger Andronikos: In nicht weniger als neun Fällen ließ er illustre Oppositionelle blenden oder töten264. 3.2.3 Schutzräume und -rituale: Das Kirchenasyl Der Verlierer im Kampf um den Thron befand sich in einer mehr als prekären Situation. Am gefährlichsten waren spontane Racheakte der siegreichen Partei und so galt es angesichts einer bevorstehenden Niederlage zuallererst eine geordnete Konfliktlösung
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Choniates, Hist., S. 10–11 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 103 (Nr. 135). Cheynet, Pouvoir, S. 108; vgl. Kapitel 3.3.1. Bourdara, Έγκλημα καθοσιώσεως, S. 219–225. Cheynet, Pouvoir, S. 114–119 (Nr. 155–162). Anders hätte es sich mit dem schlussendlich nie verwirklichten Gesetzesentwurf des Kaisers aus dem Jahre 1085 verhalten, der nicht nur über die Majestätsverbrecher selbst, sondern auch ihre Familienangehörigen die Todesstrafe verhängen sollte: Choniates, Hist., S. 334–338 (van Dieten). 263 Choniates, Hist., S. 366–367 (van Dieten). 264 Cheynet, Pouvoir, S. 124–128 (Nr. 170–174, 176–179), 434–439; vgl. Vlachos, Aufstände, S. 165– 166.
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durch Kapitulation und Unterwerfung anzustreben. Wie gezeigt wurde, bestanden die Kaiser immerhin nur selten auf Hinrichtungen wegen Majestätsverbrechen und schwächten gerade im Zuge von ordentlichen Verhandlungen das Strafmaß zumeist zu Verbannung, Leibes- oder Körperstrafen ab. Den am stärksten institutionell verankerten Schutzmechanismus vor willkürlicher Bestrafung war in Byzanz die Flucht in einen christlichen Kultbau265. Insbesondere bei Usurpationsversuchen begegnet dieses Phänomen überaus häufig266. Es war wohl die
265 Zum Kirchenasyl in Byzanz: Emil Herman, Zum Asylrecht im Byzantinischen Reich, in: Orientalia Christiana Periodica 1, 1935, S. 204–238; s. auch Ruth Macrides, Killing, asylum and the law in Byzantium, in: Speculum 63/3, 1988, S. 509–538; Ilias Anagnostakes / Anna Lampropoulou, Μία περίπτωση ἐφαρμογής τοῦ βυζαντινοῦ θέσμου τοῦ ἀσύλου στή Πελοπόννησο. Ἡ προσφυγή τῶν Σλαβῶν στό ναό τοῦ Ἁγίου Ἀνδρέα Πατρῶν, in: Symm 14, 2001, S. 29–47. Beide Beiträge gehen jedoch nach einem kurzen Überblick nur auf einzelne Erscheinungsformen (Asyl für Mörder bzw. Massenasyl) ein. Ungleich besser erforscht ist das Kirchenasyl für die Spätantike. Aus der Fülle an Publikationen seien hervorgehoben: François Martroye, L’asile et la législation impériale du IVe au VIe siècle, in: Mémoires de la Société Nationale des Antiquaires de France 75, 1918, S. 159–246; Leopold Wenger, ὉΡΟΙ ἈΣYΛΙΑΣ. Philologus; Zeitschrift für das klassische Altertum 86, 1931, S. 427–454; Idem, Asylrecht, in: RAC 1, S. 836–844; Pierre Timbal Duclaux de Martin, Le droit d’asile, Paris 1939; Hans Langenfeld, Christianisierungspolitik und Sklavengesetzgebung der römischen Kaiser von Konstantin bis Theodosius II., Bonn 1977, S. 107–209; Johannes Herrmann, Cod. Theod. 9,45: De his, qui ad ecclesias confugiunt, in: Gottfried Schiemann (Hg.), Kleine Schriften zur Rechtsgeschichte (Münchner Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 87), München 1990, S. 351–362; im selben Band s. auch: Idem, Kaiserliche Erlasse zum kirchlichen Asylschutz für Sklaven, S. 364–372; Harald Siems, Zur Entwicklung des Kirchenasyls zwischen Spätantike und Mittelalter, in: Okko Behrends (Hg.), Libertas, Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Franz Wieacker, Ebelsbach 1991, S. 139–186; Anne Ducloux, L’Église, l’asile et l’aide aux condamnés d’après la constitution du 27 juillet 398, in: Revue historique de droit français et étranger 69, 1991, S. 141–176; Eadem, Ad ecclesiam confugere. Naissance du droit d’asile dans les églises (IVe – milieu du Ve siècle), Paris 1994; Martin Dreher, Das Asyl in der Antike von seinen griechischen Ursprüngen bis zur christlichen Spätantike, in: Tyche 11, 1996, S. 79–96; Hanspeter Ruedl, Ad ecclesiam confugere: Die kaiserliche Asylgesetzgebung in der Spätantike, in: Konrad Breitsching (Hg.), Tradition – Wegweisung in die Zukunft, Festschrift für J. Mühlsteiger zum 75. Geburtstag, Berlin 2001, S. 133–145; Miriam Czock, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter (Millennium-Studien 38), Berlin 2012, bes. S. 43–50. Eine umfassende Bibliographie zum Thema Asylwesen in Antike und frühem Christentum findet sich in den beiden Monographien von Christian Traulsen, Das sakrale Asyl in der Alten Welt. Zur Schutzfunktion des Heiligen von König Salomo bis zum Codex Theodosianus ( Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht 72), Tübingen 2004 und Gerhard Franke, Das Kirchenasyl im Kontext sakraler Zufluchtnahmen der Antike. Historische Erscheinungsformen und theologische Implikationen in patristischer Zeit (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23, 756), Frankfurt a. M. et al. 2003 sowie im Sammelband: Martin Dreher (Hg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion (Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte 15), Köln/Weimar/Wien 2003. – Vgl. die Habilitationsschrift von Jenny Rahel Oesterle-Nabout, Zwischen Religion, Recht und Macht. Schutzgeschichte und Schutzgeschichten von Verfolgten, Heidelberg 2020. 266 Herman, Asylrecht, S. 234; s. Appendix K(irchenasyl), S. 1–18.
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Verquickung von kodifiziertem Recht und performativem Akt, die Furcht sowohl vor physischen (juristischen und sozialen) als auch metaphysischen Konsequenzen, welche die Wirkmacht des Kirchenasyls über Jahrhunderte bedingte. Die genauen Umstände der Entstehung des Phänomens sind unklar. Formen sakraler Zufluchtnahme hatte es sowohl im Israel des Alten Testaments gegeben als auch in der griechisch-hellenistischen und der römischen Antike267. Eine direkte Übernahme des Konzeptes aus diesen Kulturkreisen ist als monokausales Erklärungsmodell jedoch abzulehnen268. Vielmehr hat es den Anschein, dass sich das Kirchenasyl aus der spätantiken Praxis heraus entwickelt hat, in Notsituationen den Schutz eines Bischofs oder anderer klerikaler Autoritäten aufzusuchen, die in Verhandlungen mit der weltlichen Obrigkeit treten konnten269. Dass die Bewohner der römischen Ökumene daran gewohnt waren, sich vor Verfolgern zu Kaiserstatuen oder in Tempel zu flüchten270, mag dazu beigetragen haben, dass die Schutzfunktion der Kleriker eine örtliche Bindung an Kirchenbauten erfuhr271. Das Funktionieren des Prinzips hing in dieser Frühphase des Asylrechts einzig vom Respekt vor sakralen Räumlichkeiten und kirchlichen Repräsentanten ab. Ein vereinheitlichtes Procedere scheint sich damals noch nicht entwickelt zu haben272, doch bestand das Ziel der Flüchtlinge zumeist darin, sich auf diese Weise von Steuerschulden zu befreien oder einer willkürlichen Bestrafung zu entgehen. Damit der Asylant seinen Zufluchtsort freiwillig verließ, musste sein Verfolger unter Eid schwören, dass ihm kein körperlicher Schaden entstehe273.
267 Es sei hier nur auf die ausführliche Darstellung samt umfangreicher Bibliographie bei Franke, Kirchenasyl, S. 43–260 verwiesen. 268 Traulsen, Asyl, S. 293–298, mit Zusammenfassung der Forschungsdiskussion zu den Ursprüngen des Kirchenasyls. 269 Die früheste überlieferte Episode einer Zufluchtnahme in einer Kirche findet sich im Enkomion des Gregorios von Nazianz auf Basileios den Großen und berichtet von einer Frau, die ihrer geplanten Verehelichung zu entgehen suchte, indem sie sich in Basileios’ Kirche flüchtete: Traulsen, Asyl, S. 298. 270 Grundlegend: Richard Gamauf, Ad statuam licet confugere. Untersuchungen zum Asylrecht im römischen Prinzipat, Frankfurt a. M. 1999. Die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst auch in Idem, Ad statuas confugere in der frühen römischen Kaiserzeit, in: Martin Dreher (Hg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion (Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte 15), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 177–202; Arrigo D. Manfredini, ‚Ad ecclesiam confugere‘, ‚ad statuas confugere‘ nell’età di Teodosio I., in: Atti dell’Accademia Romanistica Constantiniana 6, Perugia 1986, S. 39–58. 271 Traulsen, Asyl, S. 300–307. 272 Franke, Kirchenasyl, S. 276. 273 Für frühe Beispiele des Kirchenasyls (350–431) s. Traulsen, Asyl, S. 269–274 mit tabellarischer Zusammenstellung auf S. 350–351.
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Rechtliche Entwicklung Die Zufluchtnahme in Kirchen war bereits etablierte Praxis, bevor sie vom Gesetzgeber als Recht anerkannt und geschützt wurde274. Die frühesten kaiserlichen Konstitutionen275 bezüglich des Kirchenasyls bestanden darin, dieses zu limitieren – und bestätigten damit implizit seine grundsätzliche Gültigkeit276. Eine umfassende formelle Integration ins kodifizierte Recht erfolgte erst im Jahre 431277. Als Zufluchtsort sollten nicht nur die Kirchen selbst gelten, sondern auch das gesamte sie umgebende Areal samt Nebengebäuden und Höfen – schließlich sollten Flüchtlinge nicht den Gottesdienst behindern und keine sakralen Räume durch dauerhaften Aufenthalt entweihen. Wohl als unmittelbare Reaktion auf einen kollektiven Selbstmord einer Gruppe von Sklaven in der Hagia Sophia verbot das Gesetz den Flüchtlingen das Tragen von Waffen278. Wurden diese nicht spätestens nach Aufforderung durch Kirchenbedienstete abgelegt, sollte das Asyl seine Gültigkeit verlieren. Nach Rücksprache mit dem zuständigen Bischof sollten in diesen Fällen auch bewaffnete Interventionen zulässig sein. Ansonsten durfte das Asylrecht keinesfalls verletzt werden und Zuwiderhandelnden wurde mit dem Tode gedroht. Das überaus großzügige Gesetz wurde in den Folgejahren wieder eingegrenzt und seine Wirkkraft vor allem für Sklaven empfindlich reduziert279. Das Gesetz von 431 fand als Exzerpt unter der Rubrik De his, qui ad ecclesias
274 Der erste Hinweis auf eine kirchliche Anerkennung des Asyls findet sich in den Akten des Konzils von Serdika 394 (Kanon 7), wo Bischöfen vorgeschrieben wird, Hilfesuchende nach Kräften zu unterstützen. S. hierzu Traulsen, Asyl, S. 268. 275 Die Behauptung, dass bereits Kaiser Konstantinos I. der Kirche aus Dankbarkeit für seine Heilung vom Aussatz eine Woche lang täglich ein Privileg, darunter auch das Asylrecht, verliehen hätte, geht auf eine Fälschung aus dem 5. Jahrhundert, die so genannten „Silvester-Akten“ zurück. Edition: Amnon Linder, Constantine’s ‚Ten laws‘ series, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongress der MGH, München, 15.–19. Sept. 1986, II: Gefälschte Reichstexte. Der bestrafte Fälscher (MGH Schriften 33/2), Hannover 1988, S. 491–507. Vgl. Herman, Asylrecht, S. 207. 276 Cod. Theod. 9.45.1 (18. Okt. 392) erlaubt Steuerbeamten, ausstehende Schulden von Kirchenflüchtlingen von den Klerikern einzutreiben, die diese beschützen. Cod. Theod. 9.45.2 (17. Jun. 397) verbietet steuerschuldigen Juden zu konvertieren und so die Schutzfunktion der Kirchen zu missbrauchen. Cod. Theod. 9.45.3 (27. Jul. 398) nimmt folgende Personengruppen vom Asylschutz aus, die allesamt in direktem Verhältnis zum kaiserlichen Etat stehen: Dekurionen (haften für fehlendes Steueraufkommen mit eigenem Vermögen), Prokuratoren (Verwalter kaiserlicher Einkünfte), Purpurschneckensammler, Sklaven sowie öffentliche und private Schuldner. Die Const. Sirm. 13 (21.11.419) legen fest, dass der Asylschutz auch in einem 50 m weiten Radius rund um die Kirche gilt. 277 Franke, Kirchenasyl, S. 439. Dieser Erlass vom 23. März 431 ist im Volltext in den Akten des Konzils von Ephesos überliefert: ACO 1.1.4.137 (= Mansi 5, S. 437–446). Ein Exzerpt findet sich auch im Cod. Theod. 9.45.4 (= Cod. Iust. 1.12.3). Franke, Kirchenasyl, S. 439. 278 Chron. min. II, S. 78 (Mommsen); Sokrates, Hist. Eccl. 7.33.1–3 (Socrate de Constantinople, Histoire ecclésiastique, livres II–III. Texte grec par Günther Ch. Hansen, traduction par Pierre Périchon / Pierre Maraval, notes par P. Maraval [SC 493], Paris 2005, S. 382). Zuvor hatten sie den Gottesdienst behindert, einen Kleriker getötet und einen weiteren verwundet. Vgl. Franke, Kirchenasyl, S. 278 (mit Datierung in den Spätherbst 430). 279 Cod. Theod. 9,45,5 (28. März 432). Vgl. Franke, Kirchenasyl, S. 442.
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confugiunt Einzug in den 438 in Kraft tretenden Codex Theodosianus (9, 45) und behielt grosso modo für die gesamte byzantinische Zeit seine Gültigkeit280. Der Codex Iustinianus gibt in seiner Fassung aus dem Jahre 534 die wesentlichen Bestimmungen unverändert wieder281, klassifiziert den Bruch des Asylschutzes gar als Majestätsverbrechen282. Eingang in den Codex fanden auch in der Zwischenzeit erlassene Gesetze, die den Schutz der Flüchtlinge ausweiteten und die festlegten, wie in solchen Fällen juristisch zu verfahren sei283. Gleichzeitig sollten religiöse Orte frei von Tumulten gehalten werden. Das Aufwiegeln von Kirchgängern und das Verursachen von Aufruhr sollten daher mit dem Tode bestraft werden284. Bereits kurz nach dem Inkrafttreten des Codex wurden die Bestimmungen eingeschränkt. Fortan sollten Mörder, Ehebrecher, Jungfrauenräuber und Verbrecher gegen den christlichen Glauben vom Genuss des Asylrechts ausgeschlossen sein. Auch der staatliche Zugriff auf geflohene Steuersünder wurde erleichtert285. Unter der isaurischen Dynastie erfuhren die Asylverordnungen zwei weitere Einschränkungen. Erstens wurden die Kleriker dazu angehalten, den Flüchtling gegen die Zusicherung einer gerechten Verhandlung sofort an ein weltliches Gericht auszuliefern. Zweitens stand auf Verstöße gegen das Asylrecht erstmals nicht mehr der Tod, sondern die verhältnismäßig leichte Strafe von zwölf Hieben286. Unter den Makedonenkaisern näherte sich man wieder den justinianischen Verordnungen an. Das Verletzen des Asylrechts sollte mit Schur und ewiger Verbannung bestraft werden287. Auf Druck des Klerus dehnte Konstantinos VII. die Gültigkeit des Asyls auch wieder auf Mörder aus288. Manuel I. Komnenos kritisierte den daraus resultierenden Missbrauch und strebte durch eine Novelle die erneute Ausnahme von Kapitalverbrechern an (1166)289. Trotz aller Versuche, das Kirchenasyl zu reglementieren, konnte der Staat nie die volle Kontrolle darüber erlangen. Im Gegenteil übernahmen in Konstantinopel zu-
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Herman, Asylrecht, S. 208. Cod. Iust. 1.12.1–8. Cod. Iust. 1.12.2 Vgl. Franke, Kirchenasyl, S. 449. Cod. Iust. 1.12.6 (28.2.466). Cod. Iust. 1.12.5 (13.7.451). Nov. 17.7 (16.4.535); Nov. 37.10 (1.8.535); Nov. 117.15.1. Vgl. Herman, Asylrecht, S. 208. Allgemein zur Übernahme der Gesetze im Cod. Iust. und zu den Novellen vgl. Franke, Kirchenasyl, S. 449– 455. 286 Eklogē 17.1. Herman, Asylrecht, S. 215 vermutet dahinter einen bewussten Versuch der Entmachtung der Kirche. Nach Franke, Kirchenasyl, S. 458–459 könnte die Neuerung auch schlichtweg eine Reaktion auf die häufigen Verletzungen des Asyls gewesen sein, die realiter ohnehin nicht immer mit dem Tode bestraft wurden. 287 Proch. Nom. 39.7 (JGR II 217); Bas. 60.45.18. 288 JGR I, Coll. 3, Nov. X (230–231), Nov. XI, (232–235). Vgl. Macrides, Asylum, S. 509–512. 289 JGR I, Coll. 4, Nov. LXVIII (403–408). Eine neuere Edition findet sich in Ruth Macrides, Justice under Manuel I. Komnenos: Four novels on court business and murder, in: FM 6, 1984, S. 99–204, hier S. 156–167 (Edition und Übersetzung) und S. 190–204 (Kommentar). S. auch Macrides, Asylum, S. 512–514.
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nehmend die ekdikoi der Hagia Sophia die Rechtsprechung über schuldige Flüchtlinge und verurteilten sie zu angemessenen Bußhandlungen290. Fallweise ist gar die Auffassung erkennbar, dass nach Leistung der auferlegten Buße die Delinquenten von weltlichen Richtern nicht mehr zu körperlichen Strafen verurteilt werden konnten291. Dass das Asylrecht eher im religiösen denn im säkularen Bereich verankert war, zeigen auch einige Beschreibungen von Zufluchtnahmen in historiographischen Quellen: Was Beamte oder Offiziere vom Bruch des Asylrechts abhielt, war nicht die Angst vor weltlicher Bestrafung, sondern entweder der Respekt vor dem Gotteshaus oder die Furcht vor einem Aufstand der empörten Massen. Asyl für Usurpatoren? Die bisherigen Ausführungen beziehen sich auf die sakrale Zufluchtnahme im Allgemeinen, die sowohl all jenen offenstand, die sich unschuldig verfolgt sahen als auch jenen, die nach einem Verbrechen spontane Racheakte ihrer Gegner zu verhindern suchten. Aus einer Reihe von Fällen wissen wir, dass das Kirchenasyl selbst bei Mördern durchaus seinen Zweck erfüllte, eine bisweilen chaotische und unübersichtliche Ausnahmesituation in einen geregelten Gerichtsprozess (weltlicher oder geistlicher Natur) überzuführen und das Leben der Zufluchtsuchenden in der Tat bewahren konnte292. Die Situation eines gescheiterten Usurpators war jedoch noch bei weitem heikler, zumal sein weiteres Schicksal im unmittelbaren Interesse jenes Mannes lag, den er eben zu stürzen geplant hatte und der die Macht hatte, die juristischen Vorgaben bei Bedarf auszusetzen und bei einer Verletzung des Asyls keine rechtlichen Sanktionen zu fürchten hatte293. Dennoch ist in den Quellen eine Vielzahl von Fällen überliefert, in denen die Verlierer der Thronkämpfe ihr Heil in der Kirchenflucht suchten. Genauer gesagt stellen diese sogar die größte Gruppe an überlieferten Asylsuchenden, was aber wohl vor allem mit der Brisanz der Ereignisse und dem sozialen Status der involvierten Personen zusammenhängt294. Der Ausgang der Zufluchtnahmen variierte von Fall zu Fall beträchtlich. Manche Flüchtlinge gingen völlig straffrei aus295, während andere – außerhalb der Kirche – er290 Ein außergewöhnlich detailliertes Zeugnis davon ist in einem Manuskript aus dem 15. Jahrhundert überliefert: Ein Mörder musste 14 Tage lang am Eingang der Kirchentür Besucher um Mitleid anflehen. Danach hatte er sich entkleidet und mit gefesselten Händen zum prōtekdikos und den ekdikoi der Hagia Sophia zu begeben. Diese verurteilten ihn für 15 Jahre zum Ausschluss von der Kommunion sowie zu einer dreijährigen Enthaltsamkeit von Fleisch, Käse und Eiern. Mittwochs und freitags musste er zudem bei Gemüse und Wasser fasten und wochentags 200 Metanien verrichten: Herman, Asylrecht, S. 218–219; Macrides, Asylum, S. 514–516. 291 Vgl. Peira 66.25 ( JGR 4, S. 249); Herman, Asylrecht, S. 217. 292 Macrides, Asylum, S. 521–531. 293 S. die Rechtfertigung des Asylbruchs bei Malalas 18.141 (S. 426–427 Thurn). 294 Franke, Kirchenasyl, S. 303–304. 295 S. Appendix K 2, 10, 11, 13, 15.
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mordet oder geblendet wurden296. Um die Asylanten dazu zu bringen, ihren Zufluchtsort zu verlassen, wurden bisweilen mildere Strafen wie Verbannung oder Zwangstonsur ausgehandelt297 oder man zerrte sie mit Gewalt aus den geweihten Räumlichkeiten, um sie zu bestrafen298. Häufig verließen die Flüchtigen die Kirche nach der eidlichen Zusicherung freien Geleits und eines ordentlichen Prozesses299. Das Sicherheitsversprechen wurde manchmal in der Tat eingehalten, bisweilen aber gebrochen, nachdem der Asylant den Schutzbezirk verlassen hatte300. In manchen Fällen konnte die direkte Intervention eines Patriarchen oder eines anderen kirchlichen Würdenträgers die kaiserlichen Schergen von der Verletzung des Asylrechts abhalten, in anderen Fällen Volksmassen, die sich ob der frevelhaften Tat empörten. Schließlich sollen manche der beauftragten Beamten selbst Skrupel gehabt habe, das heilige Asylrecht zu brechen. Die überwiegende Zahl an gescheiterten Usurpatoren konnte jedenfalls auf die eine oder andere Art ihr Leben durch die Flucht in die Kirche retten301. Die Macht des Raumes Im Gegensatz zur griechischen Antike, wo das Hikesie- und Asylrecht auf einzelne Städte oder Heiligtümer limitiert war302, erstreckte sich das Kirchenasyl auf jedes christliche Gotteshaus. Nicht nur von einem bestimmten Ort losgelöst, sondern überhaupt raumunabhängig hatte Johannes Chrysostomos das Asylrecht begriffen: Wenn du in der Kirche Zuflucht suchst, dann suchst du nicht Zuflucht an dem Ort, sondern in ihrem Geist. Denn die Kirche ist nicht Mauer und Dach, sondern Glaube und Leben303.
Erwartungsgemäß hält diese Idealisierung einer Prüfung der Realität nicht stand. Die herausragende Bedeutung einzelner Kirchen und sogar konkreter Räume lässt sich nicht leugnen. Den höchsten Rang in der Hierarchie der beliebtesten Fluchtorte hatte in Konstantinopel bereits in der Spätantike die Hagia Sophia an sich gerissen und bis
296 S. Appendix K 5, 6, 7, 16, 17. 297 S. Appendix K 4, 8, 9, 12. 298 S. Appendix K 1, 6 (nach gescheiterten Verhandlungen), 7 (?), 8, 9, 10, 16, 17. 299 S. Appendix K 2, 4 (?), 7 (?), 11, 12, 13. 300 S. Appendix K 6, 7. 301 Vgl. die – bei aller gebotenen Vorsicht bei statistischer Vereinfachung dennoch interessante – quantitative Auswertung von 57 Fällen von Kirchenflucht in byzantinischer Zeit bei Herman, Asylrecht, S. 234–236 (der Großteil davon im Rahmen von Thronkämpfen): 21 Flüchtlinge kamen frei, neun wurden verbannt, acht inhaftiert oder anderweitig bestraft, fünf geblendet, fünf in Klosterhaft überführt, einer kastriert. Ein Todesurteil wurde nur an drei Personen vollstreckt. Weitere drei Flüchtlinge fanden den Tod durch wütende Menschenmengen. 302 Traulsen, Asyl, S. 295. 303 Ioannes Chrysostomos, Homilia de capto Eutropio. PG 52, 395–414, Zitat 397: Ὄταν καταφεύγῃς ἐν ἐκκλησίᾳ, μὴ τόπῳ καταφύγῃς, ἀλλὰ γνώμῃ. Ἐκκλησία γὰρ οὐ τοίχος καὶ ὀροφος, ἀλλὰ πίστις καὶ βίος. Übersetzung: Traulsen, Asyl, S. 267.
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zum Ende des Reiches nicht mehr abgegeben304. Spätestens im 12. Jahrhundert scheint die Hagia Sophia auch die primäre Anlaufstelle für Asylsuchende aus den Provinzen gewesen zu sein305. Dass Flüchtlinge primär das größte und zentral gelegene Gotteshaus ansteuerten, verwundert kaum. Die Gewährleistung des Asylschutzes hing vor allem von der Wahrnehmung durch Dritte ab. Je größer die öffentliche Aufmerksamkeit war, desto limitierter war der Handlungsspielraum des Verfolgers306. Diese eindeutige Vorrangstellung zeigt sich auch in den angeführten Beispielen aus dem Untersuchungszeitraum. Fiel die Wahl auf eine andere Kirche, waren hierfür praktische Gründe verantwortlich. Michael V. und sein Onkel flüchteten sich per Schiff in die Kirche des Studios-Klosters, weil der Weg in die Große Kirche versperrt war (Appendix K 6). Scheiterte die Usurpation schon vor den Mauern Konstantinopels, wie im Falle des Leon Tornikios (K 7), standen natürlich nur Gotteshäuser außerhalb der Hauptstadt zur Verfügung. Theoretisch war der Asylschutz einer Kirche bereits innerhalb ihrer Umfassungsmauern garantiert. Im Rahmen der ersten Aufnahme des Kirchenasyls in das kodifizierte Recht im Jahre 431 war der genaue Schutzbereich der Gotteshäuser definiert worden: Es sollen die Tempel des Höchsten Gottes offenstehen für die, die sich fürchten; und nicht allein soll anerkannt sein, dass die Altäre und das Oratorium des Tempels ringsumher, das die Kirchen im Innern mit einem Gehege von Mauern vierfach umschließt, für den Schutz der Flüchtenden bestimmt sind, sondern bis zur äußeren Türe der Kirche, die das Volk, wenn es zu beten begehrt, zuerst betritt, soll, so befehlen wir, ein Altar der Rettung für die Flüchtenden sein, so dass, was sich zwischen der Ummauerung des Tempels, die wir beschrieben haben, und dem ersten Zugang der Kirche hinter dem öffentlichen Gelände etwa befindet, sei es in Zellen, sei es in Häusern, Gärten, Bädern, Höfen oder Säulengängen, die Flüchtlinge ebenso schützt wie das Innere des Tempels307.
Aus rechtlicher Sicht konnten Verfolgte also davon ausgehen auch außerhalb der Kirche vom Asylrecht zu profitieren. Als Theodosios Monomachos (K 9) die Tore der 304 Im Jahre 1343 erging eine letzte explizite staatliche Bestätigung des Asylrechts der Hagia Sophia: Acta Patriarchatus Constantinopolitani MCCCXV–MCCCCII e codicibus manu scriptis bibliothecae palatinae vindobonensis, ediderunt Franz Miklosich / Joseph Müller, Wien 1860, Bd. 1, S. 232–233 (Nr. 104); vgl. Herman, Asylrecht, S. 238 mit Beispielen von 490 bis 1345 (S. 220– 234); Macrides, Asylum, S. 514–515 erkennt die Vorrangstellung der Hagia Sophia vor allem für die Mitte des 11. Jh. und das 12. Jh. an. Eine Häufung der Fälle in diesem Zeitraum ist zweifelsohne bemerkbar, doch spielte die Kirche bereits seit der Spätantike die zentrale Rolle in Konstantinopel. 305 Macrides, Four novels, S. 203–204. 306 Vgl. Herman, Asylrecht, S. 234. 307 Cod. Theod. 9.45.4. Übersetzung nach Traulsen, Asyl, S. 316. Aus dem 5. und 6. Jahrhundert sind außerdem Stelen erhalten, deren Inschriften darauf hindeuten, dass sie zur Abgrenzung von Asylbezirken rund um Kirchen aufgestellt worden waren. Herman, Asylrecht, S. 214 mit Verweisen auf publizierte Exemplare.
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Hagia Sophia versperrt vorfand, setzte er sich vor die Kirche und flehte um Mitleid. Ob die relativ milde Bestrafung seines Putschversuches (Verbannung nach Pergamon) aus Rücksichtnahme auf das Asylrecht erfolgte, ist aber zu bezweifeln. Die Quellen berichten jedenfalls von keinerlei Kapitulationsverhandlungen, sondern nur davon, dass der Kaiser ihn aus dem Kirchenareal entfernen ließ Grundsätzlich versuchten die Flüchtlinge jedenfalls, ins Innere des Gotteshauses zu gelangen. Für die Aufnahme von Asylanten in der größten Kirche Konstantinopels dürfte sich irgendwann vor dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts – Anna Komnene spricht von einer langen Tradition – ein gewisses Procedere etabliert haben: Flüchtlinge sollten nicht direkt in das Hauptschiff der Hagia Sophia strömen, sondern in eine angrenzende Kapelle, die dem heiligen Nikolaos geweiht war, so auch die Frauen der Komnenenfamilie angesichts der bevorstehenden Usurpation durch Alexios (I.) Komnenos (K 11): Sie gelangten zum Heiligtum des Hierarchen Nikolaos, das man bis heute noch gewöhnlich „Refugium“ (prosphygion) nennt, gleich neben der Großen Kirche, welches vor ganz langer Zeit zur Rettung der von Anklagen Betroffenen dort erbaut worden ist, in dem es einen Teil des Bezirks der Großen Kirche bildet, mit bestimmter Absicht, glaube ich, von den Alten angelegt, damit nämlich jeder, der von einer Anklage betroffen ist und dem es gelingt, in dieses hineinzukommen, dadurch von der Bestrafung durch die Gesetze freikommt. Denn die alten Kaiser und Caesaren haben ihren Untertanen viel Fürsorge angedeihen lassen308.
Das von Anna erwähnte Heiligtum ist auch unter der Bezeichnung ta Basilidou bekannt309. Bei dem heute nicht mehr erhaltenen Bau dürfte es sich um einen östlich hinter der Apsis der Hagia Sophia anschließenden Annex mit quadratischem Grundriss
308 Alexias 2.5.4 (S. 66, Z. 43–50 Reinsch/Kambylis): αἱ δὲ φθάνουσι πρὸς τὸ τοῦ ἱεράρχου Νικολάου τέμενος, ὃ Προσφύγιον μέχρι τῆς δεῦρο εἰώθασιν ὀνομάζειν, ἀγχοῦ τῆς μεγάλης ἐκκλησίας καὶ πρῴην ἐνιδρυμένον πάλαι ἐπὶ σωτηρίᾳ τῶν ἐπ’ ἐγκλήμασιν ἁλισκομένων, ὡς μέρος τυγχάνον τοῦ μεγάλου τεμένους καὶ ἐπίτηδες, οἶμαι, κατασκευασθὲν τοῖς ἀρχαίοις, ἵνα πᾶς ὁ ἐπ’ ἐγκλήματι ἁλοὺς καὶ φθάσας εἴσω τούτου γενέσθαι τῆς ἐκ τῶν νόμων τηνικαῦτα ἐλευθερῶται ποινῆς. οἱ γὰρ πάλαι βασιλεῖς τε καὶ καίσαρες πολλῆς προμηθείας ἠξίουν τὸ ὑπήκοον. Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 82. Vgl. Appendix K 11. 309 Vgl. die Hinweise auf das Gebäude in den Patria 3.205 (II, S. 279 Preger) und bei Nikephoros Kallistos Xanthopoulos, Z. 28–39, ed. Athanasios Papadopoulos-Kerameus, Ἀνάλεκτα Ἱεροσολυμιτικῆς σταχυολογίας, 4. St. Petersburg 1897, S. 357–358: Μετὰ τελευτὴν τοῦ σοφοῦ Νικολάου | τῆς εὐσεβείας ὁ στῦλος Κωνσταντῖνος, | βασιλέων μέγιστον ἔντρανον κλέος, | τὴν χάριν εἰδὼς αὐτόθεν τοῦ μεγάλου | ἐν τῇ παρ’ αὐτοῦ συσταθείσῃ κοσμίως | πόλει πρὸ πασῶν εὐστόχως ἐπωνύμῳ | νεὼν ἀνιστᾷ τῷ μεγάλῳ σὺν πόθῳ, | ἀνάλογον μήκει τε καὶ πλάτους βάθει | καὶ πᾶσιν ἄλλοις εὐφυῶς ἠσκημένον· | ἄγχιστα δ’ οὗτος τοῦ νεὼ τῆς Σοφίας, | πρὸς τοῖς Ἑῴοις Ἐμβόλοις, ἡδρασμένος | ἔστιν ἐς ἡμᾶς εἰσέτι παραμένων. Vgl. Eugenios M. Antoniades, Ἔκφρασις τῆς Ἁγίας Σοφίας, Athen 1908, Nachdr. Athen 1983, ΙΙ, S. 163–169; Robert Janin, Les églises byzantines Saint-Nicolas à Constantinople, in: EO 31, Nr. 168, 1932, S. 403–418, hier S. 408–410 und Idem, Siège de Constantinople, S. 382–383; Berger, Untersuchungen, S. 430–432.
