Idylle: Eine medienästhetische Untersuchung des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen [1. Aufl.] 978-3-476-04936-0;978-3-476-04937-7

Die Idylle steht im Spannungsfeld von Kitsch und Katastrophe, das Nils Jablonski durch medienkomparatistische close read

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Idylle: Eine medienästhetische Untersuchung des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen [1. Aufl.]
 978-3-476-04936-0;978-3-476-04937-7

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VII
Auftakt (Nils Jablonski)....Pages 1-57
Dimensionen der Idylle (Nils Jablonski)....Pages 59-208
Theorien der Idylle (Nils Jablonski)....Pages 209-319
Paradigmen der Idylle (Nils Jablonski)....Pages 321-475
Koda (Nils Jablonski)....Pages 477-493
Back Matter ....Pages 495-527

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Nils Jablonski

Idylle Eine medienästhetische Untersuchung des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen

Idylle

Nils Jablonski

Idylle Eine medienästhetische Untersuchung des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen

Nils Jablonski Hagen, Deutschland Dissertation Technische Universität Dortmund, 2018

ISBN 978-3-476-04936-0 ISBN 978-3-476-04937-7  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04937-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhalt

1 Auftakt ........................................................................................................................... 001 1.1

‚Vorwortlich‘ .......................................................................................................... 00 5

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3

Idylle, oder: „Nicht / singe ich ohne Geheiß.“ ................................................ Idylle/Idyllisch: Problematische Perspektivierungen ...................................... Die Idylle als ‚kleines (Kunst-)Stück‘ ................................................................. Pfeifende Musen: Das Politische (in) der Idylle ...............................................

014 018 024 034

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3

Eine Aktualisierung der materialen Topik ........................................................ ‚Zurück in die Zukunft‘: Curtius’ Toposforschung ......................................... Theoretische Implikationen: Die Idyllenforschung als materiale Topik ...... Innovative Komplikationen ................................................................................

044 045 049 052

2 Dimensionen der Idylle ............................................................................................... 059 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

Poetizität („grüner raum der unzucht“) ............................................................. Idylle-Machen: Fingierte poiesis in Gessners Gärten ........................................ ‚Coitus procrastinatus‘: Idyllische Wollust in Johann Heinrich Voß’ Luise ....... Die Gender-Poetik idyllischer Verwicklungen: Merlene Streeruwitz’ „Andrea S.“ (versus Goethes ‚Werther‘) ......................

2.2 Medialität („wir haben den vogel abgewickelt“) ............................................... 2.2.1 Das Rauschen der Idylle, oder: Die Erfindung der musikalischen Medien bei Gessner (und ihr bukolischer Gebrauch bei Theokrit) ............................ 2.2.2 „Das Ganze ein lichtgeborenes Bild“: Alexander von Warsbergs ‚idyllisch engagierter‘ Blick auf Korfu ................................................................ 2.2.3 Die idyllische Verheißung des Kinos: Wilhelm Lehmanns „Böse Idylle“ ...

073 075 090 108 125 130 142 159

VI

Inhalt

2.3 Serialität („ferien sind serien“) ............................................................................ 2.3.1 Die ‚Traumschifferzählung‘ als außeralltägliche Idylle .................................... 2.3.2 Serielle Kontinuität und die schematische ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ ........................................................................ 2.3.3 Die narrative Struktur der episodischen Unterhaltungsidylle ........................

168 173 182 194

3 Theorien der Idylle ....................................................................................................... 209 3.1 Überlagerungen (Zurück zu Rousseau) ............................................................. 3.1.1 Interne Überlagerungen: Der materiale Topos in Rousseaus zweitem Discours ............................................................................ 3.1.2 Externe Überlagerungen: (Rousseau liest) Rousseau und Gessner ............... 3.1.3 Idyllentheoretische Nachwirkungen: Die Rezeption von Rousseaus Gessner-Rezeption .........................................

212

241

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

Idealisierungen (Schiller macht’s möglich) ........................................................ Schillers ‚idealpragmatischer‘ Ansatz: naiv versus sentimentalisch ............... Eine sentimentalische Theorie der sentimentalischen Idylle ......................... ‚Vorwärts immer, rückwärts nimmer‘: Theoretische Aporien der Idylle .....

257 261 270 277

3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel) ............................................................. Die generalisierende Beschränkung der Idylle .................................................. Die idyllische Optik der Beschränkung ............................................................. „Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel“, oder: Die ‚universelle Verkitschung‘ der Idylle ................................................

285 286 293

217 226

307

4 Paradigmen der Idylle .................................................................................................. 321 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3

Strandlektüren ........................................................................................................ Am Strand auf Korfu (Paradies der Liebe – Rebeccas Traum) .............................. Natur, Natürliches, Kultur: Fiskes Strand und Barthes’ Mythos ................... Die idyllische Chrono-Logik, oder: Der ‚natürliche Ursprung‘ der Kultur ......................................................

4.2 Das Koordinatensystem der Idylle ..................................................................... 4.2.1 ‚Idyllisches Denken‘ versus ‚tendence idyllique‘: Von der regelpoetisch gefassten Natürlichkeit zur Artikulation von Innerlichkeit durch die Idylle ................. 4.2.2 Die Struktur der ‚idyllischen Materialität‘ von literarischen, filmischen und televisiven Texten ........................................ 4.2.3 Kitsch und Katastrophe als Pole der Idylle (NOTTING HILL – Das Parfum) ...........................................................................

331 333 352 362 370 373 390 407

Inhalt

VII

4.3 Arkadisch – Heterotopisch – Elysisch .............................................................. 4.3.1 Das arkadische Paradigma der Idylle (Gessner – ONCE UPON A TIME – Der Park) .................................................. 4.3.2 Das heterotopische Paradigma der Idylle (Die Leiden des jungen Werther – GILMORE GIRLS – TITANIC) ......................... 4.3.3 Das elysische Paradigma der Idylle (TRUE BLOOD – Normal – HERBSTROMANZE) ...............................................

432 438 446 465

5 Koda ............................................................................................................................... 477 5.1

Von der materialen zur kulturellen Topik ......................................................... 481

Quellen ............................................................................................................................... 495 Siglen und Abkürzungen ............................................................................................. 496 Primärtexte .................................................................................................................... Literatur .................................................................................................................... Film ............................................................................................................................ Fernsehen ................................................................................................................. Sonstige .....................................................................................................................

497 497 500 500 502

Sekundärtexte ................................................................................................................ 502 Internetquellen ......................................................................................................... 517 Anhang ............................................................................................................................... 519 Abbildungsverzeichnis ................................................................................................ 519 Abbildungen .................................................................................................................. 520

1 Auftakt Wie kann man sich der süßen Täuschung entziehen, welche diese Dinge entstehen lassen? [...] O Zeit der Liebe und der Unschuld, da die Frauen zärtlich und sittsam waren, da die Männer schlicht waren und zufrieden lebten! Rousseau, Jean-Jacques: Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Gesammelt und herausgegeben durch Jean-Jacques Rousseau [1761], übersetzt von Johann Gottfried Gellius [1761], Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 32003, S. 633.

Es ist wohl klar, dass die Frage keine Tatsachenfrage ist, da niemand hier Partei zu ergreifen hat, was das wirkliche Vorhandensein in der Vergangenheit einer solchen Etappe angeht, die auf jeden Fall interessant ist, wenn man sie dem Dossier der Fiktion des Schäferidylls zuschlägt [...]. Lacan, Jacques: „Zum Gedenken an Ernest Jones: Über seine Theorie der Symbolik“ [1959], in: ders.: Schriften. Vollständiger Text, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, 2 Bd.e, Bd. II, Wien/Berlin: Turia + Kant 2015, S. 205–229, hier: S. 224.

Den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bildet die Idylle, die im Anschluss an Ernst Robert Curtius als materialer Topos modelliert wird,1 um so im Spannungsverhältnis ihrer beiden Pole – der Katastrophe auf der einen und dem Kitsch auf der anderen Seite – untersucht zu werden. Damit wird jener „inner[e] Zusammenhang“ der Idylle, den Olaf Gulbransson in seinen Idyllen und Katastrophen betitelten ‚heiteren Bildergeschichten mit Versen‘ beschreibt,2 (literatur)wissenschaftlich produktiv gemacht und nicht nur erweitert, sondern auch strukturell beschreibbar. Dies erfolgt in drei Schritten, die zuerst die Dimensionen (Kapitel 2), dann die Theorien (Kapitel 3) und schließlich die Paradigmen der Idylle (Kapitel 4) behandeln. Durch diesen Ansatz lässt sich der materiale

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Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948], Bern/München: Francke 71969; sowie Curtius, Ernst Robert: „Zum Begriff einer historischen Topik (1938– 1949)“, in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 3–19. Gulbransson, Olaf: „Prolog“ [V. 22], in: ders.: Idyllen und Katastrophen. Heitere Bildergeschichten mit Versen von Dr. Owlglass [1951], München: R. Piper & Co. 1952, S. 5f, hier: S. 6.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Jablonski, Idylle, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04937-7_1

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Auftakt

Topos in literarischen, filmischen und televisiven Texten letztlich in einer medienästhetisch ausgerichteten Perspektive analytisch erfassen. Als Dissertationsschrift ist die vorliegende Arbeit das Ergebnis meiner langjährigen Beschäftigung mit der Idylle sowie dem Kitsch, die im Wintersemester 2010/11 mit der Betreuung des von Prof. Dr. Renate Kühn an der Technischen Universität Dortmund veranstalteten Seminars „Schnulz und Schund. Zum Umgang mit peinlicher Literatur“ begonnen hat und durch meine von Prof. Dr. Martin Stingelin und Prof. Dr. Renate Kühn betreute Master-Arbeit „‚Ein Platz an der Sonne‘. Zur topologischen Topographie des Idylle-Motivs im literarischen Kitsch“ fortgeführt wurde. Im Anschluss daran habe ich Wintersemester 2012/13 die Arbeit an meinem Dissertationsprojekt aufgenommen, das sich auf Anregung von Martin Stingelin und Renate Kühn durch den modifizierenden Ausbau meiner Master-Arbeit als vertiefende Weiterführung meiner bisherigen Forschungstätigkeit dem Verhältnis von Idylle und Kitsch widmen sollte. Dazu ist es in sechs Jahren intensivster Arbeit jedoch nicht gekommen, auch wenn die Dissertation einige wesentliche Impulse aus der Master-Arbeit erhalten hat. Mit ihr teilt sie sich daher einige der Primärtexte, wie beispielsweise Salomon Gessners Lycas-Idylle, Johann Heinrich Voß’ Luise oder die TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF sowie Friedrich Schillers und Jean Pauls idyllentheoretische Ansätze. Ursprünglich als eine Arbeit konzipiert, die sowohl die Idylle als auch den Kitsch als ihre beiden Gegenstände in gleich umfänglichem Maße behandeln soll, hat allein die Materialfülle an idyllischen Texten aus Literatur, Film und Fernsehen eine Neuausrichtung des geplanten Projekts notwendig gemacht: Die dabei getroffene Entscheidung für die Idylle als alleinigem Gegenstand der Arbeit war hingegen keine gegen den Kitsch, denn dieser bildet in der vorgeschlagenen theoretischen Perspektivierung des materialen Topos neben der Katastrophe einen der konstitutiven Pole der Idylle. Insofern stellt die vorliegende Dissertation eine spezifizierende Erweiterung meiner bisherigen Forschungstätigkeit hinsichtlich der behandelten Primärtexte sowie der methodischen und methodologischen Ausrichtung dar, weil die einen um zahlreiche literarische Texte erweitert und zugleich um filmische und televisive ergänzt werden, während die andere zu einer dezidiert medienästhetischen wird, um so die materiale Topik für die Idyllenforschung produktiv zu machen. Aus diesem Grund werden die unterschiedlichen Texte aus Literatur, Film und Fernsehen hier ‚egalitär‘ behandelt und medienkomparatistisch zueinander in Bezug gesetzt. Damit soll einerseits dem vielfältigen Vorkommen des materialen Topos der Idylle – insbesondere in der populären Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts – angemessen Rechnung getragen und andererseits die Verpflichtung der vorliegenden Arbeit auf einen weiten Literatur- und Kunstbegriff eingelöst werden. Dieser erfasst kulturelle Formationen und Artefakte aus einer deskriptiven Perspektive und operiert nicht länger mit den Kategorien des ‚Hohen‘ und des ‚Niederen‘, die aus einem elitaristischen Verständnis von Kultur resultieren, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts festigt und

Auftakt

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zum Teil bis in die Gegenwart hinein Literatur und bildende Kunst sowie Film und Fernsehen an den aus der Geniezeit übernommenen (Be-)Wert(ungs)-Kriterien des schöpferisch ‚Originalen‘ und ‚Innovativen‘ zu bemessen bemüht ist. An entsprechenden Stellen der Arbeit wird diese für eine medien- und kulturwissenschaftlich perspektivierte Literaturwissenschaft notwendige Ausrichtung vertiefend problematisiert und in Bezug auf die hier untersuchten Gegenstände kritisch verhandelt. Einer solchen Perspektive auf die Idylle in literarischen, filmischen und televisiven Texten folgt auch die Struktur der vorliegenden Arbeit, die eine streng dreigliedrige ist: Flankiert von einem ‚Auftakt‘ (Kapitel 1) sowie einer abschließenden ‚Koda‘ (Kapitel 5) besteht die Arbeit aus drei Teilen, in denen zuerst die Dimensionen, dann die Thoerien und schließlich die Paradigmen der Idylle behandelt werden. Jeder dieser Teile besteht aus drei Kapiteln, die ihrerseits wiederum drei Unterkapitel aufweisen. Diese Strukturierung veranschaulicht die Zusammengehörigkeit der thematischen ‚Blöcke‘ in den einzelnen Kapiteln der Arbeit. Zudem betont sie den konsekutiven Aufbau der Argumentation – über die Kapitel hinweg – auch auf formaler Ebene. Die vorliegende Dissertationsschrift wurde selbstständig verfasst und alle dafür in Anspruch genommenen Quellen und Hilfen sind in einem nach den Kategorien Primär-, Sekundär- und sonstigen Quellen geordneten Verzeichnis am Ende der Arbeit aufgeführt. Darin sind Artikel aus Nachschlagewerken, denen eine Autorin/ein Autor zugeordnet werden kann, unter deren Namen gelistet, während entsprechende Artikel zu Stichworten ohne VerfasserIn in Ergänzung zu ihrer Nennung im Fußnotenapparat nicht nochmals im Quellenverzeichnis aufgeführt werden. In diesen Fällen ist dort das jeweilige Nachschlagewerk gelistet. Des Weiteren ist anzumerken, dass bei Zitaten aus Quellen, die aufgrund ihres Alters nicht den aktuellen Regeln der (deutschen oder französischen) Rechtschreibung entsprechen, keine explizite Markierung dieser Abweichungen erfolgt. Außerdem ist zu beachten, dass die Nummerierung im Fußnotenapparat zur besseren Übersicht in jedem Kapitel der Arbeit neu beginnt. Deshalb werden auch die vorangehend bereits angeführten Quellen bei ihrer ersten Nennung in einem der Kapitel nochmals mit denselben ausführlichen bibliographischen Angaben versehen, die sich auch im Quellenverzeichnis finden. Als das Ergebnis einer sich über sechs Jahre erstreckenden intensiven Forschungstätigkeit wäre die vorliegende Arbeit nicht ohne die motivierende Unterstützung zahlreicher Personen abzuschließen gewesen. Mein besonderer Dank gilt deshalb so nachdrücklich wie herzlich: Prof. Dr. Renate Kühn, die mich im ersten Semester meines 2006 aufgenommenen Studiums an der (damals noch nicht Technischen) Universität Dortmund das Lesen und im weiteren Verlauf meines Studiums dann auch das Schreiben ein zweites Mal gelehrt hat. So wie Renate Kühn danke ich auch Prof. Dr. Martin Stingelin, der nicht nur mein Denken von Literatur verändert hat, sondern mir bereits während der Betreuung meiner ersten beiden Qualifikationsschriften und nun über die lange Zeit der Arbeit an dieser Dissertation hinweg als Erstbetreuer ein bewährter Ratgeber

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Auftakt

gewesen ist, sodass ich die mir gewährte Freiheit im Wissen um seine fortwährend verlässliche fachliche Unterstützung bestmöglich nutzen konnte. Als ‚Drittem im Bunde‘ meiner Betreuer, der mich nach dem Tod von Renate Kühn nicht nur als Doktorand an-, sondern darüber hinaus als Mitarbeiter an seinem Lehrgebiet an der FernUniversität in Hagen aufgenommen hat, danke ich Prof. Dr. Michael Niehaus. Durch seine arbeitgeberliche Nachsicht habe ich die Zeit, durch seine kritischen Anmerkungen und Hinweise in unseren gemeinsamen Diskussionen die finale Motivation zum Abschluss dieses Projekts erhalten. Dessen angestrebte philologische Genauigkeit wäre nicht ohne weitere Augenpaare zu leisten gewesen. Deshalb danke ich allen, die die Mühen des Korrekturlesens – in teilweise kürzester Zeit – auf sich genommen haben: Britta Daschkey, Peter Jablonski, PD Dr. Albin Lenhard, Dr. Kathrin Müthing, Fynn-Adrian Richter und vor allem Dr. Michael Vogt, dessen Präzision bei der kritischen Lektüre ich gar nicht hoch genug würdigen kann, genauso wenig wie sein stets so umfangreiches wie bereicherndes Feedback. Gleichermaßen wie den Lesenden gilt mein Dank allen anderen Motivierenden. Hierzu zählen – neben meinen Eltern, Barbara und Peter Jablonski, sowie meiner Schwester, Nina Jablonski, – Horst Gruner, Jessica Güsken, Dr. Christian Lück, Dr. Wim Peeters, Fynn-Adrian Richter, Dr. Peter Risthaus, Kaja Ruhwedel, Davina Stiller, Dr. Mirna Zeman sowie meine übrigen Kolleginnen und Kollegen an der FernUniversität in Hagen. Mein ganz besonderer Dank gilt schließlich Dr. Christian Lenz, Dr. Kathrin Müthing und Prof. Dr. Ellen Risholm für ihre Freundschaft und die ungebrochene Zuversicht in den Abschluss der Arbeit. Diese liegt, nachdem sie am 23. April 2018 offiziell als Dissertationsschrift an der Fakultät Kulturwissenschaften der Technischen Universität Dortmund im Fach Germanistik zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) eingereicht und angenommen wurde, hier in leicht überarbeiteter Fassung vor. Die mündliche Prüfung in Form einer öffentlichen Disputation erfolgte an der Technischen Universität Dortmund am 8. Oktober 2018 und mein Dank gilt den Mitgliedern der Prüfungskommission: dem Dekan der Fakultät, Prof. Dr. Gerold Sedlmayr, Prof. Dr. Ute Gerhard, Prof. Dr. Randi Gunzenhäuser, Prof. Dr. Michael Niehaus und Prof. Dr. Martin Stingelin.

Bochum, im März 2019 Nils Jablonski

‚Vorwortlich‘

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 ‚Vorwortlich‘ „Die Einsicht in die begrenzte Wirkung des eigenen Schreibens“ erklärt Renate Kühn in ihrer Mikroanalyse von Reinhard Priessnitz’ Gedicht „wischung“ zu den wesentlichen „Voraussetzungen“ der „poetisch[en] Praxis“ des Verfassers der vierundvierzig gedichte,3 zumal ein „ausgeprägtes Bewußtsein für die Probleme wie die Problematik des Schreibens“ zu den Merkmalen jener Literaturbewegungen gehört,4 die gemeinhin als ‚avanciert‘ apostrophiert werden – angefangen bei den historischen Avantgarden über diejenigen der Nachkriegszeit bis hin zu den sog. ‚Experimentellen‘ der Neuen Poesie, zu denen auch Priessnitz gezählt werden kann. Eine solcherart reflexive Selbstrefenzialität, wie sie Priessnitz’ Lyrik kennzeichnet, erweist sich in der literarischen poiesis letztlich als Konsequenz aus jener mit der klassischen Moderne für die Literatur eingeleiteten „Zerstörung der Sprache“.5 Diese wird um 1900 – also zu der Zeit, als die Schrift ihr Monopol über die Einbildungskraft an die neueren technischen Medien Grammophon und Film verliert und Dichtung sich laut Friedrich Kittler zu Literatur wandelt6 – an ihren „Nullzustand“ gebracht:7 So fordert Filippo Tommaso Marinetti im ‚Technischen Manifest der futuristischen Literatur‘ von 1912 beispielsweise „losgelöst[e] Wörter“ und „unsyntaktische Dichter“,8 was Hugo Ball vier Jahre später im dadaistischen „Eroeffnungs-Manifest“ in die Proklamation seines „eigenen Unfug[s]“ übersetzt.9 All diese sich in und mit den ‚Ismen‘ um 1900 vollziehenden (Um-)Brüche in der Literatur (wie auch der bildenden Kunst) zielen mit ihrer selbstkritischen Reflexion über die eigene poiesis darauf, „alle Wirkungsmöglichkeiten der Sprache auffliegen“ zu lassen, sodass jedes Wort als „ein unerwartetes Objekt“ erscheint,10 dessen Bedeutung bzw. Sinn sich aus „der sprachlichen Materialität“ ergibt und nicht etwa aus der präexistie-

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6 7 8

9

10

Kühn, Renate: Der poetische Imperativ. Interpretationen experimenteller Lyrik [1992], Bielefeld: Aisthesis 21998, S. 331f. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 171. Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur [1953], in: ders.: Am Nullpunkt der Literatur/Literatur oder Geschichte/Kritik und Wahrheit, übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 7–69, hier: S. 11. Vgl. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 · 1900 [1985], München: Fink 42003. Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, S. 41. Marinetti, Filippo Tommaso: „Technisches Manifest der Futuristischen Literatur“ [1912], in: Pörtner, Paul: Literaturrevolution 1910–1925. Dokumente, Manifeste, Programme, 2 Bd.e, Bd. II: Zur Bestimmung der Ismen, Darmstadt/Neuwied/Berlin: Luchterhand 1960, S. 47–56, hier: S. 53. Ball, Hugo: „Eroeffnungs-Manifest“ [1916], in: Riha, Karl/Wende-Hohenberger, Waltraud (Hgg.): Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente, Stuttgart: Reclam 1992, S. 30. Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, S. 41.

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Auftakt

renden Intention eines Autors bzw. einer Autorin.11 In dieser ‚Tradition der Moderne‘, von der sich mit Helmut Heißenbüttel sprechen lässt,12 haben die dichtenden ‚OriginalGenies‘ aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insofern ausgedient, als sie sich zu Schriftstellern wandeln, denn „[i]m eigentlichen Sinn des Wortes ‚schöpft‘ der Schriftsteller nichts“, schon gar nicht(s) aus der Sprache: Sie erscheint als ein „Reflex ohne Wahl“,13 der letztlich eine „Intransitivierung des Schreibens“ bewirkt, weil dieses sich „autoreferentiell auf sich selbst [...] und die eigene Materialität und Performativität“ zurückbezieht.14 Dieselben Voraussetzungen gelten auch für jenes Schreiben, das das literarische zu seinem Gegenstand macht. Aus diesem Grund hat eine literaturwissenschaftliche Arbeit ‚Vorwortlich‘ den – mit Priessnitz’ „wischung“ gesprochen – eigenen „scheibenkleister des schreibens“ zu verantworten,15 indem sie ihn programmatisch wie auch method(olog)isch begründet: Die folgenden close readings zur intertextuellen Mikroanalyse von Idyllen in literarischen, filmischen und televisiven Texten sind auf eine Praxis der – mit Kühn gesprochen – ‚vorläufigen‘ Interpretation verpflichtet, denn „die einzelne Interpretation“ ist ein beständig erweiterbares „Zwischenprodukt, das den jeweiligen Erkenntnisstand spiegelt – sowohl innerhalb der eigenen Wissenschaftsbiographie als auch in historisch-rezeptionsgeschichtlicher Perspektive“.16 Einem solch vorläufigen Interpretieren, das allein schon aufgrund einer ‚Lust am Text‘ und dem daraus resultierenden hedonistischen Genuss an stetigen Re-Lektüren das sprachliche Artefakt nicht in einen aussichtslosen Kampf bis zur Erschöpfung zwingt – wenngleich jedem Interpretationsversuch immer auch ein Moment des Erschöpfens eignet –,17 liegt die Infragestellung einer „an mimetischen Vorstellungen orientiert[en] Auffassung eines dem Text vorausgehenden ‚Sinns‘“ zugrunde,18 wie ihn beispielsweise ein reaktionärer Deutschunterricht noch immer als Autorintention fetischisiert (die ihrerseits zumeist grammatikalisch falsch als ‚Autorenintention‘ bezeichnet wird). Diese Auffassung von „dem ‚einen‘, ‚präexistierenden‘ und damit vom Text ab11 12

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18

Kühn: Der poetische Imperativ, S. 14. Vgl. Heißenbüttel, Helmut: Zur Tradition der Moderne. Aufsätze und Anmerkungen 1964–1971, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1972. Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, S. 15. Stingelin, Martin: Stichwort ‚Schreiben‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. III: P–Z, gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Jan-Dirk Müller, Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 387–389, hier: S. 388. Priessnitz, Reinhard: „wischung“ [V. 19], in: ders.: vierundvierzig gedichte, Linz/Wien: edition neue texte 21978, S. 32. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 14, Hervorhebung i.O. Vgl. Niehaus, Michael: Erschöpfendes Interpretieren. Eine exemplarische Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleists Erzählung „Das Bettelweib von Locarno“, Berlin: Kadmos 2013. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 13f.

‚Vorwortlich‘

7

lösbaren Sinn“ als der einzigen und einzig wahren Bedeutung hat insbesondere die französische Literaturtheorie der 1960er Jahre zurückgewiesen, indem „die Kategorie des Sinns als Vielzahl möglicher ‚Sinne‘ konzipiert wurde, die in der Materialität des Textes verankert sind“.19 Dadurch werden die beiden ‚heiligen Kühe‘ der Hermeneutik zwar nicht geschlachtet, sehr wohl aber von der ‚Weide der Philologie‘ in den institutionellen Stall wissenschaftlich gesetzter Kategorien zurückgetrieben, denn „[d]er Autor und das Werk sind“, so Roland Barthes in Kritik und Wahrheit, „nur die Ausgangspunkte für eine Analyse, die es mit der Sprache zu tun hat“.20 Für die Literaturwissenschaft stellt sich das Zeichengefüge ‚Text‘ deshalb zuvorderst als ein sprachliches Artefakt dar, das „aus Geschriebenem besteht“ und in seiner ‚Logik‘ den „linguistischen Regeln des Symbols“ und damit der Sprache folgt.21 Entsprechend erweist sich gerade der bei der Interpretation von Texten vollzogene „Übergang vom ‚Sinn‘ zur Sinnkonstitution“ als eine konsequente Absage,22 die dem „modernen, geniezeitlichen Begriff von Autorschaft“ gilt,23 wie er für die kulturell weiterhin noch immer dominante mimetische Literaturkonzeption kennzeichnend ist: „[D]as Bild der Literatur“, stellt Barthes fest, „das man in der gängigen Kultur antreffen kann, ist tyrannisch auf den Autor ausgerichtet, auf seine Person, seine Geschichte, seine Vorlieben und seine Leidenschaften“,24 letztlich auf seine ‚poetischen Ambitionen‘, die als eine aus dem literarischen Text rekonstruierbare „Ausführung eines Vorhabens“ vorgestellt werden können.25 Legt man den interpretativen Fokus hingegen weniger auf eine solch „intentionale Dimension des Textes“ und stellt die Interpretation unter ein anderes Primat,26 das jener corporiétié du matériel signifiant Rechnung trägt, wie sie die französische Gruppe Tel Quel in und mit ihrer ‚pratique théorique‘ zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeit macht,27 dann realisiert sich die Literaturwissenschaft als „eine Wissenschaft von den Bedingungen des Inhalts, das heißt der Formen“, und ihr Gegenstand 19

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Kühn, Renate: „mémoire. Überlegungen zum Thema ‚Avantgarde‘ aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert“, in: perspektive. Hefte für zeitgenössische Literatur (37/38) 1999, S. 32–43, hier: S. 37. Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit [1966], in: dres.: Am Nullpunkt der Literatur/Literatur oder Geschichte/Kritik und Wahrheit, übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 186–231, hier: S. 219, Hervorhebung N.J. Barthes: Kritik und Wahrheit, S. 216f. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 14, Hervorhebung i.O. Kühn, Renate: „‚Sinnen-Bilder‘. Embleme im Werk Ilse Garniers“, in: Steinbacher, Christian (Hg.): Für die Beweglichkeit. Notizen, Ränder, Nomaden, Linz: StifterHaus 2009, S. 40–70, hier: S. 42. Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“ [1968], in: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 57–63, hier: S. 58. Niehaus: Erschöpfendes Interpretieren, S. 227. Niehaus: Erschöpfendes Interpretieren, S. 227. Vgl. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 14; sowie Kühn: „mémoire“, S. 37.

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Auftakt

sind „die Variationen der in den Werken angelegten und gewissermaßen anlegbaren Bedeutungen“.28 Mit Barthes erscheint das als notwendige Voraussetzung der Interpretation, denn im literarischen Text „spricht die Sprache, nicht der Autor“.29 Aus diesem Grund sind die nachfolgenden Mikroanalysen von idyllischen Texten in Literatur, Film und Fernsehen also zu allererst Lektüren, die ein ‚vorläufiges Interpretieren‘ ermöglichen und als Lektüren dem Gegenstand der vorliegenden Dissertation in zweifacher Weise gerecht werden: Nach Ludwig Giesz weist der Kitsch, der doch stets alles „in rührselige Idyllen zu verwandeln“ vermag, eine nachgerade physische „Klebrigkeit“ auf.30 Als ‚analytischer Modus‘ für eine medienästhetische Untersuchung von Idyllen eignet sich daher das, was den Kitsch auszeichnet: So empfiehlt Barthes in Die Lust am Text eine ‚klebrige Lektüre‘, die eine philologische Genauigkeit ermöglicht, denn sie lässt nichts aus: „[S]ie ist schwerfällig, sie klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Akribie und Besessenheit“.31 Diese klebrige Lektüre erweist sich zudem als eine idyllische, weil sie „nichts verschlingen, nichts verschlucken, sondern weiden, sorgsam abgrasen“ will.32 Eine auf diesen Lektüre-Modus gründende Interpretation nennt Barthes eine „behagliche Praxis“,33 die nicht auf die Beurteilung eines Texts nach den Kategorien des Guten oder Schlechten zielt, sondern an einer ‚Lust‘ ausgerichtet ist,34 die sich einstellt, wenn es dem Text gelingt, „sich indirekt zu Gehör zu bringen“.35 Eine dergestalt erzeugte Lust hat ihr Echo vor allem im Resonanzraum der Intertextualität, wo die LeserInnen „das Reich der Formeln“ genießen und „die Umkehrungen der Herkunft, die Ungezwungenheit, die den frühen Text vom späteren herkommen läßt“.36 Dergestalt geht der Genuss in Interpretation über, die deshalb zur Konstitution von Sinn beiträgt, „insofern er sinnlich hervorgebracht wird“.37 Nach Barthes etabliert eine solch interpretative Praxis der Lektüre den „Inter-Text: die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben – ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehschirm ist“.38 Hieraus ergibt sich schließlich der medienästhetische Fokus der Untersuchung des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen, weil in

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Barthes: Kritik und Wahrheit, S. 216. Barthes: „Der Tod des Autors“, S. 58. Giesz, Ludwig: Phänomenologie des Kitsches [1971], Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 49f. Barthes, Roland: Die Lust am Text [1973], übersetzt von Traugott König, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 142016, S. 19, Hervorhebung N.J. Barthes: Die Lust am Text, S. 19, Hervorhebungen N.J. Barthes: Die Lust am Text, S. 22, Hervorhebung i.O. „Wenn ich bereit bin, einen Text nach seiner Lust zu beurteilen, kann ich mich nicht dazu verstehen, zu sagen: dieser ist gut, jener ist schlecht.“ (Barthes: Die Lust am Text, S. 21.) Barthes: Die Lust am Text, S. 38. Barthes: Die Lust am Text, S. 53. Barthes: Die Lust am Text, S. 90, Hervorhebungen i.O. Barthes: Die Lust am Text, S. 53f.

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einer medienästhetischen Perspektive die – mit Ralf Schnell gesprochen – je spezifische „Wahrnehmungsform der Medien“ berücksichtigt wird.39 Insofern lässt sich die idyllische poiesis medienästhetisch beschreiben, als „ihre Spezifik in der Art und Weise“ erfasst wird, „wie sie die ihr eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, ihre Techniken, ihre Mittel zur Verarbeitung von vorgegebenen oder hergestellten Materialien einsetzt“.40 Diese ‚Materialien‘, die Schnell in seiner definitorischen Fassung des Gegenstandsbereichs der Medienästhetik nennt, entsprechen im Fall der Idylle den von Günter Häntzschel beschriebenen „Motiv- und Strukturelementen“,41 die in der vorliegenden Arbeit als materialer Topos der Idylle modelliert und konkret anhand literarischer, filmischer und televisiver Texte untersucht werden. Die nachfolgenden intertextuellen Analysen der idyllischen Texte in Literatur, Film und Fernsehen stehen also unter dem Primat jener von Barthes beschrieben ‚Lust am Text‘. Bei der Interpretation kommt dieser, so ließe sich mit Kühn resümieren, „die Aufgabe zu, ihrerseits die Differenzen zu erfassen“, die sich durch intertextuelle Bezüge immer dann einstellen, wenn „die Texte untereinander ‚Wahlverwandtschaften‘ eingehen“.42 Insofern kann Charlottes Kommentar zu den vom Hauptmann dargelegten chemischen Gleichnissen in Johann Wolfgang Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften auf den literarischen Text übertragen werden: „Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muß es auch gegen andere ein Verhältnis haben.“43 Erst durch diese ‚wahlverwandtschaftlich-intertextuelle‘ Anlage von Literatur wäre ihr – in den Worten des Hauptmanns – „wohl gar Sinn“ zuzutrauen.44 Idylle und Kitsch sind nicht nur, wie hier dargelegt, method(olog)isch, sondern auch kulturhistorisch eng miteinander verwoben: Um 1800 wird aus der antiken Gattung, die zuvor mit den Idyllen Salomon Gessners eine zwar kurze, aber überaus populäre ‚Renaissance‘ erlebt, ein „Komplex aus Motiv- und Strukturelementen“, der in diverse andere literarische Formationen wie „Romane, Erzählungen, selbst Dramen“ eingeht „oder im idyllischen Epos als Mischform auftritt.“45 Seit 1900 avancieren nun aber gerade die unterschiedlichen medialen Ausprägungen des Kitsches – angefangen bei einschlägigen

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Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 11. Schnell: Medienästhetik, S. 11, Hervorhebung i.O. Häntzschel, Günter: Stichwort ‚Idylle‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. II: H–O, gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Harald Fricke, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 122– 125, hier: S. 123. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 17. Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. VI: Romane und Novellen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 242–490, hier: S. 272. Goethe: Die Wahlverwandtschaften, HA: VI, S. 276. Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 123.

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Zeitschriftenromanen der Jahrhundertwende über Kinofilme bis hin zu Fernsehserien der Gegenwart – zu Artefakten, in denen sich idyllische Szenerien finden, sodass der materiale Topos der Idylle selbst als eines der zentralen Merkmale des Kitsches angesehen werden kann. Bislang stellen sowohl eine derartige Diffusion der Idylle in den Kitsch als auch dessen sich daraus ergebende ‚Idyllik‘ ein Desiderat der Forschung dar – sei es, weil der Zusammenhang zwischen Idylle und Kitsch von der Idyllenforschung ignoriert oder von der Kitschforschung schlicht nicht erkannt worden ist. Die Idylle ‚vom Kitsch her‘ zu denken – wie es nachfolgend geschieht, wenn dieser neben der Katastrophe als einer ihrer konstitutiven Pole betrachtet wird –, macht es möglich, ihre konzeptuellen Fassungen an den dafür jeweils zugrundeliegenden Kunstbzw. Literaturbegriff zurückzukoppeln: Da jede Kitsch-Definition immer auch eine Definition von Kunst bzw. Literatur als Folie zur abgrenzenden Bestimmung des Kitsches impliziert, werden Rückschlüsse auf den zugehörigen Kunst- bzw. Literaturbegriff möglich. Angesichts dieser theoretischen Implikationen veranschaulichen Idylle und Kitsch gleichermaßen das, was sich mit Jacques Rancière als „Aufteilung des Sinnlichen“ beschreiben lässt: Der Kunst- bzw. Literaturbegriff einer Zeit eröffnet Sagbarkeiten, denn er „definiert die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit“ dessen, was als Kunst bzw. Literatur gilt.46 Daher stellt er „eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens der Kunst“ bzw. Literatur dar.47 Dabei ist jedoch die jeweilige diskursgeschichtliche Relativität des Kunst- bzw. Literaturbegriffs zu beachten, auf die schon Friedrich Schlegel hinweist, wenn er genau diese Relativität als (Versuch einer) Definition im 114. Athenäumsfragment gewissermaßen performativ vorführt: „Eine Definition der Poesie“, schreibt Schlegel – und meint damit sowohl den Bereich der Kunst als auch den der Literatur –, „kann nur bestimmen, was sie sein soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist; sonst würde sie am kürzesten so lauten: Poesie ist, was man zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Ort so genannt hat.“48 Pejorative Konzeptualisierungen des Kitsches, wie sie gerade im Anschluss an Hermann Broch in der Forschung Karriere gemacht haben, lassen ihn überhaupt erst zu einem ‚Problem‘ für die (sog. ‚ernste‘) Literatur bzw. Kunst werden. In ihnen findet daher das elitaristische Verständnis einer sog. ‚Hochkultur‘ Ausdruck, die sich ihrer Hegemonie überhaupt nur durch die Abgrenzung von vermeintlich Niederem versichern kann. Eine solch diskriminierende Haltung gegenüber kulturellen Phänomenen, die 46

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Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien [2000], übersetzt von Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, hrsg. von Maria Muhle, Berlin: b_books 22008, S. 26. Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 23. Schlegel, Friedrich: „114. Athenäumsfragment“ [1798], in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hrsg. von Hans Eichner, München/Paderborn/Wien: Schöningh 1967, S. 181.

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nicht den Kriterien des ‚Ernsten‘ und ‚Echten‘ entsprechen, kennzeichnet auch die theoretische Beschäftigung mit der Idylle seit dem 18. Jahrhundert. In dieser Zeit liegen die Anfänge der großen kulturellen Dichotomisierungen,49 die insofern bis in die Gegenwart nachwirken, als sie bis heute die Vorstellung von Literatur (und Kunst) all jener ‚Apokalyptiker‘ prägen, die laut Umberto Eco „unter Kultur eine ‚aristokratische‘ Tatsache“ verstehen wollen und in massenkulturellen Phänomenen wie dem Kitsch stets Symptome „der drohenden Katastrophe“ vom „Zerfall“ des von ihnen so borniert Behüteten erkennen.50 Eco entwirft die „Formel“ von den Apokalyptikern und den Integrierten allerdings „nicht für den Gegensatz zwischen zwei Einstellungen [...], sondern für die Prädikation von zwei komplementären Adjektiven“.51 Dadurch wird es möglich, „über die Massenkultur zu sprechen“,52 ohne sich in jenen dichotomisierend-diskriminierenden „Diskurs der Defizite und des Uneigentlichen“ einzuschreiben,53 der um 1900 den pejorativ besetzten Begriff des Kitsches hervorbringt und der später mit dem von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno entwickelten Konzept der Kulturindustrie diskursiven Zunder erhält. In diesem Sinn zählt das ästhetische Werturteil ‚Kitsch‘ zu jenen „Kategorien, die das Ergebnis schon vorwegnehmen“, denn als „Pseudokunst“ gehören die so bezeichneten kulturellen Phänomene zu all dem, was die Apokalyptiker „im Bannkreis der klassischen Kunstästhetik“ wahrgenommen wissen wollen.54 Eine entschieden anti-apokalyptische Wende zeichnet sich durch den Diskurs der Postmoderne ab. Ihr Vor-Denker Leslie A. Fiedler erweist sich – mit Eco gesprochen – als integrierter Theoretiker der Integrierten, weil er sich eben nicht der „Theoriearbeit“ versagt, sondern sich „in unbefangener Leichtigkeit“ nachgerade dafür engagiert:55 „Cross the Border – Close the Gap“, fordert Fiedler mit dem Titel seines 1969 im Playboy Magazine erschienenen Essays. Dieser eröffnet die Perspektive eines „new criticism“, der deshalb seinen Gegenständen – wie etwa dem Kitsch – gerecht wird, weil für ihn gilt: „The newest criticism must be aesthetic, poetic in form as well as in substance; but it

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Vgl. Bürger, Christa: „Die Dichotomie von hoher und niederer Literatur. Eine Problemskizze“, in: Bürger, Christa/Bürger, Peter/Schulte-Sasse, Jochen (Hgg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 9–39. Eco, Umberto: „Einleitung“, in: ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur [1964/1978], übersetzt von Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 15–35, hier: S. 15. Eco: „Einleitung“, S. 16. Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S. 16. Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 26. Maase: Grenzenloses Vergnügen, S. 26. Eco: „Einleitung“, S. 16.

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must also be comical, irreverent and vulgar.“56 Was Fiedler programmatisch antreibt, ist nicht nur ein „closing of the gap between elite and mass culture“,57 sondern gleichsam eine Zuschüttung dieses ‚Grabens‘ zwischen U und E – mit einem Ziel: „to destroy just such distinctions and discriminations once and for all“.58 In der von Fiedler begründeten Perspektive und zugleich mit allem Vorbehalt gegenüber jenem Wort, das – seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel – „zu sehr entwertet ist“, erweist sich das, was hier als medienästhethische Untersuchung des materialen Topos der Idylle in literarischen, filmischen und televisiven Texten unternommen wird, als kongruent mit dem, was Barthes in Die Lust am Text als Möglichkeit einer „Ästhetik“ entwirft, „die restlos (vollständig, radikal, in jeder Hinsicht) auf der Lust des Konsumenten beruhte, wer er auch sei, welcher Klasse, welcher Gruppe er auch angehörte, ohne Ansehen der Kulturen oder Sprachen“.59 Inwieweit deren „Folgen“ sich tatsächlich als „enorm, vielleicht sogar umwerfend“ erweisen mögen,60 sei dahingestellt – zentral ist, dass sie beispielsweise in dem hier kurz umrissenen wechselseitigen Verhältnis zwischen Idylle und Kitsch anschaulich werden. Als einer der beiden Pole der Idylle trägt der Kitsch neben der Katastrophe nämlich zur literatur- und kulturgeschichtlich wirksamen Dynamik des materialen Topos bei, die nachfolgend anhand der Dimensionen (Kapitel 2), der Theorien (Kapitel 3) und schließlich der Paradigmen der Idylle (Kapitel 4) genauer erfasst wird. Durch eine Untersuchung der drei konstitutiven Dimensionen der Idylle soll die Spezifik ihrer poiesis insbesondere in Bezug auf die genuine Artifizialität des materialen Topos erfasst werden. So zeichnet sich die Poetizität der Idylle durch die Konvergenz von idyllischer Kunsthaftigkeit und Künstlichkeit aus: Als „artifiziell[es] Arrangement“ kaschiert die Idylle ihre eigene ‚Gemachtheit‘ nämlich stets durch einen besonderen Aufwand an po(i)etischem Tun.61 Dieses ‚Idylle-Machen‘ erscheint letztlich als Fingieren des Fingierens und es zeitigt zum einen eine spezifische Wollust, die den idyllischen Text strukturiert. Zum anderen erweist sich das Idylle-Machen als an der po(i)etischen Konstruktion von Gender beteiligt. Wie die Poetizität betrifft auch die Dimension der Medialität die Artifizialität der Idylle: Die idyllische poiesis ist stets eine auf sich selbst zurückverweisende Tätigkeit, die außerdem medienmetonymisch strukturiert ist. So ‚behandelt‘ die Idylle neben musikalischen auch optische Medien und macht diese dadurch 56

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Fiedler, Leslie A.: „Cross the Border – Close the Gap“, In: Playboy Magazine (12) 1969, S. 151, 230, 252–258, hier: S. 230. Fiedler: „Cross the Border – Close the Gap“, S. 252. Fiedler: „Cross the Border – Close the Gap“, S. 256. Barthes: Die Lust am Text, S. 87, Hervorhebungen i.O. Barthes: Die Lust am Text, S. 87. Klussmann, Paul Gerhard: „Ursprung und dichteres Modell der Idylle“, in: Wedewer, Rolf/Jensen, Jens Christian (Hgg.): Die Idylle. Eine Bildform im Wandel. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit. 1750–1930, Köln: DuMont 1986, S. 33–65, hier: S. 40.

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überhaupt erst für das Idylle-Machen produktiv. Die Serialität erweist sich als das spezifische Merkmal der televisiven Idyllen des 21. Jahrhunderts, wie es beispielsweise die ZDF-Produktion DAS TRAUMSCHIFF veranschaulicht. Die Theorien der Idylle werden im dritten Kapitel der Arbeit behandelt und den Ausgangspunkt dafür bildet die neuzeitliche Idyllenrezeption ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der das utopisch-verklärende Missverständnis eines paradiesischen Arkadienbegriffs zugrunde liegt.62 Dabei resultiert dieses ‚Missverständnis‘ vor allem aus idyllischen Überlagerungen in den philosophischen Schriften Jean-Jacques Rousseaus, die sich einerseits auf dessen Lektüre von Gessners Idyllen beziehen lassen und die andererseits die Rezeption von Rousseaus literarischen und autobiographischen Schriften im 18. und 19. Jahrhundert nachhaltig bedingen. Aus diesem Grund wird geprüft, inwiefern der nach eigener Aussage glühende Verehrer der Idyllen des Zürcher Dichters, von denen sich Rousseau für jeden Tag des Jahres eine zu lesen wünscht,63 als impliziter oder expliziter ‚Fluchtpunkt‘ für die Idyllentheorien Friedrich Schillers und Jean Pauls angesehen werden kann. Diese werden dann hinsichtlich ihrer komplementären Anlage zueinander sowie in Bezug auf ihre jeweiligen Konsequenzen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Idylle im 21. Jahrhundert untersucht. Kapitel 2 und Kapitel 3 bereiten damit das vor, was durch die Paradigmen der Idylle im vierten Kapitel der Arbeit evident gemacht wird: Das aufgrund seiner beiden Pole bestehende ‚Spannungsverhältnis‘ des zwischen Natur und Kultur zu verortenden materialen Topos. Diese strukturellen Zusammenhänge lassen sich vor allem in Romanen aus dem Bereich der sog. ‚Unterhaltungsliteratur‘ nachweisen; kultursemiotisch erfasst werden können sie mit den theoretischen Modellen von John Fiske und Roland Barthes. Im erweiternden Anschluss an aktuelle(re) theoretische Überlegungen, wie Michail Bachtins idyllischen Chronotopos und Hans Adlers epistemisches Gnoseotop, lassen sich die Untersuchungsergebnisse schließlich in eine Systematisierung überführen, durch die eine strukturierte Erfassung der verschiedenen Konkretionen des materialen Topos in literarischen, filmischen und televisiven Texten anhand von drei Paradigmen der Idylle möglich wird. Bevor es allerdings an die analytische Arbeit an den idyllischen Texten geht, soll einleitend zunächst noch das dieser Arbeit zugrundeliegende Konzept des materialen Topos der Idylle sowie die wissenschaftliche Methodik einer materialen Topik dargelegt werden.

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Vgl. Panofsky, Erwin: Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen [1936], hrsg. von Volker Breidecker, Berlin: Friedenauer Presse 2002; sowie: Petriconi, Helmuth: „Das neue Arkadien“, in: Antike und Abendland (3) 1938, S. 187–200. „Je vourdrais qu’il écrivit toutes les années 365 Pieces, et que je pus en lire tous les jours une nouvelle.“ (Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, 52 Bd.e, hrsg. von Ralph Alexander Leigh, Bd. XX: mai–juillet 1764, Oxford: The Voltaire Foundation; Thrope Mandeville House 1972, S. 149 [Brief Nummer 3326].)

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 Idylle, oder: „Nicht / singe ich ohne Geheiß.“ Die Idylle hat ihren divinen Ursprung bei Apollo: Als Musagetes steht er den Musen vor, die den Dichtern die vom „Kunstgotte“ gespendete Inspiration vermitteln.64 Im Kontext dieses Modells vom poeta vates kann Apollo als ‚Erfinder‘ der Idylle gelten, zumal er Tityrus, den dichtenden Hirten in Vergils sechster Ekloge, am Ohr zupft und mahnend daran erinnert, dass ein Hirte „einfache Lieder nur singen“ soll.65 Doch der göttliche Ursprung der Idylle zeigt sich vielmehr daran, dass Apollo selbst ein Sänger ist, der sich im musikalischen Wettkampf mit anderen Sängern wie den Satyrn Pan oder Marsyas misst.66 Somit erweist sich jenes „literarische Phänomen[]“,67 das bis in die vorchristliche Zeit zurückreicht und seinen „Ursprung im Mythos und in der antiken Dichtung“ hat,68 als von Apollo gestiftet: Das sog. Hirten- oder Schäfergedicht, das laut Adelungs ‚Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart‘ „mit fremden Wörtern“ auch als ‚Ekloge‘ bzw. ‚Idylle‘ bezeichnet wird und das seinerseits die „poetische Nachahmung des mit allen Reitzen verschönerten Schäfer- oder Hirtenlebens der alten Welt“ präsentiert.69 Apollo ist also göttlicher ‚Erfinder‘ der Idyllendichtung und bestimmt zugleich deren inhaltliche Gestaltung, denn er kann als erster Hirte überhaupt gelten, dem das Viehhüten zugleich göttliche Aufgabe und Strafe ist: Einerseits besorgt Apollo die musikalische Kurzweil bei den Banketten der Olympischen und andererseits umsorgt er deren Herden.70 Während das Hirtentum zunächst zu seinen genuinen Kompetenzen zählt, wird es ihm für seinen Rachemord an den Zyklopen auch als Buße auferlegt: Zeus verurteilt 64

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Nietzsche, Friedrich: „Die dionysische Weltanschauung“ [1870], in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. III/2: Nachgelassene Schriften 1870–1873, Berlin/New York: de Gruyter 1973, S. 43–69, hier: S. 46, Hervorhebung i.O. durch Sperrung. Vergil: Bucolica [VI,5], in: ders.: Sämtliche Werke. Hirtengedichte, Landbau, Katalepton, Aeneis, hrsg. und übersetzt von Johannes und Maria Götte, München: Heimeran 1972, S. 20–22, hier: S. 21. Nachfolgend werden Zitate aus dieser Ekloge durch Angabe des Verses in Klammern direkt im Text belegt. Vgl. Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung [1955], übersetzt von Hugo Seinfeld, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 162005, S. 66. Böschenstein, Renate: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. III: Harmonie–Material [2001], Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 119–138, hier: S. 119. Klussmann: „Ursprung und dichteres Modell der Idylle“, S. 33. Stichwort ‚Schäfergedicht‘, in: Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. III: M–Scr, Wien: Bauer 1811, Sp. 1324. Vgl. Ranke-Graves: Griechische Mythologie, S. 66.

Idylle, oder: „Nicht / singe ich ohne Geheiß.“

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Apollo dazu, König Admetos ein Jahr lang als Hirte zu dienen und dessen Rinder zu hüten.71 Somit avanciert der Musagetes buchstäblich zum ersten Bukoliker, denn das griechische ‚bukolos‘ heißt ‚Rinderhirt‘72 und demgemäß präfiguriert Apollo jene Gestalten, die als spätere Namensgeber für die Bucolica des römischen Dichters Vergil dienen. Bei den Bucolica handelt es sich um eine Sammlung von zehn Hirtengedichten, mit denen sich Vergil in die von Theokrit begründete Tradition der Idylle einschreibt, um sie seinerseits maßgeblich fortzuführen und seither als ihr „Ahnherr“ zu gelten.73 In seiner sechsten Ekloge reflektiert Vergil über diesen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang, wenn es einleitend heißt: „Unsere Muse zuerst hielt wert syrakrusischen Verses / tändelndes Spiel und errötete nicht, in Wäldern zu hausen.“ (VI, 1f) Als Metonymie verweist der ‚syrakrusische Vers‘ auf die Idyllen des aus Syrakrus stammenden Theokrits.74 Deren ‚tändelndes Spiel‘ deutet sodann auf das im System der Rhetorik für ‚einfache Gattungen‘ anempfohlene genus humile hin, das laut Heinrich Lausberg bezeichnender Weise im „Stil der Ekloge Vergils“ am deutlichsten zum Ausdruckt kommt.75 Die Erwähnung der ‚idyllischen Tändelei‘ zu Beginn der Ekloge erweist sich somit als poetologische Reflexion, denn das hierdurch aufgerufene genus humile wird implizit dem genus sublime gegenübergestellt, in dem gemäß der rhetorischen Tradition von „Kämpfen und Königen“ (VI, 3), Heldentaten und „düsteren Kriegen“ (VI, 7) gedichtet wird. Solche Stoffe erscheinen nun nachgerade ungeeignet für „ein ländliches Lied“, wie Tityrus es „auf schlichtem Halme ersinnen“ will (VI, 8). Trotzdem disqualifiziert sich das einfache „Hirtenlied“ (VI, 9) nicht für die Aufgabe des Lobpreises, denn Tityrus stellt deutlich heraus: „dich, Varus, rühmt unser Strauchwerk“ (VI, 10). Um die hier gemeinten „Kriegstaten des Alfenus Varus“ zu besingen, bedarf es also keines „Heldenepos“76 – die Idylle erweist sich diesem gegenüber als genauso berechtigt für die Behandlung ‚hoher‘ Stoffe. Das dergestalt bloß vermeintlich ‚niedere‘ „Strauchwerk“ der Ekloge, die deshalb so bezeichnet wird, weil sie auf „schlichten Halmen“, also auf der aus Schilfrohr gefertigten Syrinx, dargeboten wird, tritt hier in poetische Konkurrenz mit der großen antiken Gattung des Epos, für die Homers Odyssee und Ilias prototypisch stehen. Damit stellt Vergil seine Eklogen eindeutig in die Tradition der Idyllen Theokrits, denn dessen „Dichtung ist stets eine implizite Auseinandersetzung mit dem Epiker“ Homer, was laut Karl71 72

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Vgl. Ranke-Graves: Griechische Mythologie, S. 201. Vgl. Stichwort ‚bukolisch‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen [1989], hrsg. von Wolfgang Pfeifer, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 82005, S. 182. Klussmann: „Ursprung und dichterisches Modell der Idylle“, S. 40. Vgl. Götte, Johannes/Götte, Maria: „Nachwort“, in: Vergil: Sämtliche Werke. Hirtengedichte, Landbau, Katalepton, Aeneis, hrsg. und übersetzt von Johannes und Maria Götte, München: Heimeran 1972, S. 390–426, hier: S 399. Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik [1963], München: Hueber 31967, S. 154. Götte/Götte: „Nachwort“, S. 399.

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Heinz Stanzel darin evident werde, dass sowohl bei Theokrit als auch Vergil der Hexameter als Versmaß und damit der „nach antikem Verständnis epische Dichtung“ anzeigende „versus heroicus“ verwendet wird.77 Angesichts dieser selbstreflexiven Anlage von Vergils sechster Ekloge lässt sich Ernst A. Schmidts Behauptung nachvollziehen, dass „Bukolik [...] generell Dichtung über das eigene Dichten und die eigene Dichtung“ darstellt.78 Trotz aller impliziten Selbstbezüglichkeit und dem daraus resultierenden ‚poetischen Selbstbewusstsein‘ lässt Vergil seinen Hirten das als Ekloge ‚getarnte‘ Epos dennoch explizit mit apollinischer Lizenz dichten: „Nicht / singe ich ohne Geheiß“ (VI, 8f), stellt Tityrus heraus, um später dann in seinem eigenen Hirtenlied, in dem er vom Hirten Silen berichtet, auf „Phoebus Gesang“ (VI, 82) als ‚Urszene der Idylle‘ hinzuweisen. Von genau dieser gibt Ovid eine Beschreibung, die verdeutlicht, dass Apollos bukolische Arbeit nicht das Hüten von Rindern ist, sondern seine musikalische Betätigung dabei. Dergestalt nimmt das Hirtendasein des Gottes somit zudem bereits jenes „Maskenspiel“ vorweg, das laut Klaus Garber „fortan ein Merkmal der Gattung der Ekloge“ bildet,79 denn vermittels bukolischer Requisiten bekleidet Apollo sein Hirtenamt: Wie es in den Metamorphosen heißt, ‚umhüllt‘ sich Apollo „mit dem Fell eines Hirten“ und während er „den Waldstock“ in der einen Hand hält, trägt er „die Pfeife aus sieben Rohren verschiedener Länge“ in der anderen.80 So ausgestattet widmet sich der Gott dem Musi-

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Stanzel, Karl-Heinz: „Theokrits Bukolika und andere Gedichte. Eidyllia vor dem Idyll“, in: Birkner, Nina/Mix, York-Gothart (Hgg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 14–32, hier: S. 17. Der Hexameter, der sich aus sechs daktylischen Metren zusammensetzt, gilt als „grundlegendes Gattungsmerkmal der Bukolik“ (Schmidt, Ernst A.: Poetische Reflexionen. Vergils Bukolik, München: Fink 1972, S. 38) und in der Antike als „die Versform der epischen Dichtung“ (Braak, Ivo: Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung, Unterägeri: Hirt 71990, S. 121, Hervorhebungen i.O.). Gerade die von Johann Heinrich Voß vorgenommene Übertragung des antiken Metrums in seine Idylle Luise sowie in seine Homer-Übersetzungen erscheint jedoch als „berüchtigt-künstlich[e]“ Nachbildung des antiken Verses (Sengle, Friedrich: „‚Luise‘ von Voß und Goethes ‚Hermann und Dorothea‘. Didaktisch-epische Form und Funktion des Homerisierens“, in: Rötzer, Hans Gerd/Walz, Herbert (Hgg.): Europäische Lehrdichtung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, S. 209–223, hier: S. 221): Der von ihm dazu verwendete Spondeus, ein „Versfuß mit 2 langen Silben“, ist nämlich im Deutschen aufgrund der „Akzentuierung nicht möglich“ (Braak: Poetik in Stichworten, S. 122). Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 107. Garber, Klaus: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, Köln/Wien: Böhlau 1974 (zugl. Bonn, Univ., Diss., 1969/70), S. 9. Auch Friedrich Kittler erkennt das Maskenspiel Apollos, da dieser für ihn in Homers Apollo-Hymnus „selbst nur eine Maske des Dionysos“ darstellt (Kittler, Friedrich A.: Musik und Mathematik, Bd. I: Hellas, Teil 1: Aphrodite, München: Fink 2006, S. 137). Ovid: Metamorphosen [II,680ff], übersetzt und hrsg. von Hermann Breitenbach, Stuttgart: Reclam 1971, S. 80.

Idylle, oder: „Nicht / singe ich ohne Geheiß.“

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zieren und vergisst darüber das Hüten der Rinder: „Wie du [Apollo, N.J.] der Liebe dich weihst, mit der Pfeife das Herze beschwichtigst“, heißt es bei Ovid, „Schweifen die Rinder davon, so erzählt man, in pylische Felder / Ohne Bewachung [...]“.81 Die hier beschriebene Urszene ist eine doppelte: Gleichermaßen stellt sie nämlich den Ursprung der Idylle wie auch den der Literatur(wissenschaft) dar, denn Apollos Unaufmerksamkeit den Rindern gegenüber ruft Hermes auf den Plan. Kaum geboren will „der berühmte Schimmernde“ sein „Verlangen nach Fleisch“ durch den Diebstahl von 50 Tieren aus der apollinischen Herde befriedigen, wie es in Homers Hymnus „An Hermes“ heißt.82 Mit seiner „pfiffigen Kunst“ der Täuschung gelingt es dem listigen Gott, die Spuren der gestohlenen Rinder, die er rückwärts laufen lässt, auf dem „sandigen Boden“ zu verwischen.83 Mit den von ihm buchstäblich ausgelegten „täuschenden Pfaden“84 empfiehlt sich Hermes als „Genie des Betrugs und der systematischen Desinformation“,85 denn „wer Spuren tilgen will“, stellt Jochen Hörisch fest, „muß sie ins Unlesbare vergrößern“.86 Auf diese Weise macht der trickreiche Gott überhaupt erst jene Kunst der Auslegung notwendig, die fortan als Hermeneutik seinen Namen tragen und zum Paradigma der Textexegese erhoben wird. Die Idylle ist nicht nur das Verhängnis Apollos, sondern auch das der Literatur und ihrer Wissenschaft. Entsprechend verhängnisvoll erscheint daher auch die weit zurückreichende Begriffsgeschichte der Idylle mit ihren „aus der Antike stammenden gattungsgeschichtlichen Zusammenhäng[en]“,87 die zu verschiedenen wissenschaftlichen Konzeptionen geführt haben, nach denen die Idylle entweder im engeren Sinn als „Gattung meist kurzer epischer oder lyrischer Texte mit Schilderungen einfach-friedlicher, meist ländlicher Lebensformen“88 anzusehen ist oder aber im weiteren Sinn als eine im Idyllischen anschaulich werdende ‚Idee‘.89 Nachfolgend sollen diese unterschiedlichen Fassungen des Idylle-Begriffs nachgezeichnet und durch eine rhetorische Aktualisierung der Gattungsgeschichte neu perspektiviert werden, um so den materialen Topos der Idylle hinsichtlich seiner Verwendung in der vorliegenden Arbeit erstens historisch zu

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Ovid: Metamorphosen [II, 683f], S. 80. Homer: „An Hermes“, in: Homerische Hymnen. Griechisch und deutsch, hrsg. von Anton Weiher, München: Heimeran 1951, S. 62–93, hier: S. 67. Homer: „An Hermes“, S. 67. Homer: „An Hermes“, S. 67. Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9. Hörisch: Die Wut des Verstehens, S. 11. Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 122. Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 122. Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle [1967], Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 21977, S. 7.

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verorten und zweitens für eine medienästhetische Untersuchung idyllischer Texte aus Literatur, Film und Fernsehen zu operationalisieren.

1.2.1Idylle/Idyllisch: Problematische Perspektivierungen Im Rückgriff auf den von Emil Staiger eingeführten Begriff des ‚Idyllischen‘ schlägt Renate Böschenstein-Schäfer in ihrer so umfassenden wie grundlegenden Monographie zur Idylle zwei Konzepte vor: Die Idylle als Gattung grenzt sie von der „Idee der Idylle“ ab.90 Diese Differenzierung ist aus zwei Gründen problematisch: Erstens ist nicht klar, in welchem Verhältnis die Idylle und das Idyllische zueinander stehen. In einem späteren Artikel expliziert Böschenstein, dass das Idyllische sich auch in anderen literarischen und bildlichen Formen realisiere und deshalb der Gattung vorausgehe,91 während beispielsweise Günter Häntzschel die Gattung der Idylle und die Kategorie des Idyllischen in das exakt umgekehrte Verhältnis setzt: Er versteht unter dem Idyllischen einen „aus der Gattung der Idylle abgeleiteten Komplex aus Motiv- und Strukturelementen“, der „auch in andere Gattungen eingeht (Romane, Erzählungen, selbst Dramen) oder im idyllischen Epos als Mischform auftritt“.92 Aus diesen divergierenden Relationierungen der Idylle und des Idyllischen resultiert das zweite Problem dieser Unterscheidung: Sie ist zwar mithin im Forschungsdiskurs etabliert, aber bislang keinesfalls in zufriedenstellender Weise hinsichtlich ihrer ‚konzeptuellen Genealogie‘ kritisch reflektiert sowie in Bezug auf das konkrete Verhältnis der beiden mit ‚Idylle‘ und ‚Idyllisch‘ bezeichneten Konzepte operationalisiert worden (vgl. hierzu Kapitel 3.2). Der Grund dafür, dass heute nicht nur die beiden Konzepte von der ‚Idylle‘ und dem ‚Idyllischen‘ existieren, sondern auch dafür, dass sie nebeneinander bestehen, liegt in den unterschiedlichen theoretischen Fassungen des Begriffs ‚Idylle‘, die sich insbesondere seit dem 18. Jahrhundert entwickeln und bis in die Gegenwart nachwirken. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts erlebt die Gattung der Idylle eine kurze ‚Renaissance‘: Obwohl die meisten Vertreter der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Idyllendichtung als „unwirkliche, unnatürlich gekünstelte Dichtungsart“ abqualifizierten,93 erfährt die 90

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Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 7. Worauf Böschenstein-Schäfer in ihrer Herleitung des Konzepts nicht eingeht, ist der erstmalig für eine literaturwissenschaftliche Analyse operationalisierte Gebrauch des Begriffs vom Idyllischen in Helmut Küppers 1928 veröffentlichter Untersuchung zu Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz (vgl. Küpper, Helmut: Jean Pauls „Wuz“. Ein Beitrag zur literarhistorischen Würdigung des Dichters [1928], Tübingen: Niemeyer 1972). Vgl.: Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 120. Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 123. Diekkämper, Birgit: Formtraditionen und Motive der Idylle in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bemerkungen zu Erzähltexten von Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck und Adalbert Stifter, Frankfurt a.M.: Lang 1990 (zugl. Bochum, Univ., Diss., 1989), S. 17.

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deutschsprachige Hirten- und Schäferdichtung nach dem Barock mit den 1756 veröffentlichen Idyllen des Zürcher Autors Salomon Gessner einen neuen Höhepunkt. Dabei erscheint diese gleichsam „letzte Blüte der europäischen Schäferpoesie“, wie es Helmut J. Schneider geradezu idyllisch formuliert,94 als Beginn der „neuzeitlich bürgerlich[en] Entwicklung der Idylle“:95 Erst seit Gessners „grundlegendem Neuansatz“ lässt sich nämlich überhaupt „von einem eigenständigen Idyllen-Begriff“ sprechen,96 denn mit dem Erfolg der Gessner’schen Idyllen setzt sich der Terminus ‚Idylle‘ endgültig „gegenüber [...] konkurrierenden Bezeichnungen“ wie ‚Bukolik‘, ‚Schäfer-‘ bzw. ‚Hirtendichtung‘ oder ‚Pastorale‘ durch.97 Indem sie Theokrit und Vergil als „Orientierungsmuster“ nutzen,98 etablieren die Idyllen Gessners also den modernen Gattungsbegriff,99 denn die von und mit ihnen geleistete „Wiederbelebung“,100 die Gessner selbst mithin als schlichte Adaption der antiken Texte verstanden wissen will,101 beschert dem literarischen Phänomen eine enorme Popularität. Die Idyllen stellen nämlich nicht nur einen

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Schneider, Helmut J.: „Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder“, in: Die Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen, hrsg. von Helmut J. Schneider, Frankfurt a.M.: Insel 1978, S. 353–423, hier: S. 356. Kesselmann, Heidemarie: Die Idyllen Salomon Geßners im Beziehungsfeld von Ästhetik und Geschichte im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte der Idylle, Kronberg/Ts.: Scriptor 1976, S. 10f. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 122. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 124. Der Begriff ‚Pastorale‘ stammt aus dem englischen Sprachraum und ist in Renaissance und Barock insbesondere auf den Schäferroman bezogen (vgl. Braak: Poetik in Stichworten, S. 247). Im Bereich der Musik, genauer: in dem des Singspiels, werden mit ‚Pastorale‘ im 17. und 18. Jahrhundert vor allem „kleine, opernartige, idyllische Bühnenstücke“ bezeichnet, die mithin auch unter dem Begriff ‚Tonidylle‘ firmieren (Stichwort ‚Pastorale‘, in: Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur [1955], Stuttgart: Kröner 4 1964, S. 500). Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 1. Theokrits und Vergils Gedichte bilden also sowohl den Ursprung als auch das Paradigma für die durch Gessner begründete ‚moderne‘ literarische Idylle. Doch schon vor Gessner erhält „die deutsche Idyllenpoesie […] ihre wesentlichen Impulse“ und zwar in der Frühen Neuzeit: einerseits durch Theokrit und Vergil und andererseits durch die gleichsam an diesen antiken Vorbildern sowie denen der Renaissance – Dante, Boccaccio, Petrarca – geschulte „anakreontische Barock- und Rokokodichtung“ (Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 14). Umfassend dargestellt ist diese Wirkungsgeschichte bei Helmut Petriconi und Klaus Garber (vgl. Petriconi: „Das neue Arkadien“; sowie Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis; Garber, Klaus: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur, München: Fink 2009). Kesting, Marianne: „Watteau und Baudelaire. Konstruktion und Zusammenbruch der späten Idylle“, in: Wedewer, Rolf/Jensen, Jens Christian (Hgg.): Die Idylle. Eine Bildform im Wandel. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit. 1750–1930, Köln: DuMont 1986, S. 79–97, hier: S. 79. Vgl. Hentschel, Uwe: „Salomon Geßners Idyllen und ihre deutsche Rezeption im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert“, in: Orbis Litterarum (54) 1999, S. 332–349, hier: S. 335.

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„großen europäischen Erfolg“ dar,102 sie machen die deutschsprachige Literatur auch erstmalig zu einem internationalen ‚Modephänomen‘, das bis über die 1770er Jahre hinaus anhält und „allenfalls noch von Goethes Werther erreicht“ wird.103 Die „große Wirkung“ von Gessners Idyllen, erklärt Böschenstein, beruhe gerade auf deren Vermittlung zwischen der Bewahrung der antiken Modelle und der Integration moderner […] Elemente, zwischen Fiktionalität und Verweisen auf die äußere Realität, zwischen der Evokation einer zur Evasion einladenden imaginären Welt und dem Hindeuten auf die Kluft zwischen der dort herrschenden Harmonie und der Disharmonie ständischer Gesellschaft.104

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfährt die Gattung ‚Idylle‘ aber nicht bloß eine große Rezeption, sie wird auch zum Gegenstand kontroverser wissenschaftlicher Betrachtung. Nach Schneider lässt sich die historische Entwicklung der Idyllentheorie des 18. Jahrhunderts in vier Phasen gliedern:105 Zunächst eine gegenstandsorientierte, in der die ‚vernünftige‘ Darstellung der Natur im Vordergrund steht. Johann Christoph Gottsched, dessen regelpoetische Fassung der Idylle später in Bezug auf den Aspekt der Natürlichkeit genauer untersucht wird (vgl. Kapitel 4.2), und Johann Adolf Schlegel zählen zu den wesentlichen Vertretern dieser Phase. Salomon Gessner, Johann Georg Sulzer, Christoph Martin Wieland und Johann Jakob Engel stehen für die zweite, empfindsam kritische Phase der Idyllentheorie, in der die Themen ‚Subjektivität‘ und ‚Natur als Fluchtraum‘ von zentraler Bedeutung sind. Mit Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt wird die Theorie der Idylle geschichtsphilosophisch ausgerichtet, wobei gerade in den theoretischen Schriften Schillers die Aporie des Idyllenkonzepts angelegt sei (inwiefern diese Behauptung zu relativieren ist, wird in Kapitel 3.2 dargelegt). In seiner Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ versucht Schiller sich theoretisch an der modernen Transformation jenes aus der Antike stammenden ‚naiven‘ Idyllekonzepts,106 das für ihn vor allem noch bei Gessner nachwirkt. Schillers Ansatz, der an Immanuel Kants ‚Naturästhetik‘ in der Kritik der Urteilskraft anschließt und später maßgeblich Hegels Kunstphilosophie prägen wird,107 ist gerade für die wis-

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Schneider, Helmut J.: „Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie“, in: ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorie im 18. Jahrhundert, Tübingen: Narr 1988, S. 7–74, S. 9. Schneider: „Die sanfte Utopie“, S. 356. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 124. Vgl. hierzu die umfassende Darstellung mit Quellensammlung in Schneider, Helmut J. (Hg.): Deutsche Idyllentheorie im 18. Jahrhundert, Tübingen: Narr 1988, S. 42f. Vgl. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 58. Vgl. hierzu insbesondere Böhme, Hartmut: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck,

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senschaftliche Konzeptualisierung der Idylle im 20. Jahrhundert von besonderer Bedeutung: Schiller differenziert nämlich zwischen der Idylle als Gattung und der Idylle als ‚Empfindungsweise‘. Diese theoretisierende Unterschied erscheint „insofern zukunftsweisend“, als die wissenschaftlichen Konzeptualisierungen der Idyllenforschung des 20. Jahrhunderts explizit oder implizit auf dem Schiller’schen Ansatz aufbauen, der „in Bezug auf die Idylle die Erweiterung zum Idyllischen und die Ablösung von der Kleinform legitimiert.“108 Im indirekten Anschluss an Schiller zeigt Jean Paul zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seiner Vorschule der Ästhetik dann schließlich die „Begrenzung der Idylle“ auf, um sie als „Nebenform des Romans“ zu bestimmen.109 Diese theoretischen Reflexionen leiten das ‚Ende‘ der Gattung als eigenständige literarische Form ein und für die Idyllenforschung des 20. Jahrhunderts liefert gerade die von Jean Paul geleistete romantheoretische Perspektivierung die Möglichkeit, das ‚Idyllische‘ als „ästhetische Kategorie“ von der Gattung ‚Idylle‘ abzugrenzen.110 Im 19. Jahrhundert lebt „[d]as Konzept der Idylle […] in äußerst heterogenen Erscheinungsformen in der deutschen Romantik und Biedermeierzeit fort, wenngleich das antike Modell als verbindliches Gattungsmuster kontinuierlich Boden an poetische Neuorientierungen [insbesondere den Roman, N.J.] verliert“.111 Nicht zuletzt durch Hegels Geringschätzung der „belanglosen Nichtigkeiten der Hirtenidylle“ kommt es zu einer literarischen Abwertung der Gattung,112 obschon sich „das Desinteresse an der Idylle auch in den anderen westlichen Literaturen, die nicht unter Hegels Einfluß standen“, zeigt.113 Hegels Urteil über die Idylle ist vernichtend: Vergil hält er für ‚kahl‘ in Bezug auf die „lebendig[e] Anschauung“ und Gessner findet er gänzlich ‚langweilig‘ angesichts der dargebotenen „prätentiös[en] Unschuld, Frömmigkeit und Leerheit“, die

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Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. IV: Medien–Populär [2002], Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 432–498, hier: S. 485ff. Vgl. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 129. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 130. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 68. Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 248. Die relativ kurze ‚Renaissance‘ der Idylle durch Gessners Texte und ihre ‚Auflösung‘ als eigenständige Gattung zu Beginn des 19. Jahrhunderts verweist auf den von Friedrich Kittler beschriebenen Umbruch um 1900, als aus Dichtung Literatur wird (vgl. Kittler, Friedrich A.: Grammophon Film Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 27). Nach Kittler zeichnet sich der Übergang von Dichtung zu Literatur insbesondere durch den Verlust des Musikalischen aus, das in der Dichtung vorherrschend gewesen ist, in der Literatur hingegen aber verschwindet. Die Auflösung der Idylle erscheint hierfür so nachgerade symptomatisch wie symbolisch, da diese Gattung als musikalischste angesehen werden kann: Der Gesang der Hirten stellt das musikalische Moment der Idylle und zugleich ihren konstitutiven Gegenstand dar (vgl. Kapitel 2.2.1). Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 7. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 131.

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sich Hegel sowohl in den antiken wie auch den modernen Idyllen darbietet.114 Dass der deutsche Philosoph gerade den „Geßnerschen Schriften“ einen „Mangel der Entwicklung des Geistes“ attestiert,115 begründet er damit, dass die Idylle zu jenen Gattungen gehöre, die sich als „unvollkommen an Inhalt oder an Form oder an beiden zugleich“ erweisen und deshalb „nicht die wahre Bedeutung echter Objektivität“ besitzen.116 Gerade diese sei aber notwendig, um in „einer wahrhaften Einteilung“, wie sie die Hegel’sche Ästhetik als Systematisierung der Künste leisten will, einen Platz zu finden und durch die dort erfolgende begriffliche wie konzeptuelle Zuweisung aufzuzeigen, „wie die Sache sein soll und der Wahrheit nach wirklich ist“.117 Hegels philosophisches Phantasma, in einer Systemästhetik zur ‚allumfassenden Erfassung‘ der Künste zu gelangen, scheint selbst letztlich das Symptom einer „idyllischen Geistesarmut“ zu sein, die der Ästhetiker an der Idylle so harsch kritisiert,118 denn nach Rancière erweist sich Hegel als strikter Vertreter eines repräsentativen Regimes der Künste, das eine „Rangordnung der Gattungen gemäß der Würde ihrer Gegenstände“119 entwirft und den Künsten dadurch „Autonomie verleiht, aber im gleichen Zug die Autonomie nur im Zusammenhang mit [dieser] generellen Ordnung“ denken kann.120 Letztlich ist es die Kunst bzw. Literatur selbst, die Hegels Kritik widerlegt, denn trotz aller philosophischen Geringschätzung hat die Idylle „auf die Erzählkunst des 19. [Jahrhunderts] in mannigfacher Weise eingewirkt“.121 So lassen sich die „Übernahme und Variation typischer Idyllenmotive“ insbesondere in der sich um 1800 neu konstituierenden Gattung ‚Roman‘ erkennen,122 und auch in Dramen sowie anderen, Gattungsgrenzen überschreitenden literarischen Formationen finden sich „integriert[e] partiell[e] Idyllen“.123 Angesichts dieser Tendenzen scheint es geradezu ‚überdramatisiert‘, wenn Böschenstein-Schäfer dann trotzdem vom „Absterben der Idylle“ spricht,124 weil sie „als literarische Form“ aufgegeben werde und vielmehr „in eine Existenz als Idee“ übergehe.125 Die im 19. Jahrhundert beginnende und bis in die heutige Zeit nachwirkende

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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik III, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 391. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 336. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 390. Hegel: Vorlesung über die Ästhetik III, S. 390. Hegel: Vorlesung über die Ästhetik I, S. 336. Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 39. Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 38. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 126. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 127. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 131. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 139. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 130.

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Entwicklung zeigt vielmehr ein ‚Überleben‘ der Idylle – und dies nicht als ‚metaphysische Idee‘ vom Idyllischen, sondern als ein „vielfach funktionalisierter To[pos]“.126 Die konzeptuelle Differenzierung zwischen ‚der Idylle‘ und ‚dem Idyllischen‘ trägt also insbesondere der Komplexität des literarischen Phänomens in seinen historischen Wandlungen Rechnung. Begrifflich wird dabei innerhalb der Unterscheidung von ‚Idylle/Idyllisch‘ mit dem Nomen vor allem auf die Gattung verwiesen. Dagegen ist das substantivierte Adjektiv auf „[i]dyllische Szenen“ und Szenerien bezogen, um so ein literarisches „Fortleben der Idylle“ unabhängig von der Gattung anzuzeigen, das sich gerade „in der Trivialliteratur“ sowie anderen, zumeist als vermeintlich ‚minderwertig‘ und ‚kitschig‘ geltenden literarischen und medialen Formationen zeigt.127 In dieser Perspektive erweist sich die konzeptuelle Differenzierung von ‚Idylle/Idyllisch‘ also durchaus als brauchbar, allerdings wird mit Bezug auf die zu untersuchenden Texte in der vorliegenden Arbeit eine andere Terminologie vorgeschlagen: Statt ‚die Idylle‘ von ‚dem Idyllischen‘ zu unterscheiden, scheint es praktikabler, zunächst zwischen der Idylle im engeren und im weiteren Sinn zu differenzieren. Mit dem Konzept einer Idylle i.e.S. wird es möglich, die enge Fokussierung auf die Gattung neu zu perspektivieren und die Idylle als materialen Topos in der Tradition der Rhetorik als ‚Stück‘ zu begreifen. In Ergänzung dazu steht die Idylle i.w.S., die in unterschiedliche literarische bzw. mediale Formationen diffundiert. Vor diesem Hintergrund kann die metaphysisch anmutende Vorstellung von einer ‚Idee der Idylle‘ nachgerade selbst ‚transzendiert‘ werden, wenn die sich im ‚Idyllischen‘ realisierende ‚Idee‘ als der von Häntzschel beschriebene „Komplex aus Motiv- und Strukturelementen“ konkret gefasst wird.128 Letztlich ergibt sich so eine topische Betrachtung der Idylle, denn diese erweist sich in Bezug auf die rhetorische Tradition als ein ‚materialer Topos‘. Der Vorzug dieses Konzepts besteht darin, dass der materiale Topos die beiden differenzierenden Begriffe der Idylle im engeren wie im weiteren Sinn integriert, sodass die der Unterscheidung ‚Idylle/Idyllisch‘ zwar implizit zugrunde liegende, aber bislang explizit weder operationalisierte noch konkret analysierte wechselseitige Dynamik zwischen diesen beiden Kategorien insbesondere an die idyllische Theoriebildung zurückgebunden und dadurch kritisch reflektiert werden kann. Schema 1 zeigt das zuvor umrissene Alternativkonzept zur Unterscheidung ‚Idylle/ Idyllisch‘. Zentral ist dabei die Überführung der durch das ‚versus‘ angezeigten Differenz zwischen den Kategorien der Idylle und des Idyllischen in eine operationalisierbare Beziehung zwischen rhetorischem Stück auf der einen und Motiv-/Strukturkomplex auf der anderen Seite. Daraus ergibt sich eine Perspektivierung der Idylle im Sinn der materialen Topik:

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Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 131. Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 124. Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 123.

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Idylle ↓

Idyllisch ↓

konzeptuelle Alternative:

konzeptuelle Alternative:

Idylle i.e.S.

Idylle i.w.S.

Implikation statt der Fokussierung auf die Gattung: Betrachtung der Idylle als

Implikation statt der Fokussierung auf eine ‚Idee‘: Betrachtung der Idylle als

rhetorisches Stück



Motiv-/ Strukturkomplex

materialer Topos Schema 1: Materialer Topos (Quelle: eigene Darstellung)

1.2.2Die Idylle als ‚kleines (Kunst-)Stück‘ Etymologisch betrachtet geht der Begriff ‚Idylle‘ auf griech. ‚eidyllion‘ zurück, das als Bezeichnung für eine vermutlich zwischen 280 und 260 v. Chr. verfasste „Gruppe von Gedichten des hellenistischen Autors Theokrit“ verwendet wurde,129 dies jedoch nicht von Theokrit selbst, sondern von den antiken Kommentatoren seiner Texte.130 Demnach handelt es sich bei dem, was bis heute ‚Idylle‘ genannt wird, um ein literarisches Phänomen, denn die eidyllia Theokrits waren „kleine Einzelgedichte mit ländlichen Themen“.131 In etymologischen Darstellungen wird der aus dem Griechischen stammende Begriff ‚Idylle‘ konkretisiert als „Bild eines einfachen, beschaulichen Lebens“.132 Diese gemeinhin verbreitete Erklärung resultiert, so Böschenstein-Schäfer, vermutlich aus einem Übersetzungsfehler im 18. Jahrhundert,133 der darin begründet liegen dürfte, dass ‚eidyllion‘ eine Diminutivbildung zu griech. ‚eidos‘ ist, das ‚äußere Erscheinung, Gestalt

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Klussmann: „Ursprung und dichteres Modell der Idylle“, S. 33. Vgl. Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 36. Büttner, Nils: Geschichte der Landschaftsmalerei, München: Hirmer 2006, S. 27. Stichwort ‚Idyll‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 571, Hervorhebung N.J. Vgl.: Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 2f.

Idylle, oder: „Nicht / singe ich ohne Geheiß.“

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oder Form‘ bedeutet.134 Die Semantik dieses Begriffs wurde auf die Diminutivbildung übertragen und hat sich in der deutschsprachigen Übersetzung von ‚eidyllion‘ mit ‚Idylle‘ erhalten. Mitgetragen wurde diese Fehlübersetzung durch den darin impliziten Bezug zur bildenden Kunst, denn Darstellungen ruraler Landschaften, wie sie sich als Gegenstand in Theokrits Texten finden, avancieren bereits in der Antike „zu einem zentralen Motiv der Landschaftsmalerei“.135 Während Schmidt behauptet, dass das Wort ‚eidyllion‘ „weder bei Theokrit selbst noch in der hellenistischen Bukolik“, also bei Vergil, gebraucht würde,136 stellt Stanzel heraus, dass sich der Terminus bereits in der Antike „als eine Bezeichnung für ein Gedicht“ Theokrits findet, um von den späteren „Theokriterklärern als Bezeichnung aller seiner Gedichte“ verwendet zu werden.137 In diesem Sinn erscheint ‚eidyllion‘ in der Antike zunächst als „eine Sammelbezeichnung für verschiedenartige Gedichte und Gedichttypen“,138 die wiederum – und hier sind sich Schmidt und Stanzel einig – gleichbedeutend neben anderen Bezeichnungen steht, wie sie der jüngere Plinius „an einer Stelle seiner Briefe, an der er verschiedene Bezeichnungen für seine eigenen Gedichte durchspielt“,139 nennt: „epigrammata, idyllia, eclogae und poematio“.140 Gemeinsam ist diesen von Plinius synonym gebrauchten Begriffen, dass die mit ihnen bezeichneten Texte sich durch zwei Merkmale auszeichnen: ihre Selbstständigkeit sowie ihre ‚kleine Form‘.141 Entsprechend gilt für den bei Plinius anschaulich werdenden Gebrauch von ‚eidyllion‘ in der Antike, dass der Begriff erstens „nicht auf die bukolischen Gedichte beschränkt ist“,142 und dass es sich zweitens ganz allgemein um die „Bezeichnung für ein kleines, selbstständiges Gedicht“ handelt, das allerdings inhaltlich nicht näher bestimmt ist.143 Vor dem Hintergrund dieser Begriffsverwendung in der Antike konkretisiert Stanzel die Etymologie von ‚eidyllion‘, das „unschwer als Diminutivbildung zu eidos [...] verstanden werden“ müsse, woraus sich gemäß „den Konventionen der Zeit Theokrits und seinen poetologischen Überzeugungen“ als formales Kriterium der Idyllendichtung 134 135

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Vgl.: Stichwort ‚Idyll‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 571. Büttner: Geschichte der Landschaftsmaleri, S. 27. Landschaftsdarstellungen aus der Antike sind in Mosaiken und Wandmalereien erhalten, wobei ihnen ursprünglich vor allem eine architektonische Dekorationsfunktion zugekommen ist. Neben diesen erhaltenen Abbildungen existieren Beschreibungen in historischen Quellen, beispielsweise von Vitruv oder Plinius d. Ä., wo derartig dekorative Landschaftsbilder als sog. ‚topia‘, also bildhafte Darstellungen landschaftlicher Szenen, beschrieben sind (vgl. ebd., S. 23ff). Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 36. Stanzel: „Theokrits Bukolika und andere Gedichte“, S. 14f. Stanzel: „Theokrits Bukolika und andere Gedichte“, S. 16. Stanzel: „Theokrits Bukolika und andere Gedichte“, S. 15. Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 37. Vgl. Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 37. Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 37. Stanzel: „Theokrits Bukolika und andere Gedichte“, S. 15f.

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ableiten lässt, dass es sich dabei um Texte „geringeren Umfangs“ handelt.144 Dieses formale Kriterium, das neben Stanzel auch Schmidt als konstitutiv für die Idylle anerkennt,145 erscheint nicht nur als das einzig historisch invariante, es avanciert mithin zum semantischen Merkmal der literarischen „Kleinform“, als die Böschenstein die Idylle explizit bezeichnet.146 Wie stark die Semantik des ‚Kleinen‘ einerseits die – mit Michail Bachtin gesprochen – „Mikrowelt“ der Idylle und ihre konzeptuelle Fassung andererseits determiniert,147 zeigt sich in Schneiders ausführlicher Definition: Die Idylle zeichnet die heile Welt im Kleinen, ein erfülltes Leben innerhalb überschaubarer, und das heißt meistens ländlicher Verhältnisse, fern von allen komplizierteren Gesellschaftsbildungen, im vertrauten Umgang der Menschen untereinander und mit einer freundlich gesonnenen Natur. Gleichgültig, ob das Wunschbild in einer zeitlichen oder räumlichen Ferne, etwa einer idealen Urzeit oder einer paradiesisch-exotischen Gegend, oder ob es in einem geschützten Reservat innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität angesiedelt ist: nie geht es der Idylle um größere Gesellschaftsentwürfe, stets konzentriert sie sich auf einen engen Umkreis, in dem sich einfaches menschliches Glück verwirklicht. Das bedeutet den Ausschluß, zumindest das Abdämpfen nicht nur aller störenden und gefährdenden Faktoren wie Schmerz und Tod, Leidenschaft, Gewalt und Tragik, Kommerz und Politik – sondern auch alles Kühnen und nach Entwicklung Strebenden, alles Komplexen, Vermittelten und Institutionellen […].148

Zur Semantik des ‚idyllisch Kleinen‘ – die bei Schneider indirekt, aber eindeutig an Jean Pauls Theorie der Idylle orientiert ist (vgl. Kapitel 3.3) – gehören laut dieser Definition also die Überschaubarkeit, das Unkomplizierte, die Vertrautheit und Freundlichkeit, das Geschütztsein, die Nähe, die Einfachheit und die Reduktion bzw. der Ausschluss von allem, was als Störung bzw. Gefährdung empfunden werden kann. Vor dem Hintergrund dieser sich erstens durch die Etymologie des Begriffs ‚Idylle‘ ergebenden, zweitens durch die antike Begriffsverwendung determinierten und drittens durch die (moderne) definitorische Fassung als inhaltliches Konstituens etablierten ‚semantischen Implikation‘ des Kleinen ‚in‘ der Idylle erscheint diese weniger als gattungstheoretisches Phänomen, sondern viel eher als ein medienästhetisches der Form bzw. des Formats, genauer: des „Kleinformat[s]“, wie Schneider die Idylle an anderer Stelle bezeichnet.149 Eine Abwendung von der Gattungsfrage – wie sie zuvor schon durch die 144 145 146 147

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Stanzel: „Theokrits Bukolika und andere Gedichte“, S. 15. Vgl. Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 32ff. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 125. Bachtin, Michail M.: „Der idyllische Chronotopos“, in: ders.: Chronotopos [1975], übersetzt von Michael Dewey, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 32014, S. 160–179, hier: S. 160. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 8, Hervorhebung N.J. Schneider: „Die sanfte Utopie“, S. 355. Aus einer solchen ‚Formathaftigkeit‘ der Idylle lassen sich letztlich ihre im zweiten Kapitel der Arbeit zu untersuchenden Dimensionen ableiten, denn wie es die Etymologie des Begriffs ‚Format‘ nahelegt, ist auch die Idylle etwas ‚Geformtes‘ (vgl.

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alternative konzeptuelle Unterscheidung von Idylle i.e.S und Idylle i.w.S. vorgeschlagen wurde150 – zugunsten einer medienästhetischen Perspektivierung der Idylle erscheint insofern gerade für die vorliegende Untersuchung konsequent und notwendig, als die verschiedenen Diffusionen des materialen Topos im 19. Jahrhundert bis in die Publizistik hineinreichen (man denke nur an die ab 1853 erscheinende Zeitschrift Die Gartenlaube, die das Format der Familienillustrierten maßgeblich prägen wird) und im 20. Jahrhundert bis ins Fernsehen, wo beispielsweise die TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF das Zweite Deutsche Fernsehen als regelrechten ‚Idyllen-Sender‘ erscheinen lässt.151 Wie eingangs gezeigt, erfolgt die antike Idyllendichtung ‚nicht ohne Geheiß‘, denn Apollo, der göttliche Hirten-Dichter, figuriert das Paradigma für das in Theokrits und Vergils Idyllen zentrale Motiv des „Sänger- und Dichterwettstreits“,152 der von Hirten ausgetragen wird. Als Figuren der Idylle aktualisieren sie ebenfalls das semantische Merkmal des ‚idyllisch Kleinen‘, denn die Hirten sind „insofern ‚klein‘, als sie einer niedrigen sozialen Schicht angehören und, obwohl das Metrum [bei Theokrit und Vergil, N.J.] wie im Epos der Hexameter ist, unheroisch sprechen“.153 Das ‚unheroische Sprechen‘ der idyllischen Hirten stellt sich als ein Dichten en plain air während der Mußestunden der Viehhirten dar und dies vor allem durch die „Beschreibung [des] lieblichen Fleckens“ Natur, in dem die dichtenden und singenden Hirten präsentiert werden.154 Insofern sind die beiden Idylle-Motive des Hirtengesangs und der Landschafts-

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Niehaus, Michael: Was ist ein Format?, Hannover: Werhahn 2018, S. 9). Dieser Aspekt der Idylle betrifft ihre Poetizität (vgl. Kapitel 2.1) und auch ihre Medialität resultiert aus der Formierung der Idylle, denn „[e]in Medium ist kein Format im Singular, sondern es wird strukturiert durch Formate im Plural“ (ebd., S. 8) – und die ‚Pluralität‘ der Idylle zeigt sich vor allem in ihrer medienmetonymischen Disposition (vgl. Kapitel 2.2). Mit dem Format teilt die Idylle schließlich auch die für beide konstitutive Serialität (vgl. ebd., S. 86). Sie wird als dritte der Dimensionen der Idylle am Beispiel der TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF untersucht, die eine televisive Konkretionen des materialen Topos darstellt (vgl. Kapitel 2.3). Die Unterscheidung von Idylle i.e. und i.w.S. trägt zudem jenem besonderen Merkmal der Idylle Rechnung, auf das Ernst Robert Curtius hinweist, nämlich ihre Offenheit, die darin begründet liegt, dass der die Idylle konstituierende „Motivkreis“ bereits in der Antike „an keine Gattung gebunden war“ (Curtius: Europäische Literatur, S. 195). Angesichts des 50-jährigen Bestehens des ZDF stellt Bernd Gäbler in seiner Medienkolumne im ‚Stern‘ fest: „Immer noch bespielt das ZDF so sehr Idyllen und heile Welt wie kein anderer Sender.“ (Gäbler, Bernd: „Der überpolitisierte Unterhaltungsdampfer“, in: stern.de 23.03.2013, (10.04.2017)). Curtius: Europäische Literatur, S. 197. Holzberg, Niklas: „Non in Arcadia Vergilius. Eklogenland als politisch verunsicherte Poetenidylle“, in: Birkner, Nina/Mix, York-Gothart (Hgg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 33– 48, hier: S. 38. Curtius: Europäische Literatur, S. 197.

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darstellung eng miteinander verkoppelt:155 Als locus amoenus ist der ‚liebliche Ort‘ sowohl Schauplatz der Idyllen als auch Gegenstand der in den Idyllen präsentierten Lieder der Hirten, die nicht bei ihrer regulären Tätigkeit dargestellt werden, sondern dabei, wie sie in der Natur die Natur besingen. Zudem ist der locus amoenus ein durch die antike Idyllendichtung etablierter und seither fester „Bestandteil der abendländischen Tradition“ in Literatur und bildender Kunst.156 Insofern sind die „Hirtensänger“ der Idyllen also tatsächlich „rein poetische Wesen“ – und damit genauso artifiziell wie der Gegenstand ihrer Lieder, der zugleich den Schauplatz ihrer poetischen Inszenierung darstellt.157 Als „schöne Naturkulisse“ ist der locus amoenus durch ein spezifisches Inventar an Elementen gekennzeichnet,158 das Curtius benennt: „Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach. Hinzutreten können Vogelgesang und Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch Windhauch hinzu.“159 Insofern ist dem locus amoenus als topischem Bestandteil der Idylle ein „Spannungsverhältnis zwischen Natürlichem und Artifiziellem“ eigen.160 Birgit Diekkämper erläutert diese von Böschenstein-Schäfer gemachte und für die Idyllenforschung so zentrale Beobachtung bezüglich der poetisch in und im Anschluss an Gessner dann vor allem kulturpolitisch bzw. -philosophisch mit der Idylle aufgezeigten Opposition von ‚Natur vs Kultur‘ (vgl. Kapitel 4.1), denn gerade der Kunstcharakter des antiken idyllischen Naturbildes mit seinen Quellen, Gräsern, Büschen, verschiedenen Baumarten und Lagerplätzen am Felshang läßt den locus amoenus als einen bewußt von Menschenhand angelegten Ziergarten scheinen, der in der Regel […] eher Parklandschafts- und Gartencharakter besitzt, als Teil einer ursprünglichen, ungeordneten, wilden, urwüchsigen und freien Natur zu sein.161

Angesichts ihres nachgerade ‚künstlichen‘ Naturbildes erweist sich die Idylle als „artifiziell[es] Arrangement“,162 denn „[w]as sich als ursprünglicher Naturraum darbietet, ist in Wahrheit ein […] Konstrukt aus Naturdingen und Kunstobjekten“.163 In der im locus amoenus evident werdenden Artifizialität der Idylle konvergieren also Kunsthaftigkeit wie auch Künstlichkeit idyllischer poiesis. Angesichts dieser Konvergenz erscheint die Artifizialität letztlich als zentrales Charakteristikum der Idylle, unter dem sich die anderen, in der Forschung durch diachrone Analysen so zahlreich kompilierten weiteren Merkmale

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Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 5. Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei, S. 27. Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 107. Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 2. Curtius: Europäische Literatur, S. 202. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 8, Hervorhebungen i.O. Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 11. Klussmann: „Ursprung und dichteres Modell der Idylle“, S. 40, Hervorhebung N.J. Klussmann: „Ursprung und dichteres Modell der Idylle“, S. 38, Hervorhebung N.J.

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der Idylle subsumieren lassen:164 So ist beispielweise die von Böschenstein-Schäfer für die Idylle konstatierte Vorherrschaft des Räumlich-Zeitlichen als Merkmal des locusamoenus-Motivs und damit als der Artifizialität der Idylle zugehörig zu bewerten,165 weil der liebliche Ort sich schließlich als kleiner und stets begrenzter Naturausschnitt präsentiert, in dem das als fortschreitend begriffene Raum-Zeit-Kontinuum der übrigen, eben ‚unidyllischen‘ Welt suspendiert zu sein scheint. Hieraus ergibt sich die spezifische Chrono-Logik der Idylle (vgl. Kapitel 4.1) mitsamt ihren Konsequenzen (vgl. Kapitel 4.2), die für eine Systematisierung idyllischer Texte in Literatur, Film und Fernsehen produktiv gemacht werden können (vgl. Kapitel 4.3). Was für die unterschiedlichen Merkmale der Idylle gilt, trifft genauso auf ihre formale Struktur zu, denn auch diese ist auf die Artifizialität der Idylle bezogen: Paul Gerhard Klussmann attestiert der Idylle einen typisch triadischen Aufbau, der auf das Hirtenlied hin funktionalisiert ist.166 Wie bereits dargelegt, bildet das Hirtenlied den eigentlichen Gegenstand der Idylle, indem darin der locus amoenus selbst besungen bzw. im Gesang überhaupt erst konstituiert wird. Doch nicht nur der idyllische Raum unterliegt derselben Rückbindung an die Artifizialität der Idylle, sondern auch ihre Zeitstruktur, denn natürlich ist die Beschreibung der blühenden Natur als lieblicher Ort zur Nachtzeit statt am Tag genauso wenig zielgerichtet wie die Jahreszeit des Winters im Gegensatz zu der des Frühlings, um die amöne Wirkung der Idylle zu verstärken.167 Entsprechend dieser ‚Dominanz‘ der Artifizialität sind auch die im zweiten Kapitel zu untersuchenden Dimension der Idylle – die Poetizität, die Medialität und die Serialität – aus ihrer (kunsthaften) Künstlichkeit bzw. (künstlichen) Kunsthaftigkeit abgeleitet. Das für die Idylle so zentrale Merkmal der Artifizialität, in dem ihre Kunsthaftigkeit und Künstlichkeit zusammenlaufen, wird vor allem in der Beschreibung von Kunstwerken, also der sog. ‚Ekphrasis‘ anschaulich, die – insbesondere in der Antike – eng mit der Darstellung und Konstitution des locus amoenus verkoppelt ist.168 Klussmann weist 164

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Bei Böschenstein-Schäfer finden sich vierzehn Merkmale und bei Diekkämper fünfzehn, wobei diese sich alle auf die von Böschenstein-Schäfer herausgearbeiteten zurückbeziehen lassen und z.T. nur Variationen bzw. Ergänzungen darstellen (vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle; Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle). Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 8 passim. Dieses Merkmal der Idylle wird von Diekkämper abgewandelt zum Vorherrschen des Räumlich-Statischen und ergänzend variiert als Beschränkung und Eingrenzung des dargestellten Raumes bzw. der Darstellung selbst (vgl. Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 3; 40). Nach Klussmann besteht die Exposition der Idylle in der Begegnung der Hirtenfiguren und der Wahl des idyllischen Lagerplatzes, während der Gesang der Hirten den Hauptteil der Idylle bildet, deren Ende schließlich durch ein in das Gespräch der Hirten integriertes Signal zum Aufbruch sowie den Einbruch der Nacht markiert ist (vgl. Klussmann: „Ursprung und dichterisches Modell der Idylle“, S. 46f). Vgl. Klussmann: „Ursprung und dichteres Modell der Idylle“, S. 46ff. Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 9.

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dezidiert auf diesen Zusammenhang hin, wenn er sagt, dass „[n]icht nur Musik und Gesang“ der Hirten „ihren genuinen Ort in der Idylle“ haben, sondern auch Werke der bildenden Kunst in Form von „Bildern, Statuen, Schnitzwerk und Denkmalen“: Dergestalt erweist sich der locus amoenus als Platz für „Kunstübung und Kunstobjekte“, sodass er im buchstäblichen Sinn einen ‚locus aistheticus‘ darstellt – einen nicht bloß „schönen Naturbezirk“, sondern einen der sinnlichen Wahrnehmung, „wo man sich lagert für Momente der Muße mit Gespräch, Flötenspiel, Lied, Kunstgenuß, Kunstlob, aber auch für Ausblicke in die Natur und für Betrachtung von Bildwerken aller Art.“169 Das Bild, seine Betrachtung und Beschreibung, die Ekphrasis also, kann zum idyllischen Ausgangspunkt des Erzählens werden, wie zum Beispiel bei Longos: In der Vorrede zu Daphnis und Chloe wird „ein Gemälde, das die Geschichte einer Liebe darstellte“, beschrieben.170 Longos berichtet, dass er dieses „schönste Schaustück, das [er] je gesehen“ habe, „in einem Nymphenhain“ auf Lesbos vorfindet.171 Bezeichnenderweise handelt es sich bei Lesbos um jene Insel, die in der Antike als „Hauptsitz der lyrischen Musik“ gilt, weil dort die dem Apollo heilige Lyra des Orpheus aufbewahrt wird.172 In Longos’ Ekphrasis zeigt sich sodann die gerade für die idyllische Landschafts- und Figurendarstellung charakteristische Konkurrenz zwischen Naturumgebung und Kunstwerk, wenn es heißt: „Schön war freilich auch der Hain, baumreich, voller Blumen und wohlbewässert; eine Quelle tränkte alles, Blumen wie Bäume. Doch anziehender war das Bild, das mit erlesener Kunst gemalt war und Freud und Leid einer Liebe darstellte.“173 Was Longos hier an Natur präsentiert, ist ein locus amoenus und dieser wird durch den direkten Vergleich mit dem innerhalb dieses Ortes vorgefundenen Bild selbst nachgerade zu einem Kunstwerk erhoben. Aus der besonderen Wirkung des Bildes, das schöner ist als die es umgebende ‚Natur-Kulisse‘ des Nymphenhaines, leitet Longos sodann die Lizenz für sein poetisches Tun ab, denn es fasst ihn „ein heftiges Verlangen, die Darstellung des Malers wetteifernd in Worten wiederzugeben“.174 Damit schreibt er sich in jene Tradition der medialen Konkurrenz zwischen Malerei und Dichtkunst ein, die gemeinhin auf das Horaz’sche ‚ut pictura poesis‘ zurückgeführt wird:175 „Dichtung vergleich mit Gemälden“, empfiehlt Horaz in der Ars poetica, damit der Unterschied zwischen diesen beiden po(i)etischen Praktiken erlebend nachvollzogen werden kann: „Das

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Klussmann: „Ursprung und dichterisches Modell der Idylle“, S. 37, Hervorhebung N.J. Longos: Daphnis und Chloe, übersetzt von Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 1970, S. 3. Longos: Daphnis und Chloe, S. 3. Ranke-Graves: Griechische Mythologie, S. 101. Longos: Daphnis und Chloe, S. 3. Longos: Daphnis und Chloe, S. 3. Vgl. Büttner, Nils: Gemalte Gärten. Bilder aus zwei Jahrtausenden, München: Hirmer 2008, S. 47.

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eine wird dich mehr ergreifen, / trittst du heran, und das andere mehr, wenn du weiter entfernt bist“.176 Die Vorrede in Longos’ Daphnis und Chloe verdeutlicht, wie eng Ekphrasis und der locus amoenus miteinander verkoppelt sind. Dies stellt auch Curtius heraus, dem zufolge der locus amoenus „ein Kunstausdruck rhetorischer Ekphrasis“ ist.177 Quintilian präzisiert diese Ekphrasis des locus amoenus als ‚topographia‘, worunter der Rhetoriker die „anschauliche und bezeichnende Beschreibung von Örtlichkeiten“ versteht.178 Über deren rhetorischen Gebrauch sowie den Wert dieser ‚poetischen Örtlichkeit‘ reflektiert auch Horaz in seiner Ars poetica: „Oft wird erhabenen Anfangsworten, die Großes verheißen, / hier und da ein purpurner Lappen, um weithin zu glänzen, / eigens noch angeflickt: Der Altar und der Hain der Diana / oder das Bächlein, wie es durch liebliche Fluren dahineilt [...].“179 Anders als Nils Büttner behauptet, scheint es sich bei Horaz’ Reflexion weniger um eine ‚Warnung‘ zu handeln,180 als vielmehr um eine – mit Quintilian gesprochen – nachgerade ‚topographische‘ Verortung dieses Topos, den Horaz am rechten Platz gebraucht wissen will, damit er nicht wie „angeflickt“ wirkt.181 Diese Beschreibung des Topos vom locus amoenus als ‚Flickwerk‘, das als eine Hinzufügung erscheint, die den besonderen Effekt erzielen soll, „weithin zu glänzen“, ist aus zweierlei Gründen bemerkenswert: Erstens korrespondiert sie mit jener ‚Effekthaftigkeit‘, die laut Walther Killy für den Kitsch charakteristisch ist, in dem die Idylle gerade im filmischen und televisiven

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Horaz: „Buch über die Dichtkunst“ [V. 361f], in: ders.: Werke in einem Band. Oden, Säkulargesang, Epoden, Satiren, Briefe, Buch über die Dichtkunst [1972], übersetzt von Manfred Simon und Wolfgang Ritschel, Berlin: Aufbau-Verlag 21983, S. 289–308, hier: S. 304. Curtius: Europäische Literatur, S. 199. Quintilian: Ausbildung des Redners [IX,2,44], hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, 2 Bd.e, Bd. II: Buch VII–XII, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 287. Horaz: „Buch über die Dichtkunst“ [16ff], S. 291. Vgl. Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei, S. 28. Horaz: „Buch über die Dichtkunst“ [16], S. 291. Die von Wolfgang Ritschel in der hier zitierten Horaz-Ausgabe von Manfred Simon besorgte Übersetzung der Ars poetica hat den Vorzug, dass sie die Versform wahrt, wohingegen andere Übersetzungen folgende Prosa-Übertragungen anbieten: „Oft wird an gewichtige Anfänge und große Versprechen hier und da ein Lappen von Purpur, daß weithin er leuchte, angeflickt, wenn man den Hain und Altar der Diana beschreibt und wie sich ein munteres Bächlein durch liebliche Ackerflur schlängelt [...]“ (Horaz: Sämtliche Gedichte. Lateinisch/Deutsch, hrsg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart: Reclam 1992, S. 631). In der Übersetzung von Hans Färber und Wilhelm Schöne wird nicht vom ‚Anflicken‘, sondern vom ‚Anheften‘ gesprochen: „Oft, wenn der Eingang feierlich das Große, das kommen soll, verkündigt hat, wird der und jener Purpurstreif als weithin glänzendes Prunkstuck angeheftet [...]“ (Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 9 1982, S. 231). Egal ob ‚angeflickt‘ oder ‚angeheftet‘: Beide Ausdrücke belegen den Gebrauch der Ekphrasis als Versatzstück.

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Formationen ‚fortlebt‘.182 Zweitens betont die Horaz’sche Beschreibung die rhetorische Funktionalisierung des locus amoenus im Besonderen sowie der Ekphrasis im Allgemeinen, die ihrerseits als ein eigenständiger Teil der Rede (bzw. des Textes) anzusehen ist und daher als Versatzstück an verschiedenen Stellen platziert werden kann. Innerhalb der Systematik der sich zwischen dem zweiten bis vierten nachchristlichen Jahrhundert entwickelnden Neorhetorik, die sich in der Tradition der Sophistik als „Allgemeinbildung“ versteht, zählt die Ekphrasis zum Bereich der sog. ‚declamatio‘, die als rhetorische Übung begriffen wird und letztlich „eine Improvisation über ein vorgegebenes Thema“ darstellt.183 Die Entwicklung der Neorhetorik „in der geeinten griechisch-römischen Welt“ zeitigt nach Roland Barthes eine „literarische Ästhetik“, die Rhetorik, Poetik und Kritik gleichermaßen umfasst.184 Dies ist als Konsequenz einer „Auflösung“ der aristotelischen Rhetorik zu verstehen, denn der vormals bestehende „Gegensatz zwischen Rhetorik und Poetik“ wird in dem Maße obsolet, wie Rhetorik „nicht mehr bloß als Unterrichtsgegenstand“ begriffen wird, sondern als „eine Theorie des Schreibens“ und „ein Schatz literarischer Formen“.185 Dergestalt (medien-)ästhetisch perspektiviert erscheint die Rhetorik tatsächlich als „Kunst (im modernen Sinn)“,186 denn sie wandelt sich vom persuasiven Diskurs zum „rein zur Schau gestellt[en] Diskurs“.187 Die Ekphrasis avanciert in diesem Zusammenhang zum Bestandteil einer „neu[en] syntagmatischen Einheit“, die in Bezug auf ihren Umfang zwischen den längeren, „üblichen Teilen des Diskurses“, die zusammen das Ganze der Rede bzw. des Texts bilden, und dem kürzeren „Satz“, als der kleinsten semantischen Einheit der Rede bzw. des Texts, angesiedelt ist: das sog. ‚Stück‘, denn „[d]en Kern dieser Stücke (die sehr hoch im Kurs standen)“, wie Barthes erklärt, „bildete die descriptio oder ekphrasis“.188 Die Ekphrasis ist also an die neue rhetorische Einheit des Stücks gekoppelt, denn so wie „Landschaft“ und „Porträt“ den Gegenstand dieser Stücke bilden, stellt die Ekphrasis ihrerseits „eine festgelegte Beschreibung von Orten [und] Persönlichkeiten“ dar.189 Neben diesem inhaltlichen Bezug teilt das Stück mit der Ekphrasis außerdem genau jene Eigenschaft, die schon Horaz am Beispiel des locus amoenus für sie als konstitutiv herausstellt: die ‚rhetorische Mobilität‘ durch ihren Gebrauch als Versatzstück. Die (ek182

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Vgl. Killy, Walther: „Versuch über den literarischen Kitsch“, in: ders.: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen [1962], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 81978, S. 9–33, hier: S. 11 passim. Barthes, Roland: „Die alte Rhetorik“ [1970], in: ders.: Das semiologische Abenteuer [1985], übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 15–101, hier: S. 32. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 32. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 30. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 30. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 32. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 33. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 33.

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phrastischen) Stücke ermöglichen also genau das, was die Ars poetica als ‚Flickwerk‘ apostrophiert und was laut Barthes als Charakteristikum des „zur Schau gestellt[en] Diskurs[es]“ erscheint: „eine lockere Abfolge von Glanzstücken, die nach rhapsodischem Modell aneinandergereiht werden“ können.190 In diesem Sinn beschreibt Barthes das Stück als „anthologisches, von einem Diskurs in den anderen übertragbares Fragment“, das seinerseits Symptom und Ergebnis einer konsequenten Literarisierung der Rhetorik darstellt.191 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Idylle als ‚kleines (Kunst-)Stück‘ rhetorisch perspektivieren, zumal die Ekphrasis in Form des Hirtenliedes, das in der Umgebung des locus amoenus ebendiesen besingt, somit den genuinen Gegenstand der Idylle bildet. Wird die Idylle dergestalt als Stück „typisiert und schematisiert“, können ihre ekphrastischen Naturschilderungen ihrerseits zu „virtuosen Einlagen“ avancieren, die Curtius schon bei Ovid „und seinen Nachfolgern“ erkennt und in der gesamten europäischen Literatur des lateinischen Mittelalters durch den topischen Gebrauch gerade des locus amoenus nachweist.192 In der rhetorischen Tradition des Stücks stehen im 19. Jahrhundert dann auch die „in Roman und Drama integrierten partiellen Idyllen“, von denen Böschenstein spricht,193 um so das literarische ‚Fortleben‘ jener sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Bezug auf die Antike neu konstituierenden Gattung der Idylle zu beschreiben. Auch Schneider definiert solch ‚partielle Idyllen‘ bezeichnenderweise als „kurze Stücke“,194 ohne dabei die hier offengelegten rhetorischen Implikationen dieses Konzepts zu reflektieren. Unabhängig davon liegt die vorgeschlagene begriffliche Alternative des Stücks zur konzeptuellen Fassung der Idylle (i.e.S.) allein schon angesichts der Wortgeschichte nahe: ‚Stück‘ meint ganz allgemein einen im Sinn von ‚Fragment‘ „abgetrennt[en] teil eines gröszeren ganzen“.195 Dabei wird im geschichtlichen Verlauf der Begriffsverwendung der synekdochische Teil-Bezug aufgehoben, da ‚Stück‘ semantisch „aus der beziehung zu dem gröszeren ganzen gelöst“ wird und dergestalt „nun selbst ein ganzes, einheitliches, in sich geschlossenes“ meint (Sp. 207). In dieser Bedeutungsvariante wird etwa seit dem 16. Jahrhundert mit ‚Stück‘ auch „das ergebnis künstlerischen schaffens“ bzw. eine „künstlerische hervorbringung“ bezeichnet (Sp. 251). Damit sind zunächst vor allem Zeichnungen und später dann auch Gemälde gemeint, aber auch ein „in sich geschlossenes literarisches erzeugnis“, das „meist von kleinerem umfang“ ist (Sp. 215,

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Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 32f. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 33. Curtius: Europäische Literatur, S. 201. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 131. Schneider: „Die sanfte Utopie“, S. 355. Stichwort ‚stück‘, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bd.e in 32 Teilbänden, Bd. XX, Leipzig 1854–1961, Sp. 197–225, hier: Sp. 197. Bei nachfolgenden Zitaten wird die Spalte ohne weitere Fußnote in Klammern direkt im Text angegeben.

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Hervorhebung N.J.) – und wie zuvor gezeigt, ist gerade das semantische Merkmal ‚klein‘ das vorherrschende in allen definitorischen Fassungen von ‚Idylle‘. Mit der Ausweitung seines Gegenstandsbereichs, die der Begriff ‚Stück‘ erfährt, wenn er im 18. Jahrhundert beispielsweise auch für „die auf der bühne dargestellte dichtung“ gebraucht wird, entwickelt sich ein weiterer semantischer Strang, nach dem ‚Stück‘ „im sinne von ‚tat, tun, handlung‘“ zu verstehen ist (Sp. 221). Dies erweist sich letztlich als Aktualisierung der Bedeutungsvariante von ‚Kunststück‘, womit schon im 16. Jahrhundert „eine handlung, die besondere fertigkeiten erfordert“, bezeichnet wird (Sp. 221). Hier kreuzen sich also Begriffsgeschichte und rhetorische Tradition des Stücks, in die die Idylle eingeschrieben ist, denn wie nachfolgend durch die Analysen einschlägiger Texte gezeigt wird, ist die Idylle ebenfalls eine poetische Handlung, die insofern besondere Fertigkeiten erfordert, als sie mit Hilfe ganz spezifischer Verfahren gestaltet ist. Diese Verfahren erweisen sich als historische Konstanten idyllischer poiesis und sie machen die Idylle insofern zu einem wahrhaften ‚Kunst-Stück‘, als diese (i.w.S.) als ein „Komplex aus Motiv- und Strukturelementen“ und damit letztlich als materialer Topos anzusehen ist.196 Diese Verfahren, zu denen allen voran die Topothesie zählt, begründen ihrerseits die Artifizialität der Idylle sowie ihre drei zentralen Dimensionen der Poetizität, Medialität und Serialität (vgl. Kapitel 2).

1.2.3Pfeifende Musen: Das Politische (in) der Idylle Zu den wesentlichen Leistungen der Eklogen-Dichtung Vergils zählt, wie Bruno Snell herausstellt, die ‚Entdeckung‘ Arkadiens als „Land der Schäfer und Schäferinnen, [...] der Liebe und der Dichtung“.197 Gemeint ist damit Vergils Stilisierung der idyllischen Hirtenwelt Theokrits, die sich referenziell auf dessen Heimatinsel Sizilien beziehen soll.198 Durch Arkadien gestaltet Vergil die Idylle als ein „Land der Phantasie“,199 das „die dichterische Verwirklichung [...] eines verlorenen glücklichen Urzustands der Menschheit“ verheißen soll.200 In dieser (fiktiven) Verortung der Idylle liegt letztlich ihre 196 197

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Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 123. Snell, Bruno: „Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft“ [1945], in: Garber, Klaus (Hg.): Europäische Bukolik und Georgik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 14–43, hier: S. 14. Vgl. Snell: „Arkadien“, S. 15. Klussmann: „Ursprung und dichterisches Modell der Idylle“, S. 40. Stichwort ‚Arkadien‘, in: Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte [1976], Stuttgart: Kröner 62009, S. 27–37, hier: S. 27. Im Gegensatz zu dieser Betrachtung betont Böschenstein, dass das „Idyllische [...] nicht etwa identisch mit den Bildern eines vollkommenen Weltzustandes wie dem Goldenen Zeitalter“ sei, und stellt als Begründung hierfür die Vorstellung der Idylle als „eines eingegrenzten Raumes“ heraus, die sie auf das Idyllische überträgt, sodass diese ‚Idee‘ der Idylle für sie ebenfalls etwas „Begrenztes“ darstellt

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kulturelle Produktivität begründet, die später zunächst hinsichtlich ihrer theoretischen Implikationen (vgl. Kapitel 3) und dann in Bezug auf eine strukturelle Systematisierung des materialen Topos in literarischen, filmischen und televisiven Texten untersucht wird (vgl. Kapitel 4). Als ein „ideales Reich vollkommener Glückseligkeit und Schönheit“ steht Vergils Arkadien mit dem sog. ‚Goldenen Zeitalter‘ in Verbindung,201 das seit Hesiod die KronosZeit bezeichnet, also jene mythische Urzeit, bevor Zeus seinen Vater Kronos gestürzt und sich als olympischer Herrscher des Kosmos selbst inthronisiert hat.202 Das Goldene Zeitalter entspricht daher einer Vorstellung vom verlorenen Paradies, als die Menschen „die sogenannte Goldene Rasse“ bildeten und „Untertanen des Kronos“ waren, wie es Robert von Ranke-Graves beschreibt: „Sie lebten ohne Sorge und Arbeit; sie aßen nur Eicheln, wilde Früchte und Honig, der von den Bäumen tropfte, und tranken die Milch der Schafe und Ziegen. Sie alterten nie und tanzten und lachten viel; für sie war der Tod ebensowenig ein Schrecken wie der Schlaf.“203 In Werke und Tage stellt Hesiod dieses Zeitalter als ein vergangenes dar, auf das drei weitere folgen, die nach ihren metallurgischen Bezeichnungen einen ‚Abfall‘ von jenem goldenen Paradieszustand bedeuten: Auf das Silberne Zeitalter folgt das Bronzene und darauf das Eiserne.204 Dieses stellt die ‚Gegenwart‘ im Denken der Antike dar und die ‚eisernen Menschen‘ sind ihrerseits „wertlose Abkömmlinge“ jener Heroen, die im Bronzenen Zeitalter „von den Göttern mit sterblichen Müttern gezeugt worden“ sind und von deren Heldentaten die Epen Homers berichten.205 In diesem Sinn ist das Gol-

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(Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 121). Hier zeigen sich nochmals die zuvor schon behandelten begrifflichen Schwierigkeiten von Böschensteins kategorischer Abgrenzung zwischen ‚Idylle‘ und ‚Idyllisch‘, mit der beispielsweise die Problematik des Politischen, wie sie sich insbesondere bei Vergil zeigt, nicht erfasst werden kann. Wichtig zu betonen ist an dieser Stelle allerdings, dass sich das Kriterium der Begrenzung auch für den materialen Topos als zentral erweist, zumal es für den locus amoenus als Gegenstand der Idylle ebenfalls konstitutiv ist. Bei Böschenstein ist die Begrenzung der Idylle wie auch des Idyllischen aber nun gerade deshalb problematisch, weil sie offenbar die Vorstellung einer stabilen Geschlossenheit impliziert, von der bei einer Konzeption der Idylle als materialer Topos hingegen keinesfalls ausgegangen werden kann – zumal es gerade die schon von Curtius herausgestellte ‚Offenheit‘ dieses Topos ist, die letztlich sein Fortbestehen von der Antike bis in die Gegenwart ermöglicht und ihn in verschiedene literarische Formen sowie mediale Formationen diffundieren lässt (vgl. Curtius: Europäische Literatur, S. 195). Panofsky: Et in Arcadia, S. 9. Vgl. Ranke-Graves: Griechische Mythologie, S. 31ff. Ranke-Graves: Griechische Mythologie, S. 29. Vgl. Ranke-Graves: Griechische Mythologie, S. 29. Ranke-Graves: Griechische Mythologie, S. 29.

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dene Zeitalter „eine mythische Schöpfung der Griechen“, die der Römer Vergil mit seinem Arkadien aktualisierend verknüpft.206 Aus dieser Verknüpfung ergibt sich die den Vergil’schen Idyllen vielfach unterstellte politische Dimension, denn für „den antiken Leser der Eklogen sind die Arkader das geschichtlich-mythische Gründungsvolk Roms“.207 Die politische Dimensionierung liegt darin begründet, dass sich Vergils Arkadien-Konzept als eine utopische Wendung der Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter begreifen lässt, denn als „Chiffre für ein unverstelltes und unverschandeltes, gerechtes und glückliches Leben“ ist Arkadien „gegenüber dem ‚Goldenen Zeitalter‘ mit dem Vorzug ausgestattet, die jüngere, geschichtlich gesättigtere, kulturelle Befindlichkeit und Zukünftigkeit signalisierende Kategorie zu sein“.208 In Vergils Arkadien verbindet sich die „Verherrlichung des ruralen Lebens der Vergangenheit“ mit der Möglichkeit einer Wiederaufkunft des Goldenen Zeitalters, sodass seine Eklogen tatsächlich als eine „politische Utopie“ erscheinen können.209 Was für die Idyllen Vergils spezifisch ist, verallgemeinert Böschenstein-Schäfer zu der Behauptung, dass alle Idyllen die Tendenz besäßen, sich ins Utopische zu wenden – allerdings ohne dabei ihre implizite Ausrichtung an Schillers Idyllentheorie zu reflektieren, wenn sie sagt: „In ihren bedeutendsten Ausprägungen aber neigt die Idylle dazu, in Utopie überzugehen.“210 Inwiefern diese Behauptung zu relativieren ist und sich die gattungstheoretischen Zusammenhänge zwischen Idylle und Utopie als genealogische betrachten lassen, wird im Kontext des sog. elysischen Paradigmas der Idylle dargestellt (vgl. Kapitel 4.3). Als politisch kann Vergil deshalb gelten, weil sich seine Eklogen auf das antike „Zeitgeschehen“ beziehen lassen, sodass in den Texten „Gegenwärtig-Politisches“ anschaulich wird.211 Das zeigt bereits die erste Ekloge, die davon handelt, „daß ein Hirt seine Freiheit gewinnt, ein anderer aber durch die Äckerverteilung an Veteranen von seinem angestammten Grundbesitz vertrieben wird“:212 Meliboeus begegnet Tityrus und während dieser „unterm Dach breitästiger Buche“ ruht und „auf kleiner Flöte ein Lied ver-

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Garber, Klaus: „Verkehrte Welt in Arkadien? Paradoxe Diskurse im schäferlichen Gewande“, in: Birkner, Nina/Mix, York-Gothart (Hgg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 49–77, hier: S. 68. Brandt, Reinhard: Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung [2005], Freiburg i.Br./Berlin: Rombach 32006, S. 14. Garber: „Verkehrte Welt in Arkadien?“, S. 49. In dieser Hinsicht ist Vergils Arkadien-Konzept zumindest strukturell genau so angelegt wie Schillers Vorstellung von Elysium (vgl. Kapitel 3.2). Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei, S. 27. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 5. Snell: „Arkadien“, S. 25. Snell: „Arkadien“, S. 25.