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gehandelt haben310. Die Fluchtkapelle erwähnt auch Nikolaos Mesarites in seiner Beschreibung der Palastrevolution des Ioannes Axuchos (K 18), der sich über das nördliche Portal (prosphygion), Zugang zur Hagia Sophia verschafft habe311. Möglicherweise bezieht sich auch der von Leon Diakonos erwähnte parathyros, durch welchen Leon Phokas und sein Sohn Nikephoros in die Kirche geflüchtet sind, auf diesen Eingang (K 5)312. Aus Annas weiterer Schilderung geht hervor, dass die Nikolaos-Kapelle nicht jedermann offenstand. Die Frauen der Komnenen mussten zu einer List greifen und sich als Wallfahrerinnen ausgeben, um Einlass zu erlangen313. Ioannes Axuchos kam offenbar ohne Probleme ins Prosphygion, fand aber dann den Durchgang in die Hagia Sophia versperrt vor und musste die Tore aufbrechen lassen314. Dass man Flüchtlinge prinzipiell vom Hauptschiff der Kirche fernhalten wollte, belegt auch eine kaiserliche Verordnung aus dem Jahre 1343315. Aus dem Verhalten vieler Flüchtlinge lässt sich schließen, dass die Chancen auf Wahrung des Asyls stiegen, je tiefer man in das Heiligtum eindringen konnte, denn umso heikler wurde jegliche Intervention seitens des Verfolgers. Aus frühbyzantinischer Zeit sind einzelne Fälle überliefert, in denen das Baptisterium als Zufluchtsort diente316. Im Regelfall jedoch versuchten die Flüchtlinge, möglichst nahe an den Altar zu gelangen317. Michael Attaleiates beispielsweise betont, der Bischof von Ikonion sei bis in den Altarraum der Hagia Sophia vorgedrungen und habe sich am Altar festgeklammert, um der Verhaftung durch die Leute Michaels VII. Dukas zu entgehen (K 10)318. Dass sich diese dennoch erdreisteten, den Kleriker mit gezückten Schwertern 310 Die Lage der Kapelle direkt hinter dem Altar bestätigt der zwischen 1424 und 1434 verfasste Bericht eines anonymen russischen Pilgers: Itinéraires russes en Orient, traduits par Sofia de Khitrovo, I/1. s. l. 1899, Nachdr. Osnabrück 1966, S. 228–229. Ob sich die Kapelle nordöstlich, südostlich oder direkt hinter der Apsis befunden hat, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit beantworten. Antoniades, Ἔκφρασις, S. 164 legt sich zwar nicht fest, tendiert aber zu einer Verortung nordöstlich der Apsis, für die er sich auch in seinem Übersichtsplan (IZ) entscheidet. Janin, Siège de Constantinople, S. 382–383 schließt sich der Deutung an, unterschlägt dabei aber Antoniades’ Alternativvorschläge. Für eine Lokalisierung südlich der Apsis spricht sich Berger, Untersuchungen, S. 431 aus. 311 Mesarites 3 (S. 20, Z. 24–26 Heisenberg): Ἤδη μὲν οὗν ἔνδον τῶν θείων καὶ ἱερῶν γεγονὼς περιβόλων ἐκ τῶν ἀρκτῴων θυρῶν, Προσφύγιον ταύταις τοὐπίκλην, ὁ προμνημονευθεὶς Ἰωάννης. 312 Leon Diakonos 9.5 (S. 147, Z. 15–17 Hase): διά τινός παραθύρου μετὰ τοῦ υἱοῦ ὑπεκδὺς Νικηφόρου, ἐς τὸν θεῖον καὶ μέγαν καταφεύγει σηκὸν, ἱκέτης ἐλεεινὸς ἀντὶ σοβαροῦ τυράννου καὶ ἀλαζόνος ὁρώμενος. 313 Alexias 2.5.6 (S. 67 Reinsch/Kambylis). 314 Mesarites 3 (S. 20–22 Heisenberg). 315 MM I, S. 232–233 (Nr. 104). 316 Prokop, Anekdota 3.4–25, 17.10 (Procopii Caesariensis Opera Omnia, Vol. III: Historia quae dicitur Arcana, recognovit Jakob Haury. Editio stereotypa correctior addenda et corrigenda adiecit Gerhard Wirth, Leipzig 1963, S. 20–23, 106). 317 Macrides, Asylum, S. 515, Anm. 50 schreibt dem Altar erst in spätbyzantinischer Zeit eine spezielle Rolle zu. 318 Attaleiates, S. 199, Z. 2–8 (Tsolakes): Ὁ δέ, προγνοὺς τὸ τῆς ὀργῆς ἀκατάσχετον, ἐντὸς εἰσέδυ τῆς δευτέρας σκηνῆς τοῦ μεγάλου ναοῦ τῆς ἁγίας Σοφίας, ἥτις ἅγια μὲν ἁγίων τοῖς πάλαι κατωνομάζετο,
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aus dem Altarraum zu holen, wertet Michael Attaleiates als Rechtsverletzung (paranomia) und unangemessenes Verhalten (atopia)319. Das Bewusstsein einer rechtlichen Grundlage findet sich auch bei Michael Psellos, der bei der Zufluchtnahme Michaels V. und seines Onkels als Augenzeuge anwesend war320: Gemeinsam mit dem ausgesandten Beamten waren auch Teile des Pöbels in die Kirche eingedrungen. Die Flüchtlinge fand man im Altarraum vor; Michael klammerte sich an die Säulen des Altars. Obgleich erzürnt, wagte es der Pöbel nicht, in das Allerheiligste einzudringen und erst nach zwei gescheiterten Verhandlungsversuchen befahl der zuständige Beamte den Umstehenden, die beiden Flüchtlinge zu ergreifen und aus der Kirche zu entfernen – was für Psellos einen klaren Rechtsbruch bedeutete321. So wie Michael V. waren auch Nikolaos Mystikos (913, K 2) und Leon Tornikios (1047, K 7) in den Altarraum geflohen und machten auf diese Weise zumindest Kapitulationsverhandlungen möglich. Dass dem Altarraum innerhalb der kirchlichen Raumhierarchie ein besonderer Stellenwert beigemessen wurde, zeigt ein weiterer Blick auf die Asyl suchenden Frauen der Komnenen-Familie. Diese hatten sich durch eine List Zutritt in die Kapelle des Heiligen Nikolaos verschafft. Als die kaiserlichen Unterhändler erschienen, bat Alexios’ (I.) Mutter Anna Dalassene darum, sich für ein kurzes Gebet in das Hauptschiff zu begeben. Dort angekommen, warf sie sich vor den Altartüren zu Boden und klammerte sich daran fest, während sie ihre Kapitulationsbedingungen diktierte322. Es fällt auf, dass die Hagia Sophia im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts und vor allem an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert nicht mehr nur als Fluchtort diente, sondern als regelrechte Basis für Aufständische323. Bereits bei den Revolten der Generäle Isaakios (I.) Komnenos (1057) und Nikephoros (III.) Botaneiates (1078) hatte die Große Kirche als Versammlungsort der Anhänger innerhalb der Stadtmauern gedient, was in beiden Fällen nicht zuletzt durch die persönliche Parteinahme des Patriarchen zu erklären ist324. Bei Usurpationsversuchen, die sich ausschließlich innerhalb Konstantinopels abspielten, mussten die Verschwörer auf innerstädtische Unterstützung
ἡμῖν δὲ τοῖς τῆς Νέας Διαθήκης πρὸς τούτῳ καὶ θυσιαστήριον καὶ ἄδυτον καὶ ἱλαστήριον· καὶ τῶν θείων ἀπρὶξ ἐχόμενος τόπον ἀσυλίας τὴν θείαν ἐποιεῖτο ἀντίληψιν. 319 Attaleiates, S. 198–199 (Tsolakes). 320 S. unten, S. 336–338. 321 Psellos, Chron. 5.45 (S. 103, Z. 1–3 Reinsch): Ἐντεῦθεν ἐκεῖνος, τῆς διὰ τῶν λόγων πειθοῦς ἀπογνοὺς, ἐπὶ τὴν βίαν ἐλήλυθεν. ὡς δὲ προστάξαντος, χεῖρας ἐπ’ αὐτοὺς τὸ πλῆθος ἀνέτειναν· καὶ ἢδη καὶ παρανομεῖν ἐπεχείρησαν … 322 Alexias 2.5.6 (S. 67 Reinsch/Kambylis). Vgl. außerdem Theophanes AM 6203 (S. 380 de Boor): Tiberios, der Sohn des gestürzten Kaisers Justinianos II., wollte die Wirksamkeit des Kirchenasyls erhöhen, indem er sich mit einer Hand an einer Altarsäule festklammerte und in der anderen ein Kreuz festhielt; um den Hals trug er Schutzamulette. Zusätzlich warf sich seine Großmutter a u ß e r h a l b des Altarraums seinen Häschern flehend zu Füßen. 323 Vgl. Beck, Senat, besonders S. 44–62. 324 S. oben, S. 75–76. Vgl. Beck, Senat, S. 45–46.
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in Form der Bevölkerung oder des Patriarchen hoffen. Vor diesem Hintergrund lässt sich beobachten, wie die Hagia Sophia ab der Mitte des 11. Jahrhunderts und vor allem gegen Ende des 12. Jahrhunderts immer häufiger zu einer Keimzelle für Umsturzversuche mutierte. Häufig bedeutete die (bisweilen vorgetäuschte) Flucht nur den ersten Schritt einer Usurpation. Einmal als Zufluchtsuchender in der Kirche angelangt, konnte er versuchen, Menschen für seine Sache zu mobilisieren und genoss gleichzeitig den Schutz des Asyls. Eine solche Rolle nahm die Große Kirche vor allem bei den Usurpationsversuchen der kaisarissa Maria (1181, K 13) und des Isaakios (II.) Angelos (1185, K 14) ein. Theodosios Monomachos (1056, K 9), Alexios Branas (1186, K 15), Isaakios Komnenos (1191–1193, K 16), der namentlich unbekannte Sohn des Gouverneurs von Thessalonike (vor 1194, K 17) sowie Ioannes Axuchos (1200, K 18) hofften hingegen vergeblich darauf, ihren Putschversuchen durch Zufluchtnahme in der Hagia Sophia und durch anschließende Mobilisierung des Volkes größere Durchschlagskraft zu verleihen. Performative Aspekte Im Zusammenhang mit dem Kirchenasyl sind verschiedene Rituale überliefert. So erwähnt Niketas Choniates, dass es die Pflicht von Asyl suchenden Mördern gewesen sei, von einer Art Kanzel oder Bühne (anastathmos325) aus ihr Verbrechen kundzutun und die Kirchgänger um Vergebung zu bitten326. Die Verhandlung samt (kirchlicher) Verurteilung durch den prōtekdikos der Hagia Sophia erfolgte im sogenannten proskēnion oder prōtekdikeion, das sich wohl ebenso wie der anastathmos im Exonarthex befand327. Dass diese Auflage für Flüchtlinge in unserem Kontext einzig bei der Zufluchtnahme von Isaakios (II.) Angelos (K 14) erwähnt wird, erklärt sich von selbst, zumal er der einzige ist, der aufgrund eines eben begangenen Mordes das Kirchenasyl in Anspruch nehmen musste. Die Beschreibung des Niketas Choniates korrespondiert mehr oder minder mit den oben erwähnten kirchlichen Bußauflagen, die vor allem eine öffent-
325 Vgl. LBG 91, s. v.: Kanzel, Podium, Standbild. Der Begriff ist überaus selten und begegnet ausschließlich in den Werken des Niketas Choniates, Nikolaos Mesarites und Eustathios von Thessalonike. Aus den Textstellen lässt sich wenig über die Gestalt dieses Einbaus oder Möbels sagen. Aus Choniates, Hist., S. 422 (van Dieten) geht lediglich hervor, dass sich ein anastathmos mit Äxten und Werkzeugen von Steinmetzen zerstören lässt. Zum ἀνασταθμός s. auch Antoniades, Ἔκφρασις, S. 164–165. 326 Choniates, Hist., S. 342, Z. 9–12 (van Dieten) Καὶ ὁ μὲν ὡς εἶχε τὸν θεῖον εἰσιὼν ναὸν ἄνεισι τὸν ἀνάσταθμον, ὃν οἱ φονεῖς ἀνερχόμενοι τὸ οἰκεῖον ἀνακεκαλυμμένως διατρανοῦσι πλημμέλημα τὴν ἐκ τῶν εἰσιόντων τε καὶ ἐξιόντων τὸ ἱερώτατον τέμενος αἰτοῦντες συγχώρησιν. Aus dem 15. Jh. sind genauere Vorgaben überliefert: s. oben, Anm. #968. 327 Antoniades, Ἔκφρασις lokalisiert das proskēnion vor dem Bema, was aber der Beschreibung bei Choniates, S. 238 (van Dieten) widerspricht. Vgl. Herman, Asylrecht, S. 236–237; Macrides, Asylum, S. 514–515.
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liche Beichte und das Flehen um Mitleid und Vergebung einschlossen328. Erst diese performativen Akte ermöglichten das Wirken des kirchlichen Schutzmechanismus329. Michael V. und sein Onkel Konstantinos (K 6) sollen sofort nach ihrer Flucht ins Studioskloster eiligst ihre kaiserlichen Gewänder gegen jene gewöhnlicher Bittsteller getauscht haben330. Das Verhalten ist durchaus schlüssig, ging es doch beiden bei den Kapitulationsverhandlungen nicht um Rehabilitierung, sondern darum, die Erlaubnis zu erhalten, in den Mönchsstand überzutreten. Ein demonstrativer Verzicht auf Zurschaustellung des sozialen Status und eventuell damit verbundener Ansprüche trug zweifelsohne zur Verstärkung des Demutsgestus bei. Das seit 431 gesetzlich verankerte Waffenverbot wurde im Untersuchungszeitraum bis auf zwei Fälle offenbar eingehalten: So zogen Leon Tornikios und Ioannes Batatzes ihre Schwerter und drohten mit der Entweihung des Altarraumes durch Suizid (K 7)331. Zu einer gleichsam militärischen Nutzung gelangte die Hagia Sophia, als sich im Kampf um die Regentschaft für Alexios II. Maria Komnene und der kaisar Ioannes dort verschanzten und Söldner zur Verteidigung anwarben (1181, K 13). Der prōtosebastos Alexios, der sich durch die zu kippen drohende Stimmung in Konstantinopel bedroht sah, sandte Truppen, welche die beiden mit Gewalt aus dem Gotteshaus entfernen sollten. Nach über drei Wochen Belagerungszustand und Scharmützeln kam es zu Kampfhandlungen rund um die Hagia Sophia, wobei vor allem das Augustaion als Schlachtfeld diente. Als der prōtosebastos das Glück auf seiner Seite zu haben schien, sammelte der kaisar seine verbliebenen Truppen im proskēnion der Kirche, unterstützt vom Patriarchen Theodosios, der seine bischöflichen Gewänder angelegt hatte und das Evangelium in Händen hielt. Niketas Choniates – der die Schuld an der Eskalation nicht zuletzt auch dem Verhalten Marias zuschreibt332 – legt dem kaisar folgende Schlachtenrede in den Mund, in welcher er den Gebrauch von Waffengewalt im Kirchenbereich durch die Verletzung des Asylrechts seitens der Angreifer rechtfertigt: Treten wir tapfer den Angreifern entgegen! Denken wir nicht daran, dass sie den gleichen Glauben haben wie wir …, sondern wehren wir sie ab als Feinde Gottes, in dessen Heiligtum sie ohne Scheu eindringen, wehren wir sie ab als Feinde, die uns hassen! … Sie kennen keine Satzung und treten Sitte und Anstand mit Füßen. Uns, die wir uns unter den Schutz Gottes gestellt haben, wollen sie aus seinem Hause hier zerren. Das dürfen sie
328 Macrides, Asylum, S. 514. 329 Vgl. Macrides, Asylum, S. 535: „The observance of the penitential acts could also contribute to the restoration of the killer’s relations within the community, for the penances were to be performed by the killer in public in the very community where the killing had occurred. These consisted of a plea for forgiveness in front of the church and prayers outside the church. … He also declared his sin outside the church when the liturgy was in progress. Such behavior, it would seem, would have had a significant impact in that face-to-face society.“ 330 Psellos, Chron. 5.38 (S. 100 Reinsch). 331 Psellos, Chron. 6.122–123 (S. 162–163 Reinsch). 332 Choniates, Hist., S. 241 (van Dieten).
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nicht, denn sie können uns nicht vorwerfen, dass wir uns gegen sie ungehörig benommen hätten. Es ist ja Tollheit, Menschen, die bei Gott Zuflucht gesucht haben, der irdischen Gerechtigkeit zuführen zu wollen, es ist Tollheit, Menschen, die Gott zu ihrem Anwalt genommen, wie Missetäter kampfwütig anzufallen! … Uns wird auch die Gottheit Dank wissen, wenn wir von ihrem Heiligtume hier die blutbesudelten Mörder verjagen, wenn wir diesen Räubern entgegentreten, die – wie ihr seht – gierig nach den heiligen Geräten lechzen!333
Nach einem erfolgreichen Ausfall sahen sich die bedrängten Verteidiger dennoch bald gezwungen, sich ins Innere der Kirche zurückzuziehen. In der Befürchtung, das Blutvergießen könnte selbst dort weitergehen, trat schließlich der Patriarch in Aktion und leitete Verhandlungen mit dem Hof ein, die schließlich mit der Zusicherung freien Geleits und der Rückkehr von Maria und Ioannes in den Palast endeten334. Wie man sich eine solche eidliche Zusicherung vorzustellen hat, etwa, ob solche Zugeständnisse zusätzlich in schriftlicher Form ausgestellt wurden, geht aus den Quellen zumeist nicht hervor. Auch die Absicherung der Eide durch Übergabe eines Unterpfandes ist belegt: Als Nikephoros III. der Usurpation des Alexios Komnenos gewahr wurde, ließ er nach dessen Mutter Anna Dalassene schicken, die sich gemeinsam mit den anderen Frauen der Komnenen-Familie schon vor dem Putsch in die Hagia Sophia zurückgezogen hatte (K 11). Das Asyl achtend, sandte Nikephoros seine Vertrauten Straboromanos und Euphemianos als Unterhändler, doch Anna warf sich zu Boden, umklammerte die Türen des Altarraumes und forderte das Pektoralkreuz des Kaisers als Garantie für ihre Unversehrtheit. Straboromanos aber zog das Brustkreuz hervor, das er trug, und gab es ihr. Sie jedoch: „Nicht von euch verlange ich die Bestätigung, sondern vom Kaiser selbst erbitte ich die genannte Garantie. Und ich werde auch nicht einfach akzeptieren, wenn man mir ein kleines Kreuz gibt, sondern nur eines von beachtlicher Größe.“ Das verlangte sie, damit die eidliche Garantie ihr gegenüber augenfällig werde; denn wenn das Versprechen auf ein kleines Kreuzlein geleistet würde, dann würde das dadurch Garantierte von den meisten eventuell gar nicht beachtet werden335.
333 Choniates, Hist., S. 238–239 (van Dieten). Übersetzung: Abenteurer auf dem Kaiserthron. Die Regierungszeit der Kaiser Alexios II., Andronikos und Isaak Angelos (1180–1195) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates, übersetzt, eingeleitet und erklärt von Franz Grabler (BGS 8), Graz/Wien/Köln 1958, S. 27–28. 334 Choniates, Hist., S. 240–241 (van Dieten). 335 Alexias 2.5.6–7 (S. 68, Z. 83–90 Reinsch/Kambylis): ἐκβαλὼν δὲ ὁ Στραβορωμανὸς ὅνπερ ἐπεφέρετο ἐγκόλπιον σταυρὸν ἐδίδου. ἡ δέ· „οὐκ ἀφ’ ὑμῶν τὴν πληροφορίαν ἀπαιτῶ, ἀλλ’ ἐξ αὐτοῦ τοῦ βασιλέως ἐπιζητῶ τὴν εἰρημένην βοήθειαν, καὶ οὐδ’ ἁπλῶς ἐν μικρῷ μεγέθει τὸν διδόμενον ἂν σταυρὸν δεξαίμην, ἀλλ’ ἀξιόλογον τὸ μέγεθος ἔχοντα“. τοῦτο δὲ ἐπεζήτει, ἵνα καταφανὲς πρὸς ἐκείνην τὸ ὅρκιον γίνοιτο· ἐν μικρῷ γὰρ σταυρίῳ τῆς ὑποσχέσεως γινομένης τάχα ἂν τοὺς πολλοὺς τὰ ἐμπεδούμενα διελάνθανον. Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 83–84.
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Erneut illustriert die Begebenheit, wie sehr das Funktionieren des Asylschutzes von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit abhing, die eine etwaige Verletzung desselben sanktionieren konnte. Effizienz Im Kontext von Rebellionen und Thronkämpfen scheint die gesetzliche Garantie auf Kirchenasyl weitestgehend aufgehoben. Was die Flüchtlinge vor der Bestrafung durch den Kaiser bestenfalls schützte, war die Scheu vor dem geweihten Ort, die Furcht vor Tumulten oder die Angst vor Prestige- und Legitimitätsverlust. Die Effizienz des Asyls ist schwer zu beurteilen. Zwar lässt sich sagen, dass im Untersuchungszeitraum kein einziger Flüchtling getötet wurde, weder in der Kirche noch unmittelbar nach dem Verlassen derselben. Der Wert dieser Beobachtung relativiert sich freilich angesichts der generellen Tendenz in mittelbyzantinischer Zeit, von Todesurteilen Abstand zu nehmen336. Immerhin lässt sich aber sagen, dass die Flucht in die Kirche die Position des Unterlegenen in den folgenden Kapitulationsverhandlungen verbesserte, weil eine willkürliche und rücksichtslose Intervention des Kaisers zusätzlichen Einschränkungen unterlag337. 3.2.4 Symbolische Tötung: Tonsur und Klosterhaft Die Verbannung in periphere Reichsgebiete gehörte zu den häufigsten Bestrafungen von Majestätsverbrechern in Byzanz. Alternativ zur bloßen Dislozierung bestand jedoch auch die Möglichkeit, den geschlagenen Konkurrenten durch erzwungene Tonsur und Einweisung in ein Kloster in – oder in der Nähe von – Konstantinopel unschädlich zu machen338. Nur wenige der solcherart ins Mönchsleben gezwungenen Personen schafften den Sprung zurück ins zivile oder gar politische Leben. Ihre Effizienz, ihre ökonomische Umsetzung und ihre im Vergleich zu Leibesstrafen moralische
336 S. Kapitel 3.2.2. 337 Zur Limitierung willkürlicher Macht in traditionellen Herrschaftssystemen durch Einhaltung verbindlicher Traditionen s. Weber, Herrschaft, S. 219. 338 Zur Zwangstonsur in Byzanz s. K. M. Rhalles, Περὶ τῆς ἀναγκαστικῆς μοναχικῆς κουρᾶς, in: Praktika tes Akademias Athenon 12 (1937), S. 326–328. Vgl. auch Albert Failler, Le monachisme byzantin aux XIe–XIIe siècles. Aspects sociaux et économiques, in: Actes des congrès de la Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur public. 5e congrès, Saint-Etienne 1974, S. 171–188, besonders S. 181–182; Bourdara, Καθοσίωσις I 167. Zur Tonsur in Byzanz allgemein vgl. Amilkas S. Alibizatos, Ἥ κουρὰ τῶν κληρικῶν καὶ μοναχῶν κατὰ τὸ κανονικὸν δίκαιον τῆς ὀρθοδόξου ἐκκλησίας, in: EEBS 23, 1953, S. 233–239. Eine wertvolle Sammlung von Fällen freiwilliger und erzwungener Klostereintritte von Personen aus dem Kaiserhaus und der gesellschaftlichen Elite bietet Rodolphe Guilland, Les empereurs de Byzance et l’attrait du monastère, in: Idem, Études Byzantines, Paris 1959, S. 33–51; vgl. Idem, La destinée des empereurs de Byzance, in: EEBS 34, 1954, S. 37–66, hier S. 66. Vgl. Kapitel 3.2.3.
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Unbedenklichkeit machten die Zwangstonsur damit zu einem der beliebtesten Mittel, politische Gegner aus dem Spiel um die Macht zu entfernen (vgl. die tabellarische Zusammenstellung im Appendix: Zwangstonsuren)339. Die Tonsur als performativer Akt Im Gegensatz zu anderen Methoden der Beseitigung politischer Gegner – wie Verbannung oder Enteignung – war die erzwungene Initiation in den Mönchsstand mit einer ritualisierten physischen und psychischen Transformation verbunden. Zwar wurden Kleiderwechsel und Tonsur nie vor einer größeren Öffentlichkeit durchgeführt340, doch bedeutete die Teilnahme am Ritual, ob erzwungen oder nicht, einen nur in Ausnahmefällen reversiblen Statuswechsel341. Für die Analyse der Initiation ins Mönchtum als performativer Akt sind die historiographischen Quellen zumeist von geringem Wert. Bisweilen beschränken sich diese darauf, den Eintritt in den Mönchsstand bildlich auszudrücken, entweder durch das Anlegen schwarzer Kleidung oder durch das Durchführen der Tonsur, die offenbar als wirksamster performativer Faktor der Initiation galt und für Mönche wie für Kleriker obligatorisch war342. Der ideale Ablauf des Rituals lässt sich daher nur unter Zuhilfenahme normativer Quellen343 rekonstruieren: Das Ritual musste im Rahmen einer Liturgie im Inneren einer Kirche durchgeführt werden und folgte einem zweiphasigen Schema mit Gelübde und Tonsur344. Die erste Phase345 ist der psychischen Disposition des Initianden gewidmet. Nach seinem Eintritt in die Kirche werden Psalmen gesungen und Gebete gesprochen346. Danach muss sich der Kandidat einer Befragung stellen, durch die vor allem festgestellt werden soll, ob er tatsächlich bereit ist, sich reuig vom weltlichen Leben zu distanzieren und sein restliches Leben in Geduld und Gehorsam
339 Guilland, Attrait du monastère, S. 33–34 340 Dies ist vor allem dann auffällig, wenn die Zwangstonsur nach einer Schandparade – niemals aber im Rahmen oder vor einer solchen – durchgeführt wurde. Vgl. hierzu Kapitel 3.3.3. 341 Einige dieser Ausnahmen finden sich unter den im Folgenden angeführten Fällen und in Guilland, Titres nobiliaires, S. 62–67. 342 Alibizatos, Κουρά, S. 234–237 mit den rechtlichen und kanonischen Grundlagen. 343 Jacobus Goar, Euchologion sive Rituale Graecorum, Venedig 1730, Nachdr. Graz 1960, S. 406– 415; Michael Wawryk, Initiatio monastica in liturgia byzantina. Officiorum schematis monastici magni et parvi necnon rasophoratus exordia et evolutio. Dissertatio historico-liturgica textibus nunc prima vice editis locupletata (OCA 180), Rom 1968; Eustathii Thessalonicensis de emendanda vita monachica, ed. Karin Metzler (CFHB 45), Berlin/New York 2006. Die letztgenannte Edition bietet zudem einen sehr guten und ausführlichen Überblick über den liturgischen Ablauf der Initiation (S. 25*–43*), an dem sich auch meine folgenden Ausführungen orientieren. 344 Ioannes M. Konidares, Νομικὴ θεώρηση τῶν μοναστηριακῶν τυπικῶν, Athen 1984, S. 109. Eine mehr oder minder feste Zeremonie dürfte sich erst im Laufe des 9. Jahrhundert entwickelt haben. 345 Zum Folgenden vgl. Georgios P. Theodoroudes, Ὁ μοναχισμός κατὰ τὸν Εὐστάθιον Θεσσαλονίκης, Thessalonike 1983, S. 39–42. 346 Euchologion, S. 410 (Goar); Eustathios, Vita monachica 19 (S. 24 Metzler); Initiatio, S. 70* (Wawryk).
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in den Dienst Gottes zu stellen347. Es folgt eine Belehrung, die den Initianden daran erinnert, dass sein Gelübde seinen Tod in dieser Welt bedeutet348 und er sich von allem Besitz und Verwandten lossagen, auf weltliche Lust und Ehre verzichten müsse349. Er habe das Leben selbst zu verleugnen, um das Kreuz zu nehmen und Christus zu folgen350. Engel würden als Zeugen für den Schwur dienen351, der in jeder Hinsicht als endgültig zu betrachten sei352. Während dieser Ausführungen schweigt der Initiand353. Erst danach ist es ihm gestattet, sein Gelübde zu leisten, das bei Bejahung aus einem einfachen „Ja, Vater“ besteht354 und mit einem Kreuzzeichen besiegelt wird355. Hierauf legt sich der Kandidat auf den Boden, und weitere Gebete werden gesprochen, womit die erste Phase endet356. Die zweite Phase357 legt den Fokus auf die physische Transformation durch Tonsur und Kleiderwechsel358. Es gab in Byzanz einerseits das Abschneiden einzelner Strähnen in Kreuzform, andererseits – und im Untersuchungszeitraum offenbar eher üblich – die komplette Schur des Haupthaares359. Dieser Akt, der im Übrigen in vielen Initiationsriten begegnet360, symbolisierte den Tod des Kandidaten in der irdischen Welt und das Freimachen von der Bürde des Lebens361, aber auch eine freiwillige Demüti-
347 Euchologion, S. 407, 415 (Goar); Eustathios, Vita monachica 7, 19, 33, 42, 76, 137, 156 (S. 10–12, 24, 42, 52, 88–90, 154–156, 174 Metzler); Initiatio, S. 7*–8*, 73* (Wawryk). 348 Euchologion, S. 407 (Goar); Eustathios, Vita monachica 20, 21, 27, 43, 44, 82, 110, 112, 158 (S. 26, 28, 34, 52–54, 94, 122–124, 175 Metzler); Initiatio, S. 22*, 78* (Wawryk). 349 Euchologion, S. 406, 407, 415, 414 (Goar); Eustathios, Vita monachica 4, 19, 20, 33, 58, 81, 113 (S. 8–10, 24, 26, 42, 70, 92–94, 124–126 Metzler); Initiatio, S. 23*, 70*, 76* (Wawryk). 350 Euchologion, S. 407 (Goar); Eustathios, Vita monachica 20, 21, 82 (S. 26, 38, 94 Metzler); Initiatio, S. 22*, 76* (Wawryk). 351 Euchologion, S. 407 (Goar); Eustathios, Vita monachica 20, 33, 42, 114 (S. 26, 42, 52 Metzler); Initiatio, S. 17*, 74* (Wawryk). 352 Euchologion, S. 407 (Goar); Initiatio, S. 22*, 24* (Wawryk). 353 Euchologion, S. 407–409 (Goar); Eustathios, Vita monachica 21 (S. 28 Metzler); Initiatio, S. 22*–25*, 74*–83* (Wawryk). 354 Euchologion, S. 409 (Goar); Eustathios, Vita monachica 24, 76, 161 (S. 30, 88–90, 178 Metzler); Initiatio, S. 25*, 83* (Wawryk). 355 Euchologion, S. 409 (Goar); Eustathios, Vita monachica 24, 195 (S. 30, 224–226 Metzler); Initiatio, S. 84* (Wawryk). 356 Euchologion, S. 409, 415 (Goar); Eustathios, Vita monachica 24 (S. 30 Metzler); Initiatio, S. 83*, 88* (Wawryk). 357 Zum Folgenden vgl. Theodoroudes, Μοναχισμός, S. 36–39. 358 Euchologion, S. 411 (Goar); Eustathios, Vita monachica 72–75 (S. 84–88 Metzler); Initiatio, S. 30*, 89* (Wawryk). 359 Alibizatos, Kουρά 236–237. Eustathios, Vita monachica 77 (S. 90 Metzler) kennt zumindest für den Eintritt ins Große Schema nur die Schur bis auf die Haut (ἐν χρῷ κουρά). Vgl. Theodoroudes, Μοναχισμός, S. 38. Zur kreuzförmigen Schur s. Konidares, Νομικὴ θεώρηση, S. 109. 360 Turner, Das Ritual, S. 162–164. 361 Eustathios, Vita monachica 77 (S. 90 Metzler). Freilich können noch andere Bedeutungen im Ritual mitschwingen. Vgl. die Betrachtungen zum Bedeutungsspektrum der Tonsur (und Zwangstonsur) im lateinischen Westen bei
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gung, um sich bedingungslos in den Dienst Gottes zu stellen362. Wer genau die Schur durchzuführen hat, ist nur in manchen Typika explizit festgelegt363. Abgeschlossen wird die Transformation durch das Ablegen der weltlichen Kleidung und das Anlegen des Mönchsgewandes, das schon in der Nacht vor der Initiation in der Kirche bereitgelegt worden ist364, und aus Tunika, Mantel, Kapuze und Gürtel besteht365. Symbolisch distanziert sich der Initiand damit von den Annehmlichkeiten der irdischen Welt. Die schwarze Farbe des Mönchsgewandes ist in erster Linie erneut als Hinweis auf den Tod der irdischen Person zu interpretieren366, die schließlich auch einen neuen Namen annimmt und als Mönch wiedergeboren wird367. Gebete, Fürbitten und Psalmen schließen die zweite Phase ab368. Im Gegensatz zum Ende der ersten Phase steht der fertig Initiierte nun aufrecht vor Gott369, mit dem er nunmehr in einen eheähnlichen Bund getreten ist370. Seine Transformation ist abgeschlossen. Die Berichte von zwangsweise durchgeführten Initiationen von Majestätsverbrechern in den ausgewerteten historiographischen Quellen bieten hingegen kaum detaillierte Beschreibungen, wie die Zeremonie der Zwangstonsur abgelaufen ist. Die ausführenden und anwesenden Personen sind im Regelfall nicht bekannt und auch was die Form der Tonsur betrifft, gibt es meist keine klaren Aussagen. Es ist daher schwer abzuschätzen, ob auf die liturgische Korrektheit der Schur Wert gelegt wurde. Dass die Tonsur, wie im Folgenden zu zeigen wird, zumeist nicht übereilt, sondern erst am Verbannungsort durchgeführt wurde, deutet aber zumindest darauf hin, dass man sich um einen passenden rituellen Rahmen bemühte. Die Zwangstonsur von Usurpatoren Mutmaßliche oder potenzielle Hochverräter konnten bisweilen auch in Klöstern inhaftiert werden, ohne die Tonsur empfangen zu haben, wie etwa Konstantinos’ VII. Tochter Theodora, die von ihrer Schwester zwar im Jahre 1028 in ein Kloster in Petrion 362 Vgl. Theodoroudes, Μοναχισμός, S. 38. 363 Konidares, Νομικὴ θεώρηση, S. 110. 364 Euchologion, S. 403 (Goar); Eustathios, Vita monachica 19 (S. 24 Metzler); Initiatio 68* (Wawryk). 365 Euchologion, S. 411 (Goar); Eustathios, Vita monachica 72, 161 (S. 84, 178 Metzler); Initiatio, S. 34*–35*, 90* (Wawryk). 366 Eustathios, Vita monachica 93. Vgl. Philippus Oppenheim, Das Mönchskleid im christlichen Altertum, Freiburg 1931; Idem, Symbolik und religiöse Wertung des Mönchskleides im christlichen Altertum, Münster 1932. 367 Nicht zufällig wird die Initiation in den Mönchsstand auch einer neuen Taufe verglichen. Vgl. Theodoroudes, Μοναχισμός, S. 37. 368 Euchologion, S. 416 (Goar); Eustathios, Vita monachica 75 (S. 88 Metzler); Initiatio, S. 38*, 90*–92* (Wawryk). 369 Euchologion, S. 412 (Goar); Eustathios, Vita monachica 26, 44, 48, 50, 128, 130, 133, 142, 175, 201 (S. 32–34, 54, 58, 60, 142–144, 146, 150, 160, 194–196, 232 Metzler). 370 Euchologion, S. 415 (Goar); Eustathios, Vita monachica 83, 87 (S. 94–96, 98 Metzler); Initiatio, S. 87* (Wawryk).
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eingewiesen wurde, dort aber erst 1031 zur Nonne geschoren wurde. Ebenso wurde mit ihrem mutmaßlichen Komplizen Prusianos verfahren371. Manuel I. sicherte seine Machtübernahme durch die vorübergehende Inhaftierung seines Bruders Isaakios in einem Kloster ab, ohne diesen damit zum Mönch zu machen372. Dennoch wurde in den meisten Fällen darauf abgezielt, den politischen Gegner auch der Tonsur zu unterziehen, denn nur diese entfernte den geschlagenen oder präventiv ertappten Usurpator aus der politischen Welt, ja aus der weltlichen Gesellschaft überhaupt. Als Mönch verlor er seine Titel, sein Vermögen, selbst seinen Namen und seine Persönlichkeit373. Ein symbolischer Tod also, der den Kaiser vor einer Wiederholung des Majestätsverbrechens schützen sollte, gleichzeitig aber auch mit den Anforderungen der christlichen Nächstenliebe zu vereinbaren war und auch den Usurpator meist vor weiterer Strafverfolgung bewahrte. Effizienz und Gültigkeit des Rituals Den Verzicht auf Machtansprüche garantieren konnte der erzwungene Statuswechsel durch Tonsur im Ernstfall nicht. Dies zeigen die Viten von Bardas Phokas und Leon Tornikios, die beide streng genommen als – freilich unfreiwillige – Mönche nach dem Purpur griffen374. Ein formales Procedere zur Aufhebung ist in beiden Fällen nicht überliefert. Vermutlich wurden die erzwungenen Mönchseide als nichtig betrachtet und stellten kein Hindernis für die Proklamation dar. Mit Konstantinos Eladikos stand 913 auch ein ehemaliger Mönch auf der Seite des Usurpators Konstantinos Dukas375. 371 Skylitzes, S. 376 (Thurn). 372 Choniates, Hist., S. 48–49 (van Dieten); Kinnamos 2.1 (S. 31 Meineke); vgl. Ferdinand Chalandon, Les Comnène. Études sur L’Empire Byzantin aux XIe et XIIe siècles, II/1: Jean II Comnène (1118–1143) et Manuel I Comnène (1143–1180), Paris 1912, Nachdr. New York 1960, S. 215–216; Bourdara, Έγκλημα καθοσιώσεως, S. 217; Cheynet, Pouvoir, S. 106 (Nr. 141). Zu den durchaus nicht unrealistischen Ansprüchen des Isaakios vgl. Eduard Kurtz, Unedierte Texte aus der Zeit des Kaisers Johannes Komnenos, in: BZ 16, 1907, S. 69–119, hier S. 112–117; Magdalino, Manuel, S. 194; Idem, Isaac sebastocrator (III), John Axouch and a case of mistaken identity, in: BMGS 11, 1987, S. 207–214. 373 Vgl. Konidares, Νομικὴ θεώρηση, S. 97–107; Guilland, Attrait du monastère, S. 34; Idem, Titres nobiliaires, S. 42–43, 62; Vgl. Psellos, Chron. 6.199 (S. 195, Z. 3–4 Reinsch) über seine eigene Tonsur: „… καὶ τὸ τῆς κεφαλῆς ἀφελόμενος κάλυμμα, τῆς ἐν αἰσθήσει ζωῆς ἀποτέμνομαι.“ Der Titelverlust gilt zumindest für den hier behandelten Zeitraum. In spätbyzantinischer Zeit konnten Aristokraten ihre Titel auch nach dem Klostereintritt beibehalten. Ich danke Alexander Riehle für diesen Hinweis. 374 Bardas Phokas: Leon Diakonos 7.8 (S. 126 Hase); Skylitzes, S. 294 (Thurn); Zonaras 17.2 (S. 526– 527 Pinder/Büttner-Wobst), vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις Ι, S. 89–90 (Nr. 41); Cheynet, Pouvoir, S. 24–25 (Nr. 6); Leon Tornikios: Psellos, Chron. 6.101 (S. 150–151 Reinsch); Attaleiates, S. 18 (Tsolakes); Zonaras 17.23 (S. 626 Pinder/Büttner-Wobst); Skylitzes, S. 438–439 (Thurn). Vgl. Bourdara, Καθοσίωσις Ι, S. 123 (Nr. 73); Cheynet, Pouvoir, S. 59–61 (Nr. 64, 65). 375 Theoph. Cont., S. 384 (Bekker); Skylitzes, S. 198 (Thurn); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1132 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 876 (Bekker); vgl. Vita Euthymii 21 (S. 131–133 Karlin-Hayter); Zonaras 16.16 (S. 460–461 Pinder/Büttner-Wobst). Vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I,
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Zoe Karbonopsina setzte ihre Regentschaft für ihren Sohn Konstantinos VII. fort, nachdem ihre Zwangstonsur als gegenstandslos betrachtet wurde376. Ebenso scheint es nicht die geringsten Bedenken gegeben zu haben, als im Rahmen der hektischen Ereignisse rund um den Sturz von Michael V. zunächst die zur Nonne geschorene Theodora aus ihrem Kloster in Petrion befreit und umgehend in kaiserliche Gewänder gekleidet wurde. Auch ihre Schwester Zoe, die Michael auf Prinkipo zur Nonne hatte scheren lassen (als Beweis ließ er sich angeblich ihr Haar bringen), schaffte es zurück auf den Thron und durfte auch wieder heiraten377. Man kann in diesen Fällen also davon ausgehen, dass die Anhängerschaft der genannten Mönche und Nonnen die Tonsur aufgrund der Zwangssituation bei der Durchführung als ungültig betrachtete. Dem heutigen Betrachter mag dies selbstverständlich erscheinen, doch konnten Rituale im mittelalterlichen Verständnis (und nicht nur dort) mitunter auch dann Gültigkeit haben, wenn ihre Protagonisten zur Mitwirkung gezwungen wurden. Die körperliche Verwandlung im Ritual, in diesem Falle durch Tonsur und Kleiderwechsel, ist nicht nur als symbolisches Beiwerk der Initiation zu sehen, sondern als konstitutives Element. Anders gesagt, der Veränderung der Physis wird im Ritual die Macht bescheinigt, eine Veränderung auch der Psyche des Initianden zu bewirken378. Obwohl bei der Initiation im Idealfall großer Wert auf die Freiwilligkeit des Kandidaten und das Bewusstsein über seine Entscheidung lag, machte auch eine unaufrichtige Profess das Ritual nicht ungültig. Ob nun freier Wille oder Korrektheit des Rituals entscheidend waren, konnte je nach politischen Interessen und Machtverhältnissen variieren, wie auch folgender Vorfall illustriert: Als der Patriarch Basileios Kamateros die Zwangstonsur von Frauen aus der Aristokratie unter Andronikos I. für rechtswidrig erklärt und den Betroffenen die Rückkehr in ihr profanes Leben zugebilligt hat, konnte Kaiser Isaakios II. diesen Schritt als Vorwand für die Amtsenthebung des Patriarchen verwenden (Februar 1186)379. Was in den unfreiwilligen Teilnehmern des mönchischen Initiationsrituals vorging, ist naturgemäß nicht zu ergründen. Einen interessanten Einblick in die Psyche eines Betroffenen bietet aber zumindest der eindringliche Augenzeugenbericht des Niketas Choniates, der in kaiserlichem Auftrag Alexios Komnenos zu desssen Zwangstonsur begleitete:
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S. 58 (Nr. 15); Runciman, Romanus, S. 49–50. Zur Schandparade vgl. Kapitel 3.3.4. Zum Verbot der Beteiligung von Mönchen an der Politik s. Guilland, Titres nobiliaires, S. 62 mit Verweis auf die rechtlichen Grundlagen. Vita Euthymii 21–22 (S. 135–137 Karlin-Hayter). Skylitzes, S. 417–420 (Thurn); Psellos, Chron. 5.32 (S. 97 Reinsch); Zonaras 17.19 (S. 609– 611 Pinder/Büttner-Wobst); vgl. Failler, Monachisme, S. 181–182; Telemachos K. Lounghis, Χρονικόν περί της αναιρέσεως του Αποβασιλέως Κύρου Μιχαήλ του Καλαφάτου, του γεγονότος Καίσαρος, και των κατ’αυτήν συμβάντων, in: Byzantiaka 18, 1998, S. 73–104. Zur Frage des Zwangs in Ritualen vgl. Buc, Coercion. Choniates, Hist., S. 405 (van Dieten). Vgl. Failler, Monachisme, S. 181.
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Nachdem wir von Drama aufgebrochen waren erreichten wir Mosynopolis und wollten auf den Berg Papykios steigen, damit wir die vorgeschriebenen Riten für die Initiation in den Mönchsstand an ihm ausführen konnten. Da litt er ganz menschlich unter Angst und sein Gesicht verfinsterte sich, da er nicht mehr ertragen konnte, was ihn im Inneren bedrückte. Als ich nicht locker ließ und ihn nach dem Grund für den plötzlichen Wandel fragte, sagte er: „Nicht die Kleidung, Freund, fürchte ich – denn was sagt der Wechsel von Farben schon aus?380 – sondern die Eide, die mit der Kleidung verbunden sind, lassen mich erschauern und dass derjenige, der seine Hände an den Pflug legt und panisch zurückblickt, keinesfalls vorbereitet für das Königreich der Himmel zu sein“381 … Unfreiwillig legte er das Mönchsgewand an und hörte die Gebete nicht einmal. Bis auf die Kopfhaut wurde er, der langes Haar trug, geschoren und in „Athanasios“ umbenannt382.
Die Episode zeigt, dass der bloße Kleiderwechsel keineswegs als tiefe Veränderung empfunden werden musste. Allerdings kommt mit dem Gelöbnis vor Gott ein Aspekt zum Tragen, der bei der Einschätzung der Gültigkeit des Rituals und somit auch seiner Wirksamkeit bedacht werden sollte. Für einen gläubigen Menschen mag ein etwaiger Bruch dieses Treueschwurs – ob erzwungen oder nicht – durchaus eine große Hürde bedeutet haben. Die Umstände der Durchführung der Tonsur sind nur selten beschrieben. Im eben zitierten Bericht des Choniates ist nur von den „üblichen Riten“ die Rede. Einer der wenigen Texte, die sich mit dem performativen Akt der Tonsur und implizit mit der damit verbundenen Frage ihrer Gültigkeit befasst, ist die Beschreibung der Kapitulation des in Abwesenheit abgesetzten Kaisers Romanos IV. Diogenes (1068–1071) aus der Feder von Michael Psellos:
380 Vgl. Eustathios, Vita monachica 104 (S. 116 Metzler): „Wie der Sonnenbrand, der das Gesicht schwarz färbt, doch nicht imstande ist, solche Menschen ganz zu Schwarzen zu machen, sondern nur zu Pseudoschwarzen, so macht auch nicht die bloße schwarze Kleidung wahre Mönche, sondern scheinbare und somit Pseudomönche, die die mönchische Anspruchslosigkeit nur schauspielern, um auch aus ihr einen Lebenserwerb zu gewinnen;“ (Übersetzung nach ebd., S. 117). 381 Vgl. Lk 9:62: εἶπεν δὲ [πρὸς αὐτὸν] ὁ Ἰησοῦς, Οὐδεὶς ἐπιβαλὼν τὴν χεῖρα ἐπ᾽ ἄροτρον καὶ βλέπων εἰς τὰ ὀπίσω εὔθετός ἐστιν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ. 382 Choniates, Hist., S. 426, Z. 12–427, Z. 25 (van Dieten): Ἐπεὶ δὲ τῆς Δράμας ἀπάραντες εἰς Μοσυνόπολιν ἀφικόμεθα καὶ τῷ Παπυκίῳ προσβαίνειν ἐμέλλομεν, ὡς ἂν τὰ τῶν μοναχῶν προσταχθὲν οὕτω τελέσωμεν ἐπ’ αὐτῷ, τότε πεπονθώς τι ἀνθρώπινον ἐπὶ συν νοίας ἦν καὶ ὑπεγνοφοῦτο τὸ πρόσωπον διοίσειν οὐκ ἔχων τὰ ἔνδοθεν θλίβοντα. ἐγκειμένου δέ μου καὶ τὴν αἰτίαν πυνθανομένου τῆς ἐξάπινα μεταβολῆς, „οὐ τὸ σχῆμά“ φησιν, „ὦ λῷστε, δέδια (τί γὰρ τὸ διαθροοῦν ἔχει τῶν χρωμάτων ἡ ἄμειψις;), ἀλλὰ τὰ ἐπὶ τῷ σχήματι πεφρικώς εἰμι ἐπαγγέλματα καὶ τὸ μὴ εὔθετον εἰς τὴν τῶν οὐρανῶν εἶναι ὁπωσοῦν βασιλείαν τὸν βαλόντα χεῖρα ἐπ’ ἄροτρον καὶ μεταστραφέντα φρενοβλαβῶς“ … Oὐχ ἑκοντὶ τὸ κατὰ Χριστὸν ὑπέδυ τριβώνιον μηδ’ ἄκροις ὠσὶ τὰ ἐπᾳδόμενα ἐνηχούμενος, μόνον δ’ ἐν χρῷ κουρίας ὁ ἀκερσεκόμης γενόμενος καὶ μετονομασθεὶς Ἀθανάσιος.
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Sie führten die Unseren zum Haus, in dem Diogenes logierte. Dieser stand da, ein merkwürdiger und bemitleidenswerter Anblick, seine Hoffnungen aufgegeben, mit gebundenen Händen wie ein Sklave und ließ seine Häscher tun was sie beliebten. Sie befahlen ihm, umgehend das Mönchsgewand anzulegen. Er legte die schwarze Kutte an, nahm die Kopfbedeckung ab und überließ die Schur seines Haares einem beliebigen Mann. Nachdem dann diejenigen, die gerade da waren, seinen Übertritt zum geistlichen Leben improvisiert hatten, führten sie ihn mit ungeheurer Freude zu Andronikos383.
Die meisten Fälle von Zwangstonsuren im Untersuchungszeitraum zeigen, dass diese zumeist erst im Kloster bzw. am Verbannungsort durchgeführt wurde, wo das rituelle Umfeld und nötige Personal für den Akt verfügbar war. Es scheint, als habe man generell auf eine möglichst reguläre Initiation abgezielt, bisweilen auch das Einverständnis des Gefangenen abgewartet, der dadurch beispielsweise den Kerker gegen das Kloster tauschen konnte. Die provisorische Tonsur des Romanos Diogenes wies aus dieser Sicht durchaus Defizite auf, besaß andererseits aber zweifelsohne Gültigkeit. Zumindest der siegreiche Feldherr Andronikos Dukas akzeptierte Romanos’ Auftreten als Mönch und nahm ihn als Gast auf. Hinter der impliziten Kritik des Psellos an der Initiation stecken wohl andere Gründe. Wenn wir annehmen, dass dieser als enger Berater Kaiser Michaels VII. maßgeblich an der Blendung des nunmehr zum Mönch geschorenen Romanos beteiligt war384, ist die zitierte Stelle möglicherweise in Zusammenhang mit den apologetischen Zeilen im Anschluss an den Bericht der Blendung zu sehen, wo Psellos zwar die Abscheulichkeit der Tat zugibt, aber die politische Notwendigkeit erklärt385. Eine doppelte Bestrafung von Majestätsverbrechern war an sich unüblich. Mit der Tonsur und der häufig damit verbundenen Inhaftierung in ein Kloster galt der Konflikt in der Regel als gelöst. Die von Psellos postulierte Notwendigkeit der Blendung machte für seine Leser nur dann Sinn, wenn die Verwandlung des Usurpators zum Mönch in Frage gestellt wurde 383 Psellos, Chron. 7.162 (= 7b 41; S. 282, Z. 7–283, Z. 14 Reinsch): καὶ ἐπ’ αὐτὸν τὸν οἶκισκον, οὗ ὁ Διογένης ἐσκήνου ἀπάγουσιν. ὁ δὲ εἱστήκει δεινὸν καὶ ἐλεεινὸν θέαμα, τὰς ἐλπίδας ἀπεγνωκὼς· καὶ τὰς χεῖρας δεσμήσας ὥσπερ ἀνδράποδον· καὶ ἐπὶ τοῖς κατασχοῦσιν, δρᾶν ὅ τι καὶ βούλοιντο θέμενος. οἱ δὲ τὸ μοναδικὸν τέως ἐπενδύσασθαι σχῆμα παρεκελεύοντο. ὁ δὲ μελανειμονήσας εὐθὺς· καὶ τὸ κάλυμμα τῆς κεφαλῆς ἀφελόμενος, ἐδίδου τῷ βουλομένῳ τὰς τρίχας τεμεῖν. σχεδιάσαντες δὲ οἱ παρατυχόντες αὐτῷ τὴν τοῦ βίου μετάθεσιν, ἐξάγουσι τοῦ φρουρίου καὶ πρὸς τὸν Ἀνδρόνικον μεθ’ ὅσης ἂν εἲποι τίς τῆς περιχαρίας ἀπάγουσιν. Übersetzung teilweise nach Reinsch, Chronographia, S. 769. 384 Ob Psellos selbst in die Entscheidungsfindung involviert war, ist aus den Quellen nicht eindeutig herauszulesen. Er selbst (Chron. 7.163–164 [= 7b 42–43; S. 283–284 Reinsch]) distanziert sich davon. Attaleiates (136 Tsolakes) beschuldigt Kaiser Michael VII. samt seiner Beraterschaft, was Psellos miteinschließen würde. Bei der offiziellen Amtsenthebung des Romanos in Abwesenheit war Psellos nach eigenen Angaben (Chron. 7.148 [= 7b 27; S. 274 Reinsch]) in jedem Fall maßgeblich beteiligt gewesen. Vgl. Efthymia Braounou-Pietsch, Der Brief des Michael Psellos an den geblendeten Romanos Diogenes. Ein Fall von Zynismus und Sarkasmus?, in: Graeco-Latina Brunensia 15/2, 2010, S. 25–41, hier S. 30–32. 385 Psellos, Chron. 7.163 (= 7b 42; S. 283 Reinsch).
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und dieser somit als potentieller politischer Faktor im Spiel blieb. Zudem hätte eine unrechtmäßige Initiation geholfen, die moralische Verwerflichkeit der Bestrafung zu reduzieren, zumal gegen Mönche verhängte Körper- und Leibesstrafen in den Augen der Byzantiner stets eine besondere Gräueltat darstellten386. Der Verdacht einer intentionalen Berichterstattung seitens Michael Psellos’ erhärtet sich, wenn man seinen Bericht mit dem des Michael Attaleiates vergleicht, der mit Romanos’ IV. sympathisierte. Dieser nämlich behauptet, der gestürzte Kaiser habe angesichts der ausweglosen Situation im Rahmen der Kapitulationsverhandlungen freiwillig auf die Kaiserwürde verzichtet und eingewilligt, sich zum Mönch scheren zu lassen, bevor er sich ergab387. Alles weitere sei ihm daher bereits als Mönch und nicht als Staatsfeind angetan worden388. Die Akzeptanz der Gültigkeit des Rituals hing in letzter Instanz vom Blickwinkel des Betrachters ab. Ob die Tonsur in den Augen der Byzantiner einen Menschen selbst dann verändern konnte, wenn dieser sich nicht aus freien Stücken für den Mönchsstand entschieden hatte, muss aus Mangel an überlieferten Selbstreflexionen offen bleiben. Es wäre jedoch naiv zu vermuten, dass allein die ritualisierte Beseitigung aus der säkularen Welt die politischen Ambitionen der Betroffenen ersticken konnte. Die Schur zum Mönch und die Einweisung in ein Kloster machten den geschlagenen Gegner aber in jedem Fall leichter kontrollierbar. Nicht ohne Grund befanden sich die hierfür herangezogenen Klöster zumeist in Konstantinopel oder seiner näheren Umgebung, beispielsweise auf den Prinzeninseln Prinkipo, Antigone oder Prote und den Inseln der nördlichen und östlichen Ägäis (Samothrake, Lesbos, Chios). Selbst die am weitesten entfernten Verbannungsorte im Untersuchungszeitraum – Bithynien und der Berg Papykios befanden sich noch in durchaus leicht erreichbarer Distanz von der Hauptstadt. Fallweise wurden zusätzlich Klöster gewählt, die als Familienbesitz dem direkten Zugriff des Herrschers unterstanden (Elegmoi, Pantokrator) und so ein 386 Es sei hier exemplarisch auf die anti-ikonoklastische Propaganda verwiesen, die besonders kaiserliche Maßnahmen gegen Mönche anprangerte. 387 Attaleiates, S. 134, Z. 30–135, Z. 6 (Tsolakes): περικαθίσαντες γὰρ αὺτην [scil. die Stadt Adana, wo sich Romanos aufhielt] οἱ μετὰ τοῦ Ἀνδρονίκου Ῥωμαῖοι σπάνει τῶν ἀναγκαίων τοὺς ἒνδον οὐκ εἰς μικρὰν τὴν ἀγωνίαν ἐνέβαλον. Τέως δ’ οὖν περὶ σπονδῶν διαλεχθέντων ἀλλήλοις συνέδοξεν ἀποθέσθαι μὲν τὴν βασιλείαν τὸν Διογένην, συναποθέσθαι δὲ καὶ τὴν τρίχα καὶ οὓτω τὸν βίον ἓλκειν ἂχρι βιοτῆς ἁπάσης τοῖς μοναχοῖς συγκαταλεγόμενον. 388 Attaleiates, S. 136, Z. 16–24 (Tsolakes) spricht überhaupt vom W u n s c h des Diogenes, Mönch zu werden: Τὸν πατρὸς ἐπὶ σοὶ πρᾶξιν εἰληφότα καὶ νόμῳ καὶ πράγματι, τὸν ἀποβεβληκότα τὴν βασιλείαν καὶ σοὶ ταύτην προέμενον, τὸν ἐκ πορφυρίδος ῥακοδυτήσαντα, τὸν εἰς βίον μονήρη μεταλλαξάμενον καὶ τοῖς γηίνοις πᾶσιν ἀποταξάμενον, τὸν ἀσθενῆ καὶ παρειμένον καὶ ἀκεσωδύνου μᾶλλον θεραπείας καὶ ψυχαγωγίας ἐπιδεόμενον, τὸν ἀπειρηκότα τοῖς ὅλοις, ἀσθενοῦντα καὶ κακουχούμενον, τὸν ὡς κάλαμον συντετριμμένον καὶ ὄμβροις δακρύων ἐκτετηκότα τοὺς ὀφθαλμοὺς καὶ τὸ πρόσωπον. Vgl. Bryennios 1.25 (S. 137–139 Gautier), vgl. Zonaras 18.15 (S. 705–706 Pinder/Büttner-Wobst); vgl. Bourdara, Καθοσίωσις ΙI, S. 39–40 (Nr. 11); Cheynet, Pouvoir, S. 76–77 (Nr. 95).
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noch höheres Maß an Überwachung ermöglichten. Von Leon Tornikios wird hingegen berichtet, dass er sich nach seiner Zwangstonsur frei in Konstantinopel bewegen durfte389. Dass sich dieses Konzept als wenig effizient erwies muss nicht eigens betont werden. Noch im selben Jahr floh Leon nach Adrianopel, sammelte die ihm ergebenen makedonischen Truppen und ließ sich von ihnen zum Kaiser proklamieren. 3.3 Stigmatisierende Transformationen Wie gezeigt wurde, schöpften die mittelbyzantinischen Kaiser das Strafmaß bei Majestätsverbrechen zumeist nicht aus. Selbst in eindeutigen Fällen gewaltsamer Usurpationsversuche und Verschwörungen wie bei Romanos Kurkuas (886), Leon Phokas (971), Leon Tornikios (1047), Nikephoros Bryennios (1057) oder Nikephoros Diogenes (1094) wurde keine Todesstrafe ausgesprochen, sondern das Strafmaß zu einer Blendung abgeschwächt390. Selbst diese schwerste Form der Leibesstrafe konnte so als Gnadenerweis des Siegers verklärt werden391. Der Verzicht auf die Todesstrafe eröffnete dem Kaiser zudem ein umfangreiches Repertoire alternativer Bestrafungen, die – abgesehen von Enteignung und Verbannung – zumeist mit einer symbolischen Transformation des Verurteilten einhergingen. Die Verwandlung konnte ephemerer (Schur, Entblößung) oder permanenter (Tonsur, Verstümmelung) Natur sein. Besonders Verstümmelungsstrafen waren dafür geeignet, einen Kontrahenten auf Dauer aus dem Spiel um die Macht zu entfernen: Der p o l i t i s c h e Körper eines Monarchen ist per definitionem losgelöst von physischen Verfallserscheinungen wie Krankheit, Alter und Formen geistiger wie körperlicher Behinderung392. Widerspricht der n a t ü r l i c h e Körper des Amtsinhabers diesem Ideal zu sehr, kann die Diskrepanz als Disqualifikationsgrund angesehen werden. Umso größer war die Bedeutung von Unversehrtheit für den (politischen und natürlichen) Körper des byzantinischen Kaisers, der seinem Reich nicht nur von Gottes Gnaden vorstand, sondern der geradezu als Spiegelbild Gottes auf Erden verstanden wurde. 389 Psellos, Chron. 6.101 (S. 150, Z. 9–151, Z. 12 Reinsch): οὐδ’οὓτως μὲν ἐπεχείρησεν ἀνελεῖν· ὑφελεῖν δὲ αὐτῷ τοὺς θεμελίους τῆς τυραννίδος σκεψάμενος, στέλλει κατὰ τάχος τοὺς ἀποκεροῦντας· καὶ τὸ μέλαν τριβώνιον ἐπενδύσοντας. Vgl. Attaleiates, S. 18, Z. 18–20 (Tsolakes): παραλύεται τῆς ἀρχῆς καὶ μοναδικῷ παραδίδοται σχήματι καὶ τῇ μεγαλοπόλει ἄνετος καὶ χωρίς τινος παραφυλακῆς ἀπολύεται; Zonaras 17.23 (S. 626 Pinder/Büttner-Wobst); Skylitzes, S. 438–439 (Thurn) überliefert, dass sich Leon als Mönch nicht in Konstantinopel, sondern in Adrianopel aufhalten sollte. Dies ist insofern unwahrscheinlich als sich dort die Machtbasis der Tornikioi befand. Vgl. Bourdara, Καθοσίωσις Ι, S. 123 (Nr. 73); Cheynet, Pouvoir, S. 59–61 (Nr. 64, 65). 390 Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 41–43, 90–91, 120–124 (Nr. 6, 42, 73), II 12 (Nr. 2); Cheynet, Pouvoir, S. 25, 59–60, 68–70, 98–99 (Nr. 7, 65, 80, 128). 391 So Theoph. Cont., S. 263 und 277 (Bekker). S. oben, S. 215 mit Anm. 199. 392 Grundlegend: Ernst Kantorowicz, The king’s two bodies. Studies in mediaeval political theology, Princeton, New Jersey 1958, Nachdr. Princeton, New Jersey 1997.