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sonnen vom Walde“ übt,213 muss jener „das Vaterland fliehen“ (I,4), „denn es tobt doch / maßlos Wirrsal rings übers Land“ (I,11f). Wie Wolfgang Iser herausstellt, wird in Vergils erster Ekloge „[d]er locus amoenus des Eingangs [...] zum Spiegel, in dem sich die Unseligkeit des Politischen in der Bedrohung des seligen Ortes bricht“.214 Anders als Meliboeus muss der dem locus amoenus verbundene Tityrus nämlich nicht um seine Existenz fürchten: Er besitzt Land, sodass seine „Rinder frei sich ergehen“ können, während er selbst „nach Lust auf ländlichem Halm“ spielt und seinen Besitz als lieblichen Ort besingt (I,9f). Dass Tityrus sich in der Tradition der Theokrit’schen Hirten musizierend in idyllischer Muße vergnügen kann, verdankt er einem „Jüngling, dem nun alljährlich / einmal im Monat dampfen vom Opfer meine Altäre“ (I,43f). Gemeinhin wird dieser ‚Retter‘, dem Tityrus allmonatlich ein Opfer bringt, mit Oktavian bzw. August identifiziert,215 so wie Meliboeus’ Flucht als durch den „römischen Bürgerkrieg[]“ ausgelöst angenommen wird, der im Imperium den „Übergang von der Republik zum Prinzipat“ begleitet hat.216 Die politische Dimension der Eklogen liegt also darin begründet, dass „das Hirtenleben mit dem politischen Zeitgeschehen“ verknüpft erscheint bzw. dass sich diese Lesart vor dem Hintergrund historischer Fakten legitimieren lässt.217 Klaus Garber fasst sowohl diese historische Legitimation als auch die Dimensionen des Politischen (in) der Idylle bei Vergil zusammen, denn dieser weissagt in seinen Hirtengedichten ein zukünftiges Reich des Friedens, das nach den Bürgerkriegen unter Augustus heraufziehen wird und in der Lebensform der Hirten antizipiert erscheint. In nuce wird in Vergils Hirtendichtung vorweggenommen, was sein dichterisches Hauptwerk [...], das Epos Aeneis, zum poetischen Vorwurf erheben wird, nämlich das Heranwachsen Roms zu einer beherrschenden Weltmacht, kulminierend in der Friedensherrschaft des Augustus, verschwistert mit dem Versprechen, die Welt als Ganze zu befrieden.218

Angesichts einer solch genuin politischen Anlage der Idylle scheint diese tatsächlich bloß die „Vorstellung“ zu vermitteln, dass sie „der Gesetze und eines Gesetzgebers nicht

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Vergil: Bucolica [I,1f], S. 7. Bei nachfolgenden Zitaten erfolgt der Stellenbeleg ohne weitere Fußnote durch Angabe des Verses in Klammern direkt im Text. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 68. Vgl. beispielhaft für diese Lesart Holzberg: „Eklogenland als politisch verunsicherte Poetenidylle“, S. 41f. Garber: Arkadien, S. 35. Reitz, Tilmann: „Entgrenzte Idylle. Gattungsbrüche in Nicolas Poussins Arkadienbildern“, in: Birkner, Nina/Mix, York-Gothart (Hgg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 105–119, hier: S. 107. Garber: „Verkehrte Welt in Arkadien?“, S. 53.

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bedarf.“219 Vergils Idyllen-Konzept steht dem diametral entgegen, denn sein Arkadien prophezeit nun gerade einen ebensolchen Gesetzgeber als heilsbringenden Messias, der seinerseits durch eine gerechte Gesetzgebung den idyllischen Frieden jenes verloren geglaubten Goldenes Zeitalters zu restituieren vermag.220 Unabhängig davon, ob man den Eklogen Vergils nun einen Wirklichkeitsbezug auf realhistorische Ereignisse zuerkennt oder nicht – an der zumindest interpretativen Möglichkeit eines solchen Wirklichkeitsbezugs wird seither paradigmatisch das Moment des Politischen (in) der Idylle festgemacht: Wie Häntzschel in Bezug auf die deutschsprachige Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts summarisch resümiert, zeichnen sich beispielsweise die Idyllen von Friedrich (gen. Maler) Müller dadurch aus, dass sie als Texte „im antiken Modell zugleich Elemente der Wirklichkeit“ literarisieren, was auch für Johann Heinrich Voß gilt, der seine Idyllen „mit empirischer Sozialkritik“ anreichert.221 (Dass derartige Bestrebungen in der Idylle weitgehend vergebens sind, betont Jean Starobinski, der in „Satire und Karikatur“, die gerade im 19. Jahrhundert durch entsprechende Zeitschriften eine enorme Verbreitung finden, die „antithetische Ergänzung zur Idylle“ erkennt, denn sie übernehmen nicht nur deren politische Ambitionen und vermitteln sie wesentlich wirksamer, sondern sie tragen gleichsam zur Entlarvung der „idyllisch[en] Lüge“ von einer Welt des Friedens und der Harmonie bei.222) Bemerkenswert ist an den politisierenden Lesarten der neuzeitlichen Idyllen nach dem Vorbild der nicht unkritisiert gebliebenen Vergil-Philologie,223 dass das zentrale Merkmal idyllischer Artifizialität dabei zusehends aus dem analytischen Blick gerät – obschon, wie Iser deutlich

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Niehaus, Michael: Macht/Phantasie. Eine Betrachtung zu J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe, Essen: Oldib 2014, S. 24, Hervorhebung N.J. Die idyllischen Implikationen in der Romantrilogie Der Herr der Ringe, auf die Michael Niehaus hier anspielt, ließen sich vor dem Hintergrund der im vierten Kapitel der Arbeit vorgeschlagenen Systematisierung genauer erfassen: Der idyllische Friede, der den Menschen von Gondor wie überhaupt allen Wesen in Mittelerde durch den neuen König Aragorn verheißen ist, erweist sich als dem elysischen Paradigma der Idylle zugehörig, während sich der Rückzug der Elben nach Aman im Westen, wo ihr ehemaliges Reich Valinor liegt, gemäß dem arkadischen Paradigma als Restitution einer verlorenen Vergangenheit begreifen lässt. Wie später gezeigt wird, kommt schon die Theokrit’sche Idyllenwelt keinesfalls ohne Gesetze aus, denn der Gesangswettstreit der Hirten ist erstens klar reglementiert und zweitens als eine poetische Inszenierung von Machtverhältnissen lesbar. Darin entfaltet sich sodann die Medialität der Idylle als eine ihrer drei konstitutiven Dimensionen (vgl. Kapitel 2.2) – zudem wurde zu Beginn dieses Kapitels dargelegt, dass die gesamte Hirtendichtung überhaupt nur aus der Befolgung eines Gesetzes resultiert, das seinerseits das Geheiß Apollos ist. Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 124. Starobinski, Jean: Die Erfindung der Freiheit. 1700–1789, übersetzt von Hans Staub, Genf: Skira 1964, S. 160. Vgl. Faber, Richard: Politische Idyllik. Zur sozialen Mythologie Arkadiens, Stuttgart: Klett 1976.

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macht, der locus amoenus in Vergils erster Ekloge zum „Spiegel“ jener politischen Reflexionen im poetischen Gewand der Hirtendichtung avanciert.224 Mit Iser lässt sich die politische Dimension (in) der Idylle nun aber zurückbinden an ihre Artifizialität, denn indem die „durch die Poesie in Besitz genommene Natur zu einem Spiegelbild der Politik“ wird, treibt das „die Künstlichkeit der dichtenden Hirten hervor, die nicht mehr der Bezeichnung dessen dienen, was sie sind, sondern durch das, was sie sind, etwas anderes meinen“.225 Aus diesem Grund trete „in den Eklogen Vergils die Politik neben die Natur“.226 Isers Behauptung ist richtig und falsch zugleich, denn bei Vergil wie auch in allen anderen Idyllen tritt die Politik vielmehr in die Natur (womit natürlich ihre poetische Inszenierung in Form der Idyllen gemeint ist), denn „[d]ie immer wieder zu hörende Rede, daß schäferliche und arkadische Dichtung einen Raum jenseits von Staat, Gesellschaft und Politik entwerfen würde und beide Sphären verbindungslos nebeneinander verharrten, ist“, wie Garber betont, „grundfalsch“.227 Gemäß der mit Bezug auf Isers These gemachten Annahme, dass in der Idylle die Politik in die Natur tritt, erweist sich die Idylle in dem Maße als politisch, wie sie sich unpolitisch gibt.228 Diese These lässt sich begründen, wenn man mit Rancière alle Kunst eben nicht „aufgrund der Botschaften, die sie überbringt, noch aufgrund der Art und Weise, wie sie soziale Strukturen, politische Konflikte oder soziale, ethnische oder sexuelle Identitäten darstellt“, als politisch versteht, sondern aufgrund der durch die Kunst bewirkten Aufteilung des Sinnlichen: „Kunst ist in erster Linie dadurch politisch“, stellt Rancière heraus, „dass sie ein raum-zeitliches Sensorium schafft, durch das bestimmte Weisen des Zusammen- und Getrenntseins, des Innen- oder Außen-, Gegenüber- oder In-derMitte-Seins festgelegt werden.“229 Eine genau solche Aufteilung vermittelt Vergils erste Ekloge durch die Konstellation zwischen den Figuren Tityrus und Meliboeus: Während der eine in einem idyllischen Innern, das für das befriedete römische Kaiserreich stehen kann, seine Existenz als eine ungefährdete genießt, befindet sich der andere in einem von diesem Schutzraum unterschiedenen Außen, in dem seine Existenz sich insofern als eine gefährdete darstellt, als sie eben nicht gesichert ist:230 Meliboeus erscheint als 224 225 226 227 228

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Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 68. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 75. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 75. Garber: Arkadien, S. 39, Hervorhebungen N.J. Die Rezeption von Gessners Idyllen durch Jean-Jacques Rousseau sowie die Rousseau-Rezeption im Wissen um dessen Gessner-Rezeption gibt ein anschauliches Beispiel dafür (vgl. Kapitel 3.1). Rancière, Jacques: „Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien“, in: ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien [2000], übersetzt von Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, hrsg. von Maria Muhle, Berlin: b_books 22008, S. 75–100, hier: S. 77. Diese Topologie erhält sich die Idyllendichtung bis in die Gegenwart, z.B. in Gerhard Rühms Gedicht „idyll“, das zum Auftakt des vierten Kapitels mikroanalytisch untersicht wird.

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Migrant und ohne den Besitz von Land ist ihm ein idyllisches Dasein im Hier und Jetzt, wie es Tityrus verkörpert und besingt, nicht möglich. Vergils erste Ekloge ist also deshalb politisch, weil sie „einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt“.231 Demzufolge resultiert das Politische (in) der Idylle also aus ihrer Darstellung dieser Aufteilung des Sinnlichen, die die Idylle im Gespräch der beiden Hirten metareflexiv zu ihrem Gegenstand macht. Zugleich liegt darin aber das Unpolitische des Politischen (in) der Idylle, die sich ihrerseits stets durch die Suspension der Kategorien von Raum und Zeit auszeichnet, sobald der idyllische Idealzustand, der sich im lieblichen Ort konkretisiert, erreicht ist: Bei Vergil wird die arkadische Restitution des Goldenen Zeitalters als ein Zustand der Dauer, ohne zeitliche oder räumliche Beschränkungen entworfen und durch den locus amoenus als Natur inszeniert. Insofern ist Iser also präzisierend zuzustimmen: In der Idylle tritt die Politik nicht bloß neben, sondern buchstäblich in die Natur. Ihre Artifizialität bedingt das Politisch (in) der Idylle. Letztlich erscheint dieses Politische als eine Frage der Lesart, denn für die Idylle gilt genau jene relativierende Einschränkung, die Rancière in Bezug auf die Kunst macht: Wenn Kunst politisch ist, dann nur, wenn sich die von ihr aufgeteilten Räume und Zeiten und die von ihr gewählten Formen der Besetzung dieser Zeiten und Räume mit jener Aufteilung von Räumen und Zeiten, von Subjekten und Objekten, von Privatem und Öffentlichem, von Fähigkeiten und Unfähigkeiten überlagern, durch die sich die politische Gemeinschaft definiert.232

Ähnlich relativierend wie Rancière die Kunst, so betrachtet auch Richard Faber das Politische (in) der Idylle im Allgemeinen bzw. die politische Deutung der Eklogen Vergils im Besonderen. Er weist nämlich auf den primär unterhaltenden Charakter der Eklogen hin, die in einem spezifischen Verhältnis zur dekorativen Gebrauchskunst der Antike stehen: „Man kann sagen, daß Vergil in den ‚Bucolica‘ jene Gemälde bedichtete, wie sie sich an den Wänden der Luxusvillen von Pompeji und Herculaneum erhalten haben. Zusammenhänge, die den schmückenden und – sicher auf höchstem Niveau – unterhaltenden Charakter der ‚Bucolica‘ bestätigen.“233 Die kunstgeschichtliche Forschung belegt Fabers Behauptung, wonach Vergil das messianische Konzept eines Heilsbringers in seiner ersten und vierten Ekloge „mit der Verheißung eines neuen ‚goldenen Zeitalters‘“ verkoppelt und so „den römisch-(abendländisch)en Kaiserkult“,234 der sich bei Vergil auf Oktavian/Augustus bezieht, „ideologisch inauguriert[]“:235 Wie Büttner darlegt, war der römische Kaiser darum bemüht, „die traditionellen Riten und Bräuche wiederzubeleben, die mit der Landwirtschaft in 231 232 233 234 235

Rancière: „Die Politik der Kunst“, S. 77. Rancière: „Die Politik der Kunst“, S. 77. Faber: Politische Idyllik, S. 76, Hervorhebung i.O. Faber: Politische Idyllik, S. 36. Faber: Politische Idyllik, S. 38.

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Verbindung standen. Nachweislich nahm er Einfluß auf Schriftsteller, und so wurde in Poesie und Prosa das ländliche Leben der Vergangenheit gepriesen.“236 Dergestalt erweist Vergil sich tatsächlich als ‚politischer Idylliker‘, wenn man ihn als „imperialistischen Dichter“ kontextualisiert.237 Eine solch politische Deutung der Idylle erhält sich auch nach ihrer ‚Wiederbelebung‘ und modernen ‚Konsolidierung‘ infolge von Salomon Gessner – allerdings erweist sich gerade seit etwa 1800 nicht länger die Idylle i.e.S. als Trägerin des Politischen, sondern ihre Realisierung als Idylle i.w.S. in anderen literarischen Formen und medialen Formationen – man denke etwa an die periodische Unterhaltungspublizistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus diesem Grund konstituieren gerade die Texte von Voß und Müller eine „bürgerliche Idyllik“, indem „[a]us dem Schäfer im Baumschatten Arkadiens und seiner Geliebten [...] der Hausvater im gepolsterten Lehnstuhl“ wird.238 In diesem Sinn avanciert das idyllische Landleben in der Literatur zur „sozial[en] Metapher für die Selbstverwirklichung einer kleinen, relativ wohlhabenden und gebildeten bürgerlichen Schicht“.239 In dieser ‚bürgerlichen Idyllik‘ werden die Motive „Schäfer und äußere Natur“ zunehmend durch Darstellungen von „Familie und Interieur“ abgelöst,240 die ihrerseits als „verdinglicht[es] Arkadien“ erscheinen.241 Ihre konkreteste mediale Verdinglichung erfährt die Idylle schließlich in der Familienillustrierten Die Gartenlaube, die ihr idyllisches Moment im Titel trägt und durch die zugehörige Titelillustration veranschaulicht: Von den eine Laube bildenden Ranken der Vignette ist die lesende Gemeinschaft der bürgerlichen Familie idyllisch geschützt umschlossen. Die Gartenlaube inkorporiert buchstäblich jene Spaltung, die die Idylle im 19. Jahrhundert erfährt: Einerseits weist die Illustrierte den Weg in den Kitsch, allzumal in

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Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei, S. 27. Faber: Politische Idyllik, S. 18. Schneider: „Die sanfte Utopie“, S. 360. Schneider: „Die sanfte Utopie“, S. 373. Diekkämper weist auf eine ‚literarische‘ Alternative hin, in der die utopisch-politische Funktion der Idylle fortbesteht: Im 19. Jahrhundert erscheint das Märchen als „das geeignete Mittel im Sinne eines poetischen Gegenentwurfs“, das seit der Romantik „zur Chiffre eines harmonischen Weltzustandes“ avanciert (Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 184). Dabei bestehe die „bedeutsame Wechselbeziehung zwischen den aus der Volksüberlieferung übernommenen Märchenmotiven und -strukturen und den Formtraditionen und Requisiten der Idylle“ gerade in der „Ausrichtung auf das dominierende Prinzip der Harmonisierung“, womit nach Dieckkämper die „Erreichung eines vollendeten Glückszustands“ gemeint ist (ebd., S. 185). Wie später gezeigt wird, zeichnet sich die Idylle im Gegensatz zum Märchen dadurch aus, dass ihr eine Ambivalenz eigen ist, die sich im Spannungsfeld zwischen den Polen ‚Katastrophe‘ und ‚Kitsch‘ entfaltet (vgl. Kapitel 4.2) – das märchenhafte Moment eines Happy Ends hingegen erweist sich als konstitutiv für die Kitscherzählung (vgl. Kapitel 2.3). Schneider: „Die sanfte Utopie“, S. 392. Garber: Arkadien, S. 106.

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diesem Periodikum erstmalig Eugenie Marlitts Unterhaltungsromane veröffentlicht werden, von denen die schriftstellerische Tätigkeit von Hedwig Courths-Mahler, der deutschen „Kitsch-Autorin“ schlechthin,242 maßgeblich beeinflusst ist. Andererseits verweist Die Gartenlaube indirekt auf die Fortführung der ‚politischen Ambition‘ der Idylle in den Satirezeitschriften des Biedermeier wie des Vormärz zurück, denn das „Kitschblatt“,243 das seit 1853 von Ernst Keil herausgeben wird,244 hat gewissermaßen ‚satirische Wurzeln‘: Die Gartenlaube ist aus Keils Zeitschrift Der Leuchtturm (1846–49) hervorgegangen, die neben Karikaturen auch das „politisch-satirische Beiblatt“ Die Laterne enthielt.245 Der idyllische Ursprung von politischen Satire- und unterhaltenden Familienzeitschriften, die im 19. Jahrhundert die periodische Publizistik dominieren, lässt sich zeitlich um 1800 ausmachen und zwar in einem literarischen Text, der sich selbst als ironisierte Idylle in Gestalt eines Beitrags in einer fingierten Satirezeitschrift ausgibt. Diese erscheint als Anhang einer nachgerade parodistisch wirkenden Reflexion über das Genre ‚Bildungsroman‘ in Form eines ebensolchen literarischen Texts: Gemeint ist „Hafteldorns Idylle auf das vornehme Leben“ in der Hilariusblatt-Ausgabe des ‚Pestitzer Realblattes‘ vom 13. Januar 1799, das als erster Supplementband zu Jean Pauls Roman Titan dessen ‚komischen Anhang‘ bildet.246 Jeweils zu Ostern 1800 und 1801 erscheint ein Roman-Teil von Titan zusammen mit je einem Supplementband,247 an dessen satirischem Anspruch, den schon der Titel der fingierten – weil nach dem Schauplatz in Titan benannten – Zeitschrift erhebt, der auf das zwischen 1770 und 1784 in Wien erscheinende Realblatt rekurriert,248 kein Zweifel besteht: Bei ‚Hafteldorns Idylle‘ handelt es sich um eine Idylle auf etwas, nämlich „das vornehme Leben“. Die als „Hilariusblatt“ bezeichnete Ausgabe des ‚Pestitzer Realblattes‘ ist als Herausgeberfiktion gestaltet, denn „Hafteldorns Idylle auf das vornehme Leben“ wird mit einem einleitenden Kommentar von einem gewissen Herrn Matthieu von Schleunes „mitgeteilt“ (868). Dieser umreißt zunächst die Schreibszene des „poetisch[en] Bauern“ 242 243

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Wolf, Martin: „Tränen des Ekels“, in: Der Spiegel (47) 2000, S. 274. Rosenstrauch, Hazel E.: „Zum Beispiel Die Gartenlaube“, in: Rucktäschel, Annamaria/Zimmermann, Hans Dieter (Hgg.): Trivialliteratur, München: Fink 1976, S. 169–189, hier: S. 169. Vgl. Strecker, Gabriele: Frauenträume Frauentränen. Über den deutschen Frauenroman, Weilheim/Oberbayern: Barth 1969, S. 12. Gehring, Christian: Die Entwicklung des politischen Witzblattes in Deutschland. Beiträge zu seiner Geschichte, Leipzig, Univ., Diss., 1927, S. 43. Jean Paul: „Hafteldorns Idylle auf das vornehme Leben (von Herrn Matthieu von Schleunes mitgeteilt)“, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. VI: Titan (II), München/Wien: Hanser 1975, S. 868–871. Zitate aus dieser ‚Idylle‘ werden nachfolgend ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt. Vgl. Miller, Norbert: „Anmerkungen“, in: Jean Paul: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. VI: Titan (II), München/Wien: Hanser 1975, S. 1059–1137, hier: S. 1111. Vgl. Miller: „Anmerkungen“, S. 1112.

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Hafteldorn aus St. Lüne (868), der „oft abends nach dem Ackern“ auf dem Feld noch „auf einem Blatte, das er aus dem durchschossenen Kalender reißet, prosaische Idyllen“ verfasst (869). Die durch von Schleunes für die Mitteilung im ‚Realblatt‘ „ausgesuchte Idylle“ beschreibt „das Schäferleben und goldene Zeitalter“ nicht in der Tätigkeit des Bauern, sondern „im Stadt- und Hofleben“ – wie der fiktive Herausgeber bemerkt, sei dies zwar „ein Irrtum“ in Bezug auf die Tradition der Gattung, der jedoch „dem Gehalte des Kunstwerks selber wenig benimmt“ (869). Dieser Kommentar veranschaulicht die humoristisch-parodistische Perspektivierung dieser Idylle als Satire, die sich mit Helmut Arntzen als „die sprachästhetische Konstruktion von ‚Verkehrtem‘ als Dekonstruktion“ verstehen lässt.249 Entsprechend verwundert es nicht, wenn Hafteldorns eigene Idylle im Sinn der antiken Vorbilder Theokrit und Vergil zwar mit einer Musenevokation beginnt, diese aber insofern bricht, als es heißt: „Schneide, o Muse, ins Haberrohr ein Loch und pfeife vom Stadtmann!“ (869) Nicht nur verfehlt, wie es der Herausgeber zuvor schon anbringt, Hafteldorn den Gegenstand der Idylle, da sein Text wider Erwarten nicht vom Hirten bzw. Bauern handelt, sondern von dessen Gegenstück, dem Stadtmann. Hefteldorn verfehlt außerdem das klassische Ziel einer Anrufung, durch die gewöhnlich inspirativer Beistand erbeten wird, um die richtigen Worte zu finden – der bäuerische Bukoliker hingegen bittet die Muse um die Anfertigung seines Musikinstruments. Der satirische Höhepunkt dieses idyllischen Auftakts besteht schließlich darin, dass Hafteldorn die Muse – anders es Homers Ilias paradigmatisch vorgibt – nicht darum bittet, zu singen, sondern für ihn zu pfeifen.250 Diese Musenanrufung zu Beginn der Idylle macht deutlich, dass der dichtende Bauer wie schon Tityrus, der Hirte in Vergils sechster Ekloge, nicht ‚ohne Geheiß‘ singt – doch anders als seine antiken Vorgänger folgt Hafteldorn einem genuin satirischen und keinem apollinischen Befehl, denn nach Kurt Tucholsky ist gerade das Pfeifen ein zentrales Merkmal der Satire: „Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große Landsknechttrommel gegen alles, was stockt und träge ist.“251 Das Politisch (in) der Idylle ließe sich also auch als eine besondere Form des Humors begreifen (und müsste Gegenstand einer eigenen Untersuchung werden).

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Arntzen, Helmut: Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie, Bd. I: Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 17. Der erste Gesang der Ilias beginnt mit den Worten „Göttin, singe mir nun“ (Homer: Ilias [I,1], übersetzt von Roland Hampe, Stuttgart: Reclam 1979, S. 3, Hervorhebung N.J.). Tucholsky, Kurt: „Was darf die Satire?“ [1919], in: ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden, hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Bd. II: 1919–1920, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 42–44, hier: S. 42, Hervorhebung N.J.

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 Eine Aktualisierung der materialen Topik Die Bestimmung der Idylle als materialer Topos in der rhetorischen Tradition des Stücks, mit der sich insbesondere ihr mediales ‚Fortleben‘ unabhängig von der eng gefassten Gattungstradition in literarischen, filmischen und televisiven Texten anschaulich untersuchen lässt, steht method(olog)isch in der Tradition der „Literarisierung des Topos-Begriffs“, wie sie im Anschluss an Ernst Robert Curtius „zur Grundlage einer neuen historischen Komparatistik“ avanciert.252 Diese zeichnet sich „als wissenschaftliche Forschungsrichtung“ dadurch aus, dass sie „literarische Topoi als stehende Motive der antiken und der anschließenden europäischen Literatur interpretiert (z.B. ‚locus amoenus‘)“.253 Mit diesem Ansatz wird es möglich, die vielfach in der Forschung konstatierte ‚Wandlung‘ der Idylle von einer eigenständigen Gattung hin zu einem „Komplex aus Motiv- und Strukturelementen“ analytisch zu erfassen,254 wie es in der vorliegenden Arbeit anhand einer medienästhetischen Untersuchung der intertextuellen Diffusion des materialen Topos der Idylle in Literatur, Film und Fernsehen unternommen wird. Auch wenn die von Curtius geprägte Richtung der Toposforschung so offenkundig produktiv erscheint, ist sie vielfach – und unberechtigt – kritisiert worden.255 Diese Kritik richtet sich vor allem auf eine scheinbar falsche Herleitung des Topos-Begriffs, der von Curtius nicht im Sinn der aristotelischen Poetik als Fundort für Argumentationsmuster verstanden, sondern als „Sammelname für Traditionen überhaupt“ aufgefasst wird und zwar aufgrund einer vermeintlich „ahistorisch[en] Gleichsetzung von verschiedenen Termini der rhetorischen Topik“.256 Unterzieht man diese Kritik ihrerseits einer kritischen Prüfung, dann erscheint der Topos-Begriff, den Curtius seinem ‚Opus Magnum‘ zugrunde legt,257 als Innovation wie auch als Aporie: Ohne Kenntnis der Ergebnisse der zweiten Literaturrevolution sowie der durch die linguistisch-strukturalistische Wende eingeleiteten literaturwissenschaftlichen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhun252

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Müller, Wolfgang G.: Stichwort ‚Topik/Toposforschung‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie [1998], hrsg. von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar: Metzler 32004, S. 665f, hier: S. 655. Hess, Peter: Stichwort ‚Topos‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. III: P– Z, gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Jan-Dirk Müller, Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 649–652, hier: S. 651. Häntzschel: Stichwort ‚Idylle‘, S. 123. Vgl. Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972. Jehn, Peter: „Ernst Robert Curtius: Toposforschung als Restauration (statt eines Vorworts)“, in: ders. (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. VII–LXIV, hier: S. X. Vgl. Curtius: Europäische Literatur.

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derts entwirft Curtius mit dem vorsichtigen Versuch einer Abgrenzung von der Stilforschung gewissermaßen unwissentlich eine ‚eigene‘ Alternative zur hermeneutischen Wende und der sich um 1900 daraus entwickelnden Methode der Geistesgeschichte. Aktualisiert man Curtius’ Konzept durch die ihm noch fehlende semiotische Perspektive der Intertextualitätstheorie, zeigt sich gerade das produktive Potenzial einer materialen Topik, das bislang lediglich immer nur als Kritik formuliert wurde, weil „der Curtius’sche Topos schließlich fast jeden Inhalt“ annehmen könne und sich deshalb nur „mit dem Sammelbegriff eines ‚konstanten‘ oder ‚traditionellen‘ Textelements“ fassen lasse.258 Nachfolgend soll daher kurz die Kritik an Curtius geprüft werden, um dann das seinen Topos-Begriff bestimmende Konzept einer entschieden nicht-aristotelischen Rhetorik darzulegen und schließlich die wissenschaftlichen Implikationen und Möglichkeiten einer dergestalt aktualisierten materialen Topik aufzuzeigen.

1.3.1‚Zurück in die Zukunft‘: Curtius’ Toposforschung Unter ‚Topoi‘ versteht Curtius die „rhetorischen Schemata der Antike“,259 die aber nicht als „starr[]“ und „unveränderlich[]“ begriffen werden, insofern sich ihre „Bedeutung und Tragweite“ stets „mit ihrer historischen Umwelt“ wandelt.260 Aus diesem Grund gehöre eine „historische Topik“ zur „Prinzipienlehre der Literaturwissenschaft“,261 weil sich „an der Geschichte rhetorischer Formeln ein Stück Kulturgeschichte ablesen“ lasse.262 Auf diese Weise definiert Curtius die Topoi in einem materialen Sinn als „literarische Konstanten“ in der „literarischen Tradition Europas“,263 mit denen sich spezifische „Strukturzusammenhänge“ evident machen lassen.264 Vor diesem Hintergrund erscheint ein Text dann nicht als bloßes „historisches Zeugnis“ oder aber als „psychologisches Dokument“, sondern lässt sich als Variation einer „typisch[en] Formel der Tradition“ begreifen.265 Das ‚Formelhafte‘ zeige sich dabei vor allem im Gebrauch „fest[er] Elemente“,266 zu denen auch das „rhetorisch-poetisch[e] Klischee“ zähle.267 Zwar ist es richtig, dass es Curtius, indem er das Phänomen der europäischen Literatur „als Ganzheit“ betrachtet,268 bei der Toposforschung „primär um den Nachweis von 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268

Jehn: „Toposforschung als Restauration“, S. X Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 3. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 11. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 7. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 11. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 13. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 9. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 10. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 13. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 18. Curtius: Europäische Literatur, S. 25.

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Identischem, statt um die Herausarbeitung von Differentem“ gehe,269 allerdings erfolgt dieser Ansatz, der, wie Curtius sagt, „nur historisch verfahren“ könne, explizit nicht „in der Form der Literaturgeschichte“.270 Worum es ihm vielmehr geht, ist die Abwendung von einer biographischen Autorfixierung in der Literaturwissenschaft, die „Werkmonographien und Chronologien“ hervorbringt.271 Stattdessen zielt er auf eine „philologisch verfahrende Literaturwissenschaft“, zu deren „analytischen Methoden“ die Toposforschung mit ihrer „vergleichend[en] Durchmusterung der Literaturen“ zählt, um so spezifische „Strukturen sichtbar [zu] machen“, statt in positivistischer Manier „katalogartiges Tatsachenwissen“ zu kompilieren.272 Curtius’ Konzept der Toposforschung schließt damit insofern an die Topik im „antiken Lehrgebäude der Rhetorik“ an, als er darunter ein „Vorratsmagazin“ versteht, in dem sich „Gedanken allgemeinster Art“ finden lassen und zwar „solche, die bei allen Reden und Schriften überhaupt verwendet werden“ können.273 In diesem Sinn zeitigt Curtius’ diachron und komparatistisch ausgerichtete „Untersuchung stilistischer Klischees und literarischer Versatzstücke“ einen dezidiert „‚literarisch[en]‘ Toposbegriff“,274 der spezifische „Formulierungen von Darstellungsstereotypen“ genauso umfasst wie „normativ wirksam[e] ideell[e] Konzept[e] mit bedeutender Nachwirkung“.275 Damit erscheint der Topos-Begriff als „Grundlage einer neuen historischen Komparatistik“,276 die beispielsweise den locus amoenus als einen solchen Topos begreift.277 Da sich gerade dieser, wie bereits dargelegt, als konstitutiv für die Idylle erweist, lässt sie sich ihrerseits ebenfalls topisch perspektivieren und untersuchen. Trotz seiner nachgerade ubiquitären Verbreitung in der Literaturwissenschaft und anderen Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie, Mathematik, Kartographie, Meteorologie oder Jurisprudenz278 ist der Topos-Begriff „bis heute weder in der rhetorischen 269 270 271

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Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis, S. XII. Curtius: Europäische Literatur, S. 25. Pöggeler, Otto: „Toposforschung und aktualisierte Topik“ [1970], in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 160–173, hier: S. 160. Curtius: Europäische Literatur, S, 25. Curtius: Europäische Literatur, S. 89. Beller, Manfred: „Toposforschung contra Stoffgeschichte“ [1970], in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 174–180, hier: S. 177. Kühlmann, Wilhelm/Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Stichwort ‚Topik‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. III: P–Z, gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Jan-Dirk Müller, Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 646–649, hier: S. 646. Müller: Stichwort ‚Topik/Toposforschung‘, S. 665. Vgl. Curtius: Europäische Literatur, S. 202ff. Vgl. Obermayer, August: „Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft“ [1969], in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 155– 159, hier: S. 155.

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Theoriebildung noch in der wissenschaftlichen Diskussion zum eindeutig festgelegten Fachbegriff geworden“.279 Dabei lassen sich in Bezug auf die rhetorische Tradition ganz allgemein zwei Bereiche für eine systematische Erfassung der Topoi unterscheiden: Die formale und damit im engeren Sinn aristotelische Topik, der die historisch ältere und im weiteren Sinn sophistisch geprägte materiale Topik gegenübersteht.280 In der aristotelischen Topik stellen die Topoi „formale Anweisungen zur Bildung von Argumenten“ dar,281 um als „Kategorien zur Befragung, Bewältigung und Einordnung von Wirklichkeit“ letztlich „syllogistische Wahrscheinlichkeitsschlüsse“ zu ermöglichen.282 Als ein solches „System von Suchkategorien“ hat die aristotelische Topik also das Ziel,283 „die Beweisführung mit Inhalten zu beliefern“.284 Formal erscheint diese Topik deshalb, weil sie letztlich eine heuristische „Methode“ darstellt:285 Mit ihr lassen sich allgemeingültige „Fundorte für Argumente“ (topoi/loci) generieren,286 auf die man „alle Beweise zurückführen kann“.287 Als solcherart metaphorische ‚Fundorte‘ sind die Topoi der formalen Topik also „nicht die Argumente selbst, sondern die Abteilung, in die sie eingereiht werden“ können.288 In genau diesem abstrakten Sinn einer Meta-Einheit, die „eine Vielzahl von rednerischen Beweisführungen zur Deckung bringt“,289 versteht Aristoteles den Topos als „das, worunter viele Enthymeme fallen“.290 Enthymeme sind dabei all jene, zumeist verkürzten syllogistischen Beweisschlüsse, die „auf Wahrscheinlichkeiten oder Zeichen“ beruhen und nicht „auf Wahrem oder Unmittelbarem“.291 Für die aristotelische Rhetorik stellen Topoi 279 280 281 282 283

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Hess: Stichwort ‚Topos‘, S. 649. Vgl. Hess: Stichwort ‚Topos‘, S. 649. Pöggler: „Toposforschung und aktualisierte Topik“, S. 173. Hess: Stichwort ‚Topos‘, S. 649f. Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode [1986], Stuttgart/Weimar: Metzler 42005, S. 239. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 66. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 67. Ueding/Steinbrink: Grundriß der Rhetroik, S. 239. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 67. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 67. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 67. Aristoteles: Rhetorik [II,26], übersetzt und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam 1999, S. 150. Christoff Rapp weist in seinem Kommentar zur aristotelischen Rhetorik darauf hin, dass es sich angesichts dieses Bezugs der Topoi auf die Enthymeme „bei den Topen [bzw. Topoi, N.J.] um Gebilde einer allgemeinen Form handelt, unter die einzelne Enthymeme dann fallen, wenn sie entweder eine Instanziierung dieser allgemeinen Form darstellen oder wenn sie nach der Anleitung des entsprechenden Topos gebildet sind“ (Rapp, Christof: „Vorbemerkung zu Kap. I 4–14“, in: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Hellmut Flashar, Band IV: Rhetorik, übersetzt und erläutert von Christof Rapp, 2. Halbband, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 270–300, hier: S. 272). Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 60.

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damit Fundstätten für die sog. ‚kunstgemäßen‘ Beweise (pisteis entechnoi) dar, die – anders als die pisteis atechnoi, also die gewissermaßen ‚natürlichen‘ Bewiese, die sich aus der Sache (wie von) selbst ergeben – ihrerseits „erst durch die Hilfe der Kunst gefunden bzw. aus den Tatsachen entwickelt werden“ müssen und daher „aus Zeichen, Indizien [...], Beweisgründen [...] oder Beispielen [...] bestehen“.292 Aristoteles etabliert die Topik also als eine „praktische [...] Methode“ der rhetorischen inventio,293 indem er sich kritisch gegen „das unsystematische Vorgehen“ der Sophisten wendet,294 für die die Topik in erster Linie „eine Sammlung von Gemeinplätzen“ darstellt.295 (Die weitergehend produktive Verwendung des Konzepts der Gemeinplätze im Zusammenhang mit der materialen Topik wird in der abschließenden ‚Koda‘ der Arbeit dargestellt.) Im sophistischen Verständnis sind Gemeinplätze „Dinge“, „über die man gewöhnlich spricht und um die man nicht ‚verlegen‘ sein darf“, weshalb sie wie in einem „Register“ gespeichert vorgestellt werden und dergestalt jedem Redner – eben als ‚gemeine Plätze‘ – zugänglich sind.296 Curtius’ Ansatz folgt insofern dem Motto ‚Zurück in die Zukunft‘, als er diese beiden Topiken – die aristotelische und die sophistische bzw. die formale und die materiale – zusammenbringt: So wie für die Sophisten ist die Topik auch für Aristoteles letztlich „ein Speicher“, denn die jeweils in einer Topik versammelten Topoi „sind im Prinzip Leerformen“.297 Insofern erscheint die Kritik an der von Curtius vorgenommenen ‚Gleichsetzung‘ von Topos und Gemeinplatz völlig unberechtigt,298 weil bereits die Topoi der aristotelischen Topik jene Tendenz aufweisen, die Barthes als „Verdinglichung“ beschreibt,299 sodass die topischen Leerformen zu Gemeinplätzen avancieren können und deshalb als „ein Vorrat ausgefüllter Formen“ zu verstehen sind:300 Die durch Aristoteles’ formale Methode generierten Topoi haben nämlich „die Tendenz aufgewiesen, sich ständig auf dieselbe Weise zu füllen“, um so „zunächst zufällige und in der Folge wiederholte, verdinglichte Inhalte zu transportieren.“301 (Das ist die nachträgliche ‚Rache‘ der Sophistik an Aristoteles.) Auf diese Weise sei, so Barthes weiter, die Topik schließlich „zu einem Speicher von Stereotypen, von eingebürgerten Themen“ geworden, die „nahezu 292 293 294 295 296 297 298

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Ueding/Steinbrink: Grundriß der Rhetorik, S. 239. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 68. Rapp: „Vorbemerkung“, S. 271. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 67. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 69. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 69. Vgl. Jehn: „Toposforschung als Restauration“, S. LVII; sowie Mertner, Edgar: „Topos und Commonplace“ [1956], in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 20–68, hier: S. 20. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 69. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 67, Hervorhebung N.J. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 69.

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zwangsläufig in die Behandlung jedes Gegenstands eingebracht werden“ können – und zwar sowohl im Anwendungsbereich der Rhetorik auf die Rede wie auch auf die Literatur.302

1.3.2Theoretische Implikationen: Die Idyllenforschung als materiale Topik Insofern das, was Curtius eine ‚historische Topik‘ nennt, die zu Gemeinplätzen gewordenen verdinglichten Leerformen und ihren von der Antike über das lateinische Mittelalter nachweisbaren Gebrauch in der europäischen Literatur untersucht, erweist sich die Bezeichnung ‚Topos‘ tatsächlich als eine Art von „Sammelbegriff für etwas in der Literatur Tradiertes und stereotyp Übernommenes“.303 Zugleich avanciert der Begriff ‚Topos‘ selbst zu einem „Gemeinplatz“ für alles Literarische, „dessen Überlieferungscharakter sich mehr oder weniger deutlich nachweisen lässt“.304 Diese Kritik, die Edgar Mertner explizit gegenüber Curtius formuliert, müsste vielmehr an den unreflektierten Gebrauch des Topos-Begriffs gerichtet sein, wie er sich in der Forschung im Anschluss an Curtius’ Ansatz durchsetzt. Dabei wurde schon früh die Offenheit erkannt, die Curtius’ Topos-Begriff deshalb auszeichnet, weil er „die Grenzen zum Motiv, zur Metapher, zu Symbol und Allegorie offenhält“.305 Allerdings sind „die fließenden Übergänge“, die ein solcher Topos-Begriff ermöglicht, stets als nachteilig bewertet worden, weil er „ohne eine einwandfreie Festlegung“ zu „vielen Füllungen“ tendiere und daher unbrauchbar erscheine.306 Die von Walter Veit im Anschluss an Mertners Kritik vorgeschlagene Alternative, den Topos als „Denkform“ zu fassen, um ihn so „vom Versatzstück oder von der rhetorischen Floskel“ zu unterscheiden,307 erscheint hingegen erstens nicht weniger vage als der genau aus diesem vermeintlichen Grund für unbrauchbar erachtete Topos-Begriff, sodass das Konzept einer ‚Denkform‘ zweitens einen Rückschritt hinter das so innovative wie produktive Potenzial von Curtius’ Ansatz darstellt: Seine ‚historische Topik‘ ist schließlich eine Absage an die geistesgeschichtliche Ideologie einer positivistischen Literaturgeschichtsschreibung, deren Epochenbegriffe das Phänomen der Literarturgeschichte letztlich als hypothetisch angenommene Abfolge von zu einer bestimmten Zeit dominant homogenisierend wirkenden ‚Denkformen‘ konstruieren. 302 303 304 305

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Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 69. Mertner: „Topos und Commonplace“, S. 22. Mertner: „Topos und Commonplace“, S. 25. Veit, Walter: „Zur Toposforschung“ [1963], in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 74–89, hier: S. 76. Veit: „Zur Toposforschung“, S. 79. Veit: „Zur Toposforschung“, S. 82.

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Alternativ zu einer solchen Kritik bietet das in Bezug auf die Geschichte der Rhetorik perspektivierte Konzept einer materialen Topik die Möglichkeit zur Aktualisierung von Curtius’ Ansatz im Sinn einer epistemischen Betrachtung der Literatur: Topoi stellen letztlich „Wissenkomplexe[]“ dar, „die allgemein akzeptiert [...] und deshalb Ausgangspunkt einer öffentliche Rede“ sind,308 weil ein dergestalt materialer Topos „diejenigen fertigen Versatzstücke beinhaltet, die man benutzen soll, um einen bestimmten Zweck zu erreichen“.309 Gerade im Zuge der zweiten Sophistik, die ab etwa 200 n. Chr. eine zunehmende ‚Literarisierung der Rhetorik‘ bewirkt,310 setzt sich eine solche Arbeit mit ‚Gemeinplätzen‘ auch als Verfahren zur Produktion literarischer Texte durch. Curtius’ Ansatz zieht aus dieser historischen Entwicklung produktive Schlüsse für die Beschäftigung mit Literatur im Allgemeinen, denn die Toposforschung erweist sich insofern als eine „Umkehrung des Systems, das der literarischen Produktion diente“, als es die Rhetorik „zu einem Instrument des Textverständnisses“ macht.311 Den von Curtius „in die Literaturwissenschaft eingeführt[en]“ Topos-Begriff, der sich in der (älteren) Tradition der Sophistik als materialer vom formalen der (jüngeren) aristotelischen Topik abgrenzen lässt, erläutert Heinrich Lausberg und zwar im Sinne eines ‚infiniten‘ (in seiner infiniten Fassung formulierten oder nicht formulierten) Gedankens, der in einem Kulturkreis durch Schulbildung und literarische Tradition oder durch die Wirkung analoger Erziehungsinstanzen Gemeinbesitz mindestens gewisser Gesellschaftsschichten geworden ist und nun von einem Schriftsteller auf seinen finiten Behandlungsgegenstand, sei es in ausführlicher, sei es in kurzer (‚Anspielung‘) Form, finit angewandt wird.312

So problematisch nahe der von Lausberg verwendete Begriff des Gedankens auch an Veits ‚Denkform‘ liegt, so progressiv erscheint diese Darstellung einer materialen Topik für die Literaturwissenschaft, weil sie durch eine Reflexion über die rezeptionsästhetischen Implikationen eine intertextuelle Perspektivierung vorwegnimmt: „Der Leser“, schreibt Lausberg, „der in Unkenntnis des Topos die vorgefundene finite Formulierung des Schriftstellers für eine völlig originale Gelegenheits-Leistung dieses Schriftstellers hält und so semantisch überbewertet“, irre in der gleichen Weise wie der Leser, „der, blasiert durch die Kenntnis des Topos, die vorgefundene finite Formulierung des Schriftstellers nur für nichtssagenden semantischen Leerlauf hält.“313 Erst eine inter-

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Kühlmann/Schmidt-Biggemann: Stichwort ‚Topik‘, S. 647. Rapp: „Vorbemerkung“, S. 271. Vgl. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 32. Emrich, Berthold: „Topik und Topoi“ [1966], in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S.90–120, hier: S. 120, Hervorhebungen i.O. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, S. 38f. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, S. 39.

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textuelle Perspektivierung (die Lausberg genauso fremd ist wie Curtius) solch topischer Fundstücke ermöglicht ihre literaturwissenschaftlich produktive Analyse. Topoi sind also zentrale Elemente einer ‚literarischen Rhetorik‘, wie sie Lausberg darstellt. Den Topos-Begriff beschreibt er daher mit Hilfe eines anschaulichen Bildes. Danach sei der Topos „eine Form, die (wie ein Gefäß bald mit Wasser, bald mit Wein: jeweils mit verschiedener Funktion) mit jeweils aktuell gemeintem Inhalt gefüllt werden kann“.314 Interessant ist diese rhetorische Gestaltung der Definition des Topos deshalb, weil Manfred Beller in seinem Versuch, die Toposforschung von der Stoff- und Motivgeschichte abzugrenzen, den Begriff des Bildes seinerseits ebenfalls verwendet und dieses als Alternative für Veits Konzept einer Denkform vorschlägt: Den Begriff ‚Bild‘ verkoppelt Beller mit dem des Topos, weil „topisch[e] Grundgedanken“ stets „in poetisch anschaulichen Bildern aus[ge]drückt“ werden.315 Aus diesem Grund erklärt Beller die Bilder zu „kleineren topischen Einheiten“, die „zugleich inhaltlich und formal gebunden“ sind und ihrerseits als strukturelle Grundelemente eines Topos angesehen werden können, denn „[e]in einzelnes Bild macht noch keinen Topos“.316 Dieser konstituiere sich „erst im Rahmen eines größeren festen Zusammenhanges“, sodass sich der Topos konzeptuell von Stoff und Motiv unterscheide:317 Anders als der Stoff ist der Topos „versetzbar“, denn er „ist an keine spezielle Fabel gebunden“; zugleich ist er „nicht so allgemein und dehnbar“ wie das Motiv.318 Darunter versteht Beller eine ‚elementare Situation‘,319 wie sie auch Veits philosophisch gewendeter Bestimmung des Topos als „Form des Denkens von Sein als Wirklichkeit“ zugrunde liegt.320 Indem Beller nun das Bild zur ‚kleineren topischen Einheit‘ erklärt, die ihrerseits somit als eine Art ‚Topologem‘ angesehen werden kann, weil sie einen Topos überhaupt erst konstituiere, lasse dieser sich – ganz im Sinn von Curtius – bestimmen als ein „Motivkomplex“: „Solche in der Tradition greifbaren Komplexe von sinngebend festen und akzidentell variablen Details“, womit Beller die hier als Topologeme bezeichneten Bilder meint, „sind das eigentliche Feld des literarischen Toposbegriffs“.321 Bemerkenswert ist Bellers Konzept deshalb, weil es den Topos in derselben Weise modellierbar macht, wie die von Günter Häntzschel als Motivkomplex dargestellte Idylle. Ausgehend von dieser Fassung der Idylle i.w.S. ist diese hier zuvor als ein materialer Topos bestimmt worden, auf den im Besonderen letztlich genau das zutrifft, was Beller zufolge den Topos im Allgemeinen auszeichne: Er kann „in mehreren vonein314 315 316 317 318 319 320 321

Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, S. 39. Beller: „Toposforschung contra Stoffgeschichte“, S. 179. Beller: „Toposforschung contra Stoffgeschichte“, S. 179. Beller: „Toposforschung contra Stoffgeschichte“, S. 179. Beller: „Toposforschung contra Stoffgeschichte“, S. 177. Vgl. Beller: „Toposforschung contra Stoffgeschichte“, S. 179. Veit: „Zur Toposforschung“, S. 82. Beller: „Toposforschung contra Stoffgeschichte“, S. 179, Hervorhebung N.J.

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ander abhängigen und miteinander verflochtenen, aber niemals identischen Ausprägungen“ erscheinen.322 Hier zeigt sich nun, inwiefern die im vorangehenden Kapitel zur Idylle erfolgte Perspektivierung der Gattung in der rhetorischen Tradition des Stücks eine Aktualisierung der materialen Topik bedeutet: Die Idylle ist insofern ein materialer Topos, als es sich dabei um „Versatzstücke“ handelt,323 die laut Barthes ihrerseits stets „Bestandteile einer syntagmatischen Kombinatorik“ sind, weil Topoi bereits in der Antike „ablösbare (Beweis für ihre Verdinglichung), abrufbare und transportable Stücke“ darstellen.324 Will man Idyllenforschung als medienästhetische Untersuchung dieser ‚(Versatz-)Stücke‘ in literarischen, filmischen und televisiven Texten betreiben, kann dies nur auf eine Wiese geschehen: als materiale Topik.

1.3.3Innovative Komplikationen Die wissenschaftliche Leistung von Ernst Robert Curtius besteht in der „Literarisierung des Topos-Begriffs“ und damit in der entsprechenden Begründung einer von ihm selbst historisch genannten und hier nun als materiale Topik aktualisierten „wissenschaftlich[en] Forschungsrichtung“.325 Wenn Albrecht Koschorke in Die Geschichte des Horizonts feststellt, dass die „traditionelle Motivgeschichte [...] im Schatten der Geistesgeschichte“ entstanden ist,326 dann trifft dies ebenfalls auf die Toposforschung zu, die „dem individualistischen, wertrelativistischen und die Kontinuität durchbrechenden Schöpfertum [...] das Prinzip einer überpersönlichen, normativen und auf Kontinuität basierenden Tradition entgegensetzt“.327 Was Peter Jehn hier nun ausgerechnet als Kritik an der Toposforschung formuliert, erscheint deshalb als schlicht falsch, weil die Topoi für Curtius, wie bereits dargelegt, keinesfalls „starre, unveränderliche Schemata“ darstellen,328 die dann als Beleg für das zu nehmen wären, was Jehn ‚Kontinuität‘ nennt. Curtius spielt die literarische Tradition insofern gegen das von Jehn so offenkundig hochgehaltene Schöpfertum der Genieästhetik aus, als sich die Toposforschung gegen die sich aus dieser literarischen Ideologie entwickelte Stilforschung richtet, die „im Stil die Individualität des Autors“ sucht.329 Curtius ist sich der innovativen Komplikationen seiner Toposforschung in den 1930er Jahren wohl bewusst, wenn er die reaktionär an322 323 324 325 326

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Beller: „Toposforschung contra Stoffgeschichte“, S. 179. Rapp: „Vorbemerkung“, S. 271. Barthes: „Die alte Rhetorik“, S. 70. Hess: Stichwort ‚Topos‘, S. 650. Koschorke, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 (zugl. München, Univ., Diss., 1989), S. 7. Jehn: „Toposforschung als Restauration“, S. XXX. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 11. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 10.

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mutende Stilforschung gegen seinen progressiven Ansatz verteidigt als „berechtigt für die moderne Epoche, die mit der Literaturrevolution des 18. J[ahr]h[undert]s einsetzt; genauer gesagt, mit dem Import der englischen Theorie vom original genius.“330 Dagegen weist er darauf hin, dass „[f]ür die antike und neuere Literatur vor 1750 [...] jene Voraussetzung indes nur in eigeschränktem Maße“ gelte.331 Curtius erkennt also die Gefahren, die sich einer Literaturwissenschaft stellen, wenn das ‚Moderne‘ (in) der Literatur bzw. Kunst an deren Autonomie bemessen wird, die seit der Geniezeit proklamiert und von einer biographistisch fixierten Philologie im Autorkult gefeiert wird. Um seinen Ansatz aber auf die ‚Moderne‘ übertragen zu können, fehlen Curtius schlicht die Argumente der von den historischen Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts getragenen zweiten Literaturrevolution sowie der mit dieser einhergehenden literaturwissenschaftlichen Revolution durch die Russischen Formalisten und in deren Nachfolge dann der Prager Strukturalisten.332 Hätte Curtius die Schriften Viktor Šklovskijs gekannt, der sich seinerseits ja dezidiert von der Stilforschung abgrenzt,333 wie sie die von ihm ‚ethnografisch‘ genannte Literaturwissenschaft im Russland der Jahrhundertwende betreibt,334 dann hätte er einen Bundgenossen gefunden. In „Die Kunst als Verfahren“ kritisiert Šklovskij die gemeinhin verbreitete Auffassung, dass Kunst (bzw. Literatur) ein „Denken in Bildern“ sei, woraus sich die Vorstellung ableite, die Geschichte der Kunst realisiere sich in „der Geschichte der Abwandlung des Bildes“.335 Mit dem hier metaphorisch gemeinten Begriff des Bildes nähert sich Šklovskij dem Konzept des Topos an, wie es Curtius fasst, denn im Bild zeige sich genau jenes Phänomen einer historischen Invarianz, das mit Curtius als literarische Tradition zu begreifen wäre: „Es erweist sich aber“, stellt Šklovskij fest, „daß die Bilder fast unbeweglich sind; unverändert wandern sie von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Land zu Land, von Dichter zu Dichter. Bilder gehören ‚keinem‘“.336 Ausgehend von dieser als Absage an das Originalitätspostualt der autonomen Geniekunst zu verstehenden Perspektivierung von Kunst bzw. Literatur entwickelt Šklovskij eine „allgemeine Regel“ für

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Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 10. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 10. Vgl. Kühn: „mémoire“. Vgl. Šklovskij, Viktor: „Die Kunst als Verfahren“ [1916], in: Striedter, Jurij: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink 1969, S. 3–35, hier: S. 9f. Vgl. Šklovskij, Viktor: „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“ [1916], in: Striedter, Jurij: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink 1969, S. 37–121, hier: S. 39f. Šklovskij: „Die Kunst als Verfahren“, S. 5. Šklovskij: „Die Kunst als Verfahren“, S. 5.

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die Rezeption von Kunstwerken,337 die sich entsprechend auf deren Produktion übertragen lässt und so genau das herausstellt, was Curtius als „Strukturzusammenhänge“ bezeichnet, die „in der Tradition eines Topos“ begründet liegen:338 Ein Kunstwerk wird wahrgenommen mit anderen Kunstwerken. Die Form des Kunstwerks bestimmt sich nach ihrem Verhältnis zu anderen, bereits vorhandenen Formen. Das Material des Kunstwerks wird ständig mit Pedal gespielt, d.h. es wird herausgehoben, ‚zum Tönen gebracht‘. Nicht nur die Parodie, sondern überhaupt jedes Kunstwerk wird geschaffen als Parallele und Gegensatz zu einem vorhandenen Muster. Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat […].339

Curtius und Šklovskij verbindet aber nicht nur ihre jeweils nach heutigem Verständnis nachgerade intertextuell zu nennende Perspektive auf Literatur. Beide eint auch die entschieden an einer rhetorischen Auffassung von Literatur ausgerichtete Argumentation, die bei Šklovskij dadurch anschaulich wird, dass er die ‚dichterische Sprache‘ von der ‚prosaischen‘ unterscheidet.340 Dabei meint ‚prosaisch‘ die sich eben nicht durch spezifisch literarische Verfahrensweisen auszeichnende Alltagssprache. Dass die dichterische Sprache dagegen ihre „eigenen Gesetze“ aufweise,341 entspricht jener klassisch rhetorischen Abgrenzung zwischen alltags- oder normalsprachlichen proprie- und rhetorisch ‚geformten‘ improprie-Ausdrücken,342 wie sie Roman Jakobson später als „die Projektion des Äquivalenzprinzips [...] von der paradigmatischen Achse der Selektion [...] auf die syntagmatische Achse der Kombination“ beschreibt.343 Sowohl Šklovskijs als auch Curtius’ Ansatz stehen dabei in einem größeren Kontext, durch den um 1900 die Voraussetzungen für einen sich z.T. erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vollziehenden Paradigmenwechsel geschaffen werden – die literaturwissenschaftliche Revolution mit der linguistisch-strukturalistischen Wende, die in der Literaturwissenschaft erst ab den 1960er Jahren rezipiert wird und nachwirkt, ist ein Beispiel dafür und auch in der kunstgeschichtlichen Forschung zeigen sich ähnliche Neuausrichtungen des bislang gültigen Denkens der eigenen Gegenstände. Dabei erscheint beispielsweise Aby Warburgs 1924 begonnenes Projekt des Mnemosyne-Atlas 337 338 339 340 341 342

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Šklovskij: „Verfahren der Sujetfügung“, S. 51. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 9f. Šklovskij: „Verfahren der Sujetfügung“, S. 51. Vgl. Šklovskij: „Die Kunst als Verfahren“, S. 11. Šklovskij: „Die Kunst als Verfahren“, S. 11. Vgl. Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel: Stroemfeld/Nexus 1995, S. 120. Jakobson, Roman: „Linguistik und Poetik“ [1960], übersetzt von Tarcisius Schelbert, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 83–121, hier: S. 83.

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interessanterweise ähnlich ausgerichtet wie Curtius’ Toposforschung,344 denn Gegenstand des Projekts, das die sog. Pathosformeln in der Malerei der Renaissance untersucht, ist „ein Inventar [...] der antikisierenden Vorprägungen, die auf die Darstellung des bewegten Lebens im Zeitalter der Renaissance nachweislich mitstilbildend einwirkten“.345 Warburgs wissenschaftliches Verfahren erweist sich dabei selbst als topisch, weil darin das buchstäbliche (und nicht metaphorische) Bild zur ‚topischen Einheit‘ avanciert: Der Mnemosyne-Atlas besteht aus 79 Holztafeln, „die mit schwarzem Leinen überzogen waren“ und an die „Fotografien nach Bildern, Reproduktionsfotos aus Büchern oder Bildmaterialien aus Zeitungen oder aus dem Alltag so geheftet“ wurden, „daß sie einen oder mehrere thematische Bereiche veranschaulichten.“346 Die Toposforschung, wie sie Curtius begründet, hat zudem produktive Auswirkungen bis in die Gegenwart: So weist Umberto Eco auf das Vorherrschen spezifischer Topoi in der der Unterhaltungsliteratur hin, wo sie als „feststehend[e] und regelmäßig wiederkehrend[e] Muster“ das serielle Wiederholungsschema der „Handlungsabläufe“ in diesen Geschichten strukturieren.347 Indirekt prägt die Toposforschung auch neueste wissenschaftliche Ansätze, wie den einer ‚reflexiven Stereotypik‘. Mit Blick auf eine medienästhetische sowie (medien-)kulturwissenschaftliche Analyse von Filmen definiert Jörg Schweinitz in seiner Untersuchung Film und Stereotyp die letztgenannten als „komplexe, mehrgliedrige Formen, Strukturen und Muster“, die sich dadurch auszeichnen, dass sie in sich wiederholenden bzw. in als „ähnlich empfundenen Funktionskontexten en bloc immer wieder reproduziert werden und dabei ein hohes Beharrungsvermögen erlangen“.348 Im Film erhalten Stereotype insofern den Status von Topoi, als sie „eingespielt[e] Schemata“ sind, die einer „zyklischen Produktion“ unterliegen, und gerade im Hollywood-Kino, das Schweinitz mit Horkheimer und Adorno zum Bereich der Kulturindustrie rechnet, zeige sich eine Neigung zum „intertextuell und kulturell konventionalisierten Schema“ und damit „zum Stereotyp“.349 Dergestalt erweist sich das filmische

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Vgl. Warburg, Aby Moritz: Der Bilderatlas Mnemosyne, hrsg. von Martin Warnke, Berlin: Akademie Verlag 2000. Warburg, Aby Moritz: Mnemosyne Einleitung [1929], in: ders.: Werke in einem Band. Auf Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, hrsg. und kommentiert von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 629–639, hier: S. 630, Hervorhebung N.J. Warnke, Martin: „Editorische Vorbemerkung“, in: Warburg, Aby Moritz: Der Bilderaltlas Mnemosyne, hrsg. von Martin Warnke, Berlin: Akademie Verlag 2000, S. VII–X, hier: S. VII. Eco, Umberto: „Der Mythos von Superman“, in: ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur [1964/1978], übersetzt von Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 187–222, hier: S. 209. Schweinitz, Jörg: Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin: Akademie Verlag 2006, S. 28, Hervorhebungen i.O. Schweinitz: Film und Stereotyp, S. XI.

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Verfahren der Stereotypisierung als „Standardtechnik der visuellen Selbstthematisierung“ des Films, die insbesondere in seiner „industriell[en] Produktionsweise“ sowie der „Serialisierung“ dieser Produktionen begründet liege.350 Wie Schweinitz dann unter Bezug auf Brochs Kitsch-Kritik herausstellt, avancieren gerade die „massenkulturellen Stereotype“ des Films „zum Symbol des Anti-Individuellen“ und lassen ihn dementsprechend als nicht dem Bereich der (‚hohen‘) Kunst zugehörig erscheinen.351 Vor diesem Hintergrund nennt Schweinitz drei Möglichkeiten „des ambitionierten kinematographischen Umgangs mit Stereotypen“: erstens die „radikale Kritik und Verweigerung“ ihnen gegenüber, zweitens eine Form der „individuell[en] Aneignung“ der Stereotype und drittens schließlich ihre „lustvolle Offenlegung“.352 Diese letzte Möglichkeit zeichnet sich als „Form von Selbstreferentialität“ aus, weil der sie offenlegende Umgang mit Stereotypen nicht nur lustvoll, sondern reflexiv ist, und laut Schweinitz heißt das, die konventionellen Muster werden rückhaltlos, ja geradezu forciert angewandt, aber nicht [...] so, dass sie zu einem einheitlichen Bild oder zu einer in sich kohärenten bruchlosen Diegese verwoben werden, die für sich den Erlebnischarakter oder die illusionäre Unmittelbarkeit gleichsam einer zweiten kohärenten Welt der Fiktion beansprucht. Vielmehr gehen sie jetzt in Kompositionen ein, die Doppelcharakter besitzen. Sie zerstören kaum wirklich den Genuss der Stereotype in ihrer ursprünglichen Funktionalität, sondern setzen vielmehr bewusst auf ihn. Aber gleichzeitig legen sie reflexiv den Charakter der Stereotype als vorfabrizierte Konstrukte offen – als Formen aus dem Repertoire.353

Was Schweinitz hier als reflexive Stereotypik des Films darlegt, ist ein Merkmal, das etwa auch die in der gleichen reflexiven Weise verfahrende Kitsch-Art auszeichnet, wenn sie durch die Verwendung kitschiger Topoi der Massenkultur über die „medial vorproduzierten Muster und Modellwelten eines konventionalisierten Imaginären“ reflektiert.354 Diese werden beispielsweise sowohl in den Öldrucken des 19. Jahrhunderts genauso anschaulich als auch in den einschlägigen Heftromanen aus dem Bereich der gemeinhin trivial genannten Unterhaltungsliteratur oder aktuellen Fernsehserien wie DAS TRAUMSCHIFF. Eine intertextuelle Toposforschung ermöglicht es, derartige Bezugnahmen genauer zu analysieren. Curtius hat dies, ohne die Theorie der Intertextualität zu kennen oder die späteren produktiven Möglichkeiten seines Ansatzes zu erahnen, gewissermaßen antizipiert, wenn er feststellt: „Die Toposforschung gleicht der ‚Kunstgeschichte ohne

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Schweinitz: Film und Stereotyp, S. X. Schweinitz: Film und Stereotyp, S. 108. Schweinitz: Film und Stereotyp, S. 110. Schweinitz: Film und Stereotyp, S. 121. Schweinitz: Film und Stereotyp, S. 121.

Eine Aktualisierung der materialen Topik

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Namen‘ im Gegensatz zur Geschichte der einzelnen Meister. Sie kann bis zu den unpersönlichen Stilformen vordringen. In diesen unpersönlichen Stilelementen aber berühren wir eine Schicht historischen Lebens, das tiefer gelagert ist als die des individuellen Erfindens.“355 Hieraus ergeben sich dann tatsächlich „neue Erkenntnisse für das Gesamtbild“ – allerdings nicht für das der von Curtius untersuchten mittelalterlichen Literatur,356 sondern für den großen ‚Gemeinplatz der Massenkultur‘: den Kitsch und seine nachgerade ‚idyllisch‘ erscheinende materiale Topik. Inwiefern dieses „allgemein[e] Kulturphänomen“, als das Vilém Flusser den Kitsch anerkennt,357 sich durch den spezifischen Gebrauch des materialen Topos der Idylle auszeichnet und dadurch gleichsam als ein konstitutiver Pol der Idylle angesehen werden kann, zeigt die nachfolgende medienästhetische Untersuchung idyllischer Texte in Literatur, Film und Fernsehen.

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Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 9. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 9. Flusser, Vilém: „Gespräch, Gerede, Kitsch. Zum Problem des unvollkommenen Informationskonsums“, in: Pross, Harry (Hg.): Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage, München: List 1985, S. 47–62, hier: S. 60.

2 Dimensionen der Idylle

Wie bunt ist doch des Lebens Fülle! // Da gibt’s zum Beispiel die Idylle, / hübsch und beliebt bei jung und alt, /und zwar in mancherlei Gestalt: / im Garten zwischen Rosenhecken, / am Stammtisch, wo sich Greise necken, / auf Wiesen oder Promenaden, / an Ufern, wo die Menschen baden, / im Federbett und hinterm Ofen... // Bloß, leider, gibt’s auch Katastrophen, / die jeder, den’s zum Guten zieht, / nach Möglichkeit umgeht und flieht, / um schließlich doch mit Angstgebärden / erwischt und eingetunkt zu werden. // Zwei Gegenpole sozusagen / sind’s, die uns freuen oder plagen, / wie Jambus etwa und Trochäus, / wie Goliath und KleinZachäus. / Doch sehn wir in besondern Fällen / auch eines aus dem andern quellen. / Besteht da, fragen wir uns bang, / ein innerer Zusammenhang? ... // Wie dem auch sei: wir müssen’s eben / so nehmen, wie’s die Götter geben. / Die Welt ist rätselhaft und schaurig, / zum Lachen heut und morgen traurig. / Ob süß du oder sauer blickst, / gilt gleich, – du wirst hineingemixt.1

Idylle und Katastrophe gehen – wie es Olaf Gulbransson im Prolog zu seinen ‚heiteren Bildergeschichten mit Versen‘ beschreibt – in „besondern Fällen“ auseinander hervor: Dieses Spannungsverhältnis soll nachfolgend anhand der drei für die Idylle konstitutiven Dimensionen der Poetizität, der Medialität und der Serialität genauer untersucht werden. Den Ausgangspunkt hierfür bildet die alle drei Dimensionen kennzeichnende Artifizialität, denn im Sinn einer Katastrophe liegt in ihr das größte ‚Gefährdungspotenzial‘ der Idylle. Deren poiesis eignen nämlich rhetorische Verfahren, die letztlich die ‚Gemachtheit‘ der Idylle kaschieren und somit einer durch die Offenlegung ihrer Poetizität bedingten Gefährdung entgegenwirken. Aus diesem Grund resultiert die spezifische ‚Kunsthaftigkeit‘ der Idylle überhaupt erst aus ihrer ‚Künstlichkeit‘ (vgl. Kapitel 2.1). Eine dergestalt ‚katastrophische Artifizialität‘ gründet nicht zuletzt auf der Medialität der Idylle: Sie wird durch spezifische Medien konstituiert, die metonymisch die idyllische 1

Gulbransson, Olaf: „Prolog“, in: ders.: Idyllen und Katastrophen. Heitere Bildergeschichten mit Versen von Dr. Owlglaß, München: Piper 1951, S. 5f, Hervorhebungen i.O. Nachfolgend werden Zitate aus dem Gedicht durch Nennung des Verses in Klammern und ohne weitere Fußnote direkt im Text belegt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Jablonski, Idylle, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04937-7_2

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Dimensionen der Idylle

poiesis strukturieren (vgl. Kapitel 2.2). Aus ihrer Poetizität und Medialität resultiert schließlich die Serialität der Idylle – eine Dimension, die bereits den antiken Idyllen eigen ist, aber gerade im Fernsehen buchstäblich zum Programm avanciert (vgl. Kapitel 2.3). In der hiesigen Perspektivierung erscheint das von Gulbransson als „innerer Zusammenhang“ (V. 22) beschriebene Verhältnis zwischen Idylle und Katastrophe als die po(i)etisch produktiv gemachte Wendung einer Katastrophe (in) der Idylle. Entsprechend ist der Zusammenhang zwischen beiden weder „rätselhaft“ noch „schaurig“ (V. 25), wie es bei Gulbransson heißt, denn das, was Idylle und Katastrophe nachgerade ‚faustisch‘ im Innersten zusammenhält, erscheint als göttliche Provenienz: „Wie dem auch sei“, heißt es im Prolog, „wir müssen’s eben / so nehmen, wie’s die Götter geben.“ (V. 22f) Dass hier nicht nur ein Gott genannt, sondern im Plural gleich von mindestens zweien gesprochen wird, erweist sich als – doppelsinnige – Prophetie ‚des Kommenden‘: An die Seite des göttlichen Erfinders der Idylle tritt sein Bruder Dionysos, sodass im Anschluss an die im dritten Kapitel der Arbeit folgende Auseinandersetzung mit den Idyllentheorien Friedrich Schillers und Jean Pauls im vierten Kapitel schließlich das kulturkonstitutive Zusammen- und Nachwirken dieses Dioskurenpaars im arkadischen, heterotopischen und elysischen Paradigma der Idylle veranschaulicht wird. Diese Paradigmen sind jeweils bipolar strukturiert, denn in Erweiterung von Gulbranssons ‚innerem Zusammenhang‘ wird gezeigt, dass die Idylle entweder katastrophisch oder kitschig ausgerichtet ist. Die Behandlung der drei Dimensionen der Idylle folgt einer kumulativen Struktur, denn Poetizität, Medialität und Serialität stehen in einem konsekutiven Verhältnis zueinander. Aus diesem Grund werden einzelne Aspekte aus den vorangehenden Kapiteln in den nachfolgenden wieder aufgegriffen und modifizierend weitergedacht. Dies betrifft sowohl die impliziten theoretischen Überlegungen, die mit den verschiedenen Dimensionen der Idylle verbunden sind, als auch die literarischen Texte selbst, aus deren synchroner Analyse diese Überlegungen abgeleitet sind. Die Zusammenstellung der behandelten Texte ist dabei diachron ausgerichtet, um die Konsekutivität der drei Dimensionen in der historischen Entwicklung der Idylle zu erfassen. Mit notwendigen Rückblicken in die Antike wird dadurch ein Zeitraum idyllischer Literatur- und Mediengeschichte abgedeckt, der von der modernen ‚Renaissance‘ der Idylle um 1750 bis zu ihrer literarischen, filmischen und televisiven Gegenwart im 21. Jahrhundert reicht. In einer medienästhetischen Perspektive zeichnet die nachfolgende Untersuchung der drei Dimensionen der Idylle damit zugleich den Wandel von Dichtung zu Literatur nach.2 Ihn beschreibt Friedrich Kittler durch die „methodische Unterscheidung symbolisch – real – imaginär“ in Korrelation mit dem Umbruch des Aufschreibesystems um 1900, denn das Symbolische, Reale und Imaginäre stellen drei mediale „Funktionen“ 2

Vgl. Kittler, Friedrich A.: Grammophon Film Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 27.

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dar, „die Informationssysteme ausmachen“.3 Die Dichtung wäre ein solches System, das im Zeitalter der Manuskripte um 1800 ein Monopol des Mediums Schrift etabliert. Infolge der Entwicklung neuer Möglichkeiten zur „technisch[en] Aufzeichenbarkeit von Sinnesdaten“,4 wie es zuvor allein die Dichtung als „Ersatzsinnlichkeit“ bewirken konnte, kippt das Schriftmonopol um 1900, weil zwei der drei Funktionen „vom Medium Schrift ablösbar geworden“ sind.5 „Zum wahrhaft ersten Mal“, stellt Kittler diesbezüglich fest, „hört um 1900 Schreiben auf, mit serieller Datenspeicherung synonym zu sein“, denn „[z]ur symbolischen Fixierung von Symbolischem“,6 wie es die in der „Einbildungskraft“ schaltende Dichtung durch das Medium Schrift leistet,7 „tritt die technische Aufzeichnung von Realem in Konkurrenz“ und mit ihr die technische Produktion von Imaginärem:8 „Was am Sprechen das Reale ist, fällt dem Grammophon zu; was das im Sprechen oder Schreiben produzierte Imaginäre ist, dem Spielfilm.“9 Um 1800 erscheint Dichtung also gerade deshalb als „audiovisuelle Halluzination“,10 weil sie durch das Medium Schrift zu einem Informations- bzw. „Speichersystem[]“ avanciert,11 das „optisch[e] und akustisch[e] Datenflüsse“ zwar „nicht in medientechnischer Realität“, aber „im Imaginären von Leserseelen“ zu integrieren vermag.12 Um 1900 ist eine solche ‚Integration‘ obsolet, denn die Entwicklung neuer technischer Aufzeichnungsmedien wie Grammophon, Film und Schreibmaschine führt zu einer „Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift“.13 Somit wird aus Dichtung insofern Literatur, als die drei medialen Funktionen sich nun auf verschiedene Medien verteilen. Die Unterscheidung „zwischen Realem, Imaginärem und Symbolischem ist die Theorie (oder auch nur ein historischer Effekt) dieser Ausdifferenzierung“.14 Kittlers Bezeichnungen für die sich aus der technischen Ausdifferenzierung ableitenden ‚medialen Funktionen‘ beziehen sich auf Jacques Lacan, demzufolge das Symbolische, das Reale und das Imaginäre eine „methodische Unterscheidung“ ermöglichen,15 um die „drei wesentlichen Kategorien [...] des psychoanalytischen Feldes“ sowie dessen 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 · 1900 [1985], München: Fink 42003, S. 297. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 277f, Hervorhebung N.J. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 297. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 277f. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 301. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 278. Kittler: Aufschreibesysteme, S 297. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 135. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 278. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 18f. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 29. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 27. Lacan, Jacques: „Von einem Syllabarium nachträglich“ [1966], in: ders.: Schriften. Vollständiger Text, 2 Bd.e, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Bd. II, Wien/Berlin: Turia + Kant 2015, S. 230–238, hier: S. 232.

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Dimensionen der Idylle

Strukturierung zu bezeichnen.16 Da das Symbolische, Reale und Imaginäre unauflöslich miteinander verflochten sind,17 lassen sie sich nur in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit bestimmen: So ist beispielsweise das Reale „weder imaginär noch symbolisch“,18 weil es sich „sowohl der Sprache wie der Vorstellungskraft entzieht“.19 Die Sprache stellt ihrerseits die „symbolische Ordnung“ dar, die „dem Imaginären und dem Realen gleichrangig“ ist.20 In Bezug auf das Imaginäre und Reale kommt der Sprache mitsamt ihrer symbolischen Ordnung eine heuristische Funktion zu, denn von „beiden läßt sich [...] nur im Medium der Sprache“ reden.21 Entsprechend ermöglicht sie Rückschlüsse auf die drei „Eckpfeiler“ von Lacans „psychoanalytisch[er] Theorie“,22 denn deren Gegenstand und – um im architektonischen Bildbereich zu bleiben – Traglast, das Unbewusste also, ist „selbst strukturiert wie eine Sprache“.23 Im strukturellen Nullsummenspiel von Sprache und Unbewusstem löst die Rhetorik die Gleichung zwischen beiden auf. Einerseits setzt sie „die Sprache als vorhandenes und ausgebildetes System voraus“, während sie andererseits „die Entstehung und die Bedingungen der Möglichkeit von Sprache beschreiben“ kann: Als „generierendes Prinzip“ der Sprache avanciert die Rhetorik gleichsam zu deren „analytisch[em] Instrument“.24 Roman Jakobson beschreibt dieses Prinzip, indem er mit Bezug auf „die beiden grundlegenden Operationen [...], die jedem verbalen Verhalten zugrundeliegen“,25 Metapher und Metonymie zu den beiden zentralen „Achsen der Sprache“ erklärt.26 Möglich ist das, weil die „Anwendung der Sprache“ in der „Auswahl von bestimmten linguis-

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Stichwort ‚Imaginär, das Imaginäre‘, in: Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse [1967], übersetzt von Emma Moersch, 2 Bd.e, Bd. I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 3 1977, S. 228f, hier: S. 228. Vgl. Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt a.M.: Fischer 1900, S. 19. Widmer: Subversion des Begehrens, S. 25. Stingelin, Martin: „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München: Fink 1996 (zugl. Basel, Univ., Diss., 1995), S. 41. Widmer: Subversion des Begehrens, S. 23. Widmer: Subversion des Begehrens, S. 23. Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 40. Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 38. Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel: Stroemfeld/Nexus 1995, S. 12. Jakobson, Roman: „Linguistik und Poetik“ [1960], übersetzt von Tarcisius Schelbert, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 83–121, hier: S. 94. Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 36.

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tischen Größen und deren Kombination zu linguistischen Einheiten von höherem Komplikationsgrad“ besteht.27 Die beiden Operationen beruhen ihrerseits auf zwei Prinzipien, die das „Verhältnis zweier Wörter“ im sprachlichen Gebrauch kennzeichnen:28 Die Operation der Auswahl erfolgt nach dem Prinzip der Ähnlichkeit und entspricht der rhetorischen Trope der Metapher; die Operation der Kombination erfolgt nach dem Prinzip der ‚nachbarschaftlichen Angrenzung‘ bzw. Kontiguität und entspricht der rhetorischen Trope der Metonymie. Lacan begreift Jakobsons operationale Achsen – nachgerade katastrophisch – als ‚Abhänge‘, „auf denen das Signifizierte unter dem Signifikanten ins Gleiten gerät“.29 Diese – metaphorische – Bewegung veranschaulicht, dass „dem Signifikanten die Vorherrschaft über das Signifikat zukommt, da die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens demjenigen entspricht, was es von allen anderen sprachlichen Zeichen unterscheidet, und das ist vorab sein Lautbild“.30 Folglich besteht ‚Sinnhaftigkeit‘ „unter den sich durch ihr Lautbild unterscheidenden sprachlichen Zeichen“, wenn „ein Wort durch ein anderes ersetzt wird“ oder wenn „zwei Wörter miteinander verknüpft werden“.31 Aufgrund der von Lacan unterstellten Korrespondenz zwischen Sprache und Unbewusstem lassen sich die drei „Register“ des Symbolischen, Imaginären und Realen auf die Struktur des sprachlichen Zeichens beziehen.32 Dieses besteht gemäß der Zeichentheorie nach Ferdinand de Saussure aus der Verbindung von Signifikant und Signifikat. Als Lautbild bzw. Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens erscheint der Signifikant dem Register des Symbolischen zugehörig, das Signifikat als Vorstellungsbild bzw. Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens hingegen dem des Imaginären.33 Im Medium Schrift materialisiert sich das sprachliche Zeichen durch Wörter, deren Reales dort insofern getilgt ist, als es nur im Medium der (gesprochenen) Sprache fassbar würde und zwar durch die spezifische „Stimmphysiologie“ bei der Artikulation.34 Dies veranschaulicht, inwiefern das Reale „das Unmögliche“, den „Nicht-Sinn“ meint,35 weil es jener „Rest“ ist, der sich bei der Zuordnung von Signifikant und Signifikat „dem Sinn ent-

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Jakobson, Roman: „Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen der aphatischen Störungen“ [1956], übersetzt von Georg Friedrich Meier, in: ders.: Aufsätze zu Linguistik und Poetik, hrsg. von Wolfgang Raible, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1978, S. 117–141, hier: S. 119, Hervorhebungen N.J. Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 37. Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 36. Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 35. Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 36. Widmer: Subversion des Begehrens, S. 19. Vgl. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 297. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 297. Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 52.

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zieht“.36 Es ist letztlich diese „fehlende vollständige Zuordnung“, die „das Gleiten der Signifikate unter den Signifikanten“ möglich macht.37 Durch dieses Gleiten behauptet der Signifikant also seinen „Vorrang gegenüber dem Signifikat“,38 genauso wie das Medium Schrift bis 1900 seinen Vorrang als „uralt[es] Speichermonopol“ unanfechtbar macht,39 indem Dichtung um 1800 zur „Universalkunst“ avanciert:40 Sie operiert im Register des Symbolischen, bespielt dadurch das Register des Imaginären und kann das im und mit dem Medium Schrift nicht fassbare Reale getrost außen vor lassen. Um 1800 ist das Symbolische also materialter eine genuine Funktion des Mediums Schrift, das Imaginäre eine von diesem Medium integrierte und das Reale eine gewissermaßen ignorierte. Durch die Entwicklung neuer Aufzeichnungsund Übertragungs- sowie (Wieder-)Erzeugungsmedien kommt es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Ausdifferenzierung der drei medialen Funktionen, weil sich durch technische Innovationen wie Grammophon, Film und Typewriter bislang „unaufschreibbare Datenflüsse erstmals fixieren“ lassen.41 Diese mediale Konkurrenz bewirkt um 1900 einen Umbruch des Aufschreibesystems, das nicht länger unter dem Monopol des Mediums Schrift steht. Bedingt durch medientechnische Entwicklungen wie Schnellpresse (seit 1812) und Rotationsdruck (seit 1843), die in der Publizistik zu einem Boom von Unterhaltungszeitschriften führen und in der Öldruckindustrie zur massenhaften Fertigung von kitschig zu nennenden Dekorationsbildern für die bürgerlichen Wohnräume, ließe sich das 19. Jahrhundert als zweite Phase im Zeitalter einer beschleunigten medientechnischen Reproduzierbarkeit begreifen. Die erste Phase dieses Zeitalters setzt bereits in der Frühen Neuzeit mit den Entwicklungen und Verfeinerungen der manuellen Vervielfältigungstechniken des Hochdrucks sowie des darauffolgenden Tiefdrucks ein und reicht bis zur Entwicklung des Bleidrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg.42 Im Unterschied zur ersten Phase führen die medientechnischen Innovationen der zweiten insbesondere im 19. Jahrhundert dazu, dass die vormals dominant manuellen Vervielfältigungsverfahren zunehmend mechanisiert werden. 36 37 38

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Widmer: Subversion des Begehrens, S. 47. Widmer: Subversion des Begehrens, S. 47. Lacan, Jacques: „Das Seminar über E. A. Poes ‚Der entwendete Brief‘“ [1966], in: Das Werk von Jacques Lacan, hrsg. von Jacques-Alain Miller, in deutscher Sprache hrsg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Bd. I: Schriften I, ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas, Weinheim/Berlin: Quadriga 41999, S. 7–41, hier: S. 28. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 33. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 301. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 26. Zur Geschichte der Druckverfahren vgl. insbesondere Gerhardt, Claus W.: Geschichte der Druckverfahren, Teil 1: Prägedruck und Siebdruck, Stuttgart: Hiersemann 1974; sowie: ders.: Geschichte der Druckverfahren, Teil 2: Der Buchdruck, Stuttgart: Hiersemann 1975.

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Das hier entworfene Konzept einer zweiten Phase beschleunigter medientechnischer Reproduzierbarkeit würde insofern also eine Position zwischen den Aufschreibesystemen um 1800 und um 1900 markieren, als es den Übergang vom alphabetischen „Schriftmonopol“43 des – insbesondere literarischen – Leitmediums ‚Buch‘ hin zu den „technischen Urmedien“44 Phonograph, Kino und Schreibmaschine vermittelt.45 Zu deren wesentlichen Vorläufern zählen die nachgerade idyllisch zu nennenden „periodischen Printmedien“ des 19. Jahrhunderts, wie etwa Die Gartenlaube, Daheim oder Über Land und Meer, weil sie laut Michaela Günter durch „ihre Abkoppelung vom Buch“ nicht nur eine „neue mediale Erscheinungsweise der Literatur“ im 19. Jahrhundert darstellen, sondern gleichsam den „Gesamtcharakter der Literatur als Kunst grundlegend verändert“ haben.46 Dies geschieht dadurch, dass sie einen maßgeblichen Beitrag zur Popularisierung von Literatur (wie auch bildender Kunst) in Form ihrer Verbreitung und Zugänglichmachung bewirken.47 In der medientechnischen Gemengelage um 1900, die aus den Entwicklungen in der zweiten Phase beschleunigter Reproduzierbarkeit resultiert, wandelt sich Dichtung zu Literatur, die ihrerseits den Contrepart zur „Unterhaltungsindustrie mit ihren neuen Sinnlichkeiten“ der sog. Trivialliteratur bis hin zum Hollywood-Blockbuster bildet,48 denn „[g]egenüber Medien, die Imaginäres und Reales [...] bedienen [...], bleibt der Literatur nur noch eine Option“.49 Nach Kittler besteht sie entweder im Kitsch oder aber in den „Riten des Symbolischen“, wie sie die sog. „E-Literatur“ nach deren „Verzicht auf imaginäre Effekte und reale Einschreibungen“ als eine „Wortkunst von Worte43 44 45

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Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 15. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 79. Die Bezeichnung ‚beschleunigte medientechnische Reproduzierbarkeit‘ ist in Anlehnung an Ottmar Ettes Konzept der verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung geprägt (vgl. Ette, Ottmar: Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbrück 2002). Dass auch die Globalisierung und ihre Beschleunigung medientechnisch gedacht werden kann, zeigt Bruno Latour mit der Actor Network Theory und dem Konzept der immutable mobiles (vgl. Latour, Bruno: „Die Logistik der immutable moblies“, in: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hgg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: transcript 2009, S. 111–144). Günter, Michaela: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2008, S. 15. Ein solcher Ansatz, Literatur und Kunst nicht nur aus der Perspektive ihrer medialen Fixierung(sbedingungen) zu denken, sondern von (den Modalitäten) ihrer medientechnischen Reproduzierbarkeit sowie deren Auswirkungen auf das so (Re-)Produzeierte auszugehen, ist ein genuin medienästhetischer. Dabei impliziert ‚Reproduzierbarkeit‘ drei Aspekte: erstens einen ‚technischen‘ in Bezug auf die Reproduktionsverfahren, zweitens einen ‚medialen‘ in Bezug auf die literarischen und bildkünstlerischen Erscheinungsformen und drittens einen ‚ästhetischen‘ in Bezug auf die spezifischen Darstellungsweisen, die ein konkretes Artefakt kennzeichnen. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 26. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 301.

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machern“ auszeichnet.50 Anders als um 1800 wird Dichtung um 1900 nun tatsächlich in medientechnischer Realität zum Film und zur Schallplatte: „Während also die Plattenrillen Körper und ihre scheußlichen Abfälle speichern, übernehmen die Spielfilme all das Phantastische oder Imaginäre, das ein Jahrhundert lang Dichtung geheißen hat.“51 Diese Entwicklung zeitigt drei Konsequenzen, die die drei medialen Funktionen betreffen: „Das Symbolische“, folgert Kittler, „umfaßt fortan die Sprachzeichen in ihrer Materialität und Technizität“, weshalb um 1900 auf das Zeitalter der Manuskripte das der Typoskripte folgt.52 Anschaulich wird dies insbesondere in den „Konstellationen“ einer Wortkunst, die sich „im keuschesten l’art pour l’art“ genauso zeigt wie in den „provokantesten Spielen der Avantgarde“.53 Das Imaginäre, das dem kinematographischen Medium zufällt, „entsteht als Spiegelphantom eines Körpers“, den der Film zwar als „zerstückelten oder [...] zerhackten“ zeigt, ihm aber insofern eine „illusionäre Kontinuität“ verleiht, als das Bewegtbild des Films eine Kongruenz „von Spiegel- und Filmbewegung“ suggeriert.54 Der Film kann also einen Anspruch auf visuelle Evidenz erheben, den die Dichtung nur mit erheblichem Aufwand erreicht – das ‚bildnerische Schreiben‘, wie es die Reiseberichte Alexander von Warsbergs kennzeichnet, wäre ein nachgerade idyllisches Verfahren dazu (vgl. Kapitel 2.2.2). Das Reale, resümiert Kittler schließlich, bildet dagegen weiterhin „jenen Rest oder Abfall, den weder der Spiegel des Imaginären noch auch die Gitter des Symbolischen einfangen können“.55 Es besteht weiterhin in Form eines störenden ‚Rauschens‘, das als Begleitumstand allen medientechnischen Aufzeichnens den „Gegenbegriff zur Information“ bildet.56 Gleichsam avanciert es zum Zeichen einer Materialität von Aufzeichnungen und ihrer Medien.57 Wie gezeigt wird, kann ein solches Rauschen in der idyllischen poiesis hingegen höchst produktiv wirken (vgl. Kapitel 2.2.1). 50 51 52 53 54 55 56 57

Kittler: Aufschreibesysteme, S. 301. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 298. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 27. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 301. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 28. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 28. Kittler, Friedrich A.: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve 2011, S. 48. Fassbar wird das Reale etwa als nachträglich rekonstruierbarer Begleitumstand im konkreten Schreibakt, wenn ihn ein/e Schreibende/r explizit thematisiert oder erhaltene Manuskripte evident machen. So sind beispielsweise Adelbert von Chamissos handschriftlich verfasste Dokumente von seiner Weltreise mit der Rurik-Expedition in den Jahren 1815 bis 1818 voller Spuren des Realen, die ihrerseits auf die Widrigkeiten des Schreibens an Bord des russischen Schiffs verweisen (vgl. Jablonski, Nils: „Vorausschauende Rückblicke und erinnernde Ankündigungen. Adelbert von Chamissos epistolarisches und notierendes Aufzeichnen auf der Weltreise 1815– 1818“, in: Drews, Julian/Ette, Ottmar/Kraft, Tobias/Schneider-Kempf, Barbara/Weber, Jutta (Hgg.): Forster – Humboldt – Chamisso. Weltreisende im Spannungsfeld der Kulturen, Göttingen: V&R unipress 2017, S. 171–182). Die Druckfassung der auf Basis von Chamissos Notizen,

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Wenn sich die Untersuchung der textuellen Gewebe literarischer, filmischer und televisiver Artefakte im Folgenden also auf die von Kittler aus Lacans methodischer Unterscheidung abgeleiteten medialen Funktionsbestimmungen stützt, veranschaulicht dies, dass nicht nur das Unbewusste, sondern auch die idyllische poiesis eine „Topologie des Borromäischen Knotens“ aufweist.58 Folglich geht es also nicht darum, diesen Knoten zu lösen, sondern die durch ihn angezeigte strukturelle Verflechtung von Symbolischem, Imaginärem und Realem in den zu untersuchenden Texten als eine gleichsam poetisch-künstlerische wie poietisch-künstliche und damit genuine Eigenschaft idyllischer poiesis nachzuzeichnen. In derselben Weise verflochten sind daher auch die drei Dimensionen der Idylle, was insbesondere die Zusätze in den Kapitelüberschriften deutlich machen. Bei diesen programmatischen ‚Motti‘ handelt es sich jeweils um Verse eines Gedichts, das seinerseits den Wandel von (Idyllen-)Dichtung zu Literatur evident macht: Ernst Jandls „der verzwickte vogel“ ist der vorletzte Text in einer Sammlung von Gedichten, die der Gattungstradition der Idylle vermeintlich zuwiderlaufen, weil die im Titel des Bandes genannte ‚Idylle‘ scheinbar als bloße Klammer fungiert, um gänzlich Heterogenes zu versammeln:59 Widmungs- und Gelegenheitsgedichte, Oratorien genauso wie ein ‚episches Fragment‘, Sonette, mithin eine „göttliche komödie“ und zahlreiche materialästhetische Konstellationen. Jandls Gedichtsammlung entleert den Signifikanten ‚Idylle‘ insofern, als die hier von ihm angezeigte lyrische Vielfalt den traditionellen Gattungsbegriff nachgerade ins Gleiten geraten lässt. Allerdings fungiert die metapoetische Bezeichnung nicht als schlichter ‚umbrella term‘ – dass das Umschlagbild des Buches den Scherenschnitt eines aufgespannten Regenschirms zeigt, sei nur in Parenthese erwähnt –, vielmehr avanciert ‚Idylle‘ hier zur automatisierten Folie einer Verfremdung der literarhistorischen Tradition: Auf der Ebene des Inhalts haben Jandls idyllen jedenfalls nichts mit einer Darstellung „des einfachen, beschaulichen Lebens in (ländlicher) Abgeschiedenheit“ zu tun.60 Im Gegenteil: Die einzelnen Texte stellen – frei nach Friedrich Nietzsche – ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ dar. So heißt es etwa im Gedicht „duft“ mit Bezug auf Johann Wolfgang

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Aufzeichnungen und Briefen später verfassten Reisebeschreibungen tilgt derartige Spuren ihrer Genealogie: Durch die symbolische Vermittlung im Medium der (gedruckten) Schrift ist das Reale dort dem Register des Imaginären überantwortet, weil Chamisso in der Reise um die Welt nur noch von den Begleitumständen seines ambulanten Aufzeichnens ‚sprechen‘ bzw. ‚schreiben‘ kann, während die originalen Manuskripte sie durch materiale Spuren in Form von Tintenklecksen und Wasserflecken, herausgerissenen Seiten und losen Blättern sowie Streichungen und Korrekturen eindrücklich veranschaulichen. Widmer: Subversion des Begehrens, S. 19. Jandl, Ernst: „der verzwickte vogel“, in: ders.: idyllen. gedichte, Hamburg/Zürich: Luchterhand 1992, S. 193f. Stichwort ‚Idyll‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen [1989], hrsg. von Wolfgang Pfeifer, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 82005, S. 571.

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Goethes Faust zu Anfang: „es stinkt der mensch, solang er lebt / von arschloch, mund und genital“.61 Solche intertextuellen ‚Seitenhiebe‘ verdeutlichen, dass der spezifische Jandl’sche Humor erstens der literarischen Tradition gilt und zweitens als Kritik an dieser im drastischen Register sprachlicher Derbheit formuliert ist – beispielsweise wenn Jandl in „kurzficker“ den akademischen Werdegang des ‚Protagonisten‘ seines Texts vom „dr. kurzficker“ zum „univ. prof. dr. dr. dr. h.c. kurzficker“ in vier Versen buchstäblich ‚verdichtet‘.62 Ähnlich verhält es sich mit den Reflexionen darüber, „was porno nicht / halten kann, wenn auch verspricht“.63 Die humorig-derbe Kritik der idyllen richtet sich also insbesondere gegen das durch den Titel des Bandes aufgerufene landläufige Verständnis der Gattung und ihrer mithin ‚kitschig‘ wirkenden Tendenzen zur Harmonisierung und Intimisierung. Diese zeichnen sich bereits im 18. Jahrhundert als dominante Verfahren idyllischer poiesis ab und werden dann vor allem im 19. Jahrhundert zunehmend evidenter, als in den Idyllen das „bürgerliche Intérieur als Sinn- und Ordnungsmodell an die Stelle der Natur“ tritt.64 Gerade durch eine aufkommende „neue realistische Inszenierung der Idylle“ in diversen literarischen Formen, insbesondere aber der des Romans, erhält sie um 1800 somit endgültig die „Gestalt [eines] vielfach funktionalisiert[en] Topo[s]“.65 Auf ihn rekurriert Jandl – das jedoch nicht nur auf der Objektebene, denn 61

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Jandl, Ernst: „duft“ [V. 1f], in: ders.: idyllen. gedichte, Hamburg/Zürich: Luchterhand 1992, S. 118. Bei Goethe stellt Gott im Gespräch mit Mephistopheles fest: „Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.“ (Goethe, Johann Wolfgang: Faust [V. 317], in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. III: Dramatische Dichtungen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 7–364, hier: S. 18.) Jandl, Ernst: „kurzficker“ [V. 1; 4], in: ders.: idyllen. gedichte, Hamburg/Zürich: Luchterhand 1992, S. 175. Jandl, Ernst: „geh doch nicht ins porno-kino“ [V. 12f], in: ders.: idyllen. gedichte, Hamburg/Zürich: Luchterhand 1992, S. 89. Steiner, Uwe C.: „Die Sachen als Streitsache der Idylle“, in: Berndt, Frauke/Fulda, Daniel (Hgg.): Die Sachen der Aufklärung, Hamburg: Meiner 2012, S. 253–264, hier: S. 259. Die sich ab 1800 vollziehende „genrespezifische Transformation vom Arkadischen ins Bürgerliche“, durch die die Idylle buchstäblich Einzug „ins Wohnambiente“ hält (ebd., S. 261), parodiert Jandl in seinen idyllen mit dem Gedicht „möbel“. Mit zeitkritischem Blick auf das in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren zunehmende gesellschaftliche Bewusstsein für die durch das HI-Virus ausgelöste Autoimmunerkrankung AIDS reflektiert der Text über die ‚Freuden‘ der Selbstbefriedigung. So heißt es dort entsprechend: „die onanistinnen, so froh und heiter / möbeln an ihren kitzlern weiter; / die onanisten ebenfalls / an schwanz, hoden, arschloch. / es kommt noch in mode / (es war immer in mode) / aber jetzt ganz besonders / als reaktion auf / AIDS“ (Jandl, Ernst: „möbel“ [V. 1–9], in: ders.: idyllen. gedichte, Hamburg/Zürich: Luchterhand 1992, S. 126). Böschenstein, Renate: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. III: Harmonie–Material [2001], Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 119–138, hier: S. 131.

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als eine Sammlung umfänglich kleiner und ansonsten nicht weiter zusammenhängender Texte verweisen seine Idyllen auf die – hier einleitend dargelegte – rhetorische Tradition des materialen Topos als ‚kleinem (Kunst-)Stück‘. Das Gedicht „der verzwickte vogel“, aus dem die drei Kapitelmotti stammen, besteht aus insgesamt 16 Versen, von denen der kürzeste zwei und der längste sechs Wörter umfasst. In Ergänzung zu fehlenden lautlichen Äquivalenzen an den Versenden sind die einzelnen Verse durch auf sie in der nächsten Druckzeile jeweils folgende Geviertstriche voneinander abgetrennt. Hierdurch wird das Druckbild des Textes insofern semantisiert, als eine solch formale Isolation mit der inhaltlichen der einzelnen Verse korrespondiert: Sie erscheinen wie Sentenz-Fragmente. Diese von der spezifischen Visualität des Textes gezeitigte Wirkung lässt sich metapoetisch lesen, weil eine Exponierung des einzelnen Verses diesen als die gattungskonstitutive Sinneinheit der Lyrik herausstellt. Trotzdem weist das Gedicht semantische Bezüge zwischen den Versen auf, die als Isotopien des Körperlichen wie des Sexuellen auf zentrale Themen aller Texte des Bandes verweisen. Insofern stellt „der verzwickte vogel“ durch seine ‚Versreihung‘ und als vorletztes Gedicht der Sammlung schlaglichtartig eine resümierende Summa des Vorangehenden dar. Symbolisch weist darauf auch die Anzahl der Verse hin, denn die 16 steht für „Ganzheit und Vollkommenheit“.66 Was also auf inhaltlicher Ebene durch einen nicht kohärent zusammenhängenden Text in Bezug auf die an ein ‚klassisches‘ Gedicht zu stellende Erwartung unterlaufen wird, ist somit der formalen Konstruktion des lyrischen Artefakts überantwortet. Durch die so zunächst geleistete Betonung der für mimetische Vorstellungen von Literatur kennzeichnenden Dichotomie von Form und Inhalt wird letztlich das insbesondere für die Materialästhetik so konstitutive wie produktive Wechselverhältnis zwischen beiden herausgestellt. Den Titel des Gedichts bildet eine aus drei Elementen bestehende Nominalphrase, die auf der Objektebene gelesen wenig ‚Sinn‘ ergibt, weil das Adjektiv ‚verzwickt‘ auf das Abstraktum einer schwierigen Angelegenheit bzw. Aufgabe verweist und deshalb nicht zu dem durch das Substantiv ‚Vogel‘ bezeichneten Konkretum eines gefiederten, eierlegenden Tieres passt.67 Weniger ‚verzwickt‘ erscheint der Titel auf der Metaebene, denn dieser ist angesichts seiner Struktur und des Phrasenkopfes in Analogie zu den verschiedenen Redensarten gebildet, bei denen ein „Mensch mit einem Vogel verglichen“ und „durch verschiedene Adj[ektive] noch näher charakterisiert wird“.68 So werden seit dem 16. Jahrhundert „ausgelassen[e] oder liederlich[e] Menschen“ als ‚lockerer‘ 66

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Stichwort ‚Sechs‘, in: Becker, Udo: Lexikon der Symbole [1998], Freiburg/Basel/Wien: Herder 7 2006, S. 269. Vgl. Stichwort ‚verzwickt‘, in: Wahrig. Deutsches Wörterbuch [1966], hrsg. von Renate Wahrig-Burfeind, Gütersloh/München: Wissen Media Verlag 82006, S. 1596. Stichwort ‚Vogel‘, in: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten [1991], hrsg. von Lutz Röhrich, Bd. V: Spieß – Zylinder, Freiburg/Basel/Wien: Herder 21995, S. 1679–1682, hier: S. 1681.

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bzw. ‚loser Vogel‘ bezeichnet und Menschen mit „sonderbaren Ansichten und merkwürdigen Gewohnheiten“ als ‚seltener Vogel‘ im Sinn von ‚rar‘, ‚komisch‘ und ‚seltsam‘.69 Gemäß dieser generativen Matrix der Redensart ist im Gedichttitel das Adjektiv ‚verzwickt‘ gesetzt, das seinerseits synonym zu dem als Adjektiv gebrauchten Partizip des Verbs ‚verwickeln‘ steht und wie dieses einerseits „verwirren, ineinanderschlingen“ bedeutet und andererseits, dass jemand in eine Angelegenheit hineingezogen wird.70 Im Kontext experimenteller Lyrik ist diese Angelegenheit die der „Sinnkonstitution“, weshalb ‚der verzwickte Vogel‘ des Gedichttitels auf „das im Sprachmaterial enthaltene semantische Potential“ verweist,71 denn – wie es in Jandls zweitem idyllen-Sonett heißt – „hier muß nicht erst noch sinn hinein / mit sinn die sprache ist beladen“.72 Die sich im Prozess des Schreibens wie Lesens konstituierende ‚Sinnhaftigkeit‘ (und das gilt für mimetische wie materialästhetische Literatur gleichermaßen) ist „eine Wirkung der sprachlichen Materialität“ eines Textes.73 Sie lässt sich deshalb nicht (allein) auf eine sog. ‚Autorintention‘ zurückführen, die – ganz im Sinn des „abendländischen Logozentrismus“ – als metaphysisches Phantasma ihrerseits eine „Sekundarisierung des materiellen Aspekts“ der Sprache für eine hermeneutische Textauslegung sowohl impliziert als auch operationalisiert.74 Aus diesem Grund ließe sich Jandls ‚verzwickter Vogel‘ als metapoetische Metapher lesen, die auf das schreibende Autor-Subjekt und zugleich die Leserin und den Leser verweist, denn alle am Prozess der literarischen Sinnkonstitution beteiligten Instanzen sind als subiectum dem Sprachmaterial mit seinen eigengesetzlich-sinnerzeugenden ‚Verwicklungen‘ unterworfen. Diese durch den ‚verzwickten Vogel‘ im Titel des Gedichts angezeigten Verwicklungen werden im ersten Vers, der hier das Motto für das Kapitel zur Dimension der Medialität der Idylle bildet, insofern für nichtig erklärt, als es dort in Form der von einem lyrischen Wir im Tempus der vollendeten Gegenwart getätigten Aussage heißt: „wir haben den vogel abgewickelt“. Das Partizip von ‚abwickeln‘ bedeutet „von der Rolle wickeln, abrollen“ und im übertragenen Sinn „erledigen“ und „auflösen“.75 Die im ersten Vers mit Bezug auf den Titel des Gedichts angezeigte ‚Entzwickung‘ des Vogels löst auf der Metaebene hingegen etwas ganz anderes auf: Das Verfahren, nach dem im Titel wie 69 70 71

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Stichwort ‚Vogel‘, in: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten V, S. 1681. Stichwort ‚verwickeln‘, in: Wahrig, S. 1594. Kühn, Renate: Der poetische Imperativ. Interpretationen experimenteller Lyrik [1997], Bielfeld: Aisthesis 2 1998, S. 9. Jandl, Ernst: „zweites sonett“ [V. 2f], in: ders.: idyllen. gedichte, S. 12. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 14, Hervorhebung i.O. Kühn, Renate: „schrei bär und Text-Hund. Zu Ernst Jandls Gedicht ‚fortschreitende räude‘“, in: Vogt, Michael (Hg.): »stehn JANDL gross hinten drauf«. Interpretationen zu Texten Ernst Jandls, Bielefeld: Aisthesis 2000, S. 35–63, hier: S. 38f. Stichwort ‚abwickeln‘, in: Wahrig, S. 110.

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auch ersten Vers redensartliche Wendungen systemreferenziell aufgegriffen und verfremdet werden. Die ‚Abwicklung‘ des Vogels impliziert nämlich, dass dieser buchstäblich ‚ins Garn‘ bzw. ‚auf den Leim‘ gegangen sein muss, denn auf diese Weise werden bei der Vogelstellerei „die Vögel mit Netzen oder Leimgurten gefangen“.76 Diese kulturtechnische Jagdpraxis bildet die Folie für die Redensart ‚Der Vogel ist ins Garn (auf den Leim) gegangen‘, mit der im übertragenen Sinn die Überlistung einer Person beschrieben wird.77 Die Verfremdung dieser Redensart erfolgt im ersten Vers des Gedichts dadurch, dass sie zunächst wörtlich genommen wird – ein elementares Verfahren der experimentellen Lyrik, um das abstrakte Material ‚Sprache‘ zu konkretisieren. Einmal auf die buchstäbliche Bedeutung zurückgeführt, lässt sich der redensartlich ‚ins Garn gegangene Vogel‘ tatsächlich ‚abwickeln‘, sodass die ‚abstrakte‘ Bedeutung der Redensart in der ‚Aussage‘ des Verses auf der Objektebene aufgelöst ist. Auf der Metaebene hingegen stellt diese Aussage die produktive Transformation ihrer redensartlichen Folie dar und heraus, weil sie weiterhin als sprachmateriale Grundlage des systemreferenziellen Bezugs erkennbar bleibt. Genau dieses Verfahren einer ‚auflösenden Erhaltung‘ thematisiert der Vers, wenn es heißt: „wir haben den vogel abgewickelt“. Das lyrische Wir verweist in diesem Zusammenhang also auf den verzwickten Titel-Vogel zurück, weil dieser als metapoetische Metapher für alle an der Sinnkonstitution beteiligten Instanzen lesbar ist. Das ‚wir‘ zeigt deshalb einen Pluralis Modestiae an, durch dessen Verwendung ein „Sprecher eigentlich sich selbst oder die angeredete Person meint“, um so „eine Art Einverständnis zwischen sich und dem Leser bzw. Zuhörer als gegeben“ vorauszusetzen.78 Dieses Einverständnis ist hier ein nachgerade kollaboratives, denn schließlich erfolgt die leserinnenund leserseitige ‚Mitarbeit‘ an der Sinnkonstitution im Nachvollzug der Verfahren, die den ersten Vers und genauso den gesamten Text generieren und strukturieren. Die ‚auflösende Erhaltung‘, die der erste Vers in Jandls Gedicht als Verfahren gewissermaßen performativ reflektiert, kennzeichnet auch die Medienmetonymie (in) der Idylle. So wird in dem durch „wir haben den vogel abgewickelt“ betitelten Kapitel zur idyllischen Dimension der Medialität beispielsweise anhand von Salomon Gessners Text „Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesanges“ gezeigt, wie eine mediale imitatio des Vogelgesangs die Musik der Idylle mitsamt ihren musikalischen Medien konstituiert. Dergestalt ist im Nachahmenden das Nachgeahmte gewissermaßen ‚aufgelöst erhalten‘. Die ästhetische Wirkung einer solch imitierend erfundenen idyllischen Musik geht aber weit über die ‚natürliche‘ ihrer gefiederten Vorbilder hinaus, sodass diese von der Medialität der Idylle gewissermaßen ‚abgewickelt‘ werden.

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Stichwort ‚Vogel‘, in: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten V, S. 1681. Vgl. Stichwort ‚Vogel‘, in: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten V, S. 1681. Stichwort ‚Pluralis Modestiae‘, in: Lexikon der Sprachwissenschaft [1983], hrsg. von Hadumod Bußmann, Stuttgart: Kröner 32002, S. 521.

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Das Kapitel, in dem die Serialität als eine der drei konstitutiven Dimensionen der Idylle behandelt wird, ist mit dem dritten Vers aus Jandls Gedicht betitelt: „ferien sind serien“. Der Vers benennt nicht nur die beiden Gegenstände, die anhand der televisiven Idyllen in der ZDF-Produktion DAS TRAUMSCHIFF untersucht werden, er zeigt durch die in der Verwendung des Hilfsverbs ‚sein‘ implizierte Gleichsetzung von Ferien und Serien zugleich den ‚inneren Zusammenhang‘ zwischen beiden an: Als „Urlaub“ stellen Ferien eine „mehrtägige od[er] mehrwöchige Arbeitspause“ dar, die deshalb als idyllisch begriffen werden kann, weil sie erstens zeitlich begrenzt und zweitens außeralltäglich ist.79 Dies lässt sich auf die Etymologie des Begriffs ‚Ferien‘ zurückführen, der mit Bezug auf lat. ‚feriae‘ ursprünglich Feiertage meint, an denen nicht gearbeitet wird.80 Eine solche Arbeitspause lässt sich somit als „Folge einander ähnlicher Geschehnisse“ begreifen,81 weil Ferien letztlich eine Serie „geschäftsfrei[er] Tage“ darstellen.82 Das hier im unmittelbaren Anschluss die Dimension der Poetizität behandelnde Kapitel zitiert mit seinem titelgebenden Motto schließlich den sechzehnten Vers aus Jandls Gedicht: „grüner raum der unzucht“. Die Idylle lässt sich metaphorisch als ein ‚grüner Raum‘ denken, denn erstens ist Grün nicht nur die „Farbe des Pflanzenreichs“ und „des sprossenden Frühlings“, sondern steht nach christlicher Vorstellung – sowie ganz im Sinn der durch Vergil begründeten und auf die antiken Vorstellungen des Goldenen Zeitalters zurückgehenden Arkadien-Tradition (vgl. Kapitel 3) – auch für die „Hoffnung auf eine Rückkehr der Menschheit ins Paradies“.83 Zweitens zeichnet die Idylle eine räumliche Disposition aus, die gerade im idyllischen locus amoenus konkret anschaulich wird. Als materialer Topos stellt sie zudem insofern einen metaphorischen Raum dar, als dieser ein „nicht genau begrenztes [...] Gebiet“ meint, das als ein „sich dreidimensional ausdehnender Platz“ die Möglichkeit „zu freier Bewegung oder zum Aufenthalt“ bietet.84 Genau diese ‚räumlichen Merkmale‘ kennzeichnen den Gebrauch des materialen Topos der Idylle, wenn er in den unterschiedlichsten literarischen Formen wie auch medialen Formationen produktiv wird. Angesichts der jahreszeitlichen Symbolik der Farbe Grün und der konstitutiven Dreidimensionalität des Raums verweist der ‚grüne raum‘ im sechszehnten Vers aus Jandls Gedicht zudem auf die raumzeitliche Struktur der Idylle, die – wie nachfolgend beispielsweise an Gessner Idylle „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“ gezeigt wird – auf eine Suspension der beiden physikalischen Kategorien des Raumes und der Zeit zielt (vgl. Kapitel 4). Inwieweit die Idylle sich darüber hinaus als ‚unzüchtig‘ erweist, zeigt die Untersuchung der idyllischen poiesis in Bezug auf die Darstellung sexueller Handlungen durch eine symbolisch vermittelte Erotik. 79 80 81 82 83 84

Stichwort ‚Ferien‘, in: Wahrig, S. 510. Vgl. Stichwort ‚Ferien‘, in: Wahrig, S. 510. Stichwort ‚Serie‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1283. Stichwort ‚Ferien‘, in: Wahrig, S. 510. Stichwort ‚Grün‘, in: Lexikon der Symbole, S. 107f. Stichwort ‚Raum‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1090f.

Poetizität („grüner raum der unzucht“)

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 Poetizität („grüner raum der unzucht“) Die Dimension der Poetizität betrifft die spezifische ‚Gemachtheit‘ der Idylle als „künstlich[em] Arrangement“,85 die einerseits in der Ekphrasis und andererseits in der „lieblich[en] Szenerie“ des locus amoenus besonders anschaulich wird.86 Dieser erweist sich als ein stereotypes Versatzstück,87 das auf die für die idyllische poiesis konstitutive Konvergenz von poetischer Kunsthaftigkeit und poietischer Künstlichkeit verweist (die im Folgenden durch die begriffliche Fusion der beiden Signifikanten ‚poetisch‘ und ‚poietisch‘ veranschaulicht wird): Seit der Antike wird der locus amoenus in Malerei und Dichtung durch das Verfahren der Topothesie ‚gemacht‘, also durch das ‚Hinstellen‘ des amönen Ortes mit Hilfe topischer und das heißt in diesem Fall stereotyp wiederholter landschaftlicher Elemente.88 Dieses Verfahren begründet letztlich den „Kunstcharakter“ der Idylle,89 die als „eine Kunst-Welt“ erscheint und das „im doppelten Sinn dieses Wortes“, denn sie ist „ein künstlich geschaffenes Arrangement“ für die künstlerische „Selbstdarstellung und Selbstreflexion ästhetischen Tuns“.90 Die besondere poetische Kunsthaftigkeit sowie poietische Künstlichkeit der Idylle resultiert dabei aus dem ihr inhärenten Moment einer katastrophischen Gefährdung: Um – gleichsam dem Ovid’schen Motto folgend – die eigene Künstlichkeit zu kaschieren, wird ein besonderer Aufwand an Kunsthaftigkeit notwendig. Aus diesem Grund ist die Idylle also ein po(i)etisches Arrangement, dessen Artifizialität sich gewissermaßen beständig selbst herausfordert. Dies soll nachfolgend anhand von Texten aus der Hochzeit der modernen Idyllendichtung sowie kontrastierend dazu aus dem 21. Jahrhundert durch mikroanalytische close readings untersucht werden. Bei den drei Texten handelt es sich um Salomon Gessners „Lycas, oder die Erfindung der

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Klussmann, Paul Gerhard: „Ursprung und dichterisches Modell der Idylle“, in: Wedewer, Rolf/Jensen, Jens Christian (Hgg.): Die Idylle. Eine Bildform im Wandel. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit. 1750–1930, Köln: DuMont 1986, S. 33–65, hier: S. 40. Schneider, Helmut J.: „Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie“, in: ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorie im 18. Jahrhundert, Tübingen: Narr 1988, S. 7–74, hier: S. 19. Vgl. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 19. Vgl. Büttner, Nils: Gemalte Gärten. Bilder aus zwei Jahrtausenden, München: Hirmer 2008, S. 26. Diekkämper, Birgit: Formtraditionen und Motive der Idylle in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bemerkungen zu Erzähltexten von Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck und Adalbert Stifter, Frankfurt a.M.: Lang 1990 (zugl. Bochum, Univ., Diss., 1989), S. 11. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 19, Hervorhebung N.J.

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Gärten“,91 Johann Heinrich Voß’ 1795 erstmals veröffentlichte Luise92 und Marlene Streeruwitz’ Erzählung „Andrea S.“ aus dem Band Das wird mir alles nicht passieren... Wie bleibe ich FeministIn.,93 die in Bezug auf die Gender-Poetik idyllischer Verwicklungen intertextuell ‚gegen‘ Goethes Die Leiden des jungen Werther gelesen wird. Anders als die beiden erstgenannten Texte ist Streeruwitz’ Erzählung explizit nicht als Idylle ausgewiesen. Allerdings ermöglicht die Perspektivierung aller drei Texte in Bezug auf die Dimension der Poetizität eine vergleichende Analyse: Das tertium dafür ist die latent vorhandene katastrophische Gefährdung, die sich auf der Objektebene als Gegenstand sowie auf der Metaebene als ‚po(i)etische Produktivkraft‘ der drei Texte nachweisen lässt und zwar durch ihre je spezifische Darstellung von Erotik bei Gessner, Wollust bei Voß und der idyllischen Konstruktion von Gender bei Streeruwitz wie auch Goethe. Erotik und Wollust und die damit verbundenen Gender-Konzepte sind zentrale Sujets in allen ‚Höhen-‘ und ‚Tieflagen‘ von Literatur und Kunst: In ihrer Untersuchung der trivialen Romane Eugenie Marlitts weist Erika Dingeldey darauf hin, dass eine gewisse „erotische Spannung“ zum „Grundton“ dieser ‚Vorform‘ kitschig zu nennender Unterhaltungsliteratur gehöre,94 und in Bezug auf die Idylle stellt Helmut J. Schneider dezidiert heraus, dass das Thema ‚Erotik‘ dort gerade durch den locus amoenus vermittelt sei, denn „[d]em 18. Jahrhundert war die arkadische Welt in erster Linie als eine erotische Reizkulisse gegenwärtig“.95 Die explizite Darstellung von Erotik und Wollust um ihrer selbst willen hätte allerdings gerade im 18. und 19. Jahrhundert gegen das Aptum verstoßen. Dingeldey stellt jedoch heraus, dass es gemäß den vorherrschenden ästhetischen „‚Strategien der Sinnlichkeit‘ im bürgerlichen Jahrhundert“ vollkommen legitim gewesen sei, „das eigentlich Unzulässige unter dem Gesichtspunkt einer ‚Doktrin der Distanz‘ öffentlich zu machen“, sodass es „nicht nur erlaubt, sondern gefällige Mode [war], den nackten menschlichen Körper in den Bildern historischer, exotischer oder mythologischer Gestalten darzustellen“96. Was Dingeldey in Bezug auf die bildende Kunst – vor allem die Historienmalerei – beschreibt, trifft auch auf die Literatur zu: Sowohl Gessners Idyllen als auch Voß’ Luise sind durch eine in der idyllischen Naturszenerie symbolisch vermittelte Erotik gekennzeichnet. Dergestalt ‚naturalisiert‘ stellt der sich so ergebende ‚erotische Subtext‘ dieser Idyllen die in ihnen jeweils präsentierte harmonisch ‚heile Welt‘ in ein nachgerade 91

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Gessner, Salomon: „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“ [1756], in: ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 39f. Voß, Johann Heinrich: Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen [1795/1823], in: ders.: Ausgewählte Werke, hrsg. von Adrian Hummel, Göttingen: Wallstein 1996, S. 36–93. Streeruwitz, Marlene: „Andrea S.“, in: dies.: Das wird mir alles nicht passieren... Wie bleibe ich FeministIn., Frankfurt a.M.: Fischer 2010, S. 5–18. Dingeldey, Erika: Luftzug hinter Samtportieren. Versuch über E. Marlitt, Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 163. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 24. Dingeldey: Luftzug hinter Samtportieren, S. 176.

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zwiespältiges und die Idylle gefährdendes Licht. Komplementär dazu zeigt Streeruwitz’ Erzählung, wie durch die Reflexion über Gender und (un)erotische Körperlichkeit gerade die Abwesenheit von Erotik und Wollust nicht bloß als katastrophische Gefährdung, sondern als Ursache des Scheiterns der Idylle anzusehen ist – und zwar sowohl in Bezug auf das in der Erzählung dargestellte Unterfangen zur Einrichtung einer idyllischen Dachterrasse als auch in Bezug auf das Scheitern der Beziehung der Protagonistin, die sich als erfolglose Gärtnerin versucht. Insgesamt erweisen sich die po(i)etisch ‚gemachten‘ Idyllen bei Gessner, Voß und Streeruwitz zudem als hochgradig intertextuelle Konstrukte aus symbolischen Anspielungen und Bezugnahmen, die die ‚Gemachtheit‘ dieser literarischen Texte und somit zugleich die für die Idylle konstitutive Dimension der Poetizität veranschaulichen.

2.1.1Idylle-Machen: Fingierte poiesis in Gessners Gärten „[E]in paar sehr schöne Stücke“ nennt Christoph Martin Wieland in seinem Brief vom 6. Dezember 1754 an Johann Heinrich Schinz die ihm von Salomon Gessner – jenem „Liebling der Natur und der feinsten Grazie“ – höchst selbst vorgelesenen Texte.97 Diese veröffentlicht der Zürcher Dichter zwei Jahre später unter dem Titel Idyllen, denen er 1762 noch Weitere Idyllen und Gedichte und 1772 dann schließlich Neue Idyllen folgen lässt. Mit diesen Texten hat Gessner nicht nur entschieden zur „Wiederbelebung der Kleinform“ Idylle im 18. Jahrhundert beigetragen,98 sie stellen zugleich das Paradigma der neuzeitlich-modernen Idylle dar, das sich nach Renate Böschenstein insbesondere durch „die dominante Rolle der Natur“ und das Moment der „Subjektivierung“ auszeichnet.99 Des Weiteren besteht „die große Leistung“ des schweizerischen Schriftstellers nach Helmut J. Schneider gerade darin, dass er in seinen Idyllen „die empfindsame Naturund Landschaftsschilderung der Aufklärung mit der überlieferten Gattung“ verbindet.100 Gessner gibt der Idylle also eine ‚neue‘ Gestalt und prägt so maßgeblich das ‚moderne‘ Naturkonzept der Aufklärung, das insbesondere in dem von Jean-Jacques Rousseau entworfenen Konzept des Naturzustands zur Grundlage der Theorien der Idylle um 1800 avanciert (vgl. Kapitel 3.1). Besonders anschaulich werden Gessners literarische Leistungen in der Darstellung des locus amoenus, wie ihn beispielsweise seine Idylle „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“ präsentiert: Der Garten wird als prototypischer Ort der Liebesbegegnung und der 97

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Ausgewählte Briefe von C. M. Wieland an verschiedene Freunde in den Jahren 1751. bis 1810. geschrieben und nach der Zeitfolge geordnet, 4 Bd.e [1815–1816], hrsg. von Heinrich Gessner, Bd. I, Zürich: Geßnersche Buchhandlung 1815, S. 150, Hervorhebung N.J. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 125. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 124, Hervorhebung i.O. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 53.

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Liebeserinnerung beschrieben. Gleichsam wird die Erfindung eines solch idyllischen Gartens im Text performiert, indem die poietische Gestaltung der Landschaft den Gegenstand der poetischen Darstellung bildet. Damit weist diese Idylle „auf den Zusammenhang mit der sich in jenen Jahrzehnten entfaltenden Gartenarchitektur hin“, zumal sich gerade seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der „Übergang vom französischen zum englischen Garten“ abzuzeichnen beginnt.101 Diesem Wandel liegt ein „neues Naturkonzept“ zugrunde, dessen „Fundierung im Subjekt“ nicht länger den Anspruch auf die Repräsentation von Macht in den Vordergrund stellt,102 wie es gerade für das streng geometrische und mathematisch durchdachte Konzept des französischen ‚Repräsentationsgartens‘ kennzeichnend ist, sondern das auch für die weitere literarhistorische Entwicklung zentral werdende Moment der subjektiv emotionalisierten Landschaftserfahrung hervorhebt.103 Dass Gessners „antikisierenden Idyllen“ jedoch nicht bloß eine „identifikatorisch[e] Naturwahrnehmung“ eigen ist, in der sich, wie Böschenstein behauptet, „die Vorstellung eines naturhaft angeborenen moralischen Sinnes“ zeige,104 widerlegt nun gerade der erotische Subtext in der Lycas-Idylle. Der Doppeltitel dieser Idylle besteht aus einem Eigennamen und einer durch die Konjunktion ‚oder‘ angeschlossenen inhaltlichen Präzisierung: „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“. Der Name ‚Lycas‘ erinnert lautlich an die Bezeichnungen mythologischer Figuren, ist aber in keiner entsprechenden Darstellung verzeichnet.105 Es findet sich lediglich der phonetisch ähnliche Name ‚Lykeios‘, der seinerseits ein Epitheton Apollos ist.106 Die Titelstruktur legt Lycas als den Erfinder der Gärten nahe, denn das Substantiv ‚Erfindung‘ suggeriert, dass es sich bei seinem Garten um den ersten überhaupt handelt. Der Umstand, dass nicht vom ‚Garten‘ im Singular, sondern im Plural von den ‚Gärten‘ die Rede ist, unterstreicht den paradigmatischen Anspruch, den Lycas’ Erfindung erhebt: ‚Erfindung‘ bedeutet nämlich ‚Befund‘ oder ‚Entdeckung‘.107

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Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 124. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 124. Zur Inszenierung der europäischen Garten- und Landschaftskultur vgl. Gamper, Michael: „Die Natur ist republikanisch“. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (zugl. Zürich, Univ., Diss., 1997). Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 125. Vgl. Krauss, Heinrich/Uthemann, Eva: Was Bilder erzählen. Die klassischen Geschichten aus Antike und Christentum, München: C.H. Beck 52003, sowie: Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung [1955], übersetzt von Hugo Seinfeld, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 16 2005. Stichwort ‚Lykeios‘, in: Holzapfel, Otto: Lexikon der abendländischen Mythologie, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1993, S. 259. Vgl.: Stichwort ‚Erfindung‘, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bd.e in 32 Teilbänden, Bd. III, Leipzig 1854–1961, Sp. 800–801.