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3.3.1 Verstümmelungsstrafen und Schur Eine der wesentlichsten Veränderungen des römischen Rechts in byzantinischer Zeit bedeutete die Übernahme von entstellenden Leibesstrafen aus dem Gewohnheits- und Militärrecht393. In kodifizierter Form wird diese Entwicklung zuerst in den Novellen Justinians I.394, dann aber vor allem in der Eklogē Kaiser Leons III. (726) greifbar. In dieser Sammlung ausgewählter Gesetze, die sich in erster Linie mit Eigentumsrecht und Sittlichkeitsdelikten beschäftigt, ersetzt ein breit gefächertes Spektrum an Amputationen und Verstümmelungen die für viele Verbrechen bis dahin übliche Todesstrafe395. Dieselbe Tendenz lässt sich auch für die weitere Entwicklung des byzantinischen Rechts festhalten und so nimmt es nicht Wunder, dass im hier untersuchten Zeitraum selbst Majestätsverbrechen eher mit Verstümmelung als mit dem Tod des Usurpators bestraft wurden. Symbolkraft und Stigmatisierung Wenngleich die Amputation von Nase, Ohren, Händen oder Füßen ohne Zweifel mit großen Schmerzen verbunden war, lag darin nicht ihr Hauptzweck. Vielmehr ging es darum, den Verbrecher für seine Verfehlungen zu stigmatisieren und eine Wiederholung zu erschweren. Dabei folgten die Strafen in Byzanz ebenso wie in vielen anderen vormodernen Gesellschaften zumeist der Logik, dass der für das Verbrechen verantwortliche Teil des Körpers entfernt oder beschädigt wurde396. Zu solchen Spiegelstrafen zählte etwa das Abhauen einer Hand bei Diebstahl397 oder das Abschneiden der
393 Bernhard Sinogowitz, Studien zum Strafrecht der Ekloge (Pragmateiai tes Akademias Athenon 21), Athen 1956, S. 20, 37–38. 394 Nov. 13.6, 42.1 (Verfasser ketzerischer Schriften verlieren Hand), 134.13 (Diebe verlieren Hand), 154.1. Vgl. Arrigo D. Manfredini, Giustiniano e la mutilazione delle mani e dei piedi, in: Studia et Documenta Historiae et Iuris 61, 1995, S. 463–469. 395 Zum Thema Hochverrat oder Majestätsbeleidigung äußert sich die Eklogē nicht, „weil die Verfolgung des Delikts dem Kaiser selbst überlassen bleibt. Doch hat auch hier der Täter grundsätzlich sein Leben verwirkt.“ (Zitat: Sinogowitz, Ekloge, S. 17). Vgl. Gregory, Philanthropia, S. 273– 274; Evelyne Patlagean, Byzance et le blason pénal du corps, in: Du châtiment dans la cité. Supplices corporels et peine de mort dans le monde antique. Table ronde organisée par l’École Française de Rome avec le Concours du Centre national de la recherche scientifique, Rome 9–11 novembre 1982 (Collection de l’École française de Rome 79), Rom 1984, S. 405–426, hier S. 405– 407, 413. Mit dem Tode werden Inzest (17.33), Homosexualität (17.38), Brandstiftung (17.41), Zauberei (17.43) und Ketzerei (17.52) sowie verschiedene Formen des Mordes (17.42, 45, 46, 49, 50) bestraft. Vgl. Kapitel 3.3.1, 3.3.2. 396 Sinogowitz, Ekloge, S. 21; Patlagean, Blason pénal, S. 416. 397 Vgl. Eklogē 17.10, 11, 13, 14, 16; Nom. Georg. § 44. Neben Diebstahl wurden auch andere Verbrechen mit dem Abschlagen der Hand bestraft, da diese als ausführendes Organ galt. Vgl. Eklogē 17.46, 47 (Mord), 17.18 (Münzfälschung); Nomos Geōrgikos § 59 (Zerstörung eines Weinstocks), § 65 (Brandstiftung), § 66 (illegale Gebietserweiterung), § 80 (Fällen eines Baumes, der noch Gegenstand einer laufenden Gerichtsverhandlung ist). Vgl. Sinogowitz, Ekloge, S. 18.
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Zunge bei Meineid oder Blasphemie398. Sexualdelikte wurden hingegen nur selten mit Kastration bestraft399, sondern zumeist ersatzweise durch Abschneiden von Nase, Ohren oder Haupthaar, also Teilen des Körpers, die in einen metaphorischen Bezug zur Sexualität oder zur geschlechtlichen Identität des Täters gesetzt werden konnten400. Welcher Logik aber folgten nun die Verstümmelungen bei Thronprätendenten und Usurpatoren? Das Abschlagen einer Hand – häufig der Rechten – dürfte in Analogie zur Bestrafung von Dieben und Mördern stehen: Der Putschist greift nach der Macht bzw. erhebt das Schwert gegen den rechtmäßigen Kaiser und geht daher seiner Hand verlustig. Die Amputation von Nase oder Ohren, die ansonsten vor allem bei Sexualdelikten verhängt wurde, impliziert hingegen eine gedankliche Verbindung zwischen symbolischer Kastration und politischer Entmachtung. Dieser latente Bezug zwischen sexueller Potenz und Königsmacht darf als eine der ursprünglichsten Prinzipien indogermanischer Gesellschaften (und nicht nur dieser) gelten, tritt aber meist nur in Gestalt ritualisierter Handlungsformen zutage401. Reale Kastrationen hingegen wurden im Untersuchungszeitraum nicht zur Bestrafung von Majestätsverbrechern herangezogen, sondern allenfalls als präventive Maßnahme gegen potentielle Konkurrenten. Michael V. beispielsweise hatte nach der Verbannung des mächtigen orphanotrophos Ioannes etliche seiner männlichen Verwandten kastrieren lassen, um Machtansprüche im Keim zu ersticken402.
398 Vgl. Eklogē 17.2 (Ablegen falschen Zeugnisses); Nomos Georgikos § 28 (Meineid). Vgl. Sinogowitz, Ekloge, S. 19. 399 Vgl. Prokop, Anekdota 11.34–37 (S. 76 Haury/Wirth); vgl. Malalas 18.18 (S. 364–365 Thurn); Theophanes, AM 6021 (S. 177 de Boor). In der Eklogē kommt die Kastration nur als Strafe für „Sodomiten“ vor (§ 39). Vgl. Sinogowitz, Ekloge, S. 19. 400 Patlagean, Blason pénal, S. 407, 423 unterscheidet daher korrekt zwischen mutilations littérales und mutilations métaphoriques. Sinogowitz, Ekloge, S. 19, erkennt zwar die Verbindung zwischen Sexualdelikten und dem Abschneiden der Nase (Rhinokopie), sieht aber keinen metaphorischen Bezug, sondern vermutet einen pragmatischen Hintergrund („Unklar bleibt dabei aber noch vor allem ihre Beziehung zum Sexualdelikt. Vielleicht sollte die körperliche Entstellung dazu dienen, die Verführung von Frauen zu erschweren.“). Ähnlicher Ansicht ist Gregory, Philanthropia, S. 273–274, 277. Davon ausgehend vermutet Sinogowitz, dass die Amputation der Nase ihren Ursprung in der Bestrafung des Ehebruchs hatte und von dort auf andere Sittlichkeitsdelikte ausgeweitet wurde. Eine solche Rekonstruktion der Rechtsentwicklung ist überflüssig, wenn man einen metaphorischen Bezug zwischen Nase und Phallus annimmt. Die Eklogē sieht die Amputation der Nase bei einer Reihe von Sittlichkeitsdelikten vor (17.23, 24, 25, 27, 28, 30, 31, 33, 34). 401 Dean A. Miller, Royauté et ambiguïté sexuelle, in: Annales E. S. C. 26, N.3–4, 1971, S. 639–652. 402 Psellos, Chron. 5.42 (S. 102, Z. 4–9 Reinsch): καὶ τὸ συγγενὲς ἅπαν … τῶν παιδογόνων μορίων ἀποτεμὼν, ἡμιθανεῖς ἀφῆκε τῷ βίῳ. τὸν γὰρ προὖπτον ἐπ’ αὐτοὺς αἰδούμενος θάνατον, ἐπιεικεστέρᾳ τομῇ ἐβούλετο ἀνελεῖν. Vgl. Kathryn M. Ringrose, The perfect servant. Eunuchs and the social construction of gender in Byzantium, Chicago 2003, S. 62, 192–193. Abgesehen hiervon wurden Kastrationen in mittelbyzantinischer Zeit nur selten zur Disqualifikation von Gegnern angewandt. Leon V. ließ im Jahre 813 Ignatios, den Sohn des gestürzten Michael I., kastrieren (Genesios 1.5 [S. 6 Lesmüller-Werner/Thurn]); nach dem missglückten Putschversuch des Konstantinos Dukas (913) wurde dessen Sohn Stephanos entmannt: Theoph. Cont., S. 385 (Bekker); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1133 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 876 (Bekker); Skylitzes, S. 199
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Konkrete Fälle Sieht man von der Blendung ab, die an anderer Stelle ausführlicher zu behandeln ist403, konnten Hände, Zunge, Nasen und Ohren amputiert werden. Nachdem die Verstümmelung politischer Kontrahenten im 8. und 9. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hatte, ist die Anwendung von stigmatisierenden Leibesstrafen im Untersuchungszeitraum selbst bei einer breiten Definition von Majestätsbeleidigung sehr selten belegt. Die beiden patrikioi Symbatios und Georgios Peganes wurden im Jahre 867 von Basileios I. (867–886) für ihre Intrigen mit Amputationen bestraft: Symbatios wurde eine Hand abgeschlagen und Peganes die Nase abgeschnitten. Zusätzlich wurden beide geblendet und verbannt404. Ebenfalls eine Hand, dafür aber nur ein Auge, verlor etwa dreizehn Jahre später auch Leon Apostypes, der zwar nicht die Kaiserwürde anstrebte, aber durch seinen Ungehorsam am Schlachtfeld den Tod eines anderen Generals zu verantworten hatte405. Im Jahre 931 führte ein gewisser aus Makedonien stammender Basileios eine Rebellion im Thema Opsikion an. Er wurde gefasst und nach Konstantinopel gebracht, wo ihm eine Hand abgeschlagen wurde. Dies hinderte Basileios jedoch nicht daran, ins Opsikion zurückzukehren und seinen Aufstand wieder aufzunehmen. Anstelle seiner Hand trug er nun eine bronzene Prothese mit einem (daran fixierbaren?) übergroßen Schwert. Nach seiner zweiten Verhaftung wurde er schließlich am Forum Amastrianon verbrannt406. Eine verschärfte Form der Amputation erlitt ein gewisser Stylianos als Strafe für einen Mordversuch an Kaiser Leon VI. Ihm wurden beide Hände und Füße abgetrennt, bevor er in der Sphendone des Hippodroms den Flammen übergeben wurde (903)407. Zuletzt sei noch der
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(Thurn); Zonaras 16.16 (S. 461 Pinder/Büttner-Wobst). Vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 55–59 (Nr. 15). Zur Kastration in Byzanz allgemein s. Shaun Tougher, The eunuch in Byzantine history and society, London/New York 2008, bes. S. 26–35; Ringrose, Eunuchs, S. 33–86. S. Kapitel 3.3.2. Theoph. Cont., S. 241 (Bekker = S. 76 Ševčenko); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1064–1065 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 834 (Bekker); Skylitzes, S. 131 (Thurn) präzisiert, dass Symbatios seine rechte Hand verlor; Zonaras 16.8 (S. 419, Z. 3 Pinder/Büttner-Wobst) spricht nur von nicht näher definierten Körperstrafen (ταῖς εἰς σῶμα ποναίς ἐκολάσθησαν); vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 35–36 (Nr. 2), die jedoch angibt, dass Symbatios nur an einem Auge geblendet worden sei und die Rhinokopie des Peganes unterschlägt. Sowohl Theoph. Cont., S. 263 (Bekker = S. 128–130 Ševčenko) als auch Skylitzes 134 (Thurn) berichten für das erste Regierungsjahr Basileios’ I. von einer weiteren Verschwörung unter der Führung zweier patrikioi namens Symbatios und Georgios, die in der Folge geblendet wurden. Dabei muss es sich in Wahrheit um den bereits erwähnten Vorfall aus dem Jahre 866 handeln. Vgl. Flusin, Jean Skylitzès, S. 115, Anm. 55. Theoph. Cont., S. 307–308 (Bekker = S. 232–234 Ševčenko); Skylitzes, S. 156–157 (Thurn); vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 37–38 (Nr. 4). Theoph. Cont., S. 421, Z. 12–14 (Bekker): καὶ χεῖρα χαλκῆν ἀντὶ τῆς κοπείσης προσαρμοσάμενος καὶ σπάθην ὑπερμεγέσθη κατασκευάσας διήρχετο; Skylitzes, S. 228 (Thurn); vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 74 (Nr. 31). Vita Euthymii 11 (S. 67 Karlin-Hayter); Theoph. Cont., S. 365 (Bekker); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1108 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 861 (Bekker); Glykas, S. 554 (Bekker); Skylitzes, S. 181 (Thurn); vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 49–51 (Nr. 13).
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gestürzte Kaiser Andronikos I. (1183–1185) in diese Gruppe aufgenommen, der als Usurpator hingerichtet wurde. Zuvor noch hatte man ihn geschlagen, geschoren, den Bart ausgerissen, die Zähne ausgeschlagen, ihn an einem Auge geblendet und ihm eine Hand abgeschlagen408. Noch seltener wurden Verschwörer zum Verlust der Zunge verurteilt. Im Untersuchungszeitraum erlitten diese Bestrafung lediglich Konstantinos Barys409 und der epi tou kanikleiou Manuels I., Theodoros Stypeiotes (1159)410, der zusätzlich auch geblendet wurde. In beiden Fällen war die Verschwörung aufgedeckt worden, bevor sie umgesetzt werden konnte. Es hat ganz den Anschein, als seien die Täter konkret für die Planungsphase bestraft worden und nicht für die Ausführung – noch hatten ja erst ihre Zungen gegen den Kaiser gehandelt, nicht aber ihre Hände. Die Amputation von Nase und Ohren ist für die Bestrafung von Leon Kladon und seinen Mitverschwörer (947) belegt, die danach auch noch einer Spottparade unterzogen wurden411. Die geringe Anzahl an Beispielen zeigt, dass entstellende Körperstrafen – abgesehen von der Blendung – nur selten als adäquate bzw. effiziente Bestrafung für Usurpatoren betrachtet wurden. Sie wurden daher eher als Zusatzstrafen zur Blendung oder Verbannung bzw. vor einer Hinrichtung ausgesprochen. Überdies finden sich unter den Opfern zwar Attentäter, Verschwörer und lokale Rebellen, aber kein einziger Usurpator, der sich zum Kaiser hatte proklamieren lassen. Diese wurden eher zur Blendung verurteilt412. Die performative Wirkung im Rahmen einer öffentlichen Vollstreckung scheint keine Rolle gespielt zu haben. Für die Exekution der erwähnten Amputationsstrafen des 10. bis 12. Jahrhunderts ist keine Teilnahme eines breiteren Publikums belegt. Wie zu zeigen sein wird, lässt sich ein vergleichbares Fehlen von Publikum auch bei den viel zahlreicheren Fällen von Blendungen feststellen. Selbst die Teilblendung, Schur und
408 Choniates, Hist., S. 350 (van Dieten). 409 Vita des Hl. Lazaros Galesiotes (AASS, Nov. 3), 540. Der Vorfall ereignete sich während der Regierungszeit von Konstantinos IX. Eine genaue Datierung ist nicht möglich. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 64–65 (Nr. 74); Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 126–127 (Nr. 77) 410 Kinnamos 4.19–20 (S. 184–185 Meineke). Choniates, Hist., S. 112–113 überliefert nur die Blendung, während die unabhängige westliche Quelle Rahewin auch vom Herausreißen der Zunge weiß (Bischof Otto von Freising und Rahewin. Die Taten Friedrichs oder richtiger: Cronia. Übersetzt von Alfons Schmidt, hrsg. von Franz-Josef Schmale [Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 17] 21974, S. 507–508). Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 108 (Nr. 145, mit Datierung 1165/66); Otto Kresten, Zum Sturz des Theodoros Styppeiotes, in: JÖB 27, 1978, S. 49–103, bes. S. 56–61 (auch zu Fragen der Datierung, die hier nicht von primärer Bedeutung sind). 411 Theoph. Cont., S. 440–441 (Bekker); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1192 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 923 (Bekker); Skylitzes, S. 239 (Thurn). Vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 79 (Nr. 35). 412 S. Kapitel 3.3.2.
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Handamputation des gestürzten Kaisers Andronikos I. waren noch vor der öffentlichen Parade und nicht erst im Hippodrom vollzogen worden413. Schur Die Schur von Haar oder Bart kann als leichteste der Leibesstrafen gelten, zumal zwar Veränderungen am Körper des Delinquenten durchgeführt werden, die Stigmatisierung aber im Gegensatz zu Amputationen nur temporär ist. Die Haartracht männlicher Aristokraten folgte im Untersuchungszeitraum keiner einheitlichen Mode414. Das Haupthaar wurde in verschiedenen Längen und Schnitten getragen, doch die freiwillige Glatze gehörte nicht zum Repertoire. Das Tragen eines Bartes war für den byzantinischen Mann ab dem 7. Jahrhundert als Ausdruck seiner Männlichkeit ein Muss415. Nicht selten gilt der (lange) Bart in westlichen Quellen als typisches Charakteristikum des Byzantiners416. Der Verlust von Haupthaar oder Bart wird in Traumbüchern stets als böses Omen gedeutet417. 413 Choniates, Hist., S. 349 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 119 (Nr. 163). Schon Patlagean, Blason pénal, S. 416, verweist darauf, dass Leibesstrafen öffentlich vollstreckt werden konnten, aber nicht mussten. Einen Versuch zur Erklärung dieses Phänomens unternimmt sie nicht. 414 ODB II 899, s. v. Hair; Grünbart, Aristokratie, S. 62–63 geht nur peripher auf die Haartracht der Aristokratie ein und verweist auf Bildquellen. Eine nützliche Sammlung an Textstellen bietet Koukoules, Βυζαντινῶν βίος IV, S. 342–372. Abgesehen davon gibt es für Byzanz kaum Untersuchungen zur Symbolik von Haar- und Bartmoden, wie sie etwa die westliche Mediävistik bereits in Angriff genommen hat, etwa Giles Constable, Beards in the Middle Ages, in: Apologiae duae: Gozechini Epistola ad Walcherium: Burchardi Ut videtur, abbatis Bellevallis Apologia de barbis, ed. Robert B. C. Huygens, Turnhout 1985, S. 47–130; Robert Bartlett, Symbolic meanings of hair in the Middle Ages, in: Transactions of the Royal Historical Society 4, 1994, S. 43–60. 415 ODB I, S. 274, s. v. Beard; Shaun Tougher, Bearding Byzantium: Masculinity, eunuchs and the Byzantine life course, in: Bronwen Neil/Lynda Garland (Hgg.), Questions of gender in Byzantine society, Farnham/Burlington 2013, S. 153–166; Bente. K. Bjørnholt / Liz James, The man in the street: Some problems of gender and identity in Byzantine material culture, in: Michael Grünbart / Ewald Kislinger / Anna Muthesius / Dionysios Ch. Stathakopoulos (Hgg.), Material culture and well-being in Byzantium (400–1453). Proceedings of the International Conference (Cambridge, 8–10 September 2001) (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse 365), Wien 2001, S. 51–56. 416 Tougher, Bearding Byzantium, S. 155 mit Beispielen. 417 Achmet, Traumbuch, S. 31 (Achmetis Oneirocriticon, ed. Franz Drexl, Leipzig 1925, S. 21): „Träumt ein Unfreier, er schere sich den Kopf kahl, wird er seinen Herrn verlieren und in große Bedrängnis geraten; ein freier Mann wird ehrlos der öffentlichen Verachtung preisgegeben werden und in Armut sterben.“ Ebd. 34 (S. 22–23 Drexl): „Träumt einer, man schere ihm den Bart, um ihm einen Schimpf zuzufügen, wird er schimpflich der allgemeinen Verachtung preisgegeben werden.“ Vgl. auch ebenda 11, 18, 22 (S. 7, 14–18 Drexl). Beide Übersetzungen: Das Traumbuch des Achmet ben Sirin. Übersetzt und erläutert von Karl Brackertz, München 1986, S. 38–39. Andere Traumbücher deuten den Verlust von Haar und Bart ähnlich. Vgl. Steven M. Oberhelman, Dreambooks in Byzantium. Six oneirocritica in translation, with commentary and introduction, Aldershot 2008, S. 92 (Daniel 281), S. 129 (Nikephoros 116b), S. 149 (Astrampsychos 15), S. 163 (Germanos 223), 175, 190 (Anonymus 161 und 402). Die mystische Kraft des kaiserlichen Haares spiegelt sich auch in der Zeremonie des ersten Haarschnittes eines neu geborenen Thronfolgers wider. Dieser wird im Beisein des Patriarchen vollzogen und endet damit, dass die höchsten Würdenträger die ab-
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Die Rasur – bzw. die Epilation418 oder das Versengen419 der Haare – fand daher auch bei der Bestrafung für diverse Verbrechen Anwendung, zumeist im Rahmen einer ritualisierten Verspottung420. Begrifflich unterscheidet sich die Schur nicht von der Tonsur (koura), führte aber im Gegensatz zu letzterer zu keiner permanenten Statusveränderung und war daher auch als vorübergehende Maßregelung geeignet. Auch Majestätsverbrecher wurden häufig durch Schur der Lächerlichkeit preisgegeben. Konfrontiert mit einer Verschwörung unter der Führung eines namentlich nicht überlieferten Usurpators421, griff etwa Alexios I. Komnenos (1081–1118) auf die Kopf- und Bartrasur als Bestrafung für die Putschisten zurück. Zunächst hatte er die Todesstrafe verhängt, dann aber zu einer geringfügigeren Bestrafung abgeschwächt, um seine clementia unter Beweis zu stellen422. Bischof Theophylaktos von Ochrid, unsere einzige Quelle für diesen Vorfall, reflektiert über Sinn und Symbolik der Strafe: Er ließ ihnen die H ä u p t e r (τὰς κεφαλάς) rasieren und beraubte sie so ihrer natürlichen Zier, weil sie sich ihrem O b e r h a u p t (τὴν κεφαλὴν) gegenüber ungebührlich und unverschämt verhalten hatten. Auch den Bart ließ er ihnen rasieren. Das tat er, glaube ich, um ihre Unmännlichkeit und Feigheit in symbolischer Zurschaustellung dem Spott auszusetzen423.
Der von Theophylaktos bemühte metaphorische Bezug424 zwischen Haupthaar und dem Oberhaupt des Reiches ist etwas weit hergeholt, zumal dieselbe Strafe ja auch
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geschnittenen Locken des Kindes als Geschenk erhalten: De cerim. 2.23 (Bd. I, S. 620–622 Reiske). Konstantin IV. schickte Locken seiner Söhne Justinian und Herakleios sogar an den Papst: Liber Pontificalis I, S. 363 (Duchesne); zur Zeremonie s. Treitinger, Kaiseridee, S. 106. Choniates, Hist., S. 349 (van Dieten); Zonaras 18.24 (S. 745, Z. 14 Pinder/Büttner-Wobst) betont, dass der Usurpator Michael Anemas sein Haupthaar und Bart nicht durch Rasur verlor, sondern durch Epilation mit einem Pechpflaster (οὐ ξυρῷ, ἀλλὰ δρώπακι) zur Haarentfernung. Zu dieser Methode s. auch Choniates, Hist., S. 647 (van Dieten). Logothetenchronik 133.27 (S. 282 Wahlgren): καὶ τὰς τρίχας αὐτοῦ καταφλέξας. Vgl. Theoph. Cont., S. 363–364 (Bekker); Skylitzes, S. 179 (Thurn). Vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 47–48 (Nr. 11). Die Schur findet sich in kodifizierter Form erstmals in der Eklogē und mit zunehmender Häufigkeit dann auch im Procheiros Nomos, den Basilika und den Novellen Leons VI.: Sinogowitz, Ekloge, S. 27–28. Auch im Eparchenbuch (1.12, 2.8, 2.11, 3.3, 3.4, 3.5, 3.6, 4.9, 5.1, 5.5, 6.1, 6.4, 6.10, 6.14, 6.16, 7.1, 8.3, 8.8, 8.11, 9.2, 9.4, 9.6, 10.1, 10.3, 11.2, 11.3, 12.8, 13.1, 13.2, 13.5, 15.6, 16.2, 16.3, 17.4, 18.5, 19.2, 19.4, 20.2, 20.3, 21.9, 22.2, 22.4 Koder) ist die Schur – fast immer in Kombination mit Züchtigung – eine der gebräuchlichsten Körperstrafen. Vgl. Johannes Koder, Delikt und Strafe im Eparchenbuch, in: JÖB 41, 1991, S. 113–131, bes. S. 121. Zur Kombination von Schur und Prügelstrafe s. auch Choniates, Hist., S. 525 (van Dieten), mit Katalogen der Strafen, geordnet nach Häufigkeit (Prügel, Schur mit Zusatzstrafen an erster Stelle). Cheynet, Pouvoir, S. 95 (Nr. 122). S. oben, S. 223. Theophylaktos von Ochrid, S. 231, Z. 8–11 (Gautier): Ἐψίλωσε μὲν αὐτοῖς τὰς κεφαλάς, τοῦ φυσικοῦ κόσμου στερήσας, ὡς περὶ τὴν κεφαλὴν ἀσχημονήσαντάς τε καὶ ἐξυβρίσαντας· ἐψίλωσε δὲ καὶ τὸ γένειον, τὸ οἶμαι ἂνανδρον αὐτῶν καὶ ἀγεννὲς ἐκπομπεύων διὰ συμβολικοῦ τοῦ προσχήματος. Vgl. Heher, Tod am Pfahl, S. 146–147. Vgl. Achmet, Traumbuch 31 (S. 21 Drexl), s. oben, Anm. 417.
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gewöhnliche Diebe treffen konnte. Bei der Interpretation des Bartverlustes scheint er die Intention eher erkannt zu haben. Primär ging es um die Demütigung des Delinquenten und seine temporäre oder endgültige Exklusion aus der Gesellschaft425. Um die Demütigung der verurteilten und geschorenen Hochverräter möglichst effizient zu gestalten, wurden diese zumeist im Rahmen von Spottparaden vorgeführt426. So wurden etwa Romanos Kurkuas (886), der epeiktes Basileios (900), der sakellarios Anastasios (922), der prōtospatharios Theophanes, der pinkernēs Georgios und der primikērios Thomas (946/47) sowie die Soldaten des Georgios Maniakes (1043), Michael Anemas (1100/1) und Gregorios Taronites (1105/6) geschoren und zur Belustigung der Bevölkerung durch Konstantinopel geführt427. 3.3.2 Blendungen Die Zerstörung der Sehkraft galt den Byzantinern als schärfste Form der entstellenden Leibesstrafe428. Dem römischen Recht unbekannt, dürfte die Praxis der Blendung429 orientalischen Ursprungs sein und Byzanz möglicherweise über persische Vermitt425 Vgl. auch Alexias 10.4.2 (S. 291 Reinsch/Kambylis): Alexios I. schleust einen gewissen Alakaseos als vermeintlichen Überläufer ins Lager des Usurpators Nikephoros Diogenes. Um die List glaubwürdiger zu machen, lässt sich Alakaseos sein Haar scheren und gibt vor, bei Alexios in Ungnade gefallen zu sein. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 99–100 (Nr. 129); Skoulatos, Personnages, S. 8–9 (Nr. 4); vgl. Mathieu, Faux Diogènes, S. 135. 426 Singulär ist die Schur der Ehefrau des Usurpators Konstantinos Dukas, die 913 geschoren und auf ihrem Anwesen in Paphlagonien unter Hausarrest gestellt wurde: Theoph. Cont., S. 384 (Bekker); Georg. Mon., Chron. Brev., S. 1133 (Migne); Georg. Mon. Cont., S. 876 (Bekker); Skylitzes, S. 199 (Thurn); vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 55–59 (Nr. 15). 427 S. Kapitel 3.3.3 sowie Appendix S 2, 3, 7, 8, 15, 21, 22. Zu den Hintergründen der einzelnen Fälle s. Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 41–43 (Nr. 6), 47–48 (Nr. 11), 70–71 (Nr. 27), 78–79 (Nr. 34), 118–119 (Nr. 70); Cheynet, Pouvoir, S. 57–58 (Nr. 61), 100–101 (Nr. 130, 131). Was Michael Anemas betrifft, so meint Zonaras (S. 745 Pinder/Büttner-Wobst), dass dieser Haupt- und Gesichtsbehaarung behalten habe, dafür aber als einziger zur Blendung verurteilt worden sei. Aus dem Augenzeugenbericht von Anna Komnene (Alexias 12.6.5–9 [S. 374–376 Reinsch/Kambylis]) lässt sich eine solche Ausnahme nicht erkennen. 428 Das grundlegende Werk zum Thema Blendung in Byzanz ist immer noch die Dissertation von Odysseus Lampsides, Ἡ ποινὴ τῆς τυφλώσεως παρὰ Βυζαντινοῖς, Athen 1949. Patlagean, Blason pénal, S. 413–414, 423–424, widmet der Blendung nur wenig Raum. Eine Synthese aus beiden Untersuchungen samt Vergleich zum lateinischen Westen findet sich in Judith Herrin, Blinding in Byzantium, in: ΠΟΛΥΠΛΕΥΡΟΣ ΝΟΥΣ. Miscellanea für Peter Schreiner zu seinem 60. Geburtstag (Byzantinisches Archiv 19), München/Leipzig 2000, S. 56–68. Aus medizinischer Sicht behandelten das Thema John Lascaratos / Spyros Marketos, The penalty of blinding during Byzantine times, in: Documenta Ophthalmologica 81, 1992, S. 133–144, deren Ausführungen jedoch stark auf der Dissertation von Lampsides beruhen und einige historische Ungenauigkeiten aufweisen. Zur Blendung als typische Strafe für Usurpatoren vgl. Bourdara, Καθοσίωσις Ι, S. 164–166. 429 Grundsätzlich kannten die Byzantiner drei Möglichkeiten, eine Blendung durchzuführen. In seltenen Fällen wurde das Sehvermögen zerstört, indem heiße Flüssigkeit in die Augenhöhlen gegos-
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lung erreicht haben, zumal sie dort wiederholt in den Auseinandersetzungen um den sasanidischen Thron zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert bezeugt ist430. Sieht man von den zweifelhaften Berichten über Blendungen von Christen unter Diokletian ab431, begegnet die Strafe im römisch-byzantinischen Kulturkreis erstmals im Jahre 705, als Justinian II. nach seiner Rückkehr auf den Thron den Patriarchen Kallinikos seines Augenlichts berauben ließ432. Fortan wurde die Blendung zu einer der bevorzugten Formen der Disqualifikation politischer Gegner durch den regierenden Kaiser433. Der Schwere der Strafe war man sich durchaus bewusst, weshalb sie im zivilen Strafrecht offenbar so gut wie nie zur Anwendung kam434. Im Gegenteil. Verhängt wurde sie – unter Umgehung des kodifizierten Rechts – fast ausnahmslos vom Kaiser persönlich435. Kriegsgefangene konnten damit ebenso unschädlich gemacht werden wie religiöse Abweichler, doch in der überwältigenden Mehrheit der überlieferten Fälle waren davon (potenzielle) Usurpatoren betroffen436
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sen wurde. Häufiger verwendete man ein glühendes Eisen, das man so nah an die Augen führte, bis diese durch die Hitzeeinwirkung bleibenden Schaden nahmen. In den meisten Fällen tendierten die byzantinischen Henker jedoch zur effizientesten Methode, nämlich zur Verwendung spitzer, oft bis zum Glühen erhitzter, metallischer Gegenstände, um den nötigen Schaden mechanisch zuzufügen: Lascaratos/Marketos, Penalty, S. 135–140. Einen Überblick über die gebräuchlichen Techniken findet sich auch in Lampsides, Τύφλωσις, S. 46–51. Lampsides, Τύφλωσις, S. 9, 15–16 (mit persischen Beispielen); Patlagean, Blason pénal, S. 425– 426 und Herrin, Blinding, S. 69 legen sich bezüglich der Herkunft der Strafe nicht fest, schließen aber einen persischen Ursprung nicht aus. Lampsides, Τύφλωσις, S. 15 lässt Skepsis betreffend die Authentizität der Berichte über die Bestrafung der Märtyrer durchklingen. Lascaratos/Marketos, Penalty, S. 133, beziehen sich auf Lampsides, geben dessen Skepsis aber nicht wieder. Lampsides, Τύφλωσις, S. 17; Herrin, Blinding, S. 59. Ebenso wie die Blendung werden ab dem 8. Jahrhundert auch andere Körperstrafen zunehmend ins byzantinische Strafrecht integriert. Vgl. Patlagean, Blason pénal, bes. S. 405–414; Herrin, Blinding, S. 60. Die Eklogē (726) sieht die Blendung nur für Diebstahl von geweihten Gegenständen aus dem den Klerikern vorbehaltenen Bereich einer Kirche vor (17.15). Auch der Nomos Georgikos kennt die Blendung nur für besonders schwere bzw. wiederholte Vergehen (§ 44, 68, 69). Vgl. Patlagean, Blason pénal, S. 406, 409–411; Herrin, Blinding, S. 60. Lampsides, Τύφλωσις, S. 37–41 (mit wenigen Gegenbeispielen). Zu den verschiedenen Kategorien der Verurteilten mit Beispielen vgl. Lampsides, Τύφλωσις, S. 16–30 (Putschisten), S. 31–33 (gestürzte Kaiser), S. 34–36 (Ketzer, Kriegsgefangene, Magier). Die Liste der Blendungen von Usurpatoren (inklusive vorgetäuschte und teilweise) ist für den Untersuchungszeitraum weitgehend vollständig, weshalb ich von einer eigenen Aufzählung der etwa fünfzig Fälle absehe. Zu den bekanntesten und am besten dokumentierten Fällen gehört die Blendung des gestürzten Kaisers Romanos IV. Vgl. Speros Vryonis Jr., Michael Psellus, Michael Attaleiates: The Blinding of Romanus IV at Kotyaion (29 June 1072) and his Death on Proti (4 August 1072), in: Charalampos Dendrinos et al. (Hgg.), Porphyrogenita. Essays on the history and literature of Byzantium and the Latin East in honour of Julian Chrysostomides, Aldershot 2003, S. 3–14; vgl. Braounou-Pietsch, Brief. Bemerkenswert ist die fast exklusive Anwendung der Strafe auf Männer. Aus der gesamten byzantinischen Geschichte nach dem Ikonoklasmus ist keine einzige Blendung einer Frau belegt: Herrin, Blinding, S. 61; Steven Runciman, Women
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Da das römische Recht für Majestätsverbrechen ohnehin die Todesstrafe vorsah, konnte jede andere Bestrafung – auch die Blendung – als Akt kaiserlicher Nachsicht betrachtet werden437. In ihrer Effizienz stand die Blendung der Hinrichtung dabei kaum nach, zumal die Opfer für das Kaiseramt durch ihre Stigmatisierung und körperliche Versehrtheit sowohl aus ideologischer als auch aus praktischer Sicht nicht mehr in Frage kamen. Blindheit schränkte den Handlungsspielraum des Bestraften weit mehr ein als die Amputation von Nase, Ohren oder Extremitäten438 und in den seltensten Fällen waren Geblendete in der Lage, ihre politischen Interessen weiterzuverfolgen439. Im Untersuchungszeitraum erlangte einzig Isaakios II. Angelos (1185–1195 und 1203–1204) trotz seiner Blendung den Kaiserthron zurück, was jedoch nur durch die Unterstützung seines Sohnes Alexios IV. und die Teilnehmer des Vierten Kreuzzugs denkbar war440. Während sich im 10. Jahrhundert Blendungen und Hinrichtungen von Usurpatoren noch die Waage halten, tritt die Zerstörung des Sehvermögens im 11. Jahrhundert fast völlig an die Stelle der Todesstrafe441. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in einer Neubewertung der Blendung in den Quellen wider, welche die Strafe kaum mehr als Resultat kaiserlicher Gnade interpretieren, sondern zunehmend als zu vermeidende Grausamkeit442. Symbolik und Stigmatisierung Neben den praktischen Vorteilen der Blendung gegenüber anderen Formen der physischen Disqualifikation von Thronprätendenten mag auch die symbolische Funktion des Körpers die Etablierung der Strafe begünstigt haben. Wie andere Verstümmelungsstrafen hatte die Blendung eine bleibende physische Zerstörung des Körpers zur Folge, in dem sich doch theoretisch die Perfektion der Schöpfung Gottes spiegeln sollte. Auch die ihm zugeschriebene Rolle als stets über seine Untertanen wachender Herrscher konnte ein blinder Kaiser schwerlich erfüllen443. Als adäquate Spiegelstrafe für Majestätsverbrechen ist die Blendung hingegen keine offensichtliche Wahl. Dennoch lässt sich über die Sonnensymbolik des byzantinischen Kaisertums durchaus ein metaphorischer Bezug konstruieren. Setzt man das Augenlicht des Kaisers den Strahlen der Sonne gleich444, wird klar, wie wenig ein blinder Thronprätendent die in Byzantine aristocratic society, in: Michael Angold (Hg.), The Byzantine aristocracy, IX to XIII centuries (BAR International Series 221), Oxford 1984, S. 10–22, hier 16. 437 Lampsides, Τύφλωσις, S. 44–45; Herrin, Blinding, S. 68–69. S. oben, S. 215 mit Anm. 199. 438 Vgl. Kapitel 3.3.1. 439 Herrin, Blinding, S. 56; Lascaratos/Marketos, Penalty, S. 134. 440 Vgl. Herrin, Blinding, S. 61. 441 Vgl. Kapitel 3.2.2. In diesem Zusammenhang vgl. auch die Traumdeutung: „Der Verlust der Augen bedeutet Tod“: Oberhelman, Dreambooks, S. 183 (Anonymus 292). 442 S. oben, S. 217–221. 443 Für diesen Hinweis danke ich Michael Grünbart/Münster. 444 Theophanes, AM 6289 (S. 472 de Boor) zieht einen Vergleich zwischen der Blendung Konstantinos’ VI. durch seine Mutter Eirene und einer darauf folgenden siebzehn Tage währenden Sonnen-
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ideologischen Voraussetzungen an das Amt erfüllen konnte445. Alternativ könnte man die Blendung auch dahingehend interpretieren, dass der Usurpator für seine Hybris bestraft wird, sich dem Sonnenkaiser zu sehr genähert zu haben. Unabhängig von der dahinterliegenden Symbolik hatte der Akt der Blendung in jedem Fall eine Stigmatisierung zur Folge. Blendungen wurden im Normalfall nur vom Kaiser persönlich ausgesprochen, wodurch das Verhängen der Strafe gewissermaßen in den Rang eines ungeschriebenen Regalrechts aufstieg446. Da die Blendung in Byzanz fast ausschließlich für die Bestrafung von Usurpatoren vorgesehen war, erinnerten die Geblendeten durch ihre körperliche Präsenz in der Öffentlichkeit ebenso an ihre eigene Anmaßung und Sündhaftigkeit wie an die Stärke und den göttlichen Beistand des siegreichen Kaisers. Performative Aspekte Während die Körper der gescheiterten Usurpatoren durch ihre Bestrafung zu lebendigen Denkmälern ihres Scheiterns wurden, scheint der Akt der Blendung selbst in der Mehrzahl der Fälle nicht im öffentlichen Raum inszeniert worden sein447. Ein größeres Publikum wird von den Quellen nur bei den Bestrafungen von Michael V. und seinem
finsternis: ἐσκοτίσθη δὲ ὁ ἥλιος ἐπὶ ἡμέρας ιζʹ καὶ οὐκ ἔδωκε τὰς ἀκτῖνας αὐτοῦ, ὥστε πλανᾶσθαι τὰ πλοῖα καὶ φέρεσθαι, καὶ πάντας λέγειν καὶ ὁμολογεῖν, ὅτι διὰ τὴν τοῦ βασιλέως τύφλωσιν ὁ ἥλιος τὰς ἀκτῖνας ἀπέθετο. 445 Patlagean, Blason pénal, S. 417, 423–424. Eine interessante Parallele lässt sich auch im Frankenreich beobachten, wo mit der zunehmenden Beliebtheit der Sonnensymbolik unter Ludwig dem Frommen auch die Zahl der Blendungen zunimmt. Vgl. Geneviève Bührer-Thierry, ‚Just anger‘ or ‚vengeful anger‘? The punishment of blinding in the Early Medieval West, in: Barbara H. Rosenwein (Hg.), Anger’s past. The social uses of an emotion in the Middle Ages, New York 1998, S. 75–91, bes. S. 81–87. 446 Dies wiederum bot Putschisten die Möglichkeit, durch Usurpation dieses Vorrechts den Kaiser auf performativer Ebene zu imitieren. So ließ Bardas Skleros die Überläufer Theodoros und Niketas Hagiozacharites vor den versammelten Truppen blenden: Skylitzes, S. 322 (Thurn). Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 27–29 (Nr. 11); Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 94–96 (Nr. 45). Das Verständnis der Blendung als kaiserliches Monopolrecht zur Bestrafung von Usurpatoren war offenbar so eindeutig, dass die Strafe sowohl von den Westgoten in Spanien als auch von den Karolingern ausschließlich im Kontext von Thronstreitigkeiten Anwendung fand. Vgl. Bührer-Thierry, Blinding in the West, S. 78–79, 89–91. 447 Lampsides, Τύφλωσις, S. 60–61. Den im Folgenden behandelten Fällen könnte man noch die erwähnten Blendungen durch den Usurpator Bardas Phokas hinzufügen, die vor den Augen seiner Truppen durchgeführt wurden (vgl. Anm. 1124). Die Situation ist jedoch schon an sich atypisch, da Phokas nicht legitimer Kaiser war und sich die Episode im Heerlager abspielte und damit anderen Spielregeln folgte: Skylitzes, S. 322 (Thurn). Unklar ist die Situation bei der Blendung des Leon Tornikios: Nachdem dessen Bemühungen, Konstantinopel zu erstürmen, im Sand verlaufen waren, hatte er sich gegen Zusicherung einer Amnestie Kaiser Konstantinos IX. ergeben. Als er und sein letzter Vertrauter Ioannes Batatzes an den Stadtmauern ankamen, revidierte der Kaiser seine Entscheidung und ließ beide an Ort und Stelle blenden: Michael Psellos, Chron. 6.123 (S. 162–163 Reinsch). Es ist schwer zu beurteilen, wie viel Publikum dem Schauspiel beiwohnte. Vgl. auch Kapitel 3.3.2.
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Onkel (1042)448, Roussel von Bailleul (ca. 1075)449 und Michael Anemas (ca. 1100/1)450 ausdrücklich erwähnt. Michael V. (1041–1042) war nach seinem missglückten Versuch, seine Adoptivmutter Zoe vom Thron zu stoßen, von der aufgebrachten Einwohnerschaft Konstantinopels gestürzt und durch Zoes Schwester Theodora ersetzt worden. Seine Flucht ins Studioskloster erwies sich nur als vorübergehende Rettung. Zwar sicherte ihm der Eparch der Stadt freies Geleit zu, doch ereilte den Beamten schon bald Theodoras Befehl, Michael zu blenden. Die Strafe wurde in aller Öffentlichkeit am Sigma-Platz vollstreckt. Michaels Schicksal ist an späterer Stelle ausführlicher zu behandeln451. Ein weiterer Fall einer Blendung vor Publikum fand nicht in Konstantinopel, sondern in Amaseia statt. Auch hier sei der Hintergrund der Episode kurz skizziert. Alexios Komnenos, damals noch Feldherr im Dienst von Kaiser Nikephoros’ III. (1078–1081), sollte den Rebellen Roussel von Bailleul gefangen nehmen. Dieser hatte in seiner bedrängten Lage versucht, beim seldschukischen Emir Artuk Aufnahme zu finden, nicht wissend, dass Alexios mit diesem zuvor seine Auslieferung ausgehandelt hatte. Die Seldschuken hielten das Versprechen und brachten den gefangenen Franken nach Amaseia. Alexios, der in Wahrheit nicht über das versprochene Kopfgeld verfügte, stieß beim Versuch, dieses von den Einwohnern Amaseias einzutreiben, auf heftigen Widerstand. Manche plädierten dafür, den Rebellen sicherheitshalber in der Stadt zu behalten, damit er keinen Schaden mehr anrichten könne; andere sollen mit ihm sympathisiert und heimlich seine Befreiung geplant haben. Nur mit Mühe konnte Alexios die Menge wieder unter Kontrolle bringen, fürchtete aber den Wankelmut des Volkes. Wollte er die Situation kontrollieren, musste Roussel als potenzieller Rebellenführer ausgeschalten werden. Alexios befahl daher seine Blendung452: Er [Roussel] wurde auf den Boden gelegt, und der Scherge setzte das Eisen an, das Opfer aber schrie und stöhnte dabei wie ein brüllender Löwe. Die ganze Blendung aber war nur vorgetäuscht; denn der, der scheinbar geblendet wurde, war angewiesen worden, zu schreien und zu jammern, und derjenige, der ihm nur zum Schein die Augen ausstach, sein Opfer grimmig anzublicken und alles mit den Zeichen leidenschaftlicher Wut auszu-
448 449 450 451 452
Cheynet, Pouvoir, S. 54–55 (Nr. 56); Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 116–117 (Nr. 69). Cheynet, Pouvoir, S. 78–79 (Nr. 97); Bourdara, Καθοσίωσις II, S. 42–47 (Nr. 12). Cheynet, Pouvoir, S. 100–101 (Nr. 130); Bourdara, Έγκλημα καθοσιώσεως, S. 215. Zu Michaels Blendung und dem Augenzeugenbericht von Michael Psellos s. unten, S. 336–337. Alexias 1.3.1–2 (S. 16–17 Reinsch/Kambylis): ἐς μὲν τὸ φανερὸν ἀποτυφλοῖ τὸν Οὐρσέλιον, καὶ ἥπλωτο μὲν τῇ γῇ, ὁ δὲ δήμιος ἐπῆγε τὸν σίδηρον, ὁ δὲ ἐπωρύετό τε καὶ ἔστενε καθάπερ λέων βρυχώμενος· σχῆμα δὲ πάντα ἦσαν τῆς τῶν ὀμμάτων ἀποστερήσεως, παρήγγελτο δὲ καὶ ὁ τῷ δόξαι τυφλούμενος βοᾶν τὲ καὶ κεκραγέναι καὶ ὁ μέχρι τοῦ δοκεῖν τοὺς ὀφθαλμοὺς ἐξορύττων δριμὺ τὲ ἐνορᾶν πρὸς τὸν ἐκκείμενον καὶ μανιώδη τὰ πάντα δρᾶν, μᾶλλον δὲ σχηματίζεσθαι τὴν ἀποτύφλωσιν. καὶ ὁ μὲν ἀπετυφλοῦτο μὴ ἀποτυφλούμενος, ὁ δὲ δῆμος ἐκρότει καὶ πανταχόθι τὴν τοῦ Οὐρσελίου τύφλωσιν διεβόμβει. ταῦτα ὥσπερ ἐν σκηνῇ δραματουργηθέντα πέπεικε τὸν ὄχλον ὅλον, ὅσος ἐγχώριος καὶ ὅσος ἔξωθεν, εἰς ἔρανον κατὰ τὰς μελίσσας συλλέγεσθαι.
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führen, die Blendung aber in Wirklichkeit nur vorzutäuschen. Und so wurde er geblendet, indem er nicht geblendet wurde, und das Volk klatschte Beifall und verbreitete überall das Gerücht von der Blendung von Roussel. Dieses wie auf einer Bühne inszenierte Schauspiel hatte eine dermaßen überzeugende Wirkung auf das gesamte Volk, sowohl auf das einheimische wie auf das von außerhalb, dass sie wie die Bienen ihre Beiträge einbrachten453.
Es stellt sich die Frage, warum die Blendung nicht wirklich durchgeführt wurde. Anna Komnenes Bericht erweckt den Eindruck, als habe die Hochachtung vor dem Gegner Alexios davon abgehalten. In Wahrheit dürfte er schlichtweg nicht über das kaiserliche Mandat dafür verfügt haben. Wie bereits erwähnt, war die Verurteilung zur Blendung ein kaiserliches Privileg. Alexios I. Komnenos (1081–1118), nunmehr bereits als Kaiser, steht auch im Mittelpunkt der dritten Blendung, bei der die Gegenwart einer größeren Öffentlichkeit belegt ist. Die Strafe betraf den verhinderten Putschisten Michael Anemas und dessen Mitverschwörer und sollte nach einer Schandparade auf dem Forum Amastrianon exekutiert werden. Im letzten Moment begnadigte der Kaiser die Usurpatoren und Michael Anemas wurde – körperlich unversehrt – vorübergehend in einen Turm der Blachernenzitadelle eingeschlossen, der fortan seinen Namen tragen sollte. Einiges spricht dafür, dass Alexios die Begnadigung bereits im Vorfeld geplant hatte454. Nicht die Blendung des Usurpators sollte Höhepunkt der Inszenierung sein, sondern die Philanthropie des Kaisers455. Die drei Blendungen, bei denen die Präsenz eines größeren Publikums von den Quellen explizit betont wird, sind demnach allesamt als Sonderfälle zu bezeichnen. Michael V. war ein Opfer der chaotischen Zustände unmittelbar nach seiner Flucht und der Inthronisation Theodoras; außerdem kann die ungewöhnlich öffentliche Ausführung der Strafe als Zugeständnis der neuen Kaiserin an die Einwohner Konstantinopels betrachtet werden, die schon zuvor nur mit Mühe daran gehindert werden konnten, Michael auf eigene Faust zu töten. Nach der öffentlichen Blendung des ehemaligen Kaisers scheint sich der Zorn des Volkes tatsächlich rasch gelegt zu haben. Auch die vorgetäuschte Blendung Roussels von Bailleul diente der Beruhigung der Lage, und das Gelingen von Alexios’ Plan setzte die Präsenz einer möglichst großen Zahl an Zeugen voraus. Im Falle von Michael Anemas ging es hingegen um die Darstellung der kaiserlichen Güte. Für keine andere der zahlreichen Blendungen von Usurpatoren erwähnen die Quellen die Anwesenheit einer großen Öffentlichkeit. Häufig wurde die Strafe erst am Verbannungsort vollzogen, fallweise auf dem Weg nach Konstantinopel oder aber
453 Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 30–31. 454 S. oben, S. 222–223. 455 Lampsides, Τύφλωσις, S. 39, 43–44.
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innerhalb der Palastmauern456. Bei der symbolträchtigen Blendung lässt sich also dieselbe Scheu vor Öffentlichkeit erkennen wie beim Vollzug anderer Leibesstrafen und Hinrichtungen457. 3.3.3 Spottparaden Im Umgang mit gescheiterten Usurpatoren begegnen öffentliche, ritualisierte Demütigungen in Form von Spottparaden auffallend häufig458. Eine anschauliche Beschreibung einer solchen Parade überliefert uns Anna Komnene. Als Jugendliche beobachtete die Prinzessin heimlich, wie in einem Hof des Großen Palastes Michael Anemas und seine Mitverschwörer, die einen Mordanschlag gegen Annas Vater Alexios I. (1081–1118) geplant hatten459, für den Weg zu ihrer Blendung am Forum Amastrianon vorbereitet wurden: Anemas aber und seinen Anhang ließ er [scil. Alexios] als die Hauptschuldigen an Kopf und Bart bis auf die Haut kahlscheren und befahl, sie danach in öffentlicher Zurschaustellung mitten über die Agora [scil. einen Abschnitt der Mesē] zu führen und ihnen danach die Augen auszustechen. Nachdem also die skēnikoi460 sie übernommen und in Säcke gekleidet, ihre Köpfe mit Eingeweiden von Rindern und Schafen wie mit Diademen geschmückt hatten und sie auf
456 Lampsides, Τύφλωσις, S. 54–56. 457 Vgl. Kapitel 3.2.1 und 3.3.2. 458 Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 164, 168. Trotz ihrer Häufigkeit wurden Schandparaden bislang für Byzanz kaum systematisch erforscht. Grundlegend sind immer noch die Untersuchungen von Phaidon Koukoules: Ἡ διαπόμπευσις κατὰ τοῦς Βυζαντινοῦς χρόνους, in: Byzantina Metabyzantina. A Journal of Byzantine and Modern Greek Studies 1/2, 1949, S. 75–101 (zur Begrifflichkeit ebd. S. 75–78); Idem, Βυζαντινῶν βίος, Bd. 3, S. 184–208; Ders, Ἀπὸ τήν μεσαιωνικήν διαπόμπευσιν, in: DChAE Per. 2/2, 1925, S. 62–66. Vgl. auch Nikolaos Politis, Ὑβριστικὰ Σχήματα (Σφάκελο. Μοῦντζα. Πούλος. Σάμαρκο), in: Laographia 4, 1913–1914, S. 601–669, bes. S. 630–649. Im weiteren Kontext der Verspottung findet sich das Thema auch in Paul Magdalino, Tourner en dérision à Byzance, in: Élisabeth Crouzet-Pavan / Jacques Verger (Hgg.), La dérision au Moyen Âge. De la pratique social au rituel politique, Paris 2007, S. 55–72. 459 Cheynet, Pouvoir, S. 100–101 (Nr. 130) mit Anm. 2 zur Datierung des Putschversuches auf ca. 1100/11; Bourdara, Έγκλημα Καθοσιώσεως, S. 215; Chalandon, Les Comnène I, S. 240–241; zu den beteiligten Personen s. Skoulatos, Personnages, S. 25–27 (Konstantinos? Antiochos), 43– 46 (Basileios? Kurtikios), 65–66 (Konstantinos Exazenos Dukas), 93 (Georgios Basilakios), 172 (Leon Anemas), 200–202 (Michael Anemas), 239–240 (Nikephoros Exazenos Hyaleas), 249–250 (Niketas Kastamonites). 460 Im 12. Jh. unterscheidet Ioannes Zonaras zwischen den „ehrbaren skēnikoi“ (σκηνικοὶ ἔντιμοι), die vor dem Kaiser auftreten und „ehrlosen skēnikoi“ (σκηνικοὶ ἄτιμοι), die für das Volk spielen: Georgios A. Rhalles / Michael Potles (Hgg.), Σύνταγμα τῶν θείων καὶ ἱερῶν κανόνων τῶν τε ἁγίων καὶ πανευφήμων ἀποστόλων, καὶ τῶν ἱερῶν οἰκουμενικῶν καὶ τοπικῶν συνόδων, καὶ τῶν κατὰ μέρος ἁγίων πατέρων κτλ., 4 Bde., Athen 1852–1859, Nachdruck Athen 1992, Bd. 2, S. 414). Auch Michael Balsamon differenziert zwischen seriösen Schaustellern (thymelikoi, θυμελικοί) und den
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Ochsen aufsteigen und nicht rittlings, sondern seitlich hatten aufsitzen lassen, führte man sie durch den Hof des Kaiserpalastes. Ordnungshüter sprangen an der Spitze dieses Zuges und sangen mit lauter Stimme ein Spottlied, das zur Schaustellung passte. Es war in der Sprache des gemeinen Volkes gedichtet, und sein Sinn war etwa folgender: Das volkstümliche Lied wollte alle auffordern, zu kommen und sich diese gehörnten Männer nach ihrem Putsch anzusehen, die ihre Schwerter gegen den Autokrator geschärft hätten. Groß und klein strömte nun zu diesem Spektakel zusammen …461
Da andere Spottparaden zumeist nicht so detailreich überliefert sind, ist eine individuelle Analyse der einzelnen Fälle oft unmöglich. Die Durchführung der Verspottung variierte zudem von Fall zu Fall beträchtlich. Die Quellenlage erlaubt aber durchaus einige grundlegende Beobachtungen zu gemeinsamen Elementen, Sinn, Ablauf und räumlichen Aspekten des Rituals. Die Wurzeln des Rituals In den byzantinischen Spottumzügen verbinden sich Schandstrafen (Schur, Demütigung, unwürdiges Reittier) mit Elementen des Rügebrauches des Charivari462 (Umzug, Tänzer, Musik). Beide Phänomene haben ihre Wurzeln in der Volksjustiz bäuerlicher Gesellschaften, die damit Verstöße gegen die soziale Ordnung sanktionierten. Der symbolische Ausschluss aus der Gesellschaft konnte dabei temporär oder endgültig sein.
skēnikoi mimoi (σκηνικοί μῖμοι) die sich mit Masken verkleiden und derbe Unterhaltung bieten: Rhalles/Potles, Bd. 2, S. 425. Vgl. Tinnefeld, Mimos, S. 337–338; zum Begriff skēnikos s. auch Michael Grünbart, Das Zünglein an der Waage? Zur politischen Funktion des Patriarchen in Byzanz: Der Fall des Theodosios Boradiotes, in: Michael Grünbart / Lutz Rickelt / Martin M. Vučetić (Hgg.), Zwei Sonnen am Goldenen Horn? Kaiserliche und patriarchale Macht im byzantinischen Mittelalter. Akten der internationalen Tagung vom 3. bis 5. November 2010, Bd. 1 (Byzantinistische Studien und Texte 3), Berlin 2011, S. 15–29, hier 28–29. 461 Alexias 12.6.5–6 (S. 374–375, Z. 16–28 Reinsch/Kambylis): … τὸν δὲ Ἀνεμᾶν καὶ τοὺς σὺν αὐτῷ ὡς πρωταιτίους καὶ τὴν ἐν χρῷ κουρὰν τῆς κεφαλῆς καὶ τοῦ πώγωνος ψιλώσας διὰ μέσης πομπεῦσαι τῆς ἀγορᾶς παρεκελεύσατο, εἶτα ἐξορυχθῆναι τοὺς ὀφθαλμούς. παραλαβόντες οὖν τούτους οἱ σκηνικοὶ καὶ σάκκους περιβαλόντες, τὰς δὲ κεφαλὰς ἐντοσθίοις βοῶν καὶ προβάτων ταινίας δίκην κοσμήσαντες, ἐν βουσὶν ἀναγαγόντες καὶ ἐγκαθίσαντες οὐ περιβάδην, ἀλλὰ κατὰ θατέραν πλευρὰν τούτους διὰ τῆς βασιλικῆς ἦγον αὐλίδος. ῥαβδοῦχοι ἔμπροσθεν τούτων ἐφαλλόμενοι καὶ ᾀσμάτιόν τι γελοῖον καὶ κατάλληλον τῇ πομπῇ προσᾴδοντες ἀνεβόων, λέξει μὲν ἰδιώτιδι διηρμοσμένον, νοῦν δὲ ἔχον τοιοῦτον· ἐβούλετο γὰρ τὸ ᾆσμα πάνδημον πᾶσι παρακελεύεσθαι τὲ καὶ ἰδεῖν τοὺς τετυραννευκότας τούτους κερασφόρους ἄνδρας, οἵτινες τὰ ξίφη κατὰ τοῦ αὐτοκράτορος ἔθηξαν. ἅπασα μὲν οὖν ἡλικία ἐς τὴν τοιαύτην θέαν συνέτρεχεν. Übersetzung nach Reinsch, Alexias, S. 418–419). S. Appendix S 21. 462 Zu den vielfältigen Varianten des Charivari (mit Fokus auf Spätmittelalter und Früher Neuzeit) vgl. Jacques Le Goff / Jean-Claude Schmitt (Hgg.), Le Charivari. Actes de la table ronde organisée à Paris, 25–27 avril 1977, par l’École des Hautes Études en Sciences Sociales (= Civilisations et Sociétés 67), Paris/La Haye/New York 1981. Vgl. auch Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland (Klio Beihefte, N. F. 7), Berlin 2004, S. 266, Anm. 25 (mit weiterführender Literatur zur Etymologie) und S. 277–312.
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Schandstrafen entstammen zumeist dem Gewohnheitsrecht und dienten der Bestrafung von Verstößen gegen die etablierten Normen und moralischen Grundsätze. Hinter den Peinigungen der Devianten standen zumeist Verkehrungsrituale, welche die Identität oder den Stand des Opfers in Frage stellten: Schon in der griechischen Antike wurden Männer geschoren oder als Frauen verkleidet und ehrbare Frauen mit Merkmalen von Prostituierten versehen463. Bereits damals ist auch die Praxis belegt, den Verurteilten auf einem Esel – fallweise auch verkehrt oder im Damensitz – herumzuführen. Als Begleiter der Satyrn und des Priapos war der Esel als phallisch konnotiertes Reittier offenbar die logische Wahl, um besonders Ehebrecherinnen öffentlich vorzuführen464. Eine der seltenen Darstellungen des verkehrten Ritts auf einem Esel findet sich auf einem Mosaik in Volubilis (Marokko, 2.–3. Jh., Abb. 9). Die Figur wird zumeist als Silen oder als Parodie auf einen desultor, einen Pferdeakrobaten, interpretiert. Obwohl der Reiter lächelt, ist meines Erachtens auch eine humoristische Anspielung auf eine Spottparade denkbar.
Abb. 9 Eselsreiter (Kunstreiter?, Silen?), 2.–3. Jh. Volubilis, Mosaik im sog. „Haus des Desultor“.
463 Zu effeminierenden Schandstrafen im antiken Griechenland s. Schmitz, Nachbarschaft, S. 330, 342–344, 404–405. 464 Pauline Schmitt-Pantel, L’âne, l’adultère et la cité, in: Le Goff/Schmitt (Hgg.), Le Charivari. Actes de la table ronde organisée à Paris, 25–27 avril 1977, par l’École des Hautes Études en Sciences Sociales (= Civilisations et Sociétés 67), Paris/La Haye/New York 1981, S. 117–122.
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Der Rügebrauch des Charivari ist ebenfalls bereits im archaischen Griechenland nachweisbar. Der Spott traf dort Ehebrecher ebenso wie Männer, deren Autorität im Haushalt in Frage gestellt wurde oder Frauen, die eben diese untergruben. Auch nicht angemessene Eheschließungen oder Homosexualität konnten mit einem Charivari bestraft werden. Bei dieser Form der Rügestrafe, die sich jenseits der Gesetzgebung der Obrigkeit abzuspielen pflegte, zog die Dorfjugend – meist nach einem Fest – zum Haus des Devianten. Mitgetragene Figuren, die den Täter repräsentieren sollten, wurden dabei verspottet. Wurde man des Beschuldigten auch physisch habhaft, konnte es zu körperlicher Züchtigung kommen. Mit Lynchjustiz ist das Charivari jedoch nicht zu verwechseln, denn so anarchisch die Umzüge anmuten mögen, folgten sie doch etablierten Spielregeln, in deren Rahmen sich die verschiedenen ritualisierten Handlungen und Symbole, die über die Intensität der Strafe entscheiden, bewegten465. Die Spottparade in Byzanz Auch in Byzanz wurden Verstöße gegen die gesellschaftliche Ordnung oder das Gesetz, beispielsweise Diebstahl oder Ehebruch, mit Schandparaden bestraft466. Dass die Praxis der Spottparade keinen Rückhalt im römischen Recht fand, tat ihrer Anwendung keinen Abbruch467. Bereits Kaiser Justinian I. (527–565) ließ mutmaßliche Päderasten kastrieren und durch die Straßen paradieren. Auch Astrologen wurden geschlagen und auf Kamelen sitzend dem Spott der Bevölkerung preisgegeben468. Während des Ikonoklasmus sollen auch die Bilderverehrer zu öffentlichen Demütigungen verurteilt worden sein. Unter anderem wird berichtet, Konstantinos V. (741–755) habe Mönche dazu gezwungen, Hand in Hand mit Frauen durch das Hippodrom zu gehen, während sie das Publikum verspottete und bespuckte469; den Styliten Petros soll er an den Beinen über die Mesē, Konstantinopels Hauptstraße, haben schleifen lassen470. Erst mit der zunehmenden Kodifizierung des Gewohnheitsrechts ab dem 8. Jahrhundert begegnen Ehrenstrafen und die ihnen funktional und performativ verwandten, entwürdigende Leibesstrafen auch in Rechtsbüchern471. Bereits in der Eklogē
465 Schmitz, Nachbarschaft, S. 264–271. Zum Spannungsfeld des Charivari zwischen Verbot und Duldung seitens des der gesetzgebenden Instanzen vgl. ebd., S. 310–312. 466 Eine Reihe vor allem spätantiker und frühbyzantinischer Beispiele findet sich bei Koukoules, Διαπόμπευσις, S. 79–84 und Politis, Ὑβριστικὰ Σχήματα, S. 630–633. 467 Auch das Verhängen von Amputationsstrafen stand zunächst außerhalb des kodifizierten Rechts. Patlagean, Blason Pénal, S. 411–412. 468 Prokop, Anekdota 11.34–37 (S. 76 Haury/Wirth); vgl. Malalas 18.18 (S. 364–365 Thurn); Theophanes, AM 6021 (S. 177 de Boor). 469 Theophanes, AM 6257 (S. 437–438 de Boor). Nikephoros, Brev. 83 (S. 156–158 Mango) präzisiert, dass die Mönche Nonnen an der Hand führen mussten; vgl. Koukoules, Διαπόμπευσις, S. 83–84. 470 Theophanes, AM 6259 (S. 442 de Boor). 471 Beide Strafen unterscheiden sich eher graduell denn kategorial, zumal auch bei Amputationen nicht das Zufügen von Schmerz im Vordergrund steht, sondern das Sichtbarmachen der Gesetzes
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(726) sind für bestimmte Verbrechen Verstümmelungen oder Schur vorgesehen472. Das Eparchenbuch sieht die Schandprozession, verbunden mit Prügel, Schur und immerwährender Verbannung für irreguläre Mieterhöhungen, bewusste Wertminderung von Waren sowie für das gleichzeitige Betreiben von zwei Berufen vor473. Auch Soldaten, die sich weigerten, Hymnen oder Gebete mitzusingen, sollten in ähnlicher Weise bestraft werden474. In einer fiktiven Erzählung im Buch von Syntipas dem Philosophen begegnet die Spottparade gar als angemessene Strafe für eine Herrscherin. Ihr Gemahl, der König, lässt sie zwar trotz ihrer Intrigen gegen ihren Stiefsohn, den Prinzen, am Leben, verurteilt sie jedoch dazu, mit geschwärztem Gesicht, geschorenem Haar und einer Glocke um den Hals verkehrt auf einem Esel zu reiten475. Beim Ablauf der Parade selbst gab es offenbar kaum normative Vorgaben. Erlaubt war alles, was zur größtmöglichen Demütigung des Verurteilten beitrug: Prügel, Verstümmelungen, unangemessene (oder gar keine) Kleidung, ein unwürdiges Reittier (Esel, Maultier, Ochse, Kamel)476, das Bewerfen bzw. „Schmücken“ des Verbrechers mit unreiner Materie wie Fäkalien oder Eingeweiden, das Schwärzen seines Gesichtes und eine Reihe weiterer mehr oder weniger kreativer Maßnahmen, um die Pein des Verurteilten zu vergrößern477. Auch Elemente des traditionellen Charivari blieben erhalten, wenn – wie beim einleitenden Beispiel – ausgelassene Tänze und Kakophonien die Parade begleiteten. Als Ausdrucksformen des Spotts begegnen uns diese auch andernorts. So provozierten die Soldaten des Leon Tornikios Kaiser Konstan-
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übertretung. Vgl. Patlagean, Blason Pénal, S. 416. Vgl. Kapitel 3.3.1. Verstümmelungen fanden zudem vor oder nach Schandparaden statt: Koukoules, Διαπόμπευσις, S. 97. Patlagean, Blason Pénal, S. 405–412. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Gregory, Philanthropia, S. 267–287. Eparchenbuch 18.5 (S. 130 Koder). Strategika Imperatora Nikifora. Nicephori praecepta militaria ex codice Mosquensi, edidit Julian Kulakovskij (Zapiski Imperatorskoj Akademii Nauk po Istoriko-Filologičeskomu Otděleniju; Sér. 8/8/9), St. Petersburg 1908, S. 20–21. Das Nichtbefolgen von Befehlen konnte auch mit Nasenamputation und Schandparade geahndet werden: Leon Diak., S. 57–58 (Hase). Zur Warnung vor Fahnenflucht ließ Kaiser Basileios I. dreißig sarazenische Kriegsgefangene hinrichten, die er als byzantinische Deserteure ausgab. Nachdem sie im Hippodrom ausgepeitscht worden waren, mussten sie mit geschorenem Haupt und Bart und geschwärztem Gesicht nackt auf Eseln bis zum Goldenen Tor reiten. Dann wurden sie bei Methone – wo die echten Deserteure die Flucht ergriffen hatten – zur Abschreckung gehängt: Genesios 4.34 (S. 84 Lesmüller-Werner/Thurn); vgl. Heher, Tod am Pfahl, S. 143–144. Zum Hintergrund der Erzählung und ihrer Überlieferung s. Ida Tóth, Fighting with tales: The Byzantine book of Syntipas the Philosopher, in: Carolina Cupane / Bettina Krönung (Hrgg.), Fictional storytelling in the Medieval Eastern Mediterranean and beyond, (8th–15th centuries), Leiden 2016, S. 380–400, hier 387 mit den relevanten Inhaltsangaben. Bisweilen wird auch betont, dass der Esel ungesattelt geritten werden musste: Eusebius, Kirchengeschichte, hrsg. von Eduard Schwartz. Kleine Ausgabe, fünfte Auflage. Unveränderter Nachdr. der zweiten durchges. Auflage, Berlin/Leipzig 1952, S. 255 (cap. 6.40); Logothetenchronik, S. 146 (Wahlgren, app. crit.). Koukoules, Διαπόμπευσις, S. 85–95; Politis, Ὑβριστικὰ Σχήματα, S. 636–637.