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Mit Bezug auf den Garten lässt sich der Titel außerdem metapoetisch lesen, weil er auf die Topothesie verweist, also das Verfahren, „durch tradierte [Zeichen, N.J.] eine Örtlichkeit ‚hinzustellen‘“.108 Der Ausdruck geht auf das griechische Verb ‚τοποθεσία‘ (‚topothesia‘) zurück, das ‚hinstellen‘ bedeutet und bereits in der Antike die Verfahrensweise zur Darstellung einer Landschaftsszenerie als fiktivem oder realem Schauplatz bezeichnet.109 Dabei speist sich die Topothesie aus einem überschaubaren Repertoire an landschaftlichen Versatzstücken,110 das nach Ernst Robert Curtius den Topos der epischen Ideallandschaft bildet.111 Der Titel erzeugt also die Erwartung, dass nachfolgend die ‚Erfindung der Gärten‘ dargestellt wird, sodass dieses ‚inventive‘ Idylle-Machen als poetische Tätigkeit den Gegenstand des Textes auf der Objektebene bildet. Der Umstand, dass es sich bei der im Titel in Aussicht gestellten Erfindung um diejenige der Gärten handelt, impliziert darüber hinaus die Erwartung, dass die literarische Landschaftsdarstellung durch das Verfahren der Topothesie im Text reflektiert wird, sodass das IdylleMachen zugleich als poietische Tätigkeit zum Gegenstand der Idylle auf der Metaebene avanciert. Mit Blick auf den gesamten Text veranschaulicht sich die für die Poetizität der Idylle charakteristische und besonders im locus amoenus evident werdende Konvergenz von Kunsthaftigkeit und Künstlichkeit auch in der inhaltlichen Struktur des Textes, denn Lycas gestaltet seinen idyllischen Garten nach dem fünfgliedrigen Schema der Rhetorik: Gemäß der Inventio findet Lycas zunächst das zu Sagende und zwar in Form jenes Ortes, den er zu seinem Garten umformen will. Dies soll mit Hilfe verschiedener landschaftlicher Versatzstücke erfolgen, deren Aufzählung eine Anordnung im Sinn der rhetorischen Dispositio impliziert. Wenn Lycas dann über die von ihm geplanten Umformungen im Bereich der Flora spricht und darüber, wie er mit verschiedenen gesammelten bzw. geraubten Pflanzen seinen Garten ‚ausschmücken‘ will, entspricht dies im rhetorischen Schema der Elocutio. Die Actio erfolgt mit der ‚Beseelung‘ des erfundenen Gartens durch die Fauna, indem Lycas verschiedene Tiere zur musi(kali)schen Besiedlung des lieblichen Ortes auffordert. Als fünfter und letzter Schritt folgt bei Lycas rhetorisch strukturiertem Idylle-Machen schließlich die Memoria, also die Einprägung der Rede, und zwar dadurch, dass er sich die Wirkung seines Gartens auf andere Hirten vorstellt, den diese als Denkmal für Lycas’ Begegnung mit seiner geliebten Chloe wahrnehmen sollen. Die formale Struktur des Textes ist viergliedrig, was das Druckbild durch entsprechende Absätze kenntlich macht. Der erste von ihnen entspricht dabei der ersten von zwei Erzählebenen: Bevor Lycas mit seiner rhetorischen Gärtnerei beginnt, leitet 108 109

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Büttner: Gemalte Gärten, S. 26. Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948], Bern/München: Francke 71969, S. 206f. Vgl. Büttner, Nils: Geschichte der Landschaftsmalerei, München: Hirmer 2006, S. 37. Vgl. Curtius: Europäische Literatur, S. 207f.

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zunächst ein personaler Ich-Erzähler die Idylle durch ihre Widmung an „Daphne“ (39,19) ein.112 Diese ist eine in anderen Idyllen Gessners wie „An Daphnen“, „Damon. Daphne“ oder „Als ich Daphnen auf dem Spaziergang erwartet“ vielfach besungene Gestalt. Ihren ersten ‚Auftritt‘ hat sie aber bereits im antiken Mythos. Ovids Metamorphosen berichten vom traurigen Schicksal der Nymphe: Daphne ist die Jugendliebe Apollos, denn „Phoebus empfand für Daphne, das Kind des Penëus, die erste / Liebe“.113 Doch diese erweist sich als eine nachgerade tragische, weil sie „vom Zorn des Cupido gefügt“ ist,114 der Apollo die Treffsicherheit seines Liebespfeile verschießenden Bogens demonstrieren will: Mit dem goldenen Pfeil, der die Liebe entzündet, schießt der kleine Liebesgott auf den Musagetes, und mit dem stumpfen Pfeil, der die Liebe verscheucht, auf Daphne, die deshalb vor Apollo flieht. Um sich des ungewollten Verehrers zu entledigen, wendet sich Daphne schließlich an Zeus, der sie – nomen est omen – in einen Lorbeerbaum verwandelt:115 Das griechische Wort ‚Daphne‘ bedeutet ‚Lorbeer‘ und dieser ist nun gleichsam eine metapoetisch bedeutsame Pflanze, weil Apollo den Verlust seiner Geliebten durch die Aneignung der Zweige des Lorbeerbaums als seine göttlichen Attribute kompensiert. Als Zeichen des poeta laureatus kommt diesem deshalb eine „poetolog[ische] Bedeutung“ zu.116 Durch den in der anfänglichen Widmung implizierten mythologischen Bezug erweist sich der Beginn des Textes als hochgradig selbstreflexiv, was mit der durch den Titel eröffneten metapoetischen Lesart korrespondiert. Der erste Absatz der Idylle besteht aus drei Sätzen, wobei der erste und längste wiederum aus drei Teilsätzen gebildet ist, die jeweils durch ein Semikolon voneinander getrennt sind. Das einleitende ‚itzt‘, das anaphorisch wiederholt und im ersten Abschnitt der Idylle noch ein drittes Mal genannt wird (vgl. 39,13; 39,14; 39,18), verortet die Erzählsituation temporal in der unmittelbaren Gegenwart. Durch die vorherrschende Jahreszeit des Winters (vgl. 39,12) ist diese Gegenwart zwar als unangenehm konnotiert, wird zugleich jedoch mit den positiven Erinnerungen des erzählenden Ich kontrastiert. Dessen „Einbildungskraft“ hält ihm einen „Schatz von Bildern“ (39,15) bereit, der auf positiv konnotierte Jahreszeiten wie den „blumichten Lentz“ (39,16), den „schwülen Sommer“ (39,16f) und den „bunten Herbst“ (39,17) verweist. Derart durch die eigene Imagination motiviert, will das erzählende Ich die Erinnerungsbilder für seine poetische Tätigkeit nutzen, indem es „die schönsten“ (39,18) auswählt, um sie für die „schöne 112

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Zitate aus der kritischen Gessner-Ausgabe von E. Theodor Voss werden nachfolgend unter Angabe der Seite gefolgt von der Zeilennummer in Klammern direkt im Text belegt. Ovid: Metamorphosen [I,452f], übersetzt und hrsg. von Hermann Breitenbach, Stuttgart: Reclam 1971, S. 40. Ovid: Metamorphosen [I,453], S. 40. Vgl. Stichwort ‚Daphne‘, in: Holzapfel: Lexikon der abendländischen Mythologie, S. 98. Freidl, Andreas/Harzer, Friedmann: Stichwort ‚Lorbeer/Lorbeerkranz‘, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole [2008], hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob, Stuttgart/Weimar: Metzler 2 2010, S. 250f, hier: S. 250.

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Daphne! in Gedichte […] [zu] ordnen“ (39,18f, Hervorhebung N.J.). Das so formulierte Vorhaben veranschaulicht letztlich die von Friedrich Kittler beschriebene Wirkung der Dichtung im „Imaginären von Leserseelen“;117 zugleich verweist der po(i)etische Gebrauch von Erinnerungsbildern auf die für die materiale Topik konstitutiven Topologeme. In diesem metapoetischen Sinn handelt es sich bei den Erinnerungen des erzählenden Ich aus den als angenehm empfundenen Jahreszeiten um ein wahres Florilegium topischer Versatzstücke. Das veranschaulicht vor allem die nachfolgende Gleichsetzung des Dichtens mit dem Blumenflechten. Dazu wird die po(i)etische Tätigkeit mit derjenigen des Hirten verglichen: So wie das erzählende Ich für Daphne nur die schönen Erinnerungen benutzt, „wählt ein Hirt seinem Mädchen zum Kranz nur die schönsten Blumen“ (39,19f). Das Substantiv ‚Kranz‘ aus dem Hirten-Vergleich wird hier zur poetologischen Metapher, weil die mit dem nachfolgenden Gedicht zu ‚bekränzende‘ Daphne schließlich der personifizierte Lorbeer ist, dessen zu einem Kranz geflochtene Zweige das Symbol Apollos und damit des Dichters darstellen. Die metapoetische Lesart, die der Titel bereits als Möglichkeit eröffnet und die sich in der Widmung des Textes an Daphne fortsetzt, lässt sich also auch im ersten Abschnitt der Idylle weiterführen. Das auf der Objektebene vorgestellte poetische Vorhaben erweist sich daher auf der Metaebene als Reflexion über seine poietischen Implikationen. In Korrespondenz mit der einleitenden Widmung der Idylle bildet eine finale Anrede an Daphne den Abschluss dieses ersten Textteils. Mit der Ansprache der Adressatin des Gedichts ist die für antike Epen charakteristische Evokation der Musen verbunden: „O daß es dir gefalle! wenn meine Muse dir singt, wie in der Jugend der Tage, ein Hirt der Gärten Kunst erfand.“ (39,20ff) Mit der anthropomorphisierenden Metapher ‚Jugend der Tage‘ wird auf das in unbestimmter Vergangenheit liegende Goldene Zeitalter der arkadischen Idylle im Sinn Vergils angespielt und zugleich das Nachfolgende als eine Art mythische Schöpfungserzählung vorgestellt. Diese behandelt jedoch nicht die existenziellen ‚großen‘ Themen des Mythos, sondern – gemäß der ‚Kleinform‘ Idylle – die Erfindung „der Gärten Kunst“.118 Dies impliziert eine doppelte Gleichsetzung, die die bereits herausgestellte Konvergenz idyllischer Kunsthaftigkeit und Künstlichkeit nochmals evident macht: Da der Hirte zuvor mit dem Dichter gleichgesetzt wurde, erscheint nun die ‚Gartenkunst‘ als eine wahrhaft po(i)etische. Dies fügt sich in die metapoetische Lesart des Texts, der damit als idyllische Allegorie auf die Dichtkunst lesbar erscheint.

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Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 19. Hier veranschaulicht sich das Verhältnis zwischen Idylle und Mythos: Indem die Idylle – und das gilt für die antike wie die neuzeitlich-moderne – Versatzstücke mythischer Erzählungen, beispielswiese in Form von Figuren oder Örtlichkeiten, intertextuell aufgreift, schreibt das literarische Stück die große Erzählung des Mythos weiter. Die Idylle erweist sich in diesem Sinn als ‚Mythos im Kleinen‘.

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Die drei folgenden Abschnitte bilden die zweite Erzählebene der Idylle. Hier wird die zuvor vom erzählenden Ich angekündigte Geschichte von der Erfindung der Gärten durch den Hirten Lycas dargestellt, indem das erzählende Ich nun Lycas sprechen lässt: Dieser berichtet retrospektiv von seiner Begegnung mit der Hirtin Chloe und ihrem beiderseitigem Liebesgeständnis. Das erfolgt teilweise in wörtlicher Rede, die allerdings nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet ist. Dass Lycas hier das Wort erhält, ist doppelt bedeutsam, denn seine nachfolgende ‚Erfindung‘ der Gärten erweist sich als eine idyllische ‚Urszene‘. Somit tritt Lycas an die Stelle Apollos, der als erster bukolischer Hirte überhaupt gelten darf. Insofern erscheint es also konsequent, wenn Lycas als „der schöne Hirte“ (39,23, Hervorhebung N.J.) apostrophiert wird: Das Epitheton zeigt hier die Apollo-Nachfolge an, schließlich verkörpert der Gott der Dichtkunst in der Antike das „Idealbild männlicher Schönheit“.119 Auf die seit Vergil etablierte ‚apollinische Disposition‘, die Gessner hier als literarisches Paradigma aktualisiert, verweist vor dem Zürcher Dichter schon Friedrich von Hagedorn in seinem Gedicht „Apollo, ein Hirte“.120 Ihm folgt Johann Gottfried Herder, der Apollo in dem von ihm aus dem Französischen übersetzten Gedicht „Der Lorbeerkranz“ mit einer figura etymologica als „der Schönste aller Schönen“ umschreibt.121 Zugleich stellt Herder das musi(kali)sche Wirkungsfeld des Gottes als Idylle dar: „Auf der Au’ im grünen Tale / Weidet, singet er, beglückt: / Mehr als dort im Göttersaale, / Wird sein Herz, zum ersten male / Wird sein Herz zum Gott entzückt.“122 Auch Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe betiteln eine Xenie mit „Apollo der Hirt“ – nehmen diese jedoch nicht in ihren Musen-Almanach auf das Jahr 1797 auf.123 Lycas’ Einsatz in der idyllischen Erzählung beginnt also analog dem Anfang der Idylle mit einer Erinnerung und zwar derjenigen an seine Begegnung mit Chloe. Diese erinnert er nachgerade lebhaft, denn er gibt sie in Form der Wechselrede zwischen ihnen wieder. Lycas, der Hirte als Protagonist der Geschichte des erzählenden Ich, das die Idylle zu Anfang eröffnet, avanciert hier zur neuen erzählenden Instanz seiner eigenen Geschichte über das glückliche Treffen mit Chloe und ihrer gegenseitigen Liebesbekundung. Diese nimmt Lycas nun zum Anlass, um den Ort der Begegnung mit seiner Geliebten zu einem Garten und damit zu einem Ort der Erinnerung an ihre Liebe zu 119 120

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Stichwort ‚Apollon‘, in: Holzapfel: Lexikon der abendländischen Mythologie, S. 54. Hagedorn, Friedrich von: „Apollo, ein Hirte“, in: ders.: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig: Reclam 1880, S. 150ff. Herder, Johann Gottfried: „Der Lorbeerkranz“ [V. 8], in: ders.: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Martin Bollacher u.a., Bd. III: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen, hrsg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 273–276, hier: S. 274. Herder: „Der Lorbeerkranz“ [V. 16–20], Werke: III, S. 274. Vgl. Schiller, Friedrich: „Apollo der Hirt“, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. II/1: Gedichte 1799–1805, hrsg. von Norbert Oellers, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1983, S. 92.

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machen (vgl. 39,23–40,26): „Das ist der Ort“ (39,23), konstatiert Lycas und diese Aussage erweist sich als performative Geste, denn analog zur biblischen Genesis ‚stellt‘ er den Ort der Liebesbegegnung hierdurch sprachlich hin. Anders gesagt: Lycas spricht und beginnt damit sein po(i)etisches Idylle-Machen gemäß dem im ersten Buch Mose dargestellten göttlichen Schöpfungsparadigma (‚Und Gott sprach..., und es ward...‘). Lycas’ Erfindung des Gartens ist deshalb ein po(i)etisches Idylle-Machen, weil es dem Verfahren der Topothesie folgt. Angesichts der Entstehungszeit dieser frühen Idylle Gessners erweist sie sich daher als nachgerade vorweggenommene Antwort auf die von Georg Christoph Lichtenberg später gestellte Frage, ob denn „erfinden mehr als umformen“ sei:124 Lycas ‚erfindet‘ den Garten, indem er verschiedene idyllische Versatzstücke, die den Topos vom locus amoenus kennzeichnen, durch Neukombination umformt. Diese ‚inventiven Modifikationen‘ werden im zweiten Abschnitt der Idylle beschrieben, der sich seinerseits in vier Sequenzen gliedert. Darin werden die unterschiedlichen Arbeitsschritte bei der Umgestaltung der Landschaft zum Garten dargestellt: Zunächst beschreibt Lycas das vorhandene ‚Landschaftsinventar‘, das einen „Ulmebaum“ (39,24), „still[e] Büsche“ (39,31) und „einsame[] Quellen“ (39,31) umfasst. Als „Zeugen“ (39,32) seiner Liebesbegegnung und -beteuerung sind gerade die von Lycas genannten Quellen besonders ‚glaubwürdig‘, weil sie in der Antike als „weib[liche] Gottheit“125 personifiziert werden und damit symbolisch auf die im vorangehenden Abschnitt vom erzählenden Ich erwähnte Daphne verweisen, die ihrerseits die Tochter eines Flussgottes ist.126 Dass Lycas’ Begegnung mit Chloe ausgerechnet unter einer Ulme stattgefunden hat, könnte als schlechtes Omen gedeutet werden, da der Baum u. a. den Tod symbolisiert.127 In Verbindung mit weiteren Pflanzen gilt er hingegen als Symbol der Liebe.128 Lycas stellt diese ‚Verbindung‘ durch sein Idylle-Machen im Wortsinn ‚symbolisch‘ her und zwar durch sein po(i)etisches Idylle-Machen mit Hilfe landschaftlicher Versatzstücke: Das griechische ‚συμβαλλειν‘ (‚symballein‘) bezeichnet nämlich das Verfahren des Zusammenfügens.129 Zum weiteren Inventar der vorhandenen Landschaftselemente gehören Blumen (vgl. 39,33). Sie tränkt Lycas mit seinen „Thränen“ (39,33), wodurch der dichtende Gärtner und sein ‚Material‘ in eine spezifische symbolische Beziehung gesetzt werden, denn Blumen stehen nicht nur für die „weibl[iche] Schönheit“, sondern aufgrund ihres „empfangend[en] Verhältnis[ses] zur Sonne“ auch als „Sinnbild der passiven Hin124

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Lichtenberg, Georg Christoph: [E 314], in: ders.: Schriften und Briefe, hrsg. von Franz H. Mautner, Bd. I: Sudelbücher, Fragmente, Fabeln, Verse, Frankfurt a.M.: Insel 1983, S. 249. Stichwort ‚Quelle‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 235. Vgl. Stichwort ‚Daphne‘, in: Holzapfel: Lexikon der abendländischen Mythologie, S. 98. Vgl. Stichwort ‚Ulme‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 316. Vgl. Peil, Dietmar: Stichwort ‚Ulme‘, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole [2008], hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob, Stuttgart/Weimar: Metzler 22010, S. 458. Vgl. Stichwort ‚Symbol‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1400.

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gabe u[nd] Demut“.130 Diese Eigenschaften stehen in der abendländisch-patriarchalen Tradition mit dem Bereich des Weiblichen in Verbindung. Das fügt sich in die SymbolKonfiguration der Idylle, weil Lycas als Mann im Verhältnis zu den Blumen der Sonne zugeordnet wird, die ihrerseits sowohl das Symbol männlicher Kraft als auch das Symbol Apollos ist.131 Den von ihm mittels dieser inventarisierenden Beschreibung der Landschaftselemente ‚hingestellten‘ Platz seiner Liebesbegegnung mit Chloe widmet Lycas mittels einer performativen Geste schließlich der Liebe: „hier dieser Ort sey der Liebe geheiligt!“ (40,2) In der nächsten Sequenz des dritten Abschnitts werden die Veränderungen dargestellt, die Lycas mit seinen ‚erfindenden Umformungen‘ an der Landschaft vornehmen will. Den Grund für sein Vorhaben liefert ihm seine Liebe zu Chloe, die für Lycas ein „unaussprechliches Glük“ darstellt (40,1, Hervorhebung N.J.). Wenn Emotionen derart intensiv empfunden werden, dass sie nicht mehr verbalisierbar erscheinen, verweist das auf den sog. Unsagbarkeitstopos in der Literatur.132 Der stellt nichts anderes dar als die schlechterdings größte katastrophische Gefährdung der Idylle: Würde Lycas zu sprechen aufhören, wäre sein po(i)etisches Unterfangen beendet – noch bevor es angefangen hat, denn bislang hat er lediglich beschrieben, was er machen will (und letztlich wird er es bei dieser idyllischen Absichtserklärung belassen). Um eine solche Katastrophe abzuwenden, kompensiert Lycas seine postulierte Unfähigkeit zu sprechen durch einen produktiven ‚Handlungsdrang‘: Der Liebende will nämlich po(i)etisch in die Landschaft eingreifen, um seinem Glück Ausdruck zu verleihen. Der Topos der Unsagbarkeit ist dergestalt ein literarisches Paradoxon, denn allein die Tatsache, dass die Unmöglichkeit zu sprechen thematisiert wird, führt diese ‚sprechende Sprachlosigkeit‘ ad absurdum. Ähnlich paradox erscheint daher Lycas’ Vorhaben: Auch wenn er im Folgenden davon spricht, wie er die Landschaft verändern will, kommt er nicht über dieses Sprechen (darüber) hinaus. Seine durch das unaussprechliche Glück der Liebe bedingte ‚substituierende Gärtnerei‘ folgt daher einer logozentrischen Bevorzugung des Wortes, das gemäß dem Johannes-Evangelium buchstäblich „[i]m Anfang“ der göttlichen Schöpfung steht (Joh. 1,1).133 Durch sein Idylle-Machen inszeniert sich Lycas damit als ein – mit Heinrich Heine gesprochen – „Nachschöpfer“,134 der analog zu Gott die große Welt im Kleinen ‚macht‘.

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Stichwort ‚Blume‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 45, Hervorhebung N.J. Vgl. Stichwort ‚Sonne‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 275ff. Vgl. Curtius: Europäische Literatur, S. 168ff. Vgl. Lutherbibel Taschenausgabe mit Apokryphen, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1999. Allen nachfolgenden Bibelzitate und -verweise liegt diese Ausgabe zu Grunde. Heine, Heinrich: „Die romantische Schule“, in: ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hrsg. von Klaus Briegleb, Bd. V, München: Hanser 1976, S. 357–504, hier: S. 394.

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Mit aller Deutlichkeit zeigt sich hier erstmalig das Moment der katastrophischen Gefährdung der Idylle, die sich in Form von Lycas’ Vorhaben nämlich als bloße Imagination entpuppt. Allerdings erweist sich genau diese imaginierte poiesis als geradezu konstitutiv für den gesamten Text, der schließlich nichts anderes darstellt als eine – wie zu Beginn vom erzählenden Ich herausgestellt – aus und mit den Bildern der Einbildungskraft erzeugte fiktive Situation. Lycas’ gestalterisches Vorhaben erfolgt also im Bereich des Imaginären, obschon es angesichts seiner sprachlichen Darstellung durch das hier vermittelnd wirkende Symbolische der Sprache zugleich mit dem Realen verkoppelt ist, das sich doch stets „der Sprache wie der Vorstellungskraft“ entzieht.135 Es wird hier deshalb insbesondere in Form der körperlich wirksamen Begegnung von Lycas mit Chloe anschaulich – und genauso anschaulich vermittelt: Die „ersten Küsse“ (39,25) werden getauscht, als Lycas die Geliebte mit seinem „zitternden Arme [...] umschlangen“ hält (39,26), woraufhin diese an seine „bebende Brust“ sinkt (39,30). In der sprachlichen Darstellung sind es insbesondere die hier attributiv gebrauchten Adjektive, die dem körperlich Realen symbolisch eine imaginäre Evidenz verleihen. Auf den imaginären Charakter von Lycas’ po(i)etischem Vorhaben verweist auch der grammatische Modus, in dem er sein Idylle-Machen beschreibt: Alle von ihm geplanten Veränderungen der Landschaft werden mit Hilfe des Modalverbs ‚wollen‘ ausgedrückt, das sich in insgesamt acht Konstruktionen findet (vgl. 40,2f; 5f; 7; 7ff; 11; 12; 14). Lycas’ Idylle-Machen ist also imaginär und logozentrisch, denn seine Pläne sind de facto noch nicht in die Tat umgesetzt. Nach der Weihung des Ortes leitet Lycas mit einem emphatischen ‚ich will‘ die einzelnen Arbeitsschritte zur Umformung der Landschaft ein, die zunächst den Bereich der Flora betreffen. So will er „um die Ulme her Rosen-Stauden pflanzen“ (40,3). Die Rose ist ein überdeterminiertes Symbol: „In der Antike war [sie] der Aphrodite (Venus) geweiht“, also der Göttin der Liebe, und zwar als „Symbol der Liebe u[nd] Zuneigung“ sowie der „Fruchtbarkeit“.136 Auch die Ulme, die von Lycas zuvor als jene Pflanze hervorgehoben wurde, die den Ort der Begegnung mit Chloe anzeigt (vgl. 39,23), avanciert durch diejenigen Pflanzen, die Lycas ihr quasi zur ‚Veredelung‘ hinzufügen will, zu einem – buchstäblichen – Symbol: In Verbindung mit Weinreben steht die Ulme nämlich für die Liebe.137 Zwar will Lycas keinen Wein, sondern die „schlanke Waldwinde“ (40,3f) am Stamm der Ulme sich „hoch hinauf schlingen“ (40,4) lassen, erreicht damit aber letztlich eine den Weinreben ähnliche Kombination.138 Indem der Ulmenstamm darüber 135 136 137 138

Stingelin: Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption, S. 41. Stichwort ‚Rose‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 243. Vgl. Stichwort ‚Ulme‘, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 458. Der Naturführer Was blüht denn da? verzeichnet zwar keine Waldwinde, sehr wohl aber die Waldrebe, die ihrerseits ein Kletterstrauch ist (vgl. Kosch, Alois: Was blüht denn da?, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung 1961, S. 260.).

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hinaus „mit den weissen Purpur-gestreiften Blumen“ (40,5) geschmückt werden soll, verweist die so erzeugte Farbigkeit auf die zuvor bereits durch die Kombination von Ulme und Winde symbolisierte Liebe: Die Gegenüberstellung der Farben Rot und Weiß korrespondiert nämlich mit derjenigen von Mann (Rot) und Frau (Weiß).139 Dieses kolorierte Bedeutungsgeflecht wird dadurch möglich, dass die Farbe Purpur weitgehend an der Symbolik der Farbe Rot partizipiert,140 die in der Antike die Farbe des feuerroten Brautschleiers ist und deshalb als ein „sinnbildl[icher] Hinweis auf Liebe u[nd] Fruchtbarkeit“ gilt.141 Passendere Blüten- bzw. Blumenfarben kann Lycas also nicht wählen, wenn er durch die Bepflanzung des Gartens an die Begegnung mit seiner Geliebten erinnern will. Schließlich fasst er sein Vorhaben durch eine Bekundung zusammen, die durch den sprachlichen Modus nochmals den imaginären Charakter seiner idyllischen poiesis betont: „ich will hierher den ganzen Frühling sammeln“ (40,5f). Dieser steht totum pro parte für alle anderen Blumen, die Lycas noch pflanzen möchte – eine rhetorische Umkehrung der tradierten Bedeutung, der zufolge Blumen generell den Frühling symbolisieren.142 Der von Lycas geplante Garten ist kein natürlicher, sondern ein künstlicher. Dies wird besonders deutlich, wenn er davon spricht, „auf die Wiesen und auf die Hügel“ (40,8) zu gehen, um von dort für seinen Garten „die blumichten Pflanzen [zu] rauben“ (40,8f). Seine Vorgehensweise scheint also immer drastischer zu werden, weil sie sich vom auflesenden Sammeln zum intendierten Raub wandelt. Beide Begriffe, also sowohl das Verb ‚sammeln‘ als auch ‚rauben‘, fügen sich in die metapoetische Lesart des Textes, weil sie als Metaphern auf ein intertextuelles Arbeiten verweisen, das Friederike Mayröcker als ‚Rupfen in fremden Gärten‘ umschreibt.143 Die ‚Beute‘ seines Sammel- bzw. Raubzugs listet Lycas sodann auf: Neben der Rose will er Lilien, Violen, also Veilchen, Nelken, Glockenblumen und Scabiose pflanzen (vgl. 40,7ff). In seiner symbolischen Bedeutung wird mit diesem Florilegium die Isotopie der zuvor bereits angedeuteten erotisch-körperlichen Verbindung von Mann und Frau genauso fortgeführt wie die Möglichkeit einer metapoetischen Lesart des Textes: Das Veilchen ist nicht nur eine typische „Frühlingsblume“,144 sondern es bekränzt auch den Thyrsosstab, der als „Symbol der Fruchtbarkeit“ in der Antike bei den Festen verschiedener „Muttergottheiten“ als kultisches Instrument zum Einsatz kommt.145 Die Nelke, 139 140 141 142

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Vgl. Stichwort ‚Weiß‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 330f. Vgl. Stichwort ‚Purpur‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 233. Stichwort ‚Rot‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 245. Vgl. Stichwort ‚Jahreszeiten‘, in: Zerbst, Marion/Kafka, Werner: Seemanns Lexikon der Symbole. Zeichen. Schriften. Marken. Signale [2003], Leipzig: E. A. Seemann 22006, S. 252ff. Vgl. hierzu Arteel, Inge/Müller, Heidy Margrit (Hgg.): „Rupfen in fremden Gärten“. Intertextualität im Schreiben Friederike Mayröckers, Bielefeld: Aisthesis 2002. Stichwort ‚Veilchen‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 317. Stichwort ‚Thyrsosstab‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 303.

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die im Kontext der christlichen Passionssymbolik auch als Nagelblume bezeichnet wird, stellt seit dem Spätmittelalter gerade auf „Verlöbnisbildern“ ein „Liebes- u[nd] Fruchtbarkeitssymbol“ dar.146 Die Glockenblume verweist ihrem Namen nach schließlich auf die „Verbindung zw[ischen] Himmel und Erde“,147 wobei die Erde symbolisch als weiblich und der Himmel als männlich gilt.148 Bedeutsam ist auch die Farbigkeit dieser Blumen: Die Glockenblume ist explizit als blau bezeichnet (vgl. 40,10) und das prototypische Veilchen wird gemeinhin als blaublühend vorgestellt.149 Im Kontext der Idylle antizipiert diese Farbigkeit somit die Symbolik der metapoetischen ‚Blauen Blume‘ aus Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, die ihrerseits gemeinhin als das „Symbol der Dichtung“ gedeutet wird.150 Mit Blick auf Lycas’ Absicht, den Garten als Denkmal seiner Liebesbegegnung mit Chloe zu gestalten, erweist sich die Farbe Blau aber auch deshalb als bevorzugt, weil sie die Treue symbolisiert.151 Lycas fasst das Ergebnis seiner imaginären Pflanzungen zusammen, die „wie ein Hain voll süsser Gerüche“ (40,11) sein sollen. Seine Arbeit zeitigt also sowohl eine visuelle als auch olfaktorische Wirkung und überhaupt erst aus dieser Synästhesie entsteht der Eindruck eines Hains, genauer: der eines „Blumen-Hain[s]“ (40,12). Dieser verweist auf den für die Idylle konstitutiven locus amoenus, denn der Hain gilt als „Ort der Abgeschiedenheit vom Treiben der Welt“,152 dem als „magischer oder heiliger Ort“ außerdem eine kultische Bedeutung zukommt.153 Dies entspricht letztlich der Intention von Lycas’ Vorhaben, weil er den von ihm erfunden Garten als Ort seiner Begegnung mit Chloe der Liebe weihen möchte. Die synästhetische Wirkung des idyllischen Arrangements betont schließlich noch einmal deutlich die Artifizialität dieses locus amoenus und zeigt die Konvergenz von Kunsthaftigkeit und Künstlichkeit im po(i)etischen Idylle-Machen auf. Durch größere Eingriffe in der Landschaft plant Lycas schließlich die ‚Abschottung‘ seines amönen Hains. Dieser avanciert somit zu einem hortus conclusus, denn Lycas will „um den Blumen-Hain her die nahe Quelle leiten, daß er zur kleinen Insul wird“ (40,12f). Außerdem soll „rings umher“ ein „Zaun von Dornbüschen“ gepflanzt werden (40,13), damit „die Ziegen und die Schafe“ den Garten „nicht verwüsten“ (40,15). Damit wirkt Lycas nicht nur einer ‚räumlichen‘ Gefährdung seines Gartens entgegen – er sorgt auch für das zeitliche Überdauern dieses lieblichen Ortes. Dergestalt wird aus dem geplanten Garten tatsächlich ein Monument im Sinn eines Denkmals, das an die Liebesbegegnung mit Chloe erinnern kann. Lycas’ po(i)etische Tätigkeit geht also weit über 146 147 148 149 150 151 152 153

Stichwort ‚Nelke‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 204. Stichwort ‚Glocke‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 104. Vgl. Stichwort ‚Erde‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 73f. Vgl. Stichwort ‚Veilchen‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 317. Stichwort ‚Blaue Blume‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 45. Stichwort ‚Blau‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 44. Stichwort ‚Wald‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 323. Stichwort ‚Wald‘, in: Zerbst/Kafka: Seemanns Lexikon der Symbole, S. 424.

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bloße ‚Gärtnerei‘ hinaus, weil er die Flüchtigkeit seiner Begegnung mit der Geliebten in etwas Dauerhaftes überführen will. Als idyllischer Hirte und Dichter übt Lycas damit paradigmatisch jenen „wünscheswertesten Beruf“ aus (42), dessen Wirkung nach Goethe darin besteht, dass „Vergangenheit beständig“ und „[d]as Künftige voraus lebendig“ werde (28f). Für Lycas’ ‚Erfindung der Gärten‘ gilt demnach genau das, was Goethes Gedicht „Vermächtnis“ in dem Vers „Der Augenblick ist Ewigkeit“ (30) komprimiert zusammenfasst154 – und was André Heller später als „Augenblick von Ewigkeit“ nachgerade kitschig besingt.155 Nachdem die geplanten Umformungen im Bereich der Flora skizziert sind, wendet sich Lycas dem Bereich der Fauna zu und beschreibt die imaginäre Fertigstellung des Gartens, der – analog zur göttlichen poiesis – nun durch dorthin angesiedelte Tiere gewissermaßen ‚beseelt‘ werden soll. Dazu sind „Turteldauben“ (40,16), Sperlinge (vgl. 40,18) und Schmetterlinge (vgl. 40,19) flehend auf- und nahezu musengleich angerufen: „O dann / kommet, ihr, die ihr der Liebe lebt“ (40,15f). Die Konjunktion ‚dann‘ drückt das temporale Verhältnis zwischen Beendigung der formal-gestalterischen Arbeit am Garten und seiner dann folgenden ‚inhaltlichen Füllung‘ aus, denn die Tauben sollen seufzen und klagen (vgl. 40,16f) und die Sperlinge singen (vgl. 40,18). Symbolisch verweisen diese Vögel auf die Verbindung von Mann und Frau, zumal sie in Lycas’ elliptischer Anrufung als Tiere apostrophiert werden, die bezeichnender Weise von der Liebe leben: Die Taube ist in der Antike der Aphrodite heilig und ein (weißes) Taubenpaar – Lycas nennt explizit Turteltauben, also mindestens ein Paar – gilt gemeinhin als „populäres Liebes-Symbol“.156 Als der Gattung ‚Vogel‘ zugehörig, können die Tauben wie auch die Sperlinge als sinnbildliche „Mittler zw[ischen] Himmel und Erde“157 angesehen werden – jenen komplementären Bereichen also, die männlich bzw. weiblich konnotiert sind und damit auf die Verbindung von Lycas und Chloe verweisen, an die der imaginäre Garten erinnern soll. Als letzte Tiere nennt Lycas die Schmetterlinge, die ihrerseits in symbolischer Beziehung zum Liebesgott Eros stehen,158 wobei sich ihre Bedeutung als Liebes-Tiere von der Antike bis in die Gegenwart hinein erhalten hat. Das zeigt sich nicht zuletzt im Phraseologismus ‚Schmetterlinge im Bauch haben‘ als redensartliche Umschreibung für 154

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Goethe, Johann Wolfgang: „Vermächtnis“, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. I: Gedichte und Epen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 369f. Dass das Album Narrenlieder, auf dem André Hellers „Dieser Augenblick von Ewigkeit“ 1985 erstmalig veröffentlicht wurde, auch noch „Das Lied vom idealen Park“ für die musikalische Ewigkeit konserviert, erscheint zwar weder literatur- noch kulturgeschichtlich bedeutsam, erweist sich aber in jedem Fall als eindrücklicher Beleg für die – unfreiwillige – Komik intertextueller Bezüge. Stichwort ‚Taube‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 300. Stichwort ‚Vögel‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 320. Vgl. Stichwort ‚Schmetterling‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 260.

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den Zustand des Verliebtseins.159 Als letztem der aufgelisteten Fauna-Elemente kommt den Schmetterlingen sowie den im Bereich der schmückenden Blumen unmittelbar nach den Rosen genannten Lilien innerhalb des gesamten Texts eine rahmende Funktion zu, weil die Lilien zusammen mit den Faltern abschließend noch einmal erwähnt werden: „und ihr, ihr bunten Schmetterlinge“, fordert Lycas mit einer Nachdruck verleihenden Geminatio, „haschet euch im Blumen-Hain, und paart euch auf wankenden Lilien“ (40,19f). Die Paarung der Schmetterlinge kann nirgendwo anders als an diesem ‚blumigen Ort‘ erfolgen, denn nach Sigmund Freud gilt: „Blüten und Blumen bezeichnen“ in der Symbolik des Traums „das Genitale des Weibes oder spezieller die Jungfräulichkeit“, denn schließlich dürfe nicht vergessen werden, „daß die Bluten wirklich die Genitalien der Pflanzen sind“.160 Der explizite Aufruf zur Paarung scheint einerseits dem göttlichen Imperativ der Genesis und andererseits dem des Frühlings geschuldet – schließlich gilt der Frühling nicht nur als fruchtbare Jahreszeit, sondern wird bereits seit der Antike sexualsymbolisch gedeutet.161 Zugleich ließen sich die Schmetterlinge samt der an sie gerichteten Aufforderung als Substitution jenes Begehrens deuten, das Lycas hegt, aber nicht ausspricht bzw. aussprechen kann und lediglich buchstäblich ‚durch die Blume‘ (und den Schmetterling) andeutet – mithin gehen das Aptum und der Unsagbarkeitstopos eine geradezu po(i)etische Allianz ein. Argumentativ lässt sich diese Deutung durch die Symbolik der Lilie stützen, die eben nicht nur für „Reinheit, Unschuld u[nd] Jungfräulichkeit“ steht, sondern ursprünglich eine „phallisch[e] Bedeutung“ besitzt, „die man [ihr] wegen der auffälligen Form ihres Stempels“ beimisst.162 Das symbolisch in den Bereich der Natur ver- bzw. ausgelagerte Begehren lässt den erotischen Subtext der Idylle evident werden, der sich – rückblickend betrachtet – als Isotopie durch den gesamten Text zieht: Der lieblich gestaltete Garten erweist sich somit als ein imaginiertes Bild, das seinerseits als idyllische Kulisse genutzt 159

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Die Redensart ist eine wörtliche Entlehnung aus dem Englischen, die erstmalig in dem 1908 erschienenen Roman The House of Prayer von Florence Converse belegt ist (vgl. Krumm, Michael: Hummeln im Hintern oder das Herz in der Hose. Redewendungen von Kopf bis Fuß, Stuttgart: Pons 2011, S. 67). Dass dieser Phraseologismus inzwischen ein in der deutschen Sprache fest etablierter ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass er als automatisierte Folie für die Verfremdung in Herbert Grönemeyers 1984 auf dem Album 4630 Bochum veröffentlichtem Lied „Flugzeuge im Bauch“ fungiert, wo ‚Schmetterlinge‘ aufgrund der mit ‚Flugzeuge‘ gemeinsamen semantischen Merkmale ‚mit Flügeln ausgestattet‘ und ‚sich fliegend in der Luft bewegend‘ durch das Massentransportmittel ersetzt werden. Freud, Sigmund: „Die Symbolik des Traums“ [1916], in: ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1915–1917], Frankfurt a.M.: Fischer 1981, S. 120–136, hier: S. 127, Hervorhebungen i.O. Vgl. Stichwort ‚Frühling‘, in: Zerbst/Kafka: Seemanns Lexikon der Symbole, S. 252ff. Im ersten Buch Mose (9,7) heißt es: „Seid fruchtbar und mehret euch und reget euch auf Erden, dass euer viel darauf werden.“ Stichwort ‚Lilie‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 172.

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wird, um durch die sprichwörtliche Blume das zu sagen, was bei expliziter Formulierung gegen das Aptum verstoßen würde. Lycas’ Aufforderung an die bunten Falter, sich auf den Lilien zu paaren, veranschaulicht dies zudem deshalb, weil die Schmetterlinge auch ein redensartliches Sexualsymbol darstellen: Die Wendung ‚Wie ein Schmetterling von Blume zu Blume bzw. von Blüte zu Blüte flattern‘ ist ein Euphemismus für einen promisken Partnerwechsel.163 Im vierten und letzten Abschnitt des Texts wird nun die Wirkung von Lycas ‚erfundenem‘ Garten auf andere Hirten dargestellt. Der Anblick des locus amoenus soll diese zu der Frage veranlassen, „welcher Gottheit […] dieser Ort heilig“ (40,23f) sei: Venus oder Diana. Die beiden römischen Gottheiten stehen in engster Verbindung zur Natur, denn Diana, die der griechischen Artemis entspricht, ist nicht nur die Göttin der Jagd, sondern – semantisch zusammenhängend – auch die des Mondes und der Frauen, aber auch der Wälder.164 Venus, die in der römischen Antike die Aufgaben und Funktionen der griechischen Aphrodite übernimmt, gilt ihrerseits als Göttin der Liebe sowie „des Frühlings u[nd] der Gärten“.165 Die zwei ‚Hoheitsgebiete‘ der Venus (Frühling und Gärten) verweisen also auf die beiden Bereiche Liebe und Natur, die Lycas durch sein IdylleMachen miteinander verkoppelt: Sein Vorhaben, der Begegnung mit seiner geliebten Chloe ein florales Monument zu schaffen, erweist sich in diesem Sinn also letztlich als eine Apotheose des (körperlichen) Begehrens, das den Anlass seines Idylle-Machens bildet und dem der Hirte mit seinen po(i)etischen Umformungen ein Denkmal setzen will. Auch die metapoetische Lesart des Textes setzt sich im letzten Abschnitt fort, denn Artemis bzw. Diana ist die Zwillingsschwester jenes Gottes, der als der eigentliche ‚Erfinder‘ der Idylle gelten kann: Apollo.166 So imaginär wie der von Lycas ‚erfundene‘ Garten erscheint also auch dessen Wirkung als Denkmal, denn diese stellt Lycas sich ebenfalls bloß vor. Diese Dominanz des Imaginären in der Idylle bedingt deren katastrophische Gefährdung, denn der von Lycas vorgestellte Garten ist nichts anderes als eine künstliche Kulisse, die ihren Kunstcharakter durch einen besonders großen künstlerischen Aufwand kaschiert. Dabei soll das po(i)etische Arrangement zugleich vergessen machen, dass Lycas’ angebliche ‚Erfindung‘ lediglich eine imaginäre ist.167 Deshalb wird das idyllische 163

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Vgl. Stichwort ‚Schmetterling‘, in: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten [1991], hrsg. von Lutz Röhrich, Bd. IV: Oben – Spielverderber, Freiburg/Basel/Wien: Herder 21994, S. 1374. Vgl. Stichwort ‚Diana‘, in: Holzapfel: Lexikon der abendländischen Mythologie, S. 103. Stichwort ‚Venus‘, in: Holzapfel: Lexikon der abendländischen Mythologie, S. 429. Vgl. Krauss/Uthemann: Was Bilder erzählen, S. 21. Wesentlicher ‚offensiver‘ – und weniger ‚idyllisch‘ – gehen Johann Wolfgang Goethe und Max Frisch damit um, die das Fingieren mittels Konjunktivs betreiben, wenn es etwa im Anfang der ‚Wahlverwandtschaften‘ heißt „Eduard – so nennen wir einen Baron im besten Mannesalter“ (Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. VI: Romane und Novellen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998,

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Gedankenkonstrukt des Gartens als eine gleich zweifach imaginierte Fiktion inszeniert: Einerseits in Form der Geschichte über den Hirten Lycas, die das erzählende Ich für die eigene Geliebte (Daphne) ‚erfindet‘, und andererseits in Form von Lycas’ sprachlich suggerierter po(i)etischer Tätigkeit.168 Somit erscheint der idyllische Hirte als ein wahrhafter Dichter, dessen Fiktion – mit Goethe gesprochen – „[d]as Künftige voraus lebendig“ werden lässt. Das thetische Sprechen in ‚schönen Worten‘, mit denen Lycas – symbolisch vielsagend – beschreibt, wie er die Landschaft im Gedenken an seine Geliebte (Chloe) umgestalten will, ‚verschweigt‘ letztlich das Ausbleiben einer tatsächlichen Ausführung. Idylle-Machen, wie es Lycas vorführt, heißt also: Fiktionen fingieren – und die größte Katastrophe für die Idylle würde darin bestehen, dass der po(i)etische Betrug auffliegt, der der Fiktion der Idylle etymologisch eingeschrieben ist, denn das auf das lateinische ‚fingere‘ zurückgehende ‚Fingieren‘ bedeutet ‚erdichten‘, ‚vorgeben‘ bzw. ‚vortäuschen‘ im Sinn von ‚so tun, als ob‘.169 Aus diesem Grund fingiert die Idylle letztlich das Fingieren selbst, denn sie erscheint als Vorwand einer (metapoetischen) Inszenierung idyllischer poiesis. In diesem Sinn erweist sich Lycas’ Idylle-Machen als das, was Ernst A. Schmidt in seiner Untersuchung der antiken Bukolik die ‚poetische Reflexion‘ der Idylle nennt, denn diese ist stets „Dichtung über das eigene Dichten und die eigene Dichtung“.170 Die unter Verweis auf Böschenstein formulierte Ausgangsthese, dass der Natur eine dominante Rolle in Gessners Idyllen zukomme, weil diese den Bereich des Subjektiven besonders herausstellen,171 lässt sich an Gessners Lycas-Idylle also durchaus nach-

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S. 242–490, hier: S. 242). Bei Frisch ist diese Erzählgeste einer auktorialen Setzung direkt titelgebend, wie im Fall seines Romans Mein Name sei Gantenbein (vgl. Frisch, Max: Mein Name sei Gantenbein [1964], in: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, 7 Bd.e, hrsg. von Hans Mayer, Bd. V: 1964–1967, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 5–320). Spiegelbildlich steht Lycas für das erzählende Ich, das in Lycas’ idyllische Gärtnerei für dessen Geliebte Chloe die Vollkommenheit und Unvergänglichkeit der eigenen Liebesbeziehung mit Daphne projiziert. Als Figur in der idyllischen Geschichte, die das erzählende Ich seiner Daphne widmet, avanciert Lycas, der seinerseits die idyllische Geschichte von der Begegnung mit der eigenen Geliebten erzählt, zur Figuration der für die symbolische Ordnug der Sprache konstitutiven Spaltung zwischen dem Subjekt der Aussage und dem ausgesagten Subjekt. Die Idylle, die Lycas imaginär (und zugleich als Imagination des erzählenden Ich) einrichten will, um den – mit Goethes „Vermächtnis“ gesprochen – flüchtigen Augenblick der Liebesbegegnung in eine dauerhafte Ewigkeit zu überführen‚ verweist somit letztlich auf das Register des Realen, das der imaginäre Garten seinerseits symbolisch zur Anschauung bringt. Insofern lässt sich das IdylleMachen des erzählenden Ich, das von Lycas’ Idylle-Machen handelt, als ein Einbruch des Imaginären ins Reale begreifen. Zur Möglichkeit, die durch die Katastrophe und den Kitsch gebildeten Pole der Idylle als ‚Einbrüche‘ zu beschrieben, vgl. Kapitel 2.2.3 sowie Kapitel 4.2.3). Vgl. Stichwort ‚Fiktion‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 342; Stichwort ‚fingieren‘: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 345. Schmidt, Ernst A.: Poetische Reflexionen. Vergils Bukolik, München: Fink 1972, S. 107. Vgl. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 124.

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weisen, denn die imaginäre ‚Erfindung‘ des Gartens durch den Hirten resultiert schließlich aus seinem Begehren danach, die Erinnerung an die Begegnung mit der Geliebten durch die Gestaltung eines locus amoenus zu erhalten. Entsprechend bestätigt sich auch die Behauptung, dass „Gessners Figuren und Erzähler […] den Reiz der Landschaft ebenso wie die Zartheit kleiner Pflanzen und Tiere sehr anrührend zu evozieren [vermögen]“.172 Allerdings darf über dieser ‚rührenden Darstellung‘ nicht der durchaus drastische Subtext übersehen werden, den die Symbol-Analyse der Lycas-Idylle evident macht. Angesichts dieses Befunds wirkt die Annahme, „[i]n den antikisierenden Idyllen Gessners find[e] sich die Vorstellung eines naturhaft angeborenen moralischen Sinnes“, nicht nur wie eine ‚Meta-Idyllisierung‘ des Textes, sondern als grundsätzlich äußert fraglich. Gessners Lycas-Idylle ist letztlich ein literarisches ‚Kunst-Stück‘, das seine Artifizialität – in der Konvergenz von Kunsthaftigkeit und Künstlichkeit – nicht nur offen zur Schau stellt, sondern zu seinem genuinen Gegenstand macht, indem der Text Lycas’ ‚Erfindung‘ der Gärten als po(i)etisches Idylle-Machen präsentiert und zugleich autoreferenziell über dessen spezifische Verfahrensweisen reflektiert.

2.1.2‚Coitus procrastinatus‘: Idyllische Wollust in Johann Heinrich Voß’ Luise Laut Friedrich Sengle gilt Johann Heinrich Voß’ Luise bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts als „eine der beliebtesten und geschätztesten Dichtungen“ in deutscher Sprache – bis die Literaturgeschichtsschreibung die literarische Bedeutung dieser Idylle mit der „Inthronisierung Goethes als Klassiker“ zusehends marginalisiert.173 Dies dürfte nicht zuletzt in der „paradoxen Rezeption[]“ der Voß’schen Texte begründet liegen,174 denn gerade ihre große Popularität macht sie zum Gegenstand zahlreicher Parodien und Satiren, insbesondere seitens der Romantiker.175 Luise ist ein Zyklus von drei Idyllen, „die Voß 1795 unter dem Titel ‚Luise‘ zusammenfaßt[]“,176 nachdem sie knapp zehn Jahre zuvor sowohl in dem von Voß herausgegebenen Musenalmanach als auch in Christoph Martin Wielands ‚Teutschem Merkur‘

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Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 125. Sengle, Friedrich: „‚Luise‘ von Voss und Goethes ‚Hermann und Dorothea‘. Didaktisch-epische Form und Funktion des Homerisierens“, in: Rötzer, Hans Gerd/Walz, Herbert (Hgg.): Europäische Lehrdichtung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, S. 209–223, hier: S. 209. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 127. Vgl. Häntzschel, Günter: „Voß als Objekt romantischer Satiren“, in: Baudach, Frank/Häntzschel, Günter (Hgg.): Johann Heinrich Voß (1751–1826). Beiträge zum Eutiner Symposium im Oktober 1994, Eutin: Struve 1997, S. 149–161. Sengle: „Didaktisch-epische Form und Funktion des Homerisierens“, S. 212.

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veröffentlicht worden sind.177 Dargestellt wird „das Leben in einem ländlichen Pfarrhaus, wobei die Personenkonstellation aus der jungen Pfarrerstochter Luise, dem Pfarrer und seiner Gattin, Luisens gleichfalls zum Pfarramt bestimmtem Bräutigam, einer fortschrittlichen Gräfin und deren Kindern sowie Dienstboten besteht. Zwischen allen diesen Personen herrschen freie und herzliche Beziehungen.“178 Wie Gessners LycasIdylle eignet auch der Luise ein spezifisch erotischer Subtext, der mittels symbolischer Anspielungen eine idyllische Sinnlichkeit inszeniert. Die im Untertitel ein ‚ländliches Gedicht‘ genannte Luise wird deshalb als ein Text der Wollust lesbar, wie er sich nach Roland Barthes im Modus einer ‚klebrigen‘ Lektüre fassen lässt. Dieser ermögliche es, „an einer Erzählung [...] nicht direkt ihren Inhalt, nicht einmal ihre Struktur“ zu genießen – und das heißt: weder „die (logische) Ausdehnung“ des Textes, noch „die Entblätterung der Wahrheiten“, sondern das – nachgerade idyllisch zu nennende – „Blattwerk der Signifikanz“.179 Dabei versteht Barthes unter Signifikanz den Sinn, „insofern er sinnlich hervorgebracht wird“.180 Genau diese sinnliche Hervorbringung von Signifikanz ist das ‚idyllische Programm‘, das der Luise durch ihren erotischen Subtext eingeschrieben ist: Er bedingt die „versteckte Dramatik der Schein-Idylle“,181 wie sie Helga Kraft durch ihre „[g]egen den Strich“ gerichtete Lektüre aus der Luise untersucht.182 Dabei zeigt sie, dass sich diese ‚Idylle mit kleinen Fehlern‘ geradezu als das Gegenteil einer „Affirmation bürgerlicher Behaglichkeit“ erweist,183 zu der die Forschung die Voß’sche Luise gemeinhin erklärt hat. Versteht man mit Barthes unter Lust „das Befriedigtsein“ und im Gegensatz dazu unter Wollust „das Vergehen vor Lust“,184 dann erscheint die Luise insofern als ein Text der Wollust, als die Idylle dieses Vergehen zu ihrem Erzählanlass macht und es zugleich beständig aufschiebt, indem die buchstäbliche Lust der Protagonistin Luise und ihres Verlobten Walter zwar symbolisch inszeniert, aber nie eingelöst wird. Aus diesem Grund kann die Luise als Geschichte eines ‚coitus procrastinatus‘ gelesen werden. Der Fokus der nachfolgenden Lektüre liegt daher auf der idyllischen Wollust dieses Textes sowie seiner darin anschaulich werdenden wollüstigen Poetizität. 177

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In der hier verwendeten Ausgabe von Voß’ ausgewählten Werken folgt der Text der Luise ihrer Ausgabe von letzter Hand aus dem Jahr 1823. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 127. Barthes, Roland: Die Lust am Text [1973], übersetzt von Traugott König, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 142016, S. 19, Hervorhebung N.J. Barthes: Die Lust am Text, S. 90, Hervorhebungen i.O. Kraft, Helga: „Idylle mit kleinen Fehlern. Zwei Frauen brauch ich, ach, in meinem Haus. Luise von Voß und Stella von Goethe“, in: Kraft, Helga/Liebs, Elke (Hgg.): Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur, Stuttgart/Weimar: Metzler 1993, S. 73–85, hier: S. 84. Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 76 Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 127. Barthes: Die Lust am Text, S. 30.

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Auch wenn zwischen der Lust und der Wollust lediglich ein „Gradunterschied“ besteht,185 kann eine Lektüre, die der ‚Lust am Text‘ verpflichtet ist, der Wollust doch bloß nachspüren, denn nach Barthes gilt: „[D]ie Lust ist sagbar, die Wollust nicht“.186 So ‚lustvoll‘ eine Lektüre daher auch erscheint, sie kann den Text der Wollust, der doch stets ein „unmöglich[er]“ ist,187 nur auf eine Weise sichtbar machen: als „Skandal“ oder als „Spur eines Bruches“, denn „der Text der Wollust ist nur die logische, organische, historische Weiterentwicklung des Textes der Lust“.188 Inwieweit Voß’ Luise als ein Text der Lust angesehen werden kann, stellt bereits Kraft indirekt heraus, indem sie nachweist, dass gerade „Luises Erotik […] im Mittelpunkt der Idylle“ steht.189 In diesem Sinn erweist sich die Protagonistin des Textes als „Figuration“ einer Lust, die nach Barthes vor allem durch „die Erscheinungsweise des erotischen Körpers“ anschaulich wird.190 Um die Luise aber als Text der Wollust zu lesen, muss man einen Schritt weitergehen und mit Barthes die Protagonistin und ihren erotischen Körper als „gehemmte Figuration“ begreifen, „die mit anderen Sinngebungen belastet ist als allein mit der Begierde“.191 Zu diesen anderen Sinngebungen ist das im ‚coitus procrastinatus‘ zum Ausdruck kommende idyllische Begehren Luises und ihres Verlobten zu zählen, das die beiden Protagonisten der Voß’schen Idylle mit dem erzählenden Ich und dessen imaginierter Hirten-Figur Lycas in Gessners Idylle von der Erfindung der Gärten teilen.192 Das, was Barthes als ‚gehemmte Figuration‘ bezeichnet, erscheint im Kontext dieser Idylle daher als ein literarisches Verfahren, das in der idyllischen poiesis zu jener eingangs thematisierten ‚Strategie der Sinnlichkeit‘ gehört, die in Form einer die Aptumsgrenzen ausforschender und damit gesellschaftliche Konventionen umgehender Darstellung von Körperlichkeit, Erotik und Sexualität insofern Texte der Wollust konstituiert, als diese die „Lust in Stücken“ präsentieren.193 Ein Text der Wollust liefert also eine idyllisch portionierte Lust (und im Sinn der Rhetorik ist die Idylle ein Stück, weshalb sie sich besonders gut zur ‚lustvollen Portionierung‘ 185 186 187 188 189 190 191 192

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Barthes: Die Lust am Text, S. 31. Barthes: Die Lust am Text, S. 30. Barthes: Die Lust am Text, S. 33. Barthes: Die Lust am Text, S. 31. Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 79. Barthes: Die Lust am Text, S. 83. Barthes: Die Lust am Text, S. 84. In Abgrenzung zum eher subtil verhaltenen und deshalb hier sinnlich zu nennenden Begehren einer sagbaren Lust artikuliert sich die Begierde einer eigentlich unsagbaren Wollust durch eine auf das Körperliche bezogene und mithin in drastischer Anschaulichkeit vermittelte Erotik. In der idyllischen poiesis ‚verweben‘ sich Begehren und Begierde, Lust und Wollust, Sagbarkeit und Unsagbarkeit, sodass die hier unternommene Analyse komplementär zu Krafts Luise-Lektüre auf die Wollust dieses Textes gerichtet ist. Barthes: Die Lust am Text, S. 77.

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eignet), die „nicht die Lust des körperlichen Striptease“ ist, sondern „eine fortschreitende Enthüllung“.194 In dieser stellt sich nach Barthes die Wollust – also das, was nicht sagbar ist – als sinnliche Hervorbringung von Signifikanz ein: Neben der „erotischen Metaphorik“, die Kraft mit ihrer auf die Aushandlung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern fokussierenden Lektüre der Luise herausarbeitet,195 ist es vor allem die in Erweiterung des Kraft’schen Ansatzes hier nachfolgend zu untersuchende drastische Symbolik, durch die Voß’ ‚ländliches Gedicht in drei Idyllen‘ als Text der Wollust lesbar wird. Als ein solcher präsentiert die Luise nämlich „weniger eine Darstellung der erotischen Szene als ihrer Erwartung, ihrer Vorbereitung, ihrer Steigerung“,196 sodass die unsagbare Wollust durch eine prokrastinierende Iteration der Lust sagbar gemacht wird. Darin liegt jenes Moment, das Barthes den ‚Skandal‘, den ‚Bruch‘ nennt – also die Spur, die zum Text der Wollust führt. In Bezug auf die Luise erweist sich ein solcher Skandal oder Bruch letztlich als das für jede Idylle konstitutive Moment ihrer katastrophischen Gefährdung. Diese wird im erotischen Subtext der Idylle po(i)etisch produktiv gemacht, denn für die Luise von Voß gilt genau das, was Barthes über de Sade sagt: „pornographische messages werden in Sätze gegossen, die so rein sind, daß man sie für Grammatikbeispiele halten kann“.197 Die Luise ‚entblättert‘ sich deshalb in demselben Maße als ein Text der Wollust, wie die Idylle die Lust ihrer Protagonistin ‚entblättert‘. Weder aufgrund der zweifelsfrei dargestellten idyllischen Sinnlichkeit noch wegen ihrer transgressiven Tendenz zur subtilen Pornographie ist die Luise erotisch, sondern wird es erst durch „die Kluft zwischen beiden“.198 In dieser Kluft ‚liegt‘ die genuine Wollust eines Textes und durch das nachfolgende mikroanalytische close reading der Darstellung Luises und ihrer ‚gehemmten Figuration‘ soll dieser Wollust auf der Ebene der Symbolik ‚nachgespürt‘ werden. Zugleich wird damit die spezifische Poetizität der Voß’schen Idylle veranschaulicht. Den Titel der Idylle bildet der Eigenname der Protagonistin: Luise. Durch seinen Untertitel „Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen“ wird der Text als lyrische Subgattung bestimmt, wobei der Ausdruck ‚ländliches Gedicht‘ in Analogie zu der etablierten Gattungsbezeichnung ‚dramatisches Gedicht‘ gebildet ist. Der Verweis auf den Bereich der Lyrik erscheint im Fall der Luise insofern gerechtfertigt, als Voß seinen Text in „griechisch[en] Hexameter[n]“ gestaltet.199 Über dieses ‚Markenzeichen‘ reflektiert später Luises Vater mit einem Kommentar, der beim Anstoßen auf Luises Ehrentag eigentlich seinem Sohn gilt. Der Filius ist nämlich Verursacher einer Disharmonie unter den klingenden Gläsern, jedoch liest sich die Klage des Pfarrers darüber wie eine metapoetische 194 195 196 197 198 199

Barthes: Die Lust am Text, S. 17. Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 78. Barthes: Die Lust am Text, S. 86, Hervorhebungen N.J. Barthes: Die Lust am Text, S. 13. Barthes: Die Lust am Text, S. 13. Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 75.

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Kritik an der Voß’schen Dichtung: „Tausendmal hab’ ich ihn, Sohn, an die Erzuntugend erinnert! / Klappt nicht immer sein Glas wie ein spaltiger Topf, und das neuern / Dichterschwarms ungeschlifner Hexameter, welcher daherplumt / Ohne Takt und Musik, zum Ärgernis? Kann er nicht anders, / Oder gefällt es ihm nicht? Ein jegliches Ding hat doch Regeln!“ (53,526–530) Die Bemerkung des Pfarrers lässt sich „auf die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vorherrschende Begeisterung für epische Dichtung in Hexametern“ beziehen, wie sie beispielsweise für Bodmer, Klopstock und Lavater charakteristisch ist.200 Voß’ Gebrauch des antikisierenden Versmaßes, das auch seine im 18. und 19. Jahrhundert populären Homer-Übersetzungen kennzeichnet, wird an dieser Stelle der Luise also selbstbezüglich reflektiert: Die drastische Bewertung durch den Pfarrer erweist sich dabei als ambivalent, denn einerseits lässt sie sich als ein von Voß ausgeführter ‚literarischer Seitenhieb‘ gegen seine Kritiker lesen und andererseits als ironischer Selbstkommentar, denn schließlich ist es der gegenüber den dominanten Frauenfiguren der Idylle nachgerade impotent erscheinende Geistliche,201 den Voß hier in den Stand eines Literaturkritikers erhebt. Die erste der drei Idyllen trägt den Titel „Das Fest im Walde“, womit auf der Objektebene sowohl auf das nachfolgend dargestellte Fest anlässlich von Luises achtzehntem Geburtstag als auch auf die entsprechende Lokalität, wo die Festivitäten stattfinden sollen, verwiesen wird. Die Mutter begründet die Wahl des Festplatzes mit Luises Affinität zur Natur, denn ihre Tochter „begehrt den Geburtstag / Lieber im Wald’, als unten am Bach in der Laube zu feiern“ (38,35f). Zusammen mit Luises Beziehung zur Natur wird zu Beginn auch das Verhältnis zu ihrem Vater als ein nachgerade inniges dargestellt: „es küßt ihn umarmend die rosenwangige Tochter; / Dann an die Wang’ ihm geschmiegt, liebkoste sie. Aber mit Inbrunst / Herzte der Greis sein freundliches Kind, auf dem Schooße sie wiegend.“ (39,60ff) Nichts Verwerfliches scheint an dieser Szene intimer Verbundenheit – wenn man von Luises Alter absieht, denn dass eine 18-Jährige auf dem Schoß ihres alten Vaters gewiegt und geherzt wird wie ein Kleinkind, wirkt durchaus irritierend, auch wenn die Selbstverständlichkeit der erzählerischen Präsentation dies überspielt. Im 18. Jahrhundert erscheint es nicht ungewöhnlich, „daß die erotisch lockenden Frauengestalten wie Luise unter achtzehn sind“,202 und auch der Pfarrer von Grünau ist vor der erotischen Anziehung seiner Tochter nicht gefeit. Das zeigt Kraft, die anhand 200 201

202

Voß: Luise [Stellenkommentar], S. 439. „Seine Herrschaftsposition“, schreibt Kraft mit Bezug auf Luises Vater, „beruht also auf einer Illusion, und eine Art von Impotenz des Herrn verrät sich im Gewebe der Erzählstruktur“, denn „[d]as ständige Bedientwerden durch die kompetenten Frauen macht ihn in dieser ‚kleinen Welt‘ zum eigentlichen Beherrschten“ (Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 78). Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 80.

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der subversiven Erotik in der scheinbar idyllischen Familienkonstellation nachweist, dass die Luise eine „neu[e] und verfeinert[e] Machtausübung in der bürgerlichen Gesellschaft“ des 18. Jahrhunderts illustriert, die „eher durch ‚Liebe‘ als durch Gewalt“ durchgesetzt wird.203 Mit Verweis auf Michel Foucault stellt Kraft heraus, „daß im achtzehnten Jahrhundert der Diskurs über Sexualität im Anfangsstadium steckt[]“ und mit der sich entwickelnden „Vorherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft zusammen[fällt]“, die ihrerseits „mit der Neuordnung der Machtverhältnisse“ innerhalb der patriarchal organisierten Lebensgemeinschaft ‚Familie‘ verbunden ist.204 Dies führt Voß’ Luise anhand imaginierter erotischer Projektionen vor: „Der verheiratete Ehemann“ kann in dieser Zeit „nicht offen erotische Interessen verfolgen“, was sich nach Kraft vor allem in der inzestuös anmutenden Beziehung zwischen Luise und ihrem Vater zeige, dem „[d]ie Tochter […] Befriedigung auf einer Meta-Ebene [bietet]“.205 Die in der Idylle symbolisch codierte Erotik der Protagonistin mitsamt ihrer verführerischen Wirkung zeigt sich in der ersten detaillierten Darstellung Luises bei einem Spaziergang mit ihrem Verlobten Walter: Weiß war ihr Sommergewand mit rosenfarbenen Schleifen; / Seidener Flor umwallte verrätherisch Busen und Schultern, / Vorn mit der knospenden Rose geschmückt; ihr freundliches Antliz / Schirmte, gekränzt mit Tremsen [Kornblumen, N.J.], der feingeflochtene Strohut. / Unter ihm ringelte sanft in den Wind das bräunliche Haupthaar, / Glänzend im Licht, nachlässig vom rosigen Bande gefesselt. / Zart und rundlich und schlanck, aus der Klappe des sämischen Handschuhs / Blickend, kühlt’ ihr die Rechte mit grünem Fächer das Antlitz; / Aber die Linke ruht’ in des Jünglings Arm, und es spielten / Ihm in der Hand die warmen und niedlichen Finger des Mägdeleins. / Wonne durchströmt’ ihm das Herz, er athmete bang’, und sprachlos / Drückt’ er die kleine Hand, mit bebenden Fingern durchfaltend. (40,106–117)

Die Textstelle verdeutlicht zwei Dinge: Erstens die sprachlichen Eigenheiten von Voß’ homerisierender Schreibweise, beispielweise durch die auffällige Inversion „ihr freundliches Antlitz / Schirmte […] der feingeflochtene Strohut“. Das Subjekt des Satzes steht hier in Letzterposition, das Objekt hingegen am Satzanfang. Dieselbe syntaktische Struktur weist auch Voß’ Ilias-Übersetzung auf, wo es zu Beginn des ersten Gesangs heißt: „Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten / Atreus’ Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus“.206 Inversionen dienen der Betonung und so wird durch die syntaktische Umstellung in diesem Satz der Idylle Luises „freundliches Antlitz“ betont, indem es an die Position des Subjekts rückt, obwohl es das Akkusativ203 204 205 206

Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 83. Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 79. Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 79. Homer: Ilias [I, 6f], in: ders.: Ilias/Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Vollständige Ausgabe nach dem Text der Erstausgabe [Ilias, Hamburg 1793/Odyssee, Hamburg 1781], hrsg. von Wolf Hartmut Friedrich, München: Winkler 1974, S. 5–437, hier: S. 5.

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objekt des Satzes ist und bleibt. In diesem Abschnitt, in dem Luise vorgestellt wird, steht sie also durch die Inszenierung syntaktisch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – der Strohhut, das Subjekt des Satzes, wird rhetorisch marginalisiert. Der hier kurz in Bezug auf seine sprachliche Gestaltung analysierte Satz verdeutlicht damit also erstens nicht nur Luises erzählerische Exponierung als Protagonistin der Idylle, sondern zweitens auch ihre erotische Anziehungskraft: Dass Luises mit „rosenfarbenen Schleifen“ geschmücktes „Sommergewand“ ihren Busen und ihre Schultern geradezu „verrätherisch“ umhüllt, erscheint als Symptom der Luise durch den 18. Geburtstag verheißenen ‚Mannbarkeit‘. Diese symbolisiert die vorn am Kleid angebrachte „knospend[e] Rose“: Luise befindet sich im besten ‚jugendlichen‘ Alter, um zu heiraten und Kinder zu gebären, schließlich steht die knospende Blume „für die Jugend, für die Zukunft oder auch für Chancen, Möglichkeiten und Fähigkeiten […], die in der Zukunft […] zur Blüte gelangen werden“.207 Die so angezeigte weibliche Erotik und Fruchtbarkeit wird auch durch Luises „bräunliche“ Haarfarbe symbolisiert, denn Braun ist die Farbe der weiblich konnotierten Erde,208 die ebenfalls für Fruchtbarkeit steht.209 Neben der Haarfarbe wird auch Luises Haartracht beschrieben: Diese ist nur „nachlässig vom rosigen Bande“ zusammengehalten, was auf Luises gegenwärtigen Zustand kurz vor der Hochzeit hindeutet, denn das verknotete Haar gilt als „Zeichen der verheirateten Frau“, wohingegen das offene Haar sowohl ein „Zeichen der Jungfrauen“ als auch von Prostituierten ist.210 Eine solch ambivalente Symbolik erweist sich als ironisch-subversive Anspielung auf die Ambivalenz der Protagonistin. Dies korrespondiert mit der ‚gehemmten Figuration‘ der Protagonistin, denn laut Kraft zeichnet sich Luises Weiblichkeit gerade durch die Spaltung in „ein erotisches und ein mütterliches Wesen“ aus.211 Luises initiale Darstellung beschränkt sich allerdings nicht auf subtile symbolische Anspielungen bezüglich ihrer erotischen Reize. Eine nachgerade ‚drastische Symbolik‘ verweist auf ihre Sexualität, denn dass Luises Haar im Licht glänzt, lässt sich als symbolischer Koitus deuten: Wie gezeigt, steht das Haar für den Bereich des Weiblichen, während das Phänomen des Lichts eine apollinische Metonymie für die Sonne ist, die ihrerseits als Männlichkeitssymbol gilt.212 Die Kombination von Haar und Licht bzw. Sonne kann in der Literatur für handfeste Sexualität stehen, wie es Gottfried Benns MorgueGedicht „Negerbraut“ verdeutlicht. Dort heißt es: „Die Sonne wütete in ihrem Haar /

207 208 209 210 211 212

Stichwort ‚Blumen‘, in: Zerbst/Kafka: Seemanns Lexikon der Symbole, S. 77. Vgl. Stichwort ‚Braun‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 48. Vgl. Stichwort ‚Erde‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 73f. Stichwort ‚Haar‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 110f. Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 78. Stichwort ‚Sonne‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 275ff.

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und leckte ihr die hellen Schenkel lang / und kniete um die bräunlicheren Brüste, / noch unentstellt durch Laster und Geburt“.213 Der ersten Beschreibung, die der Text von seiner Protagonistin gibt, ist bereits das wollüstige Programm der Idylle eingeschrieben und zwar als ein angedeuteter ‚coitus procrastinatus‘, den Luise und Walter während ihres Spaziergangs erstmalig ‚vollziehen‘. Dabei rückt Luises Verlobter an die Position, die zuvor symbolisch die Sonne eingenommen hat, als Luises „warm[e] und niedlich[e] Finger“ in seiner Hand spielen, woraufhin den zukünftigen Bräutigam nicht nur „Wonne“ durchströmt: In geradezu orgasmatischer Ekstase atmet Walter „bang’“, ist „sprachlos“ und drückt zur Erwiderung von Luises substituierender Liebesgeste ihre „kleine Hand, mit bebenden Fingern durchfaltend“. (Dass die hier als „Mägdelein“ bezeichnete Luise syntaktisch nicht das Subjekt des Satzes darstellt, sondern lediglich das Genitivattribut ihrer ‚Finger‘, könnte als ‚grammatikalische Ehrenrettung‘ der jungen Frau gelesen werden, da die feingliedrigen Enden ihrer oberen Extremitäten quasi selbstständig zu handeln scheinen.) Das händische Betasten erweist sich letztlich als ein taktiles ‚Vorspiel‘, das genauso wie die nächste Szene, in der Luise sich beim Übersteigen eines Zauns fast schon unsittlich entblößt, auf die nachfolgenden zwei Kussszenen verweist. Diese sind jeweils als ‚coitus procrastinatus‘ zu lesen. Um die Wollust als das Vergehen vor Lust zu inszenieren, muss der Text der Wollust also zunächst Lust wecken und zwar buchstäblich durch „eine fortschreitende Enthüllung“.214 Eine solche bietet sich, als Luise beim Spaziergang mit Walter einen Zaun überquert: Luise „hob das eine Füßchen mit Vorsicht / Über den hohen Zaun; enthüllt bis zur Blume des Zwickels, / Ordnete scheu das Gewand, und schwang wie ein Reh sich hinüber“ (40,126ff). Ein Zwickel ist in der Mode ein dreieckiger, genauer gesagt rautenförmiger Stoffeinsatz,215 der im Unterschied zum sog. ‚Godet‘ unsichtbar in der Kleidung angebracht wird, um z. B. bei engen Damenröcken die Saumweite zu vergrößern und der Trägerin so zu mehr Bewegungsfreiheit insbesondere im Schritt oder an anderen Gelenkstellen zu verhelfen. Der Zwickel, den Luises akrobatische Zaunquerung sichtbar werden lässt, ist in dieser Szene deshalb ein symbolisch bedeutsames Element der Kleidung, weil er zugleich verdeckt und entblößt. Nach Barthes konstituiert eine solch buchstäbliche Enthüllung die 213

214 215

Benn, Gottfried: „Negerbraut“ [V. 3–6], in: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. III: Gedichte, Stuttgart: Klett-Cotta 61978, S. 9. Die Sonne steht in Benns Gedicht für eine von zwei Seiten der männlichen Sexualität. Die ‚sonnig-sinnliche‘ Seite wird in Opposition zu der durch den ‚Nigger‘ personifizierten körperlich rohen Sexualität dargestellt, weil dessen Sinneszentrum außer Gefecht gesetzt ist: „Ein Nigger neben ihr: durch Pferdehufschlag / Augen und Stirn zerfetzt. Der bohrte / zwei Zehen seines schmutzigen linken Fußes / ins Innere ihres kleinen weißen Ohrs.“ (V. 7–10) Barthes: Die Lust am Text, S. 17. Vgl. Stichwort ‚Zwickel‘, in: Wahrig, S. 1725.

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Lust als typischen „Pennälertraum“, denn „die ganze Erregung sammelt sich in der Hoffnung, das Geschlecht zu sehen“.216 Auf nichts anderes verweist der Zwickel hier metonymisch, denn in der Beschreibung von Luises Kletteraktion kann nur der Zwickel im Bereich ihres Schritts gemeint sein, zumal die genannte Blume, bis zu der hin sich das Kleid heben soll, jene ‚knospende Rose‘ sein dürfte, die Luises Kleid vorne – also vermutlich zwischen Schritt und Taille – schmückt. Diese Floral-Symbolik des modischen Gewebes verweist zudem auf das intertextuelle Gewebe der Voß’schen Idylle: So ist in Clemens Brentanos „Das Märchen von Rosenblättchen“ – ein Text, der seinerseits eine Variante des Blaubart-Themas darstellt – von der „Monatsrose“ die Rede und diese buchstäblich blumige Metapher umschreibt die weibliche Menstruation als Anzeichen für die Gebärfähigkeit der zur Frau gewordenen Protagonistin Prinzessin Rosalina.217 Aufgrund seiner doppelten Funktion als textiles wie (inter-)textuelles Element erweist sich der Zwickel im Kontext der Idylle als metapoetisches Symbol: In der Textilverarbeitung soll der Zwickel ein Auseinanderreißen des engen Gewebes an neuralgischen Bewegungsstellen verhindern und wie ein Zwickel wirken auch die verschiedenen Naturelemente, die zur Darstellung Luises durch eine gehemmte Figuration im Text ‚verwoben‘ sind, um ihrerseits die katastrophische Gefährdung der Idylle – angesichts der Spannung zwischen harmlos-harmonischer Natürlichkeit und drastischer Körperlichkeit der Protagonistin – entlastend auszugleichen: So wird im Anschluss an Luises Kletterei gesagt, dass sie sich unschuldig „wie ein Reh“ (40,128) über den Zaun hinwegschwingt, nachdem sie – sprichwörtlich „scheu“ (40,128) wie ein solches Tier – ihr Kleid neu geordnet hat. Diese Beschreibung ist letztlich nichts anderes als die Inszenierung der Tmesis, jener „Trennung eines Wortes oder einer festen Wortverbindung durch Einfügung anderer Satzteile“,218 die nach Barthes die „Figur der Lust“ darstellt.219 Das Adjektiv ‚scheu‘ und 216 217

218 219

Barthes: Die Lust am Text, S. 17, Hervorhebung i.O. Brentano, Clemens: „Das Märchen von Rosenblättchen“ [1838], in: ders.: Werke, hrsg. von Friedhelm Kemp, Bd. III, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 335–345, hier: S. 336. In Brentanos viertem der insgesamt elf ‚Italienischen Märchen‘ wird dargestellt, wie die ins heiratsfähige Alter gekommene Prinzessin Rosalina den Strauch, der die Monatsrose trägt, erhält, um von nun an monatlich das „Rosenfest“ (ebd., S. 338) zu feiern. Dieses wird als sportliche Prüfung begangen: Rosalina soll über das Rosenstöckchen springen, ohne eines der Rosenblätter abzureißen. Dies misslingt der Prinzessin: Sie nimmt „einen tüchtigen Anlauf und wäre auch glücklich hinübergekommen, wenn sich ihr im Sprunge nicht die Haarflechten aufgelöst hätten, die ein Blättchen von der Rose abschlugen, welches sie aber im Sprung, ehe es zur Erde fiel, erhaschte und verschluckte“ (ebd., S. 337). Diese versehentliche und symbolisch vermittelte ‚Defloration‘ hat sodann handfeste Folgen, die sich nach acht weiteren Rosenfesten – an denen die Prinzessin aufgrund ihr unbekannter körperlicher Befindlichkeiten nicht mehr teilnehmen kann – mit der mirakulösen Geburt ihres Kindes Rosenblättchen zeigen. Stichwort ‚Tmesis‘, in: Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 702, hier: S. 702. Barthes: Die Lust am Text, S. 17.

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das Substantiv ‚Reh‘ sind aus der Redensart ‚scheu wie ein Reh‘ bekannt,220 wie sie sich beispielsweise auch als systemreferenzieller Bezug bei Heinrich Heine findet, wo es zu Beginn des vierten „Seraphine“-Gedichts heißt: „Sie floh vor mir wie’n Reh so scheu“.221 Auch in der Luise sind die beiden Signifikanten ‚Reh‘ und ‚scheu‘ in einem Syntagma verbunden, das allerdings die ihm als Folie zu Grunde liegende Redensart auftrennt und durch syntaktische Ergänzungen in Bezug auf Luise neu verteilt: Scheu ordnet Luise ihr Kleid und wie ein Reh überquert sie den Zaun. Auch wenn Luise hier im erweiterten Hauptsatzgefüge, das durch ein Semikolon anschließt, de facto nicht nochmals genannt wird, ist sie gemäß der syntaktischen Struktur trotzdem das Subjekt des Satzes und fungiert deshalb in Bezug auf die Tmesis (die die Verfremdung der Redensart bedingt) als Unterbrechung. Implizit wird hier also durch die Syntax Luises Erotik betont, denn nach Barthes gilt: „die Unterbrechung ist erotisch“.222 Auch die sprachliche Inszenierung folgt damit dem Programm des ‚coitus procrastinatus‘, was die Idylle zu einem Text der Wollust macht. Das Reh, mit dem Luise verglichen wird, gehört zum Bereich der Fauna und auch der Bereich der Flora wird zu Luises po(i)etischer Inszenierung herangezogen: In der ersten von insgesamt zwei Kussszenen wird Luise als Pflanze dargestellt, wenn es beispielsweise heißt, dass „ihr blühendes Antlitz“ (41,152) ein „rosiger Mund mit ätherischem Odem“ (41,156) ziere. Nachdem sich Luise von Walter erbeten hat, dass er ihr die Hand nicht so fest drücken solle (vgl. 41,153f), kommt es schließlich zu einer ersten, intimeren Annäherung zwischen den beiden. Sie ist durch Luises Naturbezug symbolisch vermittelt: Leise bebt’ ihr die Lipp’, und wandte sich; aber ihr Antlitz / Lächelte, hold verschämt, wie ein Frühlingsmorgen erröthend. / Und sie entschlüpfte dem Arm, und brach ein unscheinbares Blümchen / Seitwärts, stand in Gedanken, und schaut’ es an, wie bewundernd. (41,158–161)

Symbolisch wird hier auf das körperliche Zusammensein der Liebenden angespielt: Zwar kommt es noch nicht zum Kuss – dass dieser aber bald erfolgen muss, wird durch das unbeabsichtigte Brechen des ‚unscheinbaren Blümchens‘ angedeutet. Diese vielsagende Geste verweist intertextuell auf Goethes vmtl. 1771 verfasstes und 1789 erstmals veröffentlichtes Gedicht „Heideröslein“, das eine symbolische Defloration darstellt, weil die „jung und morgenschön“ auf einer Heide blühende Blume von einem Knaben gebrochen wird: „Knabe sprach: Ich breche dich, / Röslein auf der Heiden! / [...] / Und der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden; / Röslein wehrte sich und stach, /

220 221

222

Vgl. Stichwort ‚Reh‘, in: Wahrig, S. 1214. Heine, Heinrich: „Seraphine [IV]“, in: ders.: Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge, hrsg. von Klaus Briegleb, Frankfurt a.M.: Insel 1993, S. 349. Barthes: Die Lust am Text, S. 17, Hervorhebung N.J.

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Half ihr doch kein Weh und Ach, / Mußt’ es eben leiden.“223 Was in der Luise – wie schon zuvor in Gessners Lycas-Idylle – also wortwörtlich ‚durch die Blume‘ gesagt wird, ist mehr als eindeutig. Luises Ausweichen vor dem Kuss und ihr anschließendes Brechen einer Blume erweist sich zudem noch ein weiteres Mal als intertextuell bedeutsam, weil diese Szenerie auf den Mythos von Apollo und Daphne anspielt, auf den sich auch Gessners Lycas-Idylle bezieht. Anders als Daphne verwandelt sich Luise jedoch nicht in eine Pflanze – das erscheint auch insofern nicht notwendig, als sie schon vor dem verschmähten Kuss sprachlich als eine solche inszeniert wird. In Fortsetzung zur Apollo-und-Daphne-Anspielung leitet die zweite der beiden Kussszenen mit einer mythischen Figuration ein, denn Luise und Walter werden bei ihrem Spaziergang von dem Knaben Karl begleitet, der in der Tradition des Liebesgottes Armor die zwei Liebenden zusammenbringen will und sie daher zum Erdbeerenpflücken auffordert: „Kommt doch, und pflückt Erdbeeren! Hier stehen sie, röther wie Scharlach!“ (42,163) Luise und Walter kommen der Aufforderung nach: Sie sammeln die Früchte, um sie später mit der Familie zu essen. Die Erdbeeren werden noch zwei weitere Male im Text erwähnt: Unmittelbar im Anschluss an die erste Stelle ist von den „geschwollenen Beeren“ (2,168) die Rede und beim späteren gemeinsamen Essen der Pfarrersfamilie unter freiem Himmel anlässlich des Geburtstags werden Erdbeeren von „saftig[er] Röthe“ (53,505) verspeist. Die Erdbeere gilt im Mittelalter aufgrund „ihrer dreigliedrigen Blätter“ als Symbol der Dreifaltigkeit und wegen ihres „niederen Wuchses“ als „Sinnbild edler Demut u[nd] Bescheidenheit“.224 Wesentlich für den Luise-Kontext ist aber eine andere Symbolik, der zufolge „[d]ie reife Frucht auch auf die Reife einer jungen Frau zu Ehe u[nd] Mutterschaft“ bezogen werden kann.225 In der Literatur ist die Erdbeere ein geradezu drastisches Sexualsymbol, wie etwa in Paul Zechs Nachdichtung von François Villons Gedicht „Eine verliebte Ballade für ein Mädchen namens Yssabeau“.226 Darin stehen der Erdbeermund und das Erdbeertal metaphorisch unmissverständlich für die Vulva der Frau, die das dergestalt männlich kodierte lyrische Ich begehrt: „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, / ich schrie mir schon die Lungen wund / nach deinem weißen Leib, du Weib“ (V. 1ff), heißt es zu Beginn und später wird der Schoß der Frau als idyllischer hortus conclusus imaginiert: „Im tiefen Erdbeertal, im schwarzen Haar, / da schlief ich manches Sommerjahr / bei dir und schlief doch nie zuviel“ (V. 9ff). Vor dem Hintergrund von Luises zuvor darge223

224 225 226

Goethe, Johann Wolfgang: „Heideröslein“, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. I: Gedichte und Epen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 78f, hier: S. 78. Der Wechsel des grammatischen Geschlechts beim Pronomen im hier zitierten Vers 18 legitimiert die Lesart. Stichwort ‚Erdbeere‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 73. Stichwort ‚Erdbeere‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 73. Villon, François: „Eine verliebte Ballade für ein Mädchen namens Yssabeau“, in: ders.: Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon. Nachdichtung: Paul Zech [1946] München: Deutscher Taschenbuch Verlag 262002, S. 98.

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stellter Verbindung zur Natur – erinnert sei an „ihr blühendes Antlitz“ (41, 152) sowie an das Brechen der Blume nach dem ersten, misslungenen Kuss – wirkt die metaphorische Aufforderung zum symbolischen Koitus durch das Kind Karl wie die mythische Konstellation aus Ovids Metamorphosen – schließlich waren es die Pfeile des kindlichen Liebegottes, die zu den bekannten ‚Verwicklungen‘ zwischen Apollo und der Nymphe geführt haben. Nach dem symbolisch bedeutsamen Erdbeerpflücken kommt es schließlich zum ersten Kuss zwischen Luise und Walter. Dieser wird besonders inszeniert, denn sobald die beiden Liebenden „des dichteren Thales Umschattung / Barg, begegnete willig ihr [Luises, N.J.] Mund dem Kusse des Jünglings“ (43,223f). Die Landschaft, die hier die idyllische Kulisse für den Kuss der beiden bildet, wird als hortus conclusus dargestellt, denn im schattigen Tal, also abgeschirmt von der restlichen Welt, können Luise und Walter als Liebende vereint sein. Die intime Szene ist so flüchtig wie der beschriebene Kuss selbst – ihrer Erotik tut dies keinen Abbruch, weil die Natur hier zum symbolischen Resonanzraum eines ‚coitus procrastinatus‘ avanciert: Der Wind übernimmt stellvertretend jene Rolle, die Walter nach dem Kuss hätte zukommen können, denn nachdem Luise und er von ihrem Lager aufgebrochen sind, um sich am verabredeten Ort mit der Familie zur Feier zu treffen, wird Luise symbolisch entkleidet: „kühlender Seewind / Hauchte zurück das Gewand, das die trippelnden Füße des Mägdleins / Rauschend umwallt’, und es weht’ ihr geringeltes Haar von den Schultern“ (44,232ff). Die durch das Versmaß des Hexameters (das aus sechshebigen Daktylen besteht) rhythmisch bedingten Apostrophen bei den Verben ‚umwallen‘ und ‚wehen‘ bewirken eine präsentische Vergegenwärtigung Luises, da das Tempus der Erzählung vom epischen Präteritum ins Präsens zu wechseln scheint. Das fingiert letztlich eine absolute Unmittelbarkeit.227 Zugleich wird hierdurch in der Erzählung eine nachgerade idyllische Entzeitlichung bewirkt, wie sie Georges Perec in Ein Mann der schläft als ‚glückselige Parenthese‘ eines Zustandes „ohne Zukunft und ohne Vergangenheit“ umschreibt:228 Luises ‚Entblätterung‘ durch den Wind erscheint insofern als Parenthese, als die Erzählung danach wieder im epischen Präteritum fortsetzt. Vermittelt ist das durch einen ‚Szenenwechsel‘, weil als nächstes das Treffen von Luise und Walter mit der Geburtstagsgesellschaft dargestellt wird. Das geburtstägliche Zusammenkommen präsentiert eine harmonische Familienidylle: „Und sie lagerten sich im schattigen Gras’: an des Vaters / Rechte der Knab’ 227

228

Am jeweiligen Ende der bisher zitierten längeren Textpassagen aus der Idylle wird dieses Verfahren zur erzählerischen Erzeugung von Unmittelbarkeit nochmals deutlich. Voß gebraucht das Versmaß des Hexameters also nicht bloß als rein antikisierendes Gestaltungsmittel. Perec, Georges: Ein Mann der schläft [1967], übersetzt von Eugen Helmlé, Zürich: Diaphanes 2 2014, S. 57. Bei Perec ist die idyllisch anmutende ‚glückselige Parenthese‘ als eine paradoxe „Leere voller Verheißungen“ für den Protagnisten letztlich das Resultat seines katastrophischen Ausstiegs aus seinem gewohnten Leben (ebd.), um die zersetzende Wirkung eines Zustands der „Gleichgültigkeit“, die „weder Anfang noch Ende“ kennt (ebd., S. 67), in einem existenziellen Experiment zu erforschen.

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und Mama, die den klaren Trank in die Tassen / Rühmend goß; und zur Linken die schöne Luis’ und der Jüngling“ (47,297ff). Die explizite Erwähnung der Anordnung der einzelnen Figuren um die zentrale Figur des Pfarrers erscheint insofern hochsymbolisch, als sie auf das biblische Weltgericht verweist, wie es das neutestamentarische MatthäusEvangelium als bukolische Szenerie beschreibt: „[A]lle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken“ (Mt 25,32–33). Die Versammlung der Geburtstagsgäste folgt aufgrund der Betonung des Unterschieds zwischen Links und Rechts symbolisch der figuralen Topographie des Jüngsten Gerichts und impliziert damit eine moralische Wertung Luises und Walters, denn beiden wird die Rolle des Bockes zugewiesen. Dieser ist das biblische „Opfertier“, dem die Sünden der Menschheit aufgeladen werden.229 Zudem gilt er, insbesondere in Form des Ziegenbocks, als „negative Verkörperung der männl[ichen] Sexualität“,230 weshalb die positionale Anordnung von Luise und Walter um den Pfarrer als mahnender Hinweis auf das idyllische Programm des ‚coitus procrastinatus‘ gelesen werden kann: Erst durch die Ehe erhalten die Liebenden eine Legitimation, damit aus ihrem wollüstigen Vergehen vor Lust (nach dem ersten Kuss) ein körperliches Ergehen in Lust werden kann. Angesichts der im Text dargestellten Impotenz des Pfarrers, dessen Stellung in der familiären Hierarchie sich im Vergleich mit der ‚Macht‘ seiner Frau und Tochter lediglich als eine „Scheinherrschaft“ erweist,231 dekonstruiert diese Szene sich durch die überspitzte Darstellung der patriarchalen Macht des Pfarrers gewissermaßen selbst: Als Familienoberhaupt sowie in seiner Funktion als Pfarrer steht Luises Vater zwar positional äquivalent an der Stelle des die Welt richtenden Gottes, jedoch konterkariert die Symbolik des ‚Fests im Walde‘ sowohl seine Stellung in Bezug auf sein Kirchen- und Familienamt als auch das vermeintliche Familienidyll, weil die harmlose Feier eine nachgerade apokalyptische Dimension erhält. Das Zusammenkommen der Familie im Wald an Luises Ehrentag ist für den Vater zugleich Anlass, um in Erinnerungen zu schwelgen. So berichtet er von der Geburt seiner Tochter und macht dadurch nochmals deren Verbindung zur Natur deutlich, weil Luise als regelrechtes ‚Blumenkind‘ dargestellt wird: Gestern erst geschah es, so deucht es mir, als ich im Garten / Ging, und Blätter zerpflückt’, und betete; bis nun mit Einmal / Fröhlich die Botschaft kam: Ein Töchterchen ist uns gebohren! […] Weißt du, Frau, wie es einst nach langer Dürre geregnet, / Und ich, Luis’ auf dem Arme, mit dir in der Frische des Gartens / Athmend ging; wie das Kind nach dem Regenbogen emporgrif, / Und mich küßte: Papa! da regnet es Blumen vom Himmel! (47,318ff; 324ff) 229 230 231

Stichwort ‚Bock‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 47. Stichwort ‚Bock‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 47. Kraft: „Idylle mit kleinen Fehlern“, S. 76.

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Hier deutet sich das an, was zur darstellerischen Dominante in den zwei folgenden Teilen des ‚ländlichen Gedichts‘ gerät, nämlich Luises idyllische Stilisierung, die auf zwei Bereiche bezogen ist: den mythischer bzw. biblischer Verklärung sowie den der Natur. Beide sind dabei durch das für die Idylle konstitutive Moment der Artifizialität miteinander verbunden. Dieses ist seinerseits an die Figur Luises gekoppelt, sodass sich die titelgebende Protagonistin als Exponentin der Poetizität der Voß’schen Idylle erweist. Auch im zweiten der drei Idyllen-Teile, der den Titel „Der Besuch“ trägt, ist der ‚coitus procrastinatus‘ insofern Programm, als das Warten auf die Ankunft von Walter in der Zeit nach Luises Geburtstag und vor der Hochzeit dargestellt wird. Bereits der erste Satz knüpft an jenen Aspekt an, der schon zuvor als ein zentraler für Luises ‚gehemmte Figuration‘ herausgestellt wurde: Ihre Verbindung zur Natur erfolgt zunächst über die Farbe Rot, die weiterhin eines der Epitheta für Luise ist. Namentlich wird die Protagonistin im Text insgesamt sieben Mal genannt; achtmal wird sie als ‚Tochter‘ und einmal mit der entsprechenden Diminutivform bezeichnet. Fast genauso häufig findet sich die Bezeichnung ‚Mägdlein‘ bzw. ‚Mädchen‘; mit 17 Nennungen sind die Bezeichnungen ‚Jungfrau‘, ‚Jungfer‘ bzw. ‚Jüngferchen‘ die dominierenden. Unter Luises weiteren Epitheta finden sich die Adjektive ‚niedlich‘ einmal und ‚schön‘ zweimal; entsprechende Ableitungen aus den Verben ‚blühen‘ und ‚erröten‘ tauchen zwei- bzw. dreimal auf. Insgesamt überwiegen aber Konstruktionen zur umschreibenden Bezeichnung von Luise, die das Wort ‚Rose‘ enthalten und damit auf die Farbe Rot verweisen: 13 Mal wird das Epitheton ‚rosenwangig‘ erwähnt und fünf Mal wird Luise als ‚rosig‘ bezeichnet. Alle diese Wendungen stellen Luises Bezug zur Natur heraus und dieser liegt nicht zuletzt auch ihrem vollständigen Namen zu Grunde, der nur einmal im Text genannt wird: Anna Luise Blum (75, 319). Man muss nicht, wie es in Goethes Die Wahlverwandtschaften heißt, auf „Namensbedeutungen abergläubisch“ sein,232 um anhand dieser Intertextualität Luises ‚künstliche Natürlichkeit‘ bzw. ‚natürliche Künstlichkeit‘ zu erkennen, denn auf der Namensebene erscheint sie genealogisch als Prä-Figuration jener enigmatischen Gestalt, die in Kurt Schwitters Liebesgedicht „An Anna Blume“ besungen und vom lyrischen Ich bezeichnender Weise nur in einer Farbe geliebt wird: „Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.“233 Der zweite Idyllen-Teil beginnt mit einem Satz, der – gemäß dem aufschiebenden Programm des ‚coitus procrastinatus‘ – auf die Ereignisse hindeutet, die im dritten und letzten Teil dargestellt werden, wenn es heißt, „[r]osig stralt’ in die Fenster des Mais aufglühender Morgen“ (56,1). Die Zeitangabe durch den Frühlingsmonat Mai verweist symbolisch auf die anstehende Hochzeit von Luises und Walter. Doch damit Luise ‚an den Mann gebracht‘ werden kann, muss dieser erst eintreffen. Während die Familie Blum also die Ankunft des Bräutigams erwartet, sprechen der Pfarrer und seine Frau 232 233

Goethe: Die Wahlverwandtschaften, HA: VI, S. 255. Vgl. Schwitters, Kurt: „An Anna Blume“ [V. 10], in: ders.: Das literarische Werk, hrsg. von Friedhelm Lach, Bd. I: Lyrik, Köln: DuMont Schauberg 1973, S. 58f, hier: S. 58.

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über Luise. Der Vater befürchtet, die Tochter könne das Eintreffen ihres zukünftigen Mannes verschlafen, doch die Mutter versucht mit einer imaginierten idyllischen Szene den besorgten Pfarrer zu beruhigen: Unsere rasche Luise? Gewiß, sie steht vor dem Spiegel, / Kleidet sich, ordnet ihr Haar in schlau erkünstelter Einfalt, / Ordnet die Lillaschleifen, das seidene Tuch, und den frischen / Blumenstrauß, holdlächelnd, und gern noch schöner sich machend. / Oder sie schlich in den Garten hinab, und beschaut die Aurikeln, / Unruhvoll, und roth im Gesicht, wie die Gluten des Himmels; / Blickt oft über den Zaun, und hört die Nachtigall schmettern / Unten am Bach, und hört, o mit klopfendem Herzen! das Posthorn. (59,103–110)

Trotz dieser (selbst)inszenierten Hoffnungen der Mutter auf die Verlässlichkeit der Tochter, hat Luise die Ankunft Walters tatsächlich verschlafen und daran sollen ausgerechnet die Blumen schuld sein, die in ihrem Zimmer stehen: „Hat denn der böse / Blumenduft mich betäubt?“ (64,188f) fragt sich die „rosenwangige Tochter“ (64,266), als sie von ihrer Mutter geweckt wird. Obwohl Luise verschlafen hat, ist sie keinesfalls ‚ausgeschlafen‘, denn ihr Säumnis birgt ein schlechtes Omen: Das Matthäus-Evangelium berichtet von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen, die beim Warten auf den Bräutigam einschlafen und dabei ihre Öllampen brennen lassen, mit denen sie dem Erwarteten den Weg in den Hochzeitssaal weisen sollen. Allerdings haben nur die fünf klugen Jungfrauen ausreichend Öl für ihre Lampen dabei, sodass die fünf törichten ohne den entsprechenden Vorrat von der Zeremonie ausgeschlossen werden (vgl. Mt 25,1– 13). Auch wenn man Luise für eine der törichten Jungfrauen halten könnte, verweist ein anderes Omen darauf, dass sie nicht deren biblisches Schicksal teilt und gar ihre eigene Hochzeit verschläft: Wie Luise der Mutter berichtet, sei sie in der Nacht aus dem Schlaf erwacht und habe sodann am geöffneten Fenster die idyllische Landschaft genossen: „Mit Verdruß nun sprang ich vom Lager, / Kleidete mich, und sahe die funkelnden Sterne aus dem Fenster, // Vom anhauchenden Winde gekühlt, und die Gegend im Mondschein: / Wo der Nachtigall Lied ringsum wetteifernd ertönte, / Und der Gesang auf der Bleich’, und die einsame Flöte des Schäfers“ (64,292f–65,296). Was Luise hier mit dem materialen Topos der Idylle beschreibt, scheint weniger die reale Nachtszenerie zu sein, als vielmehr eine imaginierte Traumlandschaft, denn im Mondschein – und der Mond ist sowohl in der Astrologie als auch der Tiefenpsychologie ein Symbol des Unbewussten und deshalb auf den Traum beziehbar234 – schläft Luise wieder ein und „hört’ im Traume noch immer / Nachtigallengesang, und der wehenden Linde Gesäusel“ (65,300f). Da der Gesang der Nachtigall in der Antike als „glückl[iches] Omen“ gilt,235 scheint der Umstand, dass die Braut die Ankunft ihres Bräutigams verschlafen hat, nicht 234 235

Vgl. Stichwort ‚Mond‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 197f. Stichwort ‚Nachtigall‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 202.

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das in Aussicht stehende gemeinsame Glück zu trüben. Darauf weist auch die Linde hin, die nicht nur ein apotropäisches Symbol ist,236 sondern in der volkstümlichen Dichtung den Treffpunkt zweier Liebenden markiert.237 Luises und Walters Wiedersehen erfolgt jedoch nicht unter einer Linde, sondern im elterlichen Pfarrershaus, wo die wollüstige Braut „[b]ange vor Sehnsucht“ (66,341) dem Bräutigam bei seiner Ankunft entgegeneilt, um „in die Arme des überseligen Jünglings“ (64,344) zu fallen. Dergestalt wieder vereint, können Luise und Walter Hochzeit halten – entsprechend trägt der dritte Idyllen-Teil den Titel „Der Brautabend“. Dieser erweist sich jedoch nicht als Gegenstand des Textes, sondern nur als Andeutung dessen, was geschehen wird, sobald die dargestellten Vorbereitungen für die Hochzeit abgeschlossen sind und diese vollzogen sein wird. Auch hier bildet der ‚coitus procrastinatus‘ also erneut das Programm des Textes, denn das, was der Titel ‚verspricht‘, wird aufgeschoben und so ins ‚Imaginäre der LeserInnenseelen‘ ausgelagert. Bei den Vorbereitungen zur Hochzeit hilft Luises Freundin Amalia, die sie buchstäblich zur Braut präpariert. Amalia schlägt Luise nicht nur vor, einen Brautkranz aus Myrte zu tragen (vgl. 70,132), was traditionell die Jungfräulichkeit der Braut symbolisiert,238 sie macht aus Luise eine regelrechte Kunstfigur: Aber Amalia stand, und schlichtete sanft die Locken / Mit weitzahnigem Kamm, und freute sich des Geringels; / Ordnete dann und flocht, nach der Sitte der attischen Jungfraun: / So wie Praxiteles einst und Phidias Mädchen des Himmels / Bildeten, oder sich selber die Mus’ Angelika mahlet: / Also schuf sie das lockre Geflecht, das, in Wellen sich blähend, / Mit nachlässiger Schwingung zurück auf die Scheitel gerollt war. / Aber des Nackens Weiß’ umflatterte zartes Gekräusel, / Gleichsam entflohn; und vorn, um Hals und Schulter sich windend, / Schlängelten ihr zwo Locken hinab auf den wallenden Busen. (70,141–150)

Für Amalia ist das Frisieren eine künstlerische Tätigkeit, was durch den Vergleich mit den antiken Bildhauern Praxiteles und Phidias genauso deutlich wird wie durch die Anspielung auf die im 18. Jahrhundert populäre schweizerische Malerin Angelica Kauffmann. Diese dreifache Betonung von Luises ‚Kunsthaftigkeit‘ würde wohl selbst einen Dorian Grey vor Schreck altern lassen, zumal ihre ‚Künstlichkeit‘ noch gesteigert wird, wenn Amalia ihr ‚Geschöpf‘ mit griechischen Göttinnen vergleicht: „Bräutchen, das Haupt ist geschmückt, wie den Grazien, und wie der Hebe, / Wenn sie im Frühlingstanz sich vereinigen um Afrodite“ (71,156f). Dass Luise als po(i)etische Braut tatsächlich der Aphrodite geweiht ist, legt bereits der aus Myrte geflochtene Brautkranz nahe, denn in der Antike ist die immergrüne Pflanze als Liebes-Symbol der Göttin heilig.239 Der Text vermittelt Luises Künstlichkeit also über Vergleiche mit der bildenden Kunst und antiken Göttinnen, um ein anschauliches Bild der von Amalia ‚gemachten‘ 236 237 238 239

Vgl. Stichwort ‚Linde‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 172. Vgl. Stichwort ‚Linde‘, in: Zerbst/Kafka: Seemanns Lexikon der Symbole, S. 290f. Vgl. Stichwort ‚Myrte‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 201. Vgl. Stichwort ‚Myrte‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 201.

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Braut zu vermitteln. Deren Artifizialität wird noch weiter gesteigert, wenn Amalia ihre Freundin schließlich mit Wesen aus dem Bereich christlicher Mystik vergleicht, denn mit ihrem „Engelsgesicht“ wandle Luise so „anmutsvoll, als schwebe sie“ (72,187f). Auch Walter teilt diesen Eindruck, wenn er beim „Anblick seiner geschmückten / Blühenden Braut“ (73,220f) nicht nur das Moment ihrer Zugehörigkeit zu den Bereichen der Kunst und der Natur nochmals betont, sondern zugleich emphatisch ausruft: „Schön ist meine Luis’, und hold, wie ein Engel des Himmels“ (73,229). Dass der Bräutigam mit diesem Vergleich letztlich bloß eine klischeehafte Phrase drischt, weiß schon Goethes Werther, der er sich in einem seiner Briefe an Wilhelm selbst tadelt, als er seine geliebte Lotte einen Engel heißt: „Pfui! das sagt ein jeder von der Seinigen, nicht wahr?“240 Luise scheint sich ihrer Künstlichkeit wie auch der von dieser ausgehenden Wirkung sehr wohl bewusst zu sein, als die Anwesenden „im flatternden Scheine des Feuers / Ihre schöne Gestalt von Haupt zu Fuße bewundern“ dürfen (80,455f). Als ‚BrautKunstwerk‘ ist Luise zu einem betrachtenswerten Objekt geworden, was sie aber keinesfalls in eine passive Rolle gemäß dem aus patriarchaler Perspektive imaginierten Weiblichkeitsbild zu drängen scheint, denn schließlich kokettiert Luise mit ihrer Schönheit und fordert die Betrachtung ihrer Person geradezu ein. Hierdurch erscheint die vermeintlich keusche Pfarrerstochter als ein durch sie antizipierend präfigurierter moderner Vamp. Für diese Lesart spricht, dass Luise im ganzen Text insgesamt zwar dreimal als ‚Engel‘ bezeichnet, zuletzt von ihrer eigenen Mutter aber eine „Bübin“ (93,896) genannt wird. Der Begriff ist die abwertend gemeinte weibliche Form zu ‚Bube‘ und er bezeichnet letztlich eine Schurkin.241 Luise erscheint hier zwar durchaus als Vamp, wenn sie ihre weiblichen Reize, die durch Amalias kunstvolle Präparationen noch verstärkt sind, buchstäblich zur Schau stellt; dass die ‚bübische Braut‘ aber unlautere Absichten hegen könnte, wird durch ihre finale Stilisierung widerlegt. Einer der beim Hochzeitsabend anwesenden Musiker aus dem Dorf lobt nämlich Luises barmherzige Taten: Fragt nur jeglichen Menschen im Dorf; ihr sollt euch verwundern, / Was man euch alles erzählt von dem Jüngferchen! wie sie gefällig / Überall mit den Frohen sich freut, mit dem Trauernden trauert; / Dürftige speiset und tränket, den Nackenden wärmt und bekleidet, / Arm’ und verwaiste Kinder zur Schul’ anhält und versorget, / Mädchen in Handarbeit und Sittigkeit übet durch Umgang, / Und das Lager der Kranken besucht mit Trost und Erquickung! / Herr, und den heimlichen Armen, den kläglichsten! wie sie ihn ausforscht, / Und Barmherzigkeit übt, daß einer nicht weiß, wo es herkommt! / Kaum daß sie selber es weiß! Vollbrachte sie eben ein

240

241

Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. VI: Romane und Novellen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 7–124, hier: S. 19. Vgl. Stichwort ‚Bübin‘, in: Wahrig, S. 309.

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Stückchen, / Daß die Engel sich freun; dann gehet sie, mir nichts, dir nichts! (89,756–766)

Luises altruistisches Gutmenschentum, das in dieser Beschreibung deutlich wird, lässt sie letztlich als wahrhafte Heilige erscheinen und als einer solchen kann ihr nichts anderes als Glück verheißen sein. Die findet sie – so wird es durch die abschließende Szene im Text angedeutet – in der Ehe mit Walter. Auch hier ist es erneut ein Motiv aus der Bibel, das dieses Glück symbolisch veranschaulicht, denn auf der Truhe, in der sich die Bettwäsche für die Brautnacht befindet, ist eine biblische Idylle dargestellt: „[A]m Schloß war Jakob gebildet, / Seine Rahel umarmend, die Schäferin; neben dem Brunnen / Stand ein Lamm auf dem Stein, und es drängte sich trinkend die Heerde“ (92,861ff). Jakob, der Vater des sog. ‚ägyptischen Joseph‘,242 ist einer der Patriarchen, auf den die zwölf Stämme Israels zurückgehen.243 Auf der Flucht vor der Rache seines Bruders Esau, den Jakob um den Segen ihres Vaters Isaak betrogen hat, begegnet er seiner großen Liebe Rahel. Das Motiv auf dem Schloss der Truhe zeigt die erste Begegnung der beiden, als Rahel mit ihrer Herde zum Brunnen kommt, um die Tiere zu tränken.244 Jakob selbst gilt als geschickter Hirte und die Idylle auf der Truhe kann demnach als buchstäbliches ‚eidyllion‘ bezeichnet werden, das als finales ‚kleines Bild‘ der Protagonistin ein Happy End verheißt. Dieses gestaltet der Text abermals gemäß dem ihm eingeschriebenen Programm als ‚coitus procrastinatus‘ und zwar in Form des Aufbruchs von Luise und Walter während der Hochzeitsfeier nach der Vermählung, wenn es heißt: „rasch in dem Aufruhr / Flog mit der Braut aus der Thüre der Bäutigam“ (93,907f). Wenn zwei Frischvermählte so abrupt wie rasch zur Tür hinausfliegen, dann „stürzt man zu zweit ins Himmelreich...“, wie es in Olaf Gulbranssons ‚Katastrophen-Idylle‘ „Frühlings-Erwachen“ heißt.245 Die Idylle hat Luise und Walter somit zwar zu Eheleuten gemacht, doch indem das verheiratete Paar zur Tür ‚hinausfliegt‘, verlässt es buchstäblich den Text und damit zugleich den geschützten Raum der Idylle. Mit Blick auf das hier Nachfolgende lässt sich daraus die These ableiten, dass die Ehe der Idylle genauso abträglich ist wie eine weibliche Gärtnerin dem Idylle-Machen.

242 243 244 245

Vgl. Krauss/Uthemann: Was Bilder erzählen, S. 198. Vgl. Krauss/Uthemann: Was Bilder erzählen, S. 193. Vgl. Krauss/Uthemann: Was Bilder erzählen, S. 195. Gulbransson, Olaf: „Frühlings-Erwachen“ [III,3], in: ders.: Idyllen und Katastrophen. Heitere Bildergeschichten mit Versen von Dr. Owlglaß, München: Piper 1951, S. 10f, hier: S. 11.

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2.1.3Die Gender-Poetik idyllischer Verwicklungen: Marlene Streeruwitz’ „Andrea S.“ (versus Goethes ‚Werther‘) Idylle-Machen, wie es der Hirte Lycas in Salomon Gessners Idylle von der Erfindung der Gärten praktiziert, erweist sich als eine poiesis, die letztlich das Fingieren selbst fingiert: Als bukolischer Poet macht Lycas die geplante Gestaltung eines locus amoenus im Gedenken an die Begegnung mit seiner Geliebten Daphne zum Gegenstand einer ‚lediglich‘ imaginären Idylle. Diese führt damit das ihr eingeschriebene logozentrische Programm performativ vor, denn anders, als es in Goethes Faust heißt, steht im Anfang von Lycas’ po(i)etischer Schöpfung nicht die Tat.246 Vielmehr erweist sich das fortwährende Fingieren einer ‚idyllischen Tat‘ als erzählerischer Anlass für ein beständiges Sprechen über Lycas’ Idylle-Machen, das als imaginiertes Vorhaben sprachlich umgesetzt wird: Im Gegensatz zur Luise von Voß ist Gessners Lycas-Idylle damit im Barthes’schen Sinn ein Text der Lust, „der befriedigt, erfüllt, Euphorie erregt“ – gerade weil er „von der Kultur herkommt“ und „nicht mit ihr bricht“:247 Gemäß Lichtenbergs aphoristischem Diktum bedeutet Erfinden nämlich nichts anderes als Umformen – das zu Erfindende muss also bereits vorhanden sein. Deshalb existiert der Garten schon vor seiner imaginären Einrichtung im Text als Idylle. Diese ‚berichtet‘ daher statt vom „Vergehen vor Lust“ vom (imaginierten) „Befriedigtsein“,248 das Lycas durch die geplante Errichtung seines Denkmals für Chloe genauso erlangt wie das erzählende Ich durch sein Gedicht für Daphne. Ein solches Idylle-Machen, das einen Text der Lust schreibt, ist logozentrisch, denn es „akzeptiert den Buchstaben“,249 über den es uneingeschränkt verfügt, so wie beispielsweise das lyrische Ich in Wilhelm Lehmanns Gedicht „Mond im Januar“: Direkt der erste Vers illustriert das logozentrische Paradigma, wenn es in Anlehnung an die biblische Schöpfungsgeschichte der Genesis heißt: „Ich spreche Mond, da steht er“.250 Zugleich verzichtet ein solch logozentrisches Idylle-Machen auf die Wollust, durch die „sein Verhältnis zur Sprache in eine Krise“ gebracht würde,251 und fingiert stattdessen 246

247 248 249 250

251

„Mir hilft der Geist!“ ruft Faust endlich aus, nachdem er beim Versuch einer Übersetzung des Neuen Testaments fast verzweifelt wäre, denn: „Auf einmal seh’ ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ (Goethe: Faust [V. 1236f], HA: III, S. 44.) Fausts logozentrismuskritische Reflexion über den ersten Vers des Johannes-Evangeliums erweist sich als höchst ambivalent, was sich vor allem an der Widersprüchlichkeit seines translatorischen Exorzismus zeigt, der ausgerechnet mit der Hilfe des Geistes den Logos aus der Bibel vertreibt: Schrittweise sucht Faust nach Substitutionen für den biblischen Signifikanten und gelangt so vom Wort zum Sinn, vom Sinn zur Kraft und schließlich zur Tat. Barthes: Die Lust am Text, S. 22. Barthes: Die Lust am Text, S. 30. Barthes: Die Lust am Text, S. 32. Lehmann, Wilhelm: „Mond im Januar“, in: ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. III: Essays, Gedichte, [Gütersloh:] Sigbert Mohn Verlag 1962, S. 449. Barthes: Die Lust am Text, S. 22.

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deren „Vergegenwärtigung“, wie sie Lycas vorführt, wenn er ostentativ die buchstäbliche Sagbarkeit der Lust durch eine imaginäre Idylle als „konstative Gegenwart“ darstellt.252 Diese erweist sich jedoch als regelrechte ‚ästhetische Täuschung‘, was Lycas durch einen nicht unerheblichen rhetorischen Aufwand kaschiert. Auf diese Weise erhebt sich der dichtende Hirte sprachlich zum „Herrn vom Garten“ – ganz so, wie Goethes Werther, als dieser Wilhelm von seiner Entdeckung berichtet, die der vor ‚idyllischen Verwicklungen‘ mit einer ihm zugetanen Dame Geflohene in der „Einsamkeit“ einer „paradiesischen Gegend“ gemacht hat:253 Werthers Entdeckung ist der Garten eines „verstorbenen Grafen von M..“, wo er die „unaussprechliche Schönheit der Natur“ genießen und imaginieren kann, wie er ohne eigenes Dazutun dieses „Lieblingsplätzchen“ des „Abgeschiedenen“ mit Hilfe eines Gärtners, der „sich nicht übel dabei befinden“ soll, in seinen Besitz bringen wird (8). Für Gessners Lycas wie für Goethes Werther ist ihr jeweiliges logozentrisches IdylleMachen mit Hilfe einer zum Medium sekundarisierten Sprache zugleich ein männliches Privileg. Herrschaft über den Garten ist Herrschaft über die Sprache und diese liegt in der Verfügungsgewalt des sich durch das Idylle-Machen seiner Männlichkeit versichernden ‚Schöpfers‘, denn ihm „steht das Wort ja so was zu Gebot“, wie es Robert Gernhardt im ersten Vers seines Gedichts „Sprechen und Schweigen“ formuliert.254 Gender erweist sich daher als konstitutive Kategorie für die Poetizität der Idylle, die somit als Projektionsraum für Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfe lesbar wird. Diese entsprechen einerseits dem dominant heteronormativen Paradigma einer patriarchalisch strukturierten Kultur und bekräftigen andererseits das in ihnen sich artikulierende Prärogativ männlicher Herrschaft, wie es exemplarisch auch Werthers anderen idyllischen Imaginationen eingeschrieben ist. In seinem dritten Brief an Wilhelm berichtet der junge Leidende von einem idyllisch gelegenen Brunnen, den er nahezu täglich bei seinen Spaziergängen im Umland der Stadt aufsucht: „Du gehst einen kleinen Hügel hinunter, und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt.“ (9f) Durch eine „kleine Mauer, die oben umher die Einfassung macht“, sowie durch die dort wachsenden „hohen Bäume, die den Platz umher bedecken“, erscheint diese Idylle als hortus conclusus, wo Werther „die Mädchen aus der Stadt“ beim Wasserholen beobachtet (10). Die Arbeit der jungen Frauen idealisiert er als „das harmloseste Geschäft und das nötigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten“ (10). In dieser Idylle vergegenwärtige sich ihm „die patriarchalische Idee so lebhaft“, weil Werther sich an die Stelle der „Altväter“ versetzt fühlt, „wie sie [...] am 252 253

254

Barthes: Die Lust am Text, S. 32, Hervorhebung i.O. Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA: VI, S. 8. Die nachfolgenden Zitate werden ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt. Gernhardt, Robert: „Sprechen und Schweigen“, in: ders.: Gesammelte Gedichte. 1954–2004, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 170f, hier: S. 170.

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Brunnen Bekanntschaft machen und freien“ (10). Wie Lycas imaginiert also auch Werther seine Idylle, worüber er zu Beginn des Briefes an Wilhelm reflektiert, wenn er schreibt, dass er nicht wisse, „ob täuschende Geister um diese Gegend schweben“, oder ob es „die warme himmlische Phantasie“ in seinem Herzen sei, die ihm „alles rings umher so paradiesisch macht“ (10). Trotz ihrer affirmativen Darstellung patriarchalischer Genderkonzepte weisen derartige idyllische Imaginationen aber auch Brüche oder zumindest „die Spur eines Bruchs“ auf,255 durch die die Ambivalenzen des Imaginierten herausgestellt werden und der Text der Lust übergeht in einen Text der Wollust: Gessners Lycas täuscht die Idylle bloß vor und kaschiert diese Täuschung; die Harmonie der in Voß’ Luise präsentierten familiären Idylle wird durch eine in der gehemmten Figuration der Protagonistin angelegte Erotik infrage gestellt. Ähnliches trifft auf die patriarchalischen Phantasien zu, denen sich Goethes Werther hingibt, denn diese werden insbesondere durch ihre Idealisierung konterkariert: Wenn Werther beschreibt, wie er in dem von ihm ‚Wahlheim‘ getauften Dorf – das idyllisch abgeschieden außerhalb der Stadt liegt – für sich Zuckererbsen bereitet und diese banale Tätigkeit mit dem Festmahl der Freier der Penelope in Homers Odyssee vergleicht, dann konstituiert dies eine Inkongruenz, die so komisch wirkt wie Werthers affirmative Reflexion über sein in dieser Idylle ermöglichtes ‚patriarchales Leben‘: „Es ist nichts, das mich so mit einer stillen wahren Empfindung ausfüllte, als die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann.“ (33, Hervorhebungen N.J.) Anders, als er es sich selbst glauben machen will, ist Werthers patriarchalische Wahlheim-Idylle eine höchst künstliche, die keinesfalls der Affektationen entbehrt, sondern für den Idylle-Machenden überhaupt erst durch sie zum Gegenstand seiner Patriarchats-Imaginationen werden kann. Wie der idyllische Raum sind also auch die dort verhandelten Entwürfe von Männlichkeit und Weiblichkeit Teil der idyllischen poiesis, weshalb sie als Konstrukte die Poetizität der Idylle gleichsam bedingen und veranschaulichen. Dies wird in der Erzählung „Andrea S.“ von Marlene Streeruwitz thematisiert, die sich dergestalt aus einer feministischen Perspektive in die Tradition der Idylle einschreibt und über die genuine Genderung des Idylle-Machens reflektiert.256 Diese birgt ein ‚katastrophisches Gefährdungspotenzial‘ für die Idylle und das wiederum macht die Erzählung zu ihrem Gegenstand: Die Ehe von Andrea und Joachim steht vor dem Aus, was die scheiternden Versuche zur Einrichtung eines Dachgartens allegorisch veranschaulichen. Die Idylle auf dem Dach der Wiener Wohnung erweist sich für das Ehepaar somit als Prüfstein seiner Beziehung: Obschon diese den Anschein einer gleichberechtigten Partnerschaft erweckt, 255 256

Barthes: Die Lust am Text, S. 31. Nachfolgend werden Zitate aus der Erzählung ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt. Die Unterscheidung zu Zitaten aus Goethes ‚Werther‘ ergibt sich aus dem Kontext.

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zeigt Andreas erfolgloses Idylle-Machen die „hierarchisch-patriarchale Struktur“ ihrer Ehe sowie der bestehenden „gesellschaftlich[en] Verhältnisse“ auf,257 denn die Einrichtung der Dachterrasse gelingt erst, als Joachim das ‚gärtnerische Kommando‘ von Andrea übernimmt. Joachims Eingreifen stellt zwar die von Andrea bedrohte patriarchalische Ordnung des Idylle-Machens wieder her, es verhindert aber nicht die sich daraus ergebenden ‚idyllischen Verwicklungen‘. Diese werden als eine sich von Beginn an abzeichnende finale Katastrophe in der Erzählung präsentiert: Die von Joachim gemachte Idylle ist nämlich insofern ‚impotent‘, als die Dachterrasse nicht für ein gemeinsames Abendessen genutzt werden kann. Aufgrund des dort zu stark wehenden Windes muss es ersatzweise auf dem kleinen Balkon eingenommen werden, wo sich Joachim in dem für den Balkontisch viel zu großen Tischtuch verwickelt, das Andrea absichtlich so drapiert hat, um genau diese ‚Katastrophe‘ zu verhindern. Angesichts der Banalität der dargestellten Ereignisse auf der Dachterrasse und der auf den Balkon ausgelagerten Katastrophe erweist sich die Erzählung als Musterbeispiel für Streeruwitz’ literarisches Sezieren des Alltags „mit seinen Wiederholungen, seinen Gewohnheiten, seiner lebensfüllenden Breite“258 – und eben auch seinen noch so trivialen Katastrophen, zu denen sich die „Partikel des Alltäglichen“ in Streeruwitz’ Texten verdichten:259 In erzählerisch konzentrierter Form läuft in „Andrea S.“ alles auf die Katastrophe der ‚idyllischen Verwicklungen‘ heraus. Sie bilden den Auftakt für insgesamt zehn weitere kurze Erzählungen, die in Das wird mir alles nicht passieren... Wie bleibe ich FeministIn. versammelt sind. Der zweigliedrige Titel dieser Sammlung hat programmatischen Charakter: Das erste Titelelement ist eine nachgerade apotropäisch wirkende Aussage, deren Subjekt (‚das‘) implizit auf Geschehnisse verweist, die das als Objekt dieses Satzes auftretende sprechende Ich (‚mir‘) nicht erleben will. Das zweite Element des Titels erweist sich aufgrund der syntaktischen Inversion – durch die auf das Pronomen ‚wie‘ am Satzanfang zunächst das Prädikat und erst dann das Subjekt des Satzes folgt – als Formulierung einer Frage, die dem Erzählband nachgerade den Anschein eines Ratgebers verleiht und die Erwartung erzeugt, dass das Folgende erstens Tipps bereitstelle, die vor jenen ‚schlimmen Ereignissen‘ schützen, die man nicht erleben will, und dass die Befolgung dieser in Aussicht gestellten Tipps zweitens dazu verhelfe, erfolgreich und beständig eine feministische Position zu vertreten. Der Erzählband ist aber kein Feminismusratgeber. Darauf verweist die Interpunktion, mit der das zweite Titelelement abschließt: Statt eines Fragezeichens steht hier ein 257

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Kedveš, Alexandra: „‚Geheimnisvoll. Vorwurfsvoll. Aber zusammenhängend.‘ Marlene Streeruwitz’ Romane, Frauengeschichten und Männergespräche“, in: text+kritik (164) 2004, S. 19–36, hier: S. 23. Döbler, Katharina: „Schlussfolgerungen aus einem Selbstversuch. Darf man die Bücher von Marlene Streeruwitz ohne Beipackzettel lesen?“, in: text+kritik (164) 2004, S. 11–18, hier: S. 15. Döbler: „Schlussfolgerungen aus einem Selbstversuch“, S. 17.