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tinos IX. (1042–1055) mit Aufführungen dieser Art vor der Stadtmauer478, aber auch bei der angeblichen Parodie einer Prozession durch die Trinkkumpanen von Michael III. (840–867), die der Verspottung des Patriarchen Ignatios dienen sollte479. Auch in der bildnerischen Kunst wurden Spottszenen durch Darstellung von Musik und Tanz illustriert, vor allem im Rahmen von Passionsszenen480. Die Spottgesänge verfolgten auch den praktischen Zweck, die Vergehen der Verurteilten bekannt zu machen481. Die Verspottung des Usurpators Im Umgang mit Hochverrätern ist die Schandparade bereits in der Spätantike belegt. Dass die Strafe für diesen Zweck als adäquat betrachtet wurde, mag damit zusammenhängen, dass Usurpatoren gegen die herrschende Ordnung ihrer eigenen Gesellschaft verstoßen haben. Sie sind damit typologisch durchaus vergleichbar mit Devianten, welche die Dorfgemeinschaft gefährdeten – etwa durch Ehebruch – und deren Verfehlungen der Gemeinde vorgeführt werden mussten, um die Gültigkeit des bestehenden Wertesystems zu bestätigen. Begünstigt wurde die Anwendung von Schandstrafen für Usurpatoren aber gewiss auch durch die Tradition des römischen Triumphzuges482. Rein sprachlich unterscheidet das byzantinische Griechisch nicht zwischen Schandparade und Triumphzug – beides begegnet zumeist als thriambos oder pompē483 – und in der Tat weisen beide Phänomene Ähnlichkeiten, Bezüge und Überlappungen auf. Beide Rituale waren auch 478 Psellos, Chron. 6.110 (S. 155–156 Reinsch). 479 Theoph. Cont., S. 244–245 (Bekker = 84 Sevčenko); vgl. Jakov N. Ljubarskij, Der Kaiser als Mime. Zum Problem der Gestalt des byzantinischen Kaisers Michael III., in: JÖB 37, 1987, S. 39–50; Tinnefeld, Mimos, S. 330–332; Romilly J. H. Jenkins, Constantine VII’s portrait of Michael III., in: Bulletin de la Classe des Lettres et des Sciences morales et politiques de l’Académie Royale de Belgique. Ser. 5, 34, 1948, S. 71–77, Nachdr. in: Idem, Studies on Byzantine history of the 9th and 10th centuries, London 1970, Nr. I. 480 Henry Maguire, The profane aesthetic in Byzantine art and literature, in: DOP 53, 1999, S. 197– 198 und jüngst Idem, Parodies of Imperial Ceremonial and their Reflexion in Byzantine Art, in: Alexander Beihammer / Stavroula Constantinou / Maria Parani (Hgg.), Court ceremonies and rituals of power in Byzantium and the Medieval Mediterranean. Comparative perspectives (The Medieval Mediterranean 98), Leiden/Boston 2013, S. 415–431, bes. S. 423–426. Dort auch Verweise auf Beispiele für die Verspottung Christi auf Fresken in Kirchen in Prilep, Staro Nagoričino und Thessalonike. Zu letzterem (Hagios Nikolaos Orphanos) s. Karin Kirchhainer, Die Bildausstattung der Nikolauskirche in Thessaloniki. Untersuchungen zu Struktur und Programm der Malereien (Magdeburger Studien zur Kunst und Kulturgeschichte 3). Weimar 2001, S. 195, Abb. 36. Zur Darstellung von Musikern in Verspottungsszenen vgl. auch die Illustration der erwähnten Episode des verspotteten Patriarchen Ignatios im Skylitzes Matritensis, fol. 78v. 481 Alexias 12.6.6 (S. 375 Reinsch/Kambylis). Alternativ konnten auch Ausrufer diesen Zweck erfüllen (Choniates, Hist., S. 131–132 [van Dieten]) bzw. die Verurteilten selbst ihre Verfehlungen kundtun (Theophanes, AM 6305 [S. 501 de Boor]). 482 So auch McCormick, Eternal victory, S. 96. 483 Bzw. in davon abgeleiteten Verbformen. Zur Etymologie und einer Auflistung von weiteren Derivaten bzw. Synonymen vgl. Politis, Ὑβριστικὰ Σχήματα, S. 647–649; Koukoules, Διαπόμπευσις, S. 75–78.
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häufig miteinander verwoben, wenn beispielsweise im Rahmen eines Triumphzuges der jubelnden Menge die gefangenen Feinde oder abgeschlagene Körperteile der gegnerischen Heerführer präsentiert wurden484. Da die verhöhnten Gegner seit dem 4. Jahrhundert vor allem Usurpatoren waren, konnte die byzantinische Rechtspraxis im Untersuchungszeitraum bereits auf eine jahrhundertelange Tradition der Demütigung von Majestätsverbrechern zurückblicken. Als Beispiel für die Verbindung von Triumphzug und Spottparade sei auf die Vorführung der Soldaten des Usurpators Georgios Maniakes verwiesen: Angeführt wurde der Zug von leichtbewaffneten Soldaten, auf die gepanzerte Reiter folgten. Dahinter kamen die gefangenen Rebellen, mit geschorenen Köpfen und ohne Uniform, in loser Ordnung verkehrt auf Eseln reitend. Hinter diesen wurden der Kopf und die Insignien ihres gefallenen Generals getragen. Der siegreiche Feldherr Stephanos Pergamenos und dessen Leibgarde bildeten den Abschluss des Zuges485. Formen der Demütigung Für den Untersuchungszeitraum konnten mehr als zwanzig Erwähnungen von Spottparaden in historiographischen Texten erfasst werden (s. Appendix S 1–24). Berücksichtigt wurden hierbei nur jene Fälle, in denen die Verurteilten lebend dem Spott der Öffentlichkeit ausgesetzt wurden, nicht aber jene Paraden, für die lediglich das Präsentieren von abgetrennten Körperteilen als Trophäen überliefert ist486. Schandparaden unterlagen keinen exakten Vorgaben und waren auch nicht kodifiziert. Dies eröffnete dem Kaiser ein breites Spektrum an Möglichkeiten, um dem geschlagenen Herausforderer seine Ehre zu nehmen. Eine der grundlegenden Techniken des Spottes ist die Inversion von sozialem Status oder Geschlecht der Verurteilten, die zumeist der gesellschaftlichen Elite entstammten. Besonders die Kleidung bot mannigfaltige Möglichkeiten. Die unfreiwilligen Akteure der Parade konnten nackt durch die Stadt getrieben werden, oder in Lumpen ge-
484 Zur Verspottung mitgeführter Gefangener in den Triumphzügen der Antike vgl. Östenberg, Staging the world, S. 128–136, bes. S. 156–159; McCormick, Eternal victory, S. 48, 59–63, 145, 178, 235, 249. S. auch Kapitel 3.1.1. 485 Für die genaue Bescheibung s. oben, S. 179–180 und Appendix S 15; vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 57– 58 (Nr. 61); Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 118–119 (Nr. 70); Kamer, Aristocrats, S. 250–254. Konstantinos V. ließ 762 bulgarische Gefangene in hölzerne Fesseln gelegt durch die Stadt marschieren, bevor sie von den Bürgern außerhalb des Goldenen Tores enthauptet wurden: Theophanes, AM 6254 (S. 433 de Boor); nach der Niederschlagung eines Aufstandes im Armeniakon feierte Konstantin VI. 793 einen triumphalen Einzug in Konstantinopel. Ihm voran schritten seine Gefangenen, denen die Worte „Armeniakischer Verschwörer“ (Ἀρμενιάκος ἐπίβουλος) auf die Stirn geschrieben worden waren: Theophanes, AM 6285 (S. 469 de Boor). Konstantinos VII. feierte nach Siegen gegen die Muslime wiederholt Triumphzüge mit demütigender Präsentation seiner Gefangenen im Hippodrom: McCormick, Eternal victory, S. 159–178. 486 Vgl. Kapitel 3.1.2.
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hüllt ihres Ansehens beraubt werden487. Zu einer speziellen Form von Kleiderwechsel zwang Konstantinos IX. (1042–1055) Theophilos Erotikos, der nach einem vereitelten Putschversuch in Frauenkleidern durch das Hippodrom geführt wurde488. Diese Inversion von Gender begegnet ansonsten vor allem dann, wenn die kriegerische Tapferkeit des Delinquenten in Frage gestellt werden sollte489. Die inszenierte Wegnahme von usurpierten Herrschaftszeichen oder unangemessenen Kleidungsstücken war im Rahmen von Spottparaden hingegen kein Thema – die Verurteilten waren stets schon vor dem Umzug ihrer Ämter enthoben und damit schon vor den Demütigungen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden490. Die Verwendung eines unwürdigen Reittieres eröffnete weitere Optionen, den gesellschaftlichen Fall des – zumeist aristokratischen – Usurpators zu unterstreichen. Wie schon im antiken Griechenland wurde auch in Byzanz hierfür bevorzugt der Esel herangezogen491. Dieser war bei den Byzantinern an sich nicht per se negativ konnotiert. Im Gegenteil schätzte man seine Qualitäten als Reit- und Packtier492. In byzantinischen Büchern zur Traumdeutung ist die Symbolik ambivalent. Während nach dem Oneirokritikon des Propheten Daniel das Sitzen auf einem Esel einem reichen Menschen den Tod, einem Armen Unglück voraussagt und auch Eitelkeit ausdrücken kann493, verheißt dasselbe Bild in anderen Werken Glück und Erfolg494. Eindeutig posi-
487 Theoph. Cont., S. 385 (Bekker); Appendix S 2 (nackt), S 4, S 15, S 21, S 24. 488 Appendix S 14; vgl. Kamer, Aristocrats, S. 256. 489 Weil ein gewisser Kritoplos die ihm anvertraute Festung Rhason/Ražanj an die Serben verlor, ließ Ioannes II. Komnenos ihn in Frauenkleidern auf einem Esel über den Marktplatz führen: Kinnamos 1.5 (S. 12 Meineke). Wegen Feigheit vor dem Feind verurteilte Manuel I. Komnenos den Andronikos Angelos zu einer Spottparade im Hippodrom in Frauenkleidern, verzieh ihm aber schließlich: Choniates, Hist., S. 196 (van Dieten). Skylitzes, S. 444–445 (Thurn) berichtet, dass der Ghaznavidensultan Mahmud (998–1030) fahnenflüchtigen Soldaten eine Parade in Frauenkleidern androhte. Die negative Konnotation der Travestie war offenbar auch ausreichend, dass Andronikos Komnenos 1154/55 sich lieber für einen waghalsigen Fluchtversuch entschied, anstatt sich als Frau verkleidet zu verstecken, um den aufgebrachten Angehörigen seiner Geliebten – und Nichte – Eudokia zu entrinnen, die das Zelt des inzestuösen Paares umstellt hatten: Choniates, Hist., S. 104–105 (van Dieten). Ich danke Michael Grünbart/Münster für diesen Hinweis. 490 Vgl. Kapitel 3.3.4. 491 Vgl. Appendix S 4, S 9, S 11, S 15. Auch im lateinischen Westen wurde der Esel als Reittier für Spottparaden herangezogen (s. unten, Anm. 497, 498 und 502). 492 Klaus Belke, Verkehrsmittel und Reise- bzw. Transportgeschwindigkeiten zu Lande im Byzantinischen Reich, in: Ewald Kislinger / Johannes Koder / Andreas Külzer (Hgg.), Handelsgüter und Verkehrswege. Aspekte der Warenversorgung im östlichen Mittelmeerraum (4. bis 15. Jahrhundert). Akten des Internationalen Symposions Wien, 19.–22. Oktober 2005 (=VTIB 18), S. 45–58, hier 47. 493 Daniel, Traumbuch, S. 80, 388 (Franz Drexl, Das Traumbuch des Propheten Daniel nach dem cod. Vatic. Palat. gr. 319, in: BZ 26, 1926, S. 290–314, hier S. 296, 310). Vergleichbar auch die Aussage eines anonymen Oneirokritikons: „Das Sitzen auf einem schwarzen Esel bedeutet den Tod“, während ein weißer Esel positiv konnotiert ist: Oberhelman, Dreambooks, S. 182. 494 Achmet, Traumbuch 233 (S. 184–185 Drexl) mit der Einschränkung, dass der Esel zahm ist und zügig geht; Manuel Palaiologos, Traumbuch 11 (Traité Onirocritique, in: Anecdota Athenensia I.
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tiv behaftet war hingegen das biblische Bild vom Einzug des Messias auf einem Esel in Jerusalem495. Nach dem Fall Konstantinopels an die Kreuzfahrer bewunderte etwa Niketas Choniates den Patriarchen, der mit einem einfachen Mantel bekleidet auf einem Esel aus der Stadt auszog und der ihm so als wahrer Nachahmer Christi erschien496. Erst die erzwungene Demütigung im rituellen Rahmen der Schandparade macht den Esel zum Symbol der Dummheit und Unwürdigkeit seines Reiters497. Die Inversion – und damit der Spott – konnte noch verstärkt werden, indem das Tier verkehrt498 oder im Damensitz499 geritten werden musste. Dem humoristischen Grundgedanken des verkehrten Rittes war schließlich immer auch die Konnotation des Schlechten, Schändlichen und Bösen zu Eigen500. Gerade auch bei Klerikern501, die wegen Hochverrats verurteilten wurden, bot sich der verkehrte Ritt an, zumal der Esel als in ihren Kreisen übliches Reittier vielleicht kein ausreichendes Maß an Spott und Häme provoziert hätte502.
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499 500 501 502
Textes grecs inédits relatives à l’histoire des religions, ed. Armand Delatte, Liège/Paris 1927, S. 511–524, hier 514); vgl. Oberhelman, Dreambooks, S. 201. Mt 21:1–9; Mk 11:1–10; Joh 12:12–15. Vgl. die Prophezeiung des Ereignisses in Sach 9:9; die Könige David und Salomo ritten auf Maultieren: 1 Kön 1:32–45. Choniates, Hist., S. 593 (van Dieten). Im lateinischen Westen bewegte sich das Symboltier „Esel“ im selben Spannungsfeld zwischen demütiger Bescheidenheit und Dummheit und fand bei öffentlichen Bestrafungen ebenso Anwendung wie bei karnevalesken Inversionsritualen. Auch seine bereits angesprochene phallische Konnotation, die dem Esel bereits in der Antike zugeschrieben wurde, behielt er im Mittelalter bei. Im Westen diente der Esel schließlich sogar als symbolische Darstellung des Teufels selbst. Vgl. Ilaria Taddei, Les rituels de dérision entre les villes toscanes (XIIIe–XIVe siècles), in: Élisabeth Crouzet-Pavan / Jacques Verger (Hgg.), La dérision au Moyen Âge. De la pratique social au rituel politique, Paris 2007, S. 175–189, hier S. 176–177; vgl. im selben Band: Renaud Villard, La queue de l’âne. Dérision du politique et violence en Italie dans la seconde moitié du XVe siècle, S. 205–224, bes. S. 216–219. Verkehrt auf einen Esel (oder ein anderes Tier) gesetzt zu werden, ist vielen Kulturen als Ausdrucksform von Spott bekannt. Beispiele vom 9. bis zum 19. Jahrhundert, von Westeuropa bis Indien (auch Byzanz) finden sich bei Ruth Mellinkoff, Riding backwards. Theme of humiliation and symbol of evil, in: Viator 4, 1973, S. 153–186. Alexias 12.6.5 (S. 374, Z. 21–22 Reinsch/Kambylis): ἐγκαθίσαντες οὐ περιβάδην, ἀλλὰ κατὰ θατέραν πλευρὰν. Zur Verwendung des verkehrten Reiters als Sinnbild des Bösen in der Ikonographie des westlichen Mittelalters vgl. Mellinkoff, Riding backwards, S. 168–172. Eine vergleichbare Studie für die byzantinische Bilderwelt wurde noch nicht unternommen. So die Patriarchen Anastasios (743) und Konstantinos II. (766): Theophanes, AM 6235, 6259 (S. 420–421, 441–442 de Boor). Martin M. Vučetić, Eskalierende Konflikte. Gewalt byzantinischer Kaiser gegen konstantinopolitanische Patriarchen im achten Jahrhundert, in: Michael Grünbart / Lutz Rickelt / Martin M. Vučetić (Hgg.), Zwei Sonnen am Goldenen Horn? Kaiserliche und patriarchale Macht im byzantinischen Mittelalter. Akten der internationalen Tagung vom 3. bis 5. November 2010, Bd. 1 (Byzantinische Studien und Texte 3), Berlin 2011, S. 177–207, hier S. 206, hält schon den Eselsritt allein „für Patriarchen als Bischöfe typisch“. Ich sehe dennoch die Inversion auch der Reitposition für ein nötiges Detail an. Auch im lateinischen Westen kam das Ritual bei der Bestrafung von Gegenpäpsten zur Anwendung: Johannes (XVI.) Philagathos war nach seiner
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Neben dem Esel kamen auch Maultiere, Kamele und Rinder als lächerliche Reittiere in Frage503. Weshalb diese dem Esel fallweise vorgezogen wurden, erschließt sich aus den Quellen in der Regel nicht. Bei der eingangs zitierten Bestrafung der Brüder Anemas stand die Verwendung von Ochsen zweifellos in Zusammenhang mit dem Inhalt des vorgetragenen Spottliedes, in dem die gescheiterten Usurpatoren als „Gehörnte“ (kerasphoroi) bezeichnet werden504. Die Verwendung eines Kamels bei der Spottparade von Andronikos I. (1185) soll nach Robert von Clari auf einen spontanen Einfall eines der Organisatoren des Umzuges zurückzuführen sein, der sich eines besonders räudigen Exemplars erinnerte, das er für passend hielt505. Einzigartig ist der Fall des prōtosebastos Alexios Komnenos, der offenbar eine Art Pony (ἵππῳ βραχυτάτῳ) reiten musste, während ihm eine Standarte vorangetragen wurde506. Die Inversion konnte jedoch noch in größeren Dimensionen betrieben werden. So lässt sich die eingangs zitierte Spottparade für Michael Anemas und seine Unterstützer als Umkehrung eines triumphalen Einzuges des Kaisers interpretieren. Die einzelnen Elemente der Schandparade, deren symbolische Bedeutung an sich nicht festgelegt ist, werden durch ihre räumliche und zeitliche Anordnung zu grotesken Pendants kaiserlicher Prärogative. Der vom Usurpator angestrebte Statuswechsel wird somit ad absurdum geführt (Tabelle 10).
Blendung und der Amputation von Ohren, Nase und Zunge im Jahre 998 dazu verurteilt worden, verkehrt auf einem Esel sitzend durch Rom zu reiten. Als zusätzliche Inversion war das Innere seines Gewandes nach außen gekehrt: Le Liber Pontificalis. Texte, Introduction et Commentaire par Louis Duchesne, 2 Bde., Paris 1886–1892, Nachdr. Paris 1981, Bd. 2, S. 261–262; vgl. den Augenzeugenbericht in einem Brief Leons von Synada, in: Jean Darrouzès, Épistoliers byzantins du Xe siècle, Paris 1960, S. 165–166. Im Jahre 1121 musste der Gegenpapst Burdinus (Gregor VIII.) verkehrt auf einem Kamel reitend und in ein blutbeflecktes Bocksfell gekleidet in Rom einziehen: Lib. Pont. II 347–348 (Duchesne). Vgl. Johannes Laudage, Rom und das Papsttum im frühen 12. Jahrhundert, in: Klaus Hebers (Hg.), Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Beiträge zu Ehren von Werner Goez, Stuttgart 2001, S. 23–53, hier S. 34; Klaus Schreiner, Gregor VIII., nackt auf einem Esel. Entehrende Entblößung und schandbares Reiten im Spiegel einer Miniatur der ‚Sächsischen Weltchronik‘, in: Dieter Berg / Hans Werner Goetz (Hgg.), Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter; Festschrift für Franz-Josef Schmale zu seinem 65. Geburtstag, Bochum 21989, S. 151–204. 503 Koukoules, Διαπόμπευσις, S. 88; Appendix S 6, S 13, S 18 (Maultier), S 21 (Rind), S 24 (Kamel). 504 Alexias 12.6.5 (S. 375 Reinsch/Kambylis). Die Gleichsetzung eines Usurpators mit einem Rindvieh begegnet im Übrigen in anderer Gestalt auch beim Putschversuch des Gregorios Taronites (1040, vgl. Cheynet, Pouvoir 51 [Nr. 49]; Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 114 [Nr. 67].): Dieser war nach seiner Verhaftung in eine frische Ochsenhaut (ὠμῇ βύρσῃ βοὸς) eingenäht worden. Nur eine kleine Gesichtsöffnung freigelassen. Solcherart wurde er an den Regenten Ioannes Orphanotrophos geschickt. Eine öffentliche Zurschaustellung wird nicht erwähnt (Skylitzes, S. 412 [Thurn]). Mir ist aus der byzantinischen Geschichte keine Parallele für diese Praxis bekannt. 505 Robert von Clari 25 (S. 58–60 Markov). In frühbyzantinischer Zeit begegnen Kamele noch häufiger: Koukoules, Διαπόμπευσις, S. 88; McCormick, Eternal victory, S. 50, Anm. 62. S. auch Appendix S 24. 506 S. Appendix S 23; Vgl. Beihammer, Succession, S. 183.
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Tab. 10 Die Schandparade des Michael Anemas als Parodie eines Triumphzuges Triumphzug
Schandparade
Route: zum Palast hin
Route: vom Palast zum Richtort
Zeremonielle Prunkkleidung
Einkleidung in Säcke
Krone, Toupha
Schur, „Krönung“ mit Eingeweiden
Reiten eines Schimmels
Reiten eines Ochsen (im Damensitz)
Höflinge, Beamte, Soldaten
Ordnungshüter und Schauspieler
Akklamationen, Jubelchöre
Spottlieder
Ob auch andere Schandparaden ebenso als elaborierte Parodien kaiserlicher Rituale konzipiert oder wahrgenommen wurden, muss offenbleiben, da die meisten Berichte kaum Details preisgeben507. Eine ähnliche Parallele zieht aber zumindest auch Niketas Choniates angesichts des gescheiterten Usurpationsversuchs von Alexios Branas (1186/87), dessen Kopf und Fuß auf einem Speer aufgespießt über die Mesē getragen wurde. Einem zynischen Gerücht zufolge hatte ein Sterndeuter dem Rebellen zuvor einen triumphalen Einzug in die Stadt prophezeit und gewissermaßen Recht behalten508. Die Rituale der Inversion konnten so weit gehen, dass sie dem Verurteilten seine Menschlichkeit absprachen. Hierbei spielten vor allem entstellende Leibesstrafen eine Rolle, die vor dem Umzug exekutiert wurden509. Die Entmenschlichung des Delinquenten sollte nicht zuletzt auch den beteiligten Zuschauern etwaige Skrupel und Mitleid nehmen, gerade auch dann, wenn am Ende der Spottparade die Hinrichtung des Verurteilten stand510. Ein eindrückliches, allerdings auch singuläres Beispiel die-
507 Nach Theophanes, AM 6093 (S. 283 de Boor) hatten Unzufriedene Bürger Kaiser Maurikios während einer nächtlichen Prozession angegriffen und ihn im Anschluss verspottet, indem sie einen Mann, der ihm ähnelte, mit einem Knoblauchkranz krönten, auf einen Esel setzten und ein Spottgedicht vortrugen. Vgl. Simokattes 8.4.12–13 (S. 291 de Boor). Die Parodie von Prozessionen war in Byzanz allgemein beliebt. Vgl. Magdalino, Dérision, S. 56. 508 Choniates, Hist., S. 388 (van Dieten). S. auch oben, S. 197. 509 Theoph. Cont., S. 397, 441 (Bekker); Attaleiates, S. 225 (Tsolakes); Choniates, Hist., S. 349 (van Dieten). S. Appendix S 24. 510 Die Entmenschlichung von Delinquenten, die einer öffentlichen Exekution zugeführt werden sollen, ist ein häufiges Phänomen. Das Opfer wird sozusagen auf seine fleischliche Materie reduziert und einem Schlachttier angeglichen, entweder schon bevor die Exekution stattfindet oder danach, beispielsweise durch Enthauptung, bevor dem Leichnam weitere Schändungen widerfahren. Vgl. Villard, Queue de l’âne, S. 219–220: „Par son jeu de travestissements, la dérision politique déshumanise, ou à tout le moins déchristianise: La dérision politique entend donc souligner la perte d’humainté de la personne visée, sa transformation monstrueuse en non-chrétien et nonhomme … En effet, la dérision, en disant l’inhumain, transforme un corps sans âme en viande de boucherie.“
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ser Praxis ist die Exekution von Andronikos I. im Jahre 1185511: Nachdem der gestürzte Kaiser auf der Flucht aufgegriffen worden war, wurde er im so genannten Turm des Anemas in Ketten gelegt. Danach brachte man ihn vor Kaiser Isaakios II., schlug ihm ins Gesicht, trat ihm ins Gesäß, riss ihm Bart und Zähne aus und schor sein Haupthaar. Frauen, deren Männer er töten oder blenden hatte lassen, versetzten ihm Faustschläge. Mit einer Axt schlug man dann ihm die rechte Hand ab und inhaftierte ihn erneut im Turm des Anemas. Nach einigen Tagen wurde eines seiner Augen ausgestochen und auf einem räudigen Kamel sitzend512 führte man ihn im Spott über die Mesē. Er wirkte insgesamt wie ein laubloser alter Strunk, sein unbedeckter Kopf kahler als ein Ei. Den Körper in einen ärmlichen Lumpen gehüllt, bot er einen bemitleidenswerten Anblick und nötigte sanftmütigen Augen Ströme von Tränen ab. … Die einen schlugen ihm mit Knüppeln auf den Kopf, andere beschmutzten seine Nasenlöcher mit Kuhdung. Wieder andere drückten Schwämme mit Ausscheidungen von Ochsen und Menschen über seinen Augen aus. Andere beschimpften fluchend seine Mutter und seine übrigen Vorfahren. Es gab welche, die ihm mit Spießen in seine Rippen stachen. Die Unverschämteren bewarfen ihn mit Steinen und nannten ihn einen tollwütigen Hund. Eine zügellose Hure griff sich einen Tonkrug mit heißem Wasser vom Herd und leerte ihn über seinem Gesicht. Und es gab niemanden, der Andronikos nichts Böses antat513
Im Hippodrom hängte man ihn an den Beinen zwischen zwei Säulen auf und der Pöbel entblößte seine Genitalien. Ein Lateiner stieß ihm sein Schwert in den Rachen, andere hieben mit ihren Klingen von oben auf ihn ein. Erst nach diesen Qualen hauchte der gestürzte Kaiser sein Leben aus514.
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Choniates, Hist., S. 349–351 (van Dieten). Vgl. Cognasso, Partiti, S. 316–317; Brand, Byzantium, S. 72–73; Jurewicz, Andronikos, S. 118–119 (mit einer Reihe von Ungenauigkeiten). S. auch Appendix S 24. 512 Robert von Clari 25 (S. 58–60 Markov) präzisiert, dass Andronikos verkehrt auf das Kamel gebunden worden sei. 513 Choniates, Hist., S. 350 (van Dieten): Μεθ’ ἡμέρας δέ τινας καὶ τὸν ἕτερον τῶν ὀφθαλμῶν ἐξορύττεται καὶ καθεσθεὶς ἐπὶ καμήλου ψωριώσης διὰ τῆς ἀγορᾶς θριαμβεύεται, κατὰ γεράνδρυον ἄφυλλον ᾠοῦ ψιλότερον ἀκαλυφές τε παντάπασι κρανίον προφαίνων καὶ βραχεῖ ῥακίῳ τὸ σῶμα σκεπόμενος, θέαμα ἐλεεινὸν καὶ πηγὰς ἐθέλον δακρύων ἡμέροις ὄμμασιν. … οἱ μὲν γὰρ κατὰ κεφαλῆς κορύναις αὐτὸν ἔπληττον, οἱ δὲ βολβίτοις τὰς ἐκείνου ῥῖνας ἐμόλυνον, ἄλλοι διὰ σπόγγων λύματα γαστέρων βοείων καὶ ἀνθρωπείων τῶν ὄψεων ἐκείνου κατέχεον. ἕτεροι αἰσχρορρημονοῦντες ἐκακολόγουν ἐς μητέρα καὶ τὸν λοιπὸν τῶν τοκέων. ἦσαν οἳ καὶ ὀβελίσκοις ἔπειρον αὐτοῦ τὰς πλευράς. οἱ δ’ ἀναιδέστεροι λιθολευστοῦντες κύνα ὠνόμαζον λυσσητῆρα. μία δέ τις πορνικὴ γυνὴ καὶ ἀκόλαστος κεράμιον θερμοῦ ὕδατος πλῆρες ἁρπασαμένη ἐξ ὀπτανείου τῶν ἐκείνου κατεκένωσε παρειῶν. καὶ οὐδεὶς ἦν, ὃς οὐκ ἦν ἐπ’ Ἀνδρονίκῳ κακοποιός. 514 Choniates, Hist., S. 350–351 (van Dieten). Zur Hinrichtung s. auch Peter Schreiner, Stadt und Gesetz – Dorf und Brauch. Versuch einer historischen Volkskunde von Byzanz: Methoden, Quellen, Gegenstände, Beispiele (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, Jahrgang 9), Göttingen 2001, S. 633–634.
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Grundsätzlich weist die Spottparade des Andronikos durchwegs bekannte Elemente auf: Die demütigende Schur (bzw. das Versengen) von Haupthaar und Bart515 sowie öffentlich vollstreckte Prügelstrafen516 oder auch das Behängen des Verurteilten mit Eingeweiden oder Unrat517 waren stets beliebte Strategien der Demütigung gewesen, und auch Amputationen oder Blendungen fanden bisweilen vor Schandparaden statt518. In ihrer Brutalität und in ihrem letalen Ausgang ist die Bestrafung des Andronikos jedoch singulär. Sie wird daher an späterer Stelle nochmals ausführlicher zu behandeln sein519. Raum und Bewegung Sollten Spottparaden ihren Zweck erfüllen, mussten sie zwangsläufig im öffentlichen Raum stattfinden. Schon in der antiken Polis wurden Schandstrafen zumeist auf Straßen oder Plätzen vollstreckt, um möglichst viele Zuseher zu erreichen520. Auch in byzantinischer Zeit wurde diese Praxis beibehalten. Bei der öffentlichen Demütigung und Bestrafung von Usurpatoren lässt sich ab dem 5. Jahrhundert aber die Tendenz erkennen, dass zunehmend auch das Hippodrom als Bühne herangezogen wurde521. Für Rituale des Spotts war das Hippodrom eine geradezu logische Wahl, nicht nur weil es eine große Zuschauermenge fassen konnte, sondern vor allem auch aufgrund seines völlig profanen Charakters522. Weder seine bauliche Ausstattung523 noch seine Nutzung waren religiös konnotiert, Mönchen und Klerikern war der Zutritt zur Rennbahn sogar verwehrt524, die Rennen selbst wurden wiederholt von kirchlicher Seite verteufelt525. Dafür diente das Hippodrom Schauspielern und Akrobaten als Bühne526. Spott war Sache der Laien und das Hippodrom ihre rituelle Hochburg. Seine Bedeutung als Interaktionsraum zwischen Kaiser und Volk behielt das Hippo-
515 S. Appendix S 2, S 3, S 8, S 15, S 21, S 22, S 24. Vgl. Kapitel 3.3.1. 516 S. Appendix S 2, S 3, S 4, S 7, S 8, S 12, S 24. 517 S. Appendix S S 15, S 21. 518 Leon Kladon und seinen Mitverschwörern (947) waren die Nasen und Ohren abgeschnitten worden: Appendix S 9. 519 S. unten, S. 331–334. 520 Schmitz, Nachbarschaft, S. 404–405. 521 In dieser Zeit gewann das Hippodrom überhaupt an medialer Bedeutung, sei es bei Triumphzügen (McCormick, Eternal victory, S. 59–79), sei es bei Inthronisationen (Treitinger, Kaiseridee, S. 7–16; Dagron, Emperor and priest, S. 59–83; Trampedach, Kaiserwechsel, S. 280–286). 522 Magdalino, Dérision, S. 70. 523 Sarah Guberti Bassett, The antiquities in the hippodrome of Constantinople, in: DOP 45, 1991, S. 87–96; Janin, Constantinople, S. 189–194. 524 So Kanon 24 des Quinisext (691): Μὴ ἐξέστω τινὶ τῶν ἐν ἱερατικῷ καταλεγομένων τάγματι, ἢ μοναχῶν, ἐν ἱπποδρομίαις ἀνιέναι, ἢ θυμελικῶν παιγνίων ἀνέχεσθαι· (Rhalles-Potles, Bd. 2, S. 356). Vgl. auch Kanon 51 (Verbot der μίμους καὶ τὰ τούτων θέατρα). 525 Dagron, Hippodrome, S. 253–259, 276–295. 526 Tinnefeld, Mimos, S. 329–330, 335.
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drom in jedem Fall bis zum 11. Jahrhundert bei527, doch fällt auf, dass der Zirkus im Untersuchungszeitraum als Ort für Schandparaden kaum noch Verwendung findet528. Von Basileios Peteinos und seinen Mitverschwörern wird berichtet, dass sie am Tag der Rennen in einem Spottzug herumgeführt wurden (960/61)529. Theophilos Erotikos (1042) wurde im Hippodrom in Frauenkleidern vorgeführt530. Der Zurschaustellung bulgarischer Kriegsgefangener im Jahre 1040 im Zirkus war bereits eine Parade durch die Stadt vorausgegangen531. Abgesehen von diesen Einzelfällen fand das Spektakel zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert zumeist im uneingeschränkt öffentlichen städtischen Raum der Hauptstraße (Mesē) statt532. Die Beschreibungen der Route sind zumeist nicht genau genug, als dass sich der Weg genau rekonstruieren ließe. Michael V. (1041–1042) und sein Onkel Konstantinos hatten sich angesichts eines Aufstandes ins Studioskloster geflüchtet. Beide wurden nach ihrer Kapitulation unter Spottgesängen auf Maultieren abtransportiert. Am Sigma-Platz angekommen, ereilte den Zug der Befehl, dass Michael und sein Onkel geblendet werden sollten533. Falls die Spottparade danach weitergeführt wurde, folgte sie ohne Zweifel dem weiteren Verlauf der Mesē stadteinwärts bis zum Großen Palast. Weniger spontan organisierte Schandparaden konnten über relativ weite Strecken verlaufen. Der Zug der Brüder Anemas führte von einem Hof
527 McCormick, Eternal victory, S. 159–178, Dagron, Hippodrome, bes. S. 201–251. 528 Diese Entwicklung steht aber offenbar nicht in Bezug zur Nutzung des Hippodroms für sportliche Wettkämpfe. Wagenrennen sind vor allem im 10. Jahrhundert mehrfach bezeugt, während ihre Zahl im Lauf des 11. Jahrhunderts kontinuierlich abnimmt. Vgl. Guilland, Courses, bes. S. 542– 543. 529 S. Appendix S 10; vgl. Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 80 (Nr. 36). 530 S. Appendix S 13; vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 56 (Nr. 59); Bourdara, Καθοσίωσις I, S. 119–120 (Nr. 71). 531 Psellos, Chron. 4.50 (S. 77, Z. 7–10 Reinsch): Καὶ οὕτως δὴ ἀποκομισθεὶς εἰς τὰ ἀνάκτορα, θρίαμβον κατάγει λαμπρὸν, ἐπὶ μέσου θεάτρου τοὺς αἰχμαλώτους διαβιβάσας· καὶ δείξας Ῥωμαίοις, ὅτι προθυμία νεκροὺς ἀνίστησι· καὶ ὁ περὶ τὰ καλὰ ζῆλος, τὴν τοῦ σώματος ἀτονίαν νικᾷ. 532 Eine parallele Entwicklung hat bereits McCormick (Eternal victory, S. 185–186) bei Triumphzügen festgestellt. Die Mesē wird in den Quellen nur selten als solche bezeichnet, jedoch sind Umschreibungen wie διὰ μέσης τῆς λεωφόρου (Skylitzes, S. 377, Z. 2 [Thurn]), διὰ μέσης τῆς Πλατείας (Skylitzes, S. 428, Z. 95 [Thurn]) oder διὰ μέσης τῆς πόλεως (Theoph. Cont., S. 441, Z. 9 [Bekker]) bzw. μέσον τῆς πόλεως (Georg. Mon. Cont., S. 923, Z. 11–12 [Bekker]) eindeutig auf die Hauptstraße zu beziehen. Auch die häufig benutzte Wendung διὰ τῆς ἀγορᾶς (Skylitzes, S. 338, Z. 35; 430, Z. 33–34; 442, Z. 84 [Thurn]; Alexias 12.7.4 [377, Z. 25 Reinsch/Kambylis]; Choniates, S. 349, Z. 11 [van Dieten]) beschreibt die Mesē, genauer gesagt ihren mit Kolonnaden gesäumten Abschnitt. Guilland, Topographie II, S. 72–76; Marlia Mundell-Mango, The porticoed street at Constantinople, in: Nevra Necipoǧlu (Hg.), Byzantine Constantinople: Monuments, topography and everyday life (The Medieval Mediterranean 33), Leiden/Boston/ Köln 2001, S. 29–51. 533 Psellos, Chron 5.47 (S. 104 Reinsch). Laut Skylitzes, S. 420 (Thurn) schleifte sie der Pöbel an den Beinen dorthin, während sie nach Attaleiates, S. 13–14 (Tsolakes) auf schäbigen Maultieren geführt wurden. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 54–55 (Nr. 56); Bourdara, Kαθοσίωσις I, S. 115–117 (Nr. 68). S. Appendix S 13.
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des Großen Palastes bis zum Forum Amastrianon, was einer Distanz von etwa zwei Kilometern entspricht534. Der gestürzte Kaiser Andronikos I. wurde 1185 vom Blachernenpalast über die Mesē ins Hippodrom geführt, durchquerte also beinahe die gesamte Stadt auf einem heruntergekommenen Kamel, bevor er hingerichtet wurde535. Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass sich die Parade zwar in jedem Fall auf einem Stück der Hauptstraße abzuspielen hatte, doch stand die Wahl von Beginn, Ende und Richtung der Route offenbar frei. Dennoch lassen sich einige raumbezogene Konstanten der Spottparade in Byzanz erkennen. Zu diesen gehörte zunächst die Bewegung selbst: Umzüge wurden statisch aufgeführten Demütigungen – etwa dem Stehen an einem Pranger – vorgezogen. Ein Minimum an Bewegung blieb auch dann erhalten, wenn das Hippodrom als Bühne verwendet wurde. Maßgeblich hierfür mag die ästhetische Tradition von Triumphzügen und vor allem Prozessionen gewesen sein536. Begünstigt wurde diese gewiss auch durch die Topographie Konstantinopels: Das Leben der Stadt hing nicht von einem Herzen in Form eines zentralen Hauptplatzes ab, sondern vielmehr von einer pulsierenden Arterie in Gestalt der Mesē. Unabhängig davon, ob der Zug im Hippodrom oder auf der Hauptstraße stattfand – als ritueller Raum diente stets die Domäne des Volkes, denn Spott war den Laien vorbehalten. Kleriker und Mönche, aber auch der Kaiser, sollten sich hingegen nicht dazu hinreißen lassen537. Die Bestrafung oblag der Stadtbevölkerung. Diese Mentalität schloss die physische Beteiligung dieser Akteure bei öffentlichen Demütigungen ebenso aus, wie die Verwendung kirchlicher Räume und der Paläste538.
534 Alexias 12.6.5–6 (S. 374 Reinsch/Kambylis). Das Amastrianon diente als traditioneller Richtplatz. Janin, Constantinople, S. 68–69. Vgl. Kapitel 3.2.1. 535 Choniates, Hist., S. 349–351 (van Dieten); vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 119 (Nr. 163). 536 Zu diesem Thema vgl. Guilland, Topographie, Bd. 2, S. 217–248; Albrecht Berger, Imperial and ecclesiastical processions in Constantinople, in: Nevra Necipoǧlu (Hg.), Byzantine Constantinople: Monuments, topography and everyday life (The Medieval Mediterranean 33), Leiden/Boston/Köln 2001, S. 73–87. Eine besonders detailreiche Schilderung einer Prozession eines Statthalters von Thessalonike zur Demetrioskirche (12. Jh.) ist überliefert in Timarion 6–10 (Pseudo – Luciano, Timarione. Testo critico, introduzione, traduzione, commentario e lessico, a cura di Roberto Romano [Byzantina et Neo-Hellenica Neapolitana 11], Neapel 1974, S. 54–59, Übersetzung S. 96–99); vgl. hierzu Margaret Alexiou, Literary subversion and the aristocracy in twelfth-century Byzantium: A stylistic analysis of the Timarion (ch. 6–10), in: BMGS 8, 1982/83, S. 29–45, bes. S. 36–40. 537 Magdalino, Dérision, S. 64, 69. Der spottende, zynische Kaiser ist ein beliebtes Angriffsziel byzantinischer Herrscherkritik, s. etwa Theoph. Cont., S. 244–245 (Bekker = 84 Sevčenko); Prokop, Anekdota 15 (S. 97–99 Haury/Wirth). Zum Widerspruch zwischen Herrschaft und Lachen/Spott vgl. Villard, Queue de l’âne, S. 205. 538 In einer Grauzone bewegt sich die calcatio colli, bei der der Kaiser seinen Fuß in den Nacken eines unterworfenen Gegners stellt. Diese Inszenierung sollte jedoch die maiestas des Kaisers und nicht dessen Schadenfreude und Spott zum Ausdruck bringen. Zur calcatio in Byzanz vgl. Franz Josef Dölger, Der Fuß des Siegers auf dem Kopf des Besiegten: Die Siegerstellung Amors, in: Antike und Christentum 3, 1932, S. 278–284; McCormick, Eternal victory, S. 144, Anm. 46.
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Konsequenzen der Parade Die einzelnen Elemente der Schandparade blieben über Jahrhunderte weitgehend konstant, doch veränderten sich im Laufe der Zeit die Konsequenzen für die betroffenen Usurpatoren. In der Spätantike wurden Hochverräter oft noch vor dem Umzug hingerichtet und ihre Köpfe auf Stangen mitgetragen539 und noch im 7. Jahrhundert diente die Verspottung des Verlierers häufig lediglich als Präludium zu dessen Hinrichtung540. Mit der ab dem 10. und verstärkt ab dem 11. Jahrhundert erkennbaren rückläufigen Tendenz von Leibesstrafen und Hinrichtungen541, endeten auch die Spottparaden zumeist nur noch mit der Verbannung oder Klosterhaft des Delinquenten542. Das Exil kann ohnehin als die „natürlichste“ Konsequenz des Rituals betrachtet werden. Die Botschaft des Zuges bestand schließlich darin, den sozialen Status des Devianten aufzulösen und rituell aus der Gemeinschaft auszuschließen. Rechtfertigte die Schwere des Vergehens eine endgültige Exklusion, so machte dies zumeist nicht nur eine symbolische, sondern auch eine physische Entfernung des Verurteilten notwendig. Zu einer völligen Rehabilitation kam es in Fällen von Majestätsbeleidigungen nur sehr selten. Erwähnt sei hier der Patriarch Anastasios, der von Konstantinos V. (741–775) erneut in sein Amt eingesetzt wurde, nachdem er im Hippodrom öffentlich geschlagen und verkehrt auf einem Esel reitend herumgeführt worden war543. Nach einer Spottparade (960/61) und einiger Zeit in der Verbannung wurden auch die Mitverschwörer des Basileios Peteinos begnadigt; nur der Rädelsführer selbst blieb nach seiner Zwangstonsur in Klosterhaft544. Nikephoros III. Botaneiates (1078–1081) zeigte sich weniger gnädig und ließ Nikephoros Bryennios blenden, bevor er ihn und seine Mitverschwörer dem öffentlichen Spott preisgab. Die Schandparade nützte der Kaiser zur Demonstration seiner philanthrōpia, indem er auf die ursprünglich geplante Todesstrafe verzichtete. Wenige der Verurteilten wurden enteignet, Bryennios schlussendlich vollständig rehabilitiert545.
539 McCormick, Eternal victory, S. 59–63; vgl. auch Kapitel 3.1.2 und allgemein Voisin, Chasseurs de tétes. 540 McCormick, Eternal victory, S. 71–73. Die Konsequenzen einer Verspottung konnten je nach Gesellschaft stark variieren. Reicht der bloße Gesichtsverlust nicht aus, stellt eine Spottparade häufig nur das Vorspiel für eine Hinrichtung dar. Vgl. Gilles Lecuppre, Le roi et le singe couronné, in: Élisabeth Crouzet-Pavan –Jacques Verger (Hgg.), La dérision au Moyen Âge. De la pratique social au rituel politique, Paris 2007, S. 163–173, besonders 168, mit Beispielen aus dem Königreich Frankreich (13./14. Jahrhundert). 541 Hierzu s. oben, S. 216–221. 542 S. Appendix S 1–9, S 11, S 12, S 13, S 14, S 18, S 19, S 20, S 23. In fünf Fällen wurde immerhin zusätzlich eine Blendung zumindest der Hauptverschwörer ausgesprochen S. Appendix S 5, S 13, S 16, S 19. 543 Theophanes, AM 6235 (S. 420–421 de Boor). Zur Datierung s. Warren Treadgold, The missing year in the revolt of Artavasdus, in: JÖB 42, 1992, S. 87–93; vgl. Vučetić, Konflikte. 544 Skylitzes, S. 250–251 (Thurn). S. Appendix S 10. 545 S. Appendix S 19 und oben 182. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 83 (Nr. 104).
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In gewisser Weise scheint dieses Vorgehen richtungsweisend für die Politik von Alexios I. (1081–1118) Komnenos gewesen zu sein, unter dem die Inszenierung kaiserlicher Gnade ihren Höhepunkt erreichte546. So ahndete der Komnene die Rebellion des Franken Konstantinos Humbertopulos und des Armeniers Ariebes (1091) lediglich mit Konfiskation ihrer Güter und einer Schandparade. Beide mussten außerdem in die Verbannung547, aus der zumindest Humbertopulos bald zurückgeholt wurde und Alexios erneut als Feldherr diente548. Eine solche Begnadigung und Zurschaustellung kaiserlicher Philanthropie setzte Alexios noch zwei weitere Male (Michael Anemas 1100/1549, Gregorios Taronites 1105/6550) publikumswirksam in Szene: Die Verurteilten sollten im Rahmen einer Spottparade zu ihrer vermeintlichen Blendung geführt werden, die der Kaiser auf Drängen von Fürsprechern für die Delinquenten in beiden Fällen zurücknahm und auf eine vorübergehende Inhaftierung reduzierte. Die Aufwertung der Spottparade unter Alexios I. steht ohne Zweifel mit der seit der Mitte des 11. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnenden Kaisertugend der philanthrōpia in Zusammenhang. Der moralische Selbst- und Fremdanspruch ans Kaisertum schränkte die Möglichkeiten der Bestrafung ein und verschob den Fokus von Leibes- auf Ehrenstrafen551. Eventuell gewann in dieser Zeit der „Aristokratisierung“ der byzantinischen Elite, aber auch die Familienehre als symbolisches Kapital in einem Maße an Bedeutung, dass ihr Verlust nunmehr schwerer wog. Immerhin hatte sich die Macht der dynatoi seit dem 10. Jahrhundert – und speziell ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts – in Politik, Heer und Wirtschaft massiv gesteigert und das Wohl und der Ruf des eigenen Hauses (oikos) war zum zentralen Anliegen der byzantinischen Aristokraten geworden552. So zielen etwa viele Ratschläge im Strategikon des Kekaumenos 546 Zur milden Bestrafungspraxis Alexios’ I. vgl. Bourdara, Έγκλημα καθοσιώσεως, S. 212–216, 227– 228; Leib, Complots, S. 274. S. auch oben, S. 222–224. 547 S. Appendix S 20; vgl. Skoulatos, Personnages, S. 28–29 (Ariebes), S. 68–71 (Humbertopoulos); Leib, Complots, S. 252; Bourdara, Έγκλημα Καθοσιώσεως, S. 213; Chalandon, Les Comnène, Bd. 1, S. 139. 548 Alexias 10.2.6 (S. 286 Reinsch/Kambylis). 549 Alexias 12.6.5–9 (S. 374–376 Reinsch/Kambylis); Cheynet, Pouvoir, S. 101 (Nr. 130); Leib, Complots, S. 266–269; Bourdara, Έγκλημα Καθοσιώσεως, S. 215; Chalandon, Les Comnène, Bd. 1, S. 240–241. S. oben, S. 261–262 und Appendix S 20. 550 Alexias 12.7.4 (S. 377–378, Z. 24–26 Reinsch/Kambylis): Μετὰ δὲ τρίτην ἡμέραν, τὴν ἐν χρῷ κουρείαν κειράμενον τὴν κεφαλήν τε καὶ τὸν πώγωνα διὰ μέσης περιαχθῆναι τῆς ἀγορᾶς ἐκέλευσε, κᾷθ’ οὕτως εἰς τὸν ἤδη ῥηθέντα πύργον τοῦ Ἀνεμᾶ εἰσαχθῆναι. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 101 (Nr. 131); Skoulatos, Personnages, S. 116–118 (Gregorios Taronites); Leib, Complots, S. 269– 270; Bourdara, Έγκλημα Καθοσιώσεως, S. 215–216; Chalandon, Les Comnène, Bd. 1, S. 241– 242. S. auch Appendix S 21. 551 Vgl. Kapitel 3.3. 552 Kazhdan/Ronchey, Aristocrazia, S. 139–148; Kamer, Aristocracy, S. 298–376; Mischa Meier, Aristokratie(n) in Byzanz – ein Überblick, in: Hans Beck / Peter Scholz / Uwe Walter (Hgg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ‚edler‘ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit (HZ Beihefte, N. F. 47), München 2008, S. 277–300, hier S. 189–191; zum oikos als soziale Einheit vgl. Magdalino, Oikos, bes. S. 96–97.
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darauf ab, die Ehre der eigenen Person und des oikos zu wahren, da jede Bewegung im öffentlichen Raum die Gefahr birgt, zum Objekt von Spott und Gerüchten zu werden. Wiederholt wird davor gewarnt, dass bereits das kleinste Fehlverhalten oder eine falsche Antwort zum Verlust von Ehre führen könne553. Die rituelle Demütigung vor den Augen der gesamten Stadt traf zweifellos nicht nur den Delinquenten selbst, sondern das Ansehen seiner gesamten Familie554. Aus der Perspektive des Kaisers wiederum war eine Rüge mit anschließender Begnadigung zudem eine ökonomischere Lösung als blindwütige Rache, zumal die dynatoi wichtige Funktionen in Verwaltung und Militär erfüllten555. Wirkungsweise und Effizienz des Rituals Die Langlebigkeit und Beliebtheit der Schandparade erklärt sich wohl vor allem aus der Ökonomie des Rituals. Bei überschaubarem organisatorischem Aufwand konnte es eine Vielzahl von Botschaften vermitteln556. Zunächst ist der Unterhaltungswert zu berücksichtigen. Wenn Anna Komnene berichtet, Jung und Alt sei zur Spottparade der Anemas-Brüder und ihrer Mitverschwörer zusammengeströmt557, so illustriert dies das große Interesse, mit dem die Einwohner Konstantinopels Ereignisse dieser Art verfolgten. Egal ob Sensationslust, Schadenfreude oder bloße Langeweile die Schaulustigen zum Spektakel trieb – das Ritual einte sie zu einer homogenen Gruppe, die sich bisweilen akustisch oder handgreiflich, in jedem Fall aber durch bloße Präsenz, an der Verspottung des Delinquenten beteiligt. Das Publikum wurde zwar kurzfristig Teil der verkehrten Welt, die vor seinen Augen in Szene gesetzt wird, doch verkörperte es dabei die Werte der geordneten Gesellschaft und durfte mit dieser Berechtigung jene rügen, welche diese zu unter553 Paul Magdalino, Honour among Romaioi: the framework of social values in the world of Digenis Akrites and Kekaumenos, in: BMGS 13, 1989, S. 183–218, bes. S. 201–208. Abgesehen von der Untersuchung von Magdalino sind Begriff und Wirkmacht der Ehre für die byzantinische Kultur noch unzureichend erforscht. Für den lateinischen Kulturkreis s.: Klaus Schreiner / Gerd Schwerhoff (Hgg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1995, darin besonders die Beiträge von Klaus Schreiner / Gerd Schwerhoff, Verletzte Ehre – Überlegungen zu einem Forschungskonzept, 1–28 sowie Martin Dinges, Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptualisierung, S. 29–62. 554 McCormick, Eternal victory, S. 186: „By their content and character, usurpation celebrations provide a counterproof to the positive evidence of the aristocracy’s desire to be seen in honorable positions in honorable parades. The humiliation of appearing in public, shaved and defiled, riding backward on an ass, must have been an extraordinary one for the scions of the great families of Byzantium since, on more than one occasion, it replaced the death penalty.“ 555 Das von McCormick (Eternal victory, S. 187) postulierte „right to resistance“ der Aristokratie, kann ich nicht nachvollziehen. 556 Vgl. Dücker, Rituale, S. 102–108 zur Ökonomie von Ritualen im Vergleich zu anderen Handlungsformen. 557 Alexias 12.6.5–6 (S. 374–375 Reinsch/Kambylis): ἅπασα μὲν οὖν ἡλικία ἐς τὴν τοιαύτην θέαν συνέτρεχεν
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wandern versuchten. Das Böse, das die etablierte Ordnung gefährdete, wurde ausgestoßen und lächerlich gemacht, um an Schrecken zu verlieren. Dieses demonstrative Bewahren des status quo wiederum stärkte die Position der Ritualmacher, in diesem Fall jene des siegreich verbliebenen Kaisers558. Erfolgte die Schandparade im Rahmen eines Triumphzuges, an dem sich Vertreter der kaiserlichen Zentralmacht (Soldaten, Generäle, der Kaiser selbst) beteiligen, wurde der Sieg der Ordnung über die Unordnung noch stärker betont. Legt man den Fokus der Betrachtung auf den Delinquenten, in diesem Fall den Usurpator, so ist dieser zumindest für die Dauer des Rituals ein Ausgestoßener der Gesellschaft. Er befindet sich in einer Art Schwellenzustand (Liminalität), wie ihn Victor Turner ganz allgemein bei Übergangsriten beobachtete559. Die Mehrzahl der symbolischen Handlungen, die dabei vollzogen werden, rücken die Schandparade in die Nähe von karnevalesken Ritualen der Standesumkehrung560, die in Byzanz auch außerhalb der Exekution von Strafen verbreitet waren561. Für die Phase der Liminalität wird der Status des Auszustoßenden aufgehoben, soziale Hierarchieverhältnisse werden umgekehrt. Die Verhöhnung der zumeist aristokratischen Opfer oblag Randfiguren der Gesellschaft, beispielsweise Schauspielern562, Prostituierten oder dem Publikum selbst. Für die Dauer des Rituals hatten diese keine Bestrafung durch die Obrigkeit zu befürchten. Im Gegenteil, die Initiative, die Planung, der Ablauf und
558 Vgl. Villard, Queue de l’âne, S. 224 mit Schlussfolgerungen für das italienische Quattrocento, die jedoch kultur- und zeitübergreifende Gültigkeit beanspruchen dürfen: „Dérision et politique semblent ainsi antithétiques, mais de facon plus complexe qu’il n’y semblait: la dérision permet de restaurer la dignité du politique, en chassant de son champ le non-humain, la bête, qui avait usurpé sa place. La dérision, le plus souvent, vise non la personne souveraine, mais une autorité politique (qu’il s’agisse d’un conseiller, d’un ennemi, d’une puissance adverse, d’un prince défunt) posée comme concurrente de la souveraineté: la dérision, comme exclusion du champ politique (et du champ humain en général), entend alors restaurer l’intégrité souveraine, en ôtant de son champ l’inhumain, le monstre dissimule qui y avait pris place. Cette exclusion, souvent symbolique, parfois réelle, est porteuse alors d’une capacité de violence telle qu’elle peut sembler menacer le prince lui-même, risquer de se retourner contre lui: l’abandon de la dérision officielle et l’intolerance croissante face aux usages de la dérision politique, à commencer par les satires, trouve ici sans doute son origine.“ 559 Turner, Das Ritual, S. 95–104. 560 Turner, Das Ritual, S. 168, 190–191. 561 Trotz kirchlicher Verbote gegen diese Veranstaltungen, so im Kanon 62 des Quinisext (Rhalles-Potles, Bd. 2, S. 448), gab es in Byzanz dennoch karnevalsartige Umzüge. Vgl. (ebd. 451) den Kommentar von Michael Balsamon (12. Jahrhundert), der sogar Umzüge von als Mönche, Soldaten oder Tiere verkleideten Klerikern in der Hagia Sophia überliefert. Vgl. Tinnefeld, Mimos, S. 339. Ein fragmentarisch erhaltenes Gedicht des Christophoros von Mytilene (S. 91–98 Kurtz [Nr. 136]), beschreibt in der 1. Hälfte des 11. Jahrhundert einen Umzug verkleideter Notare am 25. Oktober. Vgl. Ljubarskij, Kaiser als Mime, S. 41–46; etliche weitere Beispiele bei Tinnefeld, Mimos. 562 Zu den skēnikoi s. oben, Anm. 460.
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der Ausgang des Rituals lagen in der Regel in der Hand des Kaisers563. Es sei hier auch an die Anwesenheit von kaiserlichen Ordnungshütern (rhabdouchoi) bei der eingangs zitierten Spottparade des Michael Anemas erinnert. Verlor der Kaiser die Kontrolle oder gab sie bewusst an das Volk ab – wie etwa beim Sturz Andronikos’ I –, konnten die etablierten Spielregeln verletzt werden und die Schandparade in exzessiven Gewaltakten und Lynchjustiz ausarten564. Selbst in solchen Fällen jedoch endet die vorübergehend erlaubte Anarchie mit der Wiederherstellung von Ordnung und Struktur565. Auch wenn der Delinquent keine bleibenden Körperstrafen erleidet, kann allein der Verlust des Gesichts (und, wenn vorhanden, des Amtes) die persönliche Karriere oder den Aufstieg der Familie ruinieren. Eine nachträgliche Begnadigung durch den Kaiser führte in der Regel nur zur Rückgabe des persönlichen materiellen Besitzes. Zu einer völligen Rehabilitierung nach einer Schandparade scheint es im untersuchten Zeitraum566 äußerst selten gekommen zu sein. Eine Wiederaufnahme ihrer militärischen oder politischen Karriere war nur Konstantinοs Humbertopulos, Gregorios Taronites sowie den in den Anemas-Putsch involvierten Konstantinos Exazenos Dukas und Nikephoros Exazenos Hyaleas vergönnt567. Alle vier haben gemein, dass sie gegen Kaiser Alexios I. konspiriert hatten und in den Genuss seiner Gnade gekommen waren. In diesem Lichte gewinnt auch eine Episode im Anschluss an die gescheiterte Rebellion des Bardas Phokas an Gewicht: Nachdem dieser 989 auf dem Schlachtfeld sein Leben gelassen hatte, wurden seine prominenten Unterstützer Leon und Theognostos Melissenos sowie Theodosios Mesanyktes und viele andere als Gefangene nach Konstantinopel deportiert. Von einer körperlichen Bestrafung sah Kaiser Basileios II. ab,
563 Magdalino, Dérision, S. 60, betont zu Recht, dass spielerische Satiren oder Parodien (Hofnarren, Schauspieler, Karneval etc.) sich nicht durch ihre äußere Form von ernst gemeintem Spott unterscheiden, sondern dadurch, ob sie vom Machthaber oder den Traditionen der Gesellschaft geduldet werden oder nicht. Nach Magdalino kann eine „dérision réalisée“, also eine Verspottung, die statusverändernde Konsequenzen nach sich zieht, nur mit der Legitimation durch eine machthabende Instanz erfolgen: „La dérision ne peut pas s’accomplir sans l’intervention directe ou indirecte du pouvoir, et c’est l’appréciation qu’il aura à son égard qui la définit comme réalisée ou non.“ 564 Bezeichnend hierfür ist auch der Umgang mit Usurpatoren in der kaiserferneren Reichsperipherie: 1018 wurde in Italien Dattus, der Schwager des Aufständischen Meles, auf einem Esel nach Bari getrieben und im Anschluss daran ertränkt. Den Ausgang bestimmte hier wohl der Katepan Basileios Boioannes persönlich: Lupi protospatarii Annales, in: Annales et Chronica Aevi Salici, ed. Georg H. Pertz (MGH SS 5), Hannover 1844, S. 52–63, hier S. 57 (ad annum 1021): captus est Dactus et intravit in civitatem Bari equitatus in asina 15. mensis Iunii; vgl. Vera von Falkenhausen, Die Städte im byzantinischen Italien, in: MEFRM 101/2, 1989, S. 401–464, hier S. 437. 565 Turner, Das Ritual, S. 169–173. 566 Im 8. Jahrhundert kann der Patriarch Konstantinos II. angeführt werden, der nach seiner Demütigung durch Kaiser Konstantinos V. wieder in sein Amt eingesetzt wurde. Vgl. oben, S. 276. 567 Humbertopoulos kehrte als Offizier in die Armee des Alexios zurück: Alexias 10.2.6 (S. 286 Reinsch/Kambylis); die beiden Exazenoi dienen 1107 in der Flotte (ebd. 13.1.4 [S. 385]); Taronites scheint nach Alexios’ Tod als prōtosebastos auf (Choniates, S. 9 [van Dieten]). Vgl. Skoulatos, Personnages, S. 65–66 (Konstantinos Exazenos Dukas), S. 68–71 (Humbertopulos), S. 116–118 (Gregorios Taronites), S. 239–240 (Nikephoros Exazenos Hyaleas).