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Punkt. Dieser verweist auf den idiosynkratischen Gebrauch von Satzzeichen, wie er für Streeruwitz’ feministische ‚Poetik des Schweigens‘ kennzeichnend ist, die Hildegard Kernmeyer untersucht: Demnach stehe gerade der Punkt bei Streeruwitz für „etwas, das nicht ausgesprochen werden kann“, sodass er als „ein signifikantes Zeichen für eine Abwesenheit“ erscheine, „die er umgekehrt durch seine Präsenz anwesend“ mache.260 Die dergestalt erzeugte ‚abwesende Anwesenheit‘ ist im Fall des Titels demnach die Frage, ob es überhaupt möglich sei, FeministIn zu bleiben, während ein kulturell hegemoniales „kolonialistisch-patriarchales Signifikationssystem“ das Weibliche beständig „als semantische ‚Leerstelle‘“ entwirft, die lediglich als ein ‚Unsagbares‘ verhandelt werden kann, das zugleich mit „variablen Bedeutungen belegt“ ist.261 Ein so entworfenes Konzept degradiere das Weibliche zur bloßen „Summe patriarchaler Wesenszuschreibungen“, die, so resümiert Kernmayer, „weder weibliche Selbstentwürfe noch eigene Deutungen der Welt“ ermöglichen.262 Das logozentrische Idylle-Machen, wie es die Erzählung „Andrea S.“ thematisiert, erweist sich daher als ein literarisches wie auch kulturkonstitutives Verfahren, durch das diese „patriarchale Verfasstheit der Welt“ überhaupt erst hervorgebracht und zugleich stabilisiert wird.263 Genau damit setzt sich Streeruwitz’ „feministisches Schreiben“ letztlich auseinander, wenn es „das im patriarchalischen Diskurs Verschwiegene zu artikulieren“ versucht.264 In „Andrea S.“ werden die (Un-)Möglichkeiten für eine solche Artikulation durch ein weibliches Idylle-Machen verhandelt. Wie bei allen der elf Erzählungen des Bandes, deren Titel nach dem gleichen Muster gebildet sind, wird auch in „Andrea S.“ etwas verschwiegen und das ganz buchstäblich, denn der als Titel gesetzte Name der Protagonistin ist insofern unvollständig, als nur der Vorname genannt wird, während der Nachname durch eine Initiale abgekürzt ist. Dies erweist sich hier – gerade mit Blick auf die ‚idyllischen Verwicklungen‘ in der Erzählung – als genderspezifisch hoch bedeutsam, denn der weibliche Vorname ‚Andrea‘ ist in anderen europäischen Sprachen ein männlicher, während er im Deutschen seine männliche Entsprechung in der Form ‚Andreas‘ hat: Der Titel der Erzählung verweist damit implizit auf beide Formen des Namens, die männliche wie die weibliche. Die geschlechtliche Identität der titelgebenden Hauptfigur, aus deren Perspektive eine auktoriale Erzählinstanz die Geschichte schildert, ist schnell geklärt, wenn medias in res die 260

261 262 263 264

Kernmayer, Hildegard: „Poetik des Schweigens. Poetik der Brechung. Poetik des Banalen. Écriture féminine. Zu Marlene Streeruwitz’ poetologischen Konzepten“, in: Höfler, Günther A./Melzer, Gerhard (Hgg.): Marlene Streeruwitz, Graz/Wien: Literaturverlag Droschl 2008, S. 29–45, hier: S. 35. Kernmayer: „Poetik des Schweigens“, S. 31. Kernmayer: „Poetik des Schweigens“, S. 32. Döbler: „Schlussfolgerungen aus einem Selbstversuch“, S. 11. Lorenz, Dagmar C. G.: „Feminismus als Grundprinzip und Autorenposition [sic!] bei Marlene Streeruwitz“, in: Bong, Jörg/Spahr, Roland/Vogel, Oliver (Hgg.): „Aber die Erinnerung davon.“ Materialien zum Werk von Marlene Streeruwitz, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 51–73, hier: S. 51.

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Vorbereitungen für das gemeinsame Abendessen von Andrea und Joachim beschrieben werden, das den Rahmen der Erzählung bildet: „Sie trug das Tischtuch durch das Schlafzimmer und breitete es über den kleinen Tisch auf dem winzigen Balkon.“ (5) Das Tischtuch, das später die Katastrophe der ‚idyllischen Verwicklungen‘ auslösen wird, ist also schon zu Beginn der Erzählung als starkes Motiv gesetzt, besonders wenn nochmals explizit betont wird, dass das Tischtuch „für den kleinen Tisch viel zu groß war und auf dem Boden auflag“ (5). Für die Balkonmöbel ist das Tuch deshalb unpassend, weil der Balkon als Ort für das gemeinsame Essen lediglich eine Verlegenheitslösung darstellt: Eigentlich wollen Andrea und Joachim nicht dort speisen, aber „[m]an konnte auf der Dachterrasse oben nicht essen. Es war zu stürmisch.“ (5) Der den Auftakt der Erzählung bildende Ortswechsel für das abendliche Essen verweist strukturell auf die Probleme bei der Einrichtung der Dachterrasse sowie auf die Komplikationen in der Ehe von Andrea und Joachim, denn auch die Verschiebung des Essens von der Terrasse auf den Balkon erweist sich als eheliche Machtprobe, in der das Konfliktpotenzial der Geschlechterrollen anschaulich wird. Joachim macht Andrea für den ungeplanten Umzug vom Dach auf den Balkon verantwortlich, obwohl es das stürmisch-schwüle Wetter ist, das ein Abendessen auf der Terrasse verhindert: „Aber er tat so, als wäre der Sturm und die Hitze von ihr herbeigerufen, damit sie die Dachterrasse verlassen und auf dem kleinen Balkon essen mussten. Es war zu heiß und zu stürmisch. Daran konnte sie doch nichts ändern.“ (5) Dass ausgerechnet ein derart ‚leidenschaftliches‘ Wetter den Grund für das Verlassen der Dachterrasse darstellt, erweist sich als überaus ‚idyllische Ironie‘, denn obwohl Andrea Joachim „keinen Vorwurf wegen des Sex“ macht, wie es ganz zu Beginn der Erzählung heißt, ist zwischen ihnen gerade deshalb „alles sehr schwierig geworden [...], weil sie im Bett nicht mehr zueinander fanden“ (5). Nachdem Joachim sich selbst davon überzeugt hat, „dass man oben nicht essen konnte“ (5), ist es dann Andreas alleinige Aufgabe, den lukullischen Umzug zu bewältigen: „Sie hatte alles wieder hinuntertragen müssen. Teller. Besteck. Gläser. Servietten.“ (5) Die asyndetische Reihung bewirkt hier die erzählerische Konzentration einer Iteration, die der vorangehende Satz als Paradigma des Heruntertragens vorgibt: Der Satz ‚Sie hatte alles wieder hinuntertragen müssen.‘ benennt den Vorgang und die Auflistung der einzelnen Elemente des Gedecks zeigt die Anzahl seiner Wiederholungen an, die – so suggeriert es die erzählerische Präsentation – insgesamt viermal erfolgt, indem Andrea zunächst die Teller hinunterträgt, dann das Besteck, die Gläser und schließlich die Servietten. Der Punkt, mit dem anstelle eines Kommas hier die einzelnen Signifikanten gewissermaßen durch Abtrennung verbunden sind, erweist sich dabei allerdings weniger als „Stilmittel des Abwürgens“, sondern vielmehr als eine „strukturbildende Kraft“,265 die sowohl in der Syntax der Erzählung wirkt als auch in der Beziehung von Andrea und 265

Kedveš: „‚Geheimnisvoll. Vorwurfsvoll. Aber zusammenhängend.‘“, S. 22.

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Joachim: So wie die Signifikanten sind auch die beiden Figuren in ihrer nachidyllischen Ehe abgetrennt von- und dennoch miteinander verbunden. Anders als Luise und Walter bei Voß haben Andrea und Joachim bei Streeruwitz ihren – mit Gulbransson gesprochen – gemeinsamen ‚Sturz ins Himmelreich‘ längst hinter sich: Der gesellschaftliche Zweck ihrer Verbindung hat sich erfüllt, „nachdem die Kinder aus dem Haus waren“ (10), und „[d]er tägliche Sex war sowieso irgendwann aufgegeben gewesen“ (12), sodass alle anderen Aktivitäten, die das Paar bis dahin miteinander geteilt hat, ihren ehelich verbindenden ‚Sinn‘ verlieren: „Essen und Trinken und Sex und Reden und Lachen“ (16). Die Rhetorik des Zusammenlebens kennt nur zwei Tropen: die Parenthese im Anfang der Idylle, wie sie Luise und Walter bei ihren Spaziergängen im Wald erleben, und das Asyndeton im Anfang ihres Endes, das Andrea und Joachim durch das Scheitern ihrer Beziehung erfahren. Auch wenn ein schrittweiser ‚Abbau‘ des Gedecks für den Umzug von der Dachterrasse auf den Balkon – wie ihn die Erzählung in einem von Streeruwitz in ihren Tübinger Poetikvorlesungen selbst so genannten asyndetischen „Stakkato des Gestammels“,266 das durch den Punkt strukturiert ist, präsentiert – vollkommen umständlich erscheinen mag, würde der erschwerte Zugang zur Terrasse, der durch das „Schlafzimmer“ (5) über eine „Wendeltreppe“ (6) erfolgt, allerdings rein sachlogisch für dieses mühsame Vorgehen sprechen. Zugleich etabliert die so von Andrea allein verrichtete Tätigkeit des Abräumens sie in Opposition zu Joachim, der sich durch ein ökonomisch effektives Denken auszeichnet, das Kosten gegen Nutzen abwägt. Dies wird an seiner Bemerkung über die letztlich vom ihm getroffene Entscheidung zur Verschiebung des Essens auf den Balkon deutlich: „Wozu man nun diesen Aufwand betrieben hätte, hatte er gestöhnt. Wenn man die Dachterrasse ohnehin nie benutzen konnte.“ (6) Joachims erste Aussage ließe sich noch auf den Wechsel der Örtlichkeit für das Abendessen beziehen, während die zweite darauf hinweist, dass seine vorangehende Bemerkung auf die Dachterrasse bezogen ist, deren Einrichtung insofern nicht ökonomisch scheint, als diese zum einen mit großem „Aufwand“ erfolgt sein müsse, der sich zum anderen deshalb offenbar nicht gelohnt habe, weil man die Terrasse nun nicht nutze. Andrea hingegen rechtfertigt den von Joachim kritisierten Aufwand – für die Verlegung des Essens wie auch die Einrichtung der Dachterrasse – und sucht den Grund dafür, dass sie diesen Platz so wenig nutzen, in ihrer jeweiligen beruflichen Situation: „Sie seien zu wenig zu Hause, hatte sie gesagt. Man müsse die Gelegenheiten abwarten können und nicht nach einem Terminplan leben.“ (6) Der ‚Umzug‘ von der Dachterrasse auf den Balkon wird für Andrea zum Moment des Nachdenkens – über diese Terrasse sowie über ihre Beziehung zu Joachim. Andreas Reflexionen sind dabei idyllisch vermittelt, denn „[s]ie war oben“, also auf der Dach-

266

Streeruwitz, Marlene: Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Tübinger Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 76.

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terrasse, „stehen geblieben und hatte in die Ebene hinausgeschaut“ (6). Der Blick in die Landschaft ermöglicht Andrea eine Introspektion, die erzählerisch als Retrospektive dargestellt wird, wenn sie über dem Abräumen des Gedecks darüber nachdenkt, wie es zum Idylle-Machen auf dem Dach gekommen ist: „Zuerst war es ihre Aufgabe gewesen, den Bau der Dachterrasse zu beaufsichtigen. Dann war es ihre Aufgabe geworden, den Dachgarten einzurichten.“ (6) Andrea sind also zwei Aufgaben zugekommen: die passive Beaufsichtigung der Bauarbeiten und die aktive der gärtnerischen Einrichtung der Terrasse. Vor allem wird sie aber deshalb zur Idylle-Macherin, weil es aus Joachims ökonomischer Sichtweise effektiv erschienen ist: „Sie arbeite schließlich nur 30 Stunden, war gesagt worden. Sie hätte also Zeit.“ (6) Die Passivkonstruktion der Inquitformel im Anschluss an die indirekte Wiedergabe direkter Rede im Konjunktiv entbehrt der grammatikalischen Logik nach hier zwar eines syntaktischen Subjekts, macht aber ein sprechendes Subjekt implizit in seiner Abwesenheit gegenwärtig: Das Vorgangs- bzw. ‚werden‘-Passiv, das durch das Fehlen der Angabe des Agens gekennzeichnet ist, präsentiert dieses hier durch eine Ellipse. Sie verweist auf Joachim, der Andrea die Aufgabe der Dachterrasseneinrichtung überantwortet, weil sie weniger Stunden in der Woche arbeite als er. Die Erzählung gibt aber mit dieser Konstruktion nicht bloß aus Andreas Perspektive das wieder, was ihr Ehemann zur ihr gesagt habe – die dergestalt präsentierte indirekte Rede im Konjunktiv samt Inquitformel im Passiv setzt Joachim, der hier ‚zitiert‘ wird, an die Position des nach patriarchaler Logik als männlich gedachten Gottes. Dieser tritt nämlich genauso in Erscheinung wie Joachim hier in der Erzählung: Als körperlose Stimme, deren Wort Folge zu leisten ist. Aus Andreas weiblicher Perspektive avanciert die auf Joachim verweisende Passivkonstruktion ‚Es war gesagt worden‘ somit zum logozentrischen Signum ihres ‚irdischen Herrn‘. Mit seiner ‚herrschaftlichen‘ Bestimmung über die Einrichtung des Dachgartens verfügt Joachim zugleich über Andreas Zeit, von der sie angeblich mehr zur Verfügung habe als er. Den Grund dafür erkennt Joachim nicht als gültig an, denn Andrea „hatte ihre Arbeitszeit in der Klinik auf diese 30 Stunden reduziert, weil sie daneben an einem Forschungsprojekt mitarbeitete und sich damit habilitieren wollte. Darüber wurde nicht gesprochen. Das wurde als ihr Hobby angesehen.“ (6) Die in Form einer weiteren Passivkonstruktion gemachte Aussage, dass darüber nicht gesprochen wurde, erweist sich als doppelt ambivalent: Der erneute Gebrauch des Passivs lässt an dieser Stelle keine zweifelsfreie Schlussfolgerung auf das fehlende Agens zu – es könnte sowohl Andrea als auch Joachim sein oder aber beide zugleich. Wäre es Joachim, würde die Verweigerung des Sprechens über die Gründe dafür, dass Andrea weniger arbeite als er und daher die Einrichtung der Dachterrasse übernehmen solle, seine hegemoniale männliche ‚Herrschaftsposition‘ bestätigen: Sein – gottgleiches – Wort ist Gesetz. Wird Andrea als Agens der Passivkonstruktion angenommen, dann würde dies – genauso wie die Möglichkeit, dass beide Ehepartner als Agens stehen können – auf die

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offensichtlich problematische Situation in ihrer Beziehung verweisen, in der eben nicht mehr miteinander gesprochen wird über Dinge, die letztlich beide Partner betreffen. Genauso ambivalent wie die Agens-Frage erscheint in dieser Passivkonstruktion auch das Pronominaladverb ‚darüber‘, weil es sich einerseits auf die Tatsache beziehen ließe, dass Andrea aufgrund ihres Habilitationsprojekts mit weniger Stunden in der Woche ihrer regulären Arbeit nachgeht als Joachim, und andererseits auf die sich hier durch weitere fehlende Informationen in der Erzählung ergebende Möglichkeit, dass die beiden Ehepartner nicht miteinander über dieses für Andreas Karriere wichtige Vorhaben sprechen. Die anschließende Aussage, dass dies als ihr Hobby angesehen wurde, würde für die letztgenannte Lesart sprechen. Die aufgezeigten Ambivalenzen einer so ‚harmlosen‘ Aussage wie ‚Darüber wurde nicht gesprochen.‘ verdeutlichen, dass die Diskriminierung gegenüber Frauen „in der patriarchalischen Gesellschaft von Männern und Frauen praktiziert“ werde, „denn beide Geschlechter partizipieren, obwohl nicht als Gleichgestellte, an den herrschenden misogynen Kommunikations- und Lebensformen“.267 Gerade die dominante Verwendung von Passivkonstruktionen, mit denen in der Erzählung aus der Perspektive von Andrea das wiedergegeben wird, was Joachim (und später dann auch andere männliche Figuren) ihr gegenüber erwidern, erweist sich als eine feministische Sprachkritik. Diese erfolgt in Form eines literarischen Textes und führt daher gewissermaßen performativ vor, „dass es sich auch bei der Grammatik lediglich um eine ‚Herrschaftsvereinbarung‘ handle“.268 Damit bestätigt sich letztlich August Wilhelm Schlegels Aussage im 209. Athenäumsfragment, wo es heißt, dass die „Herrschaft der Sprache über die Geister“ offenbar sei.269 Genauso offenbar wie über die Geister herrscht die Sprache auch über die Konstruktion von Gender beim Idylle-Machen, denn anders als beispielsweise Gessners Lycas beschreibt Andrea ihre insgesamt drei vergeblichen Versuche zur Einrichtung des Dachgartens rhetorisch schmucklos durch eine anaphorische Reihung von Hauptsätzen. Hierdurch erscheint ihr weibliches Idylle-Machen als eine mühevolle po(i)etische Praxis. Weil diese zudem erfolglos bleibt, wird sie schließlich von Joachim fortgeführt: Nach ihren drei Versuchen mit der Dachterrasse hatte er es dann übernommen. Sie hatte es zuerst selbst machen wollen. Sie hatte Bücher studiert. Sie hatte mit anderen Dachgartenbesitzerinnen geredet. Sie hatte im Internet recherchiert. Sie hatte Gartengeräte besorgt. Sie hatte Erde geschleppt. Blumentöpfe gehievt. Sie hatte die Pflanzen hinaufgetragen. Nach zwei Jahren waren alle Rosensträucher, 267

268 269

Lorenz: „Feminismus als Grundprinzip und Autorenposition [sic!] bei Marlene Streeruwitz“, S. 59, Hervorhebung N.J. Kernmayer: „Poetik des Schweigens“, S. 39. Schlegel, August Wilhelm: „209. Athenäumsfragment“, in: Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe, 15 Bd.e, hrsg. von Hans Eichner, Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), Paderborn u.a.: Schöningh 1959–1995, S. 197.

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Oleanderbäumchen, Bougainvilleen, die Lorberrbäumchen und die Wandelrösschen ausgedörrt und zerzaust. (7)

Anders als Lycas, der für sein Idylle-Machen die ‚rhetorische Maschine‘ anwirft und von der Inventio über die Dispositio bis zur Elocutio und schließlich Actio sowie Memoria allen Schritten der techne rhetorike folgt, hält sich Andrea insbesondere bei der Inventio auf, sodass ihr weibliches Idylle-Machen zunächst vor allem als eine intellektuelle Tätigkeit erscheint: Sie studiert Bücher, sucht den Austausch mit anderen Gärtnerinnen und recherchiert im Internet, um sich dann derart sorgfältig vorbereitet jedoch auch an die körperliche Arbeit zu machen, die im Schleppen, Hieven und Herauftragen besteht und damit der rhetorischen Elocutio entspricht. Der zweite rhetorische Schritte des Idylle-Machens in Form der Dispositio ist in Andreas retrospektiver Beschreibung ausgespart – und auch dies erscheint als eine konstitutive Differenz zwischen männlichem und weiblichem Idylle-Machen: Während Lycas – rein imaginär – sein zukünftiges Vorhaben wie ein bereits vergegenwärtigtes erscheinen lässt, ist Andreas erzählerischer Blick in die Vergangenheit gerichtet. Angesichts ihrer dreimaligen Versuche zur Einrichtung des Dachgartens erscheint die Verwendung des Plusquamperfekts daher wie ein ironischer Kommentar ihres Scheiterns: Die Einrichtung des Dachgartens liegt in der Vergangenheit, ist aber – anders als der temporale Modus zur sprachlichen Darstellung ihres IdylleMachens – keinesfalls ‚vollendet‘. Die parataktische Aufzählung der Arbeitsschritte durch die Anapher ‚sie hatte‘ bietet sich erzählerisch als unerträglicher Iterativ dar und gerade die topographische Lage der Dachterrasse, deren semantische Merkmale ‚oben‘ und ‚hoch‘ hier vor allem durch die Verben ‚schleppen‘, ‚hieven‘ und ganz besonders ‚hinauftragen‘ aktualisiert werden, lässt Andrea in ihrem gärtnerischen (Be-)Mühen als ein weiblicher Sisyphos erscheinen. Aus der Lage der Terrasse oben auf dem Haus kann im Sinn der rhetorischen Gemeinplätze außerdem ein argumentum a loco für die konstitutive Differenz zwischen männlichem und weiblichem Idylle-Machen abgeleitet werden: Während Andrea hoch hinaus will, bleibt Goethes Werther bei seiner idyllischen Einrichtung buchstäblich auf dem Boden. Dieser ist nun aber keinesfalls jener sprichwörtliche der Tatsachen, denn in seinem Brief vom 10. Mai stellt Werther deutlich heraus, dass sein männliches Idylle-Machen ein genuin imaginäres ist: In der retrospektiven brieflichen Darstellung gegenüber Wilhelm kaschiert Werther dies in bester ‚Lycas-Manier‘ durch einen großen rhetorischen Aufwand. Dieser zeitigt das vielleicht nicht längste, in jedem Fall wohl aber prominenteste Konditionalsatzgefüge der deutschen Literaturgeschichte: Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen den Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem

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Dimensionen der Idylle Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten – dann sehne ich mich oft und denke: Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! (9, Hervorhebung N.J.)

Werthers Idylle-Machen ist eine epiphanische Kontemplation durch das buchstäbliche ‚Versinken‘ in der ihn umgebenden Natur. Ausgehend von einer makroskopischen Perspektive beschreibt er sie als Ganzes, beginnend bei Tal und Wäldern, um dann seinen Blick zusehends auf mikroskopische Details zu richten, wie sie sich ihm an seinem amönen Lagerplatz der Idylle am Bach darbieten. Indem sich sein Augenmerk auf das „Wimmeln der kleinen Welt“ richtet, wendet er sich ab vom Außen der Natur und hin zu seinem eigenen Innern. Diese ‚Seelenschau‘ erweist sich für ihn schließlich als eine Gotteserfahrung. Aus diesem Grund entsteht ein semantischer Kurzschluss zwischen Ende und Anfang: Dort steht die „hohe Sonne“, die als Symbol göttlicher Allmacht auf Gott verweist, der buchstäblich am Ende von Werthers überlanger Periode steht. Die von Werther beschriebene Idylle gerät somit zur Apotheose. Im Vergleich zwischen Werthers männlichem und Andreas weiblichem Idylle-Machen zeigt sich, dass beide in einem doppelt chiastischen Verhältnis zu einander stehen: Das erstgenannte ist nach unten und innen gerichtet, weil es von oben und außen kommt. Es reklamiert damit eine genuin männliche Position, die aufgrund ihres Vektors – Werther liegt am fallenden Bach – auf das Weibliche gerichtet ist, das es sich anzueignen gilt: Werther will „näher an der Erde“ sein und diese gilt symbolisch als weiblich. Entsprechend erscheint diese ‚idyllische Verwicklung‘ für Werther, als würde „die Gestalt einer Geliebten“ in seiner Seele ruhen. Durch sein Idylle-Machen substituiert er also ein Begehren, das unmittelbar wieder substituiert wird: Wie Hermann Fürst von PücklerMuskau erscheint auch der junge Leidende „idyllisch gerührt“,270 sodass er nun ein künstlerisches Begehren äußert und zwar in Form einer Variation auf den Unsagbarkeitstopos. Indem Werther die Unmöglichkeit seines artistischen Ausdrucks beklagend thematisiert, setzt er sie bereits künstlerisch um, so wie er es davor schon durch seine rhetorisch ‚ausufernde‘ Beschreibung der Idyllen-Szene getan hat. Der Aufruf des Unsagbarkeitstopos zum Abschluss seines Briefes korrespondiert mit dessen Anfang, wo Werther herausstellt: „Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken.“ (9) Was vorderhand als Scheitern des po(i)etischen Tuns ausgegeben wird, erweist sich – zumindest in der brieflichen Darstellung gegenüber Wilhelm – als ein geglücktes (männliches) Idylle-Machen. 270

Pückler-Muskau, Hermann Fürst von: Briefe eines Verstorbenen, hrsg. von Heinz Ohff, Berlin: Ullstein 2006, S. 82.

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Von diesem ist das weibliche Idylle-Machen, wie es Andrea mit der scheiternden Einrichtung der Dachterrasse praktiziert, grundlegend dadurch unterschieden, dass es erstens von unten und außen herkommt: Andrea erhält das männliche ‚Gebot‘ zum IdylleMachen von Joachim. Er wird in der Erzählung dadurch konstitutiv mit den inneren Räumlichkeiten der Wohnung in Verbindung gebracht, denn er lässt Andrea allein auf der Terrasse zurück, damit sie den ‚Umzug‘ des Abendessens auf den Balkon vornehmen kann. Das wird für sie zum Anlass ihrer Reflexion, die dann als Binnenerzählung in Form von zwei analeptischen Rückblicken dargestellt wird. Aufgrund dieser örtlichen Trennung von Andrea und Joachim steht dieser nicht nur durch das Merkmal ‚innen‘ in Opposition zu ihr, sondern auch durch das Merkmal ‚unten‘: Das Schlafzimmer, an das der Balkon angrenzt und in das Joachim zurückkehrt, nachdem er Andrea auf der Terrasse zurückgelassen hat, liegt explizit unterhalb der Dachterrasse. Dergestalt zielt das nach oben und außen gerichtete weibliche Idylle-Machen paradoxer Weise auf das Männliche, das in der abendländisch-logozentrischen Binärlogik symbolisch ‚oben‘ und damit – gottgleich – hierarchisch über dem Weiblichen steht. Anders als das aneignend aufs Weibliche gerichtete männliche Idylle-Machen zielt dessen weibliches Pendant somit nicht auf eine derartige Aneignung, sondern vielmehr auf eine substituierende Verschiebung, da es das männliche Prärogativ idyllischer poiesis infrage stellt. Aus diesem Grund ist das weibliche Idylle-Machen dem männlichen gefährlich und dieses kann jenes nur als Katastrophe denken. Sie liegt im Fall von Andreas Idylle-Machen im Scheitern ihrer drei Versuche zur Einrichtung des Dachgartens. Das gärtnerische Geschäft dazu übernimmt schließlich Joachim. Er legt die Dachterrasse durch sein genuin männliches Idylle-Machen an, indem er nicht selbst ‚Hand anlegt‘, sondern in seiner nachgerade Werther’schen Position als ‚Herr vom Garten‘ einen Gärtner einstellt. Dieser erkennt zu viel Wind als Problem und pflanzt deshalb schattenspenden Bambus als Windschutz. Doch auch diese Einrichtung scheitert, denn „[n]ach zwei Jahren waren die Bäumchen und Sträucher verkümmert und die Rosen tot.“ (8) Auch daran trägt Andrea zumindest eine Mitschuld, denn wider besseres Wissen hat sie es schweigend hingenommen, dass dieselben Pflanzen verwendet wurden, „die sie schon eingesetzt hatte“ (8). Aber sie „hatte nichts gesagt“, denn „[e]s ging nicht darum, sich vor diesem Mann zu verantworten. Sie hatte einen schönen Dachgarten haben wollen und deshalb nichts gesagt.“ (7) Nach diesem ersten ‚männlichen‘ Versuch stellt Joachim einen anderen Gärtner ein, doch es kommt wieder zur Katastrophe, denn während einer längeren Reise von Andrea und Joachim fällt die Bewässerungsanlage aus. Der zur Reparatur bestellte Fachmann vermutet die Schuld bei Andrea: „Ob sie die Anlage vielleicht falsch programmiert hätte, war sie dann vom Installateur gefragt worden.“ (8) Im dritten männlichen Anlauf gelingt die Einrichtung der Dachterrasse durch einen weiteren Gärtner, den Joachim beauftragt. Andrea findet die so entstandene „bunte Wüste“ auf dem Dach „sehr attraktiv“, obschon sie dafür keinen Gärtner gebraucht

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hätten, denn „[s]ie hätte das von Anfang an machen können“ (9). Dass sie es jedoch nicht von vornherein so gemacht hat, wie es nun am Ende geworden ist, liegt an Joachim: „Es war seine Vorstellung gewesen, die Büsche und Bäume und blühenden Rosen und Sträucher zu haben“ (9), die zur Anpflanzung auf der windigen Terrasse vollkommen ungeeignet sind. Von Beginn an stehen Andreas gärtnerische Versuche also unter dem herrschaftlichen Gebot ihres Mannes und wie sich zeigt, fällt diesem innerhalb des rhetorischen Schemas zum Idylle-Machen genau jener Arbeitsschritt zu, den Andrea ausspart, indem sie sich zunächst der Inventio und dann direkt der Elocutio zugewendet hat. Joachim hingegen ist von Anfang an offenbar für die Dispositio zuständig (gewesen): „Er war damals herumgegangen und hatte gesagt, wo er die Rosen haben hatte wollen. Wo die Oleanderbüsche. Sie hatte da noch nichts von Dachterrassen verstanden. Er auch nicht.“ (10) Die anfängliche Aussicht auf „das gemeinsame Projekt“ zur Einrichtung der Dachterrasse sei gerade aufgrund ihrer beiderseitigen Unwissenheit „ein schöner Augenblick“ gewesen (10), lässt die Erzählinstanz Andrea in erlebter Rede berichten, doch die sich einstellenden ‚idyllischen Verwicklungen‘ durch die Konkurrenz zwischen weiblichem und männlichem Idylle-Machen haben diese Aussicht nachhaltig getrübt. Nachdem die Erzählung mit dieser Analepse abgeschlossen hat, erfolgt eine narrative Aktualisierung der Rahmenhandlung, die durch das zu Anfang bereits etablierte Motiv des zu großen Tischtuchs vermittelt ist, erzählerisch aber gänzlich unmittelbar (er)folgt: „Sie hatte das Tischtuch so weit unter den Tisch geschoben, damit er nicht draufsteigen konnte und alles in einer Verwicklung von seinen Beinen im Tischtuch auf den Boden geschleudert wurde.“ (10) Andreas Arrangement des alternativen Essplatzes auf dem kleinen Balkon wird sich als nachgerade tragische self-fulfilling prophecy erweisen, weil die mit Rücksicht auf Joachims Unbeholfenheit vorausschauend gut gemeinte Maßnahme den Grund für die abschließende Katastrophe der Erzählung darstellt. Andrea lässt beim neuen Eindecken deshalb so viel Vorsicht mit dem Tischtuch walten, weil Joachim „so dick geworden“ sei, „dass er nicht mehr sehen konnte, was unterhalb seines Bauchs geschah“ (10). Auch wenn Andrea „sich nicht erinnern“ kann, „wann das mit dem Dickwerden begonnen hatte“ (10), bilden ihre fragmentarischen Erinnerungen daran den Gegenstand für den nächsten Rückblick innerhalb der Rahmenerzählung. Für Andrea ist zwar zunächst „jede Zunahme zu sehen“ (10), aber Joachim gelingt es, sein Dickwerden weitgehend zu ignorieren, weil er beispielsweise durch eine „chirurgische Maßnahme“ seine Hosen so zuschnüren kann, dass es ihm erscheint, als habe „er seinem Umfang ein Schnippchen geschlagen“ (11). Frustriert über Joachims Selbsttäuschung – in der Andrea ihn allerdings noch bestärkt, indem sie seine zu eng gewordenen Hosen heimlich gegen neue austauscht, die seiner neuen Statur entsprechen – stellt Andrea fest: „Einer Frau wäre ein solches Dickwerden nicht möglich gewesen oder sie wäre verlassen worden. Deswegen. Da war sie sicher. Wenn dieser ungeheuerliche Umfang ihr Problem gewesen wäre, Joachim hätte sie irgendwohin geschickt, sich

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darum zu kümmern [...].“ (13) Doch wie schon bei der Einrichtung der Dachterrasse verfällt Andrea auch hier in ein ohnmächtiges Schweigen und sie spricht das, was sie als störend empfindet, nicht an. Zugleich scheint es für Joachim weiterhin keinen Grund zu geben, seine Gewichtszunahme, die er durch seine Kleidung buchstäblich zu spüren bekommt, problematisch zu finden, denn „[e]s gab Schneider, die sich auf diese neuen Ausmaße spezialisiert hatten [...]. Die zeltförmigen Sakkos waren so geschickt geschnitten, dass er in Ruhe darunter zunehmen konnte.“ (13) Andreas unterschwelliger Sarkasmus zeugt von einem resignativen Humor, mit dem sie Joachims nachgerade monströs werdenden Umfang als Symptom der sich langsam und gewissermaßen Gramm für Gramm retrospektiv veranschaulichenden Katastrophe ihrer Beziehung anerkennt. Diese Erinnerungen befördern in Andrea schließlich eine existenzielle Einsicht: „Er hatte sie natürlich verlassen.“ (16) Aus den Gedanken an die Ereignisse aus Andreas Vergangenheit werden Reflexionen in ihrer Gegenwart – wie durch einen ‚harten Schnitt‘ kehrt die Erzählung dabei unvermittelt zur Rahmenhandlung zurück, indem von erlebter Rede zur erzählerischen Beschreibung aus der Außensicht gewechselt wird: Andrea, die nach wie vor mit dem ‚Umzug‘ des Abendessens von der Terrasse auf den Balkon beschäftigt ist, „musste stehen bleiben und den Gedanken wiederholen. Er hatte sie verlassen. Längst hatte er sie verlassen. Mit jedem Zentimeter seines Umfangs hatte er sich von ihr entfernt. Er hatte sich von ihnen entfernt.“ (16) Wieder ist es das Plusquamperfekt, mit dem die Erzählung diesmal anzeigt, dass Andreas Einsicht keine Aussicht mehr auf eine Abwendung der Katastrophe in ihrer Beziehung zulässt: Die eheliche Entfremdung ist endgültig und deshalb kann sie nur in der vollendeten Vergangenheit erzählt werden. Wie bei Werther hat also auch bei Andrea die Idylle zu einer introspektiven Seelenschau geführt. Mit dieser Einsicht in die innere Katastrophe ihrer Ehe wird Andrea während des gemeinsamen Abendessens Zeugin einer äußeren, die sich als Joachims ‚idyllische Verwicklungen‘ im Tischtuch auf dem Balkon ereignet: „Er ließ sich in den Gartensessel fallen und lehnte sich zurück. Er schob seine Beine unter den Tisch. Er stieg in das viel zu lange Tischtuch.“ (17) Die erzählerische Darstellung erfolgt wieder im Wechsel zwischen Beschreibung der äußerlichen Geschehnisse und deren Wahrnehmung aus Andreas Sicht, wenn es im unmittelbaren Anschluss in erlebter Rede heißt: „Wie sie es sich gedacht hatte und deshalb die Falten des Tischtuchs so weit unter den Tisch geschoben.“ (17) Andrea wird zur buchstäblichen Zuschauerin dieses Spektakels, das sie gerahmt „durch das große Glasfenster auf den Balkon zu“ aus dem Schlafzimmer heraus mitansieht (17): Joachim zog die in den Stoff verwickelten Beine gegen den Widerstand des Stoffes wieder zurück. Die tiefen Falten des Damasts ballten sich zwischen seinen Füßen. Er wollte sich davon befreien und schleuderte den Stoff mit kleinen scharfen Bewegungen von sich weg. Die Weingläser fielen um. Der eine Teller wurde an den Tischrand gezogen. Er hob seinen Teller hoch und begann unter dem Tisch gegen das Tischtuch zu treten. Zu strampeln. Er saß mit seinem Teller hochgehalten und strampelte gegen den Stoff. (17)

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Angesichts von Joachims „ungeheuerlich[em] Umfang“ (13), durch den diese ‚idyllischen Verwicklungen‘ nachgerade tragikomisch wirken, erinnern seine strampelnden Befreiungsversuche wie die intertextuelle Umkehrung jener Situation zu Beginn von Frans Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, als der zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ von beachtlichem „Umfang“ verwandelte Gregor Samsa erwachend zum ersten Mal „seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch“ erblickt, „auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten“ kann.271 Auch wenn beide auf ihre je eigene Weise ‚verwandelt‘ scheinen, ist Gregor anders als Joachim nicht ‚verwickelt‘, denn: „Die Decke abzuwerfen war ganz einfach; er brauchte sich nur ein wenig aufzublasen und sie fiel von selbst.“272 Das Gegenteil trifft auf Joachim zu: Gerade weil er körperlich (und männlichegozentrisch) derart ‚aufgeblasen‘ ist, verwickelt er sich im Tischtuch. Trotz seines beständigen Strampelns kann Joachim sich nicht aus dem von Andrea zu seinem eigenen Schutz so gut drapierten Tischtuch befreien. Andreas ‚vorauseilende Vorsicht‘ scheint allerdings weniger aus der Sorge um ihren Gatten zu resultieren als vom Programm ihres Namens herzurühren: Joachims ‚idyllische Verwicklung‘ im Tischtuch machen Andrea S. buchstäblich zu einem Andreas – und das im biblischen Sinn. Zusammen mit seinem Bruder Simon wird Andreas, der Fischer am galiläischen Meer, durch Jesus zum Menschenfischer berufen: „Folgt mir nach: ich will euch zu Menschenfischern machen!“ heißt es im Neuen Testament wortgleich bei Matthäus (4,19) wie Markus (1,17). Andrea will ihrem ‚unfreiwilligen Fang‘ zu Hilfe kommen und stellt dazu die Flasche Wein, die sie als letztes von der Dachterrasse geholt hat, um sie auf den Balkon zu bringen, auf dem Nachttisch im Schlafzimmer ab. Dies führt nun zu ‚idyllischen Verwicklungen‘ ganz anderer Art, die sich als Verkettung von Ereignissen mit ebenfalls katastrophischer Folge erweisen: „Sie verschob beim Weggehen das Buch unter der Lampe auf dem Nachtkästchen. Das Buch stieß gegen die Lampe. Die Lampe schwankte gegen die Flasche. [...] Als sie sich an der Tür zum Balkon umdrehte, lag die Flasche im Ehebett und der Rotwein sickerte in die weißleuchtende Tagesdecke.“ (18) Aufgrund des vergossenen Weins, der sich genauso wie derjenige in Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Die Beiden“ als Entjungferungssymbol lesen lässt,273 wirkt diese Katastrophe im Ehebett wie ein ironischer Rückverweis auf den Anfang der Erzählung, deren erster Satz schließlich lautet: „Es war nicht wegen des Sex.“ (5) Diese Szene wird durch ihre implizite Tragikomik poetologisch bedeutsam, denn sie verweist auf die 271

272 273

Kafka, Franz: „Die Verwandlung“ [1915], in: ders.: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hrsg. von Roger Hermes, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 96–161, hier: S. 96. Kafka: „Die Verwandlung“, S. 100 Hofmannsthal, Hugo von: „Die Beiden“, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. von Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwelsch, Heinz Rölleke und Ernst Zinn, Bd. I: Gedichte 1, hrsg. von Eugene Weber, Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 50.

Poetizität („grüner raum der unzucht“)

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„feministische Ästhetik der Metonymie“.274 Wie Kernmayer verdeutlicht, kann ein solch „metonymisches Schreiben“ als „‚weibliches Schreiben‘ par excellence“ gelten,275 wodurch bei Streeruwitz „ein ‚Weibliches‘“ als „Unsagbares“ konstituiert wird, „dessen Stimme angesichts der Dominanz der diskursiven Einschreibungen durch das Patriarchat verstummen muss.“276 Die Katastrophe des verschütteten Weines im Ehebett verweist metonymisch auf die Katastrophe von Joachims ‚idyllischen Verwicklungen‘ auf dem Balkon und veranschaulicht so die Patt-Situation, in der sich Andrea befindet. Sie steht zwischen zwei ‚leeren Flaschen‘: der buchstäblichen im Bett und der metaphorischen auf dem Balkon. Durch die Versuche ihres Idylle-Machens sitzt die unfreiwillige Menschenfischerin nun gewissermaßen auf dem Trockenen und ist längst selbst in ‚idyllische Verwicklungen‘ verstrickt. Diese werden – mit Bezug auf Streeruwitz’ feministische Ästhetik – ihrerseits wiederum metonymisch lesbar, weil sie letztlich jene „patriarchale Verfasstheit der Welt“ aufzeigen, wie sie das männliche Prärogativ des Idylle-Machens konstituiert.277 Gender ist also insofern zentral für die Poetizität der Idylle, als sich deutlich ein männliches von einem weiblichen Idylle-Machen unterscheiden lässt: Das eine ist erfolgreich, das andere nicht. Streeruwitz’ Erzählung „Andrea S.“ führt das Scheitern des weiblichen Idylle-Machens vor und reflektiert dabei über die grundlegende Konstruiertheit von Gender, die gerade auch in der Idylle anschaulich wird. Andreas Scheitern bei der Einrichtung des Dachgartens erweist sich dabei als Symptom für ein viel grundlegenderes Scheitern: nämlich dasjenige ihres „Aufbruch[s] aus der Unmöglichkeit“ – laut Katharina Döbler eines der wichtigsten Sujets bei Streeruwitz.278 Andrea erkennt die Unmöglichkeit, die ihre Beziehung wie auch das Projekt der Dachgarten-Idylle darstellen, und zugleich die Unmöglichkeit, diesen beiden Unmöglichkeiten zu entkommen. In der Erzählung wird dadurch jener „Ist-Zustand des weiblichen Daseins“ porträtiert, der bei Streeruwitz angesichts der dargestellten „unausweichlichen Verhältnisse, in denen Frauen leben müssen und zugleich nicht leben können“, stets als „unauflösbares Paradox“ erscheint.279 Gerade weil Streeruwitz’ Erzählung dieses ‚weibliche Dasein‘ in seiner Unmöglichkeit als ein nachgerade unidyllisches präsentiert, erweist sie sich weder als ein Text der Lust, wie Gessners Lycas-Idylle, noch als ein Text der Wollust, wie die Luise von Voß. Vielmehr müsste man „Andrea S.“ einen Text der Unlust nennen – und das nicht, weil Andrea und ihr Ehemann den Sex genauso aufgegeben haben wie ihre Beziehung. Die 274 275 276 277 278 279

Kernmayer: „Poetik des Schweigens“, S. 36. Kernmayer: „Poetik des Schweigens“, S. 36. Kernmayer: „Poetik des Schweigens“, S. 31. Döbler: „Schlussfolgerungen aus einem Selbstversuch“, S. 11. Döbler: „Schlussfolgerungen aus einem Selbstversuch“, S. 15. Kramatschek, Claudia: „Zeigt her eure Wunden! – oder: Schnitte statt Kosmetik. Vorentwurf zu einer (weiblichen) Ästhetik zwischen Alltagsrealismus und ‚trivial pursuit of happiness‘“, in: text+kritik (164) 2004, S. 37–47, hier: S. 38.

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Dimensionen der Idylle

Unlust zeigt sich an Andreas Einsicht in die Unmöglichkeit eines Ausbruchs aus der Unmöglichkeit ihrer ‚idyllischen Verwicklungen‘. Diese lassen sie verstummen und in eine gewissermaßen ‚reaktionäre Proaktivität‘ gegenüber Joachim verfallen, für den sie das Tischtuch sorgfältig drapiert oder die Hosen diskret austauscht, um dadurch sein Dickwerden genauso unkommentiert zu lassen wie die Schuldzuweisungen für die vermeintlich von ihr verursachte „Zerstörung des Dachgartens“ (9). Diese ist nun aber keinesfalls ihr (allein) anzukreiden, sondern der konstitutiven Differenz zwischen männlichem und weiblichem Idylle-Machen. Andreas Versuch dazu wird durch ihr Scheitern also als eine Unmöglichkeit vorgeführt und die Erzählung stellt ihr keinen Ausbruch aus dieser Unmöglichkeit in Aussicht. Dies veranschaulicht die Katastrophe des Endes, als Andrea zwischen zwei leeren Flaschen gefangen ist. So vielgestaltig die Idylle nach Olaf Gulbransson auch erscheinen mag – als ein Text der Unlust kann sie nicht verwirklicht werden. Das ist die Unmöglichkeit der eigenen ‚idyllischen Verwicklungen‘ der Idylle. Aus Andreas ‚idyllischen Verwicklungen‘ ergibt sich für sie demnach also eine solche Unlust, wie sie schon Goethes Werther im Gespräch mit Lotte während ihres gemeinsamen Besuchs beim alten Pfarrer als „üble Laune“ beschreibt (32). Diese ist für Werther „eine Art von Trägheit“ und als Unlust ist die Trägheit der Idylle abträglich (33), denn sie erweist sich als gänzlich ungeeignete Haltung für ein idyllisches Erleben, wie es Werther imaginiert: „Wenn wir immer ein offenes Herz hätten, das Gute zu genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden alsdann auch Kraft genug haben, das Übel zu ertragen, wenn es kommt.“ (33) In religiös verklärter Naivität stellt Werther hier die Konsequenz eines geglückten Idylle-Machens dar und das in Form des für Kitscherzählungen so wesentlichen Ideologems der stoischen Ergebenheit ins Schicksal und das Vertrauen darauf, dass ‚am Ende alles gut‘ wird (vgl. Kapitel 2.3). Während die weiblichen Versuche des Idylle-Machens in der Katastrophe enden, führen die männlichen also direkt in den Kitsch. Wie später gezeigt wird, sind die Katastrophe und der Kitsch deshalb als die zwei konstitutiven Pole der Idylle anzusehen, wie sie sich aus der hier untersuchten Genderung idyllischer poiesis ergeben (vgl. Kapitel 4.2). Für beide gilt deshalb genau das, was Gulbransson als das Verhältnis von Idylle und Katastrophe beschreibt: „Doch sehen wir in besondern Fällen / auch eines aus dem andern quellen.“280 Der Kitsch und die Katastrophe sind miteinander ‚idyllisch verwickelt‘. 

280

Gulbransson: „Prolog“ [V. 19f], S. 6.

Medialität („wir haben den vogel abgewickelt“)

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 Medialität („wir haben den vogel abgewickelt“) Die Idylle ist voller Medien: Apollo wird, wenn er sich mit Hirtengewand und -stab rüstet, durch diese bukolischen Medien zum ersten idyllischen Hirten überhaupt, dessen Beschäftigung nicht im Hüten der Rinder besteht, sondern im Musizieren mit Hilfe eines anderen bukolischen Mediums. Dabei handelt es sich um jene „Pfeife aus sieben Rohren verschiedener Länge“, die Ovid in der Beschreibung dieser ‚idyllischen Urszene‘ in den Metamorphosen – imaginär – ertönen lässt.281 Die singenden Viehhüter, die seit Theokrit und Vergil die Literatur bevölkern, stehen also in direkter Nachfolge Apollos. Zugleich avancieren sie selbst zu Medien der Idylle und zwar im Sinn des antiken Modells vom poeta vates, demzufolge – so teilt es Sokrates mit – „alle rechten Dichter [...] als Begeisterte und Besessene“ sprechen.282 Mit Bezug auf die göttliche Inspiration durch Apollo (er)klärt auch Ovid die poetischen Verantwortlichkeiten: „so treibt mich der Geist“, heißt es gleich zu Beginn der Metamorphosen.283 Der Dichter ist also ein begeisterter Seher,284 der deshalb ‚wahr-sagt‘, weil sein Sprechen und Schreiben einer divinen Eingebung seitens Apollos oder der ihm unterstellten Musen folgt,285 wie es Sokrates im Gespräch mit Ion weiter ausführt: Daher auch der Gott nur, nachdem er ihnen [den Dichtern, N.J.] die Vernunft genommen, sie und die Orakelsänger und die göttlichen Wahrsager zu Dienern gebraucht, damit wir Hörer gewiß wissen mögen, daß nicht diese es sind, welche das sagen, was soviel wert ist, denen ihre Vernunft ja nicht einwohnt, sondern daß der Gott selbst es ist, der es sagt, und daß er nur durch diese zu uns spricht.286

Auch das Dichten der Hirten in der Idylle ist göttlich inspiriert, worauf schon Vergils sechste Ekloge verweist, wenn der Hirte Tityrus feststellt: „Nicht / singe ich ohne Geheiß“.287 Genau diesen apollinischen Imperativ inszeniert die wohl langweiligste Idylle in deutscher Sprache: Seine „Stunden im Garten“ nennt Hermann Hesse im Untertitel zwar „Eine Idylle“, doch man möchte den 1936 verfassten Text mit einem literarischen 281 282

283 284

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Ovid: Metamorphosen [II,680ff], S. 80. Platon: Ion, in: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Gunther Eigler, Bd. I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 6 2001, S. 1–39, hier: S. 15. Ovid: Metamorphosen [I,2], S. 23. Vgl. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945 [1985], 2 Bd.e, Bd. I: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21988, S. 63. Vgl. Curtius: Europäische Literatur, S. 155. Platon: Ion, S. 17. Vergil: Bucolica [VI,8f], in: ders.: Sämtliche Werke. Hirtengedichte, Landbau, Katalepton, Aeneis, hrsg. und übersetzt von Johannes und Maria Götte, München: Heimeran 1972, S. 20–22, hier: S. 21.

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Dimensionen der Idylle

Experiment zur Erforschung des eigentümlichen Verhältnisses zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit verwechseln.288 Allerdings betreffen diese literarischen Reflexionen, die der „Unterhaltungsschriftsteller mit Nobelpreis“ in seiner Idylle darlegt,289 die schriftstellerische Praxis in einem viel grundlegenderen Sinn: Hesses Idylle ist ein buchstäblich poetologischer Text, in dem er seine Berufung zum poeta vates beschreibt. Die „Stunden im Garten“ sind eine kurze Erzählung in Versform. Dargestellt wird ein vormittäglicher Spaziergang in einem Tessiner Garten und bereits diese konkrete geographische Verortung lässt jene Kongruenz zwischen erzählender Instanz und Hesse vermuten, die der Text später bestätigt: „Ich aber bin ein Dichter“ (344,16), verkündet das Ich der Erzählung, um dann den Grund für seine regelmäßigen Spaziergänge im Berggarten oberhalb des Luganersees – dort, wo Hesse 1931 ein Haus bezieht und an seinem Roman Das Glasperlenspiel arbeitet – zu nennen: In der Abgeschiedenheit des Gartens „beginnt im Gemüt mir / Ein Gedankenspiel, dessen ich mich schon seit Jahren befleiße, / Glasperlenspiel genannt, eine hübsche Erfindung“ (348,16ff). Hesses „Stunden im Garten“ lesen sich wie die Fortsetzung jener Verklärung, durch die sich bereits Goethes Werther als ‚Herr vom Garten‘ imaginiert, denn sein „Morgenweg“ (325,13) führt ihn weg vom Haus und „der Sonne entgegen“ (325,12). Dies wird als ein Verlassen der Zivilisation und Eintauchen in eine vermeintlich ursprüngliche Natur inszeniert: „Schon ist verschwunden das Haus, ich seh den beschnittenen Buchsbaum / Starr in den glühenden Himmel ragen, es nimmt mich der Garten, / Nimmt mich der steile Rebenhang auf, und schon sind die Gedanken / Weg vom Haus, vom Frühstück, den Büchern, der Post und der Zeitung.“ (327,12–15) Auch wenn der Garten aufgrund seiner vermeintlichen Natürlichkeit eine Ferne von der Zivilisation verheißt (vgl. hierzu Kapitel 4.2.2), bildet diese doch sein buchstäbliches Zentrum, das letztlich die Artifizialität, also die po(i)etische Gemachtheit dieses locus amoenus, veranschaulicht: „Der Stall ist / Treffpunkt und Mitte des Gartens. Hier dehnt sich ein Stück weit / Ebener Boden, ein seltenes Gut in so steilem Gelände, / Wo jedem Baum, jeder Rebe der Standort nur künstlich und listig / In Terrassen dem Hang abgeschmeichelt wird.“ (330,12–16) Wie schon Wahlheim für Werther wird auch der Tessiner Hanggarten für Hesse zum Ort patriarchaler Herrschaftsphantasien: Während Bedienstete wie Natalina, die „im blechernen Kesselchen“ zum Düngen des Bodens den „Mist von Kaninchen herbei[schleppt]“ (329,13f), oder Lorenzo, der das Jahr über mit der Kultivierung der Weinreben betraut ist (vgl. 330,9ff), sich durch körperlich anstrengende Arbeit um die Instandhaltung des Gartens kümmern, behält dessen lustwandelnder ‚Herr‘ darin die 288

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Hesse, Hermann: „Stunden im Garten. Eine Idylle“ [1936], in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. von Volker Michels, Bd. V: Die Romane, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 321–351. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote durch Angabe von Seitenzahl und Versnummer in Klammern direkt im Text belegt. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 256.

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ästhetische Aufsicht über das „Unkraut“, „[d]as man am besten sogleich wegnimmt, eh es Zeit hat, die Blüte / Auszubilden und rings zu verstreuen den unzähligen Samen“ (328,12ff). Gerade weil der Garten „bäurisches Land“ ist, „wo statt Palastes der Stall steht“ (331,14), ist er in eine feudale Herrschaftslogik eingebunden, die sich in der Topographie realisiert: Der Garten liegt „[w]eit vom Hause, verborgen im Grün“ (331,2), während das Haus am Berghang hoch über der Landschaft ‚thront‘, sodass man sich angesichts dieses repräsentativen Ausblicks als „Herr über Seetal und Ferne“ (331,12) fühlt. Diese idyllische Geopolitik betrifft auch die Aufteilung des Gartens: „Provinzen“ (336,6) bilden die merkantile Grundlage für die buchstäbliche Herrschaft über „dies Pflanzenland“ (331,2) mit seinem „Pflanzenvolk“ (334,2), „denn wahrlich es ist hier an Wert und Vorteil nicht wenig / Angehäuft“ (331,3f), worauf sich „Pracht und Bedeutung“ (331,6) des Hauses mit seinem panoramischen Ausblick von der „lichten Terrasse“ (325,2) gründen. Das veranschaulicht Hesse mit der letzten Szene seiner Idylle in geradezu kolonialer Sinnbildlichkeit, als der Herr von seinem begutachtenden Ausflug in die bäurischen Gartenprovinzen zum Haus zurückkehrt, um deren Köstlichkeiten dort in Ruhe zu genießen: „Und gerne / Tret ich [...] / [...] in den kühlen Schatten des Hauses, / Wasche die Hände, und schon lädt meine Frau mich zu Tische“ (350,13ff), wo man isst und sich über den Garten unterhält, um schließlich das „Mahl mit Himbeeren, den köstlichen roten und gelben / Von der oberen Quellenterrasse zufrieden zu enden“ (351,9f). Der Grund für Hesses Gartenausflug liegt aber nicht bloß im herrschaftlichen Zeitvertreib. Die Idylle des Gartens wird für ihn zum Medium, denn sie vermittelt ihm die göttliche Inspiration für sein ‚Glasperlenspiel‘. Über dem Ausspähen von Unkraut, das wohl Natalina oder Lorenzo werden beseitigen müssen, gerät Hesse nämlich ins Nachdenken – zunächst über „[a]lle Stufen des Lebens“ (332,13), die ihm das aufblühende und vergehende Leben der Pflanzen im Garten „[i]nnerhalb eines einzigen Jahres“ symbolisch veranschaulicht (332,12). Die Gartenidylle, die durch die Reflexion über die ‚Stufen des Lebens‘ als eine prophetisch-intertextuelle erscheint,290 eignet sich gerade aufgrund der dort vorherrschenden „vollkommen[en], göttlich[en] Stille“ (340,10) zur Kontemplation, die Hesse als einen nachgerade idyllischen Zustand beschreibt. Dieser wirkt mithin inspirativ: „Ich danke / Manchen Traum und Gedanken dir, mancherlei Glück der Versenkung.“ (340,11f) Der Spaziergang führt Hesse tiefer in den Garten, 290

Gemeint ist der Bezug auf Hesses bekanntestes Gedicht, das er 1943 unter dem Titel „Stufen“ veröffentlicht und dessen neunter und zehnter Vers so oft in Poesiealben oder auf kitschige Gruß- und Glückwunshkarten geschrieben sein worden dürfte wie wohl kein anderer in der deutschen Literaturgeschichte: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ (Hesse, Hermann: „Stufen“, in: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. I: Stufen, Die späten Gedichte, Frühe Prosa, Peter Camenzind, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 119.) Zu Hesses kitschiger Lyrik vgl. Deschner, Karlheinz: Kitsch, Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift [1957], Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein 1980.

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Dimensionen der Idylle

weg vom Stall in dessen Zentrum und hinein in ein „grünes Versteck“, das ihm „im Schatten der Bäume“ eine „freundliche Zuflucht“ bietet (340,3f). In dieser schattigen Einsamkeit entzündet er ein Feuer, „denn selten / Halt ich an diesem Orte mich auf, ohne Feuer zu zünden“ (341,16f). Das Sinnieren über diese Tätigkeit transformiert sie nachgerade in eine kultische Handlung, die wie die Beschwörung jenes ‚patriarchalischen Lebens‘ in einem längst vergangenen Goldenen Zeitalter wirkt, von der schon Werther beim Erbsenschälen in Wahlheim phantasiert: „Mancherlei Herkunft und Wurzel hat wohl diese Neigung zum Feuern, / Von der knäbischen Lust an Zündeln bis rückwärts zum Opfer / Abels oder des Abrahams, denn jede Gewohnheit, sei’s Tugend, / Sei es Laster, ist ja bis tief in die Vorwelt verwurzelt“ (342,1–4). Den „besonderen Sinn“ (342,5) des Feuermachens erkennt Hesse für sich in einem „chymisch-symbolischen Kult im Dienste der Gottheit“ (342,7). Bei dieser rituellen Kulthandlung avanciert er nun selbst zu einem Medium, denn er ist „Priester dabei und Diener, vollziehe und werde vollzogen“ (342,9), sodass er sich ganz „der Gottesbetrachtung ergeben“ (342,13) kann. Hesse beschreibt diesen medialen Zustand, in den er sich versetzt, als „Introversion“ (345,5). Diese gibt ihm Einsicht in das ‚Wesen‘ seiner po(i)etischen Tätigkeit, die er sogleich verkündet: „Wisset ihr, wie es gemeint ist, und wie ich ja all mein Dichten verstehe, / Als Beschönigung nicht, als Bekenntnis nur“ (343,11f). Die Anrufung zu Beginn erweist sich als doppeldeutig, da sie sowohl an die göttlichen Spender der dichterischen Inspiration gerichtet sein kann als auch an Hesses Leserinnen und Leser, denen er hier aufgibt, sein ‚Dichten‘ so zu lesen wie die ‚Bekenntnisse‘ des Augustinus, auf die er intertextuell anspielt: nämlich als ein spirituelles Erlebnis von religiöser Qualität. Der Esoteriker Hesse steht hier also ganz deutlich in der Tradition jener gegenreformatorischen Bemühungen, wie sie Friedrich Kittler als „Medienkriegsgeschichte“ der katholischen Kirche darlegt,291 wenn diese ab dem 16. Jahrhundert gegen das neue „Protestantenmedium Buchdruck“ medientechnisch Stellung bezieht.292 Zugleich eignet Hesses idyllischem Spiritismus bereits „eine bestimmte Art von einerseits lebensphilosophischem, andererseits ‚authentisch-biographischem‘ Kitsch“, wie ihn der Frankfurter Suhrkamp-Verlag in seinen Gründungsjahren laut Alexandra Pontzen nicht nur programmatisch induziert, sondern durch eine bewusste „Hesse-Verehrung“ zur werbetechnischen „Selbstinszenierung“ regelrecht forciert.293 291 292

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Kittler: Optische Medien, S. 91. Kittler: Optische Medien, S. 93. Dies geschieht beispielsweise durch eine neue Praxis der Heiligenbildverehrung einschließlich einer Popularisierung des Engelkults sowie durch die Entwicklung der Illusionsbühne im Jesuitentheater und schließlich durch eine diesen beiden medialen Praktiken analoge neue „halluzinierende Lektüre“ als literarische „Bildverehrung“, die „nicht auf das Bild“ gerichtet ist, sondern das Imaginäre, nämlich „auf seine Bedeutung, das von ihm Vorgestellte“ (ebd., S. 94). Pontzen, Alexandra: „Kitsch bei Suhrkamp“, in: Gruber, Bettina/Parr, Rolf (Hgg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen – Gesamtkunstwerke, Paderborn: Fink 2015, S. 133–154, hier: S. 135.

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Hesse, der sein Dichten also als „Bekenntnis nur“ versteht, bekennt sich zu diesem Bekenntnis, wenn er herausstellt: „Ich aber bin ein Dichter und zahl es mit mancher Entbehrung, / Manchem Opfer vielleicht, dafür hat Gott mir gestattet, / Nicht bloß in unseren Tagen zu leben, sondern der Zeit mich / Oft zu entschlagen und zeitlos zu atmen im Raume, einst galt es / Viel und wurde Entrückung genannt oder göttlicher Wahnsinn.“ (344,16ff–345,2) Dieser göttliche Wahnsinn, der sich für Hesse durch sein kultisches Feuerritual in der Gartenidylle einstellt, ist nichts anderes als jene dem poeta vates durch Apollo gewährte Inspiration. Sie wird Hesse für sein ‚Glasperlenspiel‘ nutzen, an dem er in der Idylle seines Tessiner Exils zwischen 1931 und 1942 arbeitet.294 „Stunden im Garten“ erweist sich also als die idyllische Erzählung von der Inspiration zu diesem Roman und Hesses Gartenidylle erhält damit selbst den Status eines Mediums, das „alchymisch[es] Feuer“ (350,7) gegen die „[s]chöne Imagination“ (349,3) tauscht. Der hier implizit verhandelte Medienbegriff ist also weder ein physikalischer noch ein technischer, sondern – mit Kittler gesprochen – ein ‚erzkatholischer‘, dem die Annahme zugrunde liegt, „daß natürlich der Mensch das Subjekt aller Medien sei“.295 Im Fall von Hesse ist das der Dichter-Mensch, der als Priester und Gläubiger in Personalunion erscheint. Begreift man diese ‚inspirative Idylle‘, wie Hesse sie präsentiert, als Medium, das weder ein physikalisches noch ein technisches ist, dann ließe sie sich analog jener grammatischen Kategorie bestimmen, die der deutschen Sprache fehlt, weil sie nur das Aktiv und das Passiv kennt: Als Genus Verbi dient das Medium dem Ausdruck einer auf sich selbst zurückweisenden Tätigkeit.296 Genau darin liegt die Medialität aller idyllischen poiesis begründet, die sich, wie im vorangehenden Kapitel gezeigt, durch ihre Selbstbezüglichkeit und Autoreflexivität auszeichnet. Wenn es nachfolgend also darum geht, die Medialität als konstitutive Dimension der Idylle zu untersuchen, bedeutet das zugleich, die Möglichkeiten eines idyllischen Medienbegriffs zu eruieren, der die in der Idylle behandelten Medien analytisch genauso zu erfassen vermag wie ihre genuine Medialität: Die Idylle erweist sich nämlich als das Medium ihrer eigenen Poetizität, denn das po(i)etische Idylle-Machen ist durch die Medien (in) der Idylle vermittelt.

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Vgl. Blanchot, Maurice: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, übersetzt von Karl August Horst, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1982, S. 238. Kittler: Optische Medien, S. 27. Als eine grammatische Kategorie des Verbs drückt das Medium „einen vom Subjekt ausgehenden und auf das Subjekt bezogenen Vorgang aus“ (Stichwort ‚Genus Verbi‘, in: Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 249, hier: S. 249).

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Dimensionen der Idylle

2.2.1Das Rauschen der Idylle, oder: Die Erfindung der musikalischen Medien bei Gessner (und ihr bukolischer Gebrauch bei Theokrit) Die beiden Seiten der Medialität der Idylle sind eng miteinander verkoppelt: Wie bereits die Analyse von Gessners „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“ gezeigt hat, avanciert die Idylle insofern zum Medium ihrer eigenen Poetizität, als das erzählende Ich eine Idylle für seine Geliebte Daphne imaginiert, deren Gegenstand das imaginäre IdylleMachen des Hirten Lycas ist, der seiner Geliebten Chloe dadurch ein Denkmal setzen will. Dieser po(i)etische ‚Rückkopplungseffekt‘ ist zugleich ein medialer, der bei Gessner gerade deshalb wie eine buchstäbliche mise an abyme funktioniert, weil sowohl das erzählende Ich als auch Lycas jeweils mit Bildern ihrer Erinnerung ‚arbeiten‘ und mit deren Hilfe neue Bilder imaginieren (das verweist wiederum auf die neben der Poetizität und der Medialität dritte konstitutive Dimension der Idylle, deren Serialität im nächsten Kapitel untersucht wird). Der hier kurz dargelegte Umstand, dass die Idylle selbst als Medium fungieren kann, durch das stets eine weitere Idylle erzeugt wird, korrespondiert mit Marshall McLuhans Medienbegriff. Ihn fasst er mit der berühmten Formel ‚The medium is the message‘, was metaphorisch meint, dass das Medium der Botschaft stets eingeschrieben ist und zwar insofern „die gestaltende Kraft bei Medien die Medien selber sind“.297 Zur „Explikation“ dieser Formel weist Kittler auf deren medienmetonymische Perspektive hin, denn die wörtliche Übersetzung, „daß das Medium selber die Botschaft“ darstellt, meine letztlich, dass „der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium ist“.298 Angesichts ihrer genuinen Selbstbezüglichkeit als „Dichtung über das eigene Dichten und die eigene Dichtung“ erscheint die Idylle also als evidentestes ‚Medium‘, um diese medientheoretische Behauptung zu belegen.299 Dies soll nachfolgend an Theokrits Idylle „Die Wettsänger“ sowie an Gessners „Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs“

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McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle [1964], übersetzt von Meinrad Amann, Düsseldorf: Econ 1968, S. 28. Kittler: Optische Medien, S. 28. Dass diese Bedeutung von McLuhans Formel „weniger bekannt“ sei (ebd.), erweist sich jedoch als Übertreibung. In Die magischen Kanäle wird in einer solch metonymischen Disposition die „charakteristische Tatsache“ aller Medien erkannt, weil „der ‚Inhalt‘ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist.“ (McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 14) Kittlers ‚Explikation‘ ist in Bezug auf die Medien (in) der Idylle insofern beachtenswert, als sie auf die nachfolgend zu untersuchende Integration von Medien in die idyllische poiesis verweist. Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 107.

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erfolgen,300 wobei zunächst der historisch jüngere Text behandelt wird, weil dieser – in idyllischer Temporalparadoxie – nachträglich die Vorgeschichte für den älteren liefert. Neben der Lycas-Idylle ist diejenige, die vom Saitenspiel und Gesang handelt, der zweite Gessner’sche Text, in dem eine Erfindung dargestellt wird. Wie schon der ersten ‚inventiven Idylle‘ kommt auch dieser zweiten der Status einer ‚Urszene‘ zu, denn während Lycas den idyllischen Ort des locus amoenus ‚erfindet‘, werden in „Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs“ die für die Idylle konstitutiven Medien eingeführt, die ihrerseits die idyllische Musik ermöglichen. Beide Idyllen lassen sich daher als protologischer Mythos lesen, was auch ihre temporale Verortung in einer auf das Goldene Zeitalter verweisenden Vor-Zeit deutlich macht: Wie schon in der Lycas-Idylle wird dies in „Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs“ mit der Metapher von der ‚Jugend der Tage‘ zum Ausdruck gebracht (vgl. 53,3). In diesem arkadisch-mythischen Säkulum sind die Menschen noch allesamt „unverdorben[]“ (53,4) und die „jungen Künste“ (53,5) entstehen aus dem „Bedürfniße der Unschuld“ (54,2) sowie aus einer genuinen musi(kali)schen Veranlagung der Menschen. Diese besteht darin, die „Schönheiten der Natur zu empfinden“ (53,7), was sich letztlich als eine Reflexion über das Mimesis-Paradigma erweist, denn die Idylle übersetzt das aisthetische Bedürfnis der ‚unschuldigen‘ Menschen in das po(i)etische Begehren zur buchstäblichen Nachahmung der Natur. Der Text macht ein Mädchen, das wie kein anderes „so schön“ und „so zärtlich gebildet“ ist (53,6f), zur Trägerin dieser idyllischen poiesis. Allmorgendlich verlässt es seine idyllische Behausung, die aus „an den Stämmen nahe stehender Bäume“ befestigten „Schilf und Tann-Ästen“ gefertigt ist (53,15f), um „die Gegend zu sehen, wie sie im Thau glänzt, und den Gesang der Vögel im nahen Hain zu horchen“ (53,18ff). Dieser Vogelgesang in der Natur ist „ein Regel-loses Jauchzen der Freude“ (53,10f) und damit noch keine idyllische Musik, sondern vielmehr deren Ursprung im vor-kulturellen Sinn eines Rauschens, wie es Roland Barthes als „ein immenses lautliches Geflecht“ beschreibt.301 Ein solches Rauschen ist immer „nur das Geräusch einer Geräuschlosigkeit“ und damit jenem Rauschen entgegengesetzt,302 das die an McLuhan ausgerichtete Kom300

301

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Theokrit: „Die Wettsänger“, in: Theokritos, Bion und Moschos. Deutsch im Versmaß der Urschrift, hrsg. von Eduard Mörike und Friedrich Notter, Stuttgart: Hoffmann’sche Verlags-Buchhandlung 1855, S.60–64; Gessner, Salomon: „Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs“ [1756], in: ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 53–56. In beiden Fällen werden die nachfolgenden Zitate ohne weitere Fußnote direkt im Text belegt; die Unterscheidung zwischen beiden Idyllen ergibt sich dabei einerseits aus dem Kontext und andererseits daraus, dass die Theokrit-Zitate durch Angabe des Verses, die Gessner-Zitate durch Angabe von Seitenzahl und Vers belegt werden. Barthes, Roland: „Das Rauschen der Sprache“ [1975], in: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 88–91, hier: S. 89. Barthes: „Das Rauschen der Sprache“, S. 90.

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munikationstheorie eine Störung nennt und ‚ehemalige Germanisten‘ mit dem Realen bzw. – in Kittlers später gebrauchter Begrifflichkeit – dem „Reellen“ bei Lacan identifizieren.303 Das Rauschen der Idylle ist all dies nicht – und wenn, dann nur insofern, als es die ‚ungestörte Störung‘ im Sinn des Barthes’schen Geräuschs einer Geräuschlosigkeit darstellt. Wie dieses verweist das ‚regellose Jauchzen der Freude‘ bei Gessner auf eine „Leerstelle des Sinns“,304 um so überhaupt erst das idyllische Rauschen zu Gehör zu bringen. Genau diese Leerstelle lässt das Mädchen, das dem Vogelgesang lauscht, aufhorchen und sein aisthetisches Bedürfnis, „die Schönheit der Natur zu empfinden“ (53,7), in ein po(i)etisches Begehren zur Naturnachahmung übergehen. Die Nachahmung, mit der aus dem idyllischen Rauschen dann die idyllische Musik gemacht wird, zeitigt jene zwei Erfindungen, die den Gegenstand von Gessners Text bilden: die idyllischen Medien des Saitenspiels und des Gesangs. Den letztgenannten ‚erfindet‘ das Mädchen, als es den Gesang der Vögel zu imitieren versucht: „Entzückt saß sie dann da und horchte, und suchte ihren Gesang nachzulallen. Harmonischere Töne flossen itzt von ihren Lippen, harmonischer, als noch kein Mädchen gesungen hatte; was ihre liebliche Stimme von eines jeden Gesang nachahmen konnte, ordnete sie verschieden zusammen.“ (53,20–25) Wie schon Lycas, der aus der ihn umgebenden Natur die einzelnen landschaftlichen Elemente auswählt, um daraus seinen Garten zu gestalten, so wählt auch das Mädchen aus dem großen Rauschen die einzelnen Gesänge, ahmt sie nach und ordnet sie nachahmend neu zu einem harmonischen Ganzen: „So sang sie, und unvermerkt schmiegten ihre Worte sich harmonisch in süßtönendem Maaß nach ihrem Gesang; voll Entzücken bemerkte sie die neue Harmonie gemessener Worte.“ (53,31–34). Indem Gessner so die Erfindung der idyllischen Musik (und ihrer Medien) darstellt, verweist er auf das größte Paradoxon der Idyllendichtung seit ihren Anfängen bei Theokrit und Vergil, denn die Idylle ist nichts anderes als das Barthes’sche Rauschen, weil sie beständig das zu Gehör bringt, was in der Idylle durch sprachliche Vermittlung stets nur imaginär ‚erklingt‘: Musik. Insofern man die Idylle also als Medium begreift, das gemäß Kittlers Präzision des McLuhan’schen Diktums zur Medienmetonymie stets von (anderen) Medien handelt bzw. andere Medien ‚hervorbringt‘, dann erweist sie sich letztlich als (sprachlich-symbolische) Materialisation ihres eigenen Rauschens, denn „rauschen heißt, die Verflüchtigung des Geräuschs zu Gehör bringen“.305 Gessners Idylle von der Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs lässt sich daher auf der Metaebene als ein protologischer Mythos von der Erfindung der Sprache lesen, schließlich ist es deren Rauschen, das laut Barthes doch nichts anderes anzeigt als jene „Leerstelle des Sinns“,306 die das Mädchen in Gessners Idylle dadurch ‚füllt‘, dass es den 303 304 305 306

Kittler: Optische Medien, S. 45. Barthes: „Das Rauschen der Sprache“, S. 96. Barthes: „Das Rauschen der Sprache“, S. 88f, Hervorhebung N.J. Barthes: „Das Rauschen der Sprache“, S. 90.

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Gesang als idyllisches Medium erfindet. Diese Erfindung erweist sich ihrerseits als eine Nachahmung, durch die jene ‚natürliche‘ Regellosigkeit im Freudejauchzen des Vogelgesangs eine symbolische Ordnung erhält und zwar diejenige der (dichterischen) Sprache – schließlich ‚schmiegen‘ sich die Worte des Mädchens nach dem Gesang. Diese „neue Harmonie“ (54,3f) ist hochgradig medienreflexiv, denn sie verweist auf den Status des ‚Mediums‘ Sprache für die Idylle: Es erscheint einerseits als das idyllischste Medium schlechthin, zumal Sprache, laut Barthes, die Natur des modernen Menschen ist;307 andererseits etabliert die musikalische Disposition der Sprache die literarische Kleinform ‚Idylle‘ als Dichtung. Dies erklärt sich aus der von Kittler beschriebenen Unterscheidung von Dichtung und Literatur: Erstere kennzeichnet „eine Pseudosinnlichkeit, die Leserinnen und Leser angeblich genauso vergnügt[], als hätten sie das im Text Beschriebene wirklich und wahrhaftig vor Augen oder Ohren“.308 Dichtung bietet deshalb also eine nachgerade mimetisch zu nennende Kurzweil, weil ihre LeserInnen „die Texte [...] als vollkommen ausgemalte Welten [...] delirieren“.309 Dagegen ist Literatur – allein schon aufgrund der Etymologie des Begriffs – mitsamt ihrer medialen Wirkung auf die Materialität der Buchstaben des Alphabets beschränkt,310 weil „die optischen und die akustischen Datenflüsse“, die die Dichtung „nicht in medientechnischer Realität, sondern im Imaginären von Leserseelen“ zusammenführt,311 durch die um 1900 gegebene „historisch[e] Gleichzeitigkeit von Kino, Phonographie und Maschinenschreiben [...] ebenso getrennt wie autonom“ werden.312 Während Dichtung es also „Kraft des Halluzinierens bei Schreibern wie bei Lesern“ vermag,313 „Optik, Akustik und Schrift“ medial zu integrieren,314 kann Literatur um 1900 nicht länger als eine solche „Universalkunst im Universalmedium Einbildungskraft schalten“:315 Mit Medien wie dem Grammophon, Film und Typewriter werden jene durch die Dichtung zwar im Imaginären po(i)etisch produktiv gemachten, letztlich aber „unaufschreibbar[en] Datenflüsse“ durch ihre technische

307 308 309 310

311 312 313 314 315

Vgl. Barthes: „Das Rauschen der Sprache“, S. 91. Kittler, Friedrich A.: Philosophie der Literatur. Berliner Vorlesung 2002, Berlin: Merve 2013, S. 104. Kittler: Philosophie der Literatur, S. 104. Was Kittler – auch wenn er auf Stéphane Mallarmé verweist (vgl. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 27) – hingegen weniger berücksichtig, ist die genuin durch das Material ‚Sprache‘ gegebene medienästhetische Visualität, Auditivität und Performativität, wie sie insbesondere in den verschiedenen Spielarten der experimentellen Lyrik als konstitutive Dimensionen von Literatur anschaulich werden. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 18f. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 27. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 21. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 27. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 301.

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Erzeugung, Übermittlung und Speicherung erstmalig medial prozessier- und vom ‚Universalmedium‘ Dichtung ablösbar.316 In seiner Berliner Vorlesung zur Philosophie der Literatur veranschaulicht Kittler diesen Wandel von Dichtung zu Literatur genauer. Dieser zeichne sich nämlich insbesondere durch den Verlust des Musikalischen aus, denn anders als Dichtung steht Literatur nicht länger unter dem Primat des Musikalischen.317 Die Idylle erscheint hierfür so nachgerade symptomatisch wie symbolisch, da sie insofern musikalisch ist, als der Gesang der Hirten ihr musikalisches Moment – buchstäblich – darstellt. Gessners Idylle von der Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs erweist sich in diesem Sinn als eine ‚Urszene‘ der Dichtung, deren elementares musikalisches Medium die Sprache ist. Das sich in der Idylle sprachlich materialisierende Rauschen der Natur bzw. Sprache bringt also die Musikalität in die Dichtung, denn Kittler zufolge stellt Musikalität eine „notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung“ für Dichtung dar.318 Diese liegt vielmehr in der „Erfindung eines Vokalalphabets“,319 das als Schrift seinerseits ganz und gar musikalisch erscheint, denn die Schrift ist „aus dem Gesang geboren“.320 (Idyllen-)Dichtung ist deshalb Inszenierung des Gesprochenen, Literatur dagegen des Gedachten: Goethes Die Wahlverwandtschaften veranschaulichen dies genauso wie überhaupt die gesamte Gattung ‚Roman‘, wo es niemals um die Stimme als Phänomen des Musikalischen geht, sondern stets um ihre symbolische (Zu-)Ordnung: ‚Wer spricht?‘, fragt Goethes Roman allein schon deshalb permanent, weil die ursprüngliche Fassung keine Anführungszeichen enthält. Während sich die symbolische Ordnung der Sprache durch Schrift in Form des Alphabets der Dichtung also als Notwendigkeit voraussetzt, wird sie in der Literatur erstmals Mittel und Zweck, weil das sprachliche Erzählen in Schrift gebannt ist und der Buchstabe selbst das Sprechen lernt – man denke nur an die in den ‚Wahlverwandtschaften‘ so verhängnisvolle Kombination von ‚o‘, ‚t‘, ‚t‘ und ‚o‘. Anders die Idyllendichtung, wie Gessners ‚inventive Idylle‘ von der Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs sie hier in ihrer medialen wie materialen Verfasstheit präsentiert: Indem sich die Worte des Mädchens nach dem Gesang schmiegen, lernen die Buchstaben nicht das Sprechen, sondern: das Singen. Genau daran werden die historischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts anknüpfen, um aus Literatur und Dichtung wieder einen integralen ‚Datenfluss‘ zu machen. Hugo Balls Lautdichtung wäre hierfür genauso ein Beispiel wie Kurt Schwitters „Ur-Sonate“, die insofern nichts anderes als die Materialisation des Rauschens der Sprache ist, als sie – mit Barthes gesprochen – die Verflüchtigung des Geräuschs zu Gehör bringt. 316 317 318 319 320

Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 26. Vgl. Kittler: Philosophie der Literatur, S. 20f. Kittler: Philosophie der Literatur, S. 20. Kittler: Philosophie der Literatur, S. 20. Kittler, Friedrich A.: Musik und Mathematik, Bd. I: Hellas, Teil 1: Aphrodite, München: Fink 2006, S. 126, Hervorhebung N.J.

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Die neu erfundene idyllische Musik muss sich bewähren – deshalb begibt sich Gessners Mädchen allmorgendlich in den Hain, um ihre „neue Kunst zu üben“ (54,6). Dabei wird sie von einem Jüngling beobachtet, der im Hain auf der Jagd ist. Ihn berauscht der harmonische Gesang der idyllischen Musikerin so sehr, dass er „sucht’ ihr Lied nachzuahmen“ (54,9f). Bei seinen imitierenden Versuchen macht der Lauschende seinerseits eine „neue Erfindung“ (54,24), nämlich die des Saitenspiels: „Indeß spielte seine Hand mit der angespannten Saite des Bogens, und ein lieblicher Ton gieng von der Saite, und der Jüngling horchte und wiederholt’ erstaunt den Ton“ (54,20ff), um so „die liebliche Verschiedenheit der Töne, der schwächern und stärkern Saiten“ (54,32f) auszutesten. Fortan geht „der Jüngling, so oft der Morgen kam, die neue Kunst zu üben in den dichten Hain“ (55,1f), um dort auf der zum Musikinstrument gewordenen Waffe „harmonisch begleitende Töne“ (55,4) für den Gesang des Mädchens zu finden. Seine künstlerische Ambition scheint aber vergebens, denn „man sagt, er habe lang umsonst gesucht, und viele Töne haben den Gesang nicht begleiten wollen“ (55,4ff). Doch durch göttlichen Beistand lernt der Jüngling schließlich das Saitenspiel, denn „ein Gott sey im Hain ihm erschienen, und habe die Saiten der Layer harmonisch geordnet und seine Lieder ihm vorgespielt“ (55,6ff). Auch wenn Hermes als Erfinder der Lyra gilt,321 so ist es doch Apollo, der es auf dem zu seinem Symbol gewordenen Instrument zur Meisterschaft gebracht hat,322 denn „seine Lust ist die Leyer“, heißt es in Schillers unveröffentlichter Xenie (die Goethe zugeschrieben wird).323 So kann es wohl nur der Musagetes selbst sein, der den Jüngling die musikalische Kunst lehrt, weil er ihm durch die Neuanordnung der Saiten die mediale Voraussetzung dafür gibt. Nachdem der Jüngling nun sein Instrument wahrhaft zu spielen versteht, wird das Mädchen erstmalig auf diese ihm noch unbekannte Kunst aufmerksam und fragt: „welche liebliche Stimme mischet sich in meinen Gesang?“ (55,18f) Da es aber den Ursprung dieses neuen Gesangs nicht kennt, vermutet das Mädchen dahinter einen „gefiedert[en] Bewohner dieses Hains“ (55,21f). Jedoch ist weder ein Vogel noch eine sonstige Quelle als Ursprung auszumachen, weshalb das Mädchen sich von einem Traum getäuscht wähnt (vgl. 55,27). Indessen setzt es seinen eigenen Gesang fort, der weiterhin von dem unentdeckten Jüngling auf der Lyra begleitet wird. Dies verschafft dem Mädchen die Gewissheit, dass es sich nicht getäuscht hat: „nein, ich habe mich nicht betrogen, jeden Ton hat die Stimme begleitet.“ (55,35f) Daraufhin tritt „der Jüngling aus dem Gebüsche hervor“ und gibt sich mit der „Leyer unter dem Arm“ (56,1f) zu erkennen: „O du schönes Mädchen! sprach sein sanftlächelnder Mund mit lieblicher Stimme, kein beflügelter 321

322

323

Vgl. Stichwort ‚Hermes‘, in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, hrsg. v. W. H. Roscher, Bd. I/2: Euxistratos–Hysiris, Leipzig: B. G. Teubner 1886–1890, Sp. 2342–2432, hier: Sp. 2373. Vgl. Stichwort ‚Apollo‘, in: Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon [1770], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967, Sp. 327–347, hier: Sp. 332. Schillers Werke, NA: II/1, S. 92.

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Bewohner des Hains hat deinen Gesang nachgesungen; Ich war es, der deinen Gesang mit diesen Saiten begleitete.“ (56,3–7) Indem der Jüngling und das Mädchen also in der Idylle zueinander finden, kommen auch die zwei konstitutiven musikalischen Medien der Dichtung zusammen: Der Gesang des Mädchens als „die neue Harmonie gemessener Worte“ – die nichts anderes ist als die metrisch gegliederte Sprache der Dichtung – und dessen musikalische Begleitung durch das Saitenspiel des Jünglings, wie sie schon für die antike Dichtung charakteristisch ist und noch im Namen der literarhistorisch jüngsten Gattung buchstäblich ‚nachklingt‘. In diesem Sinn schreibt Gessners Idylle von der Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs also nicht nur den protologischen Mythos der Sprache, sondern zugleich auch den der Dichtung. Dieser erweist sich als ein nachgerade selbstreflexiver, weil die in der Idylle dargestellte ‚Erfindung‘ der musikalischen Medien des Saitenspiels und des Gesangs dem mimetischen Paradigma folgt. Gemeinhin wird unter Mimesis jene Nachahmung verstanden, die Aristoteles in seiner Poetik als konstitutiv für die antike Dichtung herausstellt: „Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung […]: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen.“324 Diesem MimesisPostulat folgt auch das Mädchen in Gessners Idylle, wenn es die Vögel im Hain nachahmt, um so den Gesang zu erfinden. Mimesis bedeutet in diesem Fall dann tatsächlich „Nachahmung der Natur in der Kunst als dichterische Darstellung“, wie es bei Gero von Wilpert heißt.325 Der Jüngling, der sich ebenfalls an einer Nachahmung versucht, betreibt damit eine Mimesis der Mimesis, weil sein Saitenspiel nunmehr den Gesang des Mädchens nachahmen soll. Gessners Idylle präsentiert also buchstäblich einen mimetischen ‚Rückkopplungseffekt‘, wie ihn schon Friedrich Gottlieb Klopstock in seiner Ode „Der Zürchersee“ von 1750 lyrisch fasst, wo es in der ersten Strophe heißt: „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht / Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, / Das den großen Gedanken / Deiner Schöpfung noch einmal denkt.“326 (Mit der Kritik am Konzept der Nachahmung wird Friedrich Schiller in seiner Idyllentheorie einen poetologischen Weg aufzeigen, um diese mimetische Rückkopplung produktiv zu unterbinden – vgl. Kapitel 3.2) Indem bei Gessner die idyllische Mimesis anhand ihrer musikalischen Medien des Gesangs und dessen instrumentaler Begleitung durch das Saitenspiel dargestellt wird, 324 325

326

Aristoteles: Poetik, übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1982, S. 6. Stichwort ‚Mimesis‘, in: Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur [1955], Stuttgart: Kröner 4 1964, S. 427. Klopstock, Friedrich Gottlieb: „Der Zürchersee“, in: ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Hors Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und RosaMaria Hurlebusch, Abt. I: Oden, Bd. I: Text, hrsg. von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch, Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 95–97, hier: S. 95.

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hebt sich die mimetische Rückkopplung der Nachahmung der Nachahmung auf. Vermittelt wird dies durch das Zusammenfinden des musikalischen Paars: Von Beginn an ist der Jüngling in Liebe für das Mädchen entbrannt, denn sobald der Gesang der Geliebten endet, „sitzt Schwermuth in [seinem] Busen“ (54,19). Entsprechend erweist sich die Bekränzung des Mädchens wie auch des Jünglings mit Blumen bei ihrer ersten Begegnung als Brautschmuck (vgl. 55,13; 56,1f), der symbolisch die sich vollziehende Verbindung der beiden – als Paar wie Duettpartner – anzeigt. Genau diese idyllische Doppelverbindung wird im Text thematisiert: Wenn der Jüngling zum Mädchen sagt, dass er „entzückt“ wäre, „wenn du mir vergönntest, mit dir in den Hain zu gehen, an deiner Seite sizend“ (56,14f), bezieht sich dies auf ihre künftige Verbindung als Liebespaar. Das impliziert ihre musikalische Partnerschaft, denn das Mädchen erwidert: „froh bin ich, wenn dein Saitenspiel meine Lieder begleitet“ (56,17f). Metapoetisch verweist diese doppelte Verbindung auf die Musikalität aller Dichtung, deren metrische Gestaltung jene Kopplung von Gesang und instrumentaler Begleitung darstellt, die Gessner durch das po(i)etische ‚Zusammenspiel‘ von Mädchen und Jüngling gewissermaßen allegorisiert. In diesem Zusammenspiel – und damit zugleich auch in der Dichtung – ist die mimetische Rückkopplung, aus der sowohl der Gesang des Mädchens wie auch das Saitenspiels des Jünglings als Nachahmungen entstanden sind, aufgehoben: „lieblicher wird es seyn als der Widerhall“ (56,18), stellt das Mädchen in Bezug auf ihr amouröses wie auch musikalisches Zusammensein fest. Damit geht Gessners Idylle weit über Klopstocks lyrische Beschreibung der Mimesis als ‚noch einmal Denken‘ hinaus, denn der Text zeigt, dass (idyllische) Dichtung jede bloß mimetisch ‚widerhallende‘ Nachahmung mit Hilfe ihrer musikalischen Medien transzendiert und selbst als eine po(i)etische ‚Schöpfung‘ erscheint, die sich dann derjenigen der Natur gegenüber als ebenbürtig erweist. Gessners zweite ‚inventive Idylle‘ von der Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs präsentiert daher also die Vorgeschichte der idyllischen Medien, die seit der Antike in po(i)etischem Gebrauch sind – wie beispielsweise in Theokrits Idylle „Die Wettsänger“. Bereits der Titel dieses Textes ist metapoetisch, weil er auf die eigentliche idyllische Aufgabe der Hirten als bukolische Sänger verweist. Bei Theokrit treten Daphnis und Menalkas im musi(kali)schen Wettstreit gegeneinander an und dies ganz unvermittelt, denn bei ihrer zufälligen Begegnung „auf bergiger Höhe“ (1), wo Daphnis Kühe und Menalkas Schafe hütet, fordert dieser jenen zum „Gesangstreit“ (6) heraus. Dies entspricht nach Paul Gerhard Klussmann der typischen Exposition der antiken Idylle mit der Begegnung der Hirten, die sofort musikalisch ‚handgreiflich‘ werden.327 Erzählerisch gestaltet ist diese Exposition bei Theokrit als knappe Einführung durch eine erzählende Instanz, die die Situation der Begegnung der Hirten kurz beschreibt und deren Aufforderung zum Wettstreit in direkter Rede wiedergibt. Danach wird das Wort buchstäblich 327

Vgl. Klussmann: „Ursprung und dichterisches Modell der Idylle“, S. 46.

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an Daphnis und Menalkas übergeben, denn alles Nachfolgende ist als dialogische Wechselrede zwischen den beiden gestaltet. Diese wird nur an drei Stellen nochmals knapp durch die Erzählinstanz unterbrochen, um so den Gesangsstreit zu strukturieren. Dieser gliedert sich in drei Sequenzen: Erstens die Begegnung der Hirten einschließlich ihrer Herausforderung zum Singen sowie der Klärung der Modalitäten ihres musischen Kampfes. Dieser bildet in Form der jeweils in Wechselrede vorgetragenen Gesänge dann die zweite Sequenz, der schließlich die Verkündung des Siegers als dritte Sequenz folgt. Bevor der eigentliche Wettkampf beginnt, handeln die beiden Kontrahenten dessen Modalitäten aus. Dazu gehört zunächst der „Kampfpreis“ (14), der so zu wählen ist, dass er „[j]edem von Beiden genügte“ (13). Die Idylle fordert also einen Einsatz von ihren beiden Hirten und dieser muss für beide äquivalent sein, denn Menalkas lehnt Daphnis’ Vorschlag ab, eines ihrer jeweiligen Tiere als Preis auszurufen: „Niemals setz’ ich ein Lamm, denn gar streng ist mir der Vater, / Wie auch die Mutter; sie zählen die Schaf’ mir jeglichen Abend.“ (15f) Wie schon Apollos Rinder nicht ihm, sondern Admetos gehören, so sind auch die Schafe nicht Menalkas eigener Besitz. Deshalb setzt er anstelle eines dieser Tiere sein Musikinstrument: „Eine Syring’, neunstimmig, gemacht von mir selber, besitz’ ich, / Unten so gleich als oben, gekittet mit weißestem Wachse: / Die sei von mir gesetzt“ (18ff). Der Einsatz, den die Idylle fordert, ist also ihre eigene mediale Voraussetzung, denn der Gesang der Hirten wird erst durch seine Begleitung mit einem Musikinstrument zu einem idyllischen – das hat Gessners Idylle eindeutig dargelegt. Zugleich impliziert der Einsatz dieses musi(kali)schen Kampfpreises eine potenzielle Katastrophe, da der Verlust der Syrinx das zukünftige Singen des Verlierers unmöglich macht: Im bukolischen Wettkampf steht somit die Idylle selbst auf dem Spiel, denn es droht die symbolische Kastration eines der Hirten. Da der Kampfpreis für die beiden Kontrahenten äquivalent zu sein hat, zieht Daphnis – wortwörtlich – mit: „Eine Syring’, neunstimmig, besitze fürwahr auch ich selber, / Unten so gleich als oben, gekittet mit weißestem Wachse.“ (21f) Zumindest ihrer sprachlichen Darstellung nach sind die beiden Musikinstrumente identisch und deshalb als Kampfreis geeignet. Dadurch scheint der bukolische Gesangswettkampf als ein Tausch im Sinn des mythischen Kuhhandels zwischen Apollo und Hermes: Dieser besteht darin, dass Apollo, nachdem Hermes ihm die Rinder gestohlen hat, das, „was ihm gehört, gegen das, was aus dem gemacht wurde, was auch ihm bzw. keinem gehört“, eintauscht: nämlich „die gesamte Kuhherde gegen die Leier“.328 Sie hat der listige Hermes zuvor erfunden, indem er einen Schildkröten-

328

Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 14.

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panzer mit den Därmen von Rindern aus der Apollo anvertrauten Herde bespannt und mit dem Spielen auf diesem Instrument die Begehrlichkeit des göttlichen Hirten weckt. Nach Jochen Hörisch ist der Rücktausch der gestohlenen Rinder aus der Perspektive des listigen Hermes „der ungerechte Tausch des Nichtäquivalenten“.329 Entsprechend avanciert der Tausch aus der Perspektive des betrogenen Apollos zum sprichwörtlichen Kuhhandel, weil er sein Eigentum gegen sein Eigentum und damit redundant Dasselbe gegen das Gleiche tauscht. Seinerseits übersieht der listige Hörisch jedoch die grundlegende Voraussetzung dieses Kuhhandels: Die Rinder sind gar nicht Apollos Eigentum, denn sie gehören Admetos, in dessen Dienst Apollo zur Strafe zum ersten Hirten gemacht wurde. Darauf weist auch Oliver Norman Braun mit Bezug auf Ovid explizit hin: „The version in Ovid’s Metamorphoses clearly gives us to understand that they were the cattle of Admetus tended by Apollo.“330 Der mythische Kuhhandel zwischen Hermes und dem Musagetes erweist sich wie der idyllische im Wettkampf zwischen Daphnis und Menalkas letztlich also als ein Nullsummenspiel: Indem Apollo nicht nur die ihm leihweise anvertrauten Rinder zurückbekommt, sondern obendrein die Lyra erhält, wird ihm letztlich das zugeführt, worauf er als Gott der Dichtkunst ohnehin Anspruch erheben kann; und der durch den Verlust der Syrinx in Theokrits Idylle symbolisch kastrierte Sänger braucht diese Niederlage insofern nicht zu fürchten, als Daphnis wie auch Menalkas mit der ankündigen Auswahl ihres Einsatzes herausstellen, dass sie handwerklich imstande sind, ihre Musikinstrumente selbst anzufertigen. Zugleich impliziert dies für den potenziellen Sieger, dass der in Aussicht stehende Gewinn insofern keiner ist, als er sich bereits im Besitz eines äquivalenten Instruments befindet. Der Einsatz beim Gesangsstreit der Hirten hat also bloß symbolischen Wert und ist daher ein idyllischer Kuhhandel. Nachdem Daphnis und Menalkas die erste Modalität ihres Wettstreits geklärt haben, folgt die Klärung der zweiten. Sie besteht in der Wahl eines geeigneten Kampfrichters. Dazu schlägt Menalkas den sich in der Nähe befindlichen Geißhirten vor. Daphnis hat nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden und entsprechend heißt es im dazwischengeschalteten Erzählerkommentar: „Und ihn riefen die Knaben, es kam sie vernehmend der Geißhirt, / Und nun sangen die Knaben, und gern war Richter der Geißhirt.“ (28f) Diese zusammenfassende Darstellung durch die Erzählinstanz leitet den zweiten Teil der Idylle ein, der im eigentlichen Gesangswettstreit zwischen Daphnis und Menalkas besteht. Dieser erfolgt in Wechselrede und hat gemäß der medialen Selbstreferenzialität der Idylle als Medium wiederum eine Idylle zum Gegenstand. So singt zunächst also Menalkas über sein eigenes Tun, indem er von sich in der dritten Person spricht und dabei sein eigenes Idylle-Machen metareflexiv kommentiert: „Thäler und strömende

329 330

Hörisch: Die Wut des Verstehens, S. 14. Brown, Norman Oliver: Hermes the Thief. The Evolution of A Myth [1947], Great Barrington: Lindisfarne Press 1990, S. 139.

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Bäch’, von Göttern entstammt, hat Menalkas / Je zum Klang der Syring’ liebliche Lieder gesellt“ (33f). Mit Hilfe des materialen Topos stellt Menalkas hier also eine idyllische Örtlichkeit hin und besingt dabei zugleich sein po(i)etisches Verfahren der Topothesie, denn Täler und Bäche werden von ihm zueinander ‚gesellt‘, damit ein ‚liebliches Lied‘ entsteht. Entsprechend bietet Daphnis’ erste singende Erwiderung das idyllische Echo auf Menalkas musi(kali)schen Auftakt, wodurch sich die Topothesie zur Konstitution des locus amoenus fortsetzt: „Quellen und Kräuter, Gewächs voll Süßigkeit, wenn die Gesänge, / Fließend aus Daphnis’ Mund, gleichen der Nachtigall Lied, / Schenket der Heerde der Küh’ ein Gedeihen, und treibet Menalkas / Hieher, weid’ er erfreut rings in dem üppigsten Gras.“ (37–40) Der dialogische Gesangswettstreit erweist sich aufgrund seiner wechselseitig fortführenden Struktur weniger als ein Kampf, sondern vielmehr als eine po(i)etische Kollaboration. Wie Menalkas spricht auch Daphnis über sich in der dritten Person und diese selbstreferenzielle Thematisierung erweist sich als Reflexion über sein po(i)etisches IdylleMachen, denn Daphnis setzt das idyllische Medium des Gesangs mit den besungenen landschaftlichen Versatzstücken gleich: Wie die genannten Quellen fließen dem Hirten die Gesänge aus dem Mund. Dergestalt idyllisch ‚naturalisiert‘ ist der Hirtengesang also mehr als eine bloße Nachahmung der Natur: Wie schon der Gesang des Mädchens bei Gessner transzendiert auch Daphnis’ idyllische poiesis den mimetischen Rückkopplungseffekt, weil sein Gesang nicht wie „der Nachtigall Lied“ klingt, sondern diesem gleich ist – das musi(kali)sche Idylle-Machen kehrt also jenes scholastische Diktum um, demnach die geschaffene Natur aus der (er)schaffenden hervorgeht: In der Idylle konstituiert sich die natura naturata selbst als natura naturans.331 Der idyllische Wechselgesang der beiden Hirten erweist sich auch deshalb als selbstbezüglich, weil die beiden Sänger darin ihrerseits besungen werden. Entsprechend avanciert nach dem po(i)etischen Hinstellen des lieblichen Ortes schließlich die bukolische Tätigkeit zum Gegenstand des kollaborativen Hirtenlieds. Dabei zeigt sich eine grundlegende Opposition zwischen Menalkas und Daphnis im jeweiligen Verständnis ihres idyllischen Berufs: Für Menalkas liegt der Zweck des Hütens seiner Schafe darin, dass das Vieh gedeiht: „geweidet, geweidet, und füllet euch alle die Euter, / Daß für die Lämmer was da, und was in die Körb’ ich bekomme!“ (69f) Menalkas denkt wirtschaftlich und zielt durch sein Tun auf einen Profit: Die Schafe sollen weiden, damit sie ihre Lämmer aufziehen und zugleich so viel Milch produzieren, dass er von diesem Überschuss profitierend zehren kann. Anders Daphnis, für den sich das Hirtendasein als selbstgenügsam darstellt: „Mir ist lieblich die Stimme des Kalbs und lieblich sein Anhauch, / Lieblich, im Sommer zu ruhen am Bachlauf unter dem Himmel. / Eicheln sind 331

Vgl. Stichwort ‚natura naturans‘, in: Philosophisches Wörterbuch [1964], 2 Bd.e, hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, Bd. II: Konflikt bis Zyklentheorie, Berlin [DDR]: das europäische buch 8 1972, S. 761.

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Eichen zum Schmucke, dem Obstbaum sind es die Früchte, / So ist’s der Kuh ihr Kalb, und dem Hüter der Kühe sie selber.“ (76–79) Daphnis’ Tätigkeit ist nicht auf die Erwirtschaftung eines Überschusses gerichtet, sein ‚Profit‘ ist kein primär materieller, sondern ein ästhetischer: Alles um ihn her erscheint ‚lieblich‘ und die Kühe, die er hütet, sind ihm der natürliche ‚Schmuck‘ seines Hirtentums – ganz so wie die Frucht der Schmuck des Obstbaums ist oder die Eichel derjenige der Eiche. Es scheint diese ‚bukolische Bescheidenheit‘ zu sein, durch die Daphnis letztlich doch einen Gewinn erzielt, der im Sinn der Medienmetonymie der Idylle ein ganz und gar idyllischer ist. Der zum Preisrichter ernannte Geißhirt verkündet Daphnis’ Sieg im Gesangswettstreit mit Menalkas: „Süß ist dein Mund und lieblich ertönt dir, Daphnis, die Stimme, / Deinem Gesange zu horchen, ist mehr als Honig zu kosten. / Nimm die Syringen; du hast im Liede gewonnen den Kampfpreis.“ (81ff) Auch wenn Daphnis mit der Syrinx etwas gewinnt, das ihm nicht von Nutzen ist, weil er – gemäß der Logik des Kuhhandels – bereits besitzt, was er erhält, erweist sich sein singend errungener Sieg dennoch als profitabel, weil Daphnis zum Lehrer avanciert: Der Geißhirt will sein Schüler werden, um von ihm im idyllischen Gesang ausgebildet zu werden. Dafür zahlt dieser mit einer Ziege aus seiner Herde: „Willst du [d.i. Daphnis, N.J.] was lehren mich selbst, der mit dir weidet die Geißen, / Geb’ die gestutzte Ziege dagegen ich dir als das Lehrgeld, / Die bis über den Rand dir stets anfüllet den Eimer.“ (84ff) Der bukolische Gesang als die eigentliche Tätigkeit der Hirten – die nichts anderes produziert als sich selbst, nämlich einen zum singenden Hirten auszubildenden Geißhirt und damit die Möglichkeit einer weiteren Idylle – zeitigt trotz seiner genuin medienmetonymischen Disposition letztlich also doch einen materiellen Gewinn. Dieser geht für Daphnis allerdings weit über die vom Geißhirten offerierte Ziege hinaus: Als weiteren ‚Preis‘ erhält er jenes Mädchen, dem er tags zuvor begegnet ist und das er aus Scheu nicht ansprechen konnte: „Als ich gestern der Grotte des Mägdleins mit bündigen Brauen / Führte die Stärken vorbei, rief mich sie erblickend: wie schön doch! / Doch kein einziges Wort, kein bitteres, gab ich zurück ihr“ (72ff). Das berichtet Daphnis zuletzt in seinem Gesang, sodass dieses idyllische Medium letztlich sein Säumnis aufhebt, denn mit dem Sieg gegen Menalkas „ward Daphnis der Erste gedachtet der Hirten, / Und, kaum Jüngling, gewann zur Gattin er sich die Najade“ (91f). Durch seinen idyllischen Gesang findet Daphnis zudem auch zur Sprache zurück, die es ihm bei der ersten Begegnung mit dem Mädchen noch verschlagen hat. Wie schon bei Gessner erweist sich daher auch hier bei Theokrit die Sprache als das idyllischste aller Medien: Ihr Rauschen materialisiert sich im (Hirten-)Gesang der Idylle, denn „[a]ls Sprechen bleibt [die Sprache, N.J.] scheinbar zum Gestammel verurteilt; als Schreiben zur Stille und Distinktion der Zeichen“.332 Insofern avanciert der Gesang in der Idylle zum Medium der Sprache selbst, weil er zwischen ihren beiden anderen Realisierungs332

Barthes: „Das Rauschen der Sprache“, S. 89.

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formen (dem Sprechen und Schreiben) vermittelt: Die ‚Leerstelle im Sinn‘ der Sprache, auf die ihr Rauschen verweist, ist in Theokrits Idylle also genau jener Gesang, den Gessners Idylle an den Anfang aller Dichtung stellt.

2.2.2„Das Ganze ein lichtgeborenes Bild“: Alexander von Warsbergs ‚idyllisch engagierter‘ Blick auf Korfu Gemäß Kittlers Neuperspektivierung von McLuhans Diktum zu einer selbstreferenziellen Medienmetonymie handelt das Medium ‚Idylle‘ stets von anderen Medien – seien es wie bei Gessners Lycas landschaftliche Versatzstücke, die nach dem Verfahren der Topothesie zum Idylle-Machen gebraucht werden, um den idyllischen Ort des locus amoenus als Medium der Erinnerung an die Liebesbegegnung hinzustellen, oder – wie im Fall von Gessners zweiter ‚inventiver Idylle‘ – der Gesang des Mädchens und das Saitenspiel des Jünglings, die als genuin musikalische Medien die Idylle konstituieren. Immer reflektiert die Idylle durch die Inszenierung des po(i)etischen Gebrauchs solcher Medien über ihre eigene Medialität, weil sie als literarisches Artefakt ein sprachliches Gebilde darstellt. Entsprechend sind auch die für das Idylle-Machen konstitutiven Medien letztlich stets sprachliche: Der Gesang der Hirten ertönt als Materialisation eines Rauschens der Sprache, das weder sprechend noch schreibend, sondern nur singend gefasst werden kann, um ihn somit zugleich der idyllischen poiesis zuträglich zu machen. Genauso wie der materiale Topos der Idylle ist deren Medialität nicht allein auf den Bereich der Literatur beschränkt: Er findet sich in der bildenden Kunst genauso wie in jenen Formationen, die Kittler als ‚optische Medien‘ beschreibt, nämlich Film und Fernsehen. Entsprechend verwundert es also nicht, dass sich im großen Interdiskurs, den die Literatur nach Jürgen Link darstellt, idyllische Texte finden, die diese optischen Medien thematisieren und über deren jeweilige idyllische Medialität reflektieren. Dazu gehören die im Folgenden zu untersuchenden Reisebeschreibungen des österreichischen Konsuls Alexander von Warsberg, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von der ionischen Insel Korfu aus Griechenland und das östliche Mittelmeer bereist. Des Weiteren gehört dazu jene kurze Erzählung, die Wilhelm Lehmann 1928 unter dem Titel „Böse Idylle“ in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht und die ein Intertext zu Gottfried Benns Erzählung „Die Reise“ darstellt. Warsbergs und Lehmanns Texte handeln von optischen Medien, insofern sie über deren idyllischen Verfasstheit reflektieren. Diese steht damit komplementär zu jener anderen Seite der optischen Medien, die sich mit Kittler als eine katastrophische beschreiben lässt, denn: Historisch betrachtet sind Film und Fernsehen einschließlich der ihnen vorangehenden Fotografie, die die optischen Apparate der Camera obscura und Laterna

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magica verkoppelt, aus Kriegstechniken hervorgegangen.333 Entwickelt als derartig martialische Technologien dienten optische Medien und ihre Vorläufer zuvorderst dazu, den Feind seiner Sinne zu berauben – metaphorisch, wie im Fall der Blendlaterne, oder aber buchstäblich, wie im Fall des Colts (dessen technische Apparatur die fatale Vorfahrin des Filmprojektors ist). Dies ist die katastrophische Seite aller optischen Medien. Ihre andere Seite besteht dagegen in einer – mit Kittler gesprochen – ‚Überrollung der Sinne‘,334 wie sie die Idylle von Beginn an mit Hilfe ihrer musikalischen Medien inszeniert und seit dem 19. Jahrhundert, als man Bilder technisch zu erzeugen, speichern und übertragen gelernt hat, auch durch die Integration optischer Medien in die idyllische poiesis leistet. Diese andere Seite der optischen Medien stellt in Bezug auf ihre von Kittler nachgezeichnete technisch-katastrophische Seite insofern ein Rauschen dar, als dieses nach Barthes eine ‚Leerstelle des Sinns‘ angezeigt, die die von der Medienwissenschaft bislang unentdeckte idyllische Disposition optischer Medien betrifft. Genau darum soll es im Folgenden gehen, wenn die „Augenlust“ der Idylle als ein Merkmal ihrer Medialität behandelt wird.335 Schon seit der Antike kennzeichnet die Idylle eine solche Lust, die durch die Ekphrasis sowie die bildhaft-anschaulich gestaltete Darstellung des locus amoenus sprachlich befriedigt wird. Gerade der liebliche Ort verleiht der Augenlust in der Idylle eine ganz buchstäbliche Evidenz. Erstens gilt der Rhetorik die Evidenz als bildhafte Darstellung vor allem des „Naturgeschehens“,336 zweitens ist die Idylle allein schon aufgrund ihrer Etymologie ‚bildhaft‘: Als ‚eidyllion‘ präsentiert sie kleine Bilder amöner Landschaften, in denen Hirten über diese Landschaften singen und das wiederum mit Hilfe sprachlicher Bilder. Alle Medien, von denen die Idylle handelt, besitzen darüber hinaus eine genuin idyllische Disposition, weil sie zum Idylle-Machen gebraucht werden: Wie eingangs an Hesses „Stunden im Garten“ gezeigt, erweist sich die Idylle deshalb als ein Medium im Sinn des grammatischen Genus Verbi, denn die idyllische poiesis ist stets eine auf sich selbst zurückverweisende und zurückwirkende und zudem hochgradig medienintegrative Tätigkeit. Dies wurde zuvor an Gessners zweiter ‚inventiver Idylle‘ sowie an Theokrits „Die Wettsänger“ evident gemacht. Im Zeitalter der technischen Bild(re)produktion halten dementsprechend auch die optischen Medien, mit denen die Erzeugung, Speicherung und Übertragung von Bildern ermöglicht wird, Einzug in die Idylle. Diese erscheint für Alexander von Warsberg, der seinen Reisebericht explizit in medialer Konkurrenz zur Fotografie verfasst, daher auf Korfu tatsächlich als ein „lichtgeborenes Bild“ (197).

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Vgl. Kittler: Optische Medien, S. 32 passim. Vgl. Kittler: Optische Medien, S. 35. Kittler: Optische Medien, S. 15. Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik [1963], München: Hueber 31967, S. 118.

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1878 veröffentlich Warsberg seine ‚Odysseeischen Landschaften‘, deren erster von insgesamt drei Bänden der größten der ionischen Inseln gewidmet ist. Sie hält der österreichische Reisende – so deutet es der Titel des Bandes an – für Das Reich des Alkinoos.337 Dieser implizite Verweis auf jenen Ort, an den es Odysseus während seiner Irrfahrt verschlägt, verdeutlicht den kulturgeschichtlichen und tourismushistorisch bedeutsamen Stellenwert, der Homers Werken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Reisenden im Mittelmeerraum zugesprochen wird: „Das homerische Werk“, schreibt Warsberg im Vorwort seines Berichts, „ist wirklich ein poetischer Murray, ein in’s Dichterische übertragener Bädecker dieser schönsten und denkwürdigsten Gegend unserer Culturgeschichte.“ (V) So wie Theokrits idyllische Landschaften mit seiner Heimat Sizilien, das von Vergil besungene Arkadien mit jener gleichnamigen Gegend auf der Peleponnes und die amönen Örtlichkeiten in Gessners Idyllen mit der Schweiz identifiziert wurden, so hält auch Warsberg die von Homer in der Ilias und der Odyssee beschriebenen Gegenden für das poetische Abbild Griechenlands. Mit dieser Gleichsetzung von literarischer und außersprachlicher Wirklichkeit ist Warsberg keinesfalls allein, denn zeitgleich mit dem österreichischen Konsul ist ein mecklenburgischer Archäologe in Griechenland ebenfalls buchstäblich auf Homers Spuren unterwegs: In den 1870er Jahren führt Heinrich Schliemann Grabungen in den antiken Stätten Troja und Mykene durch.338 Diese beiden Griechenlandreisen folgen damit einer identifikatorischen Lektüre Homers, wie sie schon für dessen antike Kommentatoren charakteristisch ist, die Korfu für Scheria halten und damit für jene Insel,339 über die Alkinoos herrscht, als Odysseus dort vor seiner Heimkehr nach Ithaka angespült und zum Erzähler seiner eigenen Geschichte wird. Korfu stellt für Warsberg eine Insel mit einer ganz besonderen Wirkung dar, die er in einem pleonastischen Vergleich fasst: „So ist die ganze Insel wie eine Idylle und wirkt wie ein Gedicht.“ (118) Dieses Lob auf Korfu erhebt die Insel in den Rang eines Kunstwerks, denn gattungshistorisch betrachtet können Idyllen als ‚kleine‘ Gedichte definiert

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Warsberg, Alexander Freiherr von: Odysseeische Landschaften, 3 Bd.e, Bd. I: Das Reich des Alkinoos, Wien: Carl Gerold’s Sohn 1878. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt; die römischen Ziffern beziehen sich dabei auf die „An meinen Verleger“ überschriebene Einleitung, die arabischen Ziffern auf die übrigen Seiten des ersten Bandes der ‚Odysseeischen Landschaften‘. Die ‚mediale Vorgeschichte‘ von Schliemanns Wiederentdeckung Trojas stellt Nils Büttner dar und zeigt auf, inwiefern Darstellungen des Troja-Stoffes in der bildenden Kunst die Lektüre der homerischen Epen überlagern (vgl. Büttner, Nils: „Für die homerischen Helden begeistert – ohne Homer zu lesen. Troia in der Kunst von der Spätrenaissance bis zur Aufklärung“, in: Latacz, Joachim/Theune-Großkopf, Barbara (Hgg.): Troia – Traum und Wirklichkeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 257–279). Vgl. Abulafia, David: Das Mittelmeer. Eine Biographie [2011], übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Fischer 22015, S. 134.

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werden.340 Vor diesem Hintergrund verweist Warsbergs Aussage implizit also auf die Poetizität aller Idyllen, die als künstlerisch-künstliche Gebilde stets po(i)etische Artefakte sind. Entsprechend deklariert Warsberg auch den Zweck seiner Reise und seines Berichts darüber als einen po(i)etischen, schließlich will er ein ‚literarischer Illustrator Homers‘ sein, dessen Werk er „in möglichst breiter und deutlich ersichtlicher Ausführung den landschaftlichen Hintergrund“ geben will (V, Hervorhebung N.J.). Was Warsberg also um- und antreibt ist ein buchstäblich bildnerisches Schreiben, denn mit seinen ‚Odysseeischen Landschaften‘ beansprucht er für sich „das Verdienst, als ein Photograph zu gelten und ein Skizzenzeichner nach der Natur“. (IV) Zwar schreibt Warsberg explizit keine Idylle, er beschreibt allerdings eine und zwar die Insel Korfu. Dazu greift er auf den materialen Topos zurück und idyllisiert die korfiotische Landschaft durch ein ‚literarisch bildgebendes‘ Verfahren: den Vergleich – mit der Architektur sowie mit der bildenden Kunst. Indem auf diese Weise die Artifizialität der Landschaft herausgestellt wird, kann die Insel selbst zum Medium avancieren, das gemäß der idyllischen Medienmetonymie weitere Idyllen hervorbringt. Diese ‚entdeckt‘ Warsberg auf Korfu allerorts in abgeschiedenen Olivenhainen oder an felsbeschatteten Meeresbuchten. Dergestalt erscheint sein idyllischer Reisebericht wie eine einzige Ekphrasis des landschaftlichen ‚Kunstwerks‘ Korfu. Zu dessen po(i)etischer Darstellung integriert Warsberg konsequent andere, vor allem aber optische Medien in sein bildnerisches Schreiben, das er gemäß seiner vorwortlichen Selbstdarstellung als ein photographisch-skizzierendes verstanden wissen will. Durch diese Integration optischer Medien gerät Warsbergs literarisches Schreiben zu einem bildnerischen, durch das ihm Korfu letztlich als „ein lichtgeborenes Bild“ (197, Hervorhebung N.J.) erscheint. Dieses stellt er nun aber gerade nicht durch optisch-technische Bildgebungsverfahren dar, sondern durch literarisch-sprachliche. Gerade weil Warsberg sein ‚literarisches Abbild‘ Korfus gewissermaßen anachronistisch mit „Papier[] und Bleistift[]“ einzufangen versucht (III), bildet das insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sich verschärfende Konkurrenzverhältnis zwischen literarischen und medientechnisch (re)produzierten Bildern den Gegenstand des ersten Bandes der ‚Odysseeischen Landschaften‘ aus der Metaebene. Die Idylle, als die Korfu darin präsentiert wird, erweist sich somit letztlich als literarisches Meta-Medium po(i)etischer Selbstreflexion, das alle bildkünstlerischen wie auch optisch-technischen Medien für die literarische Darstellung produktiv macht. Ganz im Sinn von Kittlers ‚Universalmedium‘ wirkt Warsbergs eigene Idyllendichtung in Form seines Reiseberichts deshalb nachgerade 340

Laut Günter Häntzschel ist es schließlich ein zentrales „traditionsbildend[es] Merkmal[]“ der Idyllen, dass sie „meist in Form kleiner hexametrischer Einzelgedichte gehalten sind“ und in „epischen, lyrischen“ sowie „dramatischen Formen“ realisiert werden (Häntzschel, Günter: Stichwort ‚Idylle‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. II: H–O, gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Harald Fricke, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 122–125, hier: S. 123).

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medienintegrativ im Imaginären von LeserInnenseelen. Wie das konkret geschieht, soll nachfolgend durch die Analyse der idyllischen poiesis in den ‚Odysseeischen Landschaften‘ des österreichischen Konsuls untersucht werden. Warsbergs ‚real-empirische‘ Eindrücke von Korfu sind medial vorgeprägt durch seine identifikatorische Homer-Lektüre. Diese literarische Prädisposition der Insel wie auch seiner Wahrnehmung von ihr stellt er direkt zu Beginn seines Reiseberichts heraus, wenn er Korfu mittels eines Zitats aus der Odyssee – bezeichnender Weise in der Übersetzung von niemand anderem als dem geistigen Vater der ‚Luise‘ – beschreibt: „Corfu lag trübe, wirklich ‚wie ein Schild im dunkelwogenden Meere‘.“ (13) Warsberg greift den homerischen Vergleich auf und sein eigener Sinneseindruck der Insel bei der nächtlichen Ankunft per Schiff bürgt für den Wahrheitsgehalt der Odyssee, denn in der Voß’schen Übersetzung heißt es im fünften Gesang: „Siebzehn Tage befuhr er [Odysseus, N.J.] die ungeheuren Gewässer. / Am achtzehnten erschienen die fernen Berge / Von dem phaiakischen Lande, denn dieses lag ihm am nächsten; / Dunkel erschienen sie ihm, wie ein Schild, im Nebel des Meeres.“341 Diese Projektion der Literatur in die außersprachliche Wirklichkeit wird noch gesteigert, als sich der österreichische Reisende mit dem antiken Heros gleichsetzt – zumal dieser laut Hans Magnus Enzensberger als „mythisches Inbild aller späteren Reisenden“ und deshalb als der erste ‚Tourist‘ überhaupt gelten darf:342 „Und Odysseus kam ja ziemlich mit mir denselben Weg“, stellt Warsberg fest, „und auch das Licht, in welchem er die Insel zuerst sah, war wie heute nächtlich dunkel.“ (13) Mit dieser Einleitung seines Reiseberichts setzt Warsberg die literarische Wirklichkeit zweifelsfrei mit der außersprachlichen ineins, denn es sei gerade „diese sprechende Aehnlichkeit mit dem homerischen Vergleiche das erste, durch keine philologische Theorie wegzuleugnende Zeugniß [sic] welches dem Kommenden wird für die Identität Scheria’s mit dem historischen Korkyra und Coruf“ (13). Die deutliche Betonung dieser literarischen bzw. genauer: homerischen Prädisposition Korfus hat diskurstaktische Gründe: Warsberg schreibt seinen Reisebericht in einer Zeit, als die großen Entdeckungsreisen schon über ein halbes Jahrhundert lang vorbei sind. Was es für ihn in Griechenland daher noch zu ‚entdecken‘ gibt, sind jene beiden 341

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Homer: Odyssee [V, 278–281], in: ders.: Ilias/Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß, S. 509. Warsberg scheint sich allerdings nicht auf die Erstausgabe der Voß’schen Übersetzung der Odyssee von 1781, sondern eine spätere Bearbeitung von 1800 zu beziehen, denn daraus zitiert er wortgenau die entsprechende Passage: „Siebzehn Tage nunmehr durchschifft’ er [Odysseus, N.J.] des Meeres Gewässer. / Am achtzehnten darauf erschienen ihm schattige Berge / Von dem fäakischen Lande, wo ihm zunächst es gestreckt war; / Trübe lags, wie ein Schild im dunkelwogenden Meere.“ (Homers Odyssee von Johann Heinrich Voß. Erster Band [IV, 278–281], Wien/Prag: Franz Haas 1800, S. 138, Hervorhebungen N.J.) Enzensberger, Hans-Magnus: „Eine Theorie des Tourismus“, in: ders.: Einzehlheiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, S. 147–168, hier: S. 153.

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großen Phantasmen des modernen Massentourismus, die Enzensberger beschreibt: die vermeintlich unentdeckte Geschichte in der vermeintlich ebenso unentdeckten Natur eines Landes.343 Beides wird ihm durch seine identifikatorische Homer-Lektüre auf Korfu ‚zugänglich‘. Für Warsberg, dessen Verdienst es sein wird, auf Korfu die Pfade des in den 1830er Jahren in Europa beginnenden Tourismus durch die Erfassung landschaftlicher Sehenswürdigkeiten anzulegen,344 avanciert seine Reise somit zu einer Wiederentdeckung des antiken Griechenlands durch eine Verkopplung von literarischer und außerliterarischer Wirklichkeit. Mit Bezug auf die literarische Schreibszene sowie das daraus entwickelte Konzept der ambulanten Aufzeichnungsszene, die die von Semantik, Instrumentalität und Körperlichkeit gerahmte „Konstellation des Schreibens“ erweitert,345 lässt sich bei Warsberg von einer spezifischen Reiseszene sprechen. Dieser eignet eine besondere Form von „Kopräsenz“,346 die ihrerseits literarisch präfiguriert ist. Wie Goethes Werther, der auf seinen wahlheimischen Spaziergängen stets von Homer begleitet wird, so ist auch Warsberg zusammen mit dem griechischen Dichter auf Korfu unterwegs: „Ich trug den Homer in der Tasche und saß auf den schönsten Punkten lesend und ausruhend.“ (124) Diese ‚literarische Begleitung‘ ermöglicht Warsberg nun eine wechselseitig idyllisierende 343 344

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Vgl. Enzensberger: „Eine Theorie des Tourismus“, S. 156. 1836 erscheint das erste Red Book des englischen Reiseführerverlegers John Murray, das „die Sehenswürdigkeiten von Holland, Belgien und dem Rheinland“ verzeichnet, um „dem Touristen die pittoreskesten und romantischsten Routen“ zu empfehlen (Enzensberger: „Eine Theorie des Tourismus“, S. 155). Warsberg leistet mit seinen ‚Odyseeischen Landschaften‘ genau das, was Murrays Red Books paradigmatisch für den modernen (Massen-)Tourismus vorgeben: Bis heute finden sich in den Reiseführern für die größte der ionischen Inseln sowie in entsprechenden Touristikkatalogen, die Korfu als begehrliches Reiseziel bewerben, all jene Sehenswürdigkeiten beschrieben und bebildert, die Warsberg auf der Insel besucht. Zugleich holt der österreichische Konsul die wohl berühmteste Korfu-Touristin der Geschichte nach Odysseus auf die Insel: Kaiserin Elisabeth, die Korfu erstmalig 1861 bereist, verbringt hier seit 1885 regelmäßig ihre Sommerfrische in einer Villa, die unter Warsbergs Aufsicht für ‚Sissi‘ errichtet wird (vgl. Corti, Egon Caesar Conte: Elisabeth. Die seltsame Frau [1934], Graz/Wien/Köln: Styria 431998, S. 78, 244). Der Aufenthalt der Kaiserin sowie der Bau ihres ‚Achilleions‘ sind ein allgemeines Gesprächsthema in Europa. Davon zeugt ein reich bebilderter Bericht über die Bauarbeiten in der ‚Gartenlaube‘, der zugleich für die Bekanntheit der ionischen Insel sorgt (vgl. Conz, Gustav: „Korfu“, in: Die Gartenlaube (13) 1893, S. 212–217). Entsprechend besuchen nach Elisabeth im 20. Jahrhundert weitere illustre Reisende Korfu, wie etwa der deutsche Kaiser Wilhelm II. oder die Schriftsteller Lawrence Durrell und Henry Miller. Aus kunsthistorischer Perspektive untersucht Nils Büttner die ‚Nachwirkungen‘ Warsbergs auf Korfu (vgl. Büttner, Nils: „Troia – ein deutscher Mythos“, in: Behr, Hans-Joachim/Biegel, Gerd/Castritius, Helmut (Hgg.): Troia – Traum und Wirklichkeit. Ein Mythos in Geschichte und Rezeption, Braunschweig: Braunschweigisches Landesmuseum 2003, S. 108–129). Stingelin, Martin: „‚Schreiben‘. Einleitung“, in: ders. (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenkleksenden Säkulum“, Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München: Fink 2004, S. 7–21, hier: S.15. Thiele, Matthias: „Die ambulante Aufzeichnungsszene“, in: zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaft (3) 2010, S. 84–93, hier: S. 90.

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Lektüre Homers wie auch der korfiotischen Landschaft, denn „wenn man aus dem Buche heraus- und von der Landschaft wieder in die Werke hineinschaut“, dann begründet dies jenes bildnerische Schreiben, das Warsberg in seinem Reisebericht praktiziert und zwar dergestalt, „als zeichne man selbst diese Gegend“ (124). Genau darin besteht sein literarisches Vorhaben, wenn er Homers Dichtung „den landschaftlichen Hintergrund“ geben will (V). Während die Schreib- bzw. Aufzeichnungsszene die Begleitumstände des (literarischen) Schreibens bzw. Notierens in einer genealogischen Perspektive als Widerständigkeiten erfasst, zeichnet sich gerade die anhand von Warsbergs Reisebericht rekonstruierbare Reiseszene dagegen also durch ihre ‚Widerstandslosigkeit‘ aus, denn der ‚kopräsente‘ Homer avanciert zu einer nachgerade inspirativen Produktivkraft der idyllischen poiseis. Letztlich stellt sich Warsbergs Reisebericht als Reflexion über sein bildnerisches Schreiben dar. Dessen medienintegrative Züge macht er bereits bei Homer aus: Seine Epitheta, „welche kleine Merkmale ausdrücken“, erscheinen Warsberg einerseits „wie feste Drucker eines Bleistiftes“ und andererseits „wie glückliche Pinselstriche in den Schilderungen“ des antiken Dichters (124, Hervorhebungen N.J.). Diese ‚transmediale‘ Spezifik des homerischen Schreibens, das als ‚Schilderung‘ sowohl eine literarische als auch malerische Darstellung meint, bezieht Warsberg zurück auf seine identifikatorische HomerLektüre. Sie legitimiert er durch einen den antiken Texten unterstellten ‚Realismus‘, der zwangsläufig dazu führt, dass Warsberg in ihnen die sich ihm auf Korfu darbietende außerliterarische Wirklichkeit wiedererkennt: Der Umstand, dass Homer nämlich dieselben Beiworte „stereotyp für dasselbe Meer und die gleiche Insel, die Berge und Winde wiederholt, wie die Sprache feststehende Worte für dieselben Gedanken hat, hätte doch auch als Zeugniß für den Realismus seiner Landschaftsbilder gefaßt werden müssen“ (124), erläutert Warsberg. Dass er hier im Konjunktiv spricht, unterstreicht seinen Anspruch auf die mit der Reise und dem verfassten Bericht darüber unternommene literarische ‚Wiederentdeckung‘ der homerischen Landschaften auf Korfu, das bereits seit der ersten Besiedlung in der Antike einen festen Platz auf den Karten europäischer Geographen hat.347 Die von Warsberg immer wieder herausgestellte literarische Prädisposition der ionischen Insel erweist sich gleichsam als eine idyllische, denn schließlich stellt Korfu sich ihm mit einem „rein idyllischen Eindruck“ dar (172), den er an keinem anderen Ort „wohllüstig sinnlicher gestaltet“ vorgefunden hat (190). Diese korfiotische Idylle ist für Warsberg gleichsam eine paradiesische, weil es so scheint, „als ob der Fluch der Erbsünde diese Erde von Korkyra nicht getroffen hätte“ (118). Deshalb wirke das ionische Eiland tatsächlich „wie das verlorene Paradies“ (118), in dem ein nachgerade „idyllischer Friede“ herrscht (172). Warsberg überlagert die Idylle hier mit den christlichen Paradiesvorstellungen des Alten Testaments. Dadurch ‚macht‘ er aus Korfu buchstäblich 347

Vgl. Abulafia: Das Mittelmeer, S. 148.

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eine poetische Insel, wie sie Horst Brunner in seiner Untersuchung von Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur als idyllisches Motiv entwirft, das letztlich eine literarische Konkretisierung des materialen Topos der Idylle sowie seines po(i)etischen Gebrauchs darstellt. Brunners Begriff der ‚poetischen Insel‘ verweist insofern darauf, als dieser sowohl die Künstlichkeit als auch die Kunsthaftigkeit eines solch ‚gemachten‘ Eilands anzeigt: Die poetische Insel ist ein konstruierter imaginärer Raum, der auf die ihm „ursprünglich zugrundeliegende Wirklichkeit nicht mehr angewiesen“ und zugleich von ihr unterschieden ist, weil er sich als „stets bewertet“ erweist und daher „einen bestimmten ‚Inhalt‘, eine bestimmte ‚Bedeutung‘ hat“.348 Durch diese spezifische Bedeutung erscheine der Inselraum trotz seiner offensichtlichen Künstlichkeit „für die Anschauung des Lesers ebenso ‚objektiv‘, ‚wirklich‘ wie der zugrundeliegende ‚wirkliche‘ Raum“.349 In den ‚Odysseeischen Landschaften‘ erhält der durch den Signifikanten ‚Korfu‘ angezeigte Inselraum die positiv konnotierte Bedeutung ‚Idylle‘, was Warsberg dadurch erreicht, dass er die Konvergenz zwischen der ‚landschaftlichen Wirklichkeit‘ und der literarischen Prädisposition Korfus durch seine Homer-Lektüre herausstellt. Sein bildnerisches Schreiben gibt dieser Konvergenz schließlich Evidenz. Sie ist es, die Korfu in den Reisebeschreibungen letztlich als po(i)etische Insel konstituiert, um ihrerseits als idyllische Kulisse für die Warsberg’sche Homer-Lektüre Werthers Wahlheim geradezu schrebergärtlich wirken zu lassen: „Hier sollte der Homer gelesen werden“, fordert Warsberg, „an warmen Sommertagen hingestreckt auf den schwellenden Wiesengrund unter bergendem Schatten des Oelbaumes am wogenden Strande des Meeres.“ (236) Warsbergs bildnerisches Schreiben integriert neben der Literatur noch ein anderes Medium, das er bereits in seinen Reflexionen über die literarische Prädisposition Korfus thematisiert: die Architektur. Deren mediale Verfasstheit legt Kittler ausführlich dar – man denke etwa an die Entwicklung der Linearperspektive, die mit Filippo Brunelleschis Bau der Kuppel des Florentiner Doms nicht bloß zusammenfällt, sondern diesen überhaupt erst ermöglicht, oder an die Barockarchitektur, deren illusionistische Ausgestaltung durch malerische und plastische Elemente unmittelbar aus dem gegenreformatorischen Krieg der katholischen Kirche herrührt.350 Der po(i)etische Inselraum Korfus wirkt auf Warsberg insofern architektonisch, als er für seine Homer-Lektüre nicht nur „eine wahrhaft antike Tempelstätte“ darstellt (236), sondern gleichsam einen „Studirsaal“ – wie etwa einer der „Olivenhaine auf dem Strande hinter Benizze“ (262). Dort erwartet Warsberg „lesend“ die „abendlichen Stunden“ und erlebt dabei die po(i)etische Wirkung dieser Idylle:

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Brunner, Horst: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1967, S. 16f. Brunner: Die poetische Insel, S. 16. Vgl. Kittler: Optische Medien, S. 50ff, 81ff.

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Dimensionen der Idylle Und wie werden auf solchem Boden, vor diesem Meer und unter diesen Bäumen alle griechischen Sagen und Geschichten lebendig. Man braucht die Geister nicht zu citieren; die Helden und Götter kommen von selber aus dem golddunstigen Weitungen der Olivenbäume heraus und über das blaue lichte Meer. Von unserer Seite ist nur etwas Treue und Erinnerung nöthig, damit man sie wieder erkenne und freundlich aufnehme. (262)

Beides bringt Warsberg auf, sodass sich diese ‚Geistersichtung‘ für ihn zum literarischen Lehrstück wandelt: Seine idyllische Séance versetzt ihn nachgerade an Homers Stelle, denn in „einer solchen günstigen Stunde mag Homer auch das Auftauchen der Seelen aus der Unterwelt gesehen haben, welche dem Odysseus den Weg und die Zukunft weisen“ (262). Wie die Tessiner Garten-Idylle für Hesse, wo dieser als poeta vates sein Glasperlenspiel aus dem Feuer empfängt, avanciert die Insel-Idylle für Warsberg ebenfalls zu einem dichterisch inspirierenden Medium, „denn klärende Kraft der Wahrheit und gestaltenbildender Zauber der Dichtung bestehen auch in dem Odem dieser herrlichen, verklärten, sonnigen Luft“ Korfus, die gemischt ist „wie in der Phantasie eines Dichters“ (262). Ein buchstäblich ‚gestaltenbildender Zauber‘ wirkt auch in Warsbergs bildnerischem Schreiben, das die ‚Landschaftsarchitektur‘ der ionischen Insel sprachlich durch die Konvergenz von Natur und Architektur auf der Signifikantenebene mit der Formel „Laub- und Bauformen“ veranschaulicht. Wenn Warsberg die auf der Insel wachsenden Cypressen „lebend[e] Pfeiler einer monumentalen Natur“ nennt (172), macht er bereits evident, dass „der Landschaft etwas Architektonisches“ eignet (129). Dieses Architektonische verweist seinerseits auf die Sakralität der idyllischen Landschaft, weil die Cypressen „wie Obelisken“ wirken, die „Eingänge zu diesem Paradiese“ markieren, als das sich Korfu für Warsberg darbietet (102). Außerdem verweist dieser „architektonisch[e] Schmuck“ in der Landschaft (121), wo „schwarze Cypressen [...] aus dem Oelwalde wie Thürme einer Stadt aufragen“ (172), auf ein anderes Medium, das Warsberg in sein bildnerisches Schreiben integriert und so für seine idyllische poiesis nutzt: die bildende Kunst. Die Eindrücke, die sich ihm auf Korfu bieten, sind nämlich allesamt ‚malerisch‘, weil sie wie die „Landschaftsbilder des Domenichino“ (129f), wie die „Gemälde von Carl Marko“ (121) – womit der im 19. Jahrhundert lebende ungarische Maler Károly Markó gemeint ist (ob nun der Ältere oder der Jüngere bleibt allerdings unklar) – oder etwa wie die „Gemälde des Poussin“ (122) wirken. Der Vergleich mit der Malerei verdeutlicht in Bezug auf die Artifizialität der korfiotischen Landschaft nicht nur deren poetische Kunsthaftigkeit, sondern auch ihre poietische Künstlichkeit, denn gerade jenes „saftigstes Grün“, auf dem in den Olivenwäldern die Schafe weiden, wirke wie „Claude Lorrainische Staffage“ (122, Hervorhebung N.J.). Des Weiteren stellt Warsberg fest, dass „Claude“ – und gemeint ist Lorrain – „mit diesen Laub- und Bauformen“, die die korfiotischen ‚Landschaftsbilder‘ schmücken, auch „die seinigen zeichnete“ (172). Es ist hier also die ‚natürliche Architektur‘ der Insel, die Korfus – künstlerische und gleichsam künstliche – Artifizialität konstituiert und das vor allem durch zwei „natur-

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verständige[] Bäume“ (114). Sie zählen bis heute zu den landschaftlich markantesten auf dem nordgriechischen Eiland: Olive und Cypresse. Beiden kommt auch in Warsbergs bildnerischem Schreiben eine spezifisch po(i)etische Funktion zu, denn sie geben seinen Ansichten auf Korfu jenes Merkmal, durch das das (künstlerische) Bild seit Erfindung der Tafelmalerei bis hin zur Photographie über den Film und das Fernsehen als Bild wahrgenommen wird: die Rahmung, also jene das Dargestellte ein- und es so vom Umgebenden ausschließende Begrenzung, wie sie beispielsweise auch für den locus amoenus als hortus conclusus – den von der Welt abgeschlossenen und zugleich von ihr eingeschlossenen Ort der Idylle – seit der Antike charakteristisch ist. (Idyllentheoretisch erfasst Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik diese spezifische Optik, die Warsbergs bildnerisches Schreiben in derselben Weise bedingt wie dieses sie veranschaulicht – vgl. Kapitel 3.3) Die idyllische Bild-Wirkung der Landschaft beschreibt Warsberg anhand der „säulensteif und säulenernst“ stehenden Cypressen, denn „zwischen diesen [...] hindurch breitet sich ein entzückender Fernblick“ aus (127, Hervorhebungen N.J.). Dasselbe gilt für die Olivenbäume, die durch ihren knorrigen Wuchs des Stammes mit „Höhlen und Schluchtungen“ solcherart „Durchblicke“ in die Landschaft ermöglichen, dass „[j]eder Künstler [...] sie hier segnen“ will (113, Hervorhebung N.J.). Durch den Vergleich der Idylle mit der bildenden Kunst reflektiert Warsberg letztlich über das literarisch-künstlerische Mimesis-Paradigma. So beispielsweise, wenn er feststellt: „[D]ie idealsten Landschaften malt der beste Künstler nur mit Motiven, die ihm die Anschauung der Natur irgendwo angeregt hat“ (125). Die korfiotische Landschaft scheint in diesem Sinn die wirkmächtigste Anregung zu geben. Insofern bietet sich für Warsberg auf Korfu genau jener mimetische Rückkopplungseffekt zwischen Natur und Kunst bzw. Nachgeahmtem und Nachahmendem, wie ihn schon Gessner in seiner zweiten ‚inventiven Idylle‘ über den Gesang und das Saitenspiel thematisiert. Bei Warsberg liest sich dies wie folgt: „Es ist nur nothwendig, daß der erste Plan großartig wie die Natur selbst gegeben worden, das Uebrige stellt sie selbst wahrhaft künstlerisch darauf. Das Schaffen wird ein gerade umgekehrtes, die Natur zum Künstler, der Künstler zur Natur [...].“ (115) Zur Verdeutlichung dieser mimetischen Rückkopplung führt Warsberg sie in seinem bildnerischen Schreiben über die idyllische Landschaft der ionischen Insel gewissermaßen performativ vor, indem er den LeserInnen die korfiotische Idylle durch einen weiteren Vergleich mit der Kunst imaginär vor Augen stellt: „Im Bilde für denjenigen, der das nicht gesehen und sich doch vorstellen möchte, gibt sie [die Landschaft auf Korfu, N.J.] ein Gemälde des Poussin wieder, das mit drei anderen als die vier Jahreszeiten zum Ausschmucke des Schloßes von Meudon für den Herzog von Richelieu gemalt worden ist.“ (122) Gemeint ist der sich heute im Pariser Louvre befindliche Zyklus, den Nicolas Poussin in den 1660er Jahren gemalt hat. Mit diesem vergleichenden Beispiel illustriert Warsberg jenen zuvor von ihm beschrieben Effekt, dass die Natur zur Künstlerin wird, weil sie gewissermaßen die Kunst ‚imitiert‘ – das Nachgeahmte wird zum Nachah-

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menden: Aus diesem Grund heißt es an der zitierten Stelle auch nicht, dass die korfiotische Landschaft wie Poussins Gemälde wirke, sondern dass sie sein Gemälde buchstäblich wiedergibt. So wie in Klopstocks „Der Zürchersee“ wird also auch bei Warsberg der Natur das mimetische Prinzip gewissermaßen ‚untergeschoben‘. Nachdem Warsberg die idyllische Wirkung Korfus erstens durch die literarische Prädisposition der Insel sowie zweitens durch die Betonung ihrer Artifizialität mit Hilfe von Vergleichen aus dem Bereich der Architektur sowie der bildenden Kunst dargelegt und auf diese Weise alle drei Bereiche – den literarischen, den architektonischen und den bildkünstlerischen – als idyllische Medien etabliert hat, reflektiert er über deren Integration in sein eigenes bildnerisches Schreiben. Dies erfolgt – wie kann es anders sein – in Form der literarischen Schilderung einer Idylle, der Warsberg im Umland der Villa Mon Repos, südlich der Inselhauptstadt, ansichtig wird. Dort bieten sich ihm „die bezauberndsten Blicke auf [die] Weite des Meeres und des Berglandes“ (115), was aus der idyllischen Lage des Ortes resultiert: Es ist ein herrlicher, uralter Hain, voll tiefen Schattens und völliger Abgeschiedenheit und dann auch wieder, wenn man dem hohen Ufer näher kommt, mit eingerahmten Blicken zwischen den zitternden Zweigen auf den Canal von Corfu, die Berge Albaniens und die weiteste Ferne des jonischen Meeres. Nichts fehlt ihm als der Tempel oder wenigstens die Ruine [sic] um ihn heilig zu glauben aus ältester griechischer Zeit einem homerischen Gotte. […] Vor sich sieht man durch die Obeliskenpforte schwarzer Cypressen das blaue Meer, ein schroffes hohes Cap, das Oelbäume krönen, eine weite Welt des sonnenbeglänzten Lichtes. Es ist eine Wohlthat wie ein kühles Bad an heißestem Sommertage aus schattigem Dunkel das Auge in solch ein Meer des Lichtes zu tauchen. Wie Quellenfrische legt sich darein und wir sehen dann für Wochen wieder kräftiger und gesunder, gestärkt die Dinge an. Denn auch das Auge bedarf der Nahrung […]. (114f, Hervorhebungen N.J.)

Der von Warsberg beschriebene Hain ist nicht nur aufgrund seiner isolierten Topographie eine Idylle; er wird zu einer, weil er – medienmetonymisch – den Blick auf andere Idylle in der Landschaft Korfus ermöglicht. Warsbergs Beschreibung eines solch buchstäblichen ‚locus opticus‘ kann zudem als Musterbeispiel für sein bildnerisches Schreiben genommen werden, weil diese Idylle ein literarisches Bild darstellt und zugleich über die ‚bildgebenden Verfahren‘ (in) der idyllischen poiesis reflektiert: Warsbergs idyllischer ‚locus opticus‘ stellt sich zuallererst durch ‚gerahmte Blicke‘ ein und wird schließlich durch die Erwähnung jener architektonischen Versatzstücke, die für die romantische Landschaftsmalerei spätestens seit Caspar David Friedrich charakteristisch sind, gewissermaßen vervollständigt. Das literarische Verfahren für diese ‚bildliche Vervollständigung‘ erweist sich als eine Variation des Unsagbarkeitstopos, denn allein die Erwähnung, dass weder ein antiker Tempel noch eine Ruine in der Landschaft realiter vorhanden seien, bewirkt deren sprachliche Vergegenwärtigung. Warsbergs bildnerisches Schreiben folgt also bereits hier jenem Diktum, das er später formuliert: Die bildliche Wirkung (egal ob in Literatur

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oder bildender Kunst) sei am größten, wenn der Zuschauer „selbst hinzudenken“ könne, „denn seine Phantasie malt dann in den aufgerufenen Erinnerungen besser als alle Pinsel und Farben der Welt es vermögen“ (123) – und wie produktiv gerade Erinnerungsbilder in der idyllischen poiesis wirken, zeigt Gessners Lycas-Idylle. Warsbergs Idylle des ‚locus opticus‘ simuliert also eine virtuelle ‚Augenzeugenschaft‘, die – gemäß Kittlers Darlegung des Baudrillard’schen Simulations-Begriffs – als ein „Zusammenfall von Medialität und Realität“ begriffen werden kann.351 Als Realität lässt sich hier das landschaftliche Reale Korfus begreifen, das Warsberg – wie er es direkt zu Anfang seines Reiseberichts darstellt – nur in der medialen Vermittlung durch seine Homer-Lektüre und damit im Register des Symbolischen wie Imaginären anschaulich wird. In derselben Weise ‚vermittelt‘ stellt Warsberg Korfu in den ‚Odysseischen Landschaften‘ dar und zwar durch sein bildnerisches Schreiben. In der mittels dieses Schreibens dargestellten Idylle des ‚locus opticus‘ erweist sich allerdings nicht Warsberg – im Sinn der Romantik – als das ‚empfindende Subjekt‘, sondern das ‚natürlichste‘ aller optischen Medien: das Auge. Durch einen buchstäblich naturgegebenen ‚gerahmten Blick‘ wird dem Auge, mit dem ‚man‘ durch die „Obeliskenpforte schwazer Cypressen“ hindurchsieht, die Wahrnehmung der Landschaft ermöglicht. Diese wirkt dabei nachgerade idyllisch auf das Auge zurück: Wenn es heißt, „[e]s ist eine Wohlthat wie ein kühles Bad an heißestem Sommertage aus schattigem Dunkel das Auge in solch ein Meer des Lichtes zu tauchen“, dann wird eine Mußestunde beschrieben, wie sie klassischerweise die Hirten in der Idylle als Idylle genießen. Jedoch lagert in Warsbergs Idylle des ‚locus opticus‘ kein bukolischer Sänger am amönen Ort, sondern: das Auge. Dieses avanciert auch deshalb zum Subjekt der Idylle, als es – nachgerade vermenschlicht – der Nahrung bedürfe, die von der Natur bereitgestellt wird. Deren mütterlichnährende Funktion besingt bereits Goethe im Anfang seines Gedichts „Auf dem See“: „Und frische Nahrung, neues Blut / Saug ich aus freier Welt; / Wie ist Natur so hold und gut, / Die mich am Busen hält!“352 Der exponierten Darstellung des Auges in Warsbergs idyllischer Darstellung des ‚locus opticus‘ korrespondiert zu deren Abschluss ein po(i)etisches ‚noli me tangere‘: Die Cypressen, die so glücklich schatten, sind von Epheu und Reben an einander geflochten. Kranzgewinde schlingen sich von einem Baume zum anderen und machen das Dunkel schaurig wie den Schatten eines Urwaldes. Die Hand des Menschen hat hier nichts zu thun als zu schweigen und die Natur fort und fort erschaffen zu lassen. Wo diese heiligt, könnte jene nur entheiligen. Die Natur wählt sich manchmal solche Stellen, die sie mit ihrem Liebeskusse bedenkt und wo alles, auch das

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Kittler: Optische Medien, S. 37. Goethe, Johann Wolfgang: „Auf dem See“ [I,1–4], in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. I: Gedichte und Epen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 102f, hier: S. 102.

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Dimensionen der Idylle wildeste Unkraut, nur ein Befehl immer gesteigerter Schönheit wird. (114f, Hervorhebungen N.J.)

Gerade weil die Natur hier Trägerin der idyllischen poiesis ist, braucht der Mensch in dieser idyllischen Gegend nichts anderes zu tun, als hinzusehen und die Idylle, die ohne sein eigenes Dazutun vor seine Augen gestellt ist, aisthetisch genießend wahrzunehmen. Dabei hilft ein an den darstellerischen Verfahren und Konventionen der bildenden Kunst, wie sie seit der Entwicklung der Linearperspektive gerade für die Landschaftsmalerei etabliert wurden, geschulter Blick: Wenn Warsberg feststellt, dass die „Durchsichten zwischen den Bäumen und im Rahmen einzelner Zweige auf das kornblumen-blaufarbene Meer“ von „unsäglicher Schönheit“ sind (263), dann erscheint die Natur als po(i)etisch tätige Künstlerin. Ihre ‚Werke‘ richten sich an das Auge, dessen Blick sie gewissermaßen engagieren. Hierdurch scheint die für Jacques Lacans ‚Bildtheorie‘ konstitutive Spaltung zwischen Auge und Blick aufgehoben, zumal das Auge auch für ihn bloß eine Metapher für „die Präexistenz eines Blicks“ darstellt, der seinerseits als ein „Sehen, dem ich auf eine ursprüngliche Weise unterworfen bin“, aufzufassen ist.353 Was Lacan ‚ursprünglich‘ nennt, ließe sich mit Warsberg als ‚idyllisch‘ bezeichnen, denn den Blick kennzeichnet „ein[e] befremdlich[e] Kontingenz“, schließlich ist er das, was „von Stufe zu Stufe“ in „unserem Verhältnis zu den Dingen [...] gleitet, läuft und überträgt“, wobei dieses Verhältnis konstituiert ist „durch die Bahn des Sehens und geordnet nach den Figuren der Vorstellung“.354 Genau dies stellt sich als idyllisches Engagement des Blicks bei Warsberg ein, wenn die Landschaft die Bahnen des Sehens ‚natürlich‘ rahmt und die literarisch-künstlerische Prädispostion Korfus dem Blick die idyllische Disposition der Insel als Figur der Vorstellung buchstäblich vor Augen führt. Warsberg beschreibt dieses ‚idyllische Engagement‘ zur Aufhebung der Spaltung von Auge und Blick nun seinerseits mit einem idyllischen Bild: „Der Blick weidet ordentlich auf dieser gesunden Farbe, wie das Vieh auf frischgrüner Wiese, denn auch das Auge hat seine Nahrung und Kräftigung nöthig und findet sie dann durch solche Speise.“ (263) Die ‚Kunst‘ der Natur avanciert zur aisthetischen wie ästhetischen ‚Kost‘. Indem die Natur somit also das po(i)etische Geschäft übernimmt, kann der Poet endgültig zum ‚Frohgesicht‘ aus Klopstocks Zürichsee-Ode werden, das den ‚schönen Gedanken‘ ihrer Schöpfung ‚noch einmal‘ denkt. Warsberg scheint seinerseits den Gedanken des Klopstock’schen Gedichts nochmals zu denken, wenn er feststellt: „Es klebt die Poesie förmlich an allem Realen, edelt und adelt es und der Dichter braucht dem Gemeinsten kaum etwas zuzulegen.“ (263) Das bedeutet, ein po(i)etisches ‚Hand-Anlegen‘ ist also nur notwendig, um das, was die Natur ansichtig macht, zu kopieren: „Wer in unseren Ländern zum Beispiel“, fragt Warsberg rhetorisch, „hätte das [...] Bild eines Paradieses 353

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Lacan, Jacques: „Die Spaltung von Auge und Blick“ [1964], in: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übersetzt von Norbert Haas, Olten/Freiburg i.Br.: Walter ²1980, S. 73–84, hier: S. 78. Lacan: „Die Spaltung von Auge und Blick“, S. 79.

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erfinden können? [...] Hier braucht es der Dichter nur abzuschreiben.“ (263, Hervorhebungen N.J.) Die Voraussetzung für dieses po(i)etische Nachschöpfen durch ein Abschreiben von der Natur ist der idyllisch engagierte Blick. Über ihn muss bereits Homer verfügt haben, worauf Warsberg aus jener ‚aisthetischen Erfahrung‘ schließt, die sein eigenes Auge auf Korfu macht: „Und wenn man sich dann etwas länger in diese Gegenden, in ihre Sonne hineingesehen, so daß man ganz wie ein nachbildender Maler auch ihre Details, die Einzelheiten erfaßte, dann erkennt man gerade an diesen, daß auch Homer sie nur abschrieb [...].“ (262, Hervorhebungen N.J.) Warsbergs bildnerisches (Ab-)Schreiben durch den idyllisch engagierten Blick ist daher letztlich nichts anderes als die Einlösung jener Forderung, die Barthold Heinrich Brockes in seinem 1746 erschienenen Gedicht „Bewährtes Mittel für die Augen“ formuliert, wo heißt es: „Es sey das Sehen eine Kunst, sowohl als Schreiben oder Lesen.“355 Laut Kittler liest sich Brockes’ Gedicht als metapoetische Darstellung jenes literarischen Verfahrens, das im 18. Jahrhundert als ‚Rahmenschau‘ bezeichnet wird und seinerseits impliziert, „daß auch Gedichte sich beim Besingen der Natur fortan an Techniken orientieren“.356 Die Technik, auf die Brockes rekurriert, ist die Rahmung einer Landschaft, wie man sie durch die eigene Hand bewirken kann: Man darf nur bloß von unsern Händen die eine Hand zusammenfalten, / Und sie vors Auge, in der Form von einer Perspective, halten; / So wird sich, durch die kleine Oeffnung, von den dadurch gesehnen Sachen / Ein Theil der allgemeinen Landschaft zu einer eignen Landschaft machen, / Von welcher, wenn man mahlen könnte, ein’ eigne nette Schilderey / Zu zeichnen und zu mahlen wäre. (V. 32–37)

Als Grund für diesen ‚optischen Trick‘, den ein/e LandschaftsbetrachterIn anwenden soll, nennt Brockes die Unfähigkeit des menschlichen Auges, den „Schmuck“ (V. 3) einer „schönen Landschaft“ (V. 1) angemessen zu erkennen, weil dieses nämlich 355

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Brockes, Barthold Heinrich: „Bewährtes Mittel für die Augen“ [V. 52], in: ders.: Irdisches Vergnügen in Gott, 9 Bd.e, Bd. VII: Land-Leben in Ritzebüttel, als des Irdischen Vergnügens in Gott, Hamburg: Christian Herold 1748, S. 660–663. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote durch Angabe des Verses in Klammern direkt im Text belegt. Kittler: Optische Medien, S. 107. Kittler, der Brockes’ Gedicht nach Bernd Buschs ‚Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie‘ zitiert – und dabei im Literaturverzeichnis des 1995 im Frankfurter Fischer Verlag erschienene Taschenbuchs mit der 1989 erstmals beim Münchener Hanser Verlag veröffentliche Hardcover-Ausgabe vertauscht –, zählt es zu dessen „physikalische[n] Gedichte[n]“ (ebd., S. 111), womit er auf den Titel des achten ‚Vergnügungs‘-Bandes von 1748 verweist, der vollständig Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten lautet und natürlich wesentlich besser zu den von Kittler untersuchten optischen Medien passt. Dass Brockes medienreflexives ‚Perspektiv-Gedicht‘ de facto aber im siebten Band des ‚Irdischen Vergnügens‘ veröffentlich ist, der unter dem Titel Land-Leben firmiert, sei hier weniger der bei Kittler in diesem Fall fehlenden philologischen Genauigkeit wegen erwähnt, sondern weil dies letztlich einen weiteren Beleg für die besondere Medialität der Idylle darstellt.

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„[d]urch die Gewohnheit fast verblendet, und gleichsam ungeschickt gemacht“ (V. 5) sei für einen solch aisthetischen Genuss und dessen Überführung in literarisch-künstlerische poiesis. Das, was Viktor Šklvoskij zu Beginn des 20. Jahrhundert als Aufhebung einer automatisierten Wahrnehmung zur spezifischen Aufgabe der Kunst bzw. Literatur erklärt, treibt diese also schon knapp 150 Jahre zuvor um.357 Das idyllische Engagement des Blicks, durch das Warsberg das Sehen im Sinn Brockes’ zu einer wahrhaften Kunst macht, ist also medial vermittelt: In „Irdisches Vergnügen in Gott“ empfiehlt Brockes die eigene Hand, bei Warsberg ist es eine durch die poiesis der Natur (vor)gegebene Rahmenschau. Die mediale Vermittlung des idyllisch engagierten Blicks kann aber auch, wie es Kittler formulieren würde, durch eine ‚Bewaffnung‘ der Augen mit optischen Medien erfolgen.358 Dies demonstriert Warsberg bei einer Wanderung an der Ostküste Korfus, wo ihm „die Fernsicht“, die sich ihm vom Gebirge über das Meer bietet, „[w]ie in einem Rahmen [...] eingeschlossen“ erscheint (194). Während er die Ansicht „dieser verschlossenen und versenkten Welt“ genießt, wird er auf einen „Gesang“ aufmerksam, der aus einer unterhalb des Bergs liegenden Bucht kommt (195). Dieser Gesang ist hier der ‚musikalische Marker‘ für eine idyllische Szene, der Warsberg „mit dem Glase hinab sehend“ ansichtig wird (195). Das Fernglas ermöglicht ihm sodann einen gewissermaßen mikroskopischen Blick auf das idyllische Detail, das darin besteht, „Wie am Vorgebirge mit langer Ruthe ein Fischer / Lauernd den kleinen Fischen die ködertragende Angel / An dem Horne des Stiers hinab in die Fluthen des Meeres / Warf, und die zappelnde Beute geschwind an’s Ufer hinaufschwenkt“ (195). Durch das optische Medium ‚Fernglas‘, dessen Erfindung im frühen 17. Jahrhundert das theozentrische Weltbild durch die ‚Katastrophe‘ der kopernikanischen Wende verabschiedet,359 wird Warsbergs Blick idyllisch engagiert und dies stellt er in seinem Reise-

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Vgl. Šklovskij, Viktor: „Die Kunst als Verfahren“ [1916], in: Striedter, Jurij: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink 1969, S. 3–35. Laut Šklvoskij sei es das „Ziel der Kunst [...], ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen“, was durch das „Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form“ zu erreichen sei (ebd., S. 13). Dadurch lasse sich „die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung“ steigern, „denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden“ (ebd., S. 13). Bezeichnender Weise stellt laut Šklvoskij gerade das „dichterische Bild“ ein solch verfremdendes „Mittel zur Herstellung des stärksten Eindrucks“ dar (ebd., S. 9), der einen Gegenstand „aus dem Automatismus der Wahrnehmung“ lösen könne (ebd., S. 13). Wie ein solch ‚dichterisches Bild‘ po(i)etisch gemacht werden kann, zeigt Brockes genauso wie Warsberg. Vgl. Kittler: Optische Medien, S 110. Die Geschichte dieses optischen Mediums und dessen Gebrauch für literarische Wahrnehmungsexperimente untersucht Florian Welle – allerdings ohne ‚Blicke‘ in die Integration des Fenrohrs bzw. Fernglases in die idyllische poiesis (vgl. Welle, Florian: Der irdische Blick durch das

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bericht bei der Wiedergabe dieser Szene durch sein bildnerisches Schreiben dar: Die Versform, die die kurze Passage vom übrigen Text unterscheidet, verweist auf die antike Idyllendichtung und durch die Inversionen, die das für Voß charakteristische Homerisieren zu imitieren scheinen, wird dieser Bezug in den ersten drei Versen umso deutlicher. Nachgerade rätselhaft wirkt im dritten Vers das ‚Horn des Stiers‘, das man für eine animalisierende Metapher für das felsige Ufer halten könnte, an dem sich der von Warsberg beobachtete Fischer befindet. Vielmher scheint es sich hierbei aber um eine Metonymie für die phrygische Mütze zu handeln, die der Fischer laut Warsbergs nachfolgender Prosa-Beschreibung der Szene trägt: „Der kahnlose Sänger saß auf einer beschatteten Klippe. Die Beine hatte er im Wasser hängen. Auf dem Kopfe trug er die phrygische Mütze, auf den Schultern den langwolligen Lodenrock, welcher pelzähnlich und für alle Seeleute hier üblich ist.“ (195)360 Warsbergs po(i)etische Übersetzung der Mütze des Fischers, die er als Detail nur mit Hilfe des Fernglases wahrnehmen kann, belegt letztlich das, was Bernhard Siegert als die „Funktion des Blicks“ beschreibt: „Das Imaginäre der mimetischen Darstellung kann nicht nicht bezogen sein auf das Reale des Blicks, welche Form auch immer dieser Bezug annehmen mag: Verdrängung, Verbergung oder Offenlegung“.361 Bei Warsberg ist dieser Bezug zwischen dem Imaginären und dem Realen ein idyllisierender, der durch eine in seinem bildnerischen Schreiben angelegte Transformation des (Details im) Angeschauten in eine rhetorische Figur bewirkt wird. Was für die Mikroebene des Verses gilt, trifft genauso auf die Makroebene der ganzen Fischer-Szene zu, denn durch die Beschreibung in Warsbergs Reisebericht avanciert das ‚Reale des Blicks‘ zu einer Idylle im ‚Imaginären der mimetischen Darstellung‘. Auf das einleitende ‚lyrische Bild‘ folgt eine Prosa-Beschreibung der Szene. Sie lässt das Vorangehende wie ‚alla prima-Poesie‘ wirken, als seien die vier Verse eine spontane Dichtung, obwohl sie de facto eine nachträgliche Bearbeitung darstellen – schließlich wurde der gesamte Reisebericht, wie Warsberg vorwortlich feststellt, einer späteren „redaktionellen Ueberarbeitung“ unterzogen, die 1872 „zufälligerweise zum größten Theile [...] am Comersee“ in der Idylle „oben in den Gärten auf dem Vorlandshügel der Villa Serbelloni“ erfolgt (IV). Als lyrische Einleitung dieser Fischer-Szene sollen die Verse

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Fernrohr. Literarische Wahrnehmungsexperimente vom 17. zum 20. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, hier insbes.: S. 36ff). Bezeichnender Weise ist diese Kopfbedeckung ursprünglich aus Stierhaut gefertigt und ihre Form bildet ein „klobig[es] Horn auf der Spitze“, wie es in ‚Böttigers kleinen Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts‘ in Bezug auf eine antike Vasenmalerei nachzulesen ist, die den Troja-Mythos darstellt und Paris mit einer ebensolchen Kopfbedeckung zeigt (C. A. Böttiger’s kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts, hrsg. von Julius Sillig, Bd. II, Dresden/Leipzig: Arnoldische Buchhandlung 1838, S. 262). Siegert, Bernhard: „Der Blick als Bild-Störung. Zwischen Mimesis und Mimikry“, in: Blümle, Claudia/Heiden, Anne von der (Hgg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Zürich: Diaphanes 2005, S. 103–126, hier: S. 104.

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also eine vergegenwärtigende Unmittelbarkeit erzeugen – ein idyllisierendes Verfahren, das schon in Voß’ Luise sprachlich umgesetzt wird. Darüber hinaus hat Warsberg zuvor hinlänglich deutlich betont, dass die ‚schöpferische Natur‘ Korfu zu einem idyllischen Kunstwerk macht, das ein Dichter nur abzuschreiben brauche. Genau das macht er hier, denn Warsberg tut so, als hätte er bloß von der Natur abgeschrieben. Sein Idylle-Machen folgt damit also dem Lycas-Paradigma, wie es Gessners Idylle von der Erfindung der Gärten als ein Fingieren des Fingierens präsentiert. Nachfolgend reflektiert Warsberg über die ihm durch das Fernglas ansichtig werdende und ihn zu der lyrischen Einlage inspirierende Idylle mit dem Fischer: In den ernsten Augenblicken seines Geschäfts ruhte der Gesang, darum hatte ich ihn lange nicht bemerkt. Dann wieder löste er sich mit einer Panpfeife ab, welche schrille Töne, aber doch Melodie gab. Es war das Instrument und der Sänger, vielleicht auch die Musikweise der antiken Idylle, und wie die Mittagsglut mir beim Aufsteigen [auf den Berg, N.J.] immer heißer wurde, stellte sich mir dieser stille, felsige Golf, dieser Fischer und die lichte Sonne, die leise zitternde Luft und das silberblaue Meer immer mehr zu einer Illustration des Goetheschen Fischers zusammen [...]. (195)

Warsberg stellt den bereits durch die lyrische Einleitung der idyllischen Szene impliziten Bezug zur antiken Idyllendichtung in seiner Reflexion über das von ihm Angeschaute nun also explizit heraus und verdeutlicht dabei zugleich, dass sein Blick auf das idyllische Korfu literarisch-künstlerisch vorgeprägt ist. Dadurch betont Warsberg nochmals jene Artifizialität der korfiotischen Landschaft, die er zuvor bereits durch Vergleiche mit der Architektur und der bildenden Kunst herausgestellt hat. Gleichzeitig thematisiert Warsberg hier das, was Joseph Vogl als „selbstreferenziell[e] Struktur“ einer durch optische Medien wie dem Fernrohr bzw. Fernglas vermittelten Beobachtung beschreibt: „Der Blick durch das Fernrohr lokalisiert mit seinem Objekt zugleich den Beobachter“.362 Man könnte das für eine medienlogische Trivialität halten, wenn man nicht berücksichtigt, was Vogl als indirekte Kritik an McLuhans Konzept der körper- und sinnesexpansiven Funktion von Medien seinen Überlegungen zu Galileis Gebrauch des Fernrohrs voraussetzt: Dieser „Apparat“ sei nämlich „nicht einfach eine Verlängerung der Sinne, kein Hilfsmittel, das die Reichweite der Sinne erhöht oder korrigiert [...]. Es schafft vielmehr die Sinne neu, definiert das, was Sinneswahrnehmung und Sehen bedeutet“.363 Das, was Vogl die ‚Neuschaffung der Sinne‘ nennt, ist bei Warsberg das idyllische Engagement seines Blicks. Dieser bewirkt nun durch das Fernglas seinerseits eine Lokalisierung von Objekt (Fischer) und Beobachter (Warsberg), die nicht auf die reale Topographie Korfus, sondern die literarisch prädisponierte einer ‚poetischen Insel‘ bezo362

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Vogl, Joseph: „Medien-Werden: Galileis Fernrohr“, in: Engell, Lorenz/Vogl, Joseph (Hg.): Mediale Historiographien, Weimar: Universitäts-Verlag 2001, S. 115–124, hier: S. 116. Vogl: „Medien-Werden“, S. 115.

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gen ist, als die Warsberg Korfu durch sein bildnerisches Schreiben darstellt. Entsprechend verortet Warsberg sich und seinen Sinneseindruck, den er durch das Fernglas von dem singenden Fischer am Felsufer erhält, im po(i)etischen Raum der Idylle, dessen literarische Koordinaten er durch die einleitenden Verse in seiner Darstellung der Szene sowie den folgenden intertextuellen Bezug auf Goethes Gedicht angibt. Daraus zitiert Warsberg tatsächlich den Anfang der ersten sowie der letzten Strophe, nachdem er darauf hingewiesen hat, dass die ihm sich an der Felsklippe darbietende Ansicht auf ihn wie die „Illustration des Goetheschen Fischers“ wirke: „Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, / Ein Fischer saß daran, / Sah nach dem Angel ruhevoll, / Kühl bis ans Herz hinan. [...] // Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, / Netzt’ ihm den nackten Fuß; / Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll, / Wie bei der Liebsten Gruß.“364 Durch die zitierten Verse integriert Warsberg die veranschaulichende Wirkung des Gedichts also in sein bildnerisches Schreiben. Der intertextuelle Zitat-Verweis auf Goethe erweist sich insofern zugleich als eine Reflexion über Warsbergs idyllische poiesis, als sein bildnerisches Schreiben deren metapoetischen ‚Einsatz‘ für den Reisebericht darstellt: Bereits im Vorwort hat Warsberg dessen po(i)etischen Zweck erklärt – nämlich der homerischen Dichtung den landschaftlichen Hintergrund illustrierend nachzutragen.365 In der Fischer-Szene unternimmt nun die Natur, die Warsberg zuvor zur wahrhaften Künstlerin erhoben hat, – mit Goethe gesprochen – ‚ein gleiches‘, weil sie in Warsbergs literarisch-künstlerisch vorgeprägter Wahrnehmung eine ‚Illustration‘ des Goethe-Gedichts darstellt. Die Idylle degradiert die po(i)etisch schöpfende Natur somit letztlich zur Epigonin: Ihre Mimesis ist eine Nachahmung der Kunst, so wie die Mimesis der Kunst bzw. Literatur als Nachahmung der Natur begriffen wird.

2.2.3Die idyllische Verheißung des Kinos: Wilhelm Lehmanns „Böse Idylle“ Bei Alexander von Warsberg vollzieht sich in und mit der von ihm beschriebenen Fischer-Idylle auf Korfu jener Schritt, der aus Dichtung Literatur machen wird, weil nicht länger die musikalischen Medien die Idylle konstituieren – Lycas Gessner hat seinen bloß imaginären Garten schließlich noch mit jenem Vogelgesang ‚beseelen‘ wollen, den 364

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Goethe, Johann Wolfgang: „Der Fischer“ [I,1–4; IV,1–4], in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. I: Gedichte und Epen I, S. 153f, hier: S. 153; bei Warsberg auf Seite 195f. Wie in Theokrits Idylle „Die Wettsänger“ ist auch dieser Einsatz hier ein Nullsummenspiel, denn durch den großen po(i)etischen Aufwand, den Warsberg mit seinem bildnerischen Schreiben zur Idyllisierung Korfus betreibt, will er davon überzeugen, dass die ionische Insel gewissermaßen ‚von Natur aus‘ eine Idylle ist, die der Reise dann lediglich ohne eigenes Dazutun abzuschreiben braucht. Warsbergs bildnerisches Schreiben kaschiert somit seine eigene Künstlichkeit, indem es beständig die idyllische Kunsthaftigkeit Korfus evident macht.

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das Mädchen in der zweiten ‚inventiven Idylle‘ nachahmt und zur Musik der Idylle gestaltet. An die Stelle dieser Medien treten die optischen: Die Verwendung eines Fernglases ermöglicht Warsberg das, was die Natur auf Korfu ‚von selbst‘ macht und deshalb als Künstlerin erscheint: Eine Rahmung der Landschaft, wie sie schon Brockes gemäß dem Titel seines Gedichts als „[b]ewährtes Mittel für die Augen“ empfiehlt. Wie gezeigt, bewirkt eine solche Rahmung letztlich ein idyllisches Engagement des Blicks. Durch den Einsatz eines optischen Mediums kann Warsberg dieses Engagement schließlich technisch einrichten, sodass er in der Ferne nicht bloß die idyllische Fischer-Szene erkennt, sondern sie zugleich als Idylle in seine Reisebeschreibung zu integrieren vermag. Darstellerisch erfolgt das durch ein bildnerisch zu nennendes Schreiben, das Warsberg zu den bildgebenden Verfahren der Fotografie in Konkurrenz setzt, die im 19. Jahrhundert jenen mimetischen Anspruch infrage stellen, der Dichtung wie bildenden Kunst seit der Antike zugesprochen wird. Warsbergs idyllische Reisebeschreibung liefert somit letztlich den ‚literarischen Beweis‘, dass ein bildnerisches Schreiben ebenfalls ‚lichtgeborene Bilder‘ einfangen kann und dabei insofern über die fotografischen Reproduktionstechniken hinausgeht, als es andere Medien integriert und sie durch diese Integration wiederum po(i)etisch produktiv macht. Dies veranschaulicht die korfiotische Fischer-Szene, die gemäß der Tradition der antiken Bukolik aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit und Autoreflexivität eine Idylle darstellt: Der eigenen lyrischen Bearbeitung des Angeschauten liefert Warsberg die prosaische Beschreibung nach, um dann über die Wirkung dieser Idylle und durch den direkten Verweis auf Goethes Fischer-Ballade zugleich auch über ihre literarisch prädisponierte Artifizialität zu reflektieren. Damit schließt Warsberg die genuin medienmetonymische Disposition der Idylle kurz: Ihr Medium ist die Idylle und zwar insofern diese stets von anderen idyllischen Medien handelt. Das gilt genauso für Gessners zweite ‚inventive Idylle‘ von der Erfindung jener beiden musikalischen Medien, durch die die Idylle seit der Antike als Dichtung konstituiert wird – das Saitenspiel und der Gesang. Entsprechend lässt sich Warsbergs idyllische Reisebeschreibung als Reflexion über die mediale Erweiterung der Idylle lesen, denn sein bildnerisches Schreiben integriert nach den musikalischen nun auch die optischen Medien und implementiert sie dadurch in die idyllische poiesis. Die Medialität der Idylle besteht also insbesondere darin, dass sie medienmetonymisch auf andere Medien verweist und deren idyllisches Potenzial sondiert. Sprich: Als Medium stellt die Idylle all jene Medien heraus, die sich zum Idylle-Machen eignen. Zu ihnen zählt auch das aus den technischen Möglichkeiten der Fotografie entwickelte Bewegtbild des Films, das seine Karriere um 1900 zunächst im Kino beginnt und sie später dann im Fernsehen fortsetzt. Über dieses idyllische Potenzial des Kinos reflektiert ein Text, den Wilhelm Lehmann am 6. April 1928 als „Böse Idylle“ in der Frankfurter Zeitung

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veröffentlicht.366 Der Titel wirkt insofern paradox, als es unmöglich scheint, dass eine Idylle ‚böse‘ sein soll, wenn in ihr doch stets die paradiesische Seligkeit eines Goldenen Zeitalters ‚anklingt‘ (Gessner) bzw. ‚ansichtig‘ gemacht wird (Warsberg). Das mögliche ‚Böse‘ der Idylle scheint vor allem das aus ihrem – mit Olaf Gulbransson gesprochen – „inner[en] Zusammenhang“ resultierende ‚katastrophische Potenzial‘ zu meinen.367 In dieser Perspektive thematisiert Lehmanns Text das ‚Böse‘ (in) der Idylle, wenn er die Geschichte der beiden Schüler Ilse Meislahn und Heinz Wendland erzählt, denen es „in der Schule immer schlechter ergehen [wollte]“ (33). Als Obersekundaner in einer „klein[en] Stadt am Meer“ (33) stehen die beiden Schulmüden vor ihrer mittleren Reife und damit vor dem Eintritt ins Berufsleben. Darauf soll Heinz an einer Baugewerkschule und Ilse an einer Haushaltsschule vorbereitet werden. Am Ende des Schuljahres, kurz vor der Zeugnisausgabe am Michaelistag, verbringen beide gemeinsam einen Tag am Strand, wo es zu einer idyllischen Katastrophe kommt: Badend und den „letzt[en] Sommerträum[en]“ (34) nachhängend vergessen Ilse und Heinz die Zeit und müssen sich deshalb beeilen, um noch vor Einbruch der Nacht in die Stadt zurückzukehren. Dort angekommen erscheint ihnen das Vertraute gespenstisch verwandelt und sie erkennen: „Es war kein Sommer mehr.“ (34) Ihre Wege trennen sich an diesem Abend – Ilse geht nach Hause und Heinz beschließt, „den Tag im Kino zu beenden“ (36). So banal die geschilderten Ereignisse auch sein mögen, erweisen sie sich doch als symbolisch hoch bedeutsam, denn Lehmanns „Böse Idylle“ ist die Geschichte einer Initiation, die den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter darstellt. Die kleine Stadt am Meer fungiert dabei als allegorische Kulisse, die durch den unvermeidlichen Wechsel der Jahreszeiten den bevorstehenden Wandel im Leben der beiden Protagonisten veranschaulicht: Der Sommer ist vorbei und was bevorsteht, ist „die schreckliche Zeit“ des Winters (37). Anders als es die Idylle typischerweise erwarten ließe, beschwört Lehmanns Text nicht die Nostalgie einer retrospektiv glücklich wirkenden Vergangenheit. Stattdessen erfolgt ein prophetischer Blick in eine unabwendbare Zukunft, die nichts Gutes verheißt. Statt idyllischer Rückblicke wie in Gessners Lycas-Idylle gibt Lehmanns Text also katastrophische Ausblicke. Diese ‚negieren‘ die Idylle, indem sie sie nicht bloß mit einem negativen Vorzeichen versehen, sondern buchstäblich selbst zu einem solchen machen, worauf bereits das Epitheton ‚böse‘ im Titel der Erzählung seinerseits einen katastrophischen Ausblick gibt. Lehmanns Text folgt somit also gänzlich dem von Gulbransson formulierten Motto, weil er einen von jenen „besonderen Fällen“ von Idyllen und Katastrophen darstellt, in

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Lehmann, Wilhelm: „Böse Idylle“ [1928], in: ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. II, [Gütersloh:] Sigbert Mohn Verlag 1962, S. 31–37. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt. Gulbransson: „Prolog“ [V. 22], S. 6.

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denen man „eines aus dem andern quellen“ sieht:368 Weil es „noch warm war“, verabreden Ilse und Heinz den idyllischen Plan, „sofort nach Tisch an den Strand zu gehen und zusammen zu baden“ (34). Der spätsommerliche Septembertag erweist sich dabei als so trügerisch wie jener Wintertag in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, der „den Frühling zu lügen pflegt“,369 wenn es bei Lehmann heißt: „Der September legte sich schon zum Sterben hin, aber heute schenkte er noch einen süßen Tag.“ (34) Diesen verbringen Ilse und Heinz unter dem „blauseidenen Himmel“ auf der „äußersten Sandbank“ am Strand (34), wo es zu Ereignissen kommt, die der Text zwar nicht expliziert, jedoch symbolisch andeutet – beispielsweise durch die erotische Spannung, die sich zwischen den Badenden aufbaut: „Das Gesicht der Weite zugekehrt, genoß Ilse bittersüß am ganzen Leibe den angespannten Blick des Knaben vom Ufer aus.“ (34) Wie schon in Voß’ Luise vexiert auch Lehmanns Text zwischen Lust und Wollust, Sagbarkeit und Unsagbarkeit, wenn das in Heinz’ angespanntem Blick liegende Begehren von Ilse gespiegelt wird, die es einerseits begehrt, betrachtet zu werden, und sich andererseits selbst ein solches Begehren versagt, indem sie das Gesicht der Weite zu- und von ihrem Betrachter abwendet. Dieses Gewähren und Verwehren begehrlicher Blicke erweist sich letztlich als Vorspiel für das, worauf der amöne Lagerplatz der beiden hindeutet: „In der heißen Stille“ des Strandes liegen Ilse und Heinz zwischen den „harten Gliedern der Stranddisteln“ eng „zusammen im Schoß des Steilufers“, wo sie ansonsten „einander nicht viel [zu sagen]“ haben (34). Als ein christliches Passionssymbol steht die Distel für „Mühsal u[nd] Schmerzen“;370 zugleich ist sie ein Symbol der Sünde,371 denn zur Strafe für seinen Ungehorsam sollen Adams Felder nichts als „Dornen und Disteln“ tragen (1. Mose 3,18). Nicht nur die Distel, als florales Element der idyllischen Strand-Kulisse, weist symbolisch darauf hin, dass sich Ilse und Heinz bei ihrem Badeausflug versündigt haben, indem sie – wie Ilse es später andeutet – ‚zu weit‘ gegangen sind, sondern auch die topographische Verortung des Strandes in seiner Entfernung zur Stadt: Als „ringsherum leise Dämmerung niederglei[tet]“ (34), erkennen die beiden Badenden, dass sie viel zu lange am Strand gewesen sind und nun aufbrechen müssen, um noch vor der Dämmerung nach Hause zurückzukehren. Genau darüber reflektieren die beiden in einem kurzen Dialog, der sich sowohl buchstäblich als auch metaphorisch lesen lässt: „‚Warum sind wir auch so weit gegangen?‘ schrie sie Heinz an. ‚Aber warum denn nicht? Was hast du nur?‘ Auch er erschrak.“ (35, Hervorhebungen N.J.) Der impliziten Doppeldeutigkeit des ‚zu weit Gehens‘ korrespondiert jene Feststellung, die gewissermaßen wie die idyllische ‚Moral von der Ge368 369 370 371

Gulbransson: Idyllen und Katastrophen, [V. 19f] S. 6. Goethe: Die Wahlverwandtschaften, HA: VI, S. 417. Stichwort ‚Distel‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 56. Vgl. Stichwort ‚Distel‘, in: Cooper, J.C.: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole [1978], übersetzt von Gudrun Middell und Matthias Middell, Wiesbaden: Drei Lilien 1986, S. 33.

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schichte‘ am Ende des Textes steht: Als Ilse nach ihrer Heimkehr eine schlaflose Nacht verbracht hat und „bei der ersten Ahnung des Tages im Nachthemd ans Fenster“ geht (34), um die „Eiskristalle“ auf den Pflanzen im Garten als Boten für den Beginn der „schrecklich[en] Zeit“ zu deuten (35), heißt es abschließend: „Auch der Winter muß empfangen werden, bevor er geboren werden kann.“ (35, Hervorhebungen N.J.) Lehmanns Text erzählt also die Geschichte der Empfängnis einer doppelten Katastrophe: der jahreszeitlichen durch den hereinbrechenden Winter, den der Sommer gebiert, und der idyllischen, die der schäferstündliche Strandausflug für Ilse und Heinz darstellt – schließlich zieht sich die Isotopie der Empfängnis und des Empfangens durch den gesamten Text. Auch wenn Ilse und Heinz gemeinsam so weit und dadurch wohl auch zu weit gegangen sind, liegt die Erkenntnis dieser idyllischen Katastrophe einseitig bei Ilse: Sie spricht Heinz darauf an und dessen unmittelbare Antwort in Form einer gleich zweifachen Gegenfrage zeigt, dass er sich – anders als Ilse – der potenziell so furcht- wie fruchtbaren Konsequenz ihres Badeausflugs keinesfalls bewusst ist. Aus diesem Grund trennen sich auch die Wege der beiden, als sie wieder in die Stadt gelangen: Während Ilse nach Hause geht und am nächsten Tag durch den Frost im Garten erkennt, dass der Sommer endgültig vorüber ist, verabschiedet sich Heinz ins Kino. Die Wahl dieses Ortes, an dem er den Tag beenden will, verweist auf die Medialität der Idylle. Nach der Rückkehr vom Strand in die Stadt wirkt diese wie ausgestorben, was insbesondere die in direkter Nachbarschaft zum Kino gelegene Gärtnerei veranschaulicht: „Auch die Feilsche Gärtnerei war gestorben und sollte doch konzertieren mit der Pracht ihrer Astern und Dahlien.“ (36) In typisch idyllischer Synästhesie ‚klingt‘ das verbliebende florale Angebot der Gärtnerei hier wie das verstummende Echo eines bukolischen Gesangs, denn vor allem durch die Lyrik Gottfried Benns konnotiert ein solch ‚literarisches Bouquet‘ eine regelrechte Grabesstille: Die Aster ist die titelgebende Blume von Benns erstem Morgue-Gedicht und auch die Dahlie, die ebenfalls zur Familie der Korbblütler gehört, ist eine Benn-typische Blume, die in seinem Gedicht „D-Zug“ das florale Symbol des vergehenden Sommers darstellt.372 Im Kontrast zur Gärtnerei liegt daneben das „kleine, kümmerliche Kino“ der Stadt, das „mit grellen Plakaten“ der hereinbrechenden Nacht und dem nahenden Winter Sonnenschein und Frühling entgegensetzt: „Ja – der Sonnenschein! Mit Mia May. Wieder ein großer Schlager, Eintrittspreise nicht erhöht!“ ist auf der Kinoreklame zu lesen (36). Statt Ilse nach Hause zu bringen, lässt Heinz sie „endlich los[]“ und folgt dem verheißenen Sonnenschein ins Kino (36). Dieses bietet ihm insofern eine idyllische Zuflucht, als er „erleichtert atmet[]“ (36), sobald er das nächtliche Dunkel der Stadt verlässt und 372

Benn, Gottfried: „Kleine Aster“, in: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. III: Gedichte [Morgue-Zyklus], Stuttgart: Klett-Cotta 61978, S. 7; Benn, Gottfried: „D-Zug“, in: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. III: Gedichte, Stuttgart: Klett-Cotta 61978, S. 27f.

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das künstliche des Kinos betritt. Welchen Sonnenschein, von dem das Kinoplakat kündet, der Film mit Mia May seinen Besucherinnen und Besuchern auch vor Augen stellen mag – Heinz’ Entscheidung, nach der schäferstündlichen Idylle am Strand nun das Kino aufzusuchen, veranschaulicht letztlich nichts anderes als jene „Rückkopplungsschleife“, die Kittler „zwischen erotischen Filminhalten und erotischen Besucherpraktiken“ im Kino bindet (und seien diese letztgenannten nur nachträglich vollzogene Reaktionen auf den durch die angeregte ‚Augenlust‘ bewirkten Einbruch des filmisch Imaginären ins körperlich Reale der ZuschauerInnen).373 Heinz’ Kinobesuch nach dem idyllisch-katatrophischen Strandtag mit Ilse eine derartige ‚Autoreferenzialität‘ zu unterstellen, legt der Text aus strukturellen Gründen nahe: Das Lichtspielhaus ermöglicht Heinz nämlich einen Tausch und das auf mehreren Ebenen, denn das Kino ersetzt erstens den idyllischen Strand, wo er zuvor mit Ilse intim geworden ist, und zweitens tritt an Ilses Stelle nun eine künstliche Leinwand-Frau. Diese erweist sich als das genaue Gegenteil zu ihrem ‚realen‘ Pendant, mit dem Heinz zuvor am Strand den Sommer verabschiedet hat: Bereits das Anagramm ihres Vornamens verweist lautlich auf den Frühling, den die Schauspielerin ganz buchstäblich in ihrem Zunamen trägt. Wenn Heinz beim Betreten des Kinos also erleichtert atmen kann, liegt dies daran, dass ihn die Leinwand-Frau ohne die Gefahr der Empfängnis empfängt. In Bezug auf Ilses vorangehendes idyllisches Zusammensein mit Heinz am Strand gilt deshalb mit einer Formulierung aus Gottfried Benns Erzählung „Die Reise“ von 1916: „Sie stellte die Form, und es geschah das Wirkliche.“374 Hingegen ist für Heinz das idyllische ‚Mai‘-Erlebnis mit der Leinwand-Frau im Kino ganz anderer Art: „Nur um Vermittlung handelte es sich, in Unberührtheit blieben die Einzeldinge“. (33) Um das idyllische Potenzial des Mediums Kino in Lehmanns Text zu veranschaulichen, liegt der Verweis auf Benns „Die Reise“ allein deshalb nahe, weil diese Erzählung den Prätext für Lehmanns Idylle darstellt. Strukturell betrachtet, erweist sich der intertextuelle Bezug selbst als nachgerade idyllisch: Im Prätext materialisiert sich nämlich das ‚Rauschen des Intertextes‘, weil das, was dieser nur als Leerstellen in Bezug auf das andeutet, was zwischen Ilse und Heinz am Strand geschehen und was dem lustlosen Schüler durch die idyllische Kino-Zuflucht verheißen ist, von Benns Erzählung explizit ausgeführt wird: Sie stellt nämlich den Weg eines Mannes ins Kino dar. Dieser führt durch das Labyrinth einer Stadt, in dem der Mann schließlich zur gleichen Einsicht gelangt wie Ilse nach dem Strandbesuch: „Oh, er war wohl schon zu weit gegangen!“ (33)

373 374

Kittler: Optische Medien, S. 230. Benn, Gottfried: „Die Reise“, in: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. II: Prosa und Szenen, Stuttgart: Klett-Cotta 61978, S. 28–36, hier: S. 32. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt; die Unterscheidung zu Zitaten aus Lehmanns ‚Böser Idylle‘ ergibt sich durch den Kontext.

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Das Verhältnis zwischen Benn’schem Prä- und Lehmann’schem Intertext erweist sich als ein komplementäres, das genau jener Ambivalenz von Ilses Feststellung folgt, die nicht ausdrücklich darauf schließen lässt, wie weit das ‚so weit‘ zwischen den beiden Schülern tatsächlich gegangen ist: In „Die Reise“ finden sich zwar ähnliche Motive wie in der ‚Bösen Idylle‘– beispielsweise der Strand, der für Benns Protagonisten nach der Begegnung mit einem Mädchen „in den Bereich der Möglichkeiten“ rückt und zwar als Ort des erotischen Zusammenseins (29) –, jedoch geht der Intertext nur in dem Maße ‚so weit‘, wie der Prätext ‚zu weit‘ geht: Dieser stellt nämlich all das dar und heraus, was der Intertext verschweigt oder nur symbolisch insinuiert: Während die idyllische Verheißung des Kinos bei Lehmann durch Heinz’ erleichtertes Atmen so keusch angedeutet wird wie sein Schäferstündchen mit Ilse am Strand, führt Benn sie in aller Deutlichkeit aus: Er sah die Straße entlang und fand wohin. Einrauschte er in die Dämmerung eines Kinos, in das Unbewußte des Parterres. In weiten Kelchen flacher Blumen bis an die verhüllten Ampeln stand rötliches Licht. Aus Geigen ging es, nah und warm gespielt, auf der Ründung seines Hirns, entlockend einen wirklich süßen Ton. Schulter neigte sich an Schulter, eine Hingebung; Geflüster, ein Zusammenschluß, Betastungen, das Glück. [...] Er war eingetreten in den Film, in die scheidende Geste, in die mythische Wucht. (35)

Mit seiner künstlichen Dämmerung empfängt der Zuschauersaal den Mann und da dieser „in das Unbewußte des Parterres“ gelangt, avanciert das Kino zum Ort des Traums – die poststrukturalistische Filmtheorie der 1970er Jahre wird derartige psychoanalytische Implikationen des Kinos mit dem Konzept des Dispositivs fassen, um in Bezug auf die filmischen Artefakte sowohl der „Struktur ihrer ‚apparativen‘ Produktion“ als auch der „Einschreibung der Produktionsbedingungen in das Produkt selbst“ Rechnung zu tragen.375 Der Mann bei Benn vollzieht seinerseits eine solche ‚Einschreibung‘, indem er – nachgerade entmenschlicht und kinematographisch technisiert – wie ein Zug in den Kinosaal einrauscht. Daran veranschaulicht sich jene heuristische Modellfunktion technischer Medien, auf die Kittler hinweist, denn „Medien werden eben darum zu privilegierten Modellen, nach denen unser sogenanntes Selbstverständnis sich bildet, wie es ihr erklärter Zweck ist, dieses Selbstverständnis zu täuschen und zu hintergehen.“376 Als eine – mit Kittler gesprochen – ‚Überrollung der Sinne‘ erweist sich auch die literarische Inszenierung der Wirkung des Kinos bei Benn, die von einer nachgerade idyllischen Synästhesie zeugt, denn Augen und Ohren des Mannes werden durch die Dämmerung des Kinos gleichermaßen adressiert. Mit diesem ‚aisthetischen Einrauschen‘ ins Kino gerät der Mann buchstäblich zum Resonanzraum seiner Umgebung, weil der „wirklich süß[e] Ton“ weniger von den erklingenden Geigen herzurühren als 375

376

Paech, Joachim: „Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik“, in: Medienwissenschaft (4) 1997, S. 400–420, hier: S. 400f. Kittler: Optische Medien, S. 34.

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vielmehr ein Wahrnehmungseffekt des Mannes „auf der Ründung seines Hirns“ zu sein scheint. Das Kino entfaltet seine Wirkung also nicht bloß auf der Leinwand, sondern auch im Imaginären und Realen davor – sowohl in den Köpfen der ZuschauerInnen als auch in ihren Körpern. Diese wenden sich einander in „Hingebungen“ zu, sodass es zu „Betastungen“ und schließlich zum „Zusammenschluß“ kommt. Auf genau dieses „Glück“, das Benns Protagonist in der „mythisch[en] Wucht“ des Kinos erfährt, mag wohl auch Heinz in Lehmanns ‚Böser Idylle‘ gehofft haben, als er – erleichtert atmend – jener idyllischen Verheißung folgt, wie sie die Kinoreklame mit Sonnenschein und Mai in ‚Aussicht‘ stellt. Lehmanns Text setzt die beiden idyllischen Orte Strand und Kino mit ihren jeweiligen Verheißungen also in ein entgegengesetztes Verhältnis und reflektiert damit über die Medialität der Idylle. Durch das symbolisch angedeutete schäferstündliche Zusammensein von Heinz und Ilse am Strand ereignet sich die idyllische Katastrophe wie ein buchstäblicher Einbruch des Realen ins Imaginäre:377 Die wechselseitigen Betrachtungen der beiden Badenden mit begehrlichen Blicken zeitigen handfeste Konsequenzen – zumindest für die Protagonistin der Erzählung, worauf der empfangene Winter allegorisch verweist, den Ilse als schreckliche Jahreszeit genauso ‚erwartet‘ wie ein Kind von Heinz. Hingegen erweist sich das Kino für den Protagonisten der Erzählung alles andere als katastrophisch, denn die ihm von der Reklame für den Sonnenschein des LeinwandFrühlings verheißene Idylle lässt sich als Einbruch des Imaginären ins Reale begreifen: Das Kino empfängt Heinz und das ganz ohne die Gefahr der Empfängnis. Angesichts dieser idyllisch-kontrazeptiven Disposition des Kinos verwundert es auch nicht, dass der erste narrative pornographische Film, der mit einer erzählten Geschichte aufwartet,378 als Idylle inszeniert ist: Die US-amerikanische Produktion A FREE RIDE von 1915 zeigt Sex während einer automobilen Landpartie, zu dem es bei einer Toilettenpause in einem abseits der Straße gelegenen kleinen Wäldchen zwischen den drei Protagonisten kommt. Diesen ‚Pinkelpausen-Quickie‘ präsentiert der Film als männliche Sex-Fantasie einer Triole, bei der der Fahrer des Automobils mit seinen beiden Mitfahrerinnen schläft. Mit seinem alttestamentarisch-misogynen Setting inszeniert A FREE RIDE letztlich patriarchalisch-heteronormative Gender-Klischees, denn erstens geht das sexuelle Begehren im Film von den beiden Frauen aus, die ihren Fahrer heimlich beim 377

378

Ohne Bezug auf die Idylle beschreibt York Kautt mit der Formel „Einbruch des Realen“ in seiner Untersuchung zur Konstruktion des Echten in der Werbung sog. „Authentizitäts-Effekte“, die sich nicht auf „das Aufscheinen der ‚wirklichen Wirklichkeit‘“ beziehen, sondern auf spezifische „Konstruktionslogiken des Realen“ und damit auf das, was durch Werbung als ‚echt‘ ausgeben werden soll (Kautt, York: „Ästhetisierung des Realen. Zur Konstruktion des Echten in der Werbung und anderen Bereichen der Medienkultur“, in: Hieber, Lutz/Moebius, Stephan (Hgg.): Ästhetisierung des Sozialen. Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien, Bielefeld: transcript 2011, S. 87–113, hier: S. 88). Vgl. Seeßlen, Georg: Der pornographische Film, Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein 1990, S 101.

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Urinieren beobachten, und den Mann damit zweitens wie die biblische Eva durch ihre weibliche Neugier verführen. Gemäß der strukturell komplementären Beziehung zwischen Prä- und Intertext stellt Lehmanns „Böse Idylle“ lediglich dar, wie ihr Protagonist ‚so weit‘ geht und das Kino betritt, während Benns „Die Reise“ den männlichen Kinogänger auch beim Verlassen des Kinos begleitet und damit in jenem Moment, in dem man laut Roland Barthes ganz buchstäblich aus der cineastischen Hypnose heraustritt.379 Benns Protagonist erwacht daher „wieder aus dem Gefühl des Schlafs“ und fühlt sich nach dem Kinobesuch „negativ verendet“, so als wäre er „nur als Schnittpunkt bejaht“ (36). Bezogen auf die idyllische Verheißung des Kinos, über die Benns und Lehmanns Texte gleichermaßen reflektieren, bezeichnet diese Formel letztlich nichts anderes als das ‚gattungsgeschichtliche Schicksal‘ der Idylle, das in einer Katastrophe besteht: Schon kurz nach der ‚Wiederbelebung‘ des antiken Stücks diffundiert sie in andere literarische Formen und mediale Formationen, sodass die Idylle als Gattung ‚negativ verendet‘. Doch diese Katastrophe erweist sich als po(i)etisch produktiv, denn als materialer Topos erscheint die Idylle gleichsam durch all jene literarischen Formen und medialen Formationen, in die er diffundiert, als ‚Schnittpunkt bejaht‘: Lehmanns „Böse Idylle“, die sich intertextuell auf Benns „Die Reise“ bezieht, handelt somit auf der Metaebene medienmetonymisch genau davon, weil sie auf jene Medien verweist, in denen die Idylle im 20. Jahrhundert ihre außerliterarische Karriere fortsetzt: zunächst im Film und dann im Fernsehen. Diese Karriere wird im nachfolgenden Kapitel behandelt, dessen Gegenstand die dritte Dimension der Idylle bildet: die Serialität. 

379

Vgl. Barthes, Roland: „Beim Verlassen des Kinos“ [1975], in: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 376–380, hier: S. 376.

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 Serialität („ferien sind serien“) Die größte Katastrophe für die Idylle wäre ihr Ende, das literarhistorisch betrachtet auch insofern Eintritt, als die Gattung nach der durch Gessner bewirkten ‚Renaissance‘ im 18. Jahrhundert ihre literarische Eigenständigkeit verliert, weil der materiale Topos in verschiedene andere literarische Formen und mediale Formationen diffundiert. Es scheint, als wisse die Idylle um diese ihr eingeschriebene katastrophische Gefährdung – und um ihr Ende zu kaschieren, schaltet sie auf Überdauerung: Gerade ihre raumzeitliche Statik, die insbesondere im locus amoenus anschaulich wird, soll eine ‚idyllische Dauerhaftigkeit‘ suggerieren – schließlich unternimmt schon Gessners Lycas die (imaginäre) Einrichtung seines Gartens mit dem Ziel, diesen zu einem Denkmal für seine Geliebte Chloe zu machen. Ihre beiderseitige Liebe überdauert also in der Idylle, was dieser die ‚Aura‘ einer durchaus kitschig zu nennenden Ewigkeit verleiht. Als eine der Idylle genuin eingeschriebene katastrophische Gefährdung kann ihr (potenzielles) Ende aber auch po(i)etisch produktiv (gemacht) werden, wie in Danny Boyles THE BEACH, der Verfilmung von Alex Garlands gleichnamigem Roman: Der US-amerikanische Rucksacktourist Richard erhält in Thailand eine Karte, die ihn von den ausgetretenen Pfaden der Südostasienreisenden weg und in eine auf einer versteckt gelegenen Insel angesiedelte Aussteiger-Kommune führt. Richard beschreibt diesen idyllischen Ort als „beach resort for people who don’t like beach resorts“,380 denn bei den etwa dreißig männlichen wie weiblichen Mitgliedern dieser Kommune handelt es sich um Aussteiger unter den touristischen Aussteigern. Für Richard endet diese Idylle in dem Moment, als eine Gruppe uneingeladener Neuankömmlinge die Insel erreicht, die sie mit Hilfe der von Richard vor seinem Aufbruch heimlich angefertigten Kopie seiner Karte ausfindig machen konnten. Richard wird wegen dieser eigenmächtigen Preisgabe der Idylle von der Kommune verstoßen, die neben den Neuankömmlingen noch ganz andere Katastrophen abwenden muss: Durch amouröse Abenteuer der Kommunarden untereinander wird die hierarchische Ordnung dieses idyllischen ‚Kleinstaates‘ genauso gestört wie durch eine andauernde Nahrungsknappheit und Krankheiten sowie den Tod einiger Gruppenmitglieder infolge von Raubtierangriffen. Die größte katastrophische Gefährdung für diese Idylle stellen schließlich die einheimischen Drogenbauern dar, die auf der Insel eine illegale Hanfplantage betreiben und angesichts des stetigen Zuwachses der Aussteiger-Gemeinschaft deren Anwesenheit nicht länger zu tolerieren bereit sind. THE BEACH führt also vor, dass das Ende als katastrophische Gefährdung der Idylle dieser inhärent ist, sofern sie als utopische Idee eines dauerhaft idyllischen Zusammen380

THE BEACH, Regie: Danny Boyle, USA/GB 2000, hier: 00:41:36. Hier wie im Folgenden sowie in den übrigen Teilen der Arbeit wird bei Zitaten aus Filmen und Serien immer die Anfangszeit angegeben.

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lebens realisiert werden soll, wie es die Kommune am Strand auf der einsamen Insel im südostasiatischen Meer versucht. Man braucht kein idyllischer Pessimist wie Roland Barthes zu sein, um zu erkennen, dass ein idyllisches Zusammenleben nur als Utopie möglich ist, weil ein „Raum menschlicher Beziehungen, der durch das Fehlen von Konflikten gekennzeichnet ist“,381 nur als idyllischer Nicht-Ort existieren kann. Barthes’ Zweifel am Konzept eines solchen Zusammenlebens zeigen sich daran, dass er das Lemma ‚idyllisch‘ aus dem Manuskript seiner Vorlesung am Collège de France in den Jahren 1976/77 über die „Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman“ streicht. Die Idylle kann also niemals ein ‚alltäglicher Raum‘ sein, denn sie steht außerhalb des Alltags, außerhalb des Gewohnten, außerhalb des Normalen. Der Kommunen-Strand in THE BEACH ist ein solch außeralltäglicher Raum, der allerdings nicht von Dauer ist. Dies nutzt der Film und macht die Unmöglichkeit einer solchen Dauerhaftigkeit, die im und mit dem katastrophischen Ende der Idylle anschaulich wird, zum dramaturgischen Höhepunkt der erzählten Geschichte über Richards Suche nach dem touristischen Paradies abseits des (Massen-)Tourismus. Während das Medium Film also das katastrophische Potenzial der Idylle produktiv machen kann, indem es die Idylle eben nicht auf Dauer stellt, verfährt ein anderes Medium, das so zum vielleicht idyllischsten des 20. Jahrhunderts avanciert, genau umgekehrt: das Fernsehen. Dessen ‚idyllisches Potenzial‘ besingt bekanntlich schon die norwegische Pop-Gruppe a-ha mit ihrem Lied „The Sun Always Shines On T.V.“.382 Dauerhaftigkeit erreicht die Idylle im Fernsehen aber nicht nur durch beständigen Sonnenschein, sondern weil sie dort zum Programm wird – wie beispielsweise in der ZDF-Produktion DAS TRAUMSCHIFF, der erfolgreichsten Serie in der Geschichte des bundesdeutschen Fernsehens. Die Idylle macht im Fernsehen vor allem als Serie Karriere. Dies verwundert insofern nicht, als die Serialität bereits seit der Antike eine konstitutive Dimension der Idylle darstellt, denn die Eklogen Theokrits stellen genauso wie Vergils Bucolica zunächst nichts anderes dar als eine „zusammengehörige Gruppe“ literarischer Texte „in einer Sammlung“,383 die ein formales und ein inhaltliches Merkmal verbindet: Erstens ihre relative Kürze und zweitens die in diesen Texten dargestellten bukolischen Sänger mitsamt ihrem Gesang im und über den locus amoenus, der der Idylle somit als landschaftliche Kulisse dient und zugleich zum Gegenstand gereicht. Da die Texte aber ansonsten inhaltlich nicht weiter in Zusammenhang stehen oder aber aufeinander aufbauen, sondern

381

382 383

Barthes, Roland: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman [2002], übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 153. a-ha: „The Sun Always Shines On T.V.“, in: Hunting High and Low, Warner Bros. 1985. Stichwort ‚Serie‘, in: Wahrig, S. 1351.

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sich lediglich strukturell gleichen, bilden sie nach der Terminologie der Fernsehwissenschaft gewissermaßen eine series, also eine sogenannte Episodenserie.384 Das Fernsehen macht den materialen Topos nicht nur in DAS TRAUMSCHIFF produktiv. Er findet sich auch in anderen idyllisch zu nennenden Serien, wie beispielsweise der deutsch-österreichischen Koproduktion DAS TRAUMHOTEL, deren 20 Episoden zwischen 2004 und 2014 im Ersten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden. Die Serie erzählt die Geschichte einer Hotelier-Familie und wie in DAS TRAUMSCHIFF wechseln auch hier mit jeder Episode die Kulissen, weil jeweils eines der an unterschiedlichen Orten der Welt gelegenen Hotels der fiktiven Kette Siethoff den Schauplatz der Handlung bildet. Im Programm der ARD stellt die zwischen 1992 und 1996 mit 42 Episoden produzierte Serie STERNE DES SÜDENS einen Vorläufer von DAS TRAUMHOTEL dar: Erzählt wird die Geschichte um eine Gruppe von Animateuren, die in verschiedenen Club-Hotels auf der Welt arbeiten. Der materiale Topos ist im Fernsehen allerdings nicht auf derartige Urlaubsserien beschränkt, sondern kann auch in anderen Genres produktiv werden: So etwa in der zwischen 1996 und 2003 mit insgesamt 28 Episoden für die ARD produzierten Arzt-Serie KLINIK UNTER PALMEN, die die Geschichte um Dr. Frank Hofmann erzählt, der an verschiedenen paradiesischen Orten in zumeist armen ‚Drittweltländern‘ durch den Aufbau von Kliniken medizinische Entwicklungshilfe leistet. KLINIK UNTER PALMEN verkoppelt mit diesem Setting gewissermaßen zwei der erfolgreichsten deutschen Fernseh-Serien, nämlich DAS TRAUMSCHIFF und DIE SCHWARZWALDKLINIK (zwischen 1985 bis 1989 mit insgesamt 73 Episoden unter der Leitung von TRAUMSCHIFF-Erfinder Wolfgang Rademann für das ZDF produziert). Dies macht auch der Cast durch eine intertextuelle Referenz auf der Metaebene deutlich, denn die Hauptfigur der Serie wird von Klausjürgen Wussow gespielt, dem ehemaligen Chefarzt Professor Dr. Klaus Brinkmann aus der idyllischen Arztserie des Zweiten Deutschen Fernsehens.385

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Vgl. Cavell, Stanley: „Die Tatsachen des Fernsehens“ [1982], übersetzt von Herbert Schwaab, Ralf Adelmann und Markus Stauff, in: Adelmann, Ralf/Hesse, Jan O./Keilbach, Judith/Stauff, Markus/Thiele, Matthias (Hgg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK 2001, S. 125–164, hier: S. 135. Der materiale Topos der Idylle findet sich jedoch nicht nur in deutschsprachigen Fernsehproduktionen: DESPERATE HOUSEWIVES stellt insofern eine seiner televisiven Variationen dar, als die von Marc Cherry entwickelte und zunächst für Touchstone Television (2004–2007) und dann für ABC Studios (2007–2012) mit insgesamt 180 Episoden produzierte US-amerikanische Drama-Serie die Geschichte um fünf Freundinnen erzählt, die mit ihren Familien in der beschaulichen Wisteria Lane leben. Durch den Selbstmord einer der Freundinnen hält die Katastrophe Einzug in diese Vorstadtidylle und gibt der Serie ihren Erzählanlass, weil im Folgenden die auf ein Familiengeheimnis zurückgehenden Umstände des Tods der ‚verzweifelten Hausfrau‘ aufgedeckt werden. Darin sind die anderen Freundinnen ihrerseits so idyllisch wie katastrophisch verwickelt.

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In Bezug auf den locus amoenus wird deutlich, dass die Serialität der Idylle auch ihre poiesis betrifft: Der liebliche Ort umfasst verschiedene landschaftliche Elemente, die als literarische Versatzstücke in den verschiedensten Idyllen gebraucht werden, um durch das Verfahren der Topothesie den locus amoenus buchstäblich ‚hinzustellen‘. Insofern steht die Idylle seit der Antike in jener Tradition des Seriellen, die für Umberto Eco mit dem Schematismus der antiken Tragödie beginnt.386 Unter Schematismus versteht Eco eine „Variation über einem vorgefertigten Muster“.387 Als eine poiesis, die auf einen materialen Topos rekurriert, der seinerseits „präfabriziert[e] ‚seriell[e]‘ Elemente“ bereitstellt,388 zeichnet sich also auch die Idylle durch einen solchen Schematismus aus. Dieser wird nun gerade für die moderne Ästhetik, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem geniezeitlichen Originalitätspostulat der Authentizität und Einmaligkeit steht, gerade deshalb problematisch,389 weil er neue Formate wie beispielsweise den trivial genannten Fortsetzungsroman hervorbringt. Dessen Erfolg als Medium der Massenunterhaltung lässt die genuine Serialität von Literatur und Kunst für die – vornehmlich männlichen – Vertreter „der ‚hohen‘ Kultur als eine degenerierte (und tückische) Serialität“ erscheinen.390 Der Schematismus zählt neben dem Format zu den beiden „generativen Mechanismen“ einer po(i)etischen Serialität,391 die für Literatur und Kunst seit der Antike kennzeichnend ist, obwohl die Griechen und Römer weder Literatur noch Kunst im heutigen Sinn dieser beiden modernen Begriffe kennen, sondern nur den Plural der ‚Künste‘. Laut Jacques Rancière werden sie als techne bzw. ars verstanden und bezeichnen innerhalb eines sog. ethischen Regimes eine Vielzahl von „Tätigkeitsformen“.392 Deren Aufgabe besteht im po(i)etischen „Erzeugen von Objekten“, „die in geordneter und vollkommener Weise funktionieren“.393 Ein Kriterium für dieses von Eco in Bezug auf den 386

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Vgl. Eco, Umberto: „Die Innovation im Seriellen“ [1983], in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, übersetzt von Burkhart Kroeber, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 72002, S. 155–180, hier: S. 179. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 157. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 156. Vgl. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 156. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 156, Hervorhebung i.O. Thiele, Matthias: „Redundanz, Reminiszenz und Rätsel – Bildwiederholungen in Fernsehserien. Breaking Bad und NCSI generativ betrachtet“, in: Parr, Rolf/Wesche, Jörg/Basterst, Bernd/Dauven-van Kippenberg, Carla (Hgg.): Wiederholen/Wiederholung, Heidelberg: Synchron 2015, S. 195–215, hier: S. 197. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien [2000], hrsg. von Maria Muhle, übersetzt von Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, Berlin: b_books 2 2008, S. 36. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 156. Vor dem Hintergrund von Ecos Funktionskriterium wird ersichtlich, weshalb es letztlich eine überflüssige Diskussion ist, zwischen techne bzw. Kunst und Medium unterscheiden zu wollen. Akut wird die Frage nach ihrer Unterscheidbarkeit erst

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seriellen Schematismus herausgestellte ‚vollkommene Funktionieren‘ ist beispielsweise die von Aristoteles in der Poetik konzeptuell gefasste Mimesis als Nachahmung der Natur unter Maßgabe des Möglichen und Wahrscheinlichen (zur idyllischen Kritik an diesem Konzept vgl. Kapitel 3.2). Format und Schematismus, wie sie sich im Muster der antiken Tragödie genauso zeigen wie in der materialen Topik, ermöglichen also ein solch vollkommenes Funktionieren, aus dem sich das Phänomen der Serialität überhaupt erst ergibt. Beide können zudem als mediale Effekte angesehen werden, da sie sich aus Standardisierungen ergeben. Diese sind ihrerseits das Signum aller Medien, denn überhaupt erst „[p]er Standard erreichen Medien unsere Sinnlichkeiten“, wie Friedrich Kittler feststellt.394 Das Format wäre in diesem Fall eine formale und der Schematismus eine inhaltliche Standardisierung. Format und Schematismus als generative Mechanismen einer po(i)etischen Serialität sind sowohl für das Fernsehen als auch für die Idylle charakteristisch – zumal diese sich, wie es anhand von Alexander von Warsbergs Reisebeschreibung gezeigt wurde, als ein buchstäbliches Fern-Sehen vor der Erfindung des „vollektronisch[en] Mediums“ begreifen lässt.395 Während die Idylle im Film des Kinos nur eine Verheißung sein kann, wie sie Richard in THE BEACH am einsamen Inselstrand sucht und wie sie das Kino in Lehmanns ‚Böser Idylle‘ mit künstlichem Sonnenschein und imaginärem Frühling plakatiert, wird sie im Fernsehen schließlich zum Programm. Dies geschieht dadurch, dass sich das Fernsehen die genuine Serialität der Idylle zu eigen macht und zugleich deren größte katastrophische Gefährdung suspendiert, denn: Fernsehen ist Idylle ohne Ende.

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in den Fällen, wo beide zusammenfallen, das heißt dort, wo die beiden zugrundeliegende poiesis automatisiert und automatisch performiert wird. Dies trifft auf die Fotografie genauso zu wie beispielsweise auf das surrealistische Verfahren der écriture automatique oder den gesamten Bereich der sog. kalkülsprachlichen Dichtung von den Anfängen in der Antike bis zu ihren gegenwärtigen Erscheinungsformen in der digitalen Poesie. Gerade am Zusammenfall von techne und Medium in der kalkülsprachlichen Dichtung zeigt sich die Aporie des modernen Medienbegriffs, auf die Florian Cramer aufmerksam macht: „Mit seinen Metonymisierungen, begrifflichen Vernebelungen und der Vermengung von Technik und redaktioneller Institution wird der Begriff des ‚Mediums‘ und ‚der Medien‘ zur latent paranoiden Denkfigur, besonders, wenn die Behauptung einer Botschaft oder eines Eigensinns von ‚Medien‘ über physikalische Filter- und Interferenzeffekte hinaus Technik zum sprechenden und schließlich historischen Subjekt macht, das die Leerstelle des abgeschafften Menschensubjekts und der entsorgten Geistesgeschichte füllt.“ (Cramer, Florian: Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts, München: Fink 2011, S. 302.) Mit Blick auf die beiden vorhangehenden Kapitel zur Poetizität und Medialität der Idylle bildet die poiesis letztlich den Schnittpunkt von Medien und techne, die – mit Benn gesprochen – jeweils als ‚negative Verendung‘ des anderen auf einander bezogen sind. Kittler: Optische Medien, S. 36. Kittler: Optische Medien, S. 20.

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2.3.1Die ‚Traumschifferzählung‘ als außeralltägliche Idylle Wenn Roland Barthes nur ein Jahr länger hätte leben können, um die am 11. November 1981 ausgestrahlte erste Episode der Fernsehserie DAS TRAUMSCHIFF im Zweiten Deutschen Fernsehen anzusehen, dann hätte er vielleicht sein Vorlesungsmanuskript zur Hand genommen und die Streichung des Lemmas ‚idyllisch‘ gestrichen: DAS TRAUMSCHIFF liefert nämlich seit mehr als dreißig Jahren den televisiven Beweis dafür, dass ein idyllisches Zusammenleben doch möglich ist – allerdings nicht in alltäglichen, sondern ausschließlich außeralltäglichen Räumen. Die Urlaubskreuzfahrt auf dem Traumschiff, die jede Episode der Serie präsentiert, stellt als Urlaub auf See einen solchen außeralltäglichen Raum dar und zwar im topographischen wie temporalen Sinn – schließlich impliziert ein Urlaub auch die zeitlich begrenzte Suspension des Alltags. In DAS TRAUMSCHIFF wird diese Außeralltäglichkeit insofern noch potenziert, als bereits das Schiff ein außeralltäglicher Ort ist, den die Passagiere für eine begrenzte Zeit bevölkern, um mittels dieses buchstäblichen ‚Kinetopos‘ an eine ferne Feriendestination zu gelangen. Die Idylle ist also dem Schiff implementiert, denn laut Michel Foucault stellt es „die Heterotopie par excellence“ dar:396 Es ist ein Ort außerhalb aller realen Orte, der „in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten steht“.397 Die Verbindung zu anderen Orten stellt das Schiff durch seine Fahrt buchstäblich her und auch der Widerspruch entsteht durch die genuine ‚Beweglichkeit‘ des Schiffs, das den lebensfeindlichen ‚Ort‘ des Meeres zugänglich und temporär bewohnbar macht. Als Heterotopie, die dem idyllischen Zweck des Urlaubs dient, ist das Schiff laut Bernhard Siegert zudem ein Ort der Illusion und dies trifft gerade auf das Kreuzfahrtschiff zu, weil es nicht bloß „von Hafen zu Hafen fährt“,398 sondern außeralltägliche Orte zugänglich macht, wo sich die Urlaubsreisenden für eine begrenzte Zeit jener touristischen Illusion hingeben dürfen, die Hans Magnus Enzensberger als die Entdeckung einer unberührten Landschaft mit einer vermeintlich ebenso unberührten Geschichte beschreibt.399 Zugleich ist das Reisegefährt ‚Schiff‘ ein Ort der Kompensation, denn genau diesem Zweck dient die Kreuzfahrt zu idyllischen Urlaubszielen. Dies wird in einem

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Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“ [Vortrag 1967/Publikation 1984], übersetzt von Michael Bischoff, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, Bd. IV: 1980–1988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 931–942, hier: S. 942. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 934. Siegert, Bernhard: „Arche, Wasser-Palast oder City Afloat. Die politische Topik des Schiffs zwischen Recht und Ökonomie“, in: Echterhölter, Anna/Därmann, Iris (Hgg.): Konfigurationen. Gebrauchsweisen des Raums, Zürich: Diaphanes 2013, S. 117–137, hier: S. 118. Vgl. Enzensberger: „Eine Theorie des Tourismus“, S. 156.

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Dialog zwischen dem Kapitän und einer Passagierin aus der vierten TRAUMSCHIFF-Episode thematisiert:400 Kapitän: Guten Abend, gnädige Frau. Kann ich Ihnen helfen? Passagierin: Ich wollte mir nur die Sterne ansehen. Ich dachte von hier ginge das besser. K: Ja, das ist schon richtig. Nur das Betreten der Kommandobrücke ist den Passagieren leider untersagt. P: Entschuldigen Sie, Herr Kapitän. K: Aber da Sie nun schon einmal hier sind... Sternenhimmel November, wir fahren Kurs Süd-Südwest. Da haben wir dreißigster Längengrad den Steinbock, weiter westlich das Dreieck Zyklus, Aquila, Lyra – Schwan, Adler, Leier. P: Wunderschön! Überhaupt alles hier. Wir kommen bald in die Sonne und zu Hause Nebel und Schnee. Und das alles nach einem kalten und verregneten Sommer. K: Tja, „der Sommer in Deutschland ist kein Sommer, sondern ein grün angestrichener Winter“. P: Ist das von Ihnen? K: Nein, leider nicht. Von Heinrich Heine. – Zigarette? P: Ja, gern.

Der Passagierin erscheint nicht nur der gemeinsam mit dem Kapitän betrachtete Nachthimmel wunderschön, sondern „[ü]berhaupt alles hier“ und damit meint sie zum einen die Reise, die aus dem winterlichen Deutschland in die Sonne des Südens führt, und zum anderen das Schiff, mit dem diese Reise erfolgt. Wenn der Kapitän zum Scherz und zur Verdeutlichung des beständig unidyllischen Wetters in Deutschland dann noch Heine zitiert, erweist er sich geradezu als epigonaler Nachfahre der bukolischen Hirten und macht zugleich die idyllische Disposition des Schiffs evident. Diese liegt im Fall eines Kreuzfahrtschiffs insbesondere darin, dass „der wirren und ungeordneten Welt“ des Alltags „eine perfekt geordnete Welt entgegen[gehalten wird], in der jedes Ding in einer komplexen Anordnung seinen genauen Platz und jede Handlung in einem komplexen Ablauf ihren genauen Zeitpunkt hat“.401 Das Schiff teilt mit den Serienproduktionen des Fernsehens also jenen „Ordnungszwang“, der laut JeanFrançois Lyotard den „Realitätseindruck“ des (narrativen) Filmbilds auszeichnet.402 So wie im filmischen bzw. televisiven Bewegtbild herrscht auch auf dem Schiff eine „Ordnung in den Bewegungen“,403 die nachgerade ‚natürlich‘ erscheinen, weil ihre arrangierte Komplexität durch die von ihnen überhaupt erst konstituierte Idylle eines Kreuzfahrt400

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DAS TRAUMSCHIFF, Episode 4, Regie: Fritz Umgelter, Erstausstrahlung: 20.12.1981, ZDF, 00:07:53–00:09:11. Siegert: „Arche, Wasser-Palast oder City Afloat“, S. 118. Lyotard, Jean-François: „L’acinéma“ [1973], in: ders.: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, übersetzt von Eberhard Kienle und Jutta Kanz, Berlin: Merve 1982, S. 25–43, hier: S. 26. Lyotard: „L’acinéma“, S. 26.

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schiffs kaschiert ist. Möglich wird das, weil das schwimmende Hotel auf See wie ein Kriegsschiff durch die Verkoppelung von zeitlichen und räumlichen Regularien ein „Ort von Gesetz und Disziplin“ ist und das in doppelter Hinsicht:404 Die streng hierarchische Ordnung, die die Besatzung vom Kapitän bis zum Küchenjungen strukturiert, bleibt für die Passagiere insofern unsichtbar, als gerade das ‚niedere‘ Bordpersonal seinen Dienst zu Zeiten verrichtet, an denen die Urlaubsgäste nicht dort sind, wo gearbeitet wird, oder sich an Orten auf dem Schiff aufhält, die den KreuzfahrerInnen nicht zugänglich sind. Jedoch folgt auch der idyllische Aufenthalt der urlaubenden Passagiere an Bord einer strengen räumlichen wie zeitlichen Ordnung – angefangen beim Klassensystem, durch dass das Schiff eine vertikale Hierarchie erhält.405 Diese wird im Fall der Lage der Kabinen zudem um eine horizontale ergänzt, denn im Vergleich zu Innenkabinen gelten deren außen gelegene Pendants nicht nur als luxuriöser, sie kosten auch entsprechend mehr.406 Dasselbe gilt für das Privileg der Landausflüge, das i.d.R. teuer erkauft werden will. Diese Landausflüge unterstehen (da sie nur möglich sind, wenn das Schiff in einem Hafen vor Anker liegt) genauso einer zeitlichen Ordnung wie das kulinarische Leben an Bord, das vielen KreuzfahrerInnen als eigentliches all-inclusive-Highlight der Reise gilt: Es ist mithin in Schichten organisiert und durch die Wahl zwischen self-service- und à-la-carteRestaurant auch noch monetär differenziert, weil die Bedienung am Platz ebenfalls zusätzliches Geld kostet. Alle diese heterotopischen Eigenschaften, die sich zu einem der drei Paradigmen der Idylle zusammenfassen lassen (vgl. Kapitel 4.3), ermöglichen auf dem Kreuzfahrtschiff ein Zusammenleben, das aufgrund seiner raumzeitlichen Begrenzung und Ordnung idyllisch erscheint. Während Barthes jedoch all jene Räume „menschlicher Beziehung“ idyllisch nennt, die „durch das Fehlen von Konflikten gekennzeichnet“ sind,407 gilt dies für die Idylle, wie sie DAS TRAUMSCHIFF präsentiert, nur eingeschränkt: Als Ausgangspunkt der Handlung einer TRAUMSCHIFF-Episode ist der Konflikt zwischen den reisenden Figuren für die Dramaturgie der TV-Serie so zentral wie die mit jeder Episode wechselnde landschaftliche Kulisse. Aus diesem Grund hat der Urlaub auf dem Traumschiff für die Figuren der Serie also eine gewissermaßen ‚kathartische‘ Wirkung: Alle

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Siegert: „Arche, Wasser-Palast oder City Afloat“, S. 118. Das kitschige sowie katastrophische Potenzial dieser idyllischen Organisation des Schiffsraums wird in Kapitel 4.3.2 genauer untersucht. 406 Die räumliche ‚Mikroökonomie‘ einer Innenkabine beschreibt David Foster Wallace gänzlich unidyllisch, dafür aber nachdrücklich humorig in seinem Reisebricht von einer Kreuzfahrt (vgl. Wallace, David Foster: Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich [1996], übersetzt von Marcus Ingendaay, München: Goldmann 102006, S. 88ff). Diese führt den für das US-amerikanische Harper’s Magazine schreibenden ‚investigativen Touristen‘ in die Karibik, wo sich ihm eine idyllische „Szenerie“ darbietet, „die wie retuschiert wirkt, so hübsch ist sie“ (ebd., S. 100). 407 Barthes: Wie zusammen leben, S. 153. 405

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potenziell konflikthaften Probleme und Sorgen, die sie aus ihrem Alltag mit an Bord nehmen, werden während der Reise gelöst. Darin liegt das narrative „Serienschema“ von DAS TRAUMSCHIFF begründet,408 denn letztlich stellt ein Schema nach Barthes „eine syntagmatische Abbildung“ dar, die bei verschiedenen Erzählungen derselben Form, d.h. aus einer Gattung (im Bereich der Literatur) oder einem Genre bzw. Format (insbesondere im Bereich von Film und Fernsehen), „aus den unterschiedlichen Handlungsverläufen [...] abstrahiert“ werden kann.409 Aufgrund dieses ihr zugrundeliegenden Schematismus zeichnet sich die einzelne Episode von DAS TRAUMSCHIFF durch genau jene „Wiederkehr des Immer-gleichen“ aus,410 die nicht nur der von Walther Killy so genannten „Kitscherzählung“ eignet,411 sondern überhaupt als konstitutives Moment jeder Serie angesehen werden kann: „In der Serie glaubt der Konsument“, stellt Eco fest, „sich an der Neuheit der Geschichte zu erfreuen, während er faktisch die Wiederkehr eines konstanten Schemas genießt und sich freut, bekannte Personen wiederzufinden, mit ihren charakteristischen Ticks, ihren feststehenden Redeweisen, ihren immer gleichen Techniken zur Lösung der Probleme“.412 Die schematische Konstanz besteht in einer Serie dabei in „ein[er] feststehend[en] Situation und ein[er] Anzahl ebenso feststehender Hauptpersonen, um welche sich Nebenpersonen gruppieren, die von Fall zu Fall wechseln, damit der Eindruck einer neuen Geschichte entsteht“.413 Man mag Eco seine mimetische Terminologie fast nicht nachsehen wollen, wenn er das Serienschema insbesondere an den ‚Personen‘ einer Geschichte festmacht. Trotzdem kennzeichnet gerade dieser figurale wie narrative Schematismus die TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF, die zudem auch den materialen Topos schematisch funktionalisiert: Mit jeder Episode ändert sich das Reiseziel und damit die idyllische Landschaftskulisse – obwohl sie durch die televisive Inszenierung ‚immergleich‘ gestaltet ist. Auf diese Weise tragen nicht nur die jeweils neuen Passagiere, die sich auf Kreuzfahrt begeben, sondern auch die jeweils angesteuerten Urlaubsorte dazu bei, dass jede Episode mit einer neuen story aufwartet, während das narrative Schema auf der plot-Ebene konstant bleibt. Dies entspricht insofern einer idyllischen poiesis, als sich auch der Gebrauch des materialen Topos als beständige „Variation über einem vorgefertigten Muster“ erweist.414

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Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 159. Barthes, Roland: „Die Handlungsfolgen“ [1969], in: ders.: Das semiologische Abenteuer [1985], übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 144–155, hier: S. 144. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 160. Killy, Walther: „Versuch über den literarischen Kitsch“, in: ders.: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen [1962], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 81978, S. 9–33, hier: S. 18. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 160. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 160. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 157.

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Jede filmische bzw. televisive Narration lässt sich als „a chain of events in causeeffect relationship occuring in time and space“ definieren und in Bezug auf das Verhältnis von story und plot analysieren.415 In Analogie zur Terminologie der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung entspricht die story der Ereignisfolge auf der histoire-Ebene und der plot der Zeichenfolge auf der discours-Ebene: The set of all the events in a narrative, both the ones explicitly presented and those the viewer infers, constitutes the story. […] The term plot is used to describe everything visibly and audibly presented in the film before us. The plot includes, first, all the story events that are directly depicted. […] Second, the film’s plot may contain material that is extraneous to the story, [since it is] brought in from outside the story world.416

Unabhängig davon, ob Ereignisse, die die vollständige Handlung einer filmischen/televisiven Narration konstituieren, tatsächlich gezeigt werden (und somit zum plot zählen) oder nicht, gehören sie zur story. Die dargestellten Ereignisse (plot-Ebene) müssen allerdings keinesfalls in ihrer zeitlich-kausalen Folge (story-Ebene) präsentiert werden: Der plot ist als Zeichenfolge die filmische/televisive Darstellung der story, aber nicht an deren Chrono-Logik als Ereignisfolge gebunden. Ein zentrales Merkmal der ‚Traumschifferzählung‘ ist, dass sie – in Bezug auf das Verhältnis von story und plot – ohne erzählerische Anachronien auskommt.417 Damit sind flashbacks oder flashforwards im plot der filmischen/televisiven Erzählung gemeint, also eine Darstellung von Ereignissen entgegen ihrer chrono-logischen Reihenfolge auf der story-Ebene. Hingegen gibt es innerhalb der ‚Traumschifferzählung‘ trotz dieses Verzichts auf derartig filmische/televisive Anachronien sehr wohl rein narrative Anachronien und zwar in Form erzählerischer Analepsen durch Figuren, die von Vergangenem berichten (was aber filmisch bzw. televisiv auf der plot-Ebene nicht zur Anschauung gebracht wird). Angesichts dieser narrativen Disposition erscheint die ‚Traumschifferzählung‘ schematisch und immergleich, da zwar Passa-

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Bordwell, David/Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction [1979], New York u.a.: McGrawHill 62001, S. 60. 416 Bordwell/Thompson: Film Art, S. 61, Hervorhebung i.O. 417 Unter Anachronien versteht Gérard Genette „verschiedene Formen von Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der der Erzählung“ (Genette, Gérard: Die Erzählung [1998], übersetzt von Andreas Knop, Paderborn: Fink 32010, S. 18). Als Ereignisfolge entspricht die Geschichte bei Genette der filmischen/televisiven story und die Erzählung als Zeichenfolge dem plot, wobei Genette beide Kategorien in eine semiotische Beziehung zueinander setzt: Die Geschichte bzw. histoire definiert er als „le signifé ou contenu narratif“ und die Erzählung bzw. den récit/discours als „le signifiant, énoncé, discours ou texte narratif lui-même“, sodass beide zusammen die narration bilden und zwar als „l’acte narratif producteur et, par extension, l’ensemble de la situation réelle ou fictive dans laquelle il prend place“ (Genette, Gérard: „Discours du récit. Essai de méthode“, in: ders.: Figures III, Paris: Édition du Seuil 1972, S. 65–282, hier: S. 72).

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giere und Urlaubsdestination mit jeder neuen Episode der TV-Serie wechseln, deren Dramaturgie und Machart allerdings stets unverändert bleiben. Die televisive ‚Traumschifferzählung‘ lässt die Idylle also buchstäblich in Serie gehen, weshalb die TRAUMSCHIFF-Idylle letztlich einen apollinischen Kuhhandel darstellt: Das narrative Schema der Fernsehserie ist der Austausch Desselben gegen das Gleiche, das mit jeder Episode als gewissermaßen variierte Wiederholung präsentiert wird. Es ist daher der funktionalisierte Gebrauch des materialen Topos zur Gestaltung idyllischer Landschaftskulissen, durch den die Serie jene von Hermes im Kuhhandel mit Apollo gemachte Entdeckung ausbeutet, die nach Jochen Hörisch darin besteht, „daß der ungerechte Tausch des Nichtäquivalenten sich beliebig iterieren läßt“.418 Die als Idylle präsentierte und mit jeder Episode der TV-Serie wechselnde Örtlichkeit erweist sich auf der story-Ebene nämlich als etwas Nichtäquivalentes in Bezug auf die behauptete Einmaligkeit des Ferienortes; auf der plot-Ebene erscheint das amöne Urlaubsziel jedoch als funktional äquivalent in Bezug auf die anderen Destinationen, die das Traumschiff in jeder neuen Episode ansteuert, denn es sind jeweils idyllische Orte, an denen die Figuren eine vermeintliche Katastrophe erleben. Trotzdem endet die ‚Traumschifferzählung‘ immergleich und immer gut mit einem kitschigen Happy End, weil sich alle Konflikte, die sich während der Reise entfalten, zu deren Ende auflösen und alle Passagiere glücklich in ihren Alltag zurückkehren können: Beispielsweise findet an Bord des Schiffs eine Jugendliebe nach Jahrzehnten der Trennung wieder zusammen (Episode 61); eine am Altar verlassene Braut erkennt in ihrem Trauzeugen die wahre Liebe (Episode 58); nach langer Suche lernt eine als Kind adoptierte Frau ihre leiblichen Eltern kennen (Episode 54); der bislang unverwirklichte Familienwunsch eines kinderlosen Paares geht endlich in Erfüllung (Episode 47); ein Vater vermittelt seiner Tochter eine ‚gute Partie‘ (Episode 56); ein arbeitsloser Fotograf erhält auf dem Schiff eine neue berufliche Perspektive (Episode 46); eine verarmte alleinerziehende Mutter gewinnt einen väterlichen Freund und durch diesen einen vermögenden Fürsorger (Episode 43); und so wie aus verbitterten Feinden gute Freunde werden (Episode 66), können Lahme nach der Reise mit dem Traumschiff wieder gehen (Episode 28). Diese beispielhaften Traumschiffgeschichten aus über 30 Jahren televisiver TRAUMSCHIFF-Geschichte veranschaulichen die beiden elementaren Narrative, nach denen die Handlung jeder Episode schematisch gestaltet ist: Erstens kommt es an Bord des Schiffs stets zu einer (unerwarteten) Begegnung, die zweitens zum Ausgleich eines Mangels führt, der bereits vor der Reise besteht oder während dieser – zumeist als Konflikt – problematisch wird. Aus diesem Grund lässt sich die Struktur einer Episodenhandlung der Serie als Kitscherzählung begreifen, deren konstitutive Erzähleinheiten Régine Atzenhoffer durch ihre Analyse der semantischen Struktur der Romane Hedwig Courths-Mahlers 418

Hörisch: Die Wut des Verstehens, S. 14

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nach der Methode des französischen Semiotikers A. J. Greimas herausarbeitet: Auf eine „situation initiale“, die die Hauptfiguren einführt, folgt zuerst die „intrigue“ als Entfaltung einer spezifischen Konfliktlage, die i.d.R. ein Zusammensein der beiden sich liebenden oder lieben lernenden Protagonisten verhindert, und schließlich eine „situation finale“, die sich durch die Auflösung jener der Liebe wie den Liebenden im Weg stehenden „obstacles“ erweist.419 In der Kitscherzählung wird durch die Begegnung der beiden Hauptfiguren ein Mangel evident, der sich für die beiden als „manque d’amour“ erweist.420 Dieser Mangel bildet den ‚Handlungsmotor‘ der Kitscherzählung, denn aus dem Versuch, ihn auszugleichen bzw. zu überwinden, resultieren alle „actions à venir“, die die Erzählung im Folgenden bis zu ihrem Happy End präsentiert.421 Insofern können ‚Begegnung‘ und ‚Mangel‘ mit Barthes der funktionalen Ebene einer Erzählung zugerechnet werden, denn eine Funktion „erhält nur insofern Sinn, als sie sich in die allgemeine Handlung eines Aktanten eingliedert; und diese Handlung erhält ihren letzten Sinn aufgrund der Tatsache, daß sie erzählt, einem Diskurs mit seinen eigenen Codes anvertraut wird“.422 419

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Atzenhoffer, Régine: Ecrire l’amour kitsch. Approches narratologiques de l’œuvre romanesque de Hedwig Courths-Mahler (1867–1950), Bern: Peter Lang 2005, S. 400ff. Atzenhoffers Untersuchung stellt einen der jüngsten Beiträge zu einer strukturalistisch perspektivierten Kitschforschung dar. Ihm voran gehen beispielsweise: Radway, Janice A.: Reading the Romance. Women, Patriarchy, and Popular Literature [1984], Chapel Hill/London: The University of North Carolina Press 1991; Zimmermann, Hans Dieter: Trivialliteratur? Schema-Literatur! Entstehung Formen Bewertung [1979], Stuttgart: Kohlhammer 21982; Kocks, Klaus/Lange, Klaus: „Literarische Destruktion und Konstruktion von Ideologie. ‚Love Story‘ und trivialer Liebesroman“, in: Schulte-Sasse, Jochen (Hg.): Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Theorie, Geschichte und Einzelinterpretation, Tübingen: Niemeyer 1979, S. 156–198. Atzenhoffer: Ecrire l’amour kitsch, S. 401. Atzenhoffer: Ecrire l’amour kitsch, S. 401. Barthes, Roland: „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“ [1966], in: ders.: Das semiologische Abenteuer [1985], übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 102–143, hier: S. 108. Einen solch televisiven Diskurs mit für ihn spezifischen Codes bildet beispielsweise das Fernseh-Format der Sitcom, in dem die Funktionen Begegnung und Mangel wie in DAS TRAUMSCHIFF ebenfalls die Narration einer Serie konstituieren können. Dies zeigt die US-amerikanische Sitcom THE NANNY, die zwischen 1993 und 1999 von Fran Drescher, Peter Marc Jacobson und Prudence Fraser für den Sender CBS produziert wurde. Die gesamte Serie stellt eine Kitscherzählung im Register des Komischen dar, denn erzählt wird die Geschichte der ehemaligen Brautmodenverkäuferin Fran Fine, die von ihrem Verlobten verlassen wird und sich fortan als Vertreterin für Kosmetikprodukte verdingen muss. Allerdings trifft sie an ihrem ersten Arbeitstag auf den verwitweten Broadwayproduzenten Maxwell Sheffield, der sie als Nanny für seine drei Kinder einstellt. Von Beginn an werden Fran und Maxwell als ‚perfect match‘ für einander dargestellt, schließlich verbindet beide der komplementäre Mangel eines fehlenden Partners. Angesichts des ‚Standesunterschieds‘ zwischen Fran und Maxwell – er stammt aus einer reichen britischen Familie und wohnt nun in Manhattan, während Fran aus einfachen kleinbürgerlichen Verhältnissen im New Yorker Stadtteil Queens kommt – erweist sich ihre Liebesgeschichte als eine Variation des Aschenputtel-Märchens, wie sie beispielsweise auch der

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Der ‚versöhnliche Ausgang‘ besteht in der Kitscherzählung im Zusammenkommen der Liebenden, das zumeist durch eine Eheschließung gestaltet ist, um so symbolisch eine „illuson d’un bonheur conjugal éternel“ anzuzeigen.423 Der für die Kitsch- wie die Traumschifferzählung konstitutive Mangel perspektiviert beide in Bezug auf das Märchen, denn schon Vladimir Propp zählt in seiner Untersuchung der Morphologie russischer Zaubermärchen die Situation des Mangels (Nodestača) zu einem strukturalen Konstituens dieser Gattung.424 Wie in der Kitscherzählung realisiert sich der Mangel in der Traumschifferzählung ebenfalls oft als ein ‚manque d’amour‘, er kann neben dieser zwischenmenschlich-emotionalen Ebene aber beispielsweise auch die familiäre, sozio-ökonomische oder psycho-

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Hollywood-Film PRETTY WOMAN (Regie: Garry Marshall, USA 1990) inszeniert. Die Überwindung des Mangels durch das Zusammenfinden von Fran und Maxwell bildet den kontinuierlichen Erzählanlass der Sitcom und erstreckt sich als umklammernder Handlungsbogen über die insgesamt 145 Episoden dieser series. Über diese für Fernsehserien des Formats ‚Sitcom‘ wie auch ‚Soap Opera‘ konstitutive Wiederkehr des Immergleichen reflektiert die überhaupt gänzlich kultur- und medienreflexiv angelegte Serie beispielsweise in der ersten Episode der dritten NANNY-Staffel („The Pan Pal“, Regie: Dorothy Lyman, Erstausstrahlung USA: 11. September 1995, CBS/Erstausstrahlung Deutschland: 23. November 1996, RTL). Die erste Sequenz im Anschluss an den Serienvorspann zeigt eine Fernseh-Szene (Abb. 1). Fran sitzt auf der Wohnzimmercouch und ist in einer Halbnahen zu sehen. Im Bildvordergrund ist eine Holzfläche erkennbar, auf der eine Decke liegt. Links befinden sich zudem einige durch ihren Einband als ‚alt‘ markierte Bücher und rechts steht eine in diesem dekorativen Syntagma ebenfalls als wertvolle Antiquität gekennzeichnete Silberdose. Aus vorherigen Episoden ist bekannt, dass an der Position, wo sich die Kamera in dieser Einstellung befindet, der Fernsehapparat im Haus der Sheffields steht. Die Requisiten auf dem Fernsehapparat konnotieren in Opposition zu diesem Unterhaltungsmedium entsprechend ‚Hochkultur‘. Auf diese Weise ‚rahmt‘ die Mise en Scène die Komik der Fernseh-Szene, die sich durch Frans Reaktion auf das Programm entfaltet, das sie anschaut; entsprechend ist ihr Blick in dieser Einstellung auf das TV-Gerät gerichtet. Frans Fernseh-Szene ist allerdings nicht nur durch den bekannten Ort des Fernsehapparats markiert, sondern auch durch die große Glasschale mit Erdnussflips, die neben ihr auf dem Couchtisch steht. Zu Beginn dieser Sequenz hört man eine dramatisch klingende Synthesizer-Melodie. In Richtung des nicht sichtbaren Fernsehbildes sagt Fran in dem ihren kulturellen Hintergrund anzeigenden Englisch, das immer dann jiddische Ausdrücke integriert, wenn sie emotional besonders affiziert ist: „Oh, Autumn, what are you doing? You’re throwing your life away. And for what? That schmendrick Owen?“ Dabei erkennt sie schließlich, dass es sich gar nicht um ‚ihre‘ gewohnte Serie handelt, und schaltet schnell um – nur um dann durch die Wiederholung ihrer Ansprache an die Hauptfigur der Serie zu verdeutlichen, dass dieses TV-Format letztlich immergleich ist: „Oh, this isn’t my soap. Oh, Summer, what are you doing? Throwing your life away.“ (THE NANNY, S03/E01, 00:02:25.) Die Immergleichheit wird in Frans Monolog durch die Ersetzung des Namens der Soap-Figur herausgestellt, der in beiden Fällen insofern semantisch konstant ist, als ‚Autumn‘ und ‚Summer‘ jeweils Bezeichnungen für Jahreszeiten sind und im Englischen zugleich als weibliche Vornamen fungieren. Atzenhoffer: Ecrire l’amour kitsch, S. 402. Vgl. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens [1969], hrsg. von Karl Eimermacher, München: Hanser 1972, S. 147.

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logische Ebene der Figuren betreffen (wie es die vorangehende Zusammenstellung der ‚Beispielgeschichten‘ verdeutlicht). An dieser ‚Expansion‘ des Mangels, wie sie sich gegenüber der Kitsch- in der Traumschifferzählung zeigt, wird deren melodramatische Anlage deutlich, insofern man unter dem Melodramatischen mit Georg Seeßlen ein Gestaltungsmoment versteht, das „für den populären Film so unerläßlich [ist] wie Suspense, Thrill und Aktion“, denn „es gibt kaum einen Film, der ohne melodramatische Momente auskommt“.425 Seeßlen bezieht sich hierbei auf den klassisch erzählenden Hollywood-Film, der das Melodramatische insbesondere durch eine „expressive Orchestrierung von Stimmungslagen“ gestaltet426 – und zwar auf der musikalischen wie darstellerischen und inszenatorischen Ebene. Mit dieser Ausrichtung auf eine besondere „Gefühlswirkung“ gleichen sich Melodram und Kitscherzählung,427 zumal beide die „Verhinderung von menschlich[em] Glück“ zu ihrem Erzählanlass nehmen.428 Allerdings endet diese ‚Verwandtschaft‘ bei der narrativen Ausgestaltung, denn laut Seeßlen erscheint das Melodram mit seiner ‚kathartischen Wirkung‘ weniger „harmoniesüchtig“ als die Kitscherzählung, denn „[e]in Melodram muß nicht gut ausgehen, damit es guttut“.429 Für den angestrebten und erzählerisch notwendigen Ausgleich eines Mangels, der in der Kitsch- wie der Traumschifferzählung den Fortgang der Handlung bedingt, erweist sich der räumlich überschaubare und begrenzte Raum des Schiffs als nachgerade idyllisch: An Bord finden die ‚schicksalhaften‘ Begegnungen statt, die Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe insbesondere in Bezug auf die Liebesbegegnung „die eigentliche Zeit der Idylle“ nennt.430 Auch wenn es auf dem Traumschiff nicht nur zu Begegnungen der Liebe kommt, wirken die anderen genauso ausgleichend auf einen spätestens während der Reise für die Figuren merklich und problematisch werdenden Mangel. Dieser bietet gemäß dem narrativen Serienschema ein katastrophisches Konfliktpotenzial, das am jeweiligen Urlaubsort zu Verwicklungen führt, die mit der Rückkehr aufs Schiff aber gelöst werden können. Wie dies durch eine idyllische poiesis televisiv inszeniert ist und wie sich dabei die Serialität der Idylle in DAS TRAUMSCHIFF seit der Erstausstrahlung entwickelt hat, soll nachfolgend untersucht werden – zunächst aus einer diachronen Perspektive anhand der durch die Produktionsmodalitäten ermöglichten schematischen ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ sowie der sich gerade in der filmischen Mikronarration des Vorspanns veranschaulichenden seriellen Kontinuität. 425

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Seeßlen, Georg: Kino der Gefühle. Geschichte und Mythologie des Film-Melodrams, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980, S. 11. Seeßlen: Kino der Gefühle, S. 12. Killy: „Literarischer Kitsch“, S. 43. Seeßlen: Kino der Gefühle, S. 10. Seeßlen: Kino der Gefühle, S. 27. Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe [1977], übersetzt von Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 50.

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2.3.2Serielle Kontinuität und die schematische ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ DAS TRAUMSCHIFF ist nicht nur „Deutschlands erfolgreichst[e] Unterhaltungsserie“,431 sondern auch „eines der langlebigsten deutschen Fernsehformate“.432 1981 wurde es von Wolfgang Rademann in Anlehnung an das US-amerikanische THE LOVE BOAT sowie die DDR-Serie Zur See konzipiert und bis zu seinem Tod 2016 unter der stets im Vorspann genannten ‚Gesamtleitung‘ des ehemaligen Boulevard-Journalisten produziert.433 Nach Einschätzung des ZDF-Intendanten Thomas Bellut gilt die inzwischen 83 Episoden (Stand: Februar 2019) umfassende Serie weiterhin als „Zuschauermagnet“ der „Familienunterhaltung“.434 Ihren größten „Quotenerfolg“435 hatte die Serie mit der an Neujahr 2014 ausgestrahlten Episode: 8,66 Millionen ZuschauerInnen bescherten der „maritim[en] Fernsehschnulze“436 – eine Gattungsbezeichnung aus der ‚Zeit‘ – einen beachtlichen „Marktanteil von 23 Prozent“.437 Damit ‚schipperte‘ der „Unterhaltungsdampfer“438 – wie Jörg Michael Seewald das schwimmende Grand Hotel in der FAZ betitelt – sogar dem zeitgleich ausgestrahlten ARD-TATORT davon. Die „Perth“-Episode vom 1. Januar 2014 war insofern ein ‚Medienereignis‘, als das Traumschiff unter ein neues Kommando gestellt wurde: Sascha Hehn, dessen Fernsehkarriere als Steward Victor mit der ZDF-Serie begonnen und vom Traumschiff in die Schwarzwaldklinik und dann wieder zurück aufs

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Kampfmann, Yvette/Wolf, Stefanie: Happy Birthday Traumschiff. 30 Jahre – Die schönsten Geschichten, Erstausstrahlung: 05.11.2011, ZDF, zugleich: Bonusmaterial von DAS TRAUMSCHIFF – Jubiläumsbox, hier: 00:01:44. Meinert, Julika: „Wenn ich nicht hier bin, bin ich auf dem Sonnendeck“, in: Welt am Sonntag (51) 2012, 22.12.2012, (15.07.2017). Vgl. Keller, Heide/Bischoff, Peter: Das Traumschiff. Das Fernwehbuch zur Fernsehserie, Berlin: Henschel 2005, S. 8. Bellut, Thomas: „Das Traumschiff. 30 Jahre erfolgreiche ZDF-Marke“ (11.10.2011), archiviert unter (15.07.2017), zuvor online zugänglich unter (02.03.2012). Meinert, Julika: „Sascha Hehn proletarisiert das ‚Traumschiff‘“, in: welt.de 02.01.2014, (15.07.2017). V., K.: „Mehr Plätze auf dem Meer“, in: Die Zeit (48) 1982, 26.11.1982, (15.07.2017). Meinert: „Sascha Hehn proletarisiert das ‚Traumschiff‘“. Seewald, Jörg Michael: „Unterhaltungsdampfer gerät in Seenot“, in: faz.net 01.01.2014, (15.07.2017).

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Schiff geführt hat, beerbt Siegfried Rauch, der in den Episoden 34 bis 70 als Kapitän Jacob Paulsen das Steuer führte. Der Erfolg des zur „Fernsehlegende“ gewordenen „Fernsehdauerbrenner[s]“, wie es in der ZDF-Dokumentation Happy Birthday Traumschiff selbstbewusst heißt,439 ist bei der Erstausstrahlung am 22. November 1981 noch nicht abzusehen gewesen, zumal die Serie, die ursprünglich „Hallo, Herr Kapitän“ heißen sollte,440 zunächst auf nur sechs Episoden angelegt war.441 Sie wurden im Abstand von ein bis zwei Wochen bis Mitte Januar 1982 im Programm des ZDF ausgestrahlt. Ganz buchstäblich erscheint die Serie zu Beginn noch vollkommen unidyllisch: Gemäß dem Serientitel bildet das Traumschiff den bildlichen Gegenstand des 30-sekündigen Vorspanns der ersten Episoden. Anders als im inzwischen doppelt so langen Vorspann der Serie wird das Schiff darin allerdings noch nicht während der Fahrt oder palmengerahmt bereits in exotischen Südseebuchten vor Anker liegend in Szene gesetzt, sondern im tristen Grau des Hamburger Hafens (Abb. 2).442 Auch die untermalenden Klänge, die zwar von verheißungsvollen Geigen intoniert werden, sind noch nicht jener zum auditiven Erkennungsmerkmal der Serie gewordene „Ohrenkleister“,443 wie Hans Hoff in der ‚Süddeutschen‘ die 1986 von James Last komponierte Syntheziser-Ouvertüre nennt. Die filmische Inszenierung des im Format vier zu drei, statt in dem nunmehr üblich gewordenen Format von sechzehn zu neun gefilmten ‚Ur-Vorspanns‘ stellt – ganz im Sinn idyllischer poiesis – ihre genuine Artifizialität heraus und zwar im Übergang zur unmittelbar anschließenden Szene durch deren Mise en Scène: Nachdem das reale Schiff in den zwei initialen Einstellungen des Vorspanns im ‚Anflug‘ aus der Vogelperspektive gezeigt wurde (Abb. 2; 3), bleibt es – nach einer weichen Überblendung (Abb. 4) – in Form seines Abbilds in der nächsten Einstellung im Bild erhalten (Abb. 5). Dieser inszenierte ‚Nachbildeffekt‘, mit dem die allererste Episode der Serie eröffnet,444 trägt zur narrativen Kohäsionsbildung bei, weil eine räumliche Kontinuität zwischen Vorspann und der folgenden Szene suggeriert wird. In der Funktion eines establishing shot zeigt dieser das schwimmende Reisegefährt als den Ort der Handlung an und die nächste Einstellung verweist durch die Wiederholung des visuellen Signifikaten ‚Schiff‘ auf diesen 439 440 441 442

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Kampfmann/Wolf: Happy Birthday Traumschiff, 00:00:24; 00:03:38. Kampfmann/Wolf: Happy Birthday Traumschiff, 00:03:17. Vgl. Kampfmann/Wolf: Happy Birthday Traumschiff, 00:03:33. Hier wie im Folgenden sind die konkreten Zeitangaben, sofern sie nicht im Haupttext oder in einer Fußnote explizit genannt werden, bei den jeweiligen Ausschnitten aus Serien und Filmen im Abbildungsverzeichnis angeführt. Hoff, Hans: „Fernseh-Schizophrenie zu Wasser“, in sueddeutsche.de 02.01.2011, (15.07.2017). Vgl. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 1, Regie: Fritz Umgelter, Erstausstrahlung: 22.11.1981, ZDF. Erst ab Episode 12 bilden die jeweiligen Reiseziele den Titel der einzelnen Episode.

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Handlungsort zurück: Das im Hintergrund der nachfolgenden Szene zu sehende Bild des Schiffs stellt nun die Kulisse für das Boarding der Passagiere dar. Mit dem Wissen, dass sämtliche Innenaufnahmen der ersten sechs Episoden nicht an Bord des Schiffs, sondern im Studio gedreht wurden,445 erweist sich sein ‚Nachbild‘ im Hintergrund dieser Szene als selbstreflexives Moment der Mise en Scène. Doch nicht nur inszenatorisch bildet das Schiff den Gegenstand dieser ersten beiden Sequenzen ‚Vorspann‘ und ‚Boarding‘, es ist auch Thema des ersten Dialogs in der ersten Episode der Serie: Beim Check-In bemerkt der ältere Herr, dass er und seine Frau zum ersten Mal auf so einem „Dampfer“ führen. Die Skepsis des Kreuzfahrt-Neulings zeigt sich indes nicht nur in der von ihm gewählten Bezeichnung, deren implizite Despektierlichkeit Chefsteward Victor gegenüber seiner Kollegin, die am Schalter die Daten der beiden Passagiere aufgenommen hat, tadelt: „Dampfer! Wenn das der Kapitän hört.“ (Abb. 6) Die Skepsis des Passagiers angesichts der erstmaligen Reise mit einem Kreuzfahrtschiff zeigt sich auch in seiner Rückversicherung, ob denn das Gepäck tatsächlich direkt aufs Schiff und in die Kabine gebracht werde. Steward Victor bestätigt dies so freundlich wie nachdrücklich. Das Ehepaar, das zu Beginn der Episode zu sehen ist, dient den TRAUMSCHIFF-ZuschauerInnen zur Identifikation, denn genauso wie für die beiden Passagiere ist es für diese die erste – in ihrem Fall: televisive – Kreuzfahrt. Zu Beginn der 1980er Jahre gehören Kreuzfahrten zwar durchaus schon zum Programm des Massentourismus, gelten aber insofern als besonders exklusiv und luxuriös, als sie denjenigen vorbehalten sind, die sich eine solch teure Reise auf See leisten können.446 Das Berliner Ehepaar avanciert in der ersten Episode von DAS TRAUMSCHIFF somit zum figuralen Signifikanten dieser Besonderheit einer Kreuzfahrt. Sie muss das Paar allerdings nicht aus eigener Tasche bezahlen, weil es die Reise im Preisausschreiben gewonnen hat – ein Umstand, für den sich die Ehefrau durchaus schämt und deshalb ihren Mann immer wieder ermahnt, das im Kreis der erlaucht-wohlhabenden Kreuzfahrer bloß nicht zu erwähnen. Die identifikatorische Funktion, die dem Berliner Ehepaar für die ZuschauerInnen der Serie zukommt, wird in der Mise en Scène dieser Boardingsequenz am Beginn der Episode selbstreflexiv thematisiert und zwar durch ein Hinweisschild, das sich oberhalb des Durchgangs befindet. Ihn passieren die Reisenden zum Betreten des Schiffs und in schwarzer Schrift ist dort auf orangenem Grund in Deutsch und Englisch zu lesen, dass in diesem Bereich keine Besucher zugelassen seien: „Durchgang nur für Passagiere / 445 446

Vgl. Kampfmann/Wolf: Happy Birthday Traumschiff, 00:03:45. Diese ‚Aura‘ haben sich Kreuzfahrten bis in die Gegenwart hinein erhalten, sie sind aber keinesfalls mehr „ein exklusiver Traum, den sich nur wenige leisten können“ (Utfeld, Anja/Hanf, Stefan: Traumurlaub Kreuzfahrt. Sonnendeck mit Schattenseiten, Erstausstrahlung: 01.05.2017, ZDF). Spätestens seit der Implementierung des Club-Urlaubs, wie ihn die Schiffe des deutschen Reiseveranstalters Aida als Reiseerlebnis auf hoher See ermöglichen, sind Kreuzfahrten zum konfektioniert-erschwinglichen Produkt des Pauschaltourismus ‚dévanciert‘.

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Only for Passengers no Vistors.“ (Abb. 7) Zusammen mit ihren reisenden Stellvertretern gelangen die ZuschauerInnen als televisive Besucher jedoch sehr wohl an Bord des Traumschiffs. Während den ZuschauerInnen suggeriert wird, es handele sich bei den ersten sechs Episoden der Serie um je sechs verschiedene Kreuzfahrten, war es de facto eine einzige in der Karibik, bei der das Film-Team mit an Bord war, um die Außenaufnahmen für die gesamte erste Staffel der Serie zu drehen. Die Innenaufnahmen erfolgten hingegen im Studio, denn erst seit der zweiten Staffel, die ebenfalls sechs Episoden umfasst und zwischen 1983 und 1984 im ZDF ausgestrahlt wurde, werden sowohl die Außen- als auch die Innenaufnahmen an Bord des Schiffs gedreht. Mit der zweiten Staffel wechselt nicht nur das Schiff, sondern auch der Kapitän: Statt Günter König als Kapitän Braake – den man in der allerersten Episode nie in seiner eigentlichen Funktion auf der Brücke der MS Vistafjord, sondern meist an Deck im Plausch mit den Passagieren (z.B. über den Sternenhimmel) zu sehen bekommt – erhält Heinz Weiss als Kapitän Hansen das Kommando über die MS Astor. Mit Beginn der dritten Staffel am 21. November 1986, deren vierte Folge das vorläufige Ende der Serie bedeuten sollte, wechselt das Schiff nochmals: Als neues Gefährt wurde die der Schleswig-Holsteinischen Reederei Peter Deilmann gehörende MS Berlin eingesetzt. Bis zum Konkurs der Reederei im Jahr 2015 wurden alle TRAUMSCHIFF-Episoden an Bord der Deilmann-Schiffe gedreht: Nach der MS Berlin ist die MS Deutschland von Episode 34 bis 74 das Traumschiff. 2016 geht die dem in Bonn ansässigen Reiseunternehmen Phoenix gehörende MS Amadea für die ZDF-Serie auf televisive Jungfernfahrt. (Die Episoden der ‚Deilmann-Ära‘, auf die hier vornehmlich Bezug genommen wird, bilden gewissermaßen das ‚Goldene Zeitalter‘ der TV-Serie.) Die dritte Staffel von DAS TRAUMSCHIFF markiert eine weitere wichtige Veränderung im Format der Serie, weil die Dauer der einzelnen Episoden von vormals 60 auf nun 90 Minuten ausgedehnt und damit an das Format des Hollywood-Spielfilms angepasst wird. Der Erfolg der nach 1987 gezeigten Wiederholungen der früheren Episoden führt nach erneuter, diesmal sogar dreijähriger Pause zur Fortsetzung der Serie mit einer vierten Staffel. Diese konstituiert letztlich mit den beiden Episoden 17 (Ziel: New Orleans) und 18 (Ziel: Florida) das von da an weitgehend unverändert gebliebene Sende-Schema der Serie im Programm des Zweiten Deutschen Fernsehens. Die zwei jährlich neu produzierten Episoden von DAS TRAUMSCHIFF werden zunächst am zweiten Weihnachtsfeiertag und dann wenige Tage später an Neujahr ausgestrahlt – also den beiden „Königs-Sendezeit[en]“ im bundesdeutschen Fernsehprogramm, wie es Kathrin Spoerr in der Welt am Sonntag formuliert.447 Mit der Zuweisung dieses festen Sendeplatzes avan447

Spoerr, Kathrin: „Frauenheld geht wieder an Bord. Auf dem Traumschiff hat nun ein Ex-Steward das Kommando: Sascha Hehn.“, in: welt.de 11.10.2012, (15.07.2017).

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ciert DAS TRAUMSCHIFF gewissermaßen zum Ritual im alljährlichen TV-Programm. Auch wenn die Produktion von lediglich zwei neuen Episoden pro Sendejahr einem großen Kostenaufwand geschuldet ist, trägt diese ‚Verknappung‘ durchaus dem Gegenstand der Serie Rechnung, denn die televisive Kreuzfahrt wird damit zu einer ähnlich seltenen Begehrlichkeit wie eine reale Kreuzfahrt für normalverdienende Reisende. Vom Sende-Schema gibt es nur wenige Abweichungen, beispielsweise als die 65. Episode zum 30-jährigen Serienjubiläum 2011 nicht erst an Weihnachten, sondern bereits am 5. November ausgestrahlt wird. Abgesehen von solchen Variationen sowie dem Wechsel der Schiffe und einiger SchauspielerInnen für die feststehenden Figuren der Serie zeichnet diese sich vor allem durch ein Merkmal aus, das auch David Denk in der taz als ihr zentrales Charakteristikum nennt: Kontinuität.448 Buchstäblich verkörpert wird diese Kontinuität durch die Figur der Chef-Hostess Beatrice von Ledebur, die seit dem Beginn der Serie zur Crew des Traumschiffs gehört und bisher nicht nur in jeder Episode zu sehen gewesen ist, sondern seit der ersten von Heide Keller gespielt wird. Beatrice’ vollständiger Name wird in den 80 TRAUMSCHIFF-Folgen, in denen sie mitspielt, nur wenige Male genannt, obwohl er einen intertextuell sowie kulturgeschichtlich bedeutsamen Bezug impliziert: In den Aufzeichnungen seiner Weltreise berichtet der bis dahin vor allem als Verfasser der Geschichte des Peter Schlemihls bekannte Adelbert von Chamisso, dass er nur durch einen schicksalhaften Zufall zum Reisenden geworden ist: ‚Vorwortlich‘ heißt es im „Tagebuch“, das als literarischer erster Teil der Reise um die Welt Chamissos wissenschaftlichen „Bemerkungen und Ansichten“ dazu vorangestellt ist: „Ich war, an die Stelle des Professors Ledebour, den seine schwache Gesundheit zurückzutreten vermocht hatte, zum Naturforscher auf die zu unternehmende Entdeckungsreise in die Südsee und um die Welt ernannt.“449 Die an der Figur der Beatrice anschaulich werdende Kontinuität stellt also ein zentrales Charakteristikum von DAS TRAUMSCHIFF dar, das aber nicht nur das SendeSchema kennzeichnet, sondern überhaupt die gesamte Poetik der Serie. Darauf weist Wolfgang Rademann im Gespräch mit taz-Redakteur Denk explizit hin, wenn er herausstellt: „Die Leute wollen keine Überraschungen, die wollen Berechenbarkeit.“450 Angesichts dieser konzeptionellen Leitidee des TRAUMSCHIFF-Machers, den Denk bezeichnenderweise einen „Kitsch-Experte[n]“ nennt,451 erscheint die TV-Produktion als serielles Massenprodukt, das programmatisch einer ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ verpflichtet ist. Diese lässt den idyllischen Serien-Kitsch als ‚Unterhaltung ohne Tiefgang‘ erscheinen, denn stets werden in den TRAUMSCHIFF-Episoden Liebesgeschichten 448

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Vgl. Denk, David: „Der Traum ohne Ende“, in: taz.de 04.11.2011, (15.07.2017). Chamisso, Adelbert von: Reise um die Welt, in: ders.: Werke in zwei Bänden, hrsg. von Werner Feudel und Christel Laufer, Bd. II: Prosa, Leipzig [DDR]: Insel 1981, S. 81–650, hier S. 89. Denk: „Der Traum ohne Ende“. Denk: „Der Traum ohne Ende“.

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erzählt, deren katastrophische Wendungen letztlich doch immer zum Happy End führen. Dies ist das Versprechen, das die Kitsch-Literatur in der Nachfolge des Märchens seit jeher ihren LeserInnen gibt – schließlich gilt im Märchen wie in der Kitscherzählung: Ende gut, alles gut – und im narrativen Schema von DAS TRAUMSCHIFF läuft alles auf dieses Happy End hinaus. Durch ein solch nachgerade märchenhaft erscheinendes Happy End präsentiert die Serie die televisive Illusion eines idyllischen Zusammenlebens, das laut Barthes doch ein unmögliches ist – zumindest im Alltag, den die Passagiere auf dem Schiff (zeitweise) hinter sich lassen. Insofern avanciert die Kreuzfahrt, wie überhaupt jeder Urlaub, zur Idylle, denn es sind die außeralltäglichen Ferien, die laut Michel Serres eine „arkadische“ Wiederbegegnung mit der Welt ermöglichen, von der die Menschen sich, seit sie keine Bauern oder Seeleute mehr sind, zusehends entfremdet haben.452 Die Reise auf dem Traumschiff erweist sich damit tatsächlich als traumhaft, weil sie buchstäblich Wünsche in Erfüllung gehen lässt. Dies wird in Episode 66 explizit thematisiert, als die erste Einstellung ein Taxi zeigt, das an einem Kai vorfährt, wo das Kreuzfahrtschiff vor Anker liegt. Aus dem Taxi steigen ein junges Mädchen und eine erwachsene Frau. Mit Blick auf das Schiff sagt das Mädchen zu der Frau gewandt: „Ein Wunsch geht in Erfüllung. Danke, Mama!“ Die Dankesbekundung spielt nicht bloß auf den bevorstehenden Urlaub an, den das Mädchen offenbar mit seiner Mutter an Bord des Traumschiffs verbringen wird, sondern auf einen ganz anderen Wunsch. Dieser enthüllt sich den ZuschauerInnen der Episode sukzessive, sobald das Schiff abgelegt hat: Das Mädchen möchte nämlich endlich seinen bislang unbekannten Vater kennenlernen, den es im Oberkellner der MS Deutschland zu finden glauben darf, weil dieser eine Affäre mit der Mutter des Mädchens hatte. Durch die heimliche Lektüre der mütterlichen Tagebücher kann die vaterlose Tochter diese Affäre auf ziemlich genau neun Monate vor der eigenen Geburt zurückdatieren. Der Herzenswunsch des Mädchens wird sich an Bord des Traumschiffs tatsächlich erfüllen – denn nichts anderes möchte die Mutter für ihre Tochter, weshalb sie den unbekannten Vater aufs Schiff bestellt hat. Dieser ist jedoch nicht der Oberkellner, sondern ein kaltherziger Geschäftsmann. Beide Männer hat die Mutter vor vielen Jahren zur gleichen Zeit getroffen und sich in den Oberkellner verliebt, mit dem eine Beziehung allerdings ausgeschlossen schien. Über diese Enttäuschung hat sich die frustrierte Frau dann in einem buchstäblich kurzweiligen Stelldichein mit dem Geschäftsmann hinweggetröstet. Trotz aller Kürze – fruchtbar war diese Beziehung im Wortsinn. Während die Tochter also nun ihre Mutter durch ein Wiedersehen mit dem Oberkellner überraschen will, versucht die Mutter, das Kennenlernen zwischen ihrer Tochter und dem richtigen Vater zu arrangieren. Nach einigem Hin und Her aufgrund der zu 452

Serres, Michel: „Der Naturvertrag“, in: ders.: Der Naturvertrag [1990], übersetzt von Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 22015, S. 49–87, hier: S. 53. Inwieweit Serres angesichts einer solchen Aussage als ‚Rousseauist‘ zu gelten hat, wird in Kapitel 3.1 dargelegt.

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erwartenden Missverständnisse kommt die Patchwork-Familie am Ende zusammen: Der kalte Geschäftsmann entdeckt in sich die Vaterliebe für seine Tochter und der Oberkellner plant, seinen Job auf See aufzugeben, nachdem er die wahre Liebe seines Lebens wiedergefunden hat. Der Wunsch der Tochter hat sich erfüllt – das Happy End ist perfekt. Ohne weiter auf die hier anschaulich werdende symbolträchtige Analogie von Schiffskörper, der die Tochter zu Reisezwecken aufnimmt, und Mutterleib, in dem die ‚Lebensreise‘ der Tochter gewissermaßen begonnen hat, einzugehen,453 soll diese in Episode 66 der Serie erzählte Geschichte vom Wiederfinden (Begegnung) des verlorenen Vaters (Mangel) verdeutlichen, weshalb DAS TRAUMSCHIFF als televisives Aushängeschild im idyllisch-kitschigen ‚Heile-Welt-Programm‘ des Zweiten Deutschen Fernsehens gilt: Angesichts derartiger Wunder in der Kreuzfahrt-Serie erhält das ZDF von stern-Redakteur Bernd Gäbler nämlich den Ehrentitel ‚Idyllensender‘.454 DAS TRAUMSCHIFF verkoppelt also kitschige Wunscherfüllung mit idyllischer Fernweh-Inszenierung und genau darin liegt der besondere Erfolg des Serien-Schemas, das Produzent Rademann wie folgt zusammenfasst: „Bei uns werden vor schöner Kulisse Märchen mit Happy End erzählt.“455 Der systemreferenzielle Bezug auf die Gattung des Märchens besteht einerseits im obligatorischen Happy End, mit dem jede Episode schließt, und andererseits im Wahrscheinlichkeitsgehalt der TRAUMSCHIFF-Geschichten: Sterbenskranke Passagiere, die sich die letzten Wochen ihres Lebens an Bord versüßen, verlassen das Schiff gesundet – weil der kompetente Schiffsarzt herausfindet, dass die daheim gestellte Diagnose missverständlich oder schlicht falsch gewesen ist. Schon seit der ersten Staffel von DAS TRAUMSCHIFF kommt es zu solchen ‚Wunderheilungen‘ an Bord, die aufgrund ihrer stetigen Wiederholung als Topos der Serie anzusehen sind: In der Bora Bora-Folge (Episode 64) erweist sich ein fälschlich diagnostiziertes Lungenkarzinom als ‚harmlose‘ Autoimmunerkrankung und in der Kambodscha-Folge (Episode 66) erlangt ein junger Mann plötzlich sein Gehör zurück; geradezu hanebüchen wird es in der Singapur-Folge (Episode 28), als eine durch einen Unfall gelähmte und seither im Rollstuhl sitzende junge Frau plötzlich wieder gehen kann. Die Kategorien des Möglichen und des Wahrscheinlichen, wie sie die aristotelische Poetik zu den Parametern mimetischer Darstellung erhebt, werden angesichts solch medizinischer Mirakel so sehr ausgereizt, dass die Serie tatsächlich die Grenze zum Märchen zu überschreiten scheint. Doch anders als in dieser literarischen Gattung werden in DAS

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Vgl. Möhrmann, Renate (Hg.): Verklärt, verkitscht, vergessen. Die Mutter als ästhetische Figur, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996. Vgl. Gäbler, Bernd: „Der überpolitisierte Unterhaltungsdampfer“, in: stern.de 23.03.2013, (16.07.2017). Seewald: „Unterhaltungsdampfer gerät in Seenot“.

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TRAUMSCHIFF für derartige ‚fantastische‘ Phänomene stets logische Erklärungen geliefert, die zwar überaus unwahrscheinlich, aber doch nie ganz unmöglich wirken.456 Wunderheilungen, die sich auf dem Traumschiff ereignen, sind allerdings nicht das einzige märchenhafte Element der Serie, denn auch die Crew erweist sich als den Figuren dieser literarischen Gattung nahestehend. Das gilt insbesondere für Chef-Hostess Beatrice, wie es eine kurze Szene aus der Mexiko-Folge (Episode 4) verdeutlicht: Bei einem Landausflug der Passagiere reserviert Beatrice die zwei einzig verbliebenen Plätze im Bus für ein Paar, das sich zuvor zerstritten hat. Während des Ausflugs können Herr und Frau Schröder sich aussöhnen und glücklich vereint aufs Schiff zurückkehren. Indem Beatrice das zerstrittene Ehepaar durch ihre Intervention bei der Platzzuweisung im Ausflugsbus wieder zusammenbringt, fungiert sie gewissermaßen als ‚gute Fee‘ und folgt damit einem literarisch vorgezeichneten Programm: Das von Beatrice explizit so genannte „Plätzchen“, das sie Herrn Schröder im Bus neben seiner Frau freigehalten hat, verweist intertextuell auf jenes, an das sich das lyrische Ich in Heinrich Heines ‚Teetisch‘-Gedicht sein eigenes „Schätzchen“ so sehnlich wünscht.457 Überhaupt kommt den Besatzungsmitgliedern Kapitän, Schiffsarzt und Chef-Hostess, die als feste Figurengruppe in allen Episoden der Serie zu sehen sind, ein besonderer Status zu. Der zeigt sich nicht so sehr in ihren Aufgaben als Teil der Schiffscrew, sondern in ihrer erzählerischen Funktion für die Handlung einer Episode. Die Besatzungsmitglieder Kapitän, Schiffsarzt und Chef-Hostess erweisen sich nämlich als funktionale Elemente der Erzählung, weil sie diese durch arrangierte Eingriffe buchstäblich vorantreiben, damit beispielsweise zwei Passagiere, die sich ineinander verliebt haben, auch tatsächlich zueinander finden. In diesem Sinn avanciert das Crew-Trio zu wesentlichen Beseitigern jener ‚obstacles‘, die laut Atzenhoffer in einer Kitscherzählung einen Ausgleich des ‚manque d’amour‘ verhindern. Anschaulich zeigt das eine Sequenz aus der Episode zum 30-jährigen Serienjubiläum.458 Gerade die Montage der einzelnen Einstellungen weist auf die narrative Funktion der Crew-Figuren in Bezug auf die erzählte Geschichte hin: Nachdem das Schiff in 456

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Zwar liefert auch das Märchen ‚logische‘ Erklärungen für seine Wunder, die jedoch insofern durch die diegetische Welt legitimiert sind, als Magie und Zauberwesen dort zum Möglichen und Wahrscheinlichen zählen. Vor diesem Hintergrund sind die TRAUMSCHIFF-Wunder auch vom Bereich des Fantastischen, wie es Tzvetan Todorov fasst, abzugrenzen, wo Übernatürliches und Paranormales ebenfalls als Möglichkeiten zur Erklärung derartiger Ereignisse zur Disposition der dargestellten Welten gehören (vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur [1970], übersetzt von Karin Kertsen, Senta Metz und Caroline Neubaur, Frankfurt a.M.: Fischer 1992). „Am Tische war noch ein Plätzchen; / Mein Schätzchen, da hast du gefehlt. / Du hättest so hübsch, mein Schätzchen, / Von deiner Liebe erzählt.“ (Heine, Heinrich: [„Teetisch“, V. 17– 20], in: ders.: Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge, hrsg. von Klaus Briegleb, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1993, S. 161f, hier: S. 162. Vgl. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 65: „New York, Savannah und Salvador de Bahia“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 5.11.2011, ZDF.

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einem brasilianischen Hafen vor Anker gegangen ist und die Passagiere zu einem Landausflug aufgebrochen sind, ruft Beatrice von der Gangway aus einer jungen Passagierin die Wegbeschreibung zu einem Strand in der Nähe des Hafens zu (Abb. 8; 9). Während die Passagierin sich am Kai und damit außerhalb des Schiffs befindet, verlässt Beatrice ihren angestammten Wirkungsort also nicht. Die Chef-Hostess ist zunächst in einer lowangle-Einstellung aus der Halbtotalen zu sehen und im Anschluss daran wird die Passagierin in einer high-angle-Einstellung aus der Halbnahen gezeigt. Neben dieser Variation der Kameraeinstellung stellt die jeweils an ihrem Holzgeländer erkennbare Gangway auf der visuellen Ebene diegetische Kohärenz zwischen den beiden Einstellungen her, zumal es ‚topo-logisch‘ höchst unwahrscheinlich ist, dass das große Schiff in einem Naturhafen vor Anker liegt – darauf weist aber der grasbewachsene Boden in der Einstellung hin, in der die Passagierin zu sehen ist, während die nachfolgende Einstellung sie beim Besteigen eines Taxis an einem betonierten Kai zeigt (Abb. 10). Nachdem sich die junge Reisende auf den Weg gemacht hat, gibt Beatrice ein Signal in Richtung Kapitän, der – so suggerieren es Schnitt und Kameraeinstellung – das Geschehen von der Steuerbord-Nock der Brücke aus beobachtet hat (Abb. 11; 12). Auf Beatrice’ Handzeichen hin greift der Kapitän zum Mobiltelefon, um nun den jungen Mann, der sich während der Schiffsreise in die junge Frau verliebt hat, über deren Ausflugsziel zu informieren. Mit Hilfe dieses Eingriffs seitens Beatrice’ und des Kapitäns treffen sich die beiden am Strand und finden dort als Liebespaar zueinander. In seiner wortwörtlich herausragenden Position auf der Nock, von wo aus der Kapitän normalerweise das Schiff beim Manövrieren überblickt, hat er auch die zwischenmenschlichen Manöver an Bord im Auge. Seine fast gottgleiche Stellung erhebt ihn in seiner Funktion als narratives Element der televisiven Erzählung also buchstäblich über die präsentierte Handlung der Episode. Ähnliches gilt für die anderen Besatzungsmitglieder, wenn sie – gleich dem Chor im antiken Drama – die Handlung kommentieren, wie beispielsweise Harald Schmidt als Kreuzfahrtdirektor Oskar Schifferle und Inka Bause als bordeigene Fitnesstrainerin Inka: In der zuvor bereits kurz besprochenen Jubiläumsepisode der Serie will sich der junge Mann, den der Kapitän per Handyanweisung auf die Fährte der von ihm begehrten jungen Frau gesetzt hat, sich bei dieser für sein forsches Verhalten entschuldigen (Abb. 13). Dabei sind der Kreuzfahrtdirektor und die Fitnesstrainerin (wie) zufällig anwesend und werden zu den Augen- und Ohrenzeugen dieser Entschuldigung. Sie kommentiert der Kreuzfahrtdirektor gegenüber seiner Kollegin (und damit zugleich für die ZuschauerInnen) in Bezug auf die ehrlichen Absichten des jungen Mannes: „Der arme Kerl meint es wirklich ernst.“ (Abb. 14) Die Funktion der Crew-Mitglieder als ‚Chor‘ unterstreicht die Mise en Scène hier zusätzlich dadurch, dass die beiden Figuren auf der Bühne des Schiffstheaters gezeigt werden. Neben dem Kapitän, der Chef-Hostess und dem Schiffsarzt gehören auch der Kreuzfahrtdirektor und die bordeigene Fitnesstrainerin zur Stammbesatzung des Schiffs, jedoch nicht zur dauerhaften Stammbesetzung der Serie: Fitnesstrainerin Inka ist in den Episoden

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60 bis 67 Teil der Traumschiff-Crew und Direktor Schifferle tritt zunächst in den Episoden aus den Jahren 2010 bis 2012 auf, um seit 2015 dann dauerhaftes Crewmitglied zu sein. Als eine der ständigen Serienfigur avanciert der Kreuzfahrtdirektor zudem zum wesentlichen Träger der Serien-Komik. Innerhalb der Schiffshierarchie sowie in Bezug auf die hierarchische Ordnung der dramatis personae in der Serie stehen der Kreuzfahrtdirektor und die Fitnesstrainerin nicht auf derselben Ebene wie der Kapitän, die ChefHostess und der Schiffsarzt. Dies zeigt bereits die Präsentation dieser drei Figuren im Serienvorspann, mit dem jede Episode eröffnet. Auf die initiale Kamerafahrt von links nach rechts, bei der das ankernde Schiff in der Totalen gezeigt wird (Abb. 15), folgt zunächst die Einblendung des Serientitels. Mit einer weichen Überblendung schließt die nächste Einstellung an, in der das ‚Dreigestirn‘ Kapitän, Chef-Hostess und Schiffsarzt auf Deck zu sehen ist. Die Einstellung zeigt die winkenden Figuren in einer aus niedriger Perspektive gefilmten Halbtotalen unter Einblendung der Schauspielernamen (Abb. 16). In diesem Vorspann, der mit dem ‚Einsatz‘ der MS Amadea als neuem Schiff ab Episode 74 modifiziert wird, folgen darauf sieben weitere Einstellungen, die durch harte Schnitte montiert sind und in denen das Schiff aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt wird. Innerhalb der Mikronarration des Vorspanns wird der Inszenierung des Schiffs so viel filmischer Raum gegeben, weil es einerseits der Serie ihren Titel gibt und es andererseits metonymisch auf die in und mit der Serie televisiv inszenierte Urlaubsidylle verweist. Diese ist im Vorspann gleich doppelt präsent: Einmal in Form des Kreuzfahrtschiffs, das als mobile Idylle auf See die Passagiere zur Idylle des jeweiligen Ferienortes bringt. Auch dieses Ziel der Reise steht buchstäblich im bzw. am Anfang des Vorspanns, denn dessen erste Einstellung zeigt das ankernde Schiff an einem geographisch nicht näher konkretisierten Ort. Aufgrund des palmengesäumten Sandstrands an einer Meeresbucht wirkt dieser wie das verdichtete ‚Stimmungsbild‘ eines beliebigen Urlaubsparadieses, das touristische Fernwehbegehrlichkeiten weckt.459 Indem das immergleiche und immergleich idyllische Ziel der Reise in der Mikronarration des Vorspanns also dessen visuellen Anfang bildet, erscheinen die folgenden

459

Als terminus technicus gebraucht Christa Pieske in ihrer Untersuchung zu Ölbilddrucken des 19. Jahrhunderts den Begriff ‚Stimmungsbilder‘ (vgl. Pieske, Christa: Bilder für jedermann. Wandbilddrucke 1840–1940, München: Kayser 1988). Darunter können mit Alexandra Schneider Bilder verstanden werden, die weniger von dem handeln, was sie zeigen, „als davon, was man als Betrachterin hineinlegen kann, also davon, welche Räume des affektiven Erlebens das Bild eröffnet“ (Schneider, Alexandra: „‚The Best of Both Worlds‘. Film und Tourismus als Industrien des Begehrens am Beispiel von Indien und Deutschland“, in: Adelmann, Ralf/Hesse, Jan-Otmar, Keilbach, Judith/ Stauff, Markus/Thiele, Matthias (Hgg.): Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 265–282, hier: S. 266). Insofern sind Stimmungsbilder, mit denen der Tourismus beispielsweise in Form von Reisekatalogen genauso operiert wie auch das Fernsehen im Fall von DAS TRAUMSCHIFF, das Ergebnis einer medialen Konstruktion von „Authentizitätsvorstellungen“ (ebd., S. 267), denn die „touristische Erfahrung wird am Bild und im Imaginären gemacht“ (ebd., S. 268).

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sieben Einstellungen, in denen das Schiff gezeigt wird, gewissermaßen als flashback, weil sie als Darstellung der Fahrt zum Reiseziel gelesen werden können: Entsprechend wird das Schiff zuerst beim Auslaufen aus einem ausgebauten Hafen gezeigt. Darauf deuten in den ersten beiden Einstellungen verschiedene visuelle Signifikanten hin: Zunächst ist nämlich zu sehen, wie zwei Hafenarbeiter die Vertäuung des Schiffs vom Kai lösen, und die folgende Einstellung zeigt durch eine Nahaufnahme des Schiffsbugs, wie eines dieser Taue an Bord gezogen wird. In einer Totalen ist in der dritten Einstellung schließlich das Schiff bei voller Fahrt auf hoher See zu sehen. Indem der Vorspann also sowohl das Ziel der Reise als auch das Reisegefährt in Szene setzt und damit eine zweifache Idylle als Gegenstand der Serie präsentiert, erhält er die Funktion eines establishing shot, der somit – nun gewissermaßen als flashforward – auf die bevorstehende Reise, die in der Episode gezeigt wird, verweist und zugleich „in den Handlungsraum und das Setting“ der Serie einführt.460 Dieser Handlungsraum ist stets ein doppelter: Während das Schiff in allen Episoden dessen unveränderte Variante bildet, wechselt mit dem jeweils neuen Reiseziel auch der Ort der an Land spielenden Handlung einer Episode. Deshalb zeigt der Vorspann im Anfang also ein klischeehaftes Stimmungsbild, das auf das jeweilige idyllische Reiseziel einer Episode verweist, ohne es als eine konkrete Örtlichkeit durch weitere landschaftliche Signifikanten geographisch zu präzisieren. Auf die Einstellung, in der das Schiff im Vorspann aus der Totalen zu sehen ist, folgen drei Einstellungen, die einzelne Bereiche des Schiffs zeigen: Zunächst das LidoDeck am Heck, dann den das Meer bei voller Fahrt teilenden Bug, dann das Oberdeck von der Steuerbordseite. Nach dieser metonymischen Zerlegung des Schiffs, durch die der establishing shot fortgesetzt wird, zeigt es die siebte Einstellung schließlich wieder wie zuvor aus der Totalen und bei voller Fahrt. Während dieser sieben Schiffseinstellungen werden weitere Namen des Cast eingeblendet – allesamt SchauspielerInnen, die Passagiere darstellen und deshalb Figuren sind, die nicht zur Dauer-Besetzung bzw. -Besatzung gehören. Im Anschluss daran wird noch einmal die Stammbesatzung einzeln und nacheinander in Form von Großaufnahmen bzw. Halbnahen gezeigt. Hieran schließen fünf weitere Einstellungen an, die diesmal durch weiche Schnitte montiert sind. Sie zeigen in Form des Funkmasts sowie der Reederei-Flagge zunächst erneut zwei Schiffsdetails und dann schließlich wieder das Schiff als Ganzes aus der Totalen. Aufgrund des in dieser Einstellung des Vorspanns zu sehenden Firmenlogos der Reederei Deilmann wurde die Serie von Kritikern in Anlehnung an den Werbeslogan für den Schokoriegel „Duplo“ als der „längste Werbespot der Welt“ apostrophiert.461 Dieses Verfahren des product placement ist in Film- und Fernsehproduktion inzwischen aber längst etabliert – zumal diese ‚Unterstützung‘ bei der Ausstrahlung der

460 461

Thiele: „Redundanz, Reminiszenz und Rätsel – Bildwiederholungen in Fernsehserien“, S. 203. V., K.: „Mehr Plätze auf dem Meer“.

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neueren Episoden von DAS TRAUMSCHIFF durch eine entsprechende Einblendung zu Beginn kenntlich gemacht wird. Neben der Einführung in den Handlungsraum kommt dem Vorspann die Funktion zu, die Konfiguration einer Serie zu präsentieren, „indem die konstanten Hauptfiguren als untereinander distinkte Charaktere in für sie typischen Situationen und mit für sie bezeichnenden Gesten“ dargestellt werden.462 Der Vorspann von DAS TRAUMSCHIFF verkoppelt beide Funktionen in spezifischer Weise, weil er erstens das Schiff als zentralen Handlungsraum vorstellt und zweitens die Schiffsbesatzung in Form von Kapitän, Chef-Hostess und Schiffsarzt als unmittelbar diesem zugehörige Figuren zeigt. Diese haben in der Serie insofern einen besonderen Status, als sie zwar die einzig konstanten Figuren sind und deshalb in jeder Episode auftreten, jedoch nicht als ProtagonistInnen einer einzelnen Episode angesehen werden können – die darin jeweils erzählten Geschichten drehen sich um die Passagiere an Bord und die Crew tritt hier nur marginal in Erscheinung. Im Fall von DAS TRAUMSCHIFF ließen sich also mit Bezug auf die Unterscheidung von series (Episodenserie) und serial (Fortsetzungsserie) zwei Typen von Hauptfiguren unterscheiden: diejenigen der einzelnen Episoden sowie diejenigen der Serie als Ganzes. Die Passagiere an Bord gehören zum ersten, die Crew als Stammbesatzung bzw. -besetzung zum zweiten Typus. In DAS TRAUMSCHIFF führt der Vorspann jedoch nicht nur in den Handlungsraum ein und präsentiert die mit diesem verbundenen Figuren, denn er verweist zugleich auf das zentrale Moment der Serie, die laut ZDF-Intendant Bellut vor allem ein „begeisterndes Reiseerlebnis“ sein will.463 Dieses Erlebnis liefert einerseits das Kreuzfahrtschiff und andererseits der jeweilige Urlaubsort einer Episode. Er wird im Vorspann lediglich durch die stereotypen Landschaftselemente in der ersten Einstellung angedeutet, um zunächst ‚allgemein‘ bzw. topographisch unspezifisch daherzukommen. Hierdurch aktualisiert der Vorspann das Serienmerkmal der Kontinuität und integriert zugleich dasjenige Element, das in der Serie beständig variiert: Die idyllischen Landschaften der jeweiligen Feriendestination. Auf diesen liegt daher seit der festen Etablierung der Serie im Programm des ZDF ein besonderer Fokus: „Die Reiseziele rücken in den Vordergrund. Schöne Bilder, exotische Länder, Sehnsuchtsziele – das will das deutsche Publikum sehen“464, heißt es in der Dokumentation Happy Birthday Traumschiff. Mit Blick auf das Folgende lässt sich bislang zusammenfassen: Den in der Serie als idyllische Urlaubsparadiese präsentierten Landschaften der jeweiligen Reiseziele kommt in Bezug auf das narrative Schema eine spezifische Funktion zu, weil sie das touristische Highlight der Reise bilden und der Serie zugleich als Kulissen für die in einer Episode 462 463

464

Thiele: „Redundanz, Reminiszenz und Rätsel – Bildwiederholungen in Fernsehserien“, S. 203. Zit. n.: Koch, Dorit: „In 30 Jahren um die Welt“, in: stern.de 05.11.2011, (10.06.2014). Kampfmann/Wolf: Happy Birthday Traumschiff, 00:07:50.

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erzählten Geschichten dienen. Diese handeln zumeist von den zwischenmenschlichen (Liebes-)Problemen der Passagiere, die sich zu Beginn der Reise entfalten und am Reiseziel zunächst so zuspitzen, dass eine Katastrophe unausweichlich scheint. Durch geschickte Interventionen der Crew werden die als ‚Alltagsgepäck‘ auf die Reise mitgebrachten Probleme jedoch gelöst und die Passagiere können glücklich und zufrieden die Heimreise antreten. Dies ist das inhaltliche Schema der Serie, das „unmittelbar und ausschließlich die narrative Struktur“ betrifft, durch die laut Eco das nachgerade kindliche Bedürfnis der ZuschauerInnen befriedigt wird, „immer wieder dieselbe Geschichte zu hören“.465 Diese ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ auf der Ebene des filmischen bzw. televisiven plot kaschieren auf der story-Ebene einer jeweiligen Episode neben den stets neuen Passagieren vor allem die idyllischen Landschaften. Bereits die filmische Mikronarration des Vorspanns veranschaulicht dies. Nachdem die idyllische poiesis hier im televisiven Paratext der Serie untersucht wurde, soll nachfolgend durch eine Episodenanalyse gezeigt werden, inwieweit sich das narrative Serienschema durch eine als ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ zu beschreibende variierende Kontinuität auszeichnet.

2.3.3Die narrative Struktur der episodischen Unterhaltungsidylle Die narrative Struktur der seriellen Traumschifferzählung lässt sich aufgrund des konstitutiven Schematismus der Serie an jeder beliebigen Episode analysieren, denn in jeder TRAUMSCHIFF-Folge werden mindestens drei Handlungsstränge präsentiert – in einigen wenigen kommt ein vierter dazu, das dominante Schema zeichnet sich allerdings durch drei Handlungsstränge aus. Diese stehen in jeder Episode isoliert voneinander und bilden gemäß der Serien-Poetik je eine Geschichte: „eine lustige, eine dramatische und eine Liebesgeschichte“.466 Ein besonderer Fokus liegt nach TRAUMSCHIFF-Produzent Rademann dabei auf der Liebesgeschichte, denn Liebe und Romantik seien von Anfang die „Zutaten“ für seine Serie gewesen.467 Allen drei Handlungssträngen ist ihr Ausgang gemeinsam, der für die lustige, die dramatische und die Liebesgeschichte in einem Happy End besteht. Gerade die Liebesgeschichte veranschaulicht dadurch das Serienschema, weil ihr glücklicher Ausgang in jeder Episode eine Variation der ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ darstellt. Darauf weist Rademann im ‚Zeit‘-Interview explizit hin, wenn er feststellt, dass „das Interessante bei einer Liebesgeschichte“ darin bestehe, „auf welch möglichst verschlungenen Wegen Menschen zueinanderfinden. In dem Moment, wo sie sich gefunden 465 466 467

Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 160. Meinert: „Wenn ich nicht hier bin, bin ich auf dem Sonnendeck“. Vgl. Kampfmann/Wolf: Happy Birthday Traumschiff, 00:05:11.

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haben, ist die Story langweilig.“468 Der poetische Reiz der TRAUMSCHIFF-Geschichten liegt also auf der Ebene des plot, in der Weise also, wie das letztlich Immergleiche präsentiert wird. Zusätzliche ‚Abwechslung‘ bieten dabei die landschaftlichen Kulissen der jeweiligen Reiseziele. Inwiefern diese in die televisive Inszenierung eingebunden sind, soll nachfolgend an Episode 51 veranschaulicht werden, in der die Reise des Traumschiffs in das südostasiatische Myanmar führt. Die Handlung der Myanmar-Episode folgt dem Ablauf der Reise und lässt sich in fünf Phasen gliedern. Dies entspräche der Struktur eines fünfaktigen Dramas: Zunächst erfolgt die Ankunft der Passagiere am Schiff. Durch die als Exposition fungierende Boardingsequenz werden die Passagiere als die ProtagonistInnen einer Episode eingeführt und zugleich deutet sie bereits die potenziellen Konflikte und Verwicklungen zwischen ihnen an. Die Anzahl der einzelnen Figuren bzw. Figurengruppen, die zu Beginn präsentiert werden, korrespondiert mit der Zahl der Handlungsstränge einer Episode. Die Liebesgeschichte handelt von zwei gemeinsam reisenden Freundinnen, von denen die eine hofft, auf dem Schiff ihre Internet-Bekanntschaft zu treffen. Allerdings wissen die beiden virtuell Verliebten nicht, wie sie aussehen – zudem ahnt der Mann nicht, dass seine Netz-Bekanntschaft an Bord auf ihn wartet. Beim Verlassen des Busses am Hafen bemerkt die eine Freundin: „Also die Chance, dass du deine Internet-Liebe schon in den ersten fünf Minuten an Bord entdeckst, ist relativ gering.“469 Wie unrecht sie damit hat, zeigt sich, als der virtuelle Liebhaber bereits beim Besteigen der Gangway auftaucht – umgerechnet in die Erzählzeit also schon in der dritten Minute der Episode. Bei dieser Begegnung handelt es sich um einen buchstäblichen coup de foudre, der durch eine SchussGegenschuss-Montage eines Blickwechsels filmisch vermittelt ist (Abb. 17; 18). Die Handlung der Liebesgeschichte in dieser Episode interferiert nicht mit den beiden anderen Handlungssträngen und auch die Crew greift hier nicht in das Geschehen ein. Anders gestaltet sich dies beim dramatischen Handlungsstrang um ein anderes Figurenpaar. Ein älterer Herr, der anscheinend mit seiner jungen Geliebten reist, gerät in Verwicklungen mit einer jungen Dame, die zum Servicepersonal des Schiffs gehört: Beide, sowohl seine Reisebegleiterin als auch die Servicedame, sind seine Töchter, die er mit zwei Frauen hat. Von der Tochter, mit der er nun verreist, wusste er bis vor kurzem nichts – die gemeinsame Kreuzfahrt soll dem gegenseitigen Kennenlernen dienen. Allerdings ahnt der zweifache Vater zu Beginn der Reise nicht, dass sich seine andere Tochter, die er als Studentin in Boston wähnt, ebenfalls an Bord des Schiffs befindet. Der dritte Handlungsstrang der Episode entwickelt sich aus den Avancen, die ein Passagier Chef-Hostess Beatrice macht. Nachdem sich beide im Urlaub kennengelernt haben, will Jan nun auf dem Traumschiff Beatrice’ Herz erobern, wogegen diese sich 468

469

Kammertöns, Hanns-Bruno: „Meister des Leichten“, in: zeit.de 20.03.2008, (17.07.2017). DAS TRAUMSCHIFF, Episode 51: „Myanmar“, Regie: Michael Steinke, Erstausstrahlung: 26.12.2005, ZDF, hier: 00:02:56–00:03:06.

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mit verschiedenen Täuschungsmanövern zu Wehr setzt. Hierdurch erhält die Episode ihre Portion ‚harmloser‘ Komik, denn Beatrice behauptet zunächst, eine Beziehung mit dem Kapitän zu haben, um Jan dann wiederum von ihrer Affäre mit dem Schiffsarzt zu berichten. Am Ende gibt der verliebte Passagier sein Werben auf und er und Beatrice werden Freunde. Durch die involvierten Figuren lassen sich die drei Handlungsstränge einer TRAUMSCHIFF-Episode genauer typologisieren: Erstens gibt es reine Passagier-Handlungsstränge, zweitens Handlungsstränge, an denen Passagiere sowie Besatzungsmitglieder, die nicht zur Stammcrew gehören, beteiligt sind, und drittens schließlich Handlungsstränge, in die der Kapitän, die Chef-Hostess und der Schiffsarzt als Mitglieder der Stammcrew involviert sind. Von all diesen jeweils episodenabhängigen Handlungssträngen, durch die DAS TRAUMSCHIFF als series, also Episodenserie, konstituiert wird, können wiederum solche unterschieden werden, die nur die Crewmitglieder Kapitän, Chef-Hostess und Schiffsarzt betreffen. Diese episodenunabhängigen Handlungsstränge sind dementsprechend hierarchisch über den anderen anzusiedeln, weil das, was sich zwischen den Crewmitgliedern ereignet, Auswirkungen hat, die in den folgenden Episoden erkennbar bleiben. Hierdurch partizipiert DAS TRAUMSCHIFF also auch an Aspekten einer Fortsetzungsserie. Deutlich wird das beispielsweise am Weggang des Schiffsarztes Doktor Schröder, dessen letzte Reise nach Panama und dann – wie könnte es beim TRAUMSCHIFF anders sein – in den Hafen der Ehe führt (vgl. Episode 63: Panama). Anders als die episodenunabhängigen Handlungsstränge haben die episodenabhängigen keinerlei Auswirkungen, die die nachfolgenden Episoden betreffen würden, sodass mit jeder TRAUMSCHIFF-Folge die Reise stets neu beginnt. Insgesamt sind aber alle Handlungsstränge durch das zuvor beschriebene Spannungsverhältnis der beiden elementaren Narrationsfunktionen ‚Begegnung‘ und ‚Mangel‘ strukturiert Die zweite Phase der Reise startet mit dem Auslaufen des Schiffs, was den Beginn der zweiten Erzählsequenz einer Episode markiert, die als analog zur steigenden Handlung im Drama begriffen werden kann. Während der Zeit auf See und im begrenzten und nahezu hermetischen Raum des Schiffs, das sich dergestalt als eine Art schwimmender hortus conclusus erweist, deuten sich die Probleme und damit die potenziellen Konflikte zwischen den Figuren durch Geheimnisse oder Missverständnisse zwischen ihnen an. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Problemen ausmachen: Internen Problemen, die schon vor Antritt der Reise bei einer Figur bzw. Figurengruppe bestehen und die i.d.R. durch Geheimnisse bzw. das Zurückhalten von Informationen bedingt sind, stehen externe Probleme gegenüber, die erst an Bord als solche erkennbar werden – zumeist, weil Ereignisse aus der Vergangenheit für eine Figur oder Figurengruppe wieder aktuell werden. Das realisiert sich beispielsweise in der unerwarteten Begegnung mit einer anderen Person an Bord, wie im Fall von Beatrice und ihrem ‚Kurschatten‘. Trotz der sich teilweise als komplex darbietenden Probleme und dadurch bedingten Konflikte zwischen den Figuren in allen Handlungssträngen gehört es zur dramatur-

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gischen Disposition der Serie, dass von Beginn an durch diverse inszenatorische Hinweise – Andeutungen seitens der Figuren oder aber bestimmte Motive, die im Verlauf der Handlung wichtig werden – die Aussicht auf eine Lösung geboten wird. DAS TRAUMSCHIFF weist also eine ähnliche Motivökonomie auf, wie sie für die Kriminalgeschichte charakteristisch ist. In der Myanmar-Episode glaubt die an Bord arbeitende Tochter bis zuletzt, ihr Vater reise mit seiner Geliebten, während die ZuschauerInnen schon früh über dieses Missverständnis aufgeklärt werden: In einem kurzen Gespräch mit dem Kapitän thematisiert der Passagier das Alter seiner Reisegefährtin und den seltsamen Eindruck, den es erwecken könnte, um den Kapitän sodann über seine moralisch korrekten Reisemodalitäten in Kenntnis zu setzen. Die Ankunft am Reiseziel markiert den Anfang der dritten Erzählsequenz einer Episode, die mit der Katastrophe bzw. Peripetie im fünften Akt eines Dramas korrespondiert. In Szene gesetzt wird die Ankunft am Ziel der Reise durch eine Montage-Sequenz aus Einstellungen, die das Schiff zeigen, und solchen, in denen ‚Land und Leute‘ des Urlaubsorts zu sehen sind. In den Ankunftssequenzen wird dabei das für die Idylle konstitutive Verfahren der Topothesie filmisch umgesetzt. Die Einstellungen, in denen das Schiff gezeigt wird, sind zumeist nicht am jeweiligen Reiseziel gedreht, doch wird diese topographische Inkongruenz inszenatorisch durch Einstellung und Schnitt ‚kaschiert‘. So im Fall der Myanmar-Episode, wenn das Schiff beim Einlaufen in einen Hafen zu sehen ist und die nächste Einstellung suggeriert, dass ein einheimischer Mann dies beobachte (Abb. 19; 20): Dass sich der Mann dabei an einem Sandstrand befindet, während das Schiff in einem solide ausgebauten Hafen vor Anker geht, wird durch die Größe der Einstellung, die den Mann in einer Halbnahen zeigt, nicht gerade ‚kunstvoll‘ verdeckt.470 Den idyllischen Höhepunkt der TRAUMSCHIFF-Kreuzfahrt bilden die Landausflüge am Reiseziel, denen entsprechend viel ‚Raum‘ in der filmischen Erzählung gegeben wird: Laut Rademann stehen Schiffs- und Landszenen in einem Verhältnis von etwa 60 zu 40 Prozent.471 Die Landschaften der jeweiligen Urlaubsorte werden filmisch als Idyllen inszeniert und zwar durch das Verfahren der Topothesie, indem Landschaftseinstellungen 470

471

Die gesamte Bildlichkeit der Ankunftssequenz zeichnet sich durch die visuelle Präsentation von Klischees aus – angefangen bei den Einstellungen, die Sonnenuntergänge über dem Meer zeigen, wie sie beispielsweise als einschlägige Postkartenmotiven bekannt sind. Gerade die Myanmar-Episode wäre durch die Darstellung von kulturellen Stereotypen insbesondere aus einer postkolonialen Perspektive in Bezug auf die Repräsentation von class und race untersuchenswert, da die als Einheimische dargestellten Figuren vor allem durch ihre für westliche Begriffe ‚ärmliche‘ Kleidung sowie ihre Darstellung bei vornehmlich handwerklichen Tätigkeiten, die der elementaren Existenzsicherung dienen, einerseits eine ‚idyllische Einfachheit‘ und zugleich einen ‚exotischen Primitivismus‘ konnotieren: „Ein Format wie das ‚Traumschiff‘“, stellt Meinert in der Welt am Sonntag heraus, komme eben „nicht aus ohne Klischees vom Fremden und Exotischen“ (Meinert: „Wenn ich nicht hier bin, bin ich auch dem Sonnendeck“). Vgl. Koch: „In 30 Jahren um die Welt“.

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aus der Totalen die Örtlichkeit einer Episode fragmentarisch hinstellen und ihre Montage zu einer etwa 30 bis 60 Sekunden dauernden Sequenz zugleich den visuellen Eindruck von Ganzheit vermittelt. Durch die Diegese sind derartige filmische ‚Überblicke‘ inszenatorisch legitimiert, weil sie suggeriert, dass es sich bei den präsentierten landschaftlichen Eindrücken um diejenigen handelt, die die Passagiere bei ihren Ausflügen bekommen. Gerade aus diesem Grund können die dargestellten Landschaften als Idyllen gelten, denn die montierten Einstellungen vermitteln erstens die scheinbar subjektive Wahrnehmung der Figuren, die zweitens dann den ZuschauerInnen einen gewissermaßen persönlichen Zugang aus zweiter Hand zu der televisiv ‚bereisten‘ Feriendestination ermöglichen. Die jeweilige Inszenierung dieser vermeintlich subjektiven Landschaftseindrücke ist durch die Reisemodalitäten der Passagiere bedingt, die mit ganz unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln in die Landschaft gebracht werden: Während beispielsweise bei Autofahrten eine schnelle Frequenz von kurzen Einstellungen zu beobachten ist, durch die der Seh-Eindruck einer solchen Fahrt visuell nachempfindbar werden soll, zeichnen sich die Einstellungen bei Ballonflügen, durch die den Passagieren – und mit ihnen den ZuschauerInnen – ein buchstäbliches Panorama der Landschaft geboten wird, durch lange Einstellungen aus, die in geringer Frequenz aufeinander folgen. In der Myanmar-Episode unternimmt der ältere Herr mit seiner ‚neuen‘ Tochter einen solchen Ballonausflug. Diese mit 90 Sekunden sehr lange Sequenz wechselt zwischen Einstellungen, die die Landschaft aus der Totalen zeigen, und Nahaufnahmen, in denen die beiden Figuren im Ballonkorb zu sehen sind (Abb. 21; 22). Dabei entsteht der Eindruck, dass der gezeigte Ausblick der Perspektive von Vater und Tochter entspreche. Für eine topographische Kohärenz innerhalb dieser Sequenz sorgen erstens Einstellungen, in denen das Gefährt sichtbar ist (Abb. 21), und die deshalb vom Boden aus aufgenommen worden sind, und zweitens Einstellungen, die insofern nachweislich während einer Ballonfahrt gefilmt wurden, als man den Schatten des Ballons in der Landschaft sehen kann (Abb. 23). Hier wird also das filmisch Reale in Form von materialen Aufnahmespuren, die der klassische Erzählfilm des Hollywood-Kinos für den Zweck einer besonders mimetischen Illusion stets zu tilgen gewillt ist, in die Logik des Imaginären der Darstellung integriert.472 Darüber hinaus suggeriert auch das Voice-over der Figuren einen temporalen Zusammenhang zwischen den Einstellungen solcher Ballon-

472

Entsprechend sind die Lichtverhältnisse und Kameraeinstellungen in der Eröffnungssequenz in Stanley Kubricks THE SHINING (USA 1980) so gewählt, dass keine ‚extradiegetischen‘ Schatten auszumachen sind. Einzig die in zwei Einstellungen deutlich sichtbaren lensflares verweisen auf die Materialität des Aufnahmedispositivs, obwohl diese Lichteffekte im Bild zusammen mit der musikalischen Unterlegung von tieftonigen Syntheziser-Klängen zugleich der Erzeugung einer unheimlichen Stimmung im Sinn des Sujets des Films dienen.

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fahrten, in denen weder dieses Luftschiff noch sein Schatten in der Landschaft oder aber die Figuren im Ballon zu sehen sind.473 Zwei Merkmale der Landschaftsdarstellung sind für jede TRAUMSCHIFF-Episode charakteristisch: Einmal fungiert mindestens eine Person aus der Gruppe der Passagiere, die zusammen einen Landausflug machen, als ReiseführerIn. Diese Figur vermittelt den Mitreisenden und damit zugleich den ZuschauerInnen oberflächliche Informationen über ‚Land und Leute‘. Allerdings gehen diese Informationen nicht über das schlichte Aufzählen von Fakten hinaus. In der Myanmar-Episode erwähnt die Tochter während der Ballonfahrt mit ihrem Vater zwar beiläufig die Umbenennung von Burma in Myanmar, doch werden die historischen Umstände dieser politischen Entscheidung und die damit verbundene wechselvolle Geschichte des Landes nicht weiter thematisiert. Die zweite Besonderheit der Landschaftsdarstellung in DAS TRAUMSCHIFF besteht in der Präsentation von einheimischen Menschen, die gewissermaßen als lebende Kulissen dem Gezeigten ein zusätzliches ‚Lokalkolorit‘ verleihen sollen: Kaum eine Einstellung, in der nicht wie zufällig eine folkloristische Aufführung oder ein kulturspezifisches Ritual den Hintergrund für die durch die Reisenden vermittelte Handlung bietet. In der Myanmar-Episode darf das Internet-Pärchen beispielsweise der Aufnahmezeremonie von kleinen Kindern in ein buddhistisches Kloster beiwohnen (Abb. 24). Diese Darstellung eines kulturell bedeutsamen Initiationsrituals, dem die TRAUMSCHIFF-ZuschauerInnen aus der Perspektive der beiden Touristen folgen, mutet allerdings eher wie ein ‚pseudo-ethnologischer Zoobesuch‘ an, den der Mann mit der feiertäglich-platten Bemerkung kommentiert, dass dies für die Kinder ein ganz besonderer Tag sei. Während der Landausflüge spitzen sich die für diese dritte Erzählsequenz einer Episode typischen Konflikte zwischen den Figuren derart zu, dass eine Lösung unmöglich scheint – allerdings nur fast, denn mit der Rückkehr aufs Schiff fügt sich alles schicksalhaft zusammen und die bestehenden Probleme können aus der Welt geschafft werden. Die Darstellung der Lösung dieser Probleme bildet die vierte Erzählsequenz einer Episode und entspricht somit der fallenden Handlung im vierten Akt eines Dramas. Dessen charakteristisches Moment der Retardierung findet sich auch bei den Problemlösungsversuchen in den TRAUMSCHIFF-Episoden, die allesamt nach dem Puzzle-Prinzip erfolgen: In den vorangehenden Phasen wurden alle ‚Teile‘ gewissermaßen offen auf den Tisch gelegt bzw. auf den Bildschirm gebracht und nun gilt es, die passenden Kombinationen zu finden. In der Myanmar-Episode eröffnet der Vater, nachdem ihm seine auf dem Schiff arbeitende Tochter mit dem vermeintlich ‚außerehelichen Urlaub‘ konfrontiert hat, dass er gar keine Affäre habe – und seine Tochter gesteht endlich den Abbruch ihres Studiums in Boston, um in der Welt, die sie mit dem Traumschiff bereist,

473

Demselben filmischen Verfahren folgt die knapp einmünitige Ballonsequenz in der Kambodscha-Folge (DAS TRAUMSCHIFF, Episode 66: „Kambodscha“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 26.12.2011, ZDF, 00:25:53–00:26:50).

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ihr Glück zu finden. Die Puzzle-Teile ‚Vater‘ und ‚Tochter‘ haben zusammengefunden, die familiäre Harmonie ist wiederhergestellt und die (Schein-)Katastrophe abgewendet. Auch die Liebesgeschichte findet ihr Happy End, denn die Internet-Bekanntschaft verlässt den Bereich des Virtuellen und findet als reales Liebespaar zusammen: Die Frau, die bereits kurz nach dem Auslaufen des Schiffs erkannt hat, welcher der Passagiere ihre Bekanntschaft ist, gibt sich bei einem romantischen Candlelight-Dinner auf dem Lidodeck zu erkennen: Den Hinweis auf ihre bis dahin geheim gehaltene Internet-Identität liefert sie dem ahnungslosen Mann durch eine Eisskulptur, die in Form einer Meerjungfrau ihren Internet-Alias darstellt, unter dem sie zuvor via E-Mail kommuniziert hat (Abb. 25). Die Entscheidung für eine Beziehung mit ihrem „Seelenverwandten“, wie die Frau den Mann tatsächlich nennt, konnte sie nach der beiderseitigen ‚Kompatibilitätsprüfung‘ während des gemeinsamen Landausflugs treffen. Erfolgreich löst auch ChefHostess Beatrice ihr Kurschatten-Problem, indem sie ihrem Verehrer rücksichtsvoll, aber bestimmt klarmacht, dass sie aufgrund ihres Berufs keine Beziehung führen könne – was Jan verständnisvoll einsieht. Die fünfte und letzte Phase bildet das Ende der Reise und sie entspricht innerhalb einer Episode der finalen Erzählsequenz in Form des kollektiven Happy Ends für alle Passagiere. Dieses wird durch ein Galadinner auch inszenatorisch zelebriert: Der Kapitän hält eine kurze Ansprache, die sich zusammenfassend auf die Geschehnisse der Reise bezieht. Dabei leitet er daraus nicht bloß die ‚Moral von der Geschichte‘ ab, sondern gibt den Reisenden – und mit ihnen auch den ZuschauerInnen – zudem noch praktische Ratschläge zum richtigen Navigieren im Lebensalltag außerhalb der zu ihrem Abschluss gekommen Urlaubsidylle: Meine Damen und Herren, auch diese Reise, die jetzt zu Ende geht, ist mit keiner anderen zu vergleichen. Sie war geprägt von Missverständnissen. Auf dem großen Ozean der Gefühle sind Missverständnisse wie Sandbänke, auf die man auflaufen kann. Auch ich konnte durch ein geschicktes nautisches Manöver einigen Untiefen gerade noch ausweichen. Aber aus Missverständnissen um die Liebe ist eine gute Freundschaft geworden. Und für einen anderen hat nach vielen Missverständnissen eine geistige Liebe bezaubernde Gestalt angenommen. Und zuletzt hat [sic!] ein böser Verdacht und viele Missverständnisse zu neuem Glück, innigerem Verständnis und einer Familienvergrößerung geführt. Trotzdem: Versuchen Sie lieber, Missverständnisse zu vermeiden. Es ist besser, offen miteinander zu reden – vor allem, wenn man liebt. Steuern Sie geraden Kurs, so wie ich es auch tun muss. (DAS TRAUMSCHIFF, E51, 01:25:25)

Auch wenn Kapitän Paulsen in seiner Rede niemals ganz direkt auf die einzelnen Ereignisse der Reise eingeht, wird der Bezug zwischen diesen und der daraus abgeleiteten ‚Moralpredigt‘ schnitttechnisch hergestellt: Indem sich der Kapitän denjenigen Figuren zuwendet, über deren Reiseerlebnisse er gerade reflektiert, zeigt die jeweils anschließende Einstellung genau die gemeinte Figurengruppe (Abb. 26; 27).

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Angesichts ihrer sprachlichen Gestaltung verweist die Rede mit ihrer hypertrophen Menge an nautischen Metaphern auf die in der spezifischen Rhetorik des Kitsches angelegte Tendenz zur „Verschönerung“,474 wie sie sich laut Gert Ueding etwa in der „Verwendung topischer Bilder und Vergleiche, rhythmischer Konstruktionen und lautmalender Wörter oder Wortverbindungen zum Zwecke emotionaler Beeinflußung“ zeigt.475 Das in der Rede insgesamt sechs Mal gebrauchte ‚Missverständnis‘ stellt den dramaturgischen Kniff des narrativen Serienschemas überdeutlich heraus, weil es sowohl für die Liebesgeschichte, die komische und die dramatische Geschichte nur scheinbar konflikthafte Missverständnisse gewesen sind, die ihrerseits zum erzählerischen ‚Antrieb‘ des jeweiligen Handlungsstrangs avancierten. Insofern ist die Feststellung, mit der Kapitän Paulsen seine Rede einleitet, in Bezug auf die Poetik von DAS TRAUMSCHIFF eine schlichte Lüge: Aufgrund des narrativen Schemas der Serie stellt jede Episode auf der plot-Ebene letztlich nichts anderes dar als eine Wiederkehr des Immergleichen, die durch variierte Wiederholung der von Episode zu Episode verschiedenen Passagiere und stets neue idyllische Reiseziele auf der story-Ebene als ‚unvergleichlich‘ ausgegeben wird. Immergleich ist auch das festive Ende jeder TRAUMSCHIFF-Episode, die mit der obligatorischen Eistortenparade schließt (Abb. 28). Dieses visuelle Erzählelement als Markierung des versöhnlichen Abschlusses der Reise auf der story-Ebene (sowie des Endes der Episode auf der plot-Ebene) ist eine Erfindung von TRAUMSCHIFF-Produzent Rademann für die Serie.476 An dieser ‚idyllischen Invention‘ zeigt sich die nachhaltige Rückwirkung des Fernseh-Imaginären auf das außertelevisive Reale: Die Reederei hat den wunderbekerzten Einzug der Eistorten beim letzten Captain’s Dinner als festen Bestandteil des touristischen Unterhaltungsprogramms während der Reise auf dem realen Schiff installiert. Auf dem televisiven Schiff erweist sich die Eistortenparade außerdem als ein hochgradig medienreflexives Moment, durch das sich die Serie als der Fernseh-Programmsparte ‚Unterhaltung‘ zugehörig ausweist: Wenn die zu einer Parade gereihten Köche die buchstäblich ‚glamourösen‘ Torten zu heiter beschwingter Musik in den abgedunkelten Speisesaal hineintragen, wird das für Fernseh-Spielshows konstitutive furiose Finale systemreferenziell aufgerufen.477 Zugleich erscheint der Kapitän durch seine abschließende Ansprache in der für die Spielleiter solcher Shows typischen Funktion. Mit Blick auf die gesamte Episode teilt er 474

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Ueding, Gert: „Rhetorik des Kitsches“, in: Schulte-Sasse, Jochen (Hg.): Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Theorie, Geschichte und Einzelinterpretationen, Tübingen: Niemeyer 1979, S. 65–88, hier: S. 85. Ueding: „Rhetorik des Kitsches“, S. 67. Vgl. Kampfmann/Wolf: Happy Birthday Traumschiff, 00:25:10. Zum Unterhaltungsaspekt von Spielshows vgl. Thiele, Matthias: „Spielshows und Spielleiter – ein Forschungsüberblick“, in: Parr, Rolf/Thiele, Matthias (Hgg.): Gottschalk, Kerner & Co. Funktionen der Telefigur ‚Spielleiter‘ zwischen Exzeptionalität und Normalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 39–101.

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Dimensionen der Idylle

diese Funktion mit den anderen Crew-Figuren, weil sie in Bezug auf ihr ‚Publikum‘ – die realen Passagiere an Bord des Schiffs sowie die ‚virtuellen‘ vor dem heimischen Fernseher – ebenfalls zu Spielleitern avancieren – schließlich tun sie letztlich genau dasselbe wie die Showmaster von Unterhaltungssendungen: Sie adressieren, moderieren und animieren den Fortgang der Handlung. Weil es sich bei DAS TRAUMSCHIFF aber nicht um eine Spielshow, sondern um eine episodische Unterhaltungsidylle im TV-Format der Serie handelt, wird auf das im Fall von Fernsehshows authentizitätsstiftende Moment des Transpirierens getrost verzichtet:478 In der TRAUMSCHIFF-Idylle fließen lediglich die Tränen des Glücks, aber niemals die Schweißperlen körperlicher Anstrengung. Auf den für DAS TRAUMSCHIFF zentralen Aspekt der Unterhaltung weist auch Produzent Rademann hin, wenn er im Interview mit der Superillu den ZuschauerInnen empfiehlt, keine zu großen Erwartungen an die Episoden der Serie zu stellen – diese seien schließlich „Sonntagabend-Filme“ der U-Sparte.479 Überhaupt scheint die Serie als Wegwerf-Produkt konzipiert zu sein, wie Rademann im ‚Zeit‘-Interview gesteht: „Ausgestrahlt, und dann darf es bitte wieder vergessen werden, das war immer mein Motto.“480 Eine derartige ‚Einweg-Unterhaltung‘, die durch das narrative Schema der Wiederkehr des Immergleichen realisiert ist, kann nur seriell funktionieren. Darauf sind auch die Produktionsbedingungen von DAS TRAUMSCHIFF ausgerichtet, denn der Produzent weist beispielsweise die KostümbildnerInnen der Serie explizit an, die SchauspielerInnen möglichst zeitlos und klassisch zu kleiden, damit sie in Wiederholungen nicht alt aussähen.481 Serialität und Wiederholung gehen im Fall des Fernsehens also Hand in Hand und dies zeigt sich auch in der Programmstruktur, weil frühere Episoden von DAS TRAUMSCHIFF regelmäßig im ZDF wiederholt werden und beim Bezahlsender RomanceTV gar in Dauerschleife laufen. Es scheint, als wäre die Idylle zum Wegwerfprodukt geraten, weil das Fernsehen sie zur Serie gemacht hat. Allerdings weist schon im vortelevisiven 18. Jahrhundert niemand geringeres als Jean-Jacques Rousseau auf die serielle Disposition der Idylle hin. Die von ihm über alles geschätzten Gessner’schen Idyllen scheinen dem Genfer Aufklärer nämlich keinesfalls als Wiedergebrauchslektüre geeignet. Rousseau fordert also bereits 200 Jahre vor dem televisiven Auslaufen des ZDF-Traumschiffs insofern idyllische Einweg-Unterhaltung, als er sich für jeden Tag des Jahres eine

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Zu den Spielleiterfunktionen vgl. Parr, Rolf: „Blicke auf den Spielleiter – strukturfunktional, interdiskurstheoretisch, normalistisch“, in: Parr, Rolf/Thiele, Matthias (Hgg.): Gottschalk, Kerner & Co. Funktionen der Telefigur ‚Spielleiter‘ zwischen Exzeptionalität und Normalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 13–38. Beuchler, Bärbel: „Die zwei Gesichter des TV-Produzenten. Wolfgang Rademann im Interview“, in: superillu.de o.D. (18.07.2017). Vgl. Kammertöns: „Meister des Leichten“. Vgl. Denk: „Der Traum ohne Ende“.

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neue Gessner-Idylle wünscht: „Je vourdrais qu’il écrivit toutes les années 365 Pieces, et que je pus en lire tous les jours une nouvelle.“482 Nachdem mit diesem Kapitel die letzte der drei konstitutiven Dimensionen der Idylle untersucht worden ist, soll hier nun abschließend aufgezeigt werden, wie diese in der idyllischen poiesis zusammenwirken – und das sowohl in Bezug auf das televisiv Imaginäre als auch das touristisch Reale. Anschaulich wird diese ‚dimensionale Kollaboration‘, weil das im Fernsehen in Serie gegangene Medium ‚Idylle‘ über ein anderes Medium reflektiert. Dabei handelt es sich im Fall von DAS TRAUMSCHIFF konsequenter wie passender Weise um das touristische Medium der Fotografie, das seinerseits ein Medium der Serialität ist. Dies zeigt eine Montagesequenz, mit der in Episode vier auf der Objektebene der Landausflug der Passagiere in Mexiko dargestellt und auf der Metaebene zugleich der Fotoapparat als mobiles Aufzeichnungsmedium touristischer Bild- und damit Andenkenproduktion inszeniert wird: Die einzelnen Einstellungen dieser Sequenz bestehen aus Standbildern, die tatsächlich abgefilmte Fotografien zu sein scheinen. Dafür sprechen sowohl die Unschärfe und Körnung des Bildmaterials als auch der inflationäre Gebrauch von filmtechnischen Verfahren wie Zoom und Kameraschwenk zur Erstellung dieser Montagesequenz. So selbstbezüglich wie -reflexiv erscheint die Sequenz vor allem durch einen medialen Kurzschluss: Die abgefilmten Aufnahmen zeigen nämlich einen älteren Herrn beim Fotografieren – in diesem Fall gilt nach McLuhan also buchstäblich: ‚The medium is the message.‘ Auf der narrativen Ebene zeigt diese ‚Bildergeschichte‘ den beschwerlichen Aufstieg der Reisenden auf eine antike Pyramide. Indem die Sequenz mit einem Voice-over der Figuren unterlegt ist, die man aufgrund ihrer vorherigen Auftritte in der Episode schnell mit den zu hörenden Stimmen identifizieren kann, erinnert die gesamte filmische Montage gerade durch die Kombination aus aneinandergereihten Standbildern mit tonaler Unterlegung an die der touristischen Reise sich anschließende Sichtung solch fotografischer Erinnerungsbilder. Dieses ‚Ritual‘ erfolgt entweder händisch oder technisch vermittelt, beispielsweise durch den Diaprojektor. Auf die manuellen wie technischen Modalitäten der heimischen Bildsichtung verweisen die Übergänge zwischen den Einzelbildern der Sequenz: Einerseits zeigen sie jenen für das Weiterschalten bei Diaprojektionen typischen Effekt der ‚Bildverschiebung‘ (Abb. 29) und andererseits sind bei entsprechend langsam ablaufender Wiedergabe der Sequenz tatsächlich Finger einer Hand zu erkennen, die die Bilder ‚weiterblättern‘ (Abb. 30; 31). Entsprechend fehlt bei dieser manuellen Bildweiterführung auch die bei den suggeriert technisch vermittelten Übergängen auszumachende horizontale ‚Störung‘.

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Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, 52 Bd.e, hrsg. von Ralph Alexander Leigh, Bd. XX: mai–juillet 1764, Oxford: The Voltaire Foundation; Thrope Mandeville House 1972, S. 149 [Brief Nummer 3326].

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Dimensionen der Idylle

Die in dieser frühen TRAUMSCHIFF-Episode erfolgende Reflexion über die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Amateurfotografie zu einer touristischen Praxis avancierende medientechnische Produktion von bildlichen Reiseandenken macht letztlich die Vorprägung des touristischen Sehens durch optisch-technische Medien evident.483 Während Alexander von Warsberg auf Korfu noch durch ein Fernglas blickt, schaut der Traumschiff-Passagier durch den Sucher seiner Kamera. Diese fotografische Praxis während des Reisens deutet Martina Mettner als Abwehrgeste: Der Fotoapparat diene „als Schutzschild gegen das Neue, Unbekannte“, denn [d]er Blick durch den Sucher reduziert die Umgebung auf ein Rechteck und läßt sie weit entfernt erscheinen. Wie der natürliche Reflex, zur Abwehr die Hände vor das Gesicht zu halten, hebt der Fotograf zum Schutz die Kamera. Er erlebt die Situation damit nicht mehr unmittelbar, sondern auf Distanz, gebrochen durch den Kamerasucher.484

Einer solch anthropologischen Deutung der touristischen Amateurfotografie ließe sich eine idyllische entgegensetzen, die davon ausgeht, dass das touristische Sehen erstens ein bildhaftes und deshalb zweitens ein medial vorgeprägtes ist: Durch die von Reiseberichten, Reiseführern, Reisekatalogen, Reisedokumentationen oder Fernsehsendungen wie DAS TRAUMSCHIFF gezeigten – sprachlichen, visuellen oder eben televisiven – Bildlichkeiten wird der Blick von realen wie virtuellen Reisenden genauso idyllisch engagiert wie derjenige von Alexander von Warsberg auf Korfu – in diesem Fall ist das Engagement zudem ein touristisches, denn als „mediale Voraussetzungen“ des Tourismus üben die Stimmungsbilder Reisende in eine spezifische Praxis des Sehens ein.485 Die medienreflexive Foto-Sequenz in der Mexiko-Episode von DAS TRAUMSCHIFF verweist also darauf, dass die fotografische Andenkenproduktion der Reisenden sich als ein Effekt ihres medial vorgeprägten idyllischen Sehens und des touristischen Engagements ihres Blicks begreifen lässt: Der Blick ohne Kamera auf das jeweilige Urlaubsziel avanciert zum eigentlich ‚verfremdeten‘, während der Blick durch die Kamera letztlich nichts anderes bedeutet als eine Prüfung der Kongruenz zwischen medialer Vorprägung eines Ortes und der sich den Reisenden darbietenden außermedialen Wirklichkeit. Genau dies ist bereits das Anliegen von Alexander von Warsberg, der mit seinem Reisebericht einen Abgleich zwischen den homerischen Landschaftsbeschreibungen und seinen Eindrücken der idyllischen Landschaften auf der ionischen Insel vornehmen will. Aus demselben Grund wird in der Mexiko-Episode von DAS TRAUMSCHIFF also eine Montagesequenz gezeigt, die auf die touristische Praxis des Fotografierens verweist. Im Fall der touristischen Amateurfotografie ließe sich sogar von einer sich überhaupt erst 483

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Vgl. Mettner, Martina: „Amateurfotografie. Reise und Urlaub im Bild des Touristen“, in: Pohl, Klaus (Hg.): Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850 – heute, Gießen: Anabas 1983, S. 151–184, hier: S. 156. Mettner: „Amateurfotografie“, S. 162. Schneider: „Film und Tourismus als Industrien des Begehrens“, S. 267.

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nachträglich einstellenden Idyllisierung des im Bild festgehaltenen Urlaubs sprechen: Das Fotografieren dient dem Zweck der späteren Betrachtung der Bilder, die dann genau jenen Status haben, wie er etwa in Gessners Lycas-Idylle den Erinnerungsbildern aus den schönen Jahreszeiten zukommt (zumal auch die fotografischen Erinnerungen eine ähnlich po(i)etische ‚Weiterverwertung‘ erfahren können wie die memorierten Bilder des lyrischen Ich bei Gessner – sei es in Form von bei Familienfesten oder an Feiertagen stolz zu präsentierenden Fotobüchern oder von großformatigen Drucken zur Verschönerung weißer Wohnzimmerwände). Das touristische Sehen ist also – wie überhaupt das gesamte touristische Reiseerlebnis – medial vorgeprägt, weil ‚Tourismus‘ letztlich nicht nur das „‚reale‘ Reisen“ in Form der „soziologisch zu beschreibenden Praktiken des modernen Massentourismus“ meint, sondern umfassender als eine „diskursiv[e] Praxis“ aufgefasst werden kann, „die Texte und Bilder hervorbringt und sich in diesen Texten und Bildern vollzieht“.486 Genauso vorgeprägt ist deshalb auch die televisive Kreuzfahrt in DAS TRAUMSCHIFF und zwar in einer intertextuellen Perspektive. So erweist sich das gesamte Schema der Serie, aus dem die Wiederkehr des Immergleichen resultiert, als systemreferenzieller Bezug auf das typische „Schema von Groschenroman und Heimatfilm“, wie es Welt-Redakteurin Meinert feststellt.487 Da einschlägige AutorInnen wie Heinz G. Konsalik oder Utta Danella zu den DrehbuchlieferantInnen der Serie gehören, verwundert das nicht. Auch BeatriceDarstellerin Heide Keller hat sich unter dem Pseudonym „Jac Düppen“ als Autorin für Episode 42 versucht und für ihre Rolle eine Liebesgeschichte geschrieben,488 die – wie es die ‚gute Fee‘ auf dem Traumschiff bezeichnender Weise selbst sagt – als „richtiges Hollywood-Märchen“ inszeniert wurde.489 Jac Dueppen – wie es in der Schreibweise der Titelei der Serie heißt – ist als Autor nicht nur an Episode 42 beteiligt: Unter diesem Pseudonym arbeitet Heide Keller an fünf weiteren Episoden mit (34: „Tahiti“, 58: „Vietnam“, 61: „Vereinigte Arabische Emirate“, 79: „Uruguay“, 80: „Los Angeles“). In der 80. Episode, die an Neujahr 2018 im ZDF ausgestrahlt wurde, kommt es mit Bezug auf das Alter Ego der Schauspielerin zu einer regelrechten Metalepse: Mit diesem Serienjubiläum verlässt Heide Keller die TRAUMSCHIFF-Crew als Darstellerin und der Abschied ihrer Figur bedeutet für diese einen Neuanfang als Romanschriftstellerin. In einer kurzen Sequenz zu Beginn der Episode wird dieser Handlungsstrang in Form eines Gesprächs zwischen Beatrice und Kapitän Burger auf der Brücke eingeführt:490

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Vgl. Schneider: „Film und Tourismus als Industrien des Begehrens“, S. 267. Meinert: „Wenn ich nicht hier bin, bin ich auf dem Sonnendeck“. Keller/Bischoff: Das Traumschiff. Das Fernwehbuch zur Fernsehserie, S. 118. Keller/Bischoff: Das Traumschiff. Das Fernwehbuch zur Fernsehserie, S. 119. Vgl. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 80: „Los Angeles“, Regie: Stefan Bartmann, Erstausstrahlung: 1.1.2018, ZDF, hier: 00:02:26–00:04:02.

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Dimensionen der Idylle Kapitän Burger: Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Du führst immer diese geheimnisvollen Telefonate, wirkst angespannt, ein bisschen erschöpft. Beatrice: Bin ich auch. [...] [D]er ganze Rummel mit dem Buch... K: Buch? Was für ein Buch? B: Ich hab’ ’n Buch geschrieben. K: Über mich? B: Du nur wieder! Ne, ich hab’ im Laufe der Jahre immer alles aufgeschrieben, was mir so in den Sinn kam – über Kindheit, Familie. Viel über meinen Großvater. Dann hab’ ich einiges dazufantasiert und dann ist daraus ein Buch entstanden – sowas wie ein Roman, eine Familiengeschichte. Eine Freundin von mir, die hat’s gelesen. Die fand’s gut, die hat es einem Verlag gegeben, die fanden es auch gut. Die haben es gedruckt und jetzt warte ich auf die Belegexemplare. K: Wow, ich bin baff. B: Ja, was glaubst du, was ich bin. Aber wunder dich nicht: Der Autor heißt Jac Dueppen – ein Pseudonym. Unter dem hab’ ich als Teenager immer Liebesgeschichten geschrieben. K: Ich bin gespannt. Hast Du noch mehr solcher Geständnisse auf Lager? B: Jetzt nicht, nein...491

Beatrice ausweichende Antwort verweist auf das Ende ihrer Tätigkeit als Chef-Hostess an Bord des Traumschiffs – von ihren Plänen wird sie dem Kapitän später berichten. Dass es für sie allerdings nicht in den wohlverdienten Ruhestand gehen wird, ahnt Beatrice zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Möglichkeit einer Karriere nach ihrer Zeit auf See eröffnet sich erst, als sie an Bord Will Goldsmith jr. begegnet – seines Zeichens „Hollywoods größter Produzent“ und eine „lebende Legende“, wie es Kreuzfahrtdirektor Schifferle bemerkt.492 Goldsmith macht Beatrice ein Angebot, dass sie nicht ablehnen kann: Sie soll das Drehbuch für die geplante Verfilmung des Romans über ihren Großvater schreiben. Damit erlebt Beatrice genau das, was Heide Keller im Kommentar

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DAS TRAUMSCHIFF, E80, 00:02:44. Dass Beatrice einen gänzlich mimetischen Literaturbegriff vertritt und das in dessen Kontext etablierte biologische Modell von Autorschaft für sich reklamiert, zeigt sich an ihrer Wortwahl: Statt ein Buch verfasst zu haben, ist ihres ‚entstanden‘. Dies korrespondiert mit der Beschreibung ihrer eigenen poiesis, die sie in einem kurzen Telefonat mit ihrem Verlag mitteilt, als sie das Angebot eines Nachfolgeromans ablehnt: „Aber jetzt gleich ein zweites Buch hinterherschieben? Das kann ich nicht. Wüsste auch gar nicht, worüber ich schreiben sollte. Man schreibt doch nicht, um zu schreiben, sondern wenn man etwas zu erzählen hat.“ (ebd., 00:26:58). Ganz offenkundig versteht Beatrice ihre „Schreibtätigkeit“ im Sinn von ‚etwas schreiben‘ als eine transitive (Barthes, Roland: „Schreiben, ein transitives Verb?“ [Vortrag 1966, Erstveröffentlichung 1970], in: ders.: Das Rauschen der Sprache [1984], übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 42015, S. 18–28, hier: S. 25). Einen zweiten Roman kann sie also nicht einfach ‚hinterherschieben‘, weil ihrem „Schreibenwollen“ ein entsprechender Erzählgegenstand fehlt, der im Fall ihres ‚Erstlings‘ das Leben ihres Großvaters ist (Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 und 1979–1980 [2003], hrsg. von Éric Marty, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 42). DAS TRAUMSCHIFF, E80, 01:03:03.

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zu ihrer Drehbucharbeit an der 42. TRAUMSCHIFF-Episode ein Hollywood-Märchen nennt, denn der Filmproduzent hat bereits alle Vorkehrungen getroffen, die für eine erfolgreiche Adaption des Romans durch die ‚Traumfabrik‘ notwendig sind: „Ich habe Robert Redford das Buch geschickt. Er würde die Rolle sehr gerne spielen.“493 Die Integration von Heide Kellers Schriftsteller-Pseudonym in die Diegese erweist sich als ein Spiel mit den Ebenen, das ‚von langer Hand‘ vorbereitet scheint:494 Das Cover des fiktiven Buchs von Jac Dueppen, das den Titel Unterm Holunderbusch trägt, wird nicht nur in dieser Episode von DAS TRAUMSCHIFF beständig in Szene gesetzt – man sieht es auch flüchtig, aber deutlich erkennbar im geöffneten Koffer einer Figur aus dem spin off von DAS TRAUMSCHIFF: Die Hochzeitsreise in der 26. Episode von KREUZFAHRT INS GLÜCK führt nach Sardinien, wo es zum Streit zwischen dem frisch getrauten Paar Suse und Hadi kommt. Als Suse das Hotel auf der italienischen Mittelmeerinsel verlassen will, ist ihr Koffer in einer Close-up-Einstellung geöffnet auf einem Sessel zu sehen, sodass das darin liegende Buch von Jac Dueppen deutlich erkennbar ist.495 Dass diese Detail der Mise en Scène sowie die gesamte Szene von Suses überstürzter Abreise Beatrices Abheuern vom Traumschiff gewissermaßen ‚interseriell‘ antizipiert, legt die Programmstruktur des ZDF nahe: Die Sardinen-Episode von KREUZFAHRT INS GLÜCK ist in der ‚Ausstrahlungs-Zyklik‘ der beiden idyllischen Kitsch-Serien diejenige Folge, die im Sendejahr 2017/2018 der Neujahrsepisode von DAS TRAUMSCHIFF unmittelbar vorangeht. Intertextualität ist eines der zentralen Merkmale der poiesis von Literatur und bildender Kunst sowie von Film und Fernsehen und zugleich Ausdruck der Autoreferenzialität und -reflexivität der jeweiligen literarischen, bildnerischen, filmischen oder televisiven Texte. Entsprechend lassen sich neben den oben beschriebenen intertextuellen bzw. interseriellen und systemreferenziellen Bezügen in DAS TRAUMSCHIFF auch selbstbezügliche Elemente in der Inszenierung ausmachen, durch die die Grenzen zwischen intradiegetischer Serienrealität und außertelevisiver Wirklichkeit verschwimmen. Das anschaulichste Beispiel dafür ist die Integration eines paratextuellen Elements in den Haupttext der Serie und zwar in Form des Serienlogos, das zu Beginn des Vorspanns jeder Episode eingeblendet wird (Abb. 15). Genau dieses Logo hat die Reederei am Schornstein der MS Deutschland anbringen lassen und entsprechend ist es auch in bestimmten Einstellungen zu sehen, wenn in der Serie der Schornstein des Schiffs gezeigt

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DAS TRAUMSCHIFF, E80, 01:07:30. Ganz ähnlich werden in der 65. Episode zum 30-jähirgen Serienjubiläum innerdiegetische Ebene und außertelevisive Wirklichkeit miteinander verschränkt, als während des ‚Ständchens‘ zu Beatrices Dienstjubiläum an Bord des Traumschiffs die Serien-Figur mit dem Namen ihrer Darstellerin adressiert wird (vgl. DAS TRAUMSCHIFF, E65, 02:01:00ff). Vgl. KREUZFAHRT INS GLÜCK, Episode 26: „Hochzeitsreise nach Sardinien“, Regie: Christoph Klünker, Erstausstrahlung: 26.12.2017, hier: 01:22:07.

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wird (Abb. 32). Zugleich macht die Reederei das Serienlogo zu ihrem ‚Markenzeichen‘ und nutzt die Popularität von DAS TRAUMSCHIFF für die eigenen Werbezwecke. Das Reiseerlebnis, das eine Kreuzfahrt auf dem ‚echten‘ Traumschiff bietet, besteht also offenbar in nichts anderem als der idyllischen Wirklichkeit des Fernsehens, denn das televisive Imaginäre bricht gewissermaßen ins touristische Reale ein. Diese These lässt sich durch das Unterhaltungsprogramm an Bord der ‚echten‘ MS Deutschland bekräftigen: Das facettenreiche und täglich wechselnde Angebot von Kurzweil auf hoher See bietet während der 356. Kreuzfahrt von Monte Carlo nach Istanbul am zehnten Reisetag – wie es im Unterhaltungsprogramm nachzulesen ist – zwischen „flotter Musik“ um 21 Uhr und „nächtlich[en] Leckerbissen“ um zwölf eine ganz besondere Idylle, denn die Spätvorstellung im bordeigenen Lichtspielhaus zeigt um viertel vor elf eine Episode von DAS TRAUMSCHIFF.496 Die Urlaubsidylle auf dem Kreuzfahrtschiff bewirkt somit eine mediale Rückkopplung, denn das Fernsehen avanciert dort zum ganz großen Kino. Die beiden Medien Fernsehen und Kino scheinen also in demselben Verhältnis zueinander zu stehen wie Idylle und Katastrophe, denn schließlich sieht man laut Olaf Gulbransson „in besondern Fällen / auch eines aus dem andren quellen“.

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Für diese Kreuzfahrt-Realien danke ich Diana Knoche, die im Sommersemester 2013 an meinem Seminar „Idylle – Ein literarischer Motivkomplex und seine medialen Variationen“ an der Technischen Universität Dortmund teilgenommen hat.

3 Theorien der Idylle

Die vorangehende Untersuchung der drei konstitutiven Dimensionen der Idylle impliziert bereits unweigerlich theoretische Überlegungen zu ihrer Poetizität, Medialität und Serialität. Diesen wird nun ein gemeinsamer Fluchtpunkt gegeben und zwar durch zwei Theorien der Idylle, die um 1800 insbesondere als Kritik an der von Gessner bewirkten ‚Renaissance‘ der antiken Gattung eine poetologische Revision der Idylle bewirken. Hierbei handelt es sich um das Idylle-Kapitel in Friedrich Schillers Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ von 1795 sowie um den entsprechenden Paragraphen in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik von 1813. Als besonders ‚wirkmächtig‘ erweisen sich diese zwei theoretischen Fassungen der Idylle gerade deshalb, weil sie der gesamten germanistischen Idyllenforschung des 20. Jahrhunderts als implizite oder explizite analytische Matrix – mithin vollkommen unreflektiert – eingeschrieben sind. Die von der Idyllenforschung meist als konträr zueinander aufgefassten Theorien Schillers und Jean Pauls sollen entgegen einer solchen ‚Tradition‘ hier vielmehr als Komplemente betrachtet werden, um somit die von der Forschung an sie herangetragenen Behauptungen – wie diejenige einer in die Aporie der Idylle führenden utopischen Ausrichtung der Idylle bei Schiller – durch close readings dieser Theorien sowie durch eine Analyse ihrer praktischen Applikationen in literarischen Texten kritisch zu prüfen. Dadurch lässt sich die bereits im einleitenden Kapitel dargestellte Problematisierung der gerade auf Basis von Schillers Theorie entwickelten Unterscheidung von ‚Idylle/Idyllisch‘ weiter konkretisieren, sodass die hier vorgestellte alternative Perspektive schließlich zu einer neuen Operationalisierung dieser Theorien der Idylle führt. Dadurch wird es im Anschluss an Jean Pauls Reflexionen zur Idylle außerdem möglich, deren Verkopplung mit dem Kitsch auch theoretisch evident zu machen. Aus drei Gründen sollen also Schillers und Jean Pauls Überlegungen hier anderen idyllentheoretischen Ansätzen, die sich gerade im 18. Jahrhundert finden lassen, vorgezogen werden. Erstens handelt es sich um zwei – wenn auch nicht auf den ersten Blick ersichtlich – komplementäre Theorien, die zu jener für die (deutsche) Literaturgeschichte so neuralgischen Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verfasst worden sind. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Jablonski, Idylle, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04937-7_3

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Theorien der Idylle

Sie eignen sich gerade deshalb dazu, die ‚literarische Wandlung‘ der Idylle konkreter zu erfassen, die vor allem darin besteht, dass die an der Antike ausgerichtete (und durch Gessners Idyllen in der dichterischen Praxis aktualisierte) gattungspoetische Fassung der Idylle sich zusehends öffnet, denn insbesondere durch Jean Paul „erweitert sich die Idylle formal aus zum Roman“.1 Zweitens ist diese expansive Perspektivierung der Idylle bei Jean Paul wesentlich durch Schillers theoretische Überlegungen zur Idylle vorbereitet und beeinflusst, sodass sie sich ganz im Sinn des Ansatzes der vorliegenden Untersuchung als Beleg für die Diffusion des materialen Topos der Idylle in andere literarische Formen und mediale Formationen begreifen lässt – angefangen bei den „in Roman und Drama integrierten partiellen Idyllen“,2 über die idyllischen Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts bis zu den filmischen und televisiven Artefakten des 20. und 21. Jahrhunderts. Drittens schließlich weisen Schillers und Jean Pauls poetologische Reflexionen mit Jean-Jacques Rousseau und dem von ihm entwickelten Konzept des Naturzustands einen gemeinsamen theoretischen Bezugspunkt auf – was von der Forschung zwar in Ansätzen durchaus erkannt,3 bislang aber noch nie anhand von Rousseaus eigener idyllischer poiesis und deren kulturreflexiver Konsequenzen – gerade für die theoretische Fassung der Idylle – untersucht wurde. Bevor also Schillers und Jean Pauls Theorien hinsichtlich ihrer Wirkung für die Diffusion des materialen Topos der Idylle kritisch betrachtet werden, gilt es zunächst, ihre eigene theoretische Grundlage darzulegen. Diese besteht erstens in jenem Begriff von Natur, wie ihn Rousseau in seinen philosophischen Schriften entwickelt, und zweitens in Rousseaus Gessner-Rezeption, durch die vor allem seine autobiographischen Schriften nachhaltig geprägt sind. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfahren diese Schriften ihrerseits eine solch intensive Rezeption, die in den Idyllentheorien um 1800 nachwirkt und zugleich zur diskursiven Formierung der Rousseau bis heute unterstellten Idee von einer ‚Rückkehr zur Natur‘ führt. Der vermeintlich von Rousseau postulierte ‚retour à la nature‘ lässt sich daher als eine idyllische Überlagerung begreifen, die in seinen autobiographischen Schriften als bewusste Forcierung und in den philosophischen Schriften als (Rück-)Projektion seiner Gessner-Rezeption fassbar wird. Entsprechend fungiert das in der retour-Formel konzentrierte diskursive Gefüge als zumeist implizit

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Meyer-Sickendiek, Burkhard: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 352. Böschenstein, Renate: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. III: Harmonie–Material [2001], Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 119–138, hier: S. 131. Vgl. Schneider, Helmut J.: „Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder“, in: Die Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen, hrsg. von Helmut J. Schneider, Frankfurt a.M.: Insel 1978, S. 353–423, hier: S. 372.

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vorausgesetzte, teils explizit thematisierte Folie für die Idyllentheorien Schillers und Jean Pauls. Aufgrund dieser Zusammenhänge soll die theoretische Perspektivierung der Idylle, die den Gegenstand dieses Kapitels darstellt, in drei Schritten erfolgen. Diese sind in den Überschriften der Teilkapitel als drei aufeinander bezogene Verfahren der Idylle bezeichnet, die der von Olaf Gulbranssons lyrisch dargestellten Wechselwirkung von Idylle und Katastrophe folgen: Überlagern, wie es Rousseau vornimmt, meint eine spezifisch idyllische Ausrichtung, die im Sinn eines po(i)etisch produktiven Gebrauchs des materialen Topos der Idylle direkt oder indirekt erfolgen kann, ihrerseits letztlich aber zu idealisieren ist, damit sie im Sinn Schillers als eine potenziell realisierbare Möglichkeit wahrgenommen werden kann. Aufgrund der Paradoxie jedes Ideals, das nur unverwirklicht als ein solches gilt, ist die Idylle schließlich so zu beschränken, dass sie nicht in die Katastrophe ihrer eigenen Unmöglichkeit umschlägt: Deshalb erscheint die Idylle in dieser Jean Paul’schen ‚Optik‘ letztlich als jenes „Glück im Winkel“, womit Ludwig Giesz – seinerseits unreflektiert idyllisierend – die Wirkung des Kitsches in dem für ihn konstitutiven „Moment des Privaten, Intimen, Isolierten“ beschreibt.4 Aus diesem Grund lässt sich aus Jean Pauls theoretischer Fassung der Idylle letztlich deren ‚universelle Verkitschung‘ ableiten.

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Giesz, Ludwig: Phänomenologie des Kitsches [1971], Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 57.

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 Überlagerungen (Zurück zu Rousseau) „O Natur, Natur, wer hat dich je dort eingefangen, wo du dich entziehst!“5 Als Antwort auf diese rhetorische Frage, die Honoré de Balzac in seiner Erzählung „Das unbekannte Meisterwerk“ von 1831 dem alten Meister Frenhofer in den Mund legt (und zwar in einem Gespräch mit den Malern Porbus und Poussin, die später zu den erstaunten Betrachtern des wohl ersten abstrakten Gemäldes der Kunstgeschichte werden), möchte man einen Namen nennen: Rousseau. Seine literarischen sowie philosophischen Schriften avancieren im 18. Jahrhundert nicht nur zur ideologischen Grundlage für Pädagogen und Revolutionäre – vor allem der in und mit ihnen geprägte Naturbegriff bildet den Fluchtpunkt für Friedrich Schillers und Jean Pauls Theorien der Idylle. Dabei erweist sich dieser Naturbegriff selbst als das Produkt von Rousseaus eigener idyllischer poiesis, deren sich zunehmend diskursiv verselbstständigende Konsequenzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hier mit dem Begriff der Überlagerung analytisch erfasst werden sollen. Mit seinen Reflexionen über die Natur steht Jean-Jacques Rousseau in jener Tradition von Denkern, „die seit der Renaissance an der Ausbildung eines ‚natürlichen Systems‘ erst in Opposition zu dem übernatürlichen Offenbarungsglauben, dann als neutralem Standort zwischen den Konfessionen gearbeitet haben“.6 Rousseau ist damit vor allem als Kritiker der Aufklärung anzusehen:7 Er fasst die „Geschichte der Zivilisation“ als eine „fortschreitende Negation des Naturgegebenen“ und setzt den von seinen aufgeklärten Zeitgenossen so hoch gepriesenen „Fortschritt der Kultur“ mit einer „Negation der Natur“ gleich, aus der letztlich ein „Verlust der ursprünglichen Unschuld“ des Menschen resultiere.8 Mit nachgerade säkularer Religiosität erkennt der zum Katholizismus bekehrte und später wieder zum Protestantismus zurückkonvertierte Rousseau darin

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Balzac, Honoré de: „Das unbekannte Meisterwerk“ [1832], übersetzt von Heinrich E. Jakob, in: ders.: Das unbekannte Meisterwerk und andere Erzählungen, Zürich: Diogenes 2007, S. 124–164, hier: S. 142. Weigand, Kurt; „Einleitung: Rousseaus Negative Historik“, in: Rousseau, Jean-Jacques: Über Kunst und Wissenschaft, über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Kurt Weigand, Hamburg: Meiner 1955, S. VII–LXX, hier: S. LIII. Vgl. Rehm, Michaela: „Aufklärung über Fortschritt: Warum Rousseau kein ‚Zurück zur Natur‘ propagiert“, in: Delholm, Pascal/Hirsch, Alfred (Hgg.): Rousseaus Ursprungserzählungen, München: Fink 2012, S. 49–63, hier: S. 54. Starobinski, Jean: Rousseau. Eine Welt von Widerständen [1971], übersetzt von Ulrich Raulff, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 41f.

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„das Prinzip des Bösen“ überhaupt, weshalb er „die Gesellschaft“ und mit ihr „die soziale Ordnung insgesamt in Frage [stellt]“.9 Diese kulturkritischen Überlegungen folgen geradezu performativ jenem Programm, das Frenhofers rhetorische Frage impliziert: Rousseau ‚fängt‘ die Natur nämlich nicht nur genau dort ein, wo sie sich zu entziehen scheint – sein Versuch einer theoretischen (Er-)Fassung ‚der‘ Natur (und damit ist zugleich ‚die‘ Natur des Menschen gemeint) bewirkt vielmehr, dass diese sich immer weiter ihrer Konkretisierung zu entziehen scheint. So stellt schon Johannes Hirschberger in seinem Monumentalwerk zur Geschichte der Philosophie fest: „Der Naturbegriff bei Rousseau ist verschwommen von Anfang an und wird immer unklarer, je mehr er darüber schreibt.“10 Dies zeigt sich in der diskursiven Komprimierung der Rousseau’schen Philosophie zu jener Formel, die sich – wie Jürgen Link mit aller Nachdrücklichkeit erklärt – zwar „nirgends bei Rousseau wörtlich findet“,11 jedoch allerorts mit ihm und seinem Denken in Verbindung gebracht wird: ‚Zurück zur Natur‘.12 Letztlich erscheint diese Formel wie der Versuch, Rousseaus ‚Naturentzug‘ entgegenzuwirken: Laut Hirschberger lese sich der ‚retour à la nature‘ nämlich als Zusammenfassung von „Rousseaus Wollen“,13 und so wie Jürgen von Stackelberg Rousseaus Philosophie als ‚Weg zurück zur Natur‘ auslegt,14 überschreibt Thomas

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Starobinski: Rousseau, S. 39. Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie, 2. Teil: Neuzeit und Gegenwart [1953], Freiburg/Basel/Wien: Herder 61963, S. 255. Link, Jürgen: Hölderlin-Rousseau. Inventive Rückkehr, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 52. Das ‚Zurück zur Natur‘ hat Konjunktur, was insbesondere an der diskursiven Griffigkeit dieser Formel liegt, schließlich suggeriert ihr Gebrauch, dass sich die theoretischen Überlegungen Rousseaus damit genauso zusammenfassend erklären ließen wie überhaupt das komplexe Natur- und Gesellschaftskonzept der Aufklärung. Dass die Formel vielmehr eine nachgerade topisch zu nennende Fassung des kulturellen Narrativs vom ‚Ausstieg‘ darstellt, weist Jürgen Link anhand ihres applikativen Gebrauchs bei Friedrich Hölderlin nach (vgl. Link: Hölderlin-Rousseau, S. 55). Ein solcher Gebrauch findet sich auch in den vermeintlich ‚niederen‘ Sphären der gegenwärtigen Unterhaltungskultur: INTO THE WILD (USA 2007) heißt der Titel von Sean Penns Verfilmung der gleichnamigen Reportage von Jon Krakauer, deren deutscher Untertitel (Die Geschichte eines Aussteigers) explizit auf das Ausstiegs-Narrativ verweist, während beispielsweise Hape Kerkelings als Roman verkaufter Bericht über seine Pilgerreise auf dem Jakobsweg mit dem Titel Ich bin dann mal weg dieses Narrativ implizit aufgreift (Kerkeling, Hape: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, München: Malik 2006). Die reality-TV-Serie ADAM SUCHT EVA (seit 2014 im Programm von RTL) verkoppelt den ‚Ausstieg‘ zugleich mit idyllischen Paradiesvorstellungen und televisivem Voyeurismus, weil die TeilnehmerInnen der Kuppel-Show auf der einsamen Insel im Südpazifik allesamt so nackt präsentiert werden wie die ersten Menschen in der biblischen Schöpfungserzählung. Hirschberger: Geschichte der Philosophie [2. Teil], S. 252 Vgl. Stackelberg, Jürgen von: Jean-Jacques Rousseau. Der Weg zurück zur Natur, München: Fink 1999.

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Koeber gleich die Nachwirkung der gesamten Ideen der Aufklärung mit dieser Formel.15 Verstanden als Beleg für die angeblich von Rousseau behauptete „Reversibilität des Kulturalisationsprozesses“,16 resultiert diese formelhafte Verkürzung seiner komplexen „Aufklärungskritik“ letztlich aus einem rezeptiven Kurzschluss,17 dem hier als dem Phänomen einer ‚idyllischen Überlagerung‘ nachgegangen wird. Ihre Wirkung erfahren diese Überlagerungen einerseits von innen, das heißt durch eine implizite Forcierung seitens Rousseaus, sodass seine Texte andererseits einer idyllischen Überlagerung von außen und das heißt durch an die Texte herangetragene ‚Projektionen‘ zuträglich werden. Besonders anschaulich macht das jene Schrift, mit der Rousseau zur Beantwortung der im November 1753 von der Akademie in Dijon ausgeschriebenen Preisfrage den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen erörtert: „Wo immer vom zweiten Discours die Rede ist“, stellt Dieter Beyerle daher fest, „taucht der Begriff des Goldenen Zeitalters auf.“18 Das verwundert, denn in der Abhandlung wird das Goldene Zeitalter nicht erwähnt. Der Discours sur l’originie et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes,19 der 1755 auf Französisch und ein Jahr später in der Übersetzung von Moses Mendelssohn auf Deutsch veröffentlicht wird, trägt Rousseau zum zweiten Mal den Akademie-Preis ein – bereits 1750 wird seine später als sog. erster Discours bekannt gewordene Abhandlung darüber, ob die Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen haben, mit diesem Preis ausgezeichnet.20 Die beiden Discours bilden letztlich das theoretische ‚Fundament‘ für alle späteren literarischen und philosophischen Schriften Rousseaus und entsprechend avancieren sie zur Analysefolie der Rousseauforschung. Aus diesem Grund lassen sich an den Discours sowie an ihrer verkoppelten und dann durch die späteren Schriften Rousseaus beeinflussten Rezeption die idyllischen Überlagerungen des Rousseau’schen Naturbegriffs veranschaulichen.

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Vgl. Koeber, Thomas: Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwirkung, Heidelberg: Winter 1993. Link, Jürgen: Hölderlin-Rousseau, S. 52. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 54. Beyerle, Dieter: „Rousseaus zweiter Discours und das Goldene Zeitalter“, in: Romanistisches Jahrbuch (12) 1961, S. 105–123, hier: S. 105. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, in: ders: Œuvres complètes, Bd. III: Du contrat social, Écrits politiques, hrsg. unter der Leiung von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1964, S. 109–223. Nachfolgend werden Zitate aus dem zweiten Discours ohne weitere Fußnote unter Verwendung der Sigle ‚D II‘ gefolgt von der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les sciences et les arts, in: ders: Œuvres complètes, Bd. III: Du contrat social, Écrits politiques, hrsg. unter der Leitung von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1964, S. 1–30. Nachfolgend werden Zitate aus dem ersten Discours ohne weitere Fußnote unter Verwendung der Sigle ‚D I‘ gefolgt von der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt.

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Die Metapher der ‚idyllischen Überlagerung‘ verweist deshalb gerade auch auf einen Effekt in der Rousseau-Rezeption, der seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten und vor allem durch die Popularität der Idylle in der Literatur und Kunst dieser Zeit maßgeblich bedingt ist: Dieser Effekt zeitigt eine idyllisch-tendenziöse Lektüre der Rousseau’schen Schriften im Allgemeinen und des darin entworfenen Naturbegriffs im Besonderen, was sich schließlich auf die theoretischen Beschäftigungen mit der Idylle um 1800 auswirkt – und in deren Folge auch noch weiterhin ihre gegenwärtigen Theoretisierungen beeinflusst. Damit entspricht der hier durch die zum terminus technicus avancierten Metapher bezeichnete Effekt genau jener Wirkung, die Rousseau in Bezug auf die Wissenschaften und Künste im ersten Discours tadelt. Sie kommen ihrer eigentlichen Aufgabe nämlich nicht nach und überlagern dieses Säumnis ihrerseits nachgerade idyllisch: [L]es Sciences, les Lettres et les Arts [...] étendent des guirlandes de fleurs sur les chaînes de fer dont ils [les hommes, N.J.] sont chargés, étouffent en eux le sentiment de cette liberté originelle pour laquelle ils sembloient être nés, leur font aimer leur escalavage et en forment ce qu’on appelle des Peuples policés. (D I, 7)

Die Wissenschaften und Künste bilden also „gesittete Völker“, die ihre eigene „Sklaverei lieben“, statt ihnen die „Empfindung der ursprünglichen Freiheit“ beizubringen, indem sie – durch eine buchstäblich idyllische Überlagerung – „über die ihnen angelegten Ketten Blumenkränze aus[breiten]“.21 Vor dem Hintergrund dieser ‚Kulturkritik‘ im ersten Discours entwickelt Rousseau im zweiten das Konzept des Naturzustands, also eines „état de Nature“, als Voraussetzung des Gegenstands seiner Abhandlung: „De marquer dans le progrés des choses, le moment où le Droit succedant à la Violence, la Nature fut soumise à la Loi [...].“ (D II, 132). Rousseau versucht also, „im Laufe der Zeit“ genau jenen „Augenblick ausfindig [zu] machen“, als „die Gewalt vom Recht verdrängt und die Natur dem Gesetz unterworfen worden ist“.22 Wie schon der erste so erscheint auch der zweite Discours diachron perspektiviert: Das Konzept des Naturzustands wird dergestalt „als Basis der hypothetischen Entwicklung vorausgesetzt“,23 die Rousseau im Folgenden analytisch nachzeichnet. Damit stellt der Naturzustand gewissermaßen eine Alternative zum Naturgesetz dar, um den Zustand kultureller „Gesellschaftlichkeit“, die Rousseau in seinem zweiten Discours in Bezug auf die sie gegenwärtig kennzeichnende Ungleichheit untersucht, „als

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Rousseau, Jean-Jacques: „Abhandlung über die Wissenschaften und Künste“, in: ders.: Schriften [1978], 2 Bd.e, hrsg. von Henning Ritter, Bd. I, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 27–60, hier: S. 34. Im Folgenden als ‚1. Abhandlung‘ in den Fußnoten abgekürzt. Rousseau, Jean-Jacques: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit“, in: ders.: Schriften [1978], 2 Bd.e, hrsg. von Henning Ritter, Bd. I, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 165–302, hier: S. 192. Im Folgenden als ‚2. Abhandlung‘ in den Fußnoten abgekürzt. Rang, Martin: Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, S. 116.

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geworden begreifen“ zu können:24 Als „Idee vom gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen den Erscheinungen der den Menschen umgebenden Welt“ bildet das sog. ‚Naturgesetz‘ die Grundlage für das daraus abgeleitete ‚Naturrecht‘.25 Auf dessen Basis sollen sowohl in Morallehren als auch Staatstheorien die „von einer natürlichen bzw. göttlichen Seinsordnung oder von natürlichen Eigenschaften des Menschen“ ausgehenden „verbindlich[en] Normen für das Zusammenleben der Menschen, für das sittliche Verhalten oder für die Gestaltung der politisch-rechtlichen Ordnung“ legitimiert werden.26 Rousseau benötigt das Konzept des Naturzustands, um die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vorherrschende „moderne Naturrechtstheorie“, wie sie Thomas Hobbes und John Locke im 17. Jahrhundert in England als Kritik an der „Konzeption des antiken und christlichen Naturrechts“ gefasst haben, insbesondere geschichtlich zu perspektivieren und dadurch ihren Absolutheitsanspruch zu relativieren:27 „So [...] wie die traditionelle [...] Naturrechtstheorie“ entwirft Rousseau den Naturzustand als einen ursprünglichen „Idealzustand allgemeiner Freiheit und Gleichheit“ unter den Menschen; indem er dann aber darlegt, „daß dieser Naturzustand mit der Weiterentwicklung der Menschheit notwendigerweise ein Ende finden mußte, rückt er ihn in die Vorgeschichte und richtet seine besondere Aufmerksamkeit auf die geschichtliche Entwicklung der Menschheit“, um daraus dann die gesellschaftlich vorherrschende Ungleichheit abzuleiten.28 Mit seinem Konzept des Naturzustands stellt Rousseau sich also einem grundlegenden Problem der Naturrechtstheorie: Diese setzt ihrem Gegenstand, dem vorherrschenden ‚naturgesetzlichen Recht‘, immer schon die Gesellschaft voraus.29 Jedoch stellt sie letztlich bloß ein nachträglich aus dem Naturrecht abgeleitetes Konzept dar, weil „das Urteil über die Gesellschaft die Definition des Naturgesetzes“ bestimmt.30 Genau das kritisiert Rousseau an seinen Vorgängern, die „mit einem ad hoc erfundenen Naturgesetz ihre vorgefaßten Meinungen über die Gesellschaft legitimierten“.31 Diese argumentative Falle umgeht er mit dem Naturzustand, der seiner eigenen Kritik jedoch ebenfalls nicht standhalten würde: Genauso wie das naturgesetzliche Recht ist auch der Naturzu24 25

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Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 117. Stichwort ‚Gesetz‘, in: Philosophisches Wörterbuch [1964], hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, 2 Bd.e, Bd. I: A bis Konditionalitätsprinzip, Berlin [DDR]: das europäische buch 81972, S. 443–449, hier: S. 443. Stichwort ‚Naturrecht‘, in: Philosophisches Wörterbuch [1964], hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, 2 Bd.e, Bd. II: Konflikt bis Zyklentheorie, Berlin [DDR]: das europäische buch 81972, S. 761– 770, hier: S. 761. Stichwort ‚Naturrecht‘, in: Philosophisches Wörterbuch II, S. 765. Stichwort ‚Naturrecht‘, in: Philosophisches Wörterbuch II, S. 766. Vgl. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 117. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 105. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 105.

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stand ein aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen abgeleitetes Konzept. So betrachtet, erweist dieser sich als das Produkt einer idyllischen poiesis, die sich – wie zuvor gezeigt – insbesondere dadurch auszeichnet, dass sie ihre eigene ‚Gemachtheit‘ stets kaschiert. Rousseau gelingt dies dadurch, „daß er das Naturgesetz mit dem Naturzustand identifiziert[]“ und dergestalt die Natur ‚erfindet‘, indem er sie absolut setzt: „Auf diese Weise war nur das naturgesetzlich, was von Anfang an da war, während alles übrige als eine Erfindung späterer Zeiten erschien, die sich nicht, oder doch nur sehr mittelbar, auf die einzig wahre Autorität der Natur berufen konnten.“32

3.1.1Interne Überlagerungen: Der materiale Topos in Rousseaus zweitem Discours Durch sein Konzept des Naturzustands kann sich Rousseau gegen die herrschende Auffassung des naturgesetzlichen Rechts positionieren, um im zweiten Discours darzulegen, dass die gesellschaftlich vorherrschende Ungleichheit kein ‚natürlicher‘ Zustand ist: „Naturgesetz und Ungleichheit mußten unvereinbar sein“, und den Beweis dafür liefert der Naturzustand.33 Dieser relativiert „das Naturgesetz“ insofern, als er „die gesellschaftliche Ungleichheit ein für allemal ausschloß“.34 Entsprechend lässt sich Rousseaus Argumentationsgang mit Beyerle zusammenfassen: „Gab es im menschlichen Naturzustand also keine Ungleichheit, dann war bewiesen, daß sie eine von Natur nicht gewollte, verderbliche Einrichtung ist [...].“35 Das für diesen Zweck entwickelte Konzept des Naturzustands stellt für Rousseau nun aber keinesfalls eine „historische Wahrheit“ dar, denn seine „Untersuchungen“ sind, wie er selbst herausstellt, „als bedingte und hypothetische Vernunftschlüsse“ zu betrachten, „die mehr die Natur der Dinge beleuchten, als ihren wahren Ursprung zeigen“:36 „Il ne faut pas prendre les Recherches, dans lesquelles on peut entrer sur ce Sujet, pour des verités historiques, mais seulement pour des raisonnemens hypothétiques et conditionels; plus propres à éclaircir la Nature des choses qu’à montrer la véritable origine [...].“ (D II, 132f) Wenn nun, wie Beyerle herausstellt, durch den Naturzustand „der Eindruck entsteht, daß die Geschichte der Menschheit“, wie sie im zweiten Discours entworfen wird, „mit einem Goldenen Zeitalter beginnt“, dann ist dies „gewiß zutreffend und von Rousseau beabsichtigt“.37 Auch wenn der Begriff des Goldenen Zeitalters kein einziges Mal im

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Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 106. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 105. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 105. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 106. 2. Abhandlung, S. 193. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 105.

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zweiten Discours genannt wird, legt Rousseau das in seiner Abhandlung entwickelt Konzept des Naturzustands mit implizitem Bezug auf diesen Topos an, sodass es entgegen Beyerles Behauptung eben sehr wohl „leicht zu sagen“ sei, „wie dieser Eindruck zustande kommt“.38 In der Vorrede zum zweiten Discours modelliert Rousseau dessen Gegenstand nämlich bereits ganz und gar topisch: „Car ce n’est pas une légére entreprise de démêler ce qu’il y a d’originaire et d’artificiel dans la Nature actuelle de l’homme, et de bien connoître un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais, et dont il est pourtant necessaire d’avoir des Notions justes pour bien juger de nôtre état présent.“ (D II, 123) Als Ziel seiner Abhandlung formuliert Rousseau also das Unterfangen, „in der wirklichen“ und damit in der momentanen gesellschaftlichen Gegenwart anschaulich werdenden „Natur des Menschen das Ursprüngliche von dem Künstlichen zu unterscheiden“, um dadurch das zu ergründen, was er im Discours als Naturzustand entwirft.39 Diesen präsentiert er hier ‚vorwortlich‘ insofern als topisches Goldenes Zeitalter, als es sich um einen Zustand handeln soll, „der nicht mehr zu finden, vielleicht niemals dagewesen ist, und künftig auch, allem Ansehen nach, nie vorkommen wird.“40 Jedoch bilde das Wissen darum die notwendige Voraussetzung, „wenn man über unseren gegenwärtigen Zustand urteilen will“.41 Ein solcher „Etat qui n’extiste plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais“ (D II, 123), entspricht insofern genau jener „mythisch[en] Schöpfung der Griechen“,42 die als Goldenes Zeitalter zum Topos der abendländischen Dichtung avanciert:43 Wie das Arkadien, das in Vergils Bucolica den lieblichen Ort der Idyllen darstellt, gilt das Goldene Zeitalter nämlich als „Chiffre für unverstelltes und unverschandeltes, gerechtes und glückliches Leben“.44 Nach Helmuth Petriconi diene die literarische Tradition des Topos vom Goldenen Zeitalter außerdem dazu, etwas Nichtsagbares darzustellen, wie etwa die Forderung nach Liebesfreiheit, „um derentwillen das goldene Zeitalter“ beispielsweise in Torquato Tassos frühneuzeitlichem Schäferspiel Aminta deshalb so „gepriesen wird“, weil es „seinerseits nur eine poetische Konvention ist, um solche Dinge auszusprechen und darzu-

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Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 105. 2. Abhandlung [Vorwort], S. 182. 2. Abhandlung [Vorwort], S. 182. 2. Abhandlung [Vorwort], S. 182f. Garber, Klaus: „Verkehrte Welt in Arkadien? Paradoxe Diskurse im schäferlichen Gewande“, in: Birkner, Nina/Mix, York-Gothart (Hgg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 49–77, hier: S. 68. Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948], Bern/München: Francke 71969, S. 92. Garber: „Verkehrte Welt Arkadien?“, S. 49.

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stellen.“45 Im Sinn einer solchen ‚Konvention‘ nutzt Rousseau diesen Topos – und zwar implizit, denn durch seine Anspielung auf das Goldene Zeitalter im Vorwort veranschaulicht er das im Folgenden zu entwickelnde abstrakt-hypothetische Konzept seines Naturzustands. Dies erweist sich zugleich als eine forcierte idyllische Überlagerung, weil der implizite Gebrauch des Topos vom Goldenen Zeitalter letztlich Evidenz erzeugt – und als bildhafte Darstellung von „Naturgeschehen“ stellt diese die wohl idyllischste Funktion der Rhetorik dar.46 Erstmalig wird das Goldene Zeitalter von Hesiod entworfen und zwar als eine mythische Vorzeit, in der zudem der historische Ursprung der gegenwärtigen Gesellschaft liegt. Diese hat sich von ihrem ursprünglich idyllischen Zustand zusehends entfernt und entfremdet: „Charakteristisch für die von Hesiod als ‚Goldenes Zeitalter‘ eingestufte Epoche der Geschichte war“, so führt es Manfred Petri aus, „die Harmonie der Menschen untereinander und mit der Natur, die ein sorgen- und schmerzfreies, von Festen ausgefülltes Leben garantierte.“47 Dass Rousseau diesen Topos gebraucht – der in Bezug auf Hesiods erstmalige Beschreibung auch von Horaz, Ovid und insbesondere Vergil aufgegriffen wird, indem dieser ihn in sein idyllisches Arkadien implementiert –, liegt allein deshalb nahe, weil sein Naturzustand „manche Ähnlichkeit“ mit dem Goldenen Zeitalter aufweist.48 Beide sind „vor allem durch eine wichtige Eigenschaft verbunden: daß ihnen die Laster und Gebrechen der Zivilisation fehlen“.49 Entsprechend erkennt Beyerle Rousseaus direkten Anschluss an diesen Topos, denn er „braucht nur geringe Veränderungen vorzunehmen, um aus einem Goldenen Zeitalter einen Naturzustand zu machen“.50 Allerdings sind es weniger die Darstellungen des Goldenen Zeitalters bei Hesiod, Horaz, Ovid oder Vergil, auf die Rousseau Bezug nimmt, um im zweiten Discours sein Konzept des Naturzustands evident zu machen. Vielmehr bezieht er sich auf das fünfte Buch von Lukrez’ Über die Natur der Dinge, denn „[i]n der Rousseauschen Schilderung des menschlichen Naturzustandes finden sich zahlreiche Details wieder, die auch bei Lukrez vorkommen“.51 Die an das von Lukrez geschilderte Goldene Zeitalter angelehnte Modellierung des Naturzustands im zweiten Discours untersucht Beyerle überzeugend und stellt damit dessen „idyllischen Charakter“ deutlich heraus, denn im zweiten Discours sind „[a]lle wichtigen Merkmale des Goldenen Zeitalters [...] versammelt: Muße, 45

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Petriconi, Helmuth: „Das neue Arkadien“, in: Antike und Abendland (3) 1938, S. 187–200, hier: S. 193. Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik [1963], München: Hueber 31967, S. 118. Petri, Manfred: Die Urvolkshypothese. Ein Beitrag zum Geschichtsdenken der Spätaufklärung und des deutschen Idealismus, Berlin: Duncker & Humblot 1990 (zugl. München, Univ., Diss., 1987), S. 52. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 112. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 112. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 112. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 110.

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Frieden, Überfluß an Nahrung, kein Privateigentum, Freiheit von Leid und Leidenschaften.“52 Schlicht falsch ist es jedoch zu behaupten, dass durch Rousseaus Lukrez-Bezug bei der Darstellung des „Naturzustandes die traditionellen Elemente des Topos vom Goldenen Zeitalter reproduziert“ würden.53 Das Gegenteil trifft zu, denn mit dem Topos des Goldenen Zeitalters sind zwei konkurrierende Vorstellungen von der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft verkoppelt – und Rousseau greift beide modifizierend auf, sodass seinem Naturzustand ein ähnlich idyllischer ‚Sonderstatus‘ zukommt wie Vergils Arkadien: Der „pessimistischen Perspektive“, die seit Hesiod, Horaz und Ovid den Verlust des Goldenen Zeitalters zum Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen ‚Verfallsgeschichte‘ macht, steht mit Lukrez bereits „in der Antike das Postulat eines umgekehrten Geschichtsverlaufs gegenüber“.54 Lukrez stellt die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft als ein „Aufwärtsstreben“ dar, indem er „die menschliche Kultur aus einem primitiven Zustand entstehen und langsam an Güte gewinnen“ lässt.55 Entsprechend tragen alle gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen, wie etwa „Schiffe, Bestellung der Felder, Mauern der Städte, Gesetze, / Waffen, Straßen, Bekleidung, das übrige, was dieser Art ist“ – und dazu zählen „Lohn und Wonnen“ genauso wie „Lieder, Gemälde und kunstvolle, wohlgeglättete Bilder“ –, zur Erreichung eines Goldenen Zeitalters bei.56 Dieses avanciert dergestalt zum Telos der von Lukrez im fünften Buch von De rerum natura beschriebenen „Entstehung der Welt und Kultur“:57 „So zieht mählich hervor ein jedes das Fließen der Zeiten / allen zunutz, und Verstand bringt es in die Reiche des Lichtes. / Denn sie sahen im Geiste sich eins aus dem andern erhellen, / bis in den Künsten sie kamen zum höchsten Punkt der Vollendung.“58 Derartiges musste in den Ohren der Aufklärer wie idyllische Musik klingen. Buchstäblich in dieser liegt nun aber für Rousseau die ganze Kakophonie des Anfangs vom Ende und damit die Quelle für das Übel der Ungleichheit in der Gesellschaft: A mesure que les idées et les sentimens se succédent, que l’esprit et le cœur s’éxercent, le Genre-humain continue à s’apprivoiser, les liaisons s’étendent et les liens se resserrent. On s’accoûtuma à s’assembler devant les Cabanes ou autour d’un grand Arbre: le chant et l’amusement ou plûtôt l’occupation des hommes et des 52 53

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Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 112. Burk, Berthold: Elemente idyllischen Lebens. Studien zu Salomon Geßner und Jean-Jacques Rousseau, Frankfurt a.M./Bern: Lang 1981 (zugl. Gießen, Univ., Diss., 1980), S. 78. Petri: Geschichtsdenken der Spätaufklärung, S. 52. Petri: Geschichtsdenken der Spätaufklärung, S. 52. Lukrez: Welt aus Atomen [De rerum natura; V,1448ff], übersetzt von Karl Büchner, Zürich: Artemis 1956, S. 527. Büchner, Karl: „Einleitung“, in: Lukrez: Welt aus Atomen [De rerum natura], übersetzt von Karl Büchner, Zürich: Artemis 1956, S. 5–66, hier: S. 37. Lukrez: Welt aus Atomen [V, 1454ff], S. 527.

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femmes oisifs et attroupés. Chacun commença à regarder les autres et à vouloir être regardé soi-même, et l’estime publique eut un prix. Celui qui chantoit ou dansoit le mieux; le plus beau, le plus fort, le plus adroit ou le plus éloquent devint le plus consideré, et ce fut là le premier pas vers l’inégalité, et vers le vice en même tems: de ces premiéres préférences nâquirent d’un côté la vanité et le mépris, de l’autre la honte et l’envie; et la fermentation causée par ces nouveaux levains produisit enfin des composés funestes au bonheur et à l’innocence. (D II, 169f)

Der Kulturalisationsprozess ist für Rousseau also gekennzeichnet durch die Zunahme der „Begriffe und Empfindungen“, sodass sich „Geist und Herz“ der Menschen „in steter Übung“ erhalten und die „Gemeinschaft [...] weiter aus[breiten]“ kann.59 Dies alles erfolgt in Form eines nachgerade ‚idyllischen Zusammenlebens‘: „Man fing an, sich vor Hütten oder um einen großen Baum zu versammeln. Singen und Tanzen, die echten Kinder der Liebe und Muße, wurden ein Zeitvertreib oder vielmehr eine Beschäftigung für das müßige Volk beiderlei Geschlechts, das hier zusammenkam.“60 Eine solche Vorstellung von der Entwicklung der Kultur ist auch deshalb ganz und gar idyllisch zu nennen, weil sie letztlich um den Preis einer ‚Katastrophe‘ erkauft ist: Sie liegt in der Bewertung der durch den Zusammenschluss zur Gemeinschaft und als ‚Übung für Geist und Herz‘ entwickelten Kulturtechniken, denn: „Die öffentliche Hochachtung erlangte einen Wert, wer am besten singen, wer am besten tanzen konnte, der Schönste, der Stärkste, der Geschickteste oder der Beredteste wurde am meisten bemerkt. Dieses war der erste Schritt zur Ungleichheit“ unter den Menschen.61 Mit negativen Affekten wie „Stolz und Verachtung“, „Scham und Neid“, die sich als Folge der zunehmenden Ungleichheit einstellen, entstehen außerdem „schädliche Beimischungen für die Glücklichkeit der Menschen und für ihre Unschuld“.62 Damit liegt Rousseaus Vorstellung dieses Kulturalisationsprozesses also die Anschauung zu Grunde, „daß der Aufstieg der Menschheit aus der Niederung des Naturzustandes mit dem fortgesetzten Verlust natürlicher Unschuld und natürlichen Glücks erkauft sei“.63 Das katastrophische Moment, das sich durch die Entwicklung weg vom Naturzustand und hin zur Gesellschaft einstellt, liegt also darin, dass ein idyllisches Zusammenleben nicht möglich ist. Roland Barthes erweist sich in diesem Sinn gewissermaßen als indirekter ‚Rousseauist‘, denn wie im vorangehenden Kapitel in Bezug auf die Dimension der Serialität der Idylle gezeigt wurde, ist ein idyllisches Zusammenleben niemals als dauerhafter Zustand möglich. Genau diese dauerhafte Vergemeinschaftung, die Rousseau beschreibt, erweist sich deshalb als idyllische Katastrophe in der Überwindung des Naturzustands, denn „die Bande schlossen sich fester zusammen“ und „[e]in jeder 59 60 61 62 63

2. Abhandlung, S. 236. 2. Abhandlung, S. 236. 2. Abhandlung, S. 236. 2. Abhandlung, S. 236f. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 136.

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bemerkte alle anderen und hatte Lust, wiederum von ihnen bemerkt zu werden“.64 Hingegen führt der Mensch in seinem ursprünglichen Zustand eine regelrecht isolierte Nomadenexistenz: Er hat „weder Haus noch Hütte, noch eine andere Art von Eigentum“, sodass jeder genau dort wohnt, „wo er hinkam, und oft nur auf eine Nacht“:65 „[A]u lieu que dans cet état primitif, n’ayant ni Maison, ni Cabanes, ni propriété d’aucune espéce, chacun se logeoit au hazard, et souvent pour une seule nuit“ (D II, 147). In diesem Zustand besteht also „nicht die mindeste Gemeinschaft“ unter den Menschen:66 „[I]ls navoient entre eux aucune espéce de commerce“ (D II, 157). Aus diesem Grund stehen sie auch „in keiner moralischen Verbindung miteinander“, sind frei von „Pflichten“, kennen „weder gut noch böse“ und sind „weder tugendhaft noch lasterhaft“ – im Naturzustand erscheint der Mensch als regelrechtes Neutrum:67 „Il paroît d’abord que les hommes dans cet état n’ayant entre eux aucune sorte de relation morale, ni de devoirs connus, ne pouvoient être ni bons ni méchans, et n’avoient ni vices ni vertues [...]“ (D II, 152). Entsprechend ist den ursprünglich ‚natürlichen‘ Menschen im Naturzustand all das noch gänzlich fremd, was in der durch Eigentum und Vergemeinschaftung entstandenen Gesellschaft die sie kennzeichnende Ungleichheit bewirkt, nämlich „Eitelkeit“ und „Ansehen“, „Hochachtung“ und „Geringschätzung“:68 „[I]ls ne connoissoient par conséquent ni la vanité, ni la considération, ni l’estime, ni le mèpris; [...] ils n’avoient pas la moindre notion du tien et du mien [...]“ (D II, 157). Die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrschende Ungleichheit, deren Ursprung Rousseau in zweitem Discours ergründet, erscheint damit als ein Effekt des Kulturalisationsprozesses, weil sie sich erst einstellt, sobald die Vergemeinschaftung der Menschen eine dauerhafte wird. Mit seinem Konzept des Naturzustands will Rosseau somit zwei Dinge belegt wissen. Erstens, „que l’Inégalité est à peine sensible dans l’état de Nature“ (D II, 162), und zweitens, „qu’entre les différences qui distinguent les hommes, plusieurs passent pour naturelles qui sont uniquement l’ouvrage de l’habitude et des divers genres de vie que les homme adoptent dans la Société“ (D II, 160). Während „die Ungleichheit in dem Stande der Natur unmerklich ist“,69 wird sie angesichts ihrer Dominanz in der gegenwärtigen Gesellschaft daher gewissermaßen „für natürlich gehalten“, obwohl die dem Naturzustand fremde Ungleichheit „doch eigentlich nur von der Gewohnheit und den verschiedenen Lebensarten“ herrührt, die „die Menschen in dem gesellschaftlichen Leben angenommen haben“.70 In diesem Sinn ist die Ungleichheit das Ergebnis einer 64 65 66 67 68 69 70

2. Abhandlung, S. 236. 2. Abhandlung, S. 210. 2. Abhandlung, S. 222. 2. Abhandlung, S. 216f. 2. Abhandlung, S. 222. 2. Abhandlung, S. 228. 2. Abhandlung, S. 226.

Überlagerungen (Zurück zu Rousseau)

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‚idyllischen Überlagerung‘, weil sie für etwas Natürliches und damit Naturgegebenes genommen wird, obschon sie ein „Produkt der Gesellschaftsbildung“ darstellt.71 Rousseau modelliert den von ihm selbst als hypothetisch angenommenen Naturzustand also als „Nullpunkt der Entwicklung“ der Menschheit und ihres Kulturalisationsprozesses.72 Trotz der in Bezug auf das Goldene Zeitalter topisch zu nennenden Anlage geht Rousseau mit dem im Naturzustand implizierten Geschichtsmodell über dasjenige hinaus, das in der Antike mit dem Goldenen Zeitalter verknüpft ist – und zwar sowohl in der Variante eines ‚negativen‘ Abfalls, wie sie sich bei Hesiod, Horaz und Ovid findet, als auch der ‚positiven‘ Progressionsvariante, wie sie Lukrez darlegt: Bei Rousseau verkoppeln sich beide, denn einerseits wirkt die durch Vergemeinschaftung bedingte Kulturalisation als eine die Ungleichheit überhaupt erst hervorbringende ‚Entfremdung‘ vom Naturzustand so negativ wie der in der Antike postulierte ‚Verlust‘ des Goldenes Zeitalters. Dieser wird durch die absteigende Wertigkeit der Metalle – Silber, Bronze, Eisen – veranschaulicht, die die einzelnen geschichtlichen Entwicklungsstufen der Menschen bezeichnen.73 Da der Naturzustand bei Rousseau aber andererseits als Folie fungiert, um die durch die zunehmende Entfremdung von diesem hervorgebrachte Ungleichheit als Effekt des Kulturalisationsprozesses zu beschreiben, muss der Naturzustand umso ‚goldener‘ wirken. Es scheint deshalb verführerisch nahe zu liegen, die Rückkehr dahin als eine implizite Forderung bzw. idyllische ‚Sehnsucht‘ anzunehmen, da der Naturzustand genauso verlustig erscheint wie das sonnig glänzende Säkulum in der antiken ‚Zeitrechnung‘. Nun muss eine Rückkehr in den Naturzustand und die daraus abgeleitete Formel eines ‚retour à la nature‘ aber allein schon deshalb als Unmöglichkeit angesehen werden, weil Rousseau ihn von vornherein als ein hypothetisches Konzept entwirft: Für ihn ist der Naturzustand ein konstruktives Hilfsmittel zur Klärung der Frage nach dem Ursprung der gegenwärtig vorherrschenden Ungleichheit unter den Menschen und kein „Idealzustand“,74 wie ihn beispielsweise Lukrez in seiner Variante des Goldenes Zeitalters als ‚letzte Stufe der Kultur‘ präsentiert.75 Trotzdem zeigt sich bei Rousseau indirekt eine 71 72 73

74 75

Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 117. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 134 Vgl. Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung [1955], übersetzt von Hugo Seinfeld, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 162005, S. 29. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 134. Angesichts einer solch konträren Position zu Lukrez müsste gegen Beyerles Argumentation, die Rousseaus Naturzustand explizit mit dessen Darstellung des Goldenen Zeitalters identifiziert, nachdrücklicher Einspruch erhoben werden. Beyerle begründet die ‚goldene‘ Wirkung, die der Naturzustand bei Rousseau zeitigt, durch eine äußert fragwürdige sowie argumentativ fragile Konstruktion: Im zweiten Teil des zweiten Discours beschreibt Rousseau eine ‚Zwischenzeit‘ im Übergang vom primitiven Naturzustand zu demjenigen der voranschreitenden Vergesellschaftung, die sich als „l’époque la plus heureuse, et la plus durable“ erweist (D II, 171). Demnach

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dem progressiven Kulturalisationsprozess im Sinn des Goldenen Zeitalters bei Lukrez analoge Perspektive: Rousseau postuliert zwar kein ‚Zurück‘ zum Naturzustand, jedoch stellt er die Möglichkeit in Aussicht, dass ein gesellschaftlicher Zustand erreicht werden könne, der jener Ungleichheit entbehrt, die gegenwärtig in der Gesellschaft vorherrscht und insofern als ‚unnatürlich‘ angesehen werden muss, weil sie im ursprünglichen Naturzustand nicht existiert hat. Zu einer tatsächlich realisierbaren Möglichkeit wird dieser alternative Gesellschaftszustand durch das menschliche „Vermögen, sich vollkommener zu machen“,76 die sog. „perfectibilité“ (D II, 142, Hervorhebung i.O.). Dieses spezifische Vermögen unterscheide den Menschen grundlegend vom Tier, obwohl der erste Mensch – und das heißt: der Mensch im ursprünglichen Zustand der Natur – für Rousseau zunächst nichts anderes darstellt als ein solches: „En le considerant, en un mot, tel qu’il a dû sortir des mains de la Nature, je vois un animal [...]: Je le vois se rassasiant sous un chesne, se désalterant au premier Ruisseau, trouvant sont lit au pied du même arbre qui lui a fourni son repas, et voilà ses besoins satisfaits.“ (D II, 134f) Allerdings besitzt bereits dieser ‚ursprüngliche Mensch‘ jenes ihn vom Tier unterscheidende Vermögen, aus dem sich, „wenn ihm die Umstände zu Hilfe kommen“,

76

stellt sich der Naturzustand für Beyerle letztlich als „die Verbindung von ‚état primitif‘ und ‚état intermédiare‘“ dar, die Rousseau dem gegenwärtigen „état social“ gegenüberstelle (Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S. 123). Zwar spricht Rousseau im zweiten Discours an verschiedenen Stellen von einem ‚état primitif‘, von einem ‚état social‘ ist darin aber genauso wenig die Rede wie von einem ‚état intermédiare‘ – Beyerle gibt alle drei aber fälschlich als Rousseau-Zitate aus und bezieht sich damit implizit wohl auf Martin Rang, der in seiner Darstellung von Rousseaus Lehre des Menschen explizit von einem „Zwischenzeitalter“ spricht, das Rousseau im zweiten Discours beschreibe (Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 132). Abgesehen davon ist Beyerles Annahme eines einzigen ‚état intermédiarie‘ vollkommen falsch, schließlich spricht Rousseau gleich von mehreren „Zwischenfällen“, wie es in der deutschen Übersetzung des zweiten Discours heißt – eine Übersetzung, die Beyerle noch nicht vorgelegen hat, weshalb er auf die 1915 von Charles Edwyn Vaughan in zwei Bänden herausgebende Ausgabe The Political Writings of Jean Jacques Rousseau zurückgreift (vgl. The Political Writings of Jean Jacques Rousseau, hrsg. von Charles Edwyn Vaughn, 2 Bd.e, Cambridge: Cambridge University Press 1915). Als „positions intermédiaires“ beschreibt Rousseau all jene Zwischenstufen in der Entwicklung vom ursprünglichen Naturzustand (als ‚état primitif‘ bzw. ‚état Naturel‘) hin zum gegenwärtigen Gesellschaftszustand, der als ‚état Civil‘ derjenige der bürgerlichen Gesellschaft zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist: „En décourvrant et suivant ainsi les routes oubliées et perdues qui de l’état Naturel ont dû mener l’homme à l’état Civil; en rétablissant, avec les positions intermédiaires que je viens de marquer, celles que le tems qui me presse m’a fait supprimer, ou que l’imagination ne m’a point suggérées; tout Lecteur attentif ne pourra qu’être frappé de l’espace immense qui sépare ces deux états.“ (D II, 191f) So sorgfältig Beyerle bei der Herausarbeitung von Rousseaus Bezug auf Lukrez ist, so wenig erscheint er bei der Entwicklung seiner weiteren Thesen als ein „Lecteur attentif“, wie ihn Rousseau als einen – mit Umberto Eco gesprochen – nachgerade ‚kritischen Leser‘ entwirft (vgl. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation [1990], übersetzt von Günter Memmert, München/Wien: Hanser 1992, S. 43ff). 2. Abhandlung, S. 204.

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dann „alle übrigen Fähigkeiten nach und nach entwickeln“:77 „[C]’est la faculté de se perfectionner; faculté qui, à l’aide des circonstances, développe successivement toutes les autres“ (D II, 142). Die genuine Perfektibilität des Menschen verspricht also eine idyllische Aussicht darauf, die gegenwärtig in der Gesellschaft vorherrschende und von Rousseau als ‚unnatürlich‘ ausgewiesene Ungleichheit zu beseitigen: Der „Aufstieg der Menschheit aus der Niederung des Naturzustandes“ ist durch sein Vermögen, sich vollkommener zu machen, bewirkt.78 Der Einsatz dieser Fähigkeit bei der gesellschaftlichen Vergemeinschaftung habe bislang jedoch nicht nur positive Effekte – wie etwa die Zunahme von „Begriff[en] und Empfindungen“ sowie die Erfindung von „Singen und Tanzen“ als „Zeitvertreib“ und „Beschäftigung für das müßige Volk beiderlei Geschlechts“ – gezeitigt, sondern auch negative, die sich als „schädliche Beimischungen für die Glücklichkeit der Menschen“ und deshalb als „der erste Schritt zur Ungleichheit“ erwiesen haben.79 Die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrschende Ungleichheit resultiert also aus dem „fortgesetzt[en] Verlust natürlicher Unschuld und natürlichen Glücks“ als von den Menschen für ihren gesellschaftlichen Fortschritt zu zahlender Preis.80 Die menschliche Fähigkeit zur Perfektibilität würde diesen Prozess zwar nicht wieder umkehren – Rousseau postuliert kein ‚Zurück zur Natur‘ –, jedoch „die Möglichkeit zur späteren Entwicklung“ eines solch positiven gesellschaftlichen Zustands eröffnen, der jener gegenwärtigen Ungleichheit entbehrt.81 Michaela Rehm spricht diesbezüglich von Rousseaus „Aufklärung über den Fortschritt“ – eine Aufklärung, die so doppelsinnig erscheint wie die grammatische Formel, mit der Rehm dieses „Programm“ bezeichnet:82 „Was Rousseau tadelt, ist weniger das Phänomen des Fortschritts“,83 auch wenn dieser die Ungleichheit unter den Menschen zum Preis hat, als vielmehr das Konzept von Fortschritt, wie es bislang gefasst worden ist – und zwar im Sinn eines solch negativen Verständnisses, das in der Antike modellhaft als Verlust des Goldenen Zeitalters entworfen wurde und bis in die christlichen Vorstellungen von der Erbsünde und des verlorenen Paradieses nachwirkt. Dieser Kritik an einem derart negativen Fortschrittsdenken setzt Rousseau mit dem Konzept der Perfektibilität des Menschen eine positive Alternative entgegen, die dem Goldenen Zeitalter bei Lukrez ähnelt, sich von diesem aber dadurch unterscheidet, dass eine derartige ‚letzte Stufe der Kultur‘ angesichts der vorherrschenden Ungleichheit in 77 78 79 80 81 82 83

2. Abhandlung, S. 204. 2. Abhandlung, S. 236. 2. Abhandlung, S. 236. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 136. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 136. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 61. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 56.

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der Gesellschaft noch nicht erreicht ist. Rousseau liegt daher nichts ferner als eine Rückkehr zum Naturzustand – das Gegenteil ist der Fall, wie Rehm bestätigt: „Der Ausweg aus der Misere liegt also nicht im Weg zurück, sondern im Voranschreiten“,84 und dies kann nur mit Hilfe jenes Vermögens erfolgen, das „sowohl bei unserer Art im ganzen, als bei einem jeden insbesondere anzutreffen ist“85 – also jene „faculté qui [...] réside parmi nous tant dans l’èspéce, que dans l’individu“ (D II, 142). Man mag Rousseaus argumentative Verschränkung seines Konzepts des Naturzustands mit dem der Perfektibilität für einen dialektischen Taschenspielertrick halten – sie ist jedoch viel eher eine forcierte idyllische Überlagerung, die sich jener von Vergil entworfenen Alternative zum Goldenen Zeitalter als analog erweist: Das idyllische Arkadien gestaltet sich insbesondere in Vergils erster Ekloge als Aussicht auf eine mögliche Restituierung des Goldenen Zeitalters. Wie bereits gezeigt, erweist sich dies als eine Politisierung der Idylle, weil sich die Darstellung, die Tityrus von seinem idyllischen Leben gibt, in Bezug auf den historischen Kontext in der Antike als eine durch Octavian/Augustus verheißene Zeit des Friedens und Wohlstands deuten lässt (vgl. hierzu Kapitel 1.2). Rousseau vermittelt seine ‚aufklärerische Fortschrittskritik‘ im zweiten Discours ganz ähnlich: Erstens über das Konzept des Naturzustands und zweitens durch eine idyllische Überlagerung, indem er das positiv-progressive Geschichtsmodell, wie es Lukrez mit Hilfe des Topos vom Goldenen Zeitalter entwickelt, zurückprojiziert auf das komplementäre Modell einer negativ-regressiven Entwicklung der Menschheit. Nur durch eine derartige Überlagerung lässt sich die für die Rousseau-Rezeption dominante Umdeutung des Konzepts vom Naturzustand in ein vermeintlich postuliertes ‚Zurück zur Natur‘ erklären – genauso wie übrigens der durch eine Rückprojektion der ‚retour‘Idee auf den zweiten Discours entstandene falsche Eindruck, „als habe es früher einmal ein Goldenes Zeitalter gegeben, da die gesellschaftliche Ungleichheit noch nicht existierte“.86

3.1.2Externe Überlagerungen: (Rousseau liest) Rousseau und Gessner Rousseaus ‚fortschrittliche Aufklärungskritik‘ betrifft „weniger das Phänomen des Fortschritts selbst, als vielmehr ein Konzept von Fortschritt“, das sich als „das große Paradoxon der Aufklärung“ erweist, denn diese „erzeugt oder zementiert Ungleichheit“.87 Genau das versucht Rousseau in seinem zweiten Discours darzulegen. Sein Vorschlag 84 85 86 87

Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 56. 2. Abhandlung, S. 204. Beyerle: „Rousseaus zweiter Discours“, S.123. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 53.

Überlagerungen (Zurück zu Rousseau)

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zum Abbau dieser in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrschenden Ungleichheit besteht dabei allerdings nicht etwa in einer Rückkehr zum Naturzustand, sondern im richtigen Nutzen jenes menschlichen Vermögens, das er ‚perfectabilité‘ nennt.88 In ihrer Untersuchung zu Rousseaus Fortschrittskritik, mit der Rehm nachweist, dass „Rousseau kein ‚Zurück zur Natur‘ propagiert“,89 bezieht sie die Perfektibilitätsthese des zweiten Discours auf Rousseaus Abhandlung über die Wissenschaften und Künste und projiziert somit den zweiten auf den ersten Discours zurück, in dem Rousseau darüber reflektiert, „ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat“.90 Rehms synchroner Ansatz ist metho(dolog)isch so legitim wie nachvollziehbar, um die komplexen Zusammenhänge im philosophischen Denken Rousseaus herauszuarbeiten. Ein solcher Ansatz, der die verschiedenen philosophischen (und auch literarischen wie autobiographischen) Schriften zueinander in Bezug setzt, um die wechselseitigen Verflechtungen zwischen ihnen produktiv zu machen, ist allerdings zugleich ein symptomatischer Effekt jenes Phänomens, das hier als ‚idyllische Überlegung‘ untersucht wird. Im zweiten Discours führen diese Überlagerungen dazu, dass das darin entwickelte Konzept des Naturzustands als ein nachgerade idyllisches aufgefasst werden kann. Wie gezeigt wurde, sind diese ‚internen‘ idyllischen Überlagerungen durchaus als forciert anzusehen, denn Rousseau gestaltet den Naturzustand, indem er sein Konzept implizit durch den antiken Topos vom Goldenen Zeitalter veranschaulicht und das damit verbundene geschichtliche Modell einer gesellschaftlichen Entwicklung modifizierend aufgreift, um es für seine Fortschrittskritik produktiv zu machen. Die ‚internen‘ idyllischen Überlagerungen, wie sie sich im zweiten Discours nachweisen lassen, werden durch ‚externe‘ idyllische Überlagerungen komplementär ergänzt.91 88 89 90 91

Vgl. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 56. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 50. 1. Abhandlung, S. 27. Es ließe sich statt von ‚externen Überlagerungen‘ auch von ‚äußeren Beziehungen‘ sprechen – ein Begriff, den Rousseau selbst verwendet, wenn er in den ‚Träumereien eines einsamen Spaziergängers‘ über seine Eigenliebe räsoniert. Diese sei bei ihm nie sonderlich ausgeprägt gewesen, weil sie sich nach den negativen Erfahrungen, die er als Schriftsteller machen musste, in seine „Seele zurückschmiegte und alle äußeren Beziehungen abschnitt, die sie anspruchsvoll machen“, um sich schließlich „mit dem Bewußtsein [seiner] inneren Güte“ zu begnügen und ihn schließlich „von dem Joch der Meinungen“ zu befreien (Rousseau, Jean-Jacques: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, in: ders.: Schriften, 2. Bd.e, hrsg. von Henning Ritter, Bd. II, München/Wien: Hanser 1978, S. 637–760, hier: S. 737). Im Original heißt es vollständig: „En se repliant sur mon ame et en coupant les relations extérieures qui le [d. i.: l’amour propre] rendent exigeant, en renonçant aux comparaisons et aux préférences il s’est contenté que je fusse bon pour moi [...].“ (Rousseau, Jean-Jacques: Les Rêveries du Promeneur solitaire, in: ders.: Œuvres complètes, hrsg. unter der Leitung von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Bd. I: Les Confessions, Autres textes autobiographiques, Paris: Éditions Gallimard 1959, S. 993–1099, hier: S. 1079.)

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‚Extern‘ ist in diesem Zusammenhang insofern ein relativer Begriff, als sich seine Relativität aus dem Gegenstand ergibt, der idyllisch überlagert erscheint. Das ist der Naturzustand, wie ihn Rousseau im zweiten Discours konzeptualisiert: Als ‚extern‘ sollen deshalb all jene idyllischen Überlagerungen begriffen werden, die von ‚außen‘ an den Naturzustand ‚herangetragen‘ werden (können) und in der – nicht nur wissenschaftlichen – Rezeption von Rousseaus zweitem Discours aus seinen anderen Schriften, philosophischen wie literarischen, auch entsprechend an ihn ‚herangetragen‘ worden sind. Folglich erweist sich die externe idyllische Überlagerung des Konzepts vom Naturzustand insbesondere als ein Effekt der Rousseau-Rezeption. Diese zeitigt ihrerseits handfeste diskursive Konsequenzen, weil die obskure Formel eines ‚retour à la nature‘, die als Zusammenfassung von „Rousseaus Wollen“ bis in die Gegenwart hinein interdiskursive Verbreitung erfahren hat,92 sich somit letztlich als eine durch externe idyllische Überlagerungen bewirkte Rückkopplung zwischen den verschiedenen Schriften Rousseaus begreifen lässt. Angesichts ihrer ubiquitären und mithin omnipräsenten Verbreitung soll es hier nachfolgend nicht darum gehen, die Genese des ‚retour‘ historisch nachzuzeichnen, sondern deren (inter-)diskursive ‚Begleitumstände‘ in Form von externen idyllischen Überlagerungen in Rousseaus Texten herauszuarbeiten. Dazu werden genau solche Passagen in den philosophischen und literarischen Schriften erfasst, die mit und aus dem materialen Topos der Idylle gestaltet sind. Insofern geht es hier also vielmehr darum, Rousseaus idyllischer poiesis nachzugehen. Das Urteil, das Rousseau im ersten Discours über die Wirkung von Wissenschaften und Künsten fällt, ist durchweg negativ, weil diese eben nicht – wie es in der Preisfrage der Akademie heißt – zur Läuterung der Sitten beigetragen haben. Vielmehr seien „unsere Seelen in dem Maße verdorben, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste vollkommener geworden sind“:93 „[N]os ames se sont corrompuës a mesure que nos Sciences et nos Arts se sont avancé à la perfection.“ (D I, 9) Die Entstehung von Wissenschaften und Künsten sieht Rousseau in den menschlichen „Lastern“ begründet:94 „Les Sciences et les Arts doivent donc leur naissance à nos vices [...].“ (D I, 17) Zu diesen Lastern zählt Rousseau insbesondere „Müßiggang“ und „Eitelkeit“, über die Wissenschaften und Künste mit dem Luxus verbunden seien, der sich seinerseits als ein „weit größer[es] Übel“ als die beiden anderen erweist:95 „D’autres maux pires encore suivent les Lettres et les Arts. Tel est le luxe, né comme eux de l’oisiveté et de la vanité des hommes. Le luxe va rarement sans les sciences et les arts, et jamais ils ne vont sans lui.“ (D I, 19) An dieser pessimistischen Perspektivierung der Wissenschaften und Künste wird deutlich, dass Rousseau seine im ersten Discours entwickelten Thesen im zweiten fort92 93 94 95

Hirschberger: Geschichte der Philosophie, S. 252 1. Abhandlung, S. 37. 1. Abhandlung, S. 45. 1. Abhandlung, S. 47.

Überlagerungen (Zurück zu Rousseau)

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und weiterführt, denn darin nennt er gerade den Müßiggang ein Kennzeichen der ersten Vergesellschaftung des Menschen: „Singen und Tanzen, die echten Kinder der Liebe und Muße, wurden ein Zeitvertreib oder vielmehr eine Beschäftigung für das müßige Volk beiderlei Geschlechts“, als es sich „vor den Hütten oder um einen großen Baum herum zu versammeln“ beginnt.96 In dieser ersten „Gemeinschaft“ nach dem Naturzustand folgt auf den sich einstellenden Müßiggang sogleich jenes zweite Übel, das Rousseau in seiner ersten Abhandlung „vanité“ (D I, 19) nennt und in der zweiten als „estime publique“ (D II, 169) bezeichnet: Dieser stelle sich durch den Müßiggang im Singen und Tanzen ein, denn „[e]in jeder bemerkte alle anderen und hatte Lust, wiederum von ihnen bemerkt zu werden“.97 Die Mechanismen der Facebook-Kultur scheinen also kein Phänomen des 21. Jahrhunderts zu sein, sondern ein genuines der menschlichen Vergesellschaftung – sei diese nun virtuell oder nicht, denn die „öffentliche Hochachtung erlangte einen Wert“ und darin nun liegt, so Rousseau, „der erste Schritt zur Ungleichheit und zugleich der erste Schritt zum Laster“.98 Es sind genau jene üblen Laster, die Rousseau im zweiten Discours beklagt, nachdem er im ersten dargestellt hat, dass ihnen auch die Wissenschaften und Künste ihre Entstehung verdanken.99 Der Luxus, der als weiteres und weitaus größeres Übel den Wissenschaften und Künsten folgt, führe seinerseits nun zur „Lockerung der Sitten“ und diese letztlich zur „Verderbnis des Geschmacks“:100 „C’est ainsi que la dissolution des mœurs, suite necessaire du luxe, entraîne à son tour la corruption du goût.“ (D I, 21) Indem Rousseau somit die Verbindung zwischen Wissenschaften und Künsten mit dem Luxus herstellt und diesen als für die Lockerung der Sitten und den Verfall des Geschmacks verantwortlich ausmacht, kann er zur Beantwortung der Preisfrage im ersten Discours resümieren, dass „der Fortschritt der Wissenschaften und Künste unsere wahre Glückseligkeit nicht vermehrt“, sondern vielmehr „unsere Sitten verdorben“ und dadurch „die Reinheit des Geschmacks angetastet hat“:101 Mais si le progrès des sciences et des arts n’a rien ajoûté à nôtre véritable félicité; s’il a corrompu nos mœurs, et si la corruption des mœurs a porté arreinte à la pureté du goût, que penserons-nous de cette foule d’Auteurs élémentaires qui ont écarté du Temple des Muses les difficultés qui défendoient son abord, et que la nature y avoit répandües comme une épreuve des forces de ceux qui seroient tentés de savoir? (D I, 28f)

96 97 98 99 100 101

2. Abhandlung, S. 236. 2. Abhandlung, S. 236. 2. Abhandlung, S. 236. Vgl. 1. Abhandlung, S. 45. 1. Abhandlung, S. 50. 1. Abhandlung, S. 58.

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Rousseau stellt die rhetorische Frage danach, was man „von dem großen Haufen einfacher Schriftsteller“ halten solle, durch die der „Zugang zum Tempel der Musen“ angeblich für jeden zugänglich gemacht wurde, obwohl ihn „die Natur selbst“ versperrt habe, „um die Kraft derer zu prüfen, die nach Wissen verlangten“.102 Daran wird seine aufklärungskritische Position deutlich, die sich vor allem gegen eine buchstäbliche ‚Popularisierung‘ der Künste (und Wissenschaften) richtet: Wie Rehm diesbezüglich ausführt, vertrete Rousseau hier nämlich „eine Theorie der menschlichen Natur“, aus der hervorgeht, dass jeder bestimmte natürliche Anlagen besitzt, die es zu artikulieren gilt. Ist man damit erfolgreich, dann kann es gelingen, glücklich zu werden. Dementsprechend bedeutet es aus Rousseaus Sicht keine elitaristische Exklusion, wenn er die Menge der Menschen vom Musentempel fern halten will. Das liegt daran, dass es ihm zufolge eine Verbindung des naturgemäßen Lebens mit dem Glück gibt. Wer also keine natürliche Bestimmung dafür besitzt, Künstler oder Wissenschaftler zu werden, und sich dennoch in diesen Bereichen betätigen will, wird scheitern.103

Diese Perspektivierung seiner Fortschrittskritik auf das Glück zum Abschluss des ersten Discours erweist sich gleichsam als Fluchtpunkt für das, was Rousseau im zweiten Discours verhandeln wird. Während er mit der ersten Abhandlung also anklagt, dass „die Aufklärung das Glück einiger weniger auf Kosten des Unglücks der vielen“ befördere,104 wird er mit der zweiten den Grund dafür erörtern und zugleich eine Lösung dieses Problem unterbreiten: Die vorherrschende gesellschaftliche Ungleichheit lasse sich nämlich durch einen richtigen Einsatz des genuin menschlichen Vervollkommnungsvermögens beseitigen. In diesem Sinn formuliert Rousseau in der Summa seiner beiden Discours eine Kritik an der Gesellschaft, die – in ihrem gegenwärtigen, von Rousseau kritisierten Zustand – „der Natur zuwiderläuft“, denn „[d]ie bestehende Kultur verneint die Natur“.105 Der „Fortschritt der Kultur“, der in Rousseaus Sicht bislang doch nichts als Übel hervorgebracht hat, lässt sich dementsprechend mit Jean Starobinski zwar als eine „Negation der Natur“ begreifen,106 was aber nur insofern gilt, als der Mensch nach Rousseau gegenwärtig seine ‚natürlichen‘ Fähigkeiten und darunter insbesondere diejenige der Perfektabilität nicht richtig nutzt – beispielsweise dadurch, dass auch diejenigen den Musentempel der Wissenschaften und Künste betreten wollen, die dafür keine von Natur gegebene Veranlagung besitzen. Aus einer derartigen „Negation des Naturgegeben“, als die der bisherige Fortschritt sich für Rousseau erweist, dann aber einen in der gegenwärtigen Gesellschaft anschaulich werdenden „Verlust der ursprünglichen Unschuld“ 102 103 104 105 106

1. Abhandlung, S. 58. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 51. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 54. Starobinski: Eine Welt von Widerständen, S. 40. Starobinski: Eine Welt von Widerständen, S. 40.

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zu erkennen, der zudem durch ein wie auch immer zu veranstaltendes ‚Zurück!‘ kompensiert werden solle und müsse,107 erweist sich als eine schlichtweg falsche Interpretation der Discours. Dass diese beiden, insbesondere aber das im zweiten Discours entwickelte Konzept des Naturzustands, eine spezifische „Idyllik“ kennzeichnet,108 liegt einerseits an Rousseaus Argumentation und andererseits an seinen veranschaulichenden Beispielen, mit denen er seine Thesen belegt. So nennt er im ersten Discours einige „wenig[e] Völker“, die von der „ansteckenden Seuche einer eitlen Gelehrsamkeit frei geblieben, durch ihre Tugend ihr eigenes Glück befördert und anderen Nationen als Beispiel gedient haben“:109 „[Des] Peuples qui, préservés de cette contagion des vaines connoissances ont par leurs vertus fait leur propre bonheur et l’exemple des autres Nations.“ (D I, 11) Zur „petit nombre“ dieser Völker zählen laut Rousseau die Perser, Skythen und Germanen genauso wie das antike Rom – das allerdings nicht als Kaiserreich, sondern in der Anfangszeit „seiner Armut und seiner Unwissenheit“:110 „Telle avoit été Rome même dans les tems de sa pauvreté et de son ignorance.“ (D I, 11) Da es sich bei allen diesen Völkern und Reichen um solche handelt, die längst untergegangen sind, erscheint der mit diesen Beispielen veranschaulichte Kulturalisationsprozess zwangsläufig wie eine unaufhaltsame Verfallsgeschichte. Jedoch gebe es „selbst noch heute“, führt Rousseau dann aus, eine „bäurische Nation, die wegen ihrer Tapferkeit, die durch keine Widrigkeit niedergeschlagen, und wegen ihrer Treue, die durch das Beispiel anderer nicht verdorben werden konnte, so gerühmt“ werde:111 „Telle enfin s’est montrée jusqu’à nos jours cette nation rustique si vantée pour son courage que l’adversité n’a pu abbatre, et pour sa fidelité que l’exemple n’a pu corrompre.“ (D I, 11) In den Anmerkungen der Œuvres complètes heißt es, dass mit ‚nation rustique‘ die Schweiz gemeint sei.112 Als Beleg dafür wird auf einen Eindruck verwiesen, den ein Liebender aus einer kleinen Stadt in den Alpen vom Landleben in der Schweiz gewinnt: Brieflich teilt Saint-Preux, der männliche Protagonist in Rousseaus Briefroman Julie oder Die neue Héloïse, seiner Schülerin Julie den gemeinsamen Lehrplan mit, aus dem der Lehrer die neuere Geschichte gestrichen wissen will – bis auf „die von unserem Lande“, das „ein freies, natürliches Land ist, wo man in neueren Zeiten Menschen alter Art antrifft“.113 107 108 109 110 111 112

113

Starobinski: Eine Welt von Widerständen, S. 41. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 131. 1. Abhandlung, S. 39. 1. Abhandlung, S. 39. 1. Abhandlung, S. 39. Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres complètes, Bd. III [Notes et Variantes], hrsg. unter der Leitung von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris: Éditions Gallimard 1964, S. 1245. Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Rande der Alpen. Gesammelt und herausgegeben durch Jean-Jacques Rousseau [II,12], übersetzt von Johann Gottfried Gellius, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 32003, S. 59. Im Original heißt es: „Nous renoncerons pour

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Dass der Apparat der Gesamtausgabe von Rousseaus Schriften ohne weiteren Kontext zur Erläuterung eines philosophischen Textes einen später entstandenen literarischen heranzieht, scheint insofern bemerkenswert, als sich daraus ableiten lässt, dass der nachgerade idyllischen Umschreibung ‚bäurische Nation‘ für die Schweiz ein gewissermaßen topischer Status zukommen muss. Das heißt: Die Anspielung, die Rousseau im ersten Discours durch diese Umschreibung macht, muss in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dergestalt etabliert gewesen sein, dass sie eine eindeutige Identifikation mit der Schweiz zulässt. Der Terminus ‚bäurische Nation‘ verweist implizit auf die spezifische politische Verfassung der Eidgenossenschaft, die im Europa des 18. Jahrhunderts vor der Französischen Revolution eine Einmaligkeit darstellt und zu dieser Zeit insofern eindeutig und leicht mit der Schweiz in Verbindung gebracht werden konnte und zweifelsfrei musste. Eine Passage in der nacherzählend-erläuternden Übersetzung von Rousseaus erstem Dicsours bestätigt diese These. So heißt es in der 1751 erschienenen Heumonat-, also Juli-Ausgabe der von Johann Christoph Gottsched herausgegebenen Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit: Diesen Geschichten [vom Verfall großer Kulturen, N.J.] nun setzt der Verfasser [d.i. Rousseau, N.J.] die kleine Zahl derjenigen Völker entgegen, die bey ihrer Unwissenheit, sich selbst durch Tugenden glücklich gemacht, und andern zum Exempel gedient haben. Hier erwähnt er die alten Perser, die Scythen, die alten Deutschen, davon ein Xenophon, ein Herodot, ein Tacitus, uns solche reizende Beschreibung gemachet. Rom selbst sieht er, in den Zeiten seiner ersten Grobheit, für ein so tugendhaftes Volk an; da es doch nur aus Räubern entstanden, und durch lauter Gewalt und Unterdrücken seiner Nachbarn groß wurde. Endlich kömme er auf die Schweizer selbst, doch ohne sie zu nennen; wenn er sie eine bäurische Nation nennet, die wegen ihrer Herzhaftigkeit so berühmt ist, die kein Unglück niederschlagen, und deren Treue kein böses Exempel hätte verderben können.114

Die hier explizierte eindeutige Identifikation der „bäurisch[en] Nation“ mit der Schweiz spricht für den topischen Status dieser Umschreibung. Sie ist seit dem 16. Jahrhundert diskursiv etabliert: So findet sie sich beispielsweise in Aegidius Tschudis Chronicon Helveticum, das in zwei Teilen in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts in ergänzter

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jamais à l’histoire moderne, excepté celle de notre pays; encore n’est-ce que parce que c’est un pays libre et simple, où l’on trouve des hommes antiques dans les tems modernes [...].“ (Rousseau, Jean-Jacques: Julie, ou La Nouvelle Héloïse. Lettres de deux amans, habitants d’une petite ville au pied des Alpes, recueillies et publiées par J. J. Rousseau, in: ders.: Œuvres complètes, hrsg. unter der Leitung von Bernard Gagnebin und Macerl Raymond, Bd. II: La Nouvelle Héloïse, Théatre – Poésis, Essais littéraires, Paris: Éditions Gallimard 1964, S. 1–793, hier: S. 60.) „Abhandlung über die Frage: Ob die Widerherstellung der Wissenschaften und Künste, etwas zur Läuterung der Sitten beygetragen hat?“, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Leipzig: Johann Christoph Breitkopf, Heumonat 1751, S. 469–486.

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Ausführung in Latein und Deutsch abgedruckt wird. (Dieses Standardwerk zur Geschichte der Schweiz dient auch Friedrich Schiller als historische Vorlage für die Arbeit an seinem Drama Wilhelm Tell, wie es aus seinem Brief vom 16. März 1802 aus Weimar an Johann Friedrich Cotta hervorgeht.115) In einer Anmerkung im ersten Teil des Chronicon Helveticum ist von „[g]en quedam rusticalis in vallibus dictis Switz habitans“ die Rede.116 Dabei handelt es sich um ein Zitat aus der im 14. Jahrhundert verfassten Chronik des Franziskaners Johannes von Winterthur,117 das auch Johann Conrad Füeßlin in den Zusätzen und Verbesserungen zu der von ihm 1770 herausgegebenen Staats- und Erdbeschreibung der schweizerischen Eidgenoßschaft bringt. Mit Verweis auf den geistlichen Chronisten beschreibt Füeßlin, wie die Schweizer im Jahr 1315 in der Schlacht bei Morgarten gegen den österreichischen Herzog Leopold gekämpft haben. Diese Schlacht erweist sich für die Schweiz als eine ‚nationale Urszene‘, denn durch sie „ist die Eidgenossenschaft entstanden“.118

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„Ich habe so oft das falsche Gerücht hören müssen“, beklagt Schiller, „als ob ich einen Wilhelm Tell bearbeitete, daß ich endlich auf diesen Gegenstand aufmerksam worden bin, und das Chronicon Helveticum von Tschudi studierte. Diß hat mich so sehr angezogen, daß ich nun in allem Ernst einen Wilhelm Tell zu bearbeiten gedenke, und das soll ein Schauspiel werden, womit wir Ehre einlegen wollen.“ (Schiller an Cotta, 16. März 1802, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XXXI: Schillers Briefe 1801–1802, hrsg. von Stefan Ormanns, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1985, S. 115f, hier: S. 116.) Tschudi, Aegidius: Chronicon Helveticum (Erster Theil), hrsg. von Johann Rudolff Iselin, Basel: Hans Jacob Bischoff 1734, S. 271. „Horum tempore anno Domini MCCCXV quedam gens rusticalis in vallibus dictis Swiz habitans […].“ (Johannis Vitodurani Chronicon. Die Chronik des Minoriten Johannes von Winterthur, nach der Urschrift herausgegeben durch Georg von Wyss, Zürich: J. J. Ulrich 1856, S. 70f.) Staats- und Erdbeschreibung der schweizerischen Eidgenoßgschaft, Zwyter Theil. Welcher die Cantons Zug, Clarus, Basel, Freyburg, Solothurn, Schafhausen, Appenzell, und Zusätze und Verbesserungen zum ersten Theil, enthält, vermehrt und verbessert von Johann Conrad Füeßlin, Schafhausen: Benedikt Hurter 1770, S. 355. Dass die von Johann von Winterthur gebrauchte Bezeichnung ‚bäurische Nation‘ anfangs noch ganz dispektierlich gemeint ist, geht aus Füeßlins Darstellung hervor: „Er [d.i. Johann von Winterthur, N.J.] erzeigt sich gleich in dem Anfang [seiner Beschreibung der Schlacht bei Morgarten, N.J.] als ein erbitterter Oestreicher, er nennent die Schweizer Bauern. Er schreibt: ‚Es war zu dieser Zeit eine bäurische Nation, welche in Thälern wohnete, und die Schweiz hieß. Diese verliesse sich darauf, daß sie von ihren Bergen beschirmet war, und hat sich geweigert, dem Herzog Leopold Gehorsam, Abgaben und die gewohnte Dienste zu erstatten.‘ Er nennet die Schweizer Bauern, eine Schmach, die ihnen lange angehangen hat, auch zu der Zeit, da viele Städte an die Eidgenossenschaft gewachsen waren und diese den größten Theil derselbigen ausmachen.“ (ebd.) Was laut Füeßlin im Anfang noch als „Schmach“ gegolten habe, ist spätestens seit Rousseau und dem von ihm nachhaltig beeinflussten Philhelvetismus im Europa des 18. Jahrhunderts zu einer durchweg positiv konnotierten Bezeichnung für die Schweiz avanciert (zum Phänomen des Philhelvetismus und Rousseaus Wirkung darauf vgl. Hentschel, Uwe: Mythos Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 58ff).

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Mit jenem ‚rustikalen Eindruck‘, den Saint-Preux vom Schweizer Landleben gewinnt, spielt Rousseau in seinem Roman auf den mit dem Topos von der ‚bäurischen Nation‘ verbundenen ‚Gründungsmythos‘ der Eidgenossenschaft an. Aufgrund dieses impliziten historischen Kontexts kann die indirekt erwähnte Schweiz im ersten Discours somit tatsächlich als ein mit Rom vergleichbares Beispiel erscheinen: Dabei übertrifft sie das antike Imperium insofern an nationaler Größe, als die Schweiz nicht dem Verfall durch einen ‚falschen‘ zivilisatorischen Fortschritt anheimgefallen ist.119 Wenn, wie im Fall des Kommentars in den Œuvres complètes, eine Romanfigur zitiert wird, um die nichtliterarischen Texte ihres ‚Erfinders‘ zu erläutern, dann ist jene Fiktion gelungen, die Rousseau forciert, wenn er sich im Untertitel der Nouvelle Héloïse selbst lediglich als Herausgeber der Liebesbriefe von Julie und Saint-Preux ausgibt. Rousseaus literarischer ‚Erstling‘ erscheint 1761 (in London ist er bereits Ende 1760 im Handel) und damit elf Jahre nach der Veröffentlichung des ersten und sechs nach der des zweiten Discours – jedoch beginnt ‚Julie‘ bereits im Frühjahr 1756 zu leben, wie es in mimetischstem Pathos in der Einführung des zweiten Bandes der Œuvres complètes heißt: „[C’]est au printemps de 1756 qu’elle a commencé à vivre.“120 Rousseau ‚gebiert‘ die Idee für sein ‚geistiges Kind‘ nicht nur in der idyllischsten aller Jahreszeiten, er arbeitet auch in einer buchstäblichen Idylle an den ersten Entwürfen zur Nouvelle Héloïse: Im April 1756 zieht er in das ihm von Madame d’Épinay zur Verfügung gestellte Haus im Wald von Montmorency, nördlich von Paris. Dieser Rückzug in die „ländliche Einsamkeit“ der sog. ‚Ermitage‘ lässt sich Jürgen Link zufolge „kaum anders als ein symbolischer ‚retour à la nature‘ auffassen“.121 Durch die nachträgliche Beschreibung dieses Umzugs in Rousseaus autobiographischen ‚Bekenntnissen‘ erweist sich diese symbolische Rückkehr letztlich als eine idyllische Überlagerung. An den Confessions arbeitet Rousseau sukzessive seit 1764.122 Sie erscheinen in zwei Bänden: der erste 1782, der zweite posthum 1789. Darin beschreibt Rousseau seine eigene idyllische Dispo-

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Dieser Antagonismus zwischen der Bewahrung einer ursprünglichen Natürlichkeit und dem durch Kulturalisation bewirkten gesellschaftlichen Verfall, den Rousseau im ersten Discours anhand der Opposition zwischen der bäurischen Nation der Schweiz und dem untergegangenen römischen Imperium entfaltet, liegt auch als nachgerade idyllische Disposition der Geschichte jenes widerständigen gallischen Dorfes zu Grunde, die das französische Künstlerduo Albert Uderzo und René Goscinny in den 24 gemeinsam gestalteten Heften der Comic-Reihe Astérix erzählen. OC: II [Introductions], S. XX. Link: Hölderlin-Rousseau, S. 53. Vgl. OC: I [Introductions], S. CXII.

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sition: „Je me sentois fait pour la retraite et la campagne“, weil er nirgendwo anders mehr leben könne: „il m’étoit impossible de vivre heureux ailleurs.“123 Link deutet Rousseaus Rückzug aufs Land als „einen symbolischen Akt“, der „nichts mit historischer Reversibilität oder Regression zu tun“ habe, sondern „durch Annäherung an mit ‚Natur‘ kompatiblere Rahmenbedingungen“ vielmehr auf die „Modifikation des modernen Lebens“ ziele.124 Dementsprechend bezieht Link die von Rousseau dergestalt performierte ‚Reform‘ kritisch auf die aus dem Konzept des Naturzustands abgeleitete ‚retour‘-Formel zurück, um diese modifizierend in einen „inventiven“ ‚retrour à la nature‘ zu transformieren: Der Naturzustand impliziere, wenn man ihn mit Bezug auf Rousseaus philosophische und literarische, insbesondere aber autobiographische Schriften liest, deshalb keine „diachrone ‚Rückkehr‘, sondern eher eine synchronische ‚Ortsveränderung‘“.125 Diese erweist sich in der retrospektiven Darstellung in den Confessions als eine nachgerade idyllische: „Ce lieu solitaire plustot que sauvage me transportoit en idée au bout du monde.“126 Angesichts dieser Beschreibung verwundert es nicht, dass Rousseaus „charmante retraite“,127 als die er seine Einsiedelei in Montmorency bezeichnet, erstens nachträglich mit seinem Konzept des Naturzustands identifiziert wurde und dergestalt idyllisch überlagert erscheint, dass sich daraus zweitens dann die Formel von der ‚Rückkehr zur Natur‘ ableiten lässt. Rousseaus Rückzug aufs Land wirkt außerdem produktiv: In der Einsamkeit der Ermitage in Montmorency beginnt er nicht nur mit den ersten Entwürfen zur Nouvelle Héloïse – hier arbeitet Rousseau auch an seinem ‚Erziehungsroman‘ Émile sowie am Contrat social. Diesen stellt er im August 1761 fertig (und er erscheint im Frühjahr des Folgejahres). In der Manuskript gebliebenen ersten Version des Gesellschaftsvertrags spricht Rousseau erst- und einmalig explizit von einem Goldenen Zeitalter, das „[u]ngefühlt von den stumpfen Menschen der ersten Zeit, verloren von den aufgeklärten Menschen der späteren“ als „glücklich[es] Leben [...] dem Menschengeschlechte stets fremd geblieben“ sei, weil diese „es verkannt haben, als sie sich seiner erfreuen konnten“, oder weil „sie es verloren haben, als sie fähig waren es zu erkennen“:128 „[I]nsensible aux stupides hommes des prémiers tems, échappée aux hommes éclairés des tems postérieurs, l’heureuse vie de l’âge d’or fut toujours un état étranger à la race 123

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Rousseau, Jean-Jacques: Les Confessions, in: ders.: Œuvres complètes, hrsg. unter der Leitung von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Bd. I: Les Confessions, Autres textes autobiographiques, Paris: Éditions Gallimard 1959, S. 1–656, hier: S. 401. Link: Hölderlin-Rousseau, S. 54. Link: Hölderlin-Rousseau, S. 54. Rousseau: Les Confessions, OC: I, S. 403. Rousseau: Les Confessions, OC: I, S. 403. Diese Übersetzung gibt Martin Rang, der sich auf den ersten Band der Political Writings bezieht, dabei allerdings eine falsche Seitenangabe nennt, weil sich die betreffende Passage dort auf Seite 448 und nicht auf Seite 175 findet (Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, S. 131).

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humaine, ou pour l’avoir méconnu quand elle en pouvoit joüir, ou pour l’avoir perdu quand elle auroit pu le connoitre.“129 Diese Passage aus dem Contrat social liefert der Rousseauforschung die Legitimation dafür, den Naturzustand aus dem zweiten Discours explizit mit dem Topos vom Goldenen Zeitalter in Zusammenhang zu bringen. Dergestalt lässt sich dieser wie jener ebenfalls als ein verlustig gegangener Zustand deuten. Durch die idyllische Überlagerung mit Rousseaus Rückzug aufs Land, den er in seinen autobiographischen Schriften beschreibt, ist daraus schließlich die Vorstellung eines ‚retour à la nature‘ abgeleitet worden, von dem Rousseau selbst in dieser Weise aber niemals gesprochen hat. Jedoch lässt sich der zur ‚retour‘-Formel verkürzte Naturzustand sehr wohl in einem Rousseau’schen Sinn begreifen. Dies legt Link dar, der in diesem Konzept und dessen interdiskursiver Applikation nämlich eine „latente generative Matrix aller historisch gewordenen Realitäten“ erkennt.130 Als eine solch generative Matrix überlagert Rousseaus Naturzustand, wie nachfolgend gezeigt wird, dann auch die Idyllentheorie um 1800. Das im zweiten Discours entwickelte Konzept des Naturzustands wird also durch seine Projektion auf Rousseaus andere philosophische Schriften idyllisch überlagert. Die (verführerische) Legitimation dafür liefern die späteren biographischen Schriften, in denen Rousseau den materialen Topos der Idylle gebraucht, und diese idyllischen Selbstdarstellungen appliziert die Rousseau-Forschung gemeinhin unhinterfragt auf die Gegenstände der philosophischen Schriften. Dabei scheint in dem Umstand, dass Rousseau die ‚natürliche Genese‘ seiner beiden Discours, die von derjenigen des Menschen und der Gesellschaft handeln, nachträglich durchweg als Idyllen beschreibt, eine von dem „Dichter und Liebhaber des Landlebens“ bewusst forcierte Lenkung der Rezeption seiner Schriften mittels idyllischer Überlagerungen zu sein.131 So will Rousseau die Antwort auf die Preisfrage über den Ursprung der Ungleichheit beispielsweise durch ‚erhabene Betrachtungen‘ im Wald von Saint-Germain gefunden haben. An diesen westlich von Paris gelegenen Ort begibt er sich im November 1753 für etwa ‚sieben oder acht Tage‘ zusammen mit seiner späteren Ehefrau Thérèse Levasseur, die für ihn – wie er selbst sagt – „ma gouvernante et mon amie et ma soeur et mon tout“ in Personalunion ist,132 und einer Freundin von Thérèse: Auf seinen Spaziergängen, die 129

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Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou Essay sur la forme de la République (Première Version), in: ders.: Œuvres complètes, hrsg. unter der Leitung von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Bd. III: Du contrat social, Écrits politiques, Paris: Éditions Gallimard 1964, S. 279–346, hier: S. 283, Hervorhebungen N.J. Link: Hölderlin-Rousseau, S. 54. Serres, Michel: Der Parasit [1980], übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 160. Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, 52 Bd.e, hrsg. von Ralph Alexander Leigh, Bd. XXXVI: juin–décembre 1768, Oxford: The Voltaire Foundation at the Taylor Institution 1980, S. 144 [Brief Nummer 6457]. Im Folgenden abgekürzt durch die Sigle ‚CC‘ gefolgt von der

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Rousseau unternimmt und nur für die ihm von den Frauen bereiteten Mahlzeiten unterbricht, habe er im Wald nicht nur das Bild der frühen Zeiten gefunden, sondern durch beständigen Vergleich der Menschen mit dem ‚Naturmenschen‘ auch die Lügen der Geschichte freigelegt. Dergestalt ließen sich im ‚Fortschritt der Zeit‘ die Ursachen ergründen, die zur Entstellung der Natur der Menschen geführt haben, dessen größtes Elend schließlich darin liege, dass es durch die fälschlich als erreicht angenommene Vollkommenheit des Menschen bewirkt werde: Pour méditer à mon aise ce grand sujet je fis à St. Germain un voyage de sept ou huit jours avec Therese, nôtre hotesse, qui étoit une bonne femme, et une des ses amies. Je compte cette promenade pour une des plus agréables de ma vie. Il faisoit très beau; ces bonnes femmes se chargérent des soins et de la dépense; Therese s’amusoit avec elles, et moi, sans souci de rien, je venois m’égayer sans gêne aux heures des repas. Tout le reste du jour, enfoncé dans la foret, j’y cherchois, j’y trouvois l’image des prémiers tems dont je traçois fiérement l’histoire; je faisois main basse sur les petits mesonges des hommes, j’osois dévoiler à nud leur nature, suivre le progrès du tems et des choses qui l’ont défigurée, et comparant l’homme de l’homme avec l’homme naturel, leur montrer dans son perfectionnement prétendu la véritable source de ses miséres.133

In dieser Darstellung ist all das konzentriert zusammengefasst, was Rousseau ausführlich im zweiten Discours darlegt. Für ihn wird der mehrtägige Ausflug in den Wald von Saint-Germain vor allem deshalb zu einer so produktiven wie patriarchalischen Idylle, in der sich der Denker allem Geistigen widmen kann, weil es die Frauen sind, die für das körperliche Wohl sorgen – und während der von ihnen bereiteten Mahlzeiten auch noch für Rousseaus entsprechend kurzweiliges Ergötzen: „Therese s’amusoit avec elles“ – das Pronomen bezieht sich auf „des soins und de la dépense“ zurück (und womit, wenn nicht Küchenarbeit, könnte eine Frau ihre Zeit wohl vergnüglich(er) zubringen) –, „et moi, sans souci de rien, je venois m’égayer sans gêne aux heures de repas.“ Eine nachgerade klassische Rollenverteilung kennzeichnet dieses Idylle-Machen – vielleicht mag Rousseau sich ja wenigstens Erbsen schälend an der Vorbereitung der Mahlzeiten beteiligt haben... Diese nachträglichen Beschreibungen der Genese seiner philosophischen Schriften sowie der ‚natürlichen‘ Begleitumstände seines Denkens in ländlichen Gegenden – sei es im Wald von St. Germain oder in der Ermitage in Montmorency – veranschaulichen die durch Rousseaus Gebrauch des materialen Topos bewirkten idyllischen Überlagerungen, die insbesondere auf die spätere Rousseau-Rezeption und dabei vor allem auf diejenige seines Konzepts des Naturzustands nachwirken. Insofern ließe sich in diesen Überlagerungen tatsächlich eine bewusste Lenkung der Rezeption erkennen. Der hier

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Nummer des Bandes in römischen sowie der des Briefes in lateinischen Ziffern und der entsprechenden Seitenzahl im jeweiligen Band der Correspondance complète. Ein neuer Band sowie eine Änderung der verlegenden Institution werden jedoch mit einer Fußnote angezeigt. Rousseau: Les Confessions, OC: I, S. 388.

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zu einer Behauptung gemachte Eindruck, dass Rousseau in seinen autobiographischen Schriften somit der Dichtung Vorzug vor der Wahrheit gegeben zu haben scheint, wird vor allem durch seine Korrespondenz aus der Zeit in der Ermitage evident. In einem Brief vom 24. Dezember 1761 an Michel Huber in Paris idyllisiert Rousseau die sechs Jahre, die er inzwischen in Montmorency lebt, und das durch einen Vergleich seines Lebens mit demjenigen der idyllischen Hirten Menalkas und Amynthas: Il y a six ans que je coule dans ma retraitte une vie assés semblable, à celle de Menalque et d’Amynte, au bien près, que j’aime comme eux mais que je ne sais pas faire; et je puis vous protester, Monsieur, que j’ai plus vécu durant ces six ans que je n’avois fait dans tout le cours de ma vie. (CC: IX, 1607, S. 350)134

Wenn Rousseau schreibt, dass sein Leben in Montmorency – seinem Rückzugsort – jenem von Menalkas und Amynthas gleiche bzw. nahekomme (und nur deshalb nicht völlig wie das ihre sei, weil er nicht wisse, wie dies zu bewerkstelligen wäre), dann ist dies eine forcierte idyllische Überlagerung, weil es sich bei Menalkas und Amynthas um zwei Gessner’sche Hirten handelt. Der Bezug auf die Idyllen liegt Rousseaus Anspielung insofern zweifelsfrei zu Grunde, als sein Korrespondenzpartner der Übersetzer der Idylles & Poëmes Champêtres de M. Gessner ist, die 1762 erstmalig bei Jean-Marie Bruyest in Lyon auf Französisch erscheinen.135 Noch vor der offiziellen Veröffentlichung erhält Rousseau von Huber „ce petit ouvrage“, das dieser seinem Brief vom 20. Dezember 1761 aus Paris beifügt und es als Huldigung an die Verdienste des Empfängers verstanden wissen will: „[R]ecevés-le comme un hommage que je fait à votre merite; car dans le grand nombre de vos admirateurs, vous n’en avés pas de plus ardent que moi.“ (CC: IX, 1598, S. 337) In seinem Antwortbrief an Huber vom 24. Dezember beschreibt Rousseau die nachgerade mirakulöse Wirkung, die die Lektüre der Gessner’schen Idyllen auf ihn gehabt habe. Trotz seines körperlich geschwächten Zustands liest Rousseau das Buch nämlich ohne Unterbrechung zu Ende: J’étois, Monsieur, dans un accés du plus rüel des maux du corps quand je receus vôtre lettre et vos Idylles. Après avoir lû la lettre j’ouvris machinalement le livre, 134

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Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, 52 Bd.e, hrsg. von Ralph Alexander Leigh, Bd. IX: juillet–décembre 1761, Genf: Institut et Musée Voltaire; Madison: The University of Wisconsin Press 1969, S. 350 [Brief Nummer 1607]. Die ersten Eindrücke von Gessners Idyllen erhält Rousseau bereits vorher: Der Brief, den der Zürcher Theologe Leonhard Usteri (1741–1789) am 6. September 1761 aus Paris an Rousseau schickt, enthält „deux feuilles des Idylles de Mr Gessner“ (CC: IX, 1489, S. 117). Für dieses literarische Geschenk bedankt sich Rousseau postwendend. Angesichts ihrer ‚antiken Einfachheit‘ haben die Auszüge aus den Idyllen sein Herz so sehr gerührt, dass er, der sonst nichts lese, die nun von ihm ersehnte vollständige Ausgabe sicherlich lesen werde: „Je suis aussi charmé, Monsieur, des Idilles de M. Guesner [...], j’y trouve une touchante et antique simplicité qui va au coeur; quand l’ouvrage entier paroitra moi qui ne lis rien, je le lirai surement. En attendant, je profiterau de ce que vous m’avez envoyé et dont je vous remercie.“ (CC: IX, 1492, S. 124)

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comptant le refermer aussi-tôt, mais je ne le refermai qu’après avoir tout lû et je le mis à côté de moi pour le relire encore. Voila l’exacte vérité. (CC: IX, 1607, S. 349f)

Die letzte Anmerkung Rousseaus ließe sich auf seine Darstellung der ersten lesenden Begegnung mit Gessners Idyllen zurückbeziehen, mit der er gewissermaßen für den Wahrheitsgehalt des von ihm hier brieflich Berichteten bürgt. De facto scheint sich die Aussage, sofern man das ‚voilà‘ nicht als bloße Interjektionspartikel liest, auf Gessners Texte zu beziehen, in denen sich für Rousseau die volle Wahrheit zeige. Dies begründet er in seinem Brief anschließend zudem dadurch, dass er Gessner gewissermaßen für einen im Geiste Verwandten halte – obschon Rousseau mit ihm nur mittelbar durch seinen Übersetzer bekannt ist: „Je senes que vôtre ami Gessner est un homme selon mon coeur, d’où vous pouvez juger de son traducteur et de son ami par lequel seul il m’est connu.“ (ebd., S. 350) Die ‚Wahrheit‘ in Gessners Idyllen liegt für Rousseau in ihrer gewissermaßen lebenswirklichen Darstellung der Bilder und Empfindungen – beides erscheint ihm als ein Novum in der französischen Sprache, weshalb er Hubers Übersetzung als eine besondere literarische Leistung lobt: „Je vous sais en particulier un gré infini d’avoir osé dépouiller nôtre langue de ce sot et préciseux jargon qui ôte toute vérité aux images, et toute vie aux sentiments.“ (ebd.) In Gessners Idyllen findet Rousseau die Natur gerade deshalb so hochmimetisch ‚abgebildet‘, weil sie in ihnen nicht verschönert dargestellt werde. Aus diesem Grund sei Gessner ein Mensch mit Seele und Geschmack, der die Schönheit der Natur kenne: „Ceux qui veulent embellir et parer la nature sont des gens sans ame et sans goût qui n’ont jamais connu ses beautés.“ (ebd.) Man mag es Rousseau kaum glauben, dass er die Spezifik idyllischer poiesis in Gessners Texten offenbar nicht (er)kennt, weil er die in ihnen dargestellte ‚Natur‘ weder als verschönert (embellir) noch geschmückt (parer) begreift. Den Zweifel an dieser Lesart der Gessner’schen Idyllen, die Rousseau gegenüber Huber darstellt, lässt er selbst aufkommen und zwar in der Nouvelle Héloïse, die zum Zeitpunkt des Abfassens des Briefs an Huber kurz vor ihrer Veröffentlichung steht. Im Roman lässt Rousseau Saint-Preux nämlich über die Artifizialität von Julies Elysium reflektieren: Dieser Privatgarten dient ihr als „lieu retiré“, als ein Rückzugsort also, der zwar nah am Haus gelegen ist, durch seine raffinierte Bepflanzung aber vollkommen davon abgeschieden scheint: „Ce lieu, quoique tout proche de la maison est tellement caché par l’allée couverte qui l’en sépare qu’on ne l’apperçoit de nulle part. L’épais feuillage qui l’environne ne permet point à l’œil d’y pénétrer [...].“136 Die besondere Anlage des Gartens, dessen Künstlichkeit durch seine gärtnerische Kunsthaftigkeit kaschiert wird, lässt Saint-Preux an der ‚Natürlichkeit‘ von Julies Elysium zweifeln: „En considérant tout cela, je trouvois assés bizarre qu’on prit tant de 136

Rousseau: Nouvelle Héloïse, OC: II, S. 470f.

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peine pour se cacher celle qu’on avait prise [...].“137 Indem Saint-Preux sich also verwundert darüber zeigt, „daß man sich so viele Mühe gegeben hatte, um die Mühe zu verbergen, die aufgewendet worden war“,138 erfasst er mit seiner Reflexion das spezifische Programm idyllischer poiesis, die stets darauf zielt, durch einen besonderen Aufwand an Kunsthaftigkeit jene Katastrophe abzuwenden, die – wie in Kapitel 2.1 dargelegt – in der Offenlegung ihrer genuinen Künstlichkeit bestehen würde. Rousseau lässt hingegen keinen Zweifel an seiner Wertschätzung für Gessner und dessen Idyllen sowie für die literarische Leistung ihres Übersetzers aufkommen, was er am Ende seines Briefes an Huber nochmals eindeutig veranschaulicht. Dort beschreibt er nämlich eine ‚idyllische Sehnsucht‘, die durch die Lektüre der Idyllen in ihm geweckt worden sei: „Maintenant vous me faites desirer de revoir encore un printems pour faire avec vos charmans pasteurs de nouvelles promenades, pour partager avec eux ma solitude, et pour revoir avec eux des aziles champestres qui ne sont pas inférieurs à ceux que M. Gessner et vous avez si bien décrits.“ (CC: IX, 1607, S. 350) Rousseaus Wunsch danach, in einem nächsten Frühling bei seinen Spaziergängen Gessners Idyllen zu lesen, präfiguriert letztlich jene identifikatorische Lektüre, wie Goethe sie nur wenige Jahre später seinen Werther betreiben lässt, wenn dieser mit dem Homer unterm Arm nach Wahlheim aufbricht, und wie sie – ein Jahrhundert später – auch Alexander von Warsberg in der idyllischen Realität auf Korfu fortsetzt (und in seinem Reisebericht dann auch gänzlich idyllisch präsentiert). Mit der Umschreibung ‚ländliche Asyle‘ spielt Rousseau auf jene abgeschiedenen Orte an, die ihm – wie er es später in seinen ‚Bekenntnissen‘ darlegt – zu wahrhaft inspirativen Idyllen geworden sind. Im Licht seiner Gessner-Lektüre erscheinen sie ihm nun nicht weniger idyllisch als jene lieblichen Plätze, die Gessner und sein Übersetzer Huber so anschaulich in den Idyllen beschrieben haben. Diese imaginäre Stilisierung seiner Gessner-Lektüre – Rousseau projiziert sein idyllisches Begehren in einen zukünftigen Frühling („desirer de revoir encore un printems“) – veranschaulicht Jacques Berchtolds Feststellung, dass die „poetische Stimmung“, die Gessners Texte „in die literarische Welt des 18. Jahrhunderts“ hineinbringen, Rousseau emotional nachhaltig affiziert haben müsse.139 Es scheint daher tatsächlich „sowohl in Bezug auf die zugleich natürliche wie biblische Sprache wie auch in Bezug auf die Natur [eine] unleugbare Gemeinsamkeit zwischen dem Züricher [sic] und dem Genfer“ zu geben.140 Mit einem Blick in

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Rousseau: Nouvelle Héloïse, OC II, S. 479. Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse, S. 500. Berchtold, Jacques: „Rousseau und Gessner. Die Pastorale der Ursprünge und der Ursprung des Bösen“, in: Delholm, Pascal/Hirsch, Alfred (Hgg.): Rousseaus Ursprungserzählungen, München: Fink 2012, S. 175–192, hier: S. 179. Berchtold: „Rousseau und Gessner“, S. 185.

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Rousseaus Briefe konstatiert Berchtold deshalb eine „erstaunliche Nähe“ zwischen Gessners Idyllen sowie Rousseaus erstem und zweitem Discours.141 Es ist leicht, diese Nähe zweifelsfrei nachzuweisen – vor dem Hintergrund des hier Dargelegten lässt sie sich als idyllische Überlagerung konkret fassen: Die ‚Nähe‘ zu Gessner ergibt sich insbesondere aus Rousseaus nachträglicher Beschreibung der idyllischen Genese seiner philosophischen Schriften in den autobiographischen. Diese belegen, dass Rousseaus philosophische (und auch literarische) Texte nachweislich unter der idyllischen Überlagerung durch seine Gessner-Rezeption verfasst worden sind. Die idyllischen Überlagerungen, wie sie sich bei Rousseau gerade darin zeigen, dass er ‚sich selbst‘ nachträglich mit Gessner liest, ermöglichen es deshalb außerdem, die Verkopplung seiner autobiographischen, literarischen und philosophischen Schriften als ein durch die Rezeption von Rousseaus Gessner-Rezeption bedingtes diskursives Phänomen zu begreifen. Diese Diskursivierung lässt sich, wie nachfolgend gezeigt wird, bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausmachen und hinsichtlich ihres maßgeblichen Einflusses auf die Idyllentheorie um 1800 untersuchen.

3.1.3Idyllentheoretische Nachwirkungen: Die Rezeption von Rousseaus Gessner-Rezeption Rousseau kann im 18. Jahrhundert sicherlich als „der prominenteste Rezipient“ von Gessners Idyllen gelten,142 die gerade in Frankreich „nicht nur in den autorisierten französischen Übersetzungen gelesen, sondern auch frei in Verse übertragen und dramaturgisch zu Opern, Ballettpantomimen, Theaterstücken und Singspielen verarbeitet“ und über Frankreich hinaus auch „an den renommiertesten Bühnen in [...] München, Berlin und Wien zur Aufführung gebracht wurden“.143 Dergestalt lösen die Idyllen gerade in Frankreich eine regelrechte „Germanomie“ aus.144 Bedingt ist ihr europäischer Erfolg durch den im 18. Jahrhundert aufkommenden Philhelvetismus – ein kulturelles Phänomen, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem durch die Rousseau-Rezeption in ganz Europa geprägt ist. Sie schließt Rousseaus eigene Rezeption von Gessner mit ein, denn er ist unter den vielen Leserinnen und Lesern der Idyllen einer der ersten, der sie „in einen Zusammenhang mit der Heimat des Dichters [...] bringt“.145 141 142 143

144 145

Berchtold: „Rousseau und Gessner“, S. 192. Hentschel: Mythos Schweiz, S. 40. Waldkirch, Bernhard von: „‚Les poètes-peintres ne pensent point comme les autres.‘ Überlegungen zur französischen Gessner-Rezeption 1789–1830“, in: ders. (Hg.): Idyllen in gesperrter Landschaft. Zeichnungen und Gouachen von Salomon Gessner (1730–1788), München: Hirmer; Zürich: Kunsthaus Zürich 2010, S. 143–157, hier: S. 146. Berchtold: „Rousseau und Gessner“, S. 177. Hentschel, Uwe: „Salomon Gessners Idyllen und ihre deutschsprachige Rezeption im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert“, in: Orbis Litterarum (54) 1999, S. 332–349, hier: S. 335.

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Für Rousseau erscheint die Schweiz nachgerade als (nachweltliches) Paradies, weil er in seinem Brief von 2. September 1762 an Leonhard Usteri in Zürich ausmalt, dass er sich in diesem ‚Land der Freiheit‘ gerne zur Ruhe setzen und betten lassen würde: „[J]e me croirai dédomagé de toutes les miséres de ma vie si je puis la finir au milieu de vous et laisser mes os dans un pays de liberté.“ (CC: XIII, 2129, S. 7) Diese idyllische Überlagerung seiner eigenen Wahrnehmung der Schweiz gewinnt Rousseau insbesondere aus der Lektüre von Gessners Idyllen, wie er Usteri weiter berichtet: „Tel est l’effet de l’impression que votre vüe, vos discours, vos lettres, [...] les Idylles, le Socrate rustique [...] ont fautte en moi.“ (ebd.) Mit dem ‚rustikalen Sokrates‘ spielt Rousseau auf jenen Schweizer Bauern an, von dem ihm Usteri erstmalig in seinem Brief vom 20. November 1761 berichtet und den dieser darin einen „bon paison“ nennt, der zugleich „un grand philosophe“ sei (CC: IX, 1555, S. 254). Gemeint ist Jacob Gujer, den Hans Kaspar Hirzel in seiner Schrift Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers unter dem Namen Kleinjogg in den intellektuellen Kreisen außerhalb der Schweiz bekannt macht.146 Gegenüber Rousseau stellt Usteri das Wirken dieses „Schweizer Musterbauern“ als ein nachgerade idyllisches dar,147 denn dessen Familie lebe untereinander in der perfekten Harmonie von Gleichheit und verkörpere deshalb einen idealen Staat: „Ce paison se flatte que ses enfans suivant ces memes maximes pourront toujours vivre ensemble dans une parfaite harmonie, de sorte que leur famille ressemblera a un petit etat dans le systeme de l’égalité.“ (ebd., S. 258) Usteri schickt Rousseau die französische Übersetzung von Hirzels ‚rustikalem Sokrates‘ im Juli 1762 (vgl. CC: XII, 2026, S. 89ff). Nach der ersten Zusendung einiger Idyllen von Gessner im September des Vorjahres erweist er sich damit erneut als kommunikatives Relais: Durch Usteri steht Rousseau weiterhin im Medium Brief mit der Zürcher Gesellschaft in Verbindung und kommuniziert insbesondere auf diese Weise indirekt mit Gessner. Das im März 1763 unterbreitete Angebot, seine Schriften „avec toute l’exactitude & toute l’Elegance possible“ in Gessners Verlag zu drucken,148 lehnt Rousseau ab, weil er – wie er postwendend durch Usteri an Gessner antworten lässt – die Schreibfeder längst fallen gelassen habe: „Mais vous savez j’ai quitté la plume“ (CC: XV, 2580, S. 353). Auch wenn Rousseau nie nach Zürich reisen wird – obwohl er dieses Vorhaben mehrfach ankündigt (vgl. CC: XII, 2129), dann aus gesundheitlichen Gründen aber verwirft (vgl. CC: XII, 2580; CC: XVII, 2825) –, so zählt er Gessner zu seinen geschätzten Freunden, von denen Usteri ihm stets brieflich Nachricht gibt: „les 146

147 148

Hirzel, Hans Kaspar: Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers, Zürich: Heidegger und Campagnie 1761. Hentschel: Mythos Schweiz, S. 40. Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, 52 Bd.e, hrsg. von Ralph Alexander Leigh, Bd. XV: janvier–mars 1763, Oxford: The Voltaire Foundation; Thrope Mandeville House 1972, S. 269 [Brief Nummer 2531].

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dignes amis dont vous me parlez“ (CC: XV, 2580, S. 354). Wenn Uwe Hentschel also herausstellt, dass das im 18. Jahrhundert aufkommende Phänomen des Philhelvetismus ab den 1750er Jahren insbesondere unter der „Wirkungsmächtigkeit von Geßners Idyllen“ stehe, weil „sie als Texte gelesen wurden, die Schweizer Zustände beschreiben“,149 dann scheint dieser zeitgenössische Rezeptionsmodus, durch den die Idyllen erstens „auf Schweizer Landschaften verkürzt“ und zweitens „nach ihrem Realitätsgehalt und ihrem Wirkungspotential befragt werden“,150 nur mittelbar einer Identifikation „mit Rousseaus ersten zivilisationskritischen Schriften“ geschuldet zu sein,151 als viel unmittelbarer einer Rezeption von Rousseaus eigener Gessner-Rezeption. Tatsächlich ist Rousseau (mitsamt seiner Gessner-Rezeption) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ‚in aller Munde‘. Dies belegt beispielsweise ein Brief, den die Berner Aufklärerin Julie von Bondeli – als augenscheinliche „admiratrice passionnée de R[ousseau]“152 – am 21. Januar 1763 an Johann Georg Zimmermann verschickt. Darin schildert sie dem in Hannover tätigen Schweizer Arzt von ihrem Aufenthalt bei dem Berner Offizier Niklaus Anton Kirchberger und dessen Anekdoten über Rousseau. So berichtet von Bondeli, was ihr über Rousseaus erste Lektüre der Gessner’schen Idyllen erzählt wurde. Für die Authentizität dessen, was sie von Kirchberger mitgeteilt bekommt und nun im brieflichen Bericht an Zimmermann kolportiert, bürgt der erzählerische Modus, den von Bondeli wählt. Sie lässt Rousseau nämlich selbst zu Wort kommen, indem sie ihn ‚zitiert‘: „J’étais malade, j’érois au Lit, je soufrais comme un miserable, on m’apporte au sortir de la Presse la Trad[uction] des Idilles de Gesner. Je com149 150

151 152

Hentschel: „Salomon Geßners Idyllen“, S. 339f. Hentschel: „Salomon Geßners Idyllen“, S. 336. Derartige Bezüge erscheinen durch eine der 1772 erschienenen ‚neuen Idyllen‘ Gessners gerechtfertigt: In „Das hölzerne Bein“ stellt Gessner in einer Anmerkung den historischen Bezug auf die 1388 stattgefundene Schlacht bei Näfels her (vgl. Gessner, Salomon: „Das hölzerne Bein. Eine Schweitzer Idylle“, in: ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 132–136, hier: S. 134). Von dieser Schlacht berichtet ein kriegsversehrter alter Mann einem jungen Hirten. Auffällig ist dabei der Gebrauch des materialen Topos in Form von Vergleichen der für ihre Freiheit kämpfenden Schweizer mit landschaftlichen Elementen: So soll der „engegeschlossen[e] Haufen“ der Schweizerischen Freiheitskämpfer genauso „undurchdringlich wie der hinter [ihnen] stehende Fels“ gewesen sein, während sich ihr Angriff „wie ein Bergfall“ über die Feinde ergossen, diese „vor sich her“ getrieben und sie schließlich wie „die Bäumer zersplittert“ haben (ebd.). Die Begegnung des Hirten mit dem alten Mann nimmt ein nachgerade kitschiges Ende: Der Hirte erweist sich nämlich als Sohn jenes Retters in der Schlacht, dem der alte Mann es nie hat „danken können, daß ich lebe“ (ebd., S. 135). Aus Freude über ihre Begegnung adoptiert der Mann den Hirten symbolisch, indem er ihn mit zu sich nach Hause nimmt und ihm seine Tochter zur Frau gibt. Hentschel: „Salomon Geßners Idyllen“, S. 334. Eigeldinger, Frédéric S.: Stichwort ‚Bondeli, Julie von‘, in: Trousson, Raymond/Eigeldinger, Frédéric S. (Hgg.): Dictionnaire de Jean-Jacques Rousseau, Paris: Honoré Champion 1996, S. 84f, hier: S. 84.

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mence a lire et je ne soufris plus que lorsque le Livre fut finir.“ (CC: XV, 2445, S. 88) Offenbar hat das, was Rousseau bereits zwei Jahre zuvor brieflich Michel Huber dargelegt hat, nicht bloß in Zürich ‚die Runde‘ gemacht – die persönliche Darstellung seiner Gessner-Rezeption besitzt auch noch Jahre später einen großen gesellschaftlichen Unterhaltungswert. Rousseaus ‚diskursive Verselbstständigung‘ belegen des Weiteren zwei Briefe, die der Theologe Jakob Heinrich Meister im Juni 1764 aus Bern an seinen Vater verschickt. Darin berichtet er von seinen Unterhaltungen mit Rousseau, die er als eine Freude beschreibt, durch die jedes empfindsame Herz verzaubert werde: „ce seul plaisir doit enchanter tout coeur sensible“.153 Um diesen ‚Zauber‘ auch in seinen nachträglichen brieflichen Aufzeichnungen wirken zu lassen, benutzt Meister denselben Modus wie Julie von Bondeli, denn er gibt das, was Rousseau ihm erzählt hat, in wörtlicher Rede wieder und markiert dieses darstellerische Verfahren: „laissons parler Rousseau luimême.“ (CC: XX, 3311, S. 125) So ist es Meister, durch den die Anekdote überliefert ist, dass Rousseau sich für jeden Tag des Jahres eine neune Gessner-Idylle zur Lektüre wünsche und dass diese Lektüren in idyllischer Einsamkeit „dans un lieu consacré à la simple Nature“ erfolgen sollen (CC: XX, 3326, S. 149). Laut Meister liege Rousseaus Wertschätzung für Gessner insbesondere darin begründet, dass dessen Texte zu den wenigen gehören, die Rousseau für eine wiederholte Lektüre geeignet halte: „Il n’aime“, teilt Meister mit, „en géneral que des livres qu’il puisse relire“, und dazu gehören unter den ‚modernen‘ Autoren: „Buffon, Montesquieu et Guesner“ (ebd., S. 153). Obschon zurückgezogen in seiner Einsiedelei, rezipiert Rousseau auch die negative Gessner-Kritik, die der französischen Übersetzung der Idyllen gilt. Auch das lässt Meister in seinem Brief Rousseau ‚direkt‘ mitteilen: „La Traduction de Mr. Huber me paroit excellente. On ne peut presque pas comprendre que l’original soit mieux. J’ai dit des François qui étaient faché de voir dans les Idylles le mot cruche, qu’ils étoient bien des cruches eux-mêmes.“ (ebd., S. 149) In einer nachgerade idyllischen Geste – die an Gessner Idylle „Der zerbrochene Krug“ erinnert, auf die Rousseau seinerseits hier offenkundig anspielt – zerbricht er nun selbst den ‚Krug der Kritik‘, um die Kritiker der Idyllen als Trottel zu entlarven – das französische ‚cruche‘ bedeutet nämlich sowohl ‚Krug‘ als auch ‚Trottel‘.154 153

154

Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, 52 Bd.e, hrsg. von Ralph Alexander Leigh, Bd. XX: mai–juillet 1764, Oxford: The Voltaire Foundation; Thrope Mandeville House 1972, S. 125 [Brief Nummer 3311]. Vgl. Stichwort ‚cruche‘, in: Micro Robert en poche, hrsg. von Paul Robert, Bd. I: A à L, Paris: Dictionnaire Le Robert 1973, S. 253. – Den titelgebenden ‚ Krug‘ in Salomon Gessners Idylle erklärt Uwe C. Steiner bei seiner Applikation der Actor Network Theory auf diesen Text nachgerade ‚rousseauistisch‘ zum Symbol der „verlustig gegangen[en] Natur“ (Steiner, Uwe C.: „Die Sachen als Streitsache der Idylle“, in: Brandt, Frauke/Fulda, Daniel (Hgg.): Die Sachen der Aufklärung, Hamburg: Meiner 2012, S. 253–264, hier: S. 255). Indem der Krug zuvor „die faunische

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Gemeinschaft als materielle und symbolische Ökonomie“ gestiftet hat, erweise sich dieses ‚Ding‘ als eine „Sache der Kultur“, denn „es löst gleichsam das Versprechen seiner Etymologie ein, es bewirkt und es ist die Versammlung“ (ebd., S. 254, Hervorhebung i.O.). Der Krug stellt somit ein „Quasi-Objekt“ dar, denn er ist „ein Ding, das durch Zirkulation, Einschluss- und Ausschlussprozeduren Kollektive hervorbringt“ (ebd.). Während Steiner die Ding-Etymologie auf den Krug überträgt, belegt bereits die Doppelbedeutung des Signifikanten die ‚Dinghaftigkeit‘ des Krugs: ‚Krug‘ meint nämlich sowohl ein kannenartiges Gefäß als auch eine Schenke bzw. ein Wirtshaus (vgl. Stichwort ‚Krug‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen [1989], hrsg. von Wolfgang Pfeifer, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 82005, S. 738). Genau davon singt Gessners Faun: „Wenn bey mir die Brüder sich sammelten, dann sassen wir rings um den Krug! Wir tranken, und jeder der trank, sang die darauf gegrabene Geschichte, die seinen Lippen die nächste war. Itzt trinken wir nicht mehr, ihr Brüder! aus dem Krug, itzt singen wir nicht mehr die Geschichte, die jedes Lippen die nächste ist“ (Gessner, Salomon: „Der zerbrochene Krug“ [36,3ff], in: ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 35ff). Das, was der Faun besingt, erweist sich letztlich als Elegie, denn: „Er ist zerbrochen, ach er ist zerbrochen, der schönste Krug! Da liegen die Scherben umher.“ (35,27f) Zerbrochen taugt der Krug weder als Trinkgefäß noch dazu, eine Versammlung zu bewirken – aus dem Quasi-Objekt ist ein ‚idyllischer Sachschaden‘ geworden: Ding und Sache sind gespalten. Diese Spaltung erklärt Steiner zum „kaum verhohlene[n] Kern der Idyllenproblematik“ (Steiner: „Streitsache der Idylle“, S. 255). Dergestalt macht also auch die ANT die katastrophische Gefährdung der Idylle evident – das wechselseitig produktive Verhältnis von Idylle und Katastrophe vermag sie allerdings nicht zu erfassen. Auf ebendieses verweist die Doppelsemantik von ‚Krug‘, die angesichts des vom Faun beklagten Zerbrechens des Trinkgefäßes nachgerade schadensregulierend wirkt: Im Krug, den der Faun besingt, sind Ding und Sache weiterhin eins, zumal Gessners Idylle die durch das Zerbrechen des Krugs eingetretene Katastrophe wieder po(i)etisch produktiv macht. Obwohl zerbrochen, fungiert der Krug nach wie vor in seiner idyllischen Funktion, denn er wird Gegenstand der Ekphrasis des Fauns. Dieser besingt nacheinander die drei mythischen Szenen, die auf dem Krug dargestellt sind: Pan mit der Nymphe Echo, Zeus’ Raub der Europa und schließlich das Liebeslager des Bacchus. Auch wenn es beim Faun heißt, dass der „schöne Bacchus“ sein Lager, das aus „einer Laube von Reben“ besteht (36,29f), mit einer Nymphe teilt, dürfte diese Szene die Vermählung von Dionysos und Ariadne darstellen. Darauf weisen sowohl die erwähnten „Amors“ hin als auch die „geflekten Tieger“ (36,34ff), bei denen es sich zweifelsfrei um jene Leoparden handeln muss, die seit der Antike als das Symboltier des Dionysos gelten (vgl. Stichwort ‚Leopard‘, in: Becker, Udo: Lexikon der Symbole [1998], Freiburg/Basel/Wien: Herder 72006, S. 170). Erinnernd setzt der Faun den zerbrochenen Krug also imaginär wieder zusammen und macht seine Trauer darüber, dass dieser nun nicht länger bei den Gelagen mit seinen Brüdern zum Gegenstand ihres idyllischen Gesangs werden kann, zum Anlass seines Klagegesangs. Ihn stimmt der Faun allerdings nur an, um eine weitere Katastrophe abzuwenden, denn eine Gruppe „jung[er] Hirten“ (35,8) hat den Unglücklichen zuvor an einen Baum gebunden und fordert für seine Freilassung ein idyllisches Lied: „Wir binden dich nicht los, sprachen sie, du singest uns denn ein Lied.“ (35,20f) Gessners Idylle vom zerbrochenen Krug führt also das idyllische Programm der katastrophischen Gefährdung performativ vor, indem aus der doppelten Katastrophe, die den Faun getroffen hat, der Anlass seines po(i)etischen Tuns wird: „Was soll ich euch singen, ihr Hirten? sprach der Faun, von dem zerbrochenen Krug will ich singen, da sezet euch im Gras um mich her.“ (35,21ff) Man mag sich über dieser Idylle Gessners den Kopf mit Martin Heidegger zerbrechen(!), um sie als Veranschaulichung einer „Unzuhandenheit des Gegenständlichen“ zu denken (Steiner: „Streitsache

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Für Rousseau ist Gessner „un Auteur charmant“, wie es Meister darstellt – und zugleich Rousseaus Begründung dafür mitteilt, denn ihm erscheine Gessner als „[un] home a l’èsprit si pénétré de ses peintures champetres“ (CC: XX, 3326, S. 149). Gerade deshalb müsse ihm die gegenwärtige Welt lediglich abscheulich vorkommen: „Que le monde d’aujourd’hui doit lui paroitre hideux!“ (ebd.) In Rousseaus Wahrnehmung scheint Gessner gewissermaßen aus der Zeit gefallen – Rousseaus Imaginationen seines ihm persönlich unbekannten ‚Wahlverwandten‘ lesen sich letztlich wie die identifikatorische Projektion des eigenen Selbstbildes auf Gessner. Der Umstand, dass Rousseaus Wertschätzung für den Zürcher Autor, dessen Idyllen sowie für die Schweiz brieflich kolportiert und auf diese Weise diskursiv unter seinen Zeitgenossen verbreitet werden, belegt somit den nachhaltigen Einfluss des Genfer Philosophen auf den europäischen Philhelvetismus.155 Rousseaus Gessner-Rezeption steht jedoch nicht nur exemplarisch für all jene identifikatorischen Lektüren von Gessners Idyllen; sie avanciert regelrecht zu deren Paradigma. Dementsprechend ist es nach Rousseaus Gessner-Rezeption und angesichts solcher Stilisierungen nur noch ein kleiner Schritt, um aus den Idyllen die Rückkunft eines Goldenen Zeitalters herauszulesen. Dieses projizieren die zeitgenössischen RezipientInnen der Gessner’schen Texte in die Schweizer Landschaften, um so vor allem in den Hirten der Idyllen jenen verloren geglaubten idealen Zustand der Menschen wiederzuerkennen, wie sie ihn in Rousseaus Naturzustand beschrieben glauben. Einen Beleg für diese identifikatorisch-projektiven Lektüren im Sinn des Philhelvetismus liefert Johann Jakob Engel mit seiner 1773 in der von Christian Felix Weisse und Johann Gottfried Dyk in Leipzig herausgegebenen ‚Neuen Bibliothek‘ veröffentlichten Rezension von Gessners ‚Neuen Idyllen‘. Engel erkennt in den darin präsentierten „Gegenden“ die „wahre Natur“ und betont, dass Gessners Hirten eine Darstellung jenes ursprünglich

155

der Idylle“, S. 256). Man kann den Gesang des Fauns aber auch als den idyllischen Einbruch des Imaginären ins Reale deuten, weil der für die faunischen Versammlungen unbrauchbar gewordene Krug weiterhin Anlass und Gegenstand eines zwar unter körperlicher Gewalt erzwungenen, aber dennoch idyllisch zu nennenden Gesangs ist. Für dessen Dauer konstituiert der zerbrochene Krug also ein letztes Mal eine Gemeinschaft, die insofern idyllisch erscheint, als sie nicht von Dauer ist: „So sang der Faun, und die jungen Hirten banden ihn los und besahen bewundernd die Scherben im Gras.“ (37,5f) Während Gessner und die diskursiv verbreitete Rezeption seiner Idyllen durch Rousseau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Popularisierung des Philhelvetismus in Europa beigetragen hat, wird dieser in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts insbesondere durch Albrecht von Hallers Gedicht „Die Alpen“ (vor)geprägt, das der Naturforscher im Anschluss an seine im Jahr 1728 unternommene Forschungsreise durch die Schweiz verfasst (vgl. hierzu: Hentschel: Mythos Schweiz, S. 17ff; sowie: Faessler, Peter: „Reiseziel Schweiz. Freiheit zwischen Idylle und ‚großer Natur“, in: Bausinger, Hermann/Beyer, Klaus/Korff, Gottfried (Hgg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München: C.H. Beck 1991, S. 243–248).

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idyllischen Zustands des Menschen seien, von dem dieser sich zusehends entfremdet habe:156 Denn wo ist doch der Mensch, der nicht dann und wann eben das gewesen wäre, was seinem inneren Charakter nach ein Geßnerischer Schäfer ist? der sich nicht zu mancher Stunde von allen andern Banden, außer den Banden der Natur, frey gefühlt hätte? in dessen Seele nicht oft alle die Begierden geschwiegen hätten, die nur in größern Gesellschaften erwachen konnten? dessen Leidenschaften nicht zuweilen völlig unschuldig, ruhig, gemäßigt gewesen wären? der nicht in dieser gutherzigen Laune die Menschen um sich her, als eben so gut, eben so unschuldig, mit einem allgemeinen Wohlwollen betrachtet hätte? [...] Freylich war ein solcher Charakter, ein solcher Zustand nur allzuvorübereilend; die entschlummerten Leidenschaften erwachten wieder; die Menschen um uns her nahmen die alten Unarten wieder an, wir wurden wieder unzufrieden mit uns selbst, und unzufrieden mit andern.157

Diese Passage aus Engels Rezension liest sich wie ein Referat über Rousseaus ersten und zweiten Discours. Den Eindruck bestätigt das Fazit, das Engel nachfolgend zieht: Implizit transformiert er darin das Konzept des Naturzustands, wie es Rousseau im zweiten Discours entwirft, in die Formel eines ‚Zurück zur Natur‘. Nachdem Engel zuvor die „Aehnlichkeit“ zwischen den Gessner’schen „Scenen“ und „den seligsten Stunden, die wir gelebt“ haben, nachgezeichnet hat,158 kann er nämlich resümieren: Gleichwohl waren dieser Charakter und dieser Zustand wirklich in der Natur; der Dichter hat weiter nichts gethan, als daß er sie fixiert, daß er den flüchtigen Empfindungen Dauer gegeben, daß er alles, was der Mensch in diesen süßen Augenblicken nur vergessen hatte, völlig, als nie vorhanden, entfernet hat. Ein Geßnerischer Schäfer also ist, seinem innern Charakter nach, kein Schattenwesen von einem Menschen; er ist das, was wir selbst entweder sind, oder gewesen sind; er führt uns in die süßesten Augenblicke unsers Lebens wieder zurück: und wir sollten nicht Theil an ihm nehmen?159

Nachdem Engel zuerst Gessners Idyllen indirekt als literarische Illustration von Rousseaus Konzept des Naturzustands gelesen hat, formuliert er mit diesem Fazit nun eindeutig ein durch diese Texte bewirktes ‚Zurück zur Natur‘. Engels positive Rezension steht 156

157 158 159

Engel, Johann Jakob: „Salomon Geßner Schriften. Fünfter Band. Zürich, bey Orell, Geßner und Comp. 1772. 8. 273 S. [Rezension]“, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 14. Bd./1. Stück, 1773, S. 80–105, hier: S. 97. Die Rezension erscheint anonym; mit Verweis auf den von Ernst Theodor Voss herausgegeben Faksimile-Nachdruck von Engels Über Handlung, Gespräch und Erzählung von 1774 macht Carsten Behle Engel zweifelsfrei als den Rezensenten aus (vgl. Behle, Carsten: „Heil dem Bürger des kleinen Städtchens“. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert, Berlin/New York: de Gruyter 2002, S. 8). Engel: „Salomon Geßners Schriften“, S. 95. Engel: „Salomon Geßners Schriften“, S. 94. Engel: „Salomon Geßners Schriften“, S. 95f.

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dabei einer anderen diametral entgegen: Goethes im gleichen Jahr erschienene Besprechung der Idyllen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen, worin dieser explizit von „dem Schattenwesen Geßnerischer Menschen“ spricht.160 Wenn Engel feststellt, dass Gessner „weiter nichts gethan“ habe, als mit seinen Hirten das zu ‚fixieren‘, was der Natur nach der ursprüngliche menschliche Charakter und Zustand sei, dann ist dies keinesfalls eine Schmälerung der literarischen Leistung, sondern ein Lob der Gessner’schen Mimesis. Zudem erweist sich das, was Engel bei Gessner rühmt, als genau jenes po(i)etische Verfahren, das Alexander von Warsberg einhundert Jahre später bei Homer erkennt und als ‚natürliche Mimesis‘ wertschätzt: das Abschreiben der Landschaften aus der Natur. Indem Engel explizit auf Gessners ‚idyllischen Plagiarismus‘ hinweist, bürgen dessen Hirten als literarische Veranschaulichung für Rousseaus Naturzustand, schließlich beschreibt dieser ihn im zweiten Discours als nicht mehr existierend, vielleicht niemals gewesen noch jemals möglich: „un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais“ (D II, 123). Entsprechend begründet Engel die Wahl des ruralen Schauplatzes in Gessners Idyllen: Um nun aber diesen Charakter zu fixieren, diesen flüchtigen Empfindungen Dauer zu geben, konnte der Dichter seine Menschen unmöglich in der großen Gesellschaft lassen, wo sie der Wirbel unruhiger Leidenschaften, eben wie uns, würde ergriffen haben [...]. Er mußte seine Menschen aufs Land versetzen; aber frey von allen den sklavischen Banden, die unsern Landmann mit der großen Gesellschaft des Staats zusammenknüpfen. Eine solche Unabhängigkeit kleiner Gesellschaften ist wirklich gewesen, und ist auch noch wirklich; ja wenn sie es auch nie gewesen wäre, so würde doch die Fiktion des Dichters für die Einbildungskraft eine der leichtesten seyn.161

Um es noch einmal deutlich zu machen: An keiner Stelle seiner Rezension spricht Engel von Rousseau, noch stellt er explizit einen Zusammenhang zwischen diesem und Gessner her – trotzdem machen die hier zitierten Passagen evident, dass Engel Gessners Idyllen offenbar mit Rousseau liest. Diese im 18. Jahrhundert begründete ‚rousseauistische‘ Perspektive der Rezeption setzt sich bis ins 20. Jahrhundert fort:162 In seiner Einleitung für den 1922 erschienenen Band Salomon Geßners Dichtungen erklärt Hermann Hesse nachgerade kitschig, dass die „Gedanken und Stimmungen Rousseaus“ nicht nur

160

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Goethe, Johann Wolfgang: „Moralische Erzählungen und Idyllen von Diderot und S. Geßner. Zürich 1772. 8. 273 S. [Rezension]“, in: ders.: Werke. Weimarer Ausgabe I/37, Weimar: Böhlaus 1896, S. 284–288, hier: S. 287. Engel: „Salomon Geßners Schriften“, S. 96. Mit diesem Prädikat seien all jene ‚Überlagerungen‘ bezeichnet, die vorderhand zwar an Rousseaus theoretische Schriften anschließen sollen, jedoch vielmehr auf deren Diskursivierung gründen, wie z.B. die Idee eines ‚retour à la nature‘.

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das „Naturgefühl“ des 18. Jahrhunderts, sondern auch das „Lebensgefühl“ der Gessner’schen Idyllen nachhaltig geprägt haben.163 Das, was Rousseau und insbesondere die Rezeption seiner Gessner-Rezeption tatsächlich geprägt hat, ist aber vor allem die Idyllentheorie um 1800, denn die Reflexionen Friedrich Schillers und Jean Pauls schreiben jene „Geschichte der Zivilisation“ modifizierend weiter, wie sie im Zuge der Rezeption von Rousseaus Konzept des Naturzustands „als fortschreitende Negation des Naturgegebenen“ aufgefasst wurde.164 Die idyllentheoretischen Modifikationen dieser Zivilisationsgeschichten betreffen deren Entwurf eines regressiven Modells von „Fortschritt, dem ein Verlust der ursprünglichen Unschuld“ des Menschen eingeschrieben ist165 – und zwar als unterstellte Entfremdung von seinem ‚natürlichen‘ Zustand, was dem das antike Geschichtsverständnis begründenden Verlust des Goldenen Zeitalters entspricht. In dieser Perspektive wirkt Rousseaus Naturzustand in den Idyllentheorien um 1800 tatsächlich „als latente generative Matrix aller historisch gewordenen Realitäten“ nach.166 Dies ist durch die philosophische Rezeption Rousseaus in Deutschland bedingt, die jener Formel des ‚retour à la nature‘ – auf die sich Rousseaus Konzept des Naturzustands in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diskursiv verkürzt hat – insofern eine produktive Wendung gibt, als der in der Formel implizierten „aporetischen Bifurkation ein (in der Folge dialektisches) lineares, telelogisches“ Verständnis von der vermeintlichen ‚Rückkehr zur Natur‘ unterstellt wird.167 Darunter versteht Link die in der ‚retour‘-Formel eingeschriebene „Trennung von ‚état de la nature‘ und ‚état de société‘“ im Sinn einer „antithetisch[en] Verzweigung ohne Möglichkeit einer ‚Versöhnung‘“.168 Obschon diese unversöhnliche Trennung keine ist, die – wie oben bereits gezeigt– Rousseau formuliert, sondern eine, die sich als Effekt idyllischer Überlagerungen durch die Rezeption von Rousseaus Schriften einstellt, wirkt sie insofern in der Idyllentheorie um 1800 produktiv nach, als diese gewissermaßen um eine ‚Aussöhnung‘ bemüht ist und deshalb das ‚Zurück‘ des ‚retour à la nature‘ als eine zukünftige Möglichkeit konzeptioniert. Diese Überlegungen, die Schiller in seinem Aufsatz „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ (1795) anstellt und damit indirekt Jean Pauls Idyllentheorie in der Vorschule der Ästhetik (1804/1813) beeinflusst, sind nicht nur die für eine theoretische Fassung der Idylle wirkmächtigsten, sie stellen ihrerseits vor allem eine für den Bereich der Literatur produktiv gemachte Weiterführung der Auseinandersetzung mit Rousseaus Konzept des Naturzustands bei Johann Gottlieb Fichte und Immanuel Kant dar. 163

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Hesse, Hermann: „Salomon Geßner“, in: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden [1970], hrsg. von Volker Michels, Bd. XXII: Schriften zur Literatur 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 116– 129, hier: S. 117. Starobinski: Eine Welt von Widerständen, S. 41. Starobinski: Eine Welt von Widerständen, S. 41. Link: Hölderlin-Rousseau, S. 53. Link: Hölderlin-Rousseau, S. 57. Link: Hölderlin-Rousseau, S. 57.

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Dabei erscheint diese Auseinandersetzung als eine, die erstens die ‚retour‘-Formel diskursiv nachhaltig festigt und diese zweitens endgültig idyllisch ausrichtet, weil sie untrennbar mit dem Goldenen Zeitalter verkoppelt wird (obwohl es Rousseau in den beiden Discours doch niemals erwähnt). In den Collegentwürfen aus den 1780er Jahren, auf denen Immanuel Kants Vorlesungen zur Anthropologie basieren und die im handschriftlichem Nachlass zu den „Reflexionen zur Anthropologie“ in der Akademie Ausgabe seiner gesammelten Schriften enthalten sind, nennt Kant die „hochste Cultur“ als „Naturbestimmung des Menschen“ und stellt heraus, dass dieser Zustand nur durch die „bürgerliche Gesellschaft“ zu erreichen sei.169 Entsprechend müsse diese bürgerliche Gesellschaft als „ein[e] vollkommen[e] Gesellschaft“ angesehen werden (AA 1521, S. 887). In deren Errichtung liege nämlich der „Naturzweck“ des Menschen, dessen Aufgabe es sei, erstens seine Art zu erhalten und diese zweitens zu perfektionieren (ebd., S. 886). Kants Vorstellung, dass der Mensch seine gesellschaftliche „Vollkommenheit“ nur durch Perfektionierung erreiche (ebd., S. 887), korrespondiert nicht nur auf der lexikalischen Ebene mit den Vorstellungen, die Rousseau in seinen philosophischen Schriften entwickelt – Kant knüpft unmittelbar an diese an, wenn er in Bezug auf die menschliche Entwicklung festhält: „Perfectioniert sich von generation zu generation bis zum Luxus [...]. Durch Kunst schickt er sich in alle climata. Naturzustand. Goldenes Zeitalter.“ (ebd., S. 886) Ganz buchstäblich stellt Kant also das nebeneinander, was sich bei Rousseau zwar nirgends als direkt miteinander verknüpft finden lässt, im Zuge der Rousseau-Rezeption und durch entsprechende idyllische Überlagerungen aber stets ‚zusammengedacht‘ wurde. Wenn Kant die Perfektionierung des Menschen bis zum Luxus führt, dann entspricht dies genau jener fortschrittskritischen Perspektive, die Rousseau in seinem zweiten Discours entwickelt. Doch Kants Rousseau-Rezeption beschränkt sich ganz offenkundig nicht auf den zweiten Discours – die kurze Passage in seinen Entwürfen ‚denkt‘ ganz verschiedene Positionen Rousseaus zusammen: Während der dort erwähnte Naturzustand ebenfalls auf den zweiten Discours verweist, findet sich das ‚l’âge d’or‘ bei Rousseau im Contrat social. Des Weiteren ist die von Kant dargestellte Vorstellung, dass sich der Mensch durch Kunst – und gemeint ist damit die zur weiteren Vervollkommnung gebrachte Ausbildung seiner perfectibilité und aller darauf beruhenden Fertigkeiten – „in alle climata“ einfüge und an diese anpasse, eine Idee, die Rousseau in den Anmer-

169

Kant, Immanuel: „Reflexionen zur Anthropologie“ [Nr. 1521], in: Kant’s gesammelte Schriften [Akademie Ausgabe], hrsg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XV, 3. Abt.: Handschriftlicher Nachlass, 2. Bd., 2. Hälfte, Berlin/Leipzig: Walter der Gruyter & Co. 1923, S. 885–892. Im Folgenden werden alle Zitate unter Angabe der Sigle ‚AA‘ gefolgt von der entsprechenden Nummer samt Seitenzahl ohne weitere Fußnote direkt im Text belegt.

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kungen zum zweiten Discours andeutet, konkret aber in seinem 1761 fertiggestellten und 1781 posthum veröffentlichten Essai sur l’origine des langues ausführt.170 Da sich die „Cultur“ für Kant als „[d]er letzte Zweck der Natur“ erweist (ebd., S. 888), ist für ihn der von Rousseau beschriebene Naturzustand bloß ein „Zwischenstand“ (ebd., S. 888). Deshalb gilt laut seiner Lesart für den Menschen der ‚rousseauistische Imperativ‘: „Den Naturzustand verlassen.“ (ebd., S. 887) Entsprechend erscheine dieser also bloß wie das Goldene Zeitalter: „Der natürliche Zustand ist in der Idee ein goldenes Zeitalter, das der Rohigkeit und Unwissenheit. Aber der Mensch kann sich darinn nicht erhalten und geht aus dem Stande der Natur, ohne noch eine Idee von der sittlichen Ordnung zu haben, und so entwickelt sich: Der moralische Mensch.“ (ebd., S. 888) Kant stimmt mit Rousseau also in zweierlei Hinsicht überein: Erstens ist das Verlassen des Naturzustands eine notwendige Voraussetzung für die weitere Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und zweitens ist der Naturzustand für beide kein Faktum im Sinn einer tatsächlich einmal gewesenen historischen Realität – zumindest korrespondiert Kants Aussage, der natürliche Zustand sei in der Idee ein goldenes Zeitalter, mit Rousseaus hypothetischem Entwurf des Naturzustands (vgl. D II, 123). Für Kant beginnt der Kulturalisationsprozess also mit dem Verlassen des ‚natürlichen Zustands‘: „Die civilisierung tritt ein, mit ihr wächst die cultur bis zum luxus.“ (AA 1521, S. 888) Diese Diagnose stellt auch Rousseau und wie ihm erscheint der Luxus auch Kant als ein Übel, das im „Fortgang der Menschengattung“ ein Anzeichen dafür ist, dass der Mensch „immer weiter von seiner Naturbestimmung abkommt“ (ebd.). Diese ‚Naturbestimmung‘ hat Kant zuvor als „Erhaltung der Art“ und „Perfectionierung derselben“ herausgestellt (ebd., S. 886), weshalb das Verlassen des Naturzustands als eine „Zwischenzeit“ anzusehen sei (ebd., S. 887), denn in dieser habe der Mensch noch keine „Idee von der sittlichen Ordnung“ (ebd., S. 888). Kant zieht daraus folgenden Schluss: Bevor der Mensch in einer „vollkommenen Gesellschaft“ (ebd., S. 887) leben kann, „bedarf er moralisiert zu werden“, denn nur dadurch „erreicht er seine Bestimmung“ (ebd., S. 888). In ergänzendem Bezug auf das von Rousseau im zweiten Discours entworfene Konzept der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen formuliert Kant hier die Forderung nach der Moralisierung des Menschen. Diese avanciert nach dessen Austritt aus dem Naturzustand zur Notwendigkeit, um so zu einer sittlichen Ordnung in der Gesellschaft zu kommen und diese als eine vollkommene zum Ziel im „Fortgang der Menschengattung“ zu erklären (ebd.). Dies alles stelle Rousseau bereits in Aussicht – zumindest dann, wenn man dem Konzept vom Naturzustand eine teleologische Ausrichtung unterschiebt: „Sein letztes Ziel ist die Vollkommenheit des Status civilis.“ (ebd., S. 887) 170

Darin nimmt Rousseau die Argumentation auf, die er in dem wahrscheinlich vor 1754 verfassten Fragment „L’Influence des climats sur la civilisation“ ausführt (vgl. OC: III [Notes et Variantes], S. 1533).

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Kants an Rousseau orientierter Kulturalisationsprozess lässt sich mit Link als ein lineares „Drei-Stadien-Schema“ beschreiben,171 das erstens vom Verlassen des Naturzustands ausgeht, in einer Zwischenzeit dann zweitens die Moralisierung des Menschen für notwendig erklärt, um dadurch drittens schließlich eine vollkommene Gesellschaft zu erreichen. Die Moralisierung erscheint für Kant als ein Mittel gegen den Luxus, der – wie Rousseau im zweiten Discours beklagt – das Übel in der gegenwärtigen Gesellschaft darstelle. Entsprechend ist nach Kant die bürgerliche Gesellschaft, in der die ‚höchste Kultur‘ als „Naturbestimmung des Menschen“ zu realisieren sei (ebd., S. 885), noch nicht als vollkommen anzusehen: „In der bürgerlichen Gesellschaft: cultur des Geschmacks, Luxus, Entwicklung aller Talente. Aber auch Vilfache Noth, die nicht von der Naturbedürfnis herrührt, Gewalt, die den Natürlichen Neigungen geschieht, Laster und Tugend, Unterdrückung, aber auch Bevölckerung, Flor im Ganzen und Noth in Theilen.“ (AA 1522, S. 892) Die progressionsteleologische Ausrichtung des Kulturalisationsprozesses ist bei Kant explizit gegen ein ‚Zurück zur Natur‘ gerichtet. Zwar weist er die ‚retour‘-Idee nicht kategorisch zurück, überführt sie aber modifizierend in eine Synthese: „Ganze Absicht des Rousseau: den Menschen durch Kunst dahin zu bringen, daß er alle Vortheile der [...] cultur mit allen Vortheilen des Naturzustands vereinigen könne. (Rousseau will nicht, daß man in den Naturzustand zurück gehen, sondern dahin zurück sehen soll. Vereinigung der extreme.)“ (AA 1521, S. 890) Was Kant also vorschlägt, ist keine Rückkehr, sondern ein Blick zurück auf den Naturzustand, dessen positive Eigenschaften – die also keinesfalls ‚verloren‘ sind – für die „Errichtung einer vollkommenen Gesellschaft“ (ebd., S. 887) genutzt werden können, denn: „In dem Naturzustande, da der Mensch nur vor sich da ist und die Existenz seiner Art, ist vieles Gut, was im civilisierten Zustande böse wird.“ (AA 1522, S. 892) Wenn Kant behauptet, dass Rousseau den Menschen durch die Kunst dazu bringen wolle, „alle Vortheile der cultur mit allen Vortheilen des Naturzustands“ zu vereinigen (AA 1521, S. 890), dann verkoppelt er – ganz im Sinn seiner synthetischen Modifikation der ‚retour‘-Formel – den zweiten mit dem ersten Discours. In diesem weist Rousseau nämlich indirekt auf die positive Wirkung hin, die neben den Wissenschaften vor allem die Künste haben müssten: Deren Zweck sei es schließlich, bei den Menschen die „Empfindung der ursprünglichen Freiheit, um derentwillen sie doch geboren zu sein schienen“, zu wecken.172 Offenbar teilt Kant Rousseaus ‚Optimismus‘, weil es die Kunst sei, die jene synthetische „Vereinigung der extreme“ im Blick zurück auf den Naturzustand bewirke (ebd.). Dies macht er deutlich, wenn er mit einem erneuten Verweis auf Rousseau Kunst und Natur zusammenbringt: „Rousseau erhebt die Natur“, stellt Kant fest, „und die ist auch unser Beziehungspunct bey aller Kunst: nämlich jener nicht

171 172

Link: Hölderlin-Rousseau, S. 57. 1. Abhandlung, S. 34.

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Gewalt anzuthun, sondern sie nur [...] vollkommen zu entwickeln. Blumen, neue Früchte.“ (AA 1523, S. 896) Der Königsberger Philosoph avanciert hier zum idyllischen Gärtner: Er erklärt die Natur zum nachgerade idealischen Bezugspunkt der Kunst und kommt so zu dem Schluss, dass „vollkommene Kunst wieder Natur wird“ (ebd., sowie AA 1521, S 887; Hervorhebung N.J.). Was Link eine „implizit progreßdialektische Formel“ nennt,173 lässt sich mit Bezug auf Kants ‚rousseauistische‘ Funktionsbestimmung der Kunst – die „alle Vortheile der cultur mit allen Vortheilen des Naturzustands“ im Sinn einer „Vereinigung der extreme“ zusammenbringe (AA 1521, S. 890) – als eine explizit ‚progresssynthetische‘ verstehen: An anderer Stelle der Collegentwürfe zur Anthropologie stellt Kant nämlich fest, dass „Kunst ein Fortgang der Natur sey“ (AA 965, S. 424, Hervorhebung N.J.). Setzt man beide Aussagen (dass Kunst wieder Natur werde und zugleich deren Fortgang sei) syllogistisch zusammen, ergibt sich ein nachgerade idyllischer Kuhhandel, weil das eine (Kunst) wieder zu dem wird, woraus es ursprünglich hervorgegangen ist (Natur). In diesem Sinn bewirke die Kunst eine ‚Vereinigung der Extreme‘. Daraus resultiert die positive Wirkung der Kunst für den Kulturalisationsprozess. Ihn beschreibt Kant mittels seiner progresssynthetischen Modifikation der ‚retour‘-Formel nicht länger als Rückkehr zum Naturzustand, sondern als Vereinigung „all[er] Vortheile der [...] cultur mit allen Vortheilen des Naturzustands“ (AA 1521, S. 890). Dergestalt erweist sich der ‚retour‘ vielmehr als ein dem kulturellen Voranschreiten Orientierung bietender ‚Blick zurück‘, worin Kant letztlich die „[g]anze Absicht des Rousseau“ erkennt (ebd.). Diese Absicht pfropft er seiner eigenen gewissermaßen auf, insofern nur der „moralische Mensch“ (ebd., S. 888) die von Rousseau imaginierte „Vollkommenheit des Status civilis“ (ebd., 887) erreichen könne. Während Kant in seiner progresssynthetischen Modifikation der ‚retour‘-Formel, auf die Rousseaus philosophische Konzepte der beiden Discours bereits im 18. Jahrhundert also nachweislich verkürzt werden, eine anthropologische Wendung verleiht (die ihrerseits gerade im ‚Blick zurück‘ sowohl in der Idyllentheorie Schillers als auch derjenigen Jean Pauls nachwirkt), zeigt sich in Johann Gottlieb Fichtes Auseinandersetzung mit Rousseau hingegen eine explizit literarische Wendung. Sie perspektiviert Rousseaus vermeintlichen ‚retour‘ nachgerade idyllisch, sodass die fünfte von Fichtes Vorlesungen, in denen er Bestimmung des Gelehrten verhandelt, durch die „Prüfung der Rousseauschen Behauptung über den Einfluss der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschen“ zum theoretischen Ausgangspunkt für Schillers Beschäftigung mit der Idylle avanciert.174 173 174

Link: Hölderlin-Rousseau, S. 57. Vgl. Fichte, Johann: „Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten“ [1794], in: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, hrsg. von Johann Heinrich Fichte, Bd. VI, 3. Abteilung: Populärphilosophische Schriften, 1. Bd.: Zur Politik und Moral, Berlin: Verlag von Veit und comp.

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Wie Kant versteht auch Fichte den kontinuierlichen Prozess der Kulturalisation im Sinn eines progressiven Geschichtsverständnisses als eine anthropologische Disposition: „Ich habe die Bestimmung der Menschheit gesetzt in den beständigen Fortgang der Cultur und die gleichförmig gesetzte Entwicklung aller ihrer Anlagen und Bedürfnisse [...].“ (F 335f) Damit positioniert sich Fichte nach eigener Aussage gegen Rousseau, denn „[d]ieser Wahrheit hat niemand bestimmter und mit scheinbaren Gründen und kräftiger Beredsamkeit widersprochen als Rousseau“ (F 336). Diesem sei nämlich „das Fortrücken der Cultur die einzige Ursache alles menschlichen Verderbens“ (ebd.). Deshalb sehe Rousseau „kein Heil für den Menschen als in dem Naturzustande: und – was denn in seinen Grundsätzen ganz richtig folgt – derjenige Stand, der den Fortgang der Cultur am meisten befördert; der Gelehrtenstand, ist nach ihm die Quelle sowohl, als auch der Mittelpunct alles menschlichen Elends und Verderbens“ (ebd.). Anders als im Titel der Vorlesung behauptet, macht Fichte also nicht den ersten Discours zum Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit Rousseau, sondern den zweiten – darauf deutet diese Thematisierung des Naturzustandes im Anfang der Vorlesung hin. Für Fichte steht zudem zweifelsfrei fest, dass Rousseau mit dem Naturzustand die Idee einer Rückkehr verkoppelt, denn „[m]it aller Uebermacht“ arbeite Rousseau daran, „die gesammte Menschheit von der Richtigkeit seiner Behauptung zu überzeugen, um sie zu überreden, in jenen von ihm angepriesenen Naturzustand zurückzukehren“ (ebd.). Für seine Auseinandersetzung mit Rousseau knüpft Fichte also (unwissentlich) bei einem diskursiven Missverständnis an und baut darauf die weitere Argumentation seiner Vorlesung auf. So behauptet er, dass für Rousseau „jener verlassene Naturzustand das letzte Ziel“ sei, „zu welchem die jetzt verdorbene und verbildete Menschheit endlich gelangen muss“ (ebd.). In diesem Sinn wird Rousseau ein nachgerade paradoxes Zeitverständnis unterstellt, denn „[i]hm ist Rückkehr Fortgang“ (ebd.). Fichte lässt es nachgerade so erscheinen, dass Rousseau gar die Zukunft abschaffen wolle: „In der Aussicht in die Zukunft liegt der wahre Charakter der Menschheit; sie ist zugleich die Quelle aller menschlichen Laster. Leitet die Quelle ab, und es ist kein Laster mehr da; und Rousseau leitet sie durch seinen Naturstand ab.“ (F 341) Ein solcher Naturzustand muss für Fichte zwangsläufig als Problem erscheinen, weil die darin implizierte Rückkehr sich als Unmöglichkeit erweist, schließlich sei der Mensch nicht dazu bestimmt, „in diesem Zustande zu bleiben“ (ebd.). Rousseau wird für Fichte dergestalt zum reaktionären Nostalgiker, wenn er ihm eine idyllische Sehnsucht unterstellt, die zudem seinem Konzept des Naturzustands eingeschrieben sei, denn Rousseau „sehnte sich selbst, in diesem Naturzustande zu leben“ (ebd.).

1845, S. 289–346 [hier: 5. Vorlesung: „Prüfung der Rousseauschen Behauptung über den Einfluss der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit“, S. 335–346]. Nachfolgend werden Zitate hieraus mit der Sigle ‚F‘ gekennzeichnet und unter Angabe der Seitenzahl in Klammern ohne weitere Fußnote direkt im Text belegt.

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Argumentativ begründet Fichte diese Behauptung durch den Bezug auf Rousseaus tatsächliche Lebensumstände, wie er sie in seinen biographischen Schriften mehrfach – und wie gezeigt: idyllisch überlagert – dargestellt hat: Abgesondert von der grösseren Welt, von seinem reinen Gefühl und von seiner lebhaften Einbildungskraft geleitet, hatte Rousseau sich ein Bild von der Welt und besonders von dem gelehrten Stande [...] entworfen, wie sie seyn sollten, wie sie [...] nothwendig seyn müssten und würden. Er kam in die grössere Welt; er richtete sein Auge rund um sich herum; und wie ward ihm, als er Welt und Gelehrte sah, wie sie wirklich waren! (F 337f)

Indem Rousseau sich dergestalt von seiner ‚Einbildungskraft‘ und seinem Wunschdenken habe leiten lassen, vermischt sich in seinem Konzept des Naturzustands „das Wahre mit dem Unwahren“ (F 337, Hervorhebung i.O.). Aus diesem Grund erscheine der Naturzustand nachgerade als eine Fiktion, die auf dem Widerspruch gründet, dass Rousseaus Konzept nicht ohne die Folie einer bereits entwickelten Gesellschaft, die den Naturzustand längst verlassen habe, funktioniere: Der Naturzustand könne nicht „ohne die vorhergehende Ausbildung“, wie sie „nur im Stande der Cultur“ möglich sei (F 342), als ursprünglich gedacht werden, denn Rousseau projiziere in den Naturzustand all das, was für ihn die gegenwärtige Gesellschaft eben nicht ist. Wenn Fiche den Naturzustand somit als nostalgische Projektion darstellt und deren idealische Anlage argumentativ gegen Rousseau ins Feld führt, läuft diese Kritik insofern ins Leere, als Rousseau den Naturzustand im Vorwort zum zweiten Discours explizit als ein hypothetisches Konstrukt entwirft (vgl. D II, 123). Was Kant also nicht nur erkannt, sondern auch für seine eigene Argumentation produktiv gemacht hat, geht Fichte vollkommen ab. Dadurch etabliert dieser die dem ‚Zurück zur Natur‘ implizite und von Link als ‚unversöhnliche Bifurkation‘ bezeichnete Unterscheidung zwischen Natur- und Gesellschaftszustand als ein „Paradoxon des Rousseauschen Retours’“:175 Also er [d.i. Rousseau, N.J.] versetzte unvermerkt sich und die ganze Gesellschaft mit der ganzen Ausbildung, die sie nur durch das Herausschreiten aus dem Stande der Natur erhalten konnte, in denselben; er nahm unvermerkt an, dass sie schon aus demselben herausgetreten seyn und den ganzen Weg der Bildung durchlaufen haben sollte; und doch nicht herausgetreten seyn und ausgebildet seyn sollte: und so sind wir denn unvermerkt bei Rousseau’s Fehlschlusse angekommen und können jetzt sein Paradox völlig und mit leichter Mühe lösen. (F 342, Hervorhebungen i.O.)

Das von Fichte beschriebene Paradoxon ist entgegen seiner Behauptung weder von Rousseau konstituiert noch lässt es sich im ersten oder zweiten Discours tatsächlich als ein solches nachweisen. Vielmehr erweist es sich als ein Effekt der idyllischen Überlagerungen in der Rousseau-Rezeption sowie der hierdurch diskursiv generierten Formel eines ‚retour à la nature‘ – und Fichte leistet dazu offenkundig selbst einen nicht unerheb175

Link: Hölderlin-Rousseau, S. 57.

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lichen Beitrag. Das wird umso evidenter, wenn er den Naturzustand mit dem Topos vom Goldenen Zeitalter verknüpft: „Wird dieser Zustand als idealisch gedacht – in welcher Absicht er unerreichbar ist, wie alles Idealische, – so ist er das goldene Zeitalter des Sinnesgenusses ohne körperliche Arbeit, den die alten Dichter beschreiben.“ (ebd.) Mit dem Verweis auf die antike Dichtung und der Gleichsetzung von Naturzustand und Goldenem Zeitalter übernimmt Fichte jenes Geschichtsverständnis, das er in Rousseaus Konzept des Naturzustands angelegt glaubt und zuvor kritisiert hat: „Vor uns also liegt, was Rousseau unter dem Namen des Naturstandes, und jene Dichter unter der Benennung des goldenen Zeitalters, hinter uns setzen.“ (ebd.) Dergestalt bereitet Fichte hier eine idyllentheoretische Perspektivierung von Rousseaus Naturzustand vor, die ihrerseits zum Fluchtpunkt für Schillers Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ avancieren wird. Diesen Ausblick gibt Fichte selbst, wenn er das von ihm herausgestellte Rousseau-Paradoxon des ‚retour‘ seiner Wirkung nach gemäß jener rhetorischen Figur beschreibt, die als ‚hysteron proteron‘ die Kausalität von Ursache und Wirkung strukturell vertauscht: Es ist – im Vorbeigehen sei dies erinnert – überhaupt eine besonders in der Vorwelt häufig vorkommende Erscheinung, dass das, was wir werden sollen, geschildert wird, als etwas, das wir schon gewesen sind, und dass das, was wir zu erreichen haben, vorgestellt wird als etwas Verlorenes; eine Erscheinung, die ihren guten Grund in der menschlichen Natur hat [...]. (ebd., S. 342f, Hervorhebungen i.O.)

Diesem ‚guten Grund‘ wird Schiller in seiner Idyllentheorie genauso nachgehen wie Jean Paul in der seinen. An ihren jeweiligen theoretischen Ausführungen lässt sich daher letztlich zeigen, dass der von Fichte unterstellte Grund insofern tatsächlich in der menschlichen Natur liegt, als diese – seit Rousseau und durch die Rezeption seines Konzepts des Naturzustands – ihrerseits ‚idyllisch überlagert‘ scheint. 

Idealisierungen (Schiller macht’s möglich)

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 Idealisierungen (Schiller macht’s möglich) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt der Idylle „eine Schlüsselfunktion für den aufklärerischen Glauben an die ursprüngliche Güte und die Glücksbestimmung des Menschen sowie an die Vorbildlichkeit der ‚Natur‘ für die Gesellschaft“ zu, allerdings „ohne daß die Texte dies laut formulieren müßten“.176 Wie Helmut J. Schneider weiter ausführt, zeige sich diese ‚aufklärerische Instrumentalisierung‘ der Idylle vielmehr im poetologischen Diskurs und als „Zeugnisse hierfür können die theoretischen Ausführungen“ von Friedrich Schiller und Jean Paul gelten: Forderte Schiller von der Idylle die Darstellung eines utopischen, Natur und Völker versöhnenden Vollendungszustands, wobei die zeitgenössische Erfahrung der Französischen Revolution den Hintergrund bildete, so stimmte Jean Paul den Gegenstand der Gattung auf jenes ‚Vollglück in der Beschränkung‘ herab, das dem biedermeierlichen Politikverzicht eine populäre Formel liefern sollte.177

Seine dreiteilige theoretische Reflexion über die Idylle veröffentlicht Schiller zwischen 1795 und 1796 in der Zeitschrift Die Horen und fasst sie später unter dem Gesamttitel „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ zusammen, um sie schließlich in den zweiten Band der Kleineren prosaischen Schriften von 1800 aufzunehmen.178 Schillers Abhandlung zielt darauf, einerseits ein „gattungspoetisch[es] System“ zu entwickeln,179 das es andererseits erlaubt, zwischen unterschiedlichen „Typen von Dichtungen und Dichtern“ zu differenzieren.180 Beeinflusst von der bildungsgeschichtlichen Philosophie Fichtes sowie der transzendentalästhetischen Kants,181 besteht die poetologische Leistung der Abhandlung darin, „der modernen Dichtung einen eigenständigen Rang“ unabhängig von der als vorbildhaft angesehen antiken Dichtung zuzuweisen und insbesondere ihre „spezifische Funktion in der Geschichte“ zu verhandeln.182 Schillers komplexe Differenzierungsversuche durch die grundlegende Unterscheidung zwischen sog. ‚naiver‘ und ‚sentimentalischer‘ Dichtung mit entsprechend daraus abgeleiteten verschiedenen Typen von Dichtern sind von der zeitgenössischen Kritik 176

177 178

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Schneider, Helmut J.: „Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie“, in: ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorie im 18. Jahrhundert, Tübingen: Narr 1988, S. 7–74, hier: S. 10f. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 10. Vgl. Zelle, Carsten: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, in: Luserke-Jaqui, Matthias (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 451–479, hier: S. 451. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 452. Oellers, Norbert: Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, Stuttgart: Reclam 2005, S. 478. Vgl. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 453. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 471.

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„fast gänzlich unbeachtet“ geblieben oder wurden von ihr als unzureichend abgelehnt.183 Dies ließe sich darauf zurückführen, dass seine nach eigener Aussage in einem Brief an Goethe „sehr populär geschrieben[e]“184 Abhandlung ganz „unterschiedliche Diskursformen, geschichtsphilosophische, moralphilosophische, kulturkritische Rezensionen […] und gattungstheoretische Gedanken“185 miteinander verkoppelt. Unter den Zeitgenossen bemerkt beispielsweise August Wilhelm Schlegel im zweiten Teil seiner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, dass man mit Schillers „Eintheilung in der Geschichte der Poesie nicht weit“ komme, weil die Unterscheidung ‚naiv vs sentimental‘ „aus dem subjectiven Standpunkte der Sentimentalität“ getroffen sei, „die außerdem keine Realität“ habe.186 Diese genuine Beschränkung der Schiller’schen Idyllentheorie fasst Schlegel mit der rhetorischen Frage: „[D]enn für wen ist denn das sogenannte Naive naiv, außer für den Sentimentalen?“187 Ähnlich kritisch bewertet Jean Paul im 22. Paragraphen seiner Vorschule der Ästhetik die Relativität von Schillers Sentimentalitätsbegriff, weil sich in diesem doch „nur ein Verhältnis ‚moderner‘ Subjektivität“ ausdrücke.188 Diese Kritik zeigt deutlich die von Carsten Zelle betonte Wirkung der Schiller’schen Abhandlung „auf die ‚frühromantische‘ Generation“ sowie auf Jean Pauls eigene theoretische Überlegungen zur Idylle in der ‚Vorschule‘ (vgl. Kapitel 3.3).189 Dabei ist gerade die Idyllentheorie Jean Pauls als komplementäre Erweiterung von Schillers Ansatz lesbar, sodass diesem keinesfalls ein bloß „geringfügiges Echo“ im 19. Jahrhundert zu bescheinigen wäre.190 Obschon diese beiden wichtigen theoretischen Texte des endenden 18. bzw. beginnenden 19. Jahrhunderts auf den ersten Blick gänzlich konträre Merkmale zu den jeweils konstitutiven der Idylle erklären, lässt sich zeigen, dass Jean Pauls Auseinandersetzung mit der Idylle eine produktive Anknüpfung an Schillers Abhandlung darstellt: Während die von Schiller betonte ‚Offenheit‘ der Idylle die – vermeintliche – Aporie seines grundlegend gattungstheoretisch fundierten Konzepts bedeutet, nimmt Jean Paul durch die Etablierung des generalisierenden Kriteriums einer ‚idyllischen 183 184

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Oellers: Schiller, S. 478. Schiller an Goethe, 16. Oktober 1795, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XXVIII: Schillers Briefe 1795–1796, hrsg. von Norbert Oellers, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1969, S. 78–80, hier: S. 79. Luserke-Jaqui, Matthias: Friedrich Schiller, Tübingen/Basel: Francke 2005, S. 265. Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, Zweiter Teil: Vorlesungen über schöne Literatur [1802–1803], in: ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen, hrsg. von Ernst Behler, Bd. I: Vorlesungen über Ästhetik I [1798–1803], Paderborn u.a.: Schöningh 1989, S. 473–781, hier: S. 765. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, S. 765. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik [1813], in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. IX: Vorschule der Ästhetik; Levana (I), München/Wien: Hanser 1975, S. 7–456, hier: S. 86, Hervorhebung i.O. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 471. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 472.

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Beschränkung‘ scheinbar die Gegenposition zu Schiller ein. Hierdurch macht er dessen modifiziertes Konzept nachträglich po(i)etisch produktiv, sodass der materiale Topos der Idylle in die unterschiedlichsten literarischen und seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts dann auch in diverse andere mediale Formen und Formationen diffundieren kann. Schillers Überlegungen zur Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung stellen „eine Art gedrängter Literaturgeschichte“ dar,191 in deren Zusammenhang er die Idylle neben der Satire und der Elegie als „dritte Species sentimentalischer Dichtung“ bestimmt.192 Mit dem Ausdruck ‚sentimentalische Dichtung‘ verbindet Schiller ein theoretisches Konzept literarischer Gattungen im Sinn einer „Geschichtsphilosophie der modernen Kunst“,193 in dem er die für die sog. Querelle des Anciens et des Modernes grundlegende Opposition von Antike und Moderne aufgreift. Als einer der zentralen aufklärerischen Diskurse des 18. Jahrhunderts ist die Querelle kennzeichnend für eine im geschichtlichen Denken fundierte Weltanschauung, die den Prozess kulturellen Wandels als kontinuierlichen Fortschritt denkt.194 Dies ist vor allem gegen die aus der Antike stammende Vorstellung von Geschichte gerichtet, die bis in die frühe Neuzeit hinein das Paradigma geschichtlichen Denkens bildet und ihrerseits Kulturalisation als „entweder […] rückschrittlichen Prozess“ fasst, „der sich auf einer vom ‚Goldenen Zeitalter‘ absteigenden Linie bewegt[], oder als bloßen Wechsel bestimmter Zyklen“.195 Erst mit dem „ökonomischen Aufstieg der Bourgeoisie“ entwickelt sich gerade in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein gesellschaftliches Fortschrittsdenken, demzufolge „Kenntnisgewinnung“ nicht mehr nur „auf die bloße Rezeption des meist aus der Antike überlieferten Wissensstoffes“ zurückzuführen sei.196 Diese epistemologische Neuorientierung ist maßgeblich durch das Aufkommen der (modernen) Naturwissenschaften bedingt, die das Primat empirischer Erfahrung gegenüber der Rezeption tradierten Wissens betonten. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich zum Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich die Querelle des Anciens et des Modernes als „Oppositionsbewegung gegen die Vorrangstellung der Antike“.197 Sie gilt ihrerseits als „Ideal-Natur“ und insbesondere des191 192

193 194 195 196 197

Oellers: Schiller, S. 478. Schiller, Friedrich: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ [1795], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XX: Philosophische Schriften. Erster Teil, hrsg. von Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1972, S. 413–503, hier: S. 466. Die nachfolgenden Zitate werden in diesem Kapitel unter Angabe der Seitenzahl in Klammern ohne weitere Fußnote direkt im Text belegt. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 452. Vgl. Stichwort ‚geschichtliches Denken‘, in: Philosophisches Wörterbuch I, S. 404–415. Stichwort ‚geschichtliches Denken‘, in: Philosophisches Wörterbuch I, S. 405. Stichwort ‚geschichtliches Denken‘, in: Philosophisches Wörterbuch I, S. 405, Hervorhebung i.O. Stichwort ‚geschichtliches Denken‘, in: Philosophisches Wörterbuch I, S. 406.

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halb als nachahmenswert, weil sie in der Auffassung der Anciens „eine vorgeschichtliche und übergeschichtliche Natur-Wahrheit“ repräsentiere.198 Vor diesem Hintergrund bildet der Querelle-Diskurs „den Ausgangspunkt des für das moderne geschichtliche Denken konstitutiven geschichtlichen Weltbildes der französischen Aufklärung“,199 denn während [d]ie Verteidiger der Vorrangstellung des Altertums versuchten […] in Abwehr der modernistischen Angriffe Lebensstil, gesellschaftliche Formen, Kunst und Kultur der archaischen Phase des Griechentums und der republikanischen Tradition der Antike als normativ zu wertendes Kontrastbild der Gegenwart entgegenzustellen,200

geht es den progressiven ‚Querelliens‘ um eine Relativierung des normativ-präskriptiven Vorbildes der Antike. Diese Relativierung geht von der Frage aus, „ob der Antike zeitlose Gültigkeit zukomme oder ob es eine geschichtliche Differenz zwischen Antike und Moderne und damit keine übergeschichtliche Gültigkeit der antiken Tradition gebe“.201 Den Ausgangspunkt der Querelle markiert – weit vor Schiller – eine Sitzung der Académie Française am 27. Januar 1687, bei der Charles Perrault mit dem Vortrag seines „Poème sur le Siècle de Louis le Grand“ die Errungenschaften „der eigenen Zeit denen der Antike gegenüber als mindestens ebenbürtig“ darstellt und so „den Angriff auf die Autorität“ der ‚Alten‘ eröffnet.202 Dieser Programmatik folgt Schiller in seiner Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, indem er „[d]ie Bestimmung des geschichtlichen Eigenrechts ‚moderner‘ Literatur und Kunst“ aus dem Querelle-Diskurs abzuleiten versucht.203 Dazu richtet er seine Perspektive auf die ‚Moderne‘ geschichtsphilosophisch aus: Im Sinn einer progressiven Querelle-Position tritt bei Schiller damit „an die Stelle der geschichtlichen Rückwärtsorientierung die geschichtliche Vorwärtsorientierung“,204 wodurch zugleich „die Doktrin von der Nachahmung der Antike als des obersten Gebotes der Dichtung“ relativierbar erscheint.205 Wie nachfolgend gezeigt wird, ist diese Relativierung in Bezug auf die Literatur (bzw. Dichtung) bei Schiller mit einer Verschiebung vom Paradigma der Nachahmung zu dem der Schöpfung innerhalb des aristotelischen Mimesis-Konzepts verkoppelt.

198

199 200 201 202 203 204 205

Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945 [1985], 2 Bd.e, Bd. I: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21988, S. 14. Stichwort ‚geschichtliches Denken‘, in: Philosophisches Wörterbuch I, S. 406. Stichwort ‚geschichtliches Denken‘, in: Philosophisches Wörterbuch I, S. 407. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 14. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 15 Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 452. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 15. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 14.

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3.2.1Schillers ‚idealpragmatischer‘ Ansatz: naiv versus sentimentalisch Die auf die Querelle zurückgehende Opposition von Antike und Moderne greift Schiller insofern modifizierend auf, als er sein theoretisches Modell einer Abgrenzung von naiver und sentimentalischer Dichtung auf das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit gründet. Dieses bildet für ihn den Gegenstand aller Dichtung, sodass es sich als Kriterium für seine gattungstypologische Differenzierung eigne.206 Laut Schneider fallen unter Schillers Kategorie des Naiven „alle Phänomene von Ursprünglichkeit“.207 Dazu zählt neben dem Altertum sowie antiker Dichtung auch der ganze Bereich der Natur insgesamt, weshalb für Schiller die „Nachahmung der Wirklichkeit“ den Gegenstand naiver Dichtung bildet.208 Laut Norbert Oellers sei diese in Schillers Perspektive damit ihrerseits als ein ‚ursprüngliches Phänomen‘ anzusehen, denn die „naive Darstellung der nun als Wirklichkeit bezeichneten Natur ist also selbst Natur“.209 Entsprechend erklärt Schiller: „Natur [...] ist nichts anders, als das freiwillige Daseyn, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eigenen und unabänderlichen Gesetzen.“ (413) Wie Renate Böschenstein ausführt, stellt naive Dichtung für Schiller damit das „Weltverhältnis“ des Menschen zur Natur dar und zwar im Sinn einer „Mimesis naturgegebener Zustände“, in denen „der Mensch sich noch in der Einheit mit der Natur befindet“.210 Dieses „Konstrukt einer Natur, die als ‚reine‘, ‚unschuldige‘, ‚vollkommene‘“ begriffen wird,211 scheint Rousseaus Konzept des Naturzustands zu entsprechen – und das umso deutlicher, wenn man behauptet, dass Schiller die Natur in Opposition zur „Künstlichkeit und Unwahrhaftigkeit der Kultur“ denke.212 Damit geht Böschenstein eindeutig jenen idyllischen Überlagerungen auf den Leim, durch die sich im Zuge der Rousseau-Rezeption im 18. Jahrhundert der ‚retour à la nature‘ diskursiv generiert. Es fällt nicht schwer, auch Schiller die ‚retour‘-Idee unterzuschieben, schließlich scheint auch er eine ‚Rückkehr‘ zu postulieren, wenn es heißt: „Wir waren Natur [...], und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen.“ (414) Keinesfalls wird hier jedoch die Kultur als eine Art „Unnatur“ in Opposition zur Natur entworfen.213 Vielmehr weist Schiller der Kultur eine ähnlich positive Funktion zu, wie Kant der Kunst, in der dieser insofern eine ‚Vereinigung der Extreme‘ erkennt, als sie 206 207 208

209 210 211 212 213

Vgl. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 452. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 185. Schiller, Friedrich: „Über naive und sentimentalische Dichtung“ [Stellenkommentar], in: des.: Theoretische Schriften, hrsg. von Rolf Peter-Janz, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2008, S. 1420–1425, hier: S. 1423. Oellers: Schiller, S. 481. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 129. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 129. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 129. Oellers: Schiller, S. 481.

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„alle Vortheile der [...] cultur mit allen Vortheilen des Naturzustands“ vereinige (AA 1521, S. 890). Implizit geht Schiller also offenbar von einer verlustig gegangenen ‚Ursprünglichkeit‘ des Menschen aus und gleichsam von der Möglichkeit, diesen Zustand durch die Kultur wiederzuerlangen. Deshalb ließe sich bei Schiller von einer ‚progressiven Rückkehr‘ sprechen, denn in seiner applikativen Modifikation des rousseauistischen ‚retour à la nature‘ erfolgt dieser mit Hilfe der Kultur und zwar im stringentesten Sinn der Aufklärung, nämlich „auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit“ (414). Mit einem solch progressiven Kulturkonzept knüpft Schiller an Fichtes Rousseau-Kritik an, die „das Herausschreiten aus dem Stande der Natur“ (F 342) als Voraussetzung für das „Fortrücken der Cultur“ ansieht und nicht als „Ursache alles menschlichen Verderbens“ (F 336). Entsprechend steht für Fichte „die Bestimmung der Menschheit“ (F 335) in einer „Aussicht in die Zukunft“ (F 341). Der Naturzustand müsse deshalb vielmehr als ein idealisches Konstrukt gedacht werden, das nicht durch Rückkehr, sondern einzig „im Stande der Cultur“ (F 342) realisierbar sei und zwar durch „den beständigen Fortgang der Cultur und die gleichförmige Entwicklung aller [...] Anlagen und Bedürfnisse“ des Menschen (F 335f). In diesem Sinn gibt Schiller Fichtes Rousseau-Kritik eine produktive Wendung, wenn er ein durch die Kultur vermitteltes und durch Fortschritt bewirktes ‚Zurück zur Natur‘ fordert. Die aufklärerischen Ideale von Vernunft und Freiheit bezeichnen bei Schiller folglich genau jene positiven Effekte, die der Mensch – wie Fichte es formuliert – „nur durch das Herausschreiten aus dem Stande der Natur erhalten konnte“ (F 342). Mit diesem über Fichte vermittelten Anschluss an Rousseau vertritt Schiller im Querelle-Diskurs eindeutig eine Position der Modernes, deren Fortschrittsdenken die aufklärerische „Idee der rationalen Vollkommenheit“ nicht länger als eine bereits in der Antike vorbildlich verwirklichte ansieht, sondern sie vielmehr „subjektiv und historisch relativiert“ – und zwar zu einem in der Gegenwart bzw. Zukunft zu erreichenden Ideal.214 Genau das erweist sich bei Schiller letztlich als Gegenstand sentimentalischer Dichtung, die sich im Unterschied zu der ‚bloß‘ nachahmenden naiven Dichtung der Wirklichkeit insofern unter einer anderen mimetischen Perspektive zuwendet, als sie deren Ideal in Form seiner „Ausführbarkeit“ als „Idee in der Sinnenwelt“ darstellt (468). Obwohl für Schiller die sentimentalische Dichtung gemäß der seinem Konzept zu Grunde liegenden Querelle-Logik den Positionen der ‚Modernes‘ entspricht, ist seine abgrenzende Unterscheidung zwischen sentimentalisch und naiv nicht als eine historische Differenz zu begreifen. So erkennt Matthias Luserke-Jaqui in ihr vielmehr die „Antinomie von Nachahmung und Reflexion“.215 Aus diesem Grund besteht nach Schillers eigener Aus-

214 215

Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 16. Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, S. 267.

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sage zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung insbesondere ein „Unterschied in der Manier“ (438). Das, was Schiller ‚Manier‘ nennt, ließe sich in einem ‚modernen‘ Sinn als Schreibweise begreifen. Roland Barthes verortet sie zwischen Sprache und Stil: Als „Corpus aus Vorschriften und Gewohnheiten“ bildet die Sprache gewissermaßen eine „Naturgegebenheit“,216 während sich der Stil als „das absolut freie Band des sprachlichen Ausdrucks“ begreifen lässt.217 Zwischen beiden stehe die Schreibweise als eine spezifische „Art und Weise, Literatur zu konzipieren“.218 In diesem Sinn ist sie eine „durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische Ausdrucksweise“, in der sich „die Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft“ zeige.219 Nichts anderes leisten Schillers Kategorien des Naiven und Sentimentalischen, die sich demnach in Analogie zu Barthes’ Schreibweise jeweils als eine „Funktion“ begreifen lassen, mit deren Hilfe jener Bereich bestimmbar wird, „innerhalb dessen der Schriftsteller die Natur seiner Sprache zu situieren gewillt ist“.220 Barthes’ ‚Natur der Sprache‘ wäre bei Schiller also entweder naiv, insofern die Wirklichkeit bloß nachgeahmt wird, oder aber sentimentalisch, insofern die „Ausführbarkeit“ eines Ideals als „Idee in der Sinnenwelt“ dargestellt wird (468). Vor diesem theoretischen Hintergrund, dass sich Dichtung mittels des in ihr dargestellten Verhältnisses von Wirklichkeit und Ideal bestimmen lasse, differenziert Schiller genauer zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung, denn „[e]ntweder ist es der Widerspruch des wirklichen Zustands oder es ist die Übereinstimmung desselben mit dem Ideal“ (466, Hervorhebung i.O.),221 die dargestellt werden. Naive Dichtung kennzeichnet demnach die Übereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit, wobei Schiller Wirklichkeit mit Natur gleichsetzt.222 Prototypisch naiv ist für ihn daher antike Dichtung, die er streng mimetisch als Nachahmung von Wirklichkeit bestimmt.223 Für sentimentalische Dichtung gilt dieses Primat der Mimesis insofern nicht mehr, als durch die voranschreitende geschichtliche Entwicklung „das Natürliche aus der Erfahrungswelt des Menschen verschwindet“,224 sodass keine Kongruenz zwischen Ideal und Wirklichkeit mehr 216

217 218 219 220 221

222 223 224

Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur [1953], in: ders.: Am Nullpunkt der Literatur/Literatur oder Geschichte/Kritik und Wahrheit, übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 7–69, hier: S. 15. Barthes: Nullpunkt, S. 18. Barthes: Nullpunkt, S. 19. Barthes: Nullpunkt, S. 18. Barthes: Nullpunkt, S. 18f. Die in der Nationalausgabe durch Sperrdruck dargestellten Hervorhebungen werden hier wie im Folgenden durch Kursivierung dargestellt. Vgl. Oellers: Schiller, S. 481. Vgl. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 452. Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, S. 266.

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gegeben ist. Entsprechend lässt sich mit Carsten Zelle schlussfolgern, dass „‚moderne‘ Literatur und Kunst“ in ihrer sentimentalischen ‚Manier‘ überhaupt „nicht länger auf ‚Nachahmung‘ der Natur (Mimesis) bezogen“ sein kann.225 Aus diesem Grund wird in moderner, also sentimentalischer Dichtung nicht ‚bloß‘ Wirklichkeit, sondern die Differenz zwischen Wirklichkeit und Ideal dargestellt. Das Verhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit ist im ersten Fall ihrer Übereinstimmung der Gegenstand naiver und im zweiten Fall ihres Widerspruchs derjenige sentimentalischer Dichtung. Versteht man, wie hier vorgeschlagen, unter der kategorialen Unterscheidung von naiv versus sentimentalisch mit Schiller einen Unterschied der Manier im Sinn zweier voneinander verschiedener Schreibweisen, dann lassen diese sich auf einen spezifischen Wandel des Mimesis-Begriffs beziehen: Wie Jochen Schmidt darstellt, geht in der zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts „der Begriff der Nachahmung, der sich offensichtlich entleert, weil das Wahrscheinlichkeitsgebot bis zum äußersten strapaziert wird, in den Begriff der ‚Schöpfung‘ über.“226 Schillers Differenzierung scheint genau an diesem Wandel orientiert, zumindest wenn man die beiden Kategorien als Schreibweisen versteht, von denen die naive als eine unter dem Gesichtspunkt der Mimesis primär nachahmende und die sentimentalische dagegen als eine in diesem Sinn schöpferische anzusehen ist. Die nachahmend-naive Schreibweise stellt für Schiller dann insofern eine ‚unzeitgemäße‘, also nicht moderne Manier dar, als sie dem Gebot einer Wahrscheinlichkeit folgt, wie es Johann Christoph Gottsched in der letzten großen deutschsprachigen Regelpoetik normativ konzeptualisiert und zwar „als die Aehnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt“.227 Wie Jürgen H. Petersen umfänglich erläutert, wird gerade bei und durch Gottsched die aus der aristotelischen Poetik übernommene Kategorie des Wahrscheinlichen als der „zureichend[e] Maßstab für die Naturnachahmung etabliert“.228 Das, was Gottsched unter dem Begriff der Ähnlichkeit zum Kriterium der die Mimesis dominierenden Wahrscheinlichkeit erhebt, nennt Schiller in Bezug auf die naive Dichtung die Übereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit. Da in der sentimentalischen Dichtung statt dieser Übereinstimmung nun aber der Widerspruch von Ideal und Wirklichkeit dargestellt werde, bedarf es also einer Alternative zu jenem ‚naiven‘ Mimesis-Begriff, bei dem in Gottscheds Sinn die Wahrscheinlichkeit dominant gesetzt ist. Entsprechend steht die Naturnachahmung in Schillers sentimentalischer Dichtung nicht länger unter dem 225 226 227

228

Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 452. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 52. Gottsched, Johann Christoph: „VI. Hauptstück: Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie“, in: ders.: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert [1730], Leipzig: Johann Christoph Breitkopf 41751, S. 198–224, hier: S. 198. Petersen, Jürgen H.: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München: Fink 2000, S. 174.

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Primat des Wahrscheinlichen, sondern dem des Möglichen. Das impliziert eine Verschiebung vom Nachahmungs- zum Schöpfungsparadigma innerhalb des MimesisKonzepts. Laut Schmidt ist eine solche Verschiebung insbesondere durch die von Johann Jakob Breitinger und Johann Jakob Bodmer geforderte „Subjektivierung der dichterischen Produktion“ sowie deren „Emotionalisierung“ bedingt.229 Diese radikale „Höherbewertung der Einbildungskraft“ in Bezug auf die affektive Wirkung von Dichtung mache dieser das Mögliche darstellerisch überhaupt erst zugänglich.230 Was die beiden Schweizer Philologen und Vertreter der Modernes in ihren literaturtheoretischen Schriften postulieren, hat insofern „einen besonderen historischen Stellenwert“, als es eine ‚poetologische Zäsur‘ in der deutschsprachigen Literatur markiert, die nicht länger an dem „rationalistisch-klassizistisch[en] Konzept“ der an französischen Vorbildern ausgerichteten Regelpoetik Gottscheds orientiert ist, sondern zunehmend jener später von der Literaturgeschichtsschreibung als ‚Geniezeit‘ bezeichneten „dichterischen Gefühlskultur“ Vorschub leistet,231 indem Dichtung – mit Friedrich Kittler gesprochen – vollständigen Zugriff auf das „Universalmedium Einbildungskraft“ erhält.232 Dementsprechend muss ‚Mimesis‘ als zu Schöpfung aufgewertete po(i)etische Tätigkeit begriffen werden, die gänzlich „im Imaginären von Leserseelen“ wirkt,233 denn „[e]rstens schlich sich in Texte, obwohl sie weiterhin bloß auf Papier standen, eine Pseudo-Sinnlichkeit, die Leserinnen und Leser angeblich genauso vergnügte, als hätten sie das im Text Beschriebene wirklich und wahrhaftig vor Augen und Ohren“, und „[z]weitens senkte sich in Leserseelen der Befehl, die Texte um jeden Preis als vollkommen ausgemalte Welten zu delirieren“.234 Die durch Schillers kategoriale Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung anschaulich werdende Verschiebung vom Nachahmungs- zum Schöpfungsparadigma, die in Bezug auf eine als mimetisch geltende Darstellung von Natur bzw. Wirklichkeit dem Möglichen Vorrang gegenüber dem Wahrscheinlichen gibt, konstituiert ein solch ‚rezeptives Delirium‘, wie es Kittler beschreibt. Legitimation erhält die Verschiebung wie auch der von ihr bewirkte delirierende Effekt insbesondere durch das die Literatur, vor allem aber die Lyrik seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kennzeichnende „Subjektivitätstheorem“.235 Dieses korrespondiert mit dem durch die Vorstellung von Literatur als Dichtung im Zuge der 229 230 231 232 233 234 235

Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 52. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 52. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 53. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 · 1900 [1985], München: Fink 42003, S. 301. Kittler, Friedrich A.: Grammophon Film Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 19. Kittler, Friedrich A.: Philosophie der Literatur. Berliner Vorlesung 2002, Berlin: Merve 2013, S. 104. Kühn, Renate: „‚Sinnen-Bilder‘. Embleme im Werk Ilse Garniers“, in: Steinbacher, Christian (Hg.): Für die Beweglichkeit. Notizen, Rändern, Nomaden, Linz: StifterHaus 2009, S. 40–70, hier: S. 53.

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ersten Literaturrevolution etablierten „modernen, geniezeitlichen Begriff[] von Autorschaft“,236 denn nur den von Natur aus als schöpferisch begabt geglaubten Genies wurde die Befähigung zur ‚Produktion‘ von sog. ‚echter‘ Literatur (also Dichtung) zugesprochen.237 Die hier mit Blick auf ihre mimetischen Implikationen als Schreibweisen gelesenen Kategorien des Naiven und Sentimentalen bestimmt Schiller in seiner Abhandlung nicht nur als Dichtungs-, sondern auch als Empfindungsweisen (vgl. 466). Im Sinn der Querelle wird dadurch das in Bezug auf das „Nachahmungspostulat“ wirksame Primat des Wahrscheinlichen als eine Position der Anciens aufgegeben und zugunsten eines größeren „schöpferischen Freiraum[s] für die modernen Künstler“ vom Primat des Möglichen ersetzt.238 Das heißt, Mimesis wird dergestalt nicht länger als naive Nachahmung, sondern als sentimentalische Schöpfung gedacht. Damit vollzieht sich in der durch Schillers kategoriale Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtungs- und Empfindungsweise anschaulich werdenden Verschiebung vom Nachahmungs- zum Schöpfungsparadigma ein Übergang vom poetischen bzw. repräsentativen zum ästhetischen Regime der Künste: Laut Jacques Rancière ist dem repräsentativen Regime die (nachahmende) Mimesis vor allem „ein pragmatisches Prinzip, das aus dem allgemeinen Feld der Künste (der Tätigkeitsformen) bestimmte Künste isoliert, die spezifische Dinge herstellen, nämlich Nachahmungen“.239 Schillers Dichtungs- bzw. Empfindungsweisen und das durch sie zum Schöpferischen verschobene Mimesis-Konzept erweisen sich dagegen als dem ästhetischen Regime der Künste zugehörig, „weil die Identifizierung der Kunst als Kunst hier nicht mehr durch die Unterscheidung der Tätigkeitsformen erfolgt, sondern durch die Unterscheidung einer für Kunstwerke charakteristischen sinnlichen Seinsweise. Das Wort ästhetisch“, merkt Rancière an, „verweist im eigentlichen Sinne auf die spezifische Seinsweise dessen, was der Kunst zugehörig ist, also auf die Seinsweise ihrer Objekte.“240

236 237

238 239

240

Kühn: „‚Sinnen-Bilder‘“, S. 42. Zur ersten Literaturrevolution vgl Curtius, Ernst Robert: „Zum Begriff einer historischen Topik (1938–1949)“, in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 3–19. In Bezug auf die zweite Literaturrevolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die mit dieser korrespondierenden literaturwissenschaftlichen Revolution untersucht Renate Kühn die Auseinandersetzungen der historischen Avantgarden mit den ‚Errungenschaften‘ der Geniezeit (vgl. Kühn, Renate: „mémoire. Überlegungen zum Thema ‚Avantgarde‘ aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert“, in: perspektive. hefte für zeitgenössische literatur (37/38) 1999, S. 32–42. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens I, S. 16. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien [2000], hrsg. von Maria Muhle, übersetzt von Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, Berlin: b_books 2 2008, S. 37. Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 39.

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Schiller denkt diese ‚Seinsweise‘ durch das in der Dichtung verhandelte Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit entweder als naiv oder sentimentalisch. In dem von Schiller in seinem 23. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen konzeptuell entwickelten ‚ästhetischen Zustand‘ erkennt Rancière „die erste und in gewisser Hinsicht unübertroffene Manifestation dieses Regimes“, also des ästhetischen.241 Für den ‚Aufklärungspädagogen‘ Schiller markiert der ästhetische Zustand den „Uebergang von dem leidenden Zustande des Empfindens zu dem thätigen des Denkens und Wollens“ und er stellt für ihn zugleich die elementare Voraussetzung dafür dar, „den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen“.242 Das Konzept des ästhetischen Zustands bereitet Schiller bereits im 15. Brief seiner ‚ästhetischen Erziehung‘ theoretisch vor und zwar mittels des von ihm so genannten ‚Spieltriebs‘, der das ermögliche, was „uns weder Vernunft noch Erfahrung lehren“ können: Nämlich „[w]ie aber eine Schönheit seyn kann, und wie eine Menschheit möglich ist“243, denn erstens ist die Schönheit der „Gegenstand des Spieltriebes“244 und zweitens ist der Mensch „nur da ganz Mensch, wo er spielt“245. Im Spieltrieb sieht Schiller die anthropologischen Determinanten Erfahrung und Vernunft, Empfindung und Verstand, Neigung und Wille als „innigsten Bund“ in einem „Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung“ miteinander verbunden.246 Bezeichnender Weise wird Schiller es in seiner Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ zur Aufgabe (der Theorie) der sentimentalischen Idylle erklären, Möglichkeiten für die literarische Verwirklichung dieses Zustands zu eruieren. Gerade weil Rancière in Schillers Konzept des Spieltriebs gar ein revolutionäres Potenzial erkennt, das er – in Anlehnung an Schiller – „ästhetisch[e] Erfahrung“ nennt und damit ein „Sensorium[]“ meint, „in dem die Hierarchien, die die sinnliche Erfahrung strukturieren, abgeschafft sind“,247 ließe Schiller sich als eindeutiger Vertreter des ästhetischen Regimes der Künste begreifen. Jedoch veranschaulicht die in „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ entworfene Unterscheidung der beiden titelgebenden Dichtungs- und Empfindungsweisen deutlich den Übergang zwischen repräsentativem und ästhetischem Regime – auch wenn Schiller seine Abhandlung im selben Jahr publiziert wie die ebenfalls in den ‚Horen‘ erscheinenden Briefe über die ästhetische Erziehung, auf die Rancière sich bezieht. Schiller nimmt also vielmehr eine intermediäre 241 242

243 244 245 246 247

Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 40. Schiller, Friedrich: „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ [1795], in: Schillers Werke, begründet von Julius Petersen, Bd. XX: Philosophische Schriften I, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. von Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1962, S. 309–412, hier: 23. Brief, S. 383. Schiller: „Ueber die ästhetische Erziehung“, NA: XX, S. 356. Schiller: „Ueber die ästhetische Erziehung“, NA: XX, S. 355. Schiller: „Ueber die ästhetische Erziehung“, NA: XX, S. 359, Hervorhebungen i.O. Schiller: „Ueber die ästhetische Erziehung“, NA: XX, S. 359f. Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig? [2004], hrsg. und übersetzt von Frank Ruda und Jan Völker, Berlin: Merve 2008, S. 22.

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Position zwischen dem repräsentativen und dem ästhetischen Regime der Künste ein. Sie wird in seiner idyllentheoretischen Abhandlung erkennbar und lässt sich mit Bezug auf den Zeitkontext erklären: Die erste Literaturrevolution etabliert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insofern ein ästhetisches Regime der Künste, als sie in Auflehnung gegen die präskriptive Regelpoetik französischen Vorbilds die Literatur „von jeder spezifischen Regel und Hierarchie der Gegenstände, Gattungen und Künste“ befreit, aber durch den gemäß ihrer Vorstellung von (Hoch-)Literatur als Dichtung verengten Literaturbegriff weiterhin implizit einem repräsentativen Regime der Künste verpflichtet bleibt. Dessen normative Prinzipien sind es nämlich, die „die Bedingungen festlegen, nach denen die Nachahmung als rechtens zu einer Kunst zugehörig anerkannt und innerhalb des jeweiligen Rahmens dann als gut oder schlecht, passend oder unpassend bewertet werden können“.248 Angesichts des sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollziehenden Übergangs vom repräsentativen zum ästhetischen Regime – wobei diese beiden im Sinn Rancières nicht als historische Kategorien misszuverstehen sind – verweist auch Schillers Gegenüberstellung von naiver und sentimentalischer Dichtung auf einen solchen ‚Wechsel‘, denn das ästhetische Regime „stellt nicht das Alte gegen das Moderne“, sondern etabliert „in erste Linie ein neues Regime der Bezugnahme auf das Alte“.249 Genau darauf zielt Schillers Abhandlung, in der er die Frontstellung der Querelle gegen die Nachahmung der Antike (und nicht gegen die Antike selbst) modifizierend aufnimmt und das Primat des Möglichen für die sentimentalische Mimesis der Schöpfung stark macht. (Inwieweit Schillers Konzept der sentimentalischen Idylle in diesem Zusammenhang als implizite Kritik am Mimesis-Begriff lesbar erscheint, wird im dritten Teil dieses Kapitels genauer verhandelt.) In „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ entwirft Schiller also nicht ‚nur‘ eine Idyllentheorie, sondern formuliert grundlegende literaturtheoretische Positionen, deren Stellenwert sich vor allem daran bemisst, dass er in seiner Abhandlung an frühere poetologische Reflexionen anknüpft und sie nun systematisch zusammenführt. In seinem Aufsatz „Ueber die tragische Kunst“ entwickelt Schiller das Konzept der poetischen Wahrheit. Darin liege der Zweck der Tragödie, denn sie „stellt eine Handlung dar, um zu rühren, und durch Rührung zu ergötzen. Behandelte sie also einen gegebenen Stoff nach diesem ihrem Zwecke“, resümiert Schiller, „so wird sie eben dadurch in der Nachahmung frey.“ Aus diesem Grund stehe der „tragische Dichter, so wie überhaupt jeder Dichter, nur unter dem Gesetz der poetischen Wahrheit“.250 Was Schiller hier als 248 249 250

Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 38. Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 42, Hervorhebung N.J. Vgl. Schiller, Friedrich: „Ueber die tragische Kunst“ [1792], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XX: Philosophische Schriften. Erster Teil, hrsg. von Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1972, S. 148–170, hier insbesondere S. 166, Hervorhebungen i.O.

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‚Freiheit (in) der Nachahmung‘ fordert, entspricht der in seiner Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ implizit dargestellten Verschiebung vom Nachahmungs- zum Schöpfungsparadigma. In seinem 1793 erschienenen Aufsatz „Über das Pathetische“ grenzt Schiller die poetische Wahrheit gegenüber der historischen der Geschichtsschreibung genauer ab. Die größere „ästhetische Wirkung“ der poetischen Wahrheit gründet er dabei – ganz aristotelisch – auf den Vorzug des Möglichen gegenüber dem Wahrscheinlichen: „Die poetische Wahrheit besteht“, so führt Schiller aus, „aber nicht darinn, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darinn, daß es geschehen konnte, also in der innern Möglichkeit der Sache. Die ästhetische Kraft muß also schon in der vorgestellten Möglichkeit liegen.“251 Schillers Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ erweist sich somit als Weiterführung seiner früheren poetologischen Überlegungen, denen er durch die Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung ein nunmehr literaturtheoretisches Fundament gibt. Dieses geht, wie herausgestellt, von der mimetischen Darstellung des Differenzverhältnisses zwischen Ideal und Wirklichkeit aus. Daraus entwickelt er im Weiteren seine Typologie sentimentalischer Dichtung: Auf einer ersten Ebene grenzt Schiller dazu satirische Dichtung als Darstellung des tatsächlichen Widerspruchs zwischen Wirklichkeit und Ideal von elegischer Dichtung ab, die der Wirklichkeit das Ideal gegenüberstellt. Im ersten Fall geht es also schlicht um das Aufzeigen einer Differenz, während im zweiten Fall eine ‚ideale Alternative‘ in Form einer Idee vor Augen geführt wird, um die aufgezeigte Differenz zu kompensieren. Hieran wird Schillers ‚idealpragmatischer‘ Ansatz deutlich, denn er sieht die Aufgabe der sentimentalischen Dichtung darin, dass der Mensch durch sie „von der Ausführbarkeit jener Idee in der Sinnenwelt, von der möglichen Realität jenes Zustandes eine sinnliche Bekräftigung“ erhält (468, Hervorhebungen N.J.). Schiller fasst Dichtung hier also vor allem auch als ein Erkenntnismittel auf, das die in der Entwicklung wissenschaftlichen Fortschrittsdenkens und aufklärerischer Vernunftbegabung des Menschen so stark betonte sinnliche Erfahrung ergänzt. Empirie reiche nämlich nicht aus, um dem Menschen die Idee einer Alternative zur Wirklichkeit vorzuführen, weil er durch seine Erfahrung bloß „beständig widerlegt“ werde (468). Daher solle „das Dichtungsvermögen der Vernunft zu Hülfe“ kommen, „um jene Idee zur Anschauung zu bringen“ (468). Was Schiller also bereits 1784 in seiner am 26. Juni gehaltenen (und ein Jahr später in der ‚Rheinischen Thalia‘ veröffentlichten) Vorlesung vor der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft in Mannheim im Speziellen für die Schaubühne und damit die „dramatische Kunst“ herausstellt, die insofern zur „Men-

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Schiller, Friedrich: „Über das Pathetische“ [1793], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XX: Philosophische Schriften. Erster Teil, hrsg. von Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1972, S. 196–221, hier: S. 218.

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schen- und Volksbildung“ beitrage,252 als sie auf die „Kräfte der Seele, des Geistes und des Herzens“ wirke,253 formuliert er in seiner idyllentheoretischen Abhandlung von 1795/96 im Allgemeinen für die gesamte Literatur. Sie untergliedert er gemäß des von ihr dargestellten Verhältnisses von Ideal und Wirklichkeit auf der zweiten Ebene im Bereich der sentimentalischen Dichtung weiter:254 Wenn sentimentalische Dichtung „die Entfernung von der Natur“ und damit also „den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale“ darstellt (442), handle es sich um ‚satirische Dichtung‘. Diese unterteilt Schiller auf einer dritten Ebene nochmals, indem er die pathetische bzw. strafende, d. h. ernste Satire, von der heiteren, also scherzhaften abgrenzt (vgl. 442). Zur konkreten Erscheinungsform der ernsten Satire zählt er die Tragödie, während er die Komödie als konkrete Erscheinungsform der scherzhaften Satire begreift (vgl. 444ff). Von der satirischen Dichtung unterscheidet Schiller schließlich die elegische, die „die Natur der Kunst und das Ideal der Wirklichkeit“ so entgegengesetzt, „daß die Darstellung des ersten überwiegt, und das Wohlgefallen an demselben herrschende Empfindung wird“ (448). Aus der Art der Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit bzw. Natur und Kunst entwickelt er analog zur Differenzierung zwischen ernster und scherzhafter Satire auf dritter Ebene nochmals zwei weitere „Klassen“ elegischer Dichtung „unter sich“: „Entweder ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste gibt die Elegie in engerer, das andre die Idylle in weitester Bedeutung.“ (448f, Hervorhebungen i.O.)

3.2.2Eine sentimentalische Theorie der sentimentalischen Idylle Das Idylle-Kapitel in „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ stellt laut Oellers das „Herzstück der Schillerschen Abhandlung“ dar,255 deren Besonderheit vor allem darin besteht, dass „Satyre, Elegie und Idylle“ als „die drei einzig möglichen Arten sentimentalischer Poesie“ jeweils als „Empfindungsweise und Dichtungsweise“ aufgefasst werden (466). Hierdurch begründet sich für Schiller auch, dass er „die Benennungen Satyre, Elegie und Idylle in einem weitern Sinne gebrauche, als gewöhnlich geschieht“, denn er „sehe bloß auf die in diesen Dichtungsarten herrschende Empfindungsweise“ (449, 252

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Schiller, Friedrich: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ [1784/85], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XX: Philosophische Schriften. Erster Teil, hrsg. von Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1972, S. 89– 100, hier S. 88. Schiller: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, NA: XX, S. 89. Zur weiteren Erläuterung der Systematik von Schillers Typologie vgl. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 452. Oellers: Schiller, S. 483.

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Hervorhebung i.O.). Diese lasse sich „keineswegs in jene engen Grenzen einschließen“, die die drei sentimentalischen Dichtungsweisen mit den namensgleichen Gattungen der Satyre, Elegie und Idylle auszeichnen (449). Mit seiner Doppelperspektive auf Dichtungs- und Empfindungsweisen transzendiert Schiller die rein gattungstheoretische Bestimmung von Literatur und versucht so zu einer „geschichtsphilosophischen Funktionsbestimmung von Kunst“ zu gelangen.256 Die Differenzierung zwischen Empfindungs- und Darstellungsweise beruht auf der Annahme, dass das Verhältnis des Dichters zu dem, was er darstellen will, die Art und Weise der Darstellung bedingt: „Der Dichter [...] ist entweder Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter.“ (436, Hervorhebungen i.O.) Das, was Schiller hier als den Naturbezug des Dichters beschreibt, der entweder als ein Naiver Teil der Natur ist oder sie als ein Sentimentalischer sucht, folgt wiederum jenem die gesamte Abhandlung strukturierenden Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Ideal: Die naive Dichtung kann eben nur von einer Übereinstimmung zwischen Ideal und Wirklichkeit handeln, weil der naive Dichter Teil der für diese Übereinstimmung stehenden Natur ist. Anders der sentimentalische Dichter, der sich in keinem solch ‚naiven‘ Verhältnis zur Natur befindet. Diesen anderen ‚Naturbezug‘ stellt er in seiner Dichtung durch den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit dar: „Die sentimentalischen Dichter“, erläutert Oellers in Bezug auf die Schiller’sche Differenz, „gehen mit der Wirklichkeit satirisch um, wenn sie deren Abstand zum Ideal entweder tadelnd oder spottend darstellen; sie können ihr aber auch elegisch begegnen, wenn sie das Ideal selbst so behandeln, dass [...] der erkennbare Abstand zur Wirklichkeit die Klage über das Unverhältnis hervorruft.“257 Als Empfindungs- und Dichtungsweise steht das Sentimentalische bei Schiller somit für eine Dichtung, „in der die Subjektivität des Autors gegenüber der bloßen Faktizität seiner Gegenstände hervortritt und Übergewicht erhält“.258 Von diesem Standpunkt einer Empfindungs- und Darstellungsweise aus, versucht Schiller die Idylle als „dritte Species sentimentalischer Dichtung“ neben der Satire und der Elegie zu bestimmen (466). Während die Satire „den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale“ entweder scherzhaft oder pathetisch-ernst darstellt und so durch die Betonung des Widerspruchs entweder tadelnd oder belustigend wirkt (442), erscheint die Elegie als eine nachgerade resignative Darstellung des im Widerspruch zur Wirklichkeit stehenden Ideals, das entweder als „verloren“ oder aber „unerreicht“ beklagt wird (448). Die sentimentalische Idylle verhält sich hingegen komplementär zur Elegie, weil sie das Ideal nicht als ein unerreichbar verlorenes beklagt, sondern es als eine „möglich[e] Realität“ darstellt (468). Deshalb kann sie also von der zukünftigen „Ausführbarkeit“ des Ideals eine „sinnliche Bekräftigung“ geben (468). 256 257 258

Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 185. Oellers: Schiller, S. 482f. Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 457.

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Eine dergestalt ‚ideale Idylle‘ existiert jedoch nach Schillers eigener Aussage noch nicht, „denn eine ausführlichere Entwicklung derselben, deren sie vorzüglich bedarf, bleibt einer andern Zeit vorbehalten“ (466). Man könnte diese Eröffnung des IdylleKapitels in „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ für einen rhetorischen Taschenspielertrick halten: Wenn Schiller seine theoretischen Überlegungen zur Idylle hier implizit als noch nicht allzu weit gediehen bezeichnet, dann zieht er damit zugleich jeder Kritik daran im Voraus den Zahn – eben weil diese Überlegungen noch genauer ausgeführt werden müssen. In demselben Maße, wie diese Einleitung rhetorisches Manöver ist, erweist sie sich zugleich als performative Poetologie, denn Schiller richtet seine eröffnenden Ausführungen zur Theorie der Idylle nach eben dieser nachfolgend von ihm dargelegten Theorie aus: Diese stellt er zu Anfang somit als ein Ideal her- und voraus, von dem seine Reflexionen dann gewissermaßen eine „sinnliche Bekräftigung“ geben (468). Schillers Theorie der sentimentalischen Idylle ist demnach selbst ganz und gar sentimentalisch. Seine weiteren theoretischen Überlegungen gründet Schiller auf dem allgemein vorherrschenden Verständnis der „Dichtungsart“ ‚Idylle‘ als „poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit“ (467). Ermöglicht werde diese Darstellung der Menschheit „im Stand der Unschuld, d. h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst und von aussen“, weil „der Schauplatz der Idylle aus dem Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenstand verlegt“ ist – schließlich seien „diese Unschuld und dieses Glück mit den künstlichen Verhältnissen der größern Societät und mit einem gewissen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unverträglich“ (467). Eine solche Idylle erscheint in Schillers Typologie nicht sentimentalisch, sondern naiv, denn sie veranschauliche die „Stelle vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Alter der Menschheit“ (467, Hervorhebungen i.O.). Sicherlich greift Schiller hier implizit Rousseaus Konzept des Naturzustands auf, jedoch scheint seine Idyllen-Definition insbesondere an jenem „allgemein[en] Begriff dieser Dichtungsart“ ausgerichtet (467), wie ihn Gottsched durch seine ‚Critische Dichtkunst‘ etabliert, schließlich findet sich dort der von Schiller zitierte ‚Stand der Unschuld‘: Nach Gottsched sei die Idylle als „Abschilderung des güldenen Weltalters“ zu verstehen und zwar im Sinn einer „Vorstellung des Standes der Unschuld, oder doch wenigstens der patriarchalischen Zeit, vor und nach der Sündfluth“.259 Es ist genau diese bereits in der Gottsched’schen Definition der Idylle angelegte und später dann gerade für die Rousseau unterstellte ‚retour‘-Idee charakteristische temporale Ausrichtung der Idylle, auf die Schiller seine Kritik richtet, wenn er feststellt, dass eine derartige zeitliche Rückprojektion „nicht als der Zweck der Idylle, bloß als das natürlichste Mittel zu demselben in Betrachtung“ komme (467). 259

Gottsched, Johann Christoph: „Von den Idyllen oder Schäfergedichten“, in: ders: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert [1730], Leipzig: Johann Christoph Breitkopf 41751, S. 581–602, hier: S. 582, Hervorhebung N.J.

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Schiller übernimmt hier Fichtes – nachweislich auf dem Missverständnis idyllischer Überlagerungen aufbauende – Kritik an Rousseaus Konzept des Naturzustands und überträgt sie auf die Idylle, weil sich der idyllische „Stand der Unschuld“ für ihn nicht als ein in der Vergangenheit liegendes und deshalb verloren zu glaubendes ‚Goldenes Zeitalter‘ darstellt: „Aber ein solcher Zustand findet nicht bloß vor dem Anfange der Kultur statt, sondern er ist es auch, den die Kultur, wenn sie überall eine bestimmte Tendenz haben soll, als ihr letztes Ziel beabsichtigt.“ (467) In diesem gemeinsamen ‚Zweck‘ von Idylle und Kultur zeigt sich Schillers idyllische Umsetzung seiner progressiven ‚retour‘-Idee, die er bereits zu Beginn seiner Abhandlung formuliert, wenn er feststellt: „Wir waren Natur [...], und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit, zur Natur zurückführen.“ (414) Schillers idyllentheoretischer Ansatz, mit dem er den ‚Stand der Unschuld‘ als ein mögliches, in der Zukunft realisierbares Ideal darstellt – statt ihn als ein verloren gegangenes Goldenes Zeitalter zu begreifen –, erscheint tatsächlich gegen Rousseau gerichtet. Dessen im ersten und zweiten Discours formulierte Gesellschaftskritik nimmt Schiller nämlich indirekt auf und stellt seinen Ansatz als eine Möglichkeit dar, um die durch den Kulturalisationsprozess hervorgebrachten Übel in der Gesellschaft zu überwinden: Die Idee dieses Zustandes [der Unschuld, N.J.] allein und der Glaube an die mögliche Realität derselben kann den Menschen mit allen den Übeln versöhnen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen ist, und wäre sie bloß Schimäre, so würden die Klagen derer, welche die größere Societät und die Anbauung des Verstandes bloß als ein Übel verschreyen und jenen verlassenen Stand der Natur für den wahren Zweck des Menschen ausgeben, vollkommen gegründet seyn. (468)

Die Passage verdeutlicht zweierlei: Erstens schließt Schiller implizit an Fichtes Rousseau-Kritik an, dernach der Naturzustand als ein verlorenes Ideal aufgefasst und dergestalt der Kultur und ihrem „beständigen Fortgang“ als „Bestimmung der Menschheit“ entgegengesetzt wird (F 335f), sodass die angeblich propagierte ‚Rückkehr‘ dahin schlicht unmöglich erscheinen muss – sie würde nämlich eine Umkehrung des Kulturalisationsprozesses bedeuten. Zweitens relativiert Schiller diese Kritik an Rousseau, der den idyllischen Stand der Unschuld doch „bloß vor dem Anfange der Kultur“ und nicht als deren Zweck und Ziel denkt, weil dem Genfer Philosophen offenbar jener von Schiller beschworene „Glaube an die mögliche Realität“ und die „Idee dieses Zustandes“ gefehlt haben muss (467): Denn wäre Schillers Ansatz eines in die Zukunft projizierten und durch die Kultur und deren Weiterentwicklung zu erreichenden ‚retour‘, wie er im indirekten Zugeständnis an Rousseau formuliert, „bloß Schimäre, so würden die Klagen derer“, die den „verlassenen Stand der Natur“ angesichts der durch „die größere Societät und die Anbauung des Verstandes“ verursachten Übel zum „wahren Zweck des Menschen“ erklären, tatsächlich „vollkommen gegründet seyn“ (468). Schiller geht sogar noch weiter und äußert ein sich auf Empirie gründendes Verständnis für derartige Zweifel an der von ihm behaupteten „möglichen Realität jenes

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Zustandes“, weil die „wirkliche Erfahrung“, die der Mensch, „der in der Kultur begriffen ist“, tagtäglich mache, statt „diesen Glauben zu nähren, ihn vielmehr beständig widerlegt“ (468). Um trotzdem „von der Ausführbarkeit jener Idee [...] eine sinnliche Bekräftigung zu erhalten“, die die Wirklichkeit stets verweigert, solle „das Dichtungsvermögen der Vernunft zu Hülfe“ kommen, „um jene Idee zur Anschauung zu bringen“ (468). Argumentativ bereitet Schiller mit dem Bezug auf das Dichtungsvermögen das Konzept einer sentimentalischen Idylle vor, die den ‚Stand der Unschuld‘ „nicht bloß vor dem Anfange der Kultur“ und damit als ein verlorenes Ideal darstellt, sondern die „Ausführbarkeit jener Idee“ als das eigentliche Ziel der Kultur evident macht (467). Diese neue sentimentalische Perspektive fehle Rousseau, der „als Dichter, wie als Philosoph, [...] keine andere Tendenz [hat] als die Natur entweder zu suchen, oder an der Kunst zu rächen“ (451). Aus diesem Grund ist Rousseau für Schiller eindeutig ein elegischer Dichter, denn als ein solcher suche dieser „die Natur, aber als eine Idee und in einer Vollkommenheit, in der sie nie existiert hat“, weil „er sie gleich als etwas da gewesenes und nun verlorenes beweint“ (451). Dies zeige sich bei Rousseau vor allem „in dem Ideale, das er von der Menschheit aufstellt“, und dabei „auf die Schranken derselben zu viel, auf ihre Vermögen zu wenig Rücksicht“ nehme (452). Schiller gesteht Rousseaus „Dichtungen“, wie beispielsweise „seiner Julie“, zwar einen „unwidersprechlich poetischen Gehalt“ zu, weil „sie ein Ideal behandeln“, nur wisse „er denselben nicht auf poetische Weise zu gebrauchen“ (451). Ein solch ‚poetischer Gebrauch‘ liegt für Schiller, wie er es im Idylle-Kapitel der Abhandlung darlegt, immer dann vor, wenn „die Dichtungskraft [...] wirklich für das Ideal gearbeitet hat“ (468). In Bezug auf das Ideal eines von Schiller propagierten Stands der Unschuld, der nicht bloß vor dem Anfange der Kultur liegt, formuliert er die Aufgabe der sentimentalischen Idylle als ‚sinnliche Bekräftigung‘ eines solchen Ideals (vgl. 468). Diese Aufgabe erscheint umso notwendiger, weil – und hier ist Schiller wieder ganz bei Rousseau und dessen Gesellschaftskritik – der Mensch seinen ursprünglichen Naturzustand zweifelsfrei verlassen habe: Denn für den Menschen, der von der Einfalt der Natur einmal abgewichen und der gefährlichen Führung seiner Vernunft überliefert worden ist, ist es von unendlicher Wichtigkeit, die Gesetzgebung der Natur in einem reinen Exemplar wieder anzuschauen, und sich von den Verderbnissen der Kunst in diesem treuen Spiegel wieder reinigen zu können. (468f)

Auch wenn die „Unschuld des Hirtenstandes“, die die Idylle zeigt, lediglich „eine poetische Vorstellung“ ist, sei es für das „Dichtungsvermögen“ insofern leicht, die Idee davon zu veranschaulichen, weil „sich in der Erfahrung selbst schon die einzelnen Züge“ davon finden lassen, sodass die sentimentalische Idylle „sie nur auszuwählen und in ein Ganzes zu verbinden“ braucht (468). Mit dieser Feststellung beruft sich Schiller auf die allgemeine Historisierung der Idylle, denn „[a]lle Völker, die eine Geschichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldnes Alter“ (468). Derge-

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stalt erweist sich die Idylle nicht nur als ‚kosmogone Gattung‘, in der Ursprungsmythen dargestellt werden – erinnert sei an Gessners Lycas-Idylle, in der von der Erfindung der Gärten berichtet wird –, sondern geradezu als geschichtsphilosophische Disposition der Menschheit sowie des Individuums, denn Schiller betont, dass „jeder einzelne Mensch […] sein Paradies, sein goldnes Alter“ habe, „dessen er sich, je nachdem er mehr oder weniger poetisches in seiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert“. (468) Vor dem Hintergrund ihrer Historisierung formuliert Schiller seine sentimentalische Kritik an der ‚klassischen‘ Idylle, deren Funktion er über das Gefühl des Verlusts bestimmt. Idyllen im hergebrachten und das heißt in diesem Fall nicht-sentimentalischen Sinn führen uns also theoretisch rückwärts, indem sie uns praktisch vorwärts führen und veredeln. Sie stellen unglücklicherweise das Ziel hinter uns, dem sie uns doch entgegen führen sollten, und können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der Hoffnung einflößen. (469, Hervorhebungen i.O.).

Mit diesen Ausführungen zur sentimentalischen Kritik an der Idylle knüpft Schiller nachgerade buchstäblich an Fichte an, der schließlich die Paradoxie der (Rousseaus Konzept vom Naturzustand unterstellen) ‚retour‘-Idee betont, weil „das, was wir werden sollen, geschildert wird, als etwas, das wir schon gewesen sind“, und zugleich „das, was wir zu erreichen haben, vorgestellt wird als etwas Verlorenes“ (F 342f, Hervorhebungen i.O.). Durch die theoretische Fassung seiner sentimentalischen Idylle operationalisiert Schiller Fichtes Rousseau-Kritik und veranschaulicht sie insofern ex negativo, als er hieraus seine Kritik an der „Schäferidylle der sentimentalischen Dichter“ ableitet (470). Hier fällt Schillers Argumentation ihren eigenen Begrifflichkeiten zum Opfer, denn er bezieht seine Kritik auf Gessner, der zwar insofern ein ‚sentimentalischer‘ Dichter ist, als er – historisch betrachtet – zu den ‚modernen‘ zählt, aber nach Schillers Theorie jedoch keinesfalls sentimentalische Idyllen schreibt. Das veranschaulicht Schiller am Beispiel des „Geßnerisch[en] Hirt[en]“, der ihm als ein „zu ideales Wesen“ gilt (470, Hervorhebungen i.O.), denn er ist „weder ganz Natur noch ganz Ideal“ (471). An diesem Befund zeige sich Gessners größtes Manko, weil er in seinen Idyllen „das Naive mit dem Sentimentalen zu vereinigen strebt“ (471). In diesem Sinn bietet Gessner „bey dem höchsten Gehalt für das Herz, allzuwenig für den Geist“ (469, Hervorhebungen i.O.), denn seine Idyllen „haben ein Ideal ausgeführt und doch die enge dürftige Hirtenwelt beybehalten, da sie doch“ – um als sentimentalisch gelten zu können – „schlechterdings entweder für das Ideal eine andere Welt, oder für die Hirtenwelt eine andre Darstellung hätten wählen sollen“ (470). Für Schiller zeichnen sich Gessners Idyllen daher durch eine besondere „Halbheit“ aus, weil sie die beiden Verfahren, durch die sich das Naive und das Sentimentalische unterscheiden, miteinander verkoppeln. Schließlich gilt laut Schiller „in der Idylle wie in

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allen andern poetischen Gattungen“, dass „man einmal für allemal zwischen der Individualität und der Idealität eine Wahl treffen“ müsse (471). Das Verfahren der Individualisierung ist nach Schiller für die naive Dichtung kennzeichnend und betrifft die „Form“, insofern in dieser ein „unendlich[er] Gehalt“, durch den Dichtung – egal ob naiv oder sentimentalisch – überhaupt erst zu Dichtung werde, „schon enthalten ist“ (469). Entsprechend formuliert er in Bezug auf die naive Dichtung: „Sie kann ein Unendliches seyn, der Form nach, wenn sie ihren Gegenstand mit allen seinen Grenzen darstellt, wenn sie ihn individualisirt“ (470, Hervorhebungen i.O.). Hingegen erscheine sentimentalische Dichtung „der Materie nach“ als ein Unendliches, „wenn sie von ihrem Gegenstand alle Grenzen entfernt, wenn sie ihn idealisirt“ (470, Hervorhebungen i.O.). Während das naive Individualisieren somit eine „absolute Darstellung“ bewirke, gelange man durch das sentimentalische Idealisieren zur einer „Darstellung des Absoluten“ (470). Die konkrete Umsetzung der beiden Verfahren erläutert Schiller nicht – er koppelt sie jedoch implizit an jene beiden ‚Modi‘ der Mimesis, mit denen sich die Positionen der Querelle-Vetreter gemäß der ‚alten‘ Nachahmung und der ‚modernen‘ Schöpfung unterscheiden lassen: Nach Schiller ahmt der naive Dichter nach, denn er könne „seinen Gehalt nicht verfehlen, sobald er sich nur treu an die Natur hält, welche immer durchgängig begrenzt, d.h. der Form nach unendlich ist“ (470). Anders hingegen der sentimentalische Dichter: Ihm „steht die Natur mit ihrer durchgängigen Begrenzung im Wege, da er einen absoluten Gehalt in den Gegenstand legen soll. Der sentimentalische Dichter versteht sich also nicht gut auf seinen Vorteil, wenn er dem naiven Dichter seine Gegenstände abborgt [...].“ (470, Hervorhebungen i.O.) Dies liest sich als verdeckte Kritik am Konzept einer imitatio veterum, wie sie beispielsweise Gessner explizit betreibt – schließlich nennt er im Vorwort seiner Idyllen von 1756 Theokrit als „das beste Muster in dieser Art Gedichte“,260 weshalb er für einen Versuch „der glüklichen Nachahmung“ seine „Regeln in diesem Muster gesucht“ habe.261 Wenn Schiller dem sentimentalischen Dichter daher empfiehlt, „er sollte sich also vielmehr gerade in dem Gegenstand von dem naiven Dichter entfernen“ (470), dann gibt er in Bezug auf die Mimesis der ‚modernen‘ Schöpfung den Vorzug gegenüber der ‚alten‘ Nachahmung. Schiller richtet seine Theorie der sentimentalischen Idylle also augenscheinlich an den avancierten poetologischen Diskursen seiner Zeit aus, denn es ist gerade die mimetische Schöpfung, durch die ein ‚praktisches Vorwärtsführen‘ ermöglicht wird. Genau das soll die sentimentalische Idylle leisten, wenn sie die Idee eines ‚retour à la nature‘ modifizierend aufgreift und den Menschen durch Kultur, also „auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit“ (414), wieder zur Natur und damit in jenen „Stand der Unschuld“ führt (467). Dieser ist nicht im Sinn einer rückwärtsgewandten Vorstellung das verlorene und daher nicht wiederzugewinnende ‚Goldene Zeitalter‘, sondern er wird vielmehr vorwärts260

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Gessner, Salomon: „An den Leser“, in: ders: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von Ernst Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 15–18, hier: S. 17. Gessner: „An den Leser“, S. 18.

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gewandt als zukünftige Verwirklichung eines idealen Zustands der „Mündigkeit“ und „höher[en] Harmonie“ begriffen (472). Schiller komprimiert diese theoretische Fassung seiner sentimentalischen Idylle in dem Satz, dass es deren Aufgabe sei, „den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elisium“ zu führen (472, Hervorhebungen i.O.). Damit wird das auf Vergil zurückgehende idyllische Arkadien-Konzept durch das von Elysium ersetzt – eine ebenfalls aus der Antike stammende Paradies-Vorstellung: Als „Land“ bzw. „Insel der Seligen“ ist Elysium bzw. Elysion ein mythisches Jenseitskonzept und zugleich ein idyllischer Ort im Sinn des hortus conclusus, in den „die v[on] Zeus Geliebten entrückt wurden u[nd] ein glückl[iches] Dasein führten“.262 Derartiges ‚besingt‘ Schiller in seinem Gedicht „Elisium. Eine Kantate“ von 1782, worin er „Elisiums Leben“ nachgerade als ein idyllisches darstellt, weil „[d]urch lachende Flure ein flötender Bach“ fließt, der „[e]wige Wonne, ewiges Schweben“ verheißt.263 Im Rückbezug auf das Differenzverhältnis von Ideal und Wirklichkeit, das den Ausgangspunkt für Schillers theoretische Überlegungen und seine aus diesen abgeleitete Typologie sentimentalischer Dichtung darstellt, bestimmt er schließlich den „Charakter“ der Idylle: Er bestehe darin, „daß aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideale […] vollkommen aufgehoben sey“ (472, Hervorhebungen i.O.).

3.2.3‚Vorwärts immer, rückwärts nimmer‘: Theoretische Aporien der Idylle Mit Schillers Umbenennung des durch die sentimentalische Idylle angezeigten idealen „Ort[es] des ungetrübten (idyllischen) Glücks“ ist nach Oellers eine Absage an das von

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Stichwort ‚Elysion‘, in: Holzapfel, Otto: Lexikon der abendländischen Mythologie, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1993, S. 117. Schiller, Friedrich: „Elisium. Eine Kantate“, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. I: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799, hrsg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1943, S. 122f, hier: S. 122. Insgesamt ist das im Gedicht beschriebene „Freudengelage“ (V. 3) durch den materialen Topos der Idylle vermittelt – und das nicht nur, weil in Elysium „[e]wiger May“ (V. 12) herrscht. Vielmehr suspendiert dieser Ort die Kategorien von Raum und Zeit, denn „[d]ie Stunden entfliehen in goldenen Träumen, / Die Seele schwillt aus in unendlichen Räumen“ (V. 10f). Wie schon Lycas’ imaginärer Garten in der Gessner-Idylle so ist auch Schillers Gedicht-Elysium ein locus amoenus für Liebesbegegnungen. Diese ‚idyllische Quintessenz‘ liefert passender Weise die fünfte Strophe des Gedichts, das von einem Chor dargeboten wird: „Hier umarmen sich getreue Gatten, / Küssen sich auf grünen sammtnen Matten / Liebgekost vom Balsamwest, / Ihre Krone findet die Liebe, / Sicher vor des Todes strengem Hiebe, / Feyert sie ein ewig Hochzeitsfest.“ (V. 28–34).

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Vergil etablierte Arkadien-Konzept für die sentimentalische Dichtung verbunden.264 Den Grund dafür erläutert E. Theodor Voss, denn aus Schillers Perspektive lasse sich mit dem ‚alten‘ Arkadien-Konzept lediglich „die Wirkung der Trauer um Verlorenes“ darstellen und nicht die als „Vorstellung einer auf den kommenden Weltzustand der ‚Versöhnung‘“ begriffene „höchste Idee der Poesie“.265 Deshalb ersetzt Schiller das „nun einmal unwiederbringliche Arkadien“ durch das eine solche „Hoffnung weckende ‚Elysium‘“.266 Der Austausch von Arkadien durch Elysium bewirkt einen idyllischen Richtungswechsel, denn indem Schiller mit Elysium das durch den Prozess der Kulturalisation zu erreichende Ideal nicht länger vor den Anfang der Kultur setzt, sondern es als deren Ziel formuliert – von dem die sentimentalische Idylle eine konkrete Vorstellung als zu realisierende Möglichkeit vermittelt – richtet er die Idylle auf die Zukunft aus, wie sich mit Rolf Wedewer schlussfolgern lässt: „Damit ist eine Idealisierung gegeben, die weder mit der Gegenwart jeweils Berührung hat, noch auch in irgendeiner Weise mit der Tatsächlichkeit der Vergangenheit.“267 In seiner Affektpoetik stellt Burkhard Meyer-Sickendiek heraus, dass diese elysische Neu-Verortung der Idylle einen Wandel im Konzept des durch sie vermittelten Glücks impliziere, denn „[w]o in der glücklichen Welt der antiken Bukolik die Erinnerung an die Unschuldsmotivik Arkadiens steht, leitet die sentimentalische bzw. moderne Idylle nach Schiller das Glück aus der Hoffnung auf ein (noch) mögliches, noch nicht vereiteltes, von Menschen erarbeitetes Glück her“.268 In dieser Ausrichtung der sentimentalischen Idylle hat die Forschung deren „zukunftsgerichtete utopische Dimension“ erkannt.269 Dass sie dergestalt zur utopischen Idee bzw. der Idee einer Utopie avanciert,270 zeige sich laut Meyer-Sickendiek gerade an Schillers auf eine mögliche Zukunft gerichteten und dort Glück verheißenden idyllischen Elysiums, denn „Glück bzw. Freude dürfe für den modernen Dichter nicht mehr aus dem nostalgischen Gedanken an ein

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Oellers: Schiller, S. 484 Voss, E. Theodor: „Arkadien und Grünau. Johann Heinrich Voss und das innere System seines Idyllenwerkes“, in: Garber, Klaus: Europäische Bukolik und Georgik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 391–431, hier: S. 406. Voss: „Arkadien und Grünaus“, S. 406. Wedewer, Rolf: „Einleitung: Von der Vorstellung zur Wirklichkeit“, in: Wedewer, Rolf/Jensen, Jens Christian (Hgg.): Die Idylle. Eine Bildform im Wandel. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit. 1750– 1930, Köln: DuMont 1986, S. 21–32, hier: S. 21. Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 339. Diekkämper, Birgit: Formtraditionen und Motive der Idylle in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bemerkungen zu Erzähltexte von Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck und Adalbert Stifter, Frankfurt a.M.: Lang 1990 (zugl. Bochum, Univ., Diss., 1989), S. 40. Vgl. Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, S. 269.

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goldenes Zeitalter (Arkadien), sondern aus der im Sinne einer Progression evozierten Utopie des Elysium [sic] hervorgehen“.271 Der Eindruck, dass Schiller die sentimentalische Idylle durch sein Elysium ins „Verhältnis zur Utopie“ setze,272 liegt allein schon aufgrund des intertextuellen Bezugs nahe, der diesem ‚Alternativkonzept‘ zu Arkadien eingeschrieben ist: Wie zuvor dargestellt, nennt Rousseaus Julie ihren Privatgarten ‚Elysium‘ und ihr Landsitz Clarens erscheint für St. Preux als idyllischer Ort einer harmonisch zusammenlebenden Gesellschaft (die aber keinesfalls auf eine feudalherrschaftliche Stratifikation verzichtet): Das Ehepaar de Wolmar verschafft seinen Bediensteten durch Brot und Spiele nicht nur Unterhaltung in der arbeitsfreien Zeit, sondern bewirkt dadurch zugleich eine moralische Erziehung der einfachen Hausangestellten und Landarbeiter.273 Insofern erscheint Clarens für St. Preux als „Ideallandschaft“, weil „es Lebensraum für eine ideale Gesellschaft bietet, einer Gesellschaft, die sich in der von ihr geschaffenen Landschaft bewußt ausdrückt, nicht nur in ihr lebt und sie zur Lebensfristung benutzt“.274 Dabei bewundert St. Preux insbesondere das so erzeugte und gelebte idyllische ‚trompe l’œil‘, wenn er sich fragt, wie man sich der süßen Täuschung entziehen könne, durch die deratiges entsteht: „Comment se dérober de la douce illusion que ces objets font naître?“275 Wie Böschenstein betont, sei Schillers utopische Perspektivierung der Idylle buchstäblich „zukunftsweisend“: Im Konzept der sentimentalischen Idylle erkennt sie 271 272 273

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Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 18. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 129. Die Familie de Wolmar zeigt sich sowohl den Arbeitern auf ihren Ländereien als auch „dem im Hofe beschäftigten Gesinde“ sowie der „groß[en] Zahl Tagelöhner“ gegenüber als besonders sozial (Rousseau: Die neue Héloïse, S. 463): „Allen diesen Arbeitern gibt man stets zweifachen Lohn. Der eine ist der Lohn nach Pflicht und Recht“, während der andere „ein Lohn der Wohltätigkeit“ ist (ebd.). Darüber hinaus lässt gerade Julie ihren Untergebenen eine besondere Form von „Zuneigung“ angedeihen, die weit über „wirtschaftliche Erwägungen“ hinausgeht: „Tagelöhner und Bedienstete, alle, die ihr gedient haben, und wäre es auch bloß für einen einzigen Tag gewesen, werden sämtlich zu ihren Kindern; sie nimmt an ihren Freuden, ihrem Kummer, ihrem Schicksal teil, sie fragt nach ihren Umständen, ihre Wünsche sind die ihrigen; sie nimmt sich ihrer auf tausenderlei Weise an, gibt ihnen Ratschläge, schlichtet ihre Zwistigkeiten und bezeigt ihnen ihr freundliches Wesen nicht durch honigsüße, aber leere Worte, sondern durch wahre Dienste und fortgesetzte Beweise ihrer Güte.“ (ebd., S. 464) Diese Fürsorge setzt sich in Julies Einrichtung der Logis der für sie arbeitenden Männer und Frauen fort und reicht bis zur Regulierung der geschlechtergetrennten Freizeitgestaltung: Während die Frauen sich sonntags dem „Federball“ oder einem anderen „Geschicklichkeitsspiel“ widmen dürfen (ebd., S. 472), gesteht man den Männern „[d]ie Gewohnheit des Wirtshausbesuchs“ sowie „den Umgang mit ihren Kameraden“ direkt am Landbesitz der Wolmar in Claren zu, wo „der Wein sie nichts kostet“ (ebd., S. 474). Diese Art der idyllischen Gouvernementalität übt ihren „Zwang unter dem Schleier des Vergnügens“ aus (ebd.): „Tout l’art du maitre est de cacher cette gêne sous le voile du plaisir“ (Rousseau: Nouvelle Héloïse, OC: II, S. 453). Burk: Elemente idyllischen Lebens, S. 86. Rousseau: Julie, S. 603.

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nämlich den Beleg für „die Ablösung der Kleinform“ Idylle, die Schiller eben nicht länger als eigenständige Gattung begreife, sondern durch seinen theoretischen Ansatz vielmehr in eine „Erweiterung zum Idyllischen“ überführe.276 Seit den 1950er Jahren stellt gerade das ‚Idyllische‘ eine so elementare wie problematische Kategorie der Idyllenforschung dar (vgl. Kapitel 1.2), denn mit dem Terminus ist zweierlei zu erreichen versucht worden: Erstens den literarhistorischen Befund der Aufgabe der Gattung ‚Idylle‘ sowie die Integration „partiell[er] Idyllen“ in andere literarische Formen und Formationen wie Dramen, Romane oder Zeitschriften begrifflich zu beschreiben;277 zweitens die der Schiller’schen Theorie sentimentalischer Dichtung unterstellte Aporie der Idylle produktiv zu wenden – ohne dabei zu reflektieren, dass diese Aporie überhaupt nur als eine durch die Forschung stark gemachte ‚utopische Dimension‘ der sentimentalischen Idylle konstruiert ist.278 Wenn man – gemäß der gängigen Forschungspositionen – daran glauben will, dass Schiller die Idylle ins Verhältnis zur Utopie setzt, dann schlägt die sentimentalische Idylle dialektisch um, denn als ein vorgestelltes Ideal muss sie unrealisierbar bleiben – zumal bereits Fichte herausstellt, dass „alles Idealische“ dadurch gekennzeichnet sei, dass es „unerreichbar ist“ (F 342). Für die Forschung liefert Schiller selbst den Beweis für die Aporie seiner Theorie, weil es ihm nie gelungen ist, diese praktisch umzusetzen. Mit Bezug auf Böschenstein heißt es beispielsweise bei Dieckkämper, dass Schiller „in seinem Bemühen um die dichterische Projektion des vollendet harmonischen Idyllenzustands bereits auf die Schwierigkeit der Stoffwahl“ gestoßen sei, „die das geplante Vorhaben eines Nachfolgewerks, einer reinen Idylle, letztlich zum Scheitern verurteilt“ habe.279 Belegt werden derartige Behauptungen dadurch, dass die von Schiller geplante Herkules-Idylle eine in seinem Brief vom 30. November 1795 an Wilhelm von Humboldt nie ausgeführte Idee geblieben ist: Diese bezeichnet Schiller als den Versuch, „das Ideal der Schönheit objektiv zu individualisieren“, indem er dazu die „Vermählung des Herkules mit der Hebe“ zum Gegenstand seiner Idylle machen will.280 276 277 278

279 280

Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 129. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 131. Es wäre dementsprechend zu fragen, inwieweit diese Lesart von Schillers Theorie letztlich nicht auch ein Effekt jener idyllischen Überlagerungen der rousseauistischen ‚retour‘-Idee ist, die Schiller in seiner Abhandlung implizit aufgreift. Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 48. Schiller an Humboldt, 29./30. November 1795, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XXVIII: Schillers Briefe 1795–1796, hrsg. von Norbert Oellers, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1969, S.115–122, hier: S. 119. Zur weiteren Entwicklung dieser ‚Idee‘ bei Schiller, vgl. Barone, Paul: „Herakles in der Moderne. Zu Schillers Rezeption des antiken Mythos“, in: Snell, Bruno (Hg.): Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens, Berlin/New York: de Gruyter 2006, S. 126–141. Das, was Schiller in seinem Brief als objektive Individualisierung des Ideals umschreibt, erweist sich angesichts der Wahl des Gegenstands seiner Idylle als theoretische Fassung der prototypischen histoire einer Kitscherzählung avant la lettre (vgl. Kapitel 2.3).

Idealisierungen (Schiller macht’s möglich)

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Nur weil Schiller die Idee seiner sentimentalischen Idylle nicht in die literarische Tat umsetzt, bedeutet dies allerdings keinesfalls, dass er seine eigene Theorie in die Aporie führt. Das Gegenteil scheint zuzutreffen, denn Schiller verfasst – wie zuvor gezeigt – mit seiner Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ eine sentimentalische Theorie der sentimentalischen Idylle. Insofern folgt er konsequent deren Programm, wenn er selbst keine Idylle schreibt – zumal er am Ende der Abhandlung noch einmal genau jenen Gedanken aufnimmt, den er zu Beginn des Idylle-Kapitels formuliert, wo er sagt, dass „eine ausführlichere Entwicklung“ der dritten „Species“ sentimentalischer Dichtung „einer andern Zeit vorbehalten“ bleibe (466). Entsprechend heißt es zum Abschluss, dass die Lösung der Frage danach, wie die literarische Realisierung der vollkommenen Aufhebung des „Gegensatz[es] der Wirklichkeit mit dem Ideale“ als Gegenstand der sentimentalischen Idylle erfolgen könne (472, Hervorhebungen i.O.), genau das sei, „was die Theorie der Idylle zu leisten hat“ (473). Den Weg aus ihrer eigenen Aporie im Umgang mit Schillers Theorie hat die Forschung dadurch gefunden, dass sie das auf Basis der hypothetisch angenommenen utopischen Perspektivierung der Idylle bei Schiller entwickelte Konzept des Idyllischen in dessen tatsächlich ausgeführten literarischen Texten untersucht hat. So kommt vor allem Böschenstein-Schäfer zu dem – zweifelsfrei richtigen – Befund, dass Schiller die allgemeine Idee seiner Idylle zwar nicht in der entsprechenden sentimentalischen Gattung realisiert habe, dafür aber in seinen Dramen.281 Die Gültigkeit dieser Beobachtung belegt beispielsweise Schillers historisches Drama Die Jungfrau von Orleans, in dem der materiale Topos der Idylle sowie Anspielungen auf den idyllischen Zustand aufgegriffen werden. Dies zeigt sich insbesondere an der rhetorischen Selbstinszenierung Johannas als Hirtin im vierten Aufzug des Prologs: Johanna stellt ihre göttliche Berufung zum Kampf für die Befreiung Frankreichs durch ihren Monolog als einen Abschied von der Idylle dar: Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften, / Ihr traulich stillen Täler lebet wohl! / [...] Ihr Wiesen, die ich wässerte! Ihr Bäume, / Die ich gepflanzet, grünet fröhlich fort! / Lebt wohl, ihr Grotten und ihr kühlen Brunnen ! / Du Echo, holde Stimme dieses Tals, / Die oft mir Antwort gab auf meine Lieder, / Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder!282

Mit verschiedenen landschaftlichen Versatzstücken des locus amoenus stilisiert Johanna ihre bäuerliche Heimat zur Idylle, um dann diesen Topos auf ihre neue ‚bukolische‘ Aufgabe zu beziehen: „Denn eine andre Herde muss ich weiden, / Dort auf dem 281 282

Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 113. Schiller, Friedrich: Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie [1801], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. IX, Neue Ausgabe, 2. Teil: Die Jungfrau von Orleans, hrsg. von Winfried Woesler, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 2012, hier: S. 21, V. 386–395.

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blut’gen Felde der Gefahr, / So ist des Geistes Ruf an mich ergangen, / Mich treibt nicht eitles, irdisches Verlangen.“283 Auch im Kampf für Frankreich bleibt Johanna eine Hirtin, wodurch sie sich zur gottberufenen Erlöserin stilisiert, denn in Psalm 23,1 heißt es bekanntlich ganz buchstäblich pastoral: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“284 In Schillers Drama ließe sich darüber hinaus die Opposition zwischen Johanna und König Karl in Bezug auf ihre jeweiligen idyllischen Dispositionen als poetologische Veranschaulichung seiner Idyllentheorie begreifen, weil Johanna eine sentimentalische Position vertritt, wenn sie im Kampf für ein von der englischen Herrschaft befreites Frankreich eintritt, während Karls Traum von den „alten Zeiten“ ritterlicher Tugend,285 die er „dieser rau barbar’schen Wirklichkeit“ entgegensetzt,286 demgegenüber als eine idyllisch naive Position erscheint. Legt man die sentimentalische Theorie der Idylle als Folie für eine Lektüre der ‚Jungfrau‘ zugrunde, dann wird deutlich, wie stark Schillers idyllentheoretische Reflexionen mit seinen anderen poetologischen Konzepten verkoppelt sind, die sich ebenfalls auf den Einfluss des Querelle-Diskurs in der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beziehen lassen: So stellt Luserke-Jaqui heraus, dass Schillers Dramen insbesondere gegen „das Illusionstheater seiner Zeit“ gerichtet seien, denn gerade „die freie Handhabung historischer Fakten wie in der Maria Stuart und der Jungfrau von Orleans“ bedeute eine „bewusste Destruktion der ästhetischen Illusion“ und zugleich eine „Aufdeckung [...] der Fiktionalität des Dargebotenen“.287 In der ‚Jungfrau‘ wird dies insbesondere an Johannas finaler Apotheose deutlich, wenn Schiller sie entgegen den historischen Fakten, mit denen er als Herausgeber des vierten Bandes der Merkwürdigen Rechtsfälle des französischen Juristen François Gayot de Pitaval bestens vertraut gewesen ist, auf dem Schlachtfeld sterben und in den Himmel auffahren lässt.288 Vor allem aufgrund dieser pathetischen Schlussszene, in der Johanna ihre eigene, von einem Engel-

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Schiller: Die Jungfrau von Orleans, NA: IX/2, S. 22, V. 400–404. Lutherbibel Taschenausgabe mit Apokryphen, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1999. Schiller: Die Jungfrau von Orleans, NA: IX/2, S. 27, V. 520 Schiller: Die Jungfrau von Orleans, NA: IX/2, S. 27, V. 518. Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, S. 278. Das Schiller-Handbuch verzeichnet den gesamten Titel des von Schiller herausgegebenen Bandes: François Gayot de Pitaval: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit (1734– 1743), Bd. 4, nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet, hg. v. Friedrich Schiller, Jena 1795 (vgl.: Martin, Ariane: „Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie (1801)“, in: Luserke-Jaqui, Matthias (Hg.): SchillerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 168–195, hier: S. 171).

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chor besungene Himmelfahrt hinauf zum „Regenbogen in der Luft“ beschreibt,289 ist dem Drama später eine „Tendenz zum Kitsch“ unterstellt worden.290 Auch in der ‚Jungfrau‘ gewährt Schiller der poetischen Wahrheit also den Vorzug gegenüber der historischen. Dadurch liest sich das Drama gleichsam wie die Veranschaulichung seines Konzepts der sentimentalischen Idylle, das er insbesondere durch Johannas Opfertod vermittelt, weil der sie das Leben kostende Kampf für die Einsetzung des rechtmäßigen Königs von Frankreich in Opposition zu Karls nostalgischer Vergangenheitssehnsucht steht. Daran zeigt sich außerdem ein alternativer Mimesis-Begriff, der – wie gezeigt – dem Primat der Schöpfung verpflichtet ist und statt auf Nachahmung unter Maßgabe der Wahrscheinlichkeit vielmehr auf die Darstellung des Möglichen fokussiert. Eine solche Darstellung erweckt „den Anschein des Natürlichen“, wie Schmidt in Bezug auf das Konzept der ‚Schöpfung‘ in der Geniezeit herausstellt.291 Dieser Anschein werde in Schillers historischen Dramen gerade dadurch erzeugt, dass in ihnen „die Künstlichkeit der Kunst“, wie Luserke-Jaqui erläutert, „für die Zuschauer erkennbar bleib[e]“.292 Es ließe sich deshalb schlussfolgern, dass Schillers Theorie der sentimentalischen Idylle, die er in der ‚Jungfrau‘ literarisch umsetzt, an einem anderen Mimesis-Verständnis ausgerichtet ist. Dieses zielt im Sinn der Querelle auf die Darstellung des Möglichen, sodass Schillers Idyllentheorie das impliziert, was sich nach Gerd Uedings Kritik am tradierten Mimesis-Verständnis in seiner Untersuchung zu Schillers Rhetorik als eine nachgerade ‚moderne‘ Aktualisierung der antiken Poetik erweist:293 Für den Beleg seiner These verweist Ueding auf Ernesto Grassi, demzufolge bereits Aristoteles unter ‚Mimesis‘ nämlich nicht einfach ‚Nachahmung‘ verstehe, sondern ‚Offensichtlichmachen‘ bzw. ‚Zeigen‘ und das im Sinn einer Darstellung „der dem Menschen eigentümlichen Möglichkeiten“.294 Auch wenn Grassis Hinweis auf das aristotelische Mimesis-Verständnis in seiner ‚Theorie des Schönen in der Antike‘ nachgerade ‚schillernd‘ erscheint, ist er mit seiner Kritik daran nicht allein: Ganz ähnliche Einwände gegen die Nachahmung erhebt Jürgen H. Petersen, der ganz allgemein für die neutralere Bezeichnung ‚Darstellung‘ bei der Übersetzung und konzeptuellen Fassung des Mimesisbegriffs plädiert, weil

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Schiller: Die Jungfrau von Orleans, NA: IX/2, S. 164, V. 3539. Guthke, Karl S.: „‚Die Jungfrau von Orleans‘. Sendung und Witwenmachen“, in: Knoblauch, Hans-Jörg/Koopmann, Helmut (Hgg.): Schiller heute, Tübingen: Stauffenberg 1996, S. 115–130, hier: S. 115. Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens I, S. 73. Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, S. 278. Vgl. Ueding, Gert: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen: Niemeyer 1971, S. 7. Grassi, Ernesto: Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln: DuMont Schauberg 1962, S. 129.

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‚Nachahmung‘ die Vorstellung von einer po(i)etischen Tätigkeit impliziert, „die sich an einem Vorbild, einem Modell ausrichtet“.295 Vor dem Hintergrund der von Aristoteles in der ‚Poetik‘ vorgenommenen Gegenüberstellung von Kunst und Geschichtsschreibung präzisiert Petersen die Kategorie des Möglichen in Bezug auf das Mimesis-Konzept und eröffnet so indirekt Anschlussmöglichkeiten an Schillers sentimentalische Theorie der sentimentalischen Idylle: „Dieses Mögliche [bei Aristoteles, N.J.] hat nichts zu tun mit einer Utopie, dem Wünschbaren, einer ‚promesse du bonheur‘. Es bezeichnet auch weniger ein mögliches Wirkliches in dem Sinne, daß es ein Zuverwirklichendes darstellt.“296 Nun ist aber nichts anderes als ein solch ‚Zuverwirklichendes‘ der Gegenstand und Zweck der Idylle bei Schiller und das ganz buchstäblich, weil sie die „sinnliche Bekräftigung“ eines Ideals gibt, dessen „Ausführbarkeit“ die Idylle schließlich als „möglich[e] Realität“ veranschaulicht (468). Mit Bezug auf die Rousseau unterstellte ‚retour‘-Idee reichert Schiller somit den aristotelischen Mimesis-Begriff um jene ‚promesse du bonheur‘ an, die laut Petersen bei Aristoteles noch nicht impliziert sei. Trotzdem weist Schillers Konzept der sentimentalischen Idylle damit aber keinesfalls die ihr von der Forschung so vielfach und nachdrücklich unterstellte ‚utopische Dimension‘ auf, denn die Utopie steht jenem Ideal diametral gegenüber, das die sentimentalische Idylle gerade wegen der vermeintlichen Unerreichbarkeit alles Idealischen als ein Zuverwirklichendes darstellt. Die Idylle kann nach Schiller demnach also keine Utopie sein – und das schon deshalb, weil diese ein buchstäblicher ‚Nicht-Ort‘ ist: Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gilt nämlich im deutschen Sprachgebrauch all das als ‚utopisch‘, was „nur in der Vorstellung möglich“ und deshalb „nicht durchführbar“ ist.297 Schillers sentimentalische Idylle hingegen transzendiert diese Vorstellung und transponiert sie zugleich in den Bereich des Möglichen und somit ‚Durchführbaren‘. Es ist also vollkommen falsch, wenn die Idyllenforschung bei Schiller eine Aporie der Idylle konstatiert – vielmehr ist es die Verwechslung von Idylle und Utopie, die die Idylle ihrer theoretischen Aporie zuführt: Auch die Forschung scheint somit unweigerlich der Gravitation jenes produktiven Spannungsverhältnisses ihres eigenen Gegenstandes ausgesetzt, wenn die (letztlich von der Forschung konstruierte) Katastrophe einer Aporie der Idylle durch die Kategorie des Idyllischen abgewendet werden soll. 

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Petersen, Jürgen H.: „‚Mimesis‘ versus ‚Nachahmung‘. Die „Poetik“ des Aristoteles – nochmals neu gelesen“, in: Arcadia (27) 1992, 1. Halbband, S. 3–46, hier: S. 5. Petersen: „‚Mimesis‘ versus ‚Nachahmung‘“, S. 30. Stichwort ‚Utopie‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1493.

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel)

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 Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel) „Wer heute ‚Idylle‘ sagt“, stellt E. Theodor Voss fest, habe einen insbesondere durch Jean Paul „um sein Eigentliches gebrachten, gleichsam amputierten und nun durchaus affirmativ gearteten Idylle-Begriff im Sinn“.298 Diesem liegt laut Jens Tismar „das biedermeierliche Jean-Paul-Bild“ zu Grunde, das „aus einer einseitigen Rezeption“ seiner Texte resultiere, denn „[z]weifellos hat das idyllische Moment in Jean Pauls Erzählmanier vor allem im 19. Jahrhundert bei deutschen Lesern mehr Gegenliebe gefunden als die satirische, verletzende Energie seiner Prosa“.299 Genau sie ist es, durch die Jean Paul die Idylle entgegen ihrer in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts neu begründeten Tradition als „humoristische Gattung“ etabliert.300 Die ‚Amputation‘ in Jean Pauls „komisch verdrehten Idyllen“ besteht darin,301 dass er mit ihrer theoretischen Fassung in seiner Vorschule der Ästhetik „die Subjektivierung der idyllischen Weltsicht mit einer objektiven Bedingung [kombiniert]“.302 Eine solche Kombination erfolgt durch die Beschränkung jenes Vollglücks, das nach Jean Paul in der Idylle sowohl dargestellt als auch durch sie bewirkt werde. Paradoxerweise ermöglicht diese Beschränkung eine Generalisierung der Idylle: Indem sie auf eine jeweils subjektive Wahrnehmung gründet, kann jede noch so profane Situation zur Idylle avancieren, in der nicht nur – wie es in der ‚Vorschule‘ heißt – die „Musik des Freuens“ erklingt,303 sondern die somit zugleich einen der von Jean Paul im „Billett an meine Freunde“ entworfenen Wege darstellt, um „glücklicher (nicht glücklich) zu werden“.304 Laut Meyer-Sickendiek zeigen sich daher bei Jean Paul die Vorzeichen einer bürgerlich zu nennenden Idylle, die mit einem bürgerlichen Konzept von Glück verkoppelt ist: Das für die Idylle als konstitutiv herausgestellte Kriterium der Beschränkung impliziert nämlich die Vorstellung einer „Beschneidung des Glücksstrebens als Bedingung des Glücks“.305 Jean Paul knüpft hier also an Schillers theoretische Bestimmung der sentimentalischen Idylle an, in der das „Ideal [...] ein Gegenstand der Freude [ist], 298 299

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Voss: „Arkadien und Grünau“, S. 399. Tismar Jens: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, München: Hanser 1973, S. 13. Campe, Rüdiger: „Schreibstunden in Jean Pauls Idyllen“, in: Fugen. Deutsch-französisches Jahrbuch der Text-Analytik (1) 1980, S. 132–170, hier: S. 132. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 12. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 130. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 257, Hervorhebung i.O. Nachfolgend werden Zitate ohne weiteren Fußnotenbeleg durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt. Jean Paul: „Billett an meine Freunde“, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. VII: Kleinere erzählende Schriften (1), München/Wien: Hanser 1975, S. 9–13, hier: S. 10. Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 335.

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insofern [...] es als wirklich vorgestellt wird.“306 Dergestalt erweist sich die Beschränkung als literarische Möglichkeit zur idyllischen ‚Verwirklichung‘ dieses Ideals. Jean Pauls Idyllentheorie scheint demnach tatsächlich auf den – mit Friedrich Nietzsche gesprochen – „zarten Fruchtfeldern Schiller’s“ zu gedeihen,307 vor allem weil sie mit der Kategorie der Beschränkung die „Auflösung“ jenes Problems bewirkt, das sich laut Schiller der Idylle in der vollkommenen Aufhebung des Gegensatzes zwischen Ideal und Wirklichkeit stellt: Sie habe nämlich trotz aller „Ruhe der Vollendung“ zugleich „Bewegung hervorzubringen“, denn „das Gemüth muß befriedigt werden, aber ohne daß das Streben darum aufhöre“.308 Mit seinem beschränkten Vollglück holt Jean Paul das Schiller’sche Ideal, das die Idylle als eine in der Zukunft zu verwirklichende Möglichkeit evident machen soll, gewissermaßen in die Gegenwart (zurück). Dies erfolgt dadurch, dass er – ganz im Sinn von Kants Deutung der rousseauistischen ‚retour‘-Idee – von dieser Gegenwart aus in die Vergangenheit zurückblickt, denn im „idyllisch dargestellten Vollglück“ bilde sich laut Jean Paul stets ein „Widerschein“ des „kindlichen oder sonst sinnlich engen“ Vollglücks ab (260). Vor diesem Hintergrund der Jean Paul’schen Perspektive auf die Idylle als „epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“ (258, Hervorhebungen i.O.) lässt sich sein Ansatz zu ihrer theoretischen Fassung mit der Metapher der Lochblende als ‚idyllische Optik‘ beschreiben. Sie erscheint derart po(i)etisch produktiv, dass Jean Paul für die Literaturgeschichte der Idylle im Besonderen wie für die Geschichte der deutschsprachigen Literatur im Allgemeinen zu jenem „Verhängnis“ wird, das Nietzsche in ihm sieht:309 Jean Pauls theoretische Bestimmung der Idylle führt nämlich schlechterdings direkt in den Kitsch und damit in genau jenen vom hochkulturellen Snobismus des 20. Jahrhunderts verschrienen Bereich der niederen Unterhaltung, auf den genau das zutrifft, was Schiller in seiner Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ als Kritik an Gessners Idyllen formuliert, die doch „bey dem höchsten Gehalt für das Herz, nur allzu wenig für den Geist“ bieten sollen.310

3.3.1Die generalisierende Beschränkung der Idylle Im 73. Paragraphen des XII. Programms seiner Vorschule der Ästhetik bestimmt Jean Paul die Idylle – passenderweise mittels einer Naturmetapher – zwar nicht als „Nebenzweig“, 306 307

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Zelle: „Über naive und setimentalische Dichtung (1795/96)“, S. 477. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches II [Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 99], in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. IV/3: Menschliches, Allzumenschliches II, Nachgelassene Fragmente Frühling 1878 bis November 1879, Berlin: de Gruyter 1967, S. 171–342, hier: S. 234. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 473. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, Werke: IV/3, S. 234. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 469, Hervorhebungen i.O.

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dafür aber als „eine Nebenblüte der drei Zweige des Romans“ (257), nachdem er im vorangehenden Paragraphen desselben Programms die italienische, deutsche und niederländische Schule jeweils als einen dieser Zweige dargestellt hat. Die Metapher der „Nebenblüte“ erfaßt nicht bloß den Gegenstand des 73. Paragraphen, sondern auch dessen ‚Verästelung‘ in der editorischen Genese der ‚Vorschule‘: Bei ihm handelt es sich nämlich um einen, wie Jean Paul selbst sagt, in der ersten Auflage von 1804 „überhüpften Paragraphen“, der in der zweiten Auflage von 1813 nachgetragen wird, um „eine dem Romane verwandte Dichtart“ zu behandeln (256). Wie schon vor ihm Schiller setzt auch Jean Paul bei seiner theoretischen Fassung der Idylle mit einer Kritik ihrer ‚arkadischen Definition‘ an, denn „keine Beschreibung“ der Gattung erscheine „leerer als die, daß sie das verschwundene goldene Alter der Menschheit darstelle“ (257). Dementsprechend – und damit wiederum analog zu Schiller – soll durch die Idylle nicht der Verlust Arkadiens als ein „in Wohllaut“ umgewandelter „Mißton des Leidens“ zu Gehör gebracht werden – mit dem „ästhetischen Nachhalle“, der aller „Dichtkunst“ eigen sei, soll vielmehr „die Musik des Freuens“ erklingen (257, Hervorhebungen i.O.). Dieser mit Bezug auf die genuine Medialität der Idylle in musikalischer Metaphorik dargestellte ‚Perspektivwechsel‘ erfolgt vor dem Hintergrund von Jean Pauls Typologie literarischer Gattungen, der zufolge die Idylle, die schon Schiller in „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ als einen „Gegenstand der Freude“ bestimmt,311 als Ersatz für das in der deutschsprachigen Literatur fehlende „Freudenspiel“ fungiere (258). Obschon als ‚epische Darstellung‘ verstanden, ergänzt die Idylle somit das Trauerspiel gewissermaßen komplementär, zumal die Dramatik (in ihrer konkreten literarischen Erscheinungsform als Trauerspiel) bis ins 19. Jahrhundert hinein als die ‚höchste‘ bzw. ‚vielgestaltigste‘ Gattung in der Trias neben Epik und Lyrik gilt: So bestimmt noch Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik das Drama „als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt“, weil es „die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt“.312 Nichts anderes behauptet Jean Paul in seiner ‚Vorschule‘ durch das Kriterium der Beschränkung in Bezug auf die Idylle: Indem er diese ‚epische Gattung‘ in ihrer theoretischen Fassung als ‚Freudenspiel‘ an die Dramatik koppelt, bricht er eine poetologische Lanze (bzw. einen ‚Zweig‘) für die erzählende Literatur und damit für deren literarhistorisch betrachtet ‚jüngste‘ Erscheinungsform: den seit dem 18. Jahrhundert zunehmend populärer werden Roman, dem die Idylle schließlich ‚verwandt‘ sei (vgl. 256). Mit dem Konzept des Freudenspiels schließt Jean Paul eine typologische und begriffliche Lücke, denn zwar sei die „Musik des Freuens“ ein in der „Dichtkunst“ so bekanntes wie verbreitetes Phänomen, gelte bislang aber als „eine süße Empfindung ohne 311 312

Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 448. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik III, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 474.

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Namen“ (257, Hervorhebung i.O.). Deren „Auftritte der Wonne“ veranschaulicht Jean Paul mit einem Beispielkatalog von nachgerade idyllischen Versatzstücken, die sich in „bekannten Dichterwerken“ finden lassen, deren „Kunsthimmel“ aus „Frühlingen, Morgenröten, Blumenweiden“ letztlich in jeder Leserin und jedem Leser die Erinnerungen an den eigenen „kindlichen Naturhimmel“ wachrufen und deshalb ein ganz und gar subjektives Mitfreuen bewirken: „Es ist nämlich nicht wahr“, stellt Jean Paul fest, daß Kinder am stärksten von Leidens-Geschichten – die ohnehin nur sparsam und nur als Folien der Tapferkeit, der Tugend, der Freude zu gebrauchen sind – ergriffen werden; sondern Himmelfahrten des gedrückten Lebens, langsames, aber reiches Aufblühen aus dem Armut-Grabe, Steigen vom Blutgerüste auf das Throngerüste und dergleichen, solche Darstellungen entrücken und entzücken schon das Kind in das romantische Land hinüber, wo die Wünsche sich erfüllen, ohne das Herz weder zu leeren noch zu sprengen. (257f)

Auffällig ist hier die Himmelfahrts-Metapher, die Jean Paul bereits im 1795 verfassten „Billett an meine Freunde“ gebraucht.313 Dieses ist dem Roman Leben des Quintus Fixlein – wie es in der unmittelbar anschließenden Titelpräzisierung des Billetts heißt – „anstatt einer Vorrede“ vorangestellt und gehört zu einem ganzen „System von Vorreden und Geschichten, die teils früher, teils später als die Erzählung entstanden sind“.314 Das ‚Billett‘ veranschaulicht damit die für Jean Pauls literarisches Erzählen kennzeichnende Emanzipation des Paratextes vom Haupttext, der gewissermaßen „nur noch ein Anhang, ein Supplement“ ist, wie Uwe Wirth in seiner Untersuchung editorialer Rahmungen im Roman um 1800 herausstellt.315 Im Fixlein-Billett avanciert diese Rahmung insofern zur paratextuellen Idylle, als Jean Paul das dort entwickelte Glückskonzept in der ‚Vorschule‘ durch die Himmelfahrts-Metapher implizit wieder aufgreift und idyllisch perspektiviert. Im ‚Billett‘ heißt es: Ich konnte nie mehr als drei Wege, glücklicher (nicht glücklich) zu werden, auskundschaften. Der erste, der in die Höhe geht, ist: so weit über das Gewölke des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. – Der zweite ist: – gerade herabzufallen ins Gärtchen und da sich so einheimisch in eine Furche einzunisten, daß, wenn man aus seinem warmen Lerchennest heraussieht, man ebenfalls keine Wofsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren erblickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist. – Der dritte endlich –

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Vgl. Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 9. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 23f. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmungen im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, München: Fink 2008, S. 333.

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den ich für den schwersten und klügsten halte – ist der, mit den beiden andern zu wechseln. –316

Alle drei Glückswege stellen für Jean Paul eine spezifische „Himmelfahrt“ dar, die er jeweils einem „Teil des Menschengeschlechts“ empfiehlt:317 Der erste Weg gelte, so erläutert Tismar, für die wenigen, „die kraft ihrer Vorbildung oder ihrer privilegierten sozialen Stellung eine Chance haben, ihre Wunschvorstellungen realiter einzuholen“, während der zweite Weg von all den anderen eingeschlagen werden sollte, die sich in einem „Abhängigkeitssystem“ befinden.318 Jean Paul zählt hierzu die „armen Kanzleiangestellten“ sowie die „stehenden und schreibenden Heere beladener Staats-Hausknechte, Kornschreiber, Kanzelisten aller Departements“.319 Angesichts des an diese „gebundenen Menschen“ erteilten Ratschlags, „sich mit ihrer innern Welt gegen die Kälte und Glut der äußern“ abzusondern,320 hat man, wie Tismar kritisch bemerkt, in Jean Paul „den Ahnherrn einer unpolitischen Haltung“ erkennen wollen, die sich in der „historischen Entwicklung und der eigentümlichen Tradition der literarischen ‚Innerlichkeit‘ im deutschen Sprachraum des 19. Jahrhunderts“ manifestiert.321 Jean Pauls ‚Anleitung zum glücklicher sein‘ erweist sich aber gerade in Abgrenzung zu Rousseau, dem es im zweiten Discours ganz allgemein um die generelle „Glücklichkeit der Menschen“ geht,322 als genuin politisch, weil die von ihm beschriebenen Wege an einer Stratifikation der Gesellschaft ausgerichtet sind.323 316 317 318 319 320 321 322 323

Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 10. Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S, 11. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 31f. Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 11. Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 11. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 30. 2. Abhandlung, S. 236f. Dies zeigt sich an den konträren Perspektiven von Jean Pauls erstem und zweitem Glücksweg: Der erste, der dem privilegierten „geflügelten Teil des Menschengeschlechts“ vorbehalten ist (Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 11), führt „in die Höhe“ (ebd., S. 10) und vermittelt somit eine panoramische Aufsicht, wie sie beispielsweise für die feudale Landschaftsarchitektur des Absolutismus kennzeichnend ist. Deren Gärten sind auf die göttliche Perspektive der Übersowie die herrschaftliche der Aufsicht und damit auf einen entsprechenden „Blick von oben“ hin konzipiert (Gamper, Michael: „Vom kartographischen Blick zur Perzeption des Subjekts. Der Garten und seine Darstellungsmedien im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Glauser, Jürg/Kiening, Christian (Hgg.): Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne, Freiburg i.Br./Basel/Wien: Rombach 2007, S. 403–432, hier: S. 413). Mit der ab etwa 1770 auch im deutschsprachigen Raum einsetzenden ‚Gartenrevolution‘ nach englischem Vorbild und ihrer subjektiven Zentrierung der Gartenlandschaft auf den Spaziergänger, der sich darin „von Szene zu Szene“ bewegt, ermöglicht der Garten „durch die Aufgabe sowohl der Zentralachse des regelmäßigen Gartens als auch der vollständigen Übersehbarkeit der Anlage vom Balkon des Hauses aus“ eine regelrechte ‚Naherfahrung‘ der Natur (Gamper, Michael: „Die Natur ist republikanisch“. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert,

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Den zweiten Glücksweg, den Jean Paul im ‚Billett‘ beschreibt, greift er in der ‚Vorschule‘ insofern auf, als er ihn dort zu „Himmelfahrten des gedrückten Lebens“ komprimiert (257). Zugleich transformiert er hier das, was im ‚Billett‘ als Ratschlag formuliert ist, zu einem prototypischen Narrativ der histoire des idyllischen Freudenspiels. Dieses Narrativ einer nachgerade glücklichen Wendung, das im Sinn einer Eukatastrophe als „reiches Aufblühen aus dem Armut-Grabe“ literarisch genauso realisiert werden könne wie als das „Steigen vom Blutgerüste auf das Throngerüste“ (257), zeichne sich durch einen Effekt aus, wie ihn auch das bei Kindern so beliebte Märchen evident mache – den Effekt der ‚Entrückung und Entzückung‘ (vgl. 257): Im Freudenspiel stelle er sich gerade deshalb ein, weil dieses gemäß der Abgrenzung gegenüber dem Mitleid erregenden Trauerspiel stets ein „Mitfreuen“ anrege (258). Dabei betont Jean Paul explizit, dass sein Freudenspiel nicht mit der Komödie zu verwechseln sei, die weder auf ein Mitleiden noch Mitfreuen ziele, sondern auf ein Verlachen, „[d]enn das Lust-, eigentlich Lachspiel, worin die Helden sogar noch öfter gepeinigt, wenigstens nie so hoch entzückt werden als zuweilen im Trauerspiel, kann nicht, so wie dieses ein Mitleiden, ebenso ein Mitfreuen anregen und zuteilen“ (258). Es ist nach Jean Paul deshalb die ‚Idylle‘ genannte „kleine epische Gattung“, in der sich das Mitfreuen durch die „epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“ realisiere (258, Hervorhebungen i.O.). Das Kriterium der Beschränkung ist hierbei wirkungsästhetisch auf das in der Idylle dargestellte Vollglück bezogen, denn „[f]reilich ermüdet die Augen leicht die Darstellung des Glücks“, wie Jean Paul eingesteht (258). Dies sei deshalb der Fall, „weil es bald zu wachsen nachläßt“, schließlich könne das Glück nicht in derselben Weise po(i)etisch funktionalisiert werden wie das tragische Unglück: „Die vorgedichteten Schmerzen hingegen unterhalten lange, weil der Dichter, wie leider das Schicksal, sie lange steigern kann“ (258). Aus dieser literarisch produktiven ‚Affekt-Logik‘ leitet Jean Paul die ‚Hegemonie‘ des Trauerspiels ab, denn „die Freude hat nicht viele Stufen, nur der Schmerz so viele“ (258), auf dessen Klaviatur sich dementsprechend unendlich variieren lässt. Als „Darstellung des Glücks“, das „bald zu wachsen nachläßt“, erweist sich eine derartige „Dicht-Freude“ in der Idylle für Jean Paul als deren katastrophisches Moment, dem durch das Mittel der Beschränkung entgegengewirkt werden könne (258): Das, was Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (zugl. Zürich, Univ., Diss., 1997), S. 176). Jean Pauls zweiter Glücksweg, der gewissermaßen die Einnahme einer Froschperspektive anempfiehlt, scheint analog einer solchen ‚Naherfahrung‘ im Landschaftsgarten konzipiert. Während sich der erste Glücksweg somit im Sinn Albrecht Koschorkes als virtuelle „Fernflucht“ begreifen ließe (Koschorke, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 (zugl. München, Univ., Diss., 1989), S. 173), erscheint der zweite dagegen komplementär als eine ‚Nahflucht‘. Inwieweit sich dieser Ansatz für die Idylle produktiv machen lässt, wird im zweiten Teil dieses Kapitels zur idyllischen Optik der Beschränkung weiter ausgeführt.

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel)

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Jean Paul als Nachlassen des Glücks beschreibt, stellt für Helmut J. Schneider nämlich die Gefährdung der Idylle durch „Monotonie und Langeweile“ dar.324 Gerade weil „Glück als Normalzustand“ die Kurzweil der Idylle gewissermaßen katastrophisch gefährdet,325 wird eine idyllische Beschränkung notwendig, die nach Jean Paul in verschiedener Weise umsetzbar ist: „Die Beschränkung in der Idylle kann sich bald auf die der Güter, bald der Einsichten, bald des Standes, bald aller zugleich beziehen.“ (258) Entscheidend ist, dass das Kriterium der Beschränkung keine ‚Erfindung‘ Jean Pauls darstellt, sondern ihm zufolge ein genuines Merkmal der Idylle ist. Allerdings sei diese für die Idylle konstitutive Beschränkung stets falsch verstanden worden – und das gleich zwei Mal, nämlich in Bezug auf die Figuren sowie die raumzeitliche ‚Verortung‘ der Idylle: „Da man sie aber durch eine Verwechslung mehr auf Hirten-Leben bezog: so setzte man sie durch eine zweite gar in das goldene Alter der Menschheit, als ob dieses Alter nur in einer nie rückenden Wiege und nicht ebensogut in einem fliegenden Phaetons-Wagen sich bewegen konnte.“ (258) Die Wiege, die hier als Metapher die im Idylle-Kapitel der ‚Vorschule‘ etablierte Kindheits-Isotopie fortführt, wird dem mythischen Sonnenwagen gegenübergestellt. Ihn verlangt, wie es Ovid in den Metamorphosen beschreibt, Phaeton von seinem Vater Helios, um seine göttliche Abstammung zu beweisen: „Gib mir, o Vater, ein Pfand, das mich sicher beglaubigt als deinen / Wirklichen Sprößling“.326 Im Gegensatz zur Wiege konnotiert der metaphorisch auf den Lauf der Sonne verweisende Wagen Progression und Fortschritt, sodass sich in Jean Pauls Gegenüberstellung der beiden erstens eine implizite Rousseau-Kritik sowie zweitens eine genauso implizite ‚Konfirmation‘ von Schillers idealischer Wendung der Rousseau unterstellten ‚retour‘-Idee anzudeuten scheint. Das eine ist richtig, das andere falsch. Zunächst fragt Jean Paul: „Wodurch ist denn bewiesen, daß das erste, das goldne Alter der Menschheit nicht das reichste, freieste, hellste gewesen?“ (258) Die Verneinung mitsamt der elliptischen Konstruktion ohne flektiertes Verb im Nebensatz lässt die gesamte Frage in Bezug auf ihren Gegenstand ambivalent erscheinen: Einerseits kann sie so gelesen werden, dass es Jean Paul um den Beweis gehe, dass das Goldene Zeitalter tatsächlich das beste und deshalb ein ‚zurücksehnenswertes‘ gewesen sei; andererseits kann die Frage auf das genaue Gegenteil zielen, nämlich den konkreten Beweis, dass das Goldene Zeitalter dies alles nicht gewesen sei. Diese Ambivalenz wird zudem noch durch das letzte Adjektiv in der Aufzählung verstärkt, das aufgrund der damit bezeichneten Lichtwirkung nicht nur auf das Goldene Zeitalter, sondern auch auf den im Satz zuvor genannten Phaetons-Wagen zurückbezogen werden kann.

324 325 326

Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 8. Schneider: „Antike und Aufklärung“, S. 8. Ovid: Metamorphosen [II, 38f], hrsg. und übersetzt von Hermann Breitenbach, Stuttgart: Reclam 1971, S. 55.

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Für die zweite Lesart dieser rhetorischen Frage – also den Beweis dafür, dass das Goldene Zeitalter eben nicht „das reichste, freieste, hellste“ gewesen ist (258) – sprechen Jean Pauls nachfolgende Ausführungen: „Wenigstens nicht durch die Bibel und nicht durch die Behauptungen mehrerer Philosophen, daß der Blütengipfel aller unserer Bildung die Wiederholung des goldenen Alters werde, und daß die Völker nach recht vollendetem Erkennen und Leben das Paradies mit beiden Bäumen dieses Namens wiedergewinnen.“ (259) Nach dieser Aussage haben weder die Religion noch deren ‚säkulares Pendant‘ hinreichende Beweise dafür liefern können, dass das Goldene Zeitalter das sei, was es nach Jean Pauls Darlegung nun gerade nicht ist: ein verlorenes Paradies, das es als eine Wiederholung des Goldenen Zeitalters zurückzuerlangen gilt. Augenscheinlich ist dies eine Kritik, die sich gegen eine entsprechende ‚retour‘-Idee richtet. Diese Annahme liegt insofern nahe, als Rousseau tatsächlich darauf im Text genannt wird: „Sogar das Leben des Robinson Crusoe und das des Jean Jaques auf seiner PetersInsel erquickt uns mit Idyllen-Duft und Schmelz.“ (259) Jean Paul führt hier Beispiele für Idyllen auf, die nicht der von ihm anfangs kritisierten ‚klassischen‘ Definition entsprechen und somit auch nicht „das verschwundene goldne Alter der Menschheit“ im Hirtengewand darstellen (257). Bemerkenswert ist, dass Rousseau in einem Atemzug mit Robinson Crusoe genannt wird. Dies ließe sich einmal als Beweis für Jean Pauls Generalisierung der Idylle lesen, da diese somit nicht nur in literarischen Texten, sondern auch in autobiographischen realisiert sein könne – bekanntlich erwähnt Rousseau die im Bielersee bei Neuchâtel gelegene Petersinsel in seinen Confessions und bezeichnenderweise ist es gerade die Einsamkeit der Beschränkung, die er an diesem Inselasyl über alles schätzt: „J’auraois voulu être tellement confiné dans cette Ile que je n’eusse plus de commerce avec les mortels“.327 Was Jean Paul am Beispiel fiktiver wie realer ‚Inselexistenzen‘ beschreibt, ist eine durch ihre konstitutive Beschränkung bedingte Generalisierung der Idylle. In diesem Sinn stellt das idyllische Kriterium der Beschränkung also eine Erweiterung dar, weil letztlich überall „Idyllen-Duft und Schmelz“ merklich werden kann (259). Oder um es mit den Worten aus Schillers 15. Brief über die ästhetische Erziehung zu sagen: „Was Sie, nach Ihrer Vorstellung der Sache, Einschränkung nennen, das nenne ich, nach der meinen, die ich durch Beweise gesichert habe, Erweiterung.“328 Wenn Jean Paul Idyllisierungen, wie er sie in Rousseaus Darstellung der Petersinsel erkennt, als ‚Schmelz‘ bezeichnet, dann dürfte er vermutlich weniger deren „weich[en] Klang“ im Sinn des „Wohllaut[s]“ einer Stimme meinen, als vielmehr jenes Phänomen, das hier zuvor als ‚idyllische Überlagerung‘ untersucht wurde: ‚Schmelz‘ bedeutet nämlich ‚Glasur‘ und als

327 328

Rousseau: Les Confessions, OC: I, S. 638, Hervorhebung N.J. Schiller: ‚Ästhetische Erziehung‘, NA: XX, S. 358, Hervorhebungen i.O.

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eine solche stellen sich – wie gezeigt – bei Rousseau die idyllischen Überlagerungen gerade in seinen autobiographischen Schriften dar.329 Genauso wie die mit der Wiegen-Metapher eingeleitete und dann implizit fortgeführte Rousseau-Kritik scheint auch Jean Pauls Abrechnung mit Schiller subtil zwischen den Zeilen angebracht: Die Wiege, die sich durch das von ihr konnotierte Kindesalter durch die semantischen Merkmale ‚Anfänglich- und Ursprünglichkeit‘ auszeichnet, lässt sich auf Rousseau und seinen Naturzustand beziehen. Außerdem steht die Wiege bei Jean Paul in Opposition zum Wagen des Phaeton, sodass dieser implizit zu einer poetologischen Metapher für Schillers Konzept der sentimentalischen Idylle avanciert. Da sich Schillers theoretische Reflexionen in „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ genauso gegen die ‚arkadische‘ Idylle richten wie Jean Pauls Überlegungen in der ‚Vorschule‘, könnte man glauben, dieser stelle sich somit ganz auf den Schiller’schen Standpunkt, weil bei ihm die Wagen-Metapher das elysische Ideal der sentimentalischen Idylle veranschaulicht. Der Phaeton-Wagen erweist sich jedoch als eine buchstäblich verhängnisvolle Metapher, die paradigmatisch die Ambivalenz der von Jean Paul so zahlreich gegebenen Beispiele evident macht: Entgegen aller Warnungen seines Vaters will Phaeton den Sonnenwagen führen, doch „er kann die geliehenen Zügel nicht führen, / Kennt nicht den Weg, und wenn er ihn kennte, er kann sie nicht lenken.“330 So nimmt in den Metamorphosen die Katastrophe von Phaetons Tod ihren Anfang. Angesichts dieser mythischkatastrophischen Implikationen des Phaeton-Wagens zeigt der Gebrauch dieses Beispiels als Metapher bei Jean Paul weniger Lob als vielmehr Kritik am Schiller’schen Idyllen-Ideal an. Ausgehend von einer solchen Doppelkritik an Rousseau und Schiller entwickelt Jean Paul letztlich einen ganz eigenen Ansatz zur theoretischen wie po(i)etischen Fassung der Idylle durch ihre genuine Optik der Beschränkung.

3.3.2Die idyllische Optik der Beschränkung Mit dem von Böschenstein ‚objektiv‘ genannten Kriterium der Beschränkung,331 das Jean Paul vor dem Hintergrund seiner intendierten Abgrenzung der Idylle als Freudenspiel gegenüber dem Trauerspiel entwickelt, ist laut Diekkämper das die Idylle konstituierende Moment einer subjektiven Wahrnehmung des Vollglücks verknüpft.332 Diese führt zu einer Generalisierung der Idylle, die Jean Paul anhand eines Katalogs von Beispielen für Situationen, die ein idyllisches Potenzial in sich tragen, erläutert. Auf diese

329

330 331 332

Stichwort: ‚Schmelz‘, in: Wahrig. Deutsches Wörterbuch [1966], hrsg. von Renate Wahrig-Burfeind, Gütersloh/München: Wissen Media Verlag 82006, S. 1302. Ovid: Metamorphosen [II,169f], S. 60. Vgl. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 130. Vgl. Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 52.

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Weise stellt er die allgemeine Disposition zur Idylle für jede objektiv als beschränkt und deshalb subjektiv als Vollglück wahrgenommene Situation dar: Ihr könnt die Geh-Fahrt eines Fuhrmanns bei gutem Wetter und gutem Straßenbau und bei seinen kostbaren Mahlzeiten zur Idylle erheben und ihm – es ist aber Überfluß – im Gasthofe gar seine Braut anbieten. So kann z.B. die Ferienzeit eines gedruckten Schulmannes – der blaue Montag eines Handwerkers – die Taufe des ersten Kindes – sogar der erste Tag, an welchem eine von Hoffesten mattgehetzte Fürsten-Braut endlich mit ihrem Fürsten ganz allein