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doch wurden die Rebellen auf Eseln über die Mesē getrieben. Nur Leon Melissenos wurde diese Demütigung erspart, da er auf dem Schlachtfeld versucht hatte, seinen Bruder von Beleidigungen des Kaisers abzuhalten568. Indem er die Ehre seines Gegners schützte, revanchierte sich Basileios offenbar in gleicher Weise569. Im Gegensatz zu seinem Bruder konnte sich Leon dadurch in die Dienste des Kaisers stellen und 993 sollte er ein militärisches Kommando im Osten innehaben570. 3.3.4 Wegnahme von Insignien und Amtsverlust In der Zeit der Tetrarchie endeten Usurpationen üblicherweise mit der Absetzung des Verlierers im Spiel um die Macht und der Wegnahme der zu Unrecht beanspruchten Herrschaftszeichen. Diese Devestitur bereitete den Weg für weitere Bestrafungen571. Eine vergleichbare Entkleidung und Wegnahme von Insignien ist im Untersuchungszeitraum nur einmal belegt: Nach seinem Sieg über die Bulgaren veranstaltete Kaiser Ioannes I. Tzimiskes (969–976) im Jahre 972 einen prachtvollen Triumphzug. Danach zog er sich in den Palast zurück, ließ sich den geschlagenen Bulgarenzaren Boris II. (reg. 969–971) vorführen und forderte ihn auf, die Zeichen seiner Herrschaft abzulegen. Boris leistete Folge, nahm sein purpurverbrämtes, mit Gold und Perlen besetztes Diadem vom Kopf, zog sein Purpurgewand und seine roten Schuhe aus. Als Kompensation für diesen Akt der Unterwerfung verlieh der Kaiser ihm die Würde eines magistros572. Die von Boris getragenen Insignien sollten unzweifelhaft jene des Kaisers von Konstantinopel imitieren und ihre öffentliche Wegnahme scheint als Bestrafung für diese Anmaßung naheliegend. Umso mehr würde man inszenierte Devestituren dieser Art auch bei der Niederschlagung von Usurpationen erwarten573; allein, die historiographischen Quellen des Untersuchungszeitraumes berichten von keinem einzigen Fall, in dem solcherart verfahren wurde574. Am nächsten kommt noch Michael Psellos’ 568 569 570 571 572
Skylitzes, S. 338 (Thurn). Skylitzes, S. 338 (Thurn). Vgl. Magdalino, Dérision, S. 61. Yahya, Bd. 2, S. 440 (Kratchkovsky/Vasiliev). Szidat, Usurpator, S. 322–323. Leon Diak. 9.12 (S. 158, Z. 21–159, Z. 2 Hase): καὶ τὰς εὐχαριστηρίους εὐχὰς ἀποδοὺς, τό, τε τῶν Μυσῶν ἐκπρεπέστατον στέφος οἱονεὶ πρωτόλειον δῶρον τῷ Θεῷ καταθέμενος, εἰς τὴν ἀνακτορικὴν ἑστίαν φοιτᾷ, καὶ τῶν Μυσῶν βασιλέα Βορὴν παραγαγὼν τὰ τῆς βασιλείας ἀποθέσθαι παράσημα παρεσκεύασε. τὰ δὲ ἦν τιάρα περιπόρφυρος, χρυσῷ καὶ μαργάροις κατάστικτος, ἐσθής τε ἁλουργὸς, καὶ πέδιλα ἐρυθρά. τοῦτον δὲ τῷ τῶν Μαγίστρων τετίμηκεν ἀξιώματι. Nach Skylitzes, S. 310 (Thurn) erfolgte die Wegnahme der Insignien vor den Augen der Öffentlichkeit. Erst danach habe sich der Kaiser in den Palast zurückgezogen. Vgl. die Darstellung der Szene im Skylitzes Matritensis, fol. 220v (unten). 573 Zur Verwendung von Insignien durch Usurpatoren vgl. Kapitel 2.4.4. 574 Skylitzes, S. 336, Z. 79–80 (Thurn) überliefert zwar, Bardas Phokas habe Bardas Skleros mit falschen Versprechungen in die Falle gelockt, ihm die Insignien abgenommen (ἀπαμφιέννυσί τε τὰ τῆς βασιλείας παράσημα) und ihn danach inhaftieren lassen. Nun wissen wir jedoch erstens nicht,
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Beschreibung eines Triumphzuges, bei dem neben dem Kopf des Usurpators Georgios Maniakes auch Teile seiner Kleidung mitgetragen worden seien575. Das Fehlen von Belegen für Devestituren ist jedoch nicht einer lückenhaften Überlieferung zuzuschreiben, sondern einer anachronistischen Erwartungshaltung. Im herrschaftstheoretischen Denken der Byzantiner muss die ritualisierte Devestitur eines Usurpators geradezu undenkbar gewesen sein, zumal diese zu einer paradoxen Situation geführt hätte. Bei der öffentlichen Zurschaustellung eines geschlagenen Usurpators oder eines abgesetzten Kaisers musste dafür Sorge getragen werden, dass der Verurteilte schon zu Beginn der Inszenierung keine kaiserlichen Insignien mehr trug, sondern als gewöhnlicher Mensch gedemütigt wurde. Eine offizielle Absetzung im Rahmen einer Spottparade576 hätte dem Usurpator implizit und rückwirkend zumindest eine temporäre Gültigkeit seiner Ansprüche eingeräumt. Nicht für die Dauer einer einzigen Sekunde sollte die Provokation durch einen Putschisten die Duldung durch Öffentlichkeit und Kaiser genießen. Im Gegensatz zur Zeit der Tetrarchie, als sich die Legitimität der Kaiserwürde auf mehrere Personen verteilen ließ, ist es im mittelbyzantinischen Denken schier undenkbar, dass sich zwei Personen gegenüberstehen, die zum Kaiser ausgerufen wurden. Ob es möglich war, dass der Hauptkaiser und die von ihm eingesetzten Mitkaiser, in der Regel seine Söhne, allesamt den Titel eines autokratōr führten und die gleichen Insignien trugen – man denke an Kaiser Romanos I. Lakapenos und seine drei Söhne – ist umstritten577. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, war hierfür der Konsens des Hauptkaisers nötig. Dass es außerdem eine eindeutige Hierarchie gab, manifestierte sich im
ob diese Devestitur überhaupt stattfand (oder ob die Formulierung metaphorisch zu verstehen ist) und zweitens handelt es sich um einen Konflikt zwischen zwei Usurpatoren. 575 Psellos, Chron. 6.87 (S. 142, Z. 13–143, Z. 15 Reinsch): ἡ τοῦ τυράννου διεθριαμβεύετο κεφαλὴ· καὶ μετ’ ἐκείνην ἄλλο τι τοῦ τυραννικοῦ σχήματος. 576 So beispielsweise Paul Speck, Artabasdos, der rechtgläubige Vorkämpfer der göttlichen Lehren. Untersuchungen zur Revolte des Artabasdos und ihrer Darstellung in der byzantinischen Historiographie (Poikila Byzantina 2), Bonn 1981, S. 32–33: Artabasdos sei „offiziell – durch eine pompē im Hippodrom mit Dysphemie – seiner Kaisermacht enthoben“ worden. Zum Begriff der „Dysphemie“ als ritualisierte Abwahl des Kaisers vgl. Beck, Senat, bes. S. 40–45. Auch der Patriarch Konstantinos II. war bereits am Tag vor seiner Spottparade formal abgesetzt worden. S. oben, Anm. 1179. 577 Christophilopoulou, Ἐκλογή, S. 136–137. Franz Dölger, Rezension zu: E. Kornemann, Doppelprinzipat und Reihsteilung im Imperium Romanum (mit einem Kapitel: Das Mitkaisertum im mittelalterlichen Byzanz von G. Ostrogorsky, S. 166–178), Leipzig/Berlin 1930, in: BZ 33, 1933, S. 136–144, hier S. 140–141 meint hingegen, der Titel autokratōr sei auch schon im 10. Jahrhundert dem Hauptkaiser vorbehalten gewesen. Wenn die Quellen Mitkaiser mit diesem Titel benennen, handele es sich bloß um eine Verkürzung. Zum Beispiel Romanos Lakapenos vgl. Christophilopoulou, Ἐκλογή, S. 100–104; Kresten/Müller, Samtherrschaft. Jetzt Constantin Zuckerman, On the title and the office of Byzantine basileus in: TM 16 (= Mélanges Cécile Morrison) 2020, S. 865–890.
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Unterzeichnen von Urkunden und vor allem im Zeremoniell578. Beginnend mit der Alleinregierung Konstantinos’ VII. begann sich der Hauptkaiser wieder stärker von seinen designierten Nachfolgern abzugrenzen, was sich vor allem auch in der nun wieder zunehmend differenzierten Kaisertitulatur zeigt579. Sonderfälle erforderten vom byzantinischen Konzept des Kaisertums freilich weiterhin einen gewissen Grad an Flexibilität. So wusste man am byzantinischen Hof 1042 nicht so recht mit der Situation nach der Absetzung Michaels V. umzugehen. Es bestand kein Zweifel, dass Michaels Adoptivmutter Zoe, die der Kaiser noch kurz vor seinem Tod ins Kloster verbannt hatte, wieder auf dem Thron installiert werden musste. Ihr Name war seit Jahrzehnten untrennbar mit der Herrschaft verbunden gewesen und durch Heirat bzw. Adoption hatte sie die letzten drei Kaiser auf den Thron gebracht. Während ihrer Abwesenheit im Kloster war jedoch auch ihre Schwester Theodora zur Kaiserin ausgerufen worden, um Michael V. zu stürzen. Die Senatoren, so berichtet Michael Psellos, der sich unter ihnen befand, hätten beide Schwestern als gleichwertig betrachtet. Im Hofzeremoniell jedoch sei der älteren Zoe der Vorrang eingeräumt worden und Theodora durfte nur ein Stück versetzt hinter ihr thronen580. Die Episode zeigt neben der unmöglich gewordenen völligen Gleichrangigkeit zweier Herrscher aber auch, dass das byzantinische Konzept von Herrschaft flexibel genug war, auf Sonderfälle dieser Art zu reagieren – sofern die Lösung im Konsens der an der Macht beteiligten Personen gefunden wurde. Ohne die Billigung des Hauptkaisers war jedoch jegliche Teilhabe an seiner Macht unmöglich. Wie problematisch eine Begegnung eines Kaisers und eines Usurpators für die byzantinische Vorstellungswelt gewesen sein muss, mag eine Anekdote rund um die Kapitulation des Bardas Skleros im Jahre 989 illustrieren, die in ihrer ausführlichsten Variante im Geschichtswerk des Michael Psellos zu lesen ist. Der geschlagene Usurpator wurde zum Zelt des siegreichen Basileios II. geführt: Skleros hatte zwar alle Herrschaftszeichen abgelegt, nicht aber, sei bewusst, sei es aus Gedankenverlorenheit, die purpurfarbenen Schuhe ausgezogen. Er schritt also auf den Kaiser zu, so als ob er sich noch einen Teil der usurpierten Herrschaft belassen habe. Schon als Basileios ihn aber aus der Ferne sah, wurde diesem unwohl und er hielt sich die Augen zu; er wollte ihn nicht sehen, außer völlig privat gekleidet. Gleich beim kaiserlichen Zelt also schlüpfte Skleros aus den purpurfarbenen Schuhen und danach unter das Zeltdach581. 578 So in Prozessionsordnungen: Liutprand, Ant. 3.37 (S. 86 Chiesa); vgl. Kresten/Müller, Samtherrschaft. 579 Christophilopoulou, Ἐκλογή, S. 139, 142, 207, 228–229. 580 Psellos, Chron. 6.3 (S. 107, Z. 1–4 Reinsch): Σχῆμα δὲ βασιλείας ταῖς ἀδελφαῖς ἐποιοῦντο, ὁποῖον καὶ τοῖς φθάσασιν εἴθιστο αὐτοκράτορσι. προὐκάθηντο γὰρ ἄμφω τοῦ βασιλικοῦ βήματος, ἐπὶ μιᾶς ὥσπερ γραμμῆς βραχύ τι πρὸς τὴν Θεοδώραν παρεγκλινούσης· Vgl. Hill/James/Smythe, Zoe, S. 227. 581 Psellos, Chron 1.27 (S. 16, Z. 9–17, Z. 17 Reinsch): Ὁ μὲν οὖν Σκληρὸς, εἴτε σπουδάσας· εἴτε ἄλλως καταφρονήσας, τὰ μὲν ἄλλα παράσημα τοῦ κράτους ἀπέθετο· οὐ μέντοιγε καὶ τοὺς πόδας τοῦ
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Bereits das bloße Erblicken des Herausforderers in kaiserlichen Insignien wird hier als unzumutbarer Affront dargestellt. Der paradoxen Situation entzog sich der Kaiser durch das Verweigern der Wahrnehmung582. Die Devestitur des bulgarischen Zaren im Jahre 972 hingegen war ideologisch gesehen unbedenklich gewesen. Boris war nach byzantinischem Verständnis kein Usurpator im eigentlichen Sinn. Zwar hatte dieser die Herrschaft in einem nominell römischen Territorium ohne byzantinische Zustimmung beansprucht und in der Wahl seiner Insignien den Kaiser in Konstantinopel zweifellos zu imitieren versucht, diesen aber niemals zu ersetzen getrachtet. Nicht die völlige Demütigung des geschlagenen Feindes war das Ziel der Inszenierung, nicht die Bestrafung des M e n s c h e n Boris, der sogar in die byzantinische Hierarchie integriert wurde. Vielmehr ging es um die physische Auslöschung des Z a r e n Boris durch Ablegen der Insignien und damit die symbolische Auflösung des bulgarischen Reiches. Mit dem Alleinherrschaftsanspruch des byzantinischen Kaisers war dies durchaus zu vereinbaren, denn im Gegensatz zu Usurpatoren handelte es sich bei den Insignien – trotz aller materieller Ähnlichkeit – keineswegs um kaiserliche Herrschaftszeichen, sondern lediglich um jene des bulgarischen Herrschers583. Eine öffentliche Absetzung eines einmal zum Kaiser ausgerufenen Usurpators war also undenkbar. Anders verhielt es sich freilich mit deren Unterstützern, die häufig ihrer Titel und Ämter verlustig gingen584. Nur selten kam es zur völligen Rehabilitierung, die einen Verbleib im Staatsapparat möglich machte585. Zumeist geben die Quellen keine Auskunft darüber, ob Entlassungen – so wie Amsantritte586 – mit irgendwelchen sym-
φοινικοβαφοῦς πεδίλου ἐγύμνωσεν· ἀλλ’ ὥσπερ μέρος τῆς τυραννίδος ἑαυτῷ ἔτι ἀφεὶς, προσῄει τῷ βασιλεῖ. ὁ δέ γε Βασίλειος, καὶ πόρρωθεν ἰδὼν, ἐδυσχέρανε· καὶ τοὺς ὀφθαλμοὺς ἔμυσε, μὴ ἂν ἄλλως τοῦτον ἐθέλων ἰδεῖν, εἰ μὴ πάντη ἰδιωτεύσοι τῷ σχήματι. αὐτοῦ γοῦν που πρὸς τῇ τοῦ βασιλέως σκηνῇ, ἀπελίττεται καὶ τὸ ἐρυθρὸν πέδιλον ὁ Σκληρὸς· καὶ οὕτως ὑπέδυ τὴν στέγην. Vgl. Skylitzes, S. 338 (Thurn); Zonaras 17.7 (S. 556–557 Pinder/Büttner-Wobst). Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 33– 34 (Nr. 16); Cresci, Appunti, S. 110. 582 Vgl. Grünbart, Versöhnung, S. 216. 583 Im Rahmen des Friedensvertrages von 812/13 waren die Byzantiner sogar dazu bereit gewesen, neben Gold und Kleidung auch r o t g e f ä r b t e s L e d e r als Tribut abzuführen (Theophanes, AM 6305 [S. 479 de Boor]), obwohl man wohl davon ausgehen konnte, dass dieses zur Herstellung von Insignien (Schuhe!) verwendet werden sollte. 584 So Georgios Monomachatos, der sein Amt als doux von Dyrrhachion auch nach einer Amnestie nicht zurückerhielt. Vgl. Cheynet, Pouvoir, S. 90 (Nr. 114); Skoulatos, Personnages, S. 97–98 (Nr. 67). 585 Hervorgehoben sei hier der oben (S. 281) erwähnte Leon Melissenos, der durch sein ehrenhaftes Verhalten in der Schlacht bei Abydos 989 seine eigene Karriere retten konnte. Bisweilen wurde auch in Kapitulationsverhandlungen festgehalten, dass an der Usurpation beteiligte Truppenführer rehabilitiert würden und ihre Titel behielten: Guilland, Titres nobiliaires, S. 28. Unter den Komnenen wurden mehrmals Hochverräter nach einer öffentlichen Demütigung wieder in den militärischen Dienst aufgenommen: s. oben, Anm. 567. 586 Zu der Verleihung von Insignien an Beamte und Würdenträger vgl. Pertusi, Insigne, S. 558–560. Vor allem bestimmten Kleidungsstücken kam hierbei große Bedeutung zu: Piltz, Court costu-
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bolischen Handlungen verbunden waren. Lediglich die überlieferte Amtsenthebung eines namentlich nicht genannten Stadteparchen im April 1060 scheint in diese Richtung zu weisen: Als sich Konstantinos X. Dukas (1059–1067) unmittelbar nach seinem Machtantritt außerhalb von Konstantinopel befand, hatten verschiedene Gruppierungen gegen den Kaiser agitiert. Nachdem man die Lage wieder unter Kontrolle gebracht hatte, wurde der Stadteparch in den Palast zitiert. Entgegen seiner Erwartung, für die Niederschlagung ausgezeichnet zu werden, wurde ihm unterstellt, an den Unruhen beteiligt gewesen zu sein, worauf man ihm seinen Gürtel587 und die anderen Zeichen seines Amtes abnahm588. Dieser Einzelfall erlaubt freilich keine Schlussfolgerungen auf ein standardisiertes Procedere.
me, S. 44–47. Die höchsten Ämter und Würden wurden im 10. Jh. im Chrysotriklinos verliehen: Featherstone, The Great Palace, S. 56. 587 Zur Verleihung von Gürteln als Amtszeichen bei Beförderungen von Beamten vgl. Parani, Reality of images, S. 65. 588 Attaleiates, S. 60, Z. 15–20 (Tsolakes): Πρὸ δὲ πάντων ὁ εἰρημένος ἔπαρχος, συνειδότος κατηγορηθεὶς καὶ κριθείς, ὑπερορίᾳ καὶ δημεύσει κατὰ τὴν αὐτὴν ἡμέραν τῆς ταραχῆς ὑπεβλήθη, εἰσιὼν μὲν εἰς τὰ βασίλεια ὥς τι τῶν δεόντων κατωρθωκὼς καὶ τὸ στασιάζον κατευνακώς, ἀφαιρεθεὶς δὲ τὴν ζώνην καὶ τὰ παράσημα καὶ κατάκριτος ἀπροσδοκήτως γενόμενος. Vgl. Bourdara, Kαθοσίωσις II, S. 21–23 (Nr. 5); Cheynet, Pouvoir, S. 71 (Nr. 83).
4. Machtwechsel – Der Sieg des Usurpators Der Usurpator konnte seine Bemühungen um den Thron als erfolgreich betrachten, sobald er Konstantinopel und den Palast kontrollierte. Der Herrschaftswechsel erforderte daher den Konsens der (in den Quellen zumeist sehr schwer greifbaren1) Entscheidungsträger innerhalb der Hauptstadt. Ob das Wohlwollen auf Opportunismus oder auf mangelnder Sympathie für den regierenden Kaiser fußte oder aber durch militärischen Druck erzwungen war, spielte hierbei keine Rolle – sobald sich der Erfolg des Usurpators abzeichnete, musste die Erneuerung der Herrschaft konfliktfrei inszeniert werden. Besonders der ritualisierte Einzug in Konstantinopel bot eine ausgezeichnete Möglichkeit, den erzwungenen Wechsel an der Spitze des Reiches zu verklären und zu legitimieren. In der Zeremonie der Krönung schließlich fand der Transformationsprozess vom Usurpator zum Kaiser seinen Abschluss. Für seinen gestürzten Vorgänger blieb dabei kein Platz. Da das byzantinische Konzept der Kaiserherrschaft keinen Rückzug ins Privatleben vorsah, war eine physische Beseitigung – meist durch Zwangstonsur, seltener durch Tötung – unumgänglich. Der Machtwechsel war erst dann abgeschlossen, wenn der Usurpator den politischen Körper des Kaisers vollständig übernommen hatte. 4.1 Rituale der Legitimation Im Gegensatz zu Thronerben und Kaisern, die ihr Amt dem Konsens der Entscheidungsträger verdankten, haftete dem Usurpator selbst bei günstigem Verlauf und erfolgreichem Ende seiner Unternehmung der Makel mangelnder Legitimität an. Der komplexe Prozess der Legitimation von Herrschaft beruht auf dem Verhältnis zwischen dem Legitimitätsa n s p r u c h der Herrschenden einerseits und dem Legitimitätsg l a u b e n der Beherrschten andererseits. Das byzantinische Kaisertum wäre in der Kategorisierung Max Webers primär als „traditionelle Herrschaft“ anzusprechen,
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Kyritses, Imperial council.
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deren Geltungsgrund die „Heiligkeit“ der etablierten Ordnung ist. Diese gestattet dem Herrschenden zwar ein gewisses Maß an Willkür, doch ist seine Legitimität in vielen Bereichen an das Einhalten von Traditionen und Gesetze gebunden2. Bei einem Wechsel an der Spitze des Reiches ist hierbei vor allem die Weitergabe des „versachlichten Charisma“ (Weber) des Herrschers von zentraler Bedeutung3. Gerade hier sind ritualisierte Handlungen unverzichtbar, zumal sie Übergänge und Anschlusshandlungen innerhalb des bestehenden Wertesystems legitimieren können4. In Zeremonien wie dem feierlichen Einzug in Konstantinopel oder der liturgischen Krönung konnten Usurpatoren an jahrhundertelang erprobte Traditionen anknüpfen und sich selbst in die Nachfolge Konstantins des Großen stellen. Es ist hierbei vor allem der Frage nachzugehen, auf welche Weise die Rituale des Adventus und der Krönung Legitimität stiften konnten und von welchen Faktoren ihr Gelingen abhängig war. Darüber hinaus ist zu beleuchten, inwiefern auch die Historiographen Zeremonien dieser Art für ihr Narrativ nützen, um die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit eines erfolgreichen Usurpators zu betonen. 4.1.1 Der Einzug in Konstantinopel (Adventus)5 Als die verwitwete Kaiserin Zoe Konstantinos IX. Monomachos im Jahre 1042 zu ihrem neuen Gemahl erkoren hatte, holte man diesen zunächst aus seinem Exil in Mytilene und bereitete ihn nach Damokrania in der Nähe der etwa dreißig Kilometer westlich von Konstantinopel gelegenen thrakischen Küstenstadt Athyra auf seinen Einzug in Konstantinopel6. Eine Dromone brachte Konstantinos schließlich zur Hauptstadt. Allerdings segelte das Schiff nicht direkt zum Palast, sondern legte außerhalb der Stadtmauern an, vermutlich am Hebdomon, von wo aus ein Einzug durch das Goldene Tor möglich war7. Als designiertem Kaiser sollte ihm eine prachtvolle 2 3
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Beck, Res Publica Romana, bes. S. 404–408. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 4: Herrschaft. Studienausgabe der Max Weber Gesamtausgabe, Band I/22–4, ed. Edith Hanke / Thomas Kroll, Tübingen 2009, S. 219–225. S. hierzu genauer unten S. 347–348. Dücker, Rituale, S. 9. Grundlegend zum Adventus in Antike und Byzanz: Sabine G. MacCormack, Art and ceremony in Late Antiquity, Berkeley/Los Angeles/London 1981; Dies., Change and continuity in Late Antiquity: the Ceremony of the adventus, in: Historia 21, 1972, S. 721–752; McCormick, Eternal victory; Hunger, Reditus; Jonathan Shepard, Adventus, arrivistes and rites of rulership in Byzantium and France in the tenth and eleventh century, in: Court ceremonies, S. 337–371; ODB I, S. 25–26, s. v. Adventus. Zur Ritualität von Adventus-Zeremonien allgemein s. auch Gladigow, Herrscher als Dramaturg, S. 41–46. Skylitzes S. 423 (Thurn). Die Wendung πρὸς τὰ βασίλεια bei Skylitzes S. 423, Z. 44 muss im Sinne von „zur Kaiserstadt“ und nicht „zum Palast“ (so Flusin, Jean Skylitzès, S. 352) verstanden werden, um seinen Bericht mit
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Machtwechsel – Der Sieg des Usurpators
Empfangszeremonie bereitet werden8. Der Zeitzeuge Michael Psellos hinterließ eine Beschreibung des Großereignisses: Als er dann in die Nähe der Hauptstadt gekommen war, wurde ihm auch eine glanzvollere Heimholung bereitet: Ein kaiserliches Zelt wurde errichtet, eine kaiserliche Leibgarde umgab ihn und schon vor dem Einzug in die Kaiserstadt bot sich dem Mann eine großartige Szenerie voll festlichen Gepränges dar: Menschen jeden Alters und jeder Schicht waren einer nach dem anderem aus der Stadt geströmt, um ihn durch ihre Akklamationen zum Kaiser auszurufen. Die Stadt schien ein Volksfest zu feiern, oder besser gesagt: Neben der ersten Stadt, der Kaiserstadt, war provisorisch eine zweite Stadt errichtet worden. Das Gebiet nämlich von jenem9 bis hin zu den Stadtmauern: eine einzige Menschenmenge von Bürgern aus der Stadt, Festlichkeiten und Märkte. Als alles geregelt und vorbereitet war, wie es sich für feierliche Einzüge gebührt, gab man Konstantinos das Signal zum Einzug und in einer prachtvollen Prozession betrat er die heilige Kaiserstadt10.
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jenem des Michael Psellos (s. unten) in Einklang zu bringen. Zur Anlegestelle am Hebdomon und ihrer Nutzung im Vorfeld von feierlichen Einzügen s. Grigori Simeonov, Der Hafen und die Anlegestellen des Hebdomon, in: Falko Daim (Hg.), Die byzantinischen Häfen von Konstantinopel (Byzanz zwischen Orient und Okzident 4 = Interdisziplinäre Forschungen zu den Häfen von der Römischen Kaiserzeit bis zum Mittelalter in Europa 3), Mainz 2016, S. 121–138. Malamut, Tente impériale, S. 47. Reinsch verweist im Kommentar zu dieser Stelle (Reinsch, Chronographia, S. 822, Anm. 31) auf den bei Skylitzes, S. 423 (Thurn) erwähnten Aufenthaltsort des Konstantinos in Athyra hin und suggeriert dieses als räumlichen Bezugspunkt. Allerdings spricht Skylitzes explizit davon, dass der designierte Kaiser von dort per Dromone abgeholt wurde. Außerdem ist es kaum vorstellbar, dass die Stadtbevölkerung ihm etwa dreißig Kilometer weit entgegenzog, geschweige denn den dazwischenliegenden Raum füllen konnte. Die Nähe zu den Stadtmauern erwähnt Michael Psellos explizit, wenn er auf das Ereignis in seiner Grabrede auf Michael Kerullarios Bezug nimmt (ed. K. N. Sathas, Μεσαιωνική Βιβλιοθήκη IV, Athen 1874, S. 323–324): Ἐπανῄει μὲν ἐκ τῆς ὑπερορίας βασιλεύσων ὁ Μονομάχος (οὕτω γὰρ τῇ τε βασιλίδι καὶ τῇ συγκλήτῳ ἐδέδοκτο), ἐπανῄει δὲ πόρρωθεν μὲν ἰδιωτικῶς τε καὶ ἀφελῶς· ἐπεὶ δὲ τῇ πόλει ἐγγίσειε καὶ πρὸ τῶν τειχῶν γένοιτο, μεγαλοπρεπής τε αὐτὸν ὑποδέχεται κατασκήνωσις, καὶ πολυτελὴς εὐτρεπίζεται δίαιτα, καὶ τὸ σύμπαν εἰπεῖν, βασιλεῖ πάντα τὰ περὶ ἐκεῖνον προσήντα· τὸ μέντοιγε διάδημα οὔπω τούτῳ ἐδέδοτο· ἔμελλε γὰρ τοῦτο τῇ κεφαλῇ δέξασθαι στεφανούμενος τῇ ὁμοζύγῳ καὶ βασιλίδι· καὶ ἵνα δὴ τελεωτέρα αὐτῷ καὶ τῷ ὄντι βασίλειος ἡ πρὸς τὰ βασίλεια εἴσοδος γένοιτο, ἀνέῳκτο ξύμπασι πᾶσα πρόοδος, εἴ τινες ἐπ’ ἐκεῖνον ἀπιέναι βούλοιντο· καὶ συνέρρει τὸ πλῆθος, ἄλλοι κατ’ ἄλλο τι μέρος, καὶ οἱ μὲν ἐξῄεσαν, οἱ δὲ εἰσῄεσαν, καὶ ἦν τὸ πρᾶγμα πανήγυρις ἀτεχνῶς. Ἐπὶ πᾶσι γοῦν καὶ ὁ νῦν εὐφημούμενος ἔξεισιν, εἰδὼς μὲν τὸν ἄνδρα, ἅτε πολλάκις ἰδὼν, οὔπω δὲ εἰς ὁμιλίαν ἐκείνῳ ἐληλυθὼς, ἀλλ’ ἦν οὕτως περὶ ἐκεῖνον, ὡς περὶ τοῦτον ἐκεῖνος· ἐθαύμαζον οὖν ἐξ ἀκοῆς ἀλλήλους ἀμφότεροι, καὶ βουλομένους εἰς ταὐτὸ συνελθεῖν διέστησεν ὁ καιρός. Psellos, Chron. 6.19 (S. 115, Z. 2–12 Reinsch): … ἐπεὶ δὲ ἐγγὺς ἐγεγόνει τῆς Πόλεως, πολυτελεστέρα τε αὐτῷ καταγωγὴ εὐτρεπίζεται· καὶ βασιλικὴ μὲν σκηνὴ πήγνυται· βασιλικὴ δὲ περιΐσταται δορυφορία. καὶ μεγαλοπρεπὴς λαμπρότης πρὸ τῶν βασιλείων ὑπαντᾷ τῷ ἀνδρὶ, πάσης ἡλικίας καὶ τύχης, ἄλλων ἐπ’ ἄλλοις ἐπιρρεόντων αὐτῷ· καὶ φωναῖς ἀνακηρυττόντων εὐφήμοις. ἐῴκει δὲ ἡ Πόλις δημοτελῆ ἐπιτελοῦσα πανήγυριν· μᾶλλον δὲ πρὸς τῇ πρώτῃ καὶ Βασιλίδι, καὶ δευτέρα τις ἐσχεδίαστο. τὸ γὰρ ἐξ εκείνου τῶν τειχῶν ἄχρι, πλῆθός τε ἀστικὸν· καὶ πανηγύρεις καὶ ἀγοραί. ἐπεὶ δὲ πάντα προκαθειστήκει· καὶ ἡτοίμαστο, ὡς ἔδει τὰ προεισόδια, ἐγκελεύεται τούτῳ τὸ σύνθημα τῆς εἰσόδου. καὶ σὺν λαμπρᾷ τῇ πομπῇ, εἰς τὰ βασίλεια εἴσεισιν ἄδυτα. Übersetzung teilweise nach Reinsch, Chronographia,
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Die feierliche Vereinigung des Kaisers mit seiner Hauptstadt Konstantinopel im Rahmen des Adventus hatte in Byzanz eine lange Tradition. Dem Empfang einer wichtigen Person durch Repräsentanten einer Stadt war im hellenistischen und römischen Kulturkreis stets eine hohe Bedeutung beigemessen worden11. Mit dem Ritual wurde nicht nur der Herrscher geehrt, sondern auch andere Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses wie Beamte oder Generäle und in christlicher Zeit auch Bischöfe; selbst Reliquien wurden in ähnlicher Weise in Empfang genommen12. Die mit Abstand aufwändigsten Feierlichkeiten waren jedoch mit der Ankunft des Kaisers verbunden, welche die römische und byzantinische Panegyrik bisweilen einer göttlichen Epiphanie gleichsetzt13. Diese konnte – wie im Falle Konstantinos’ IX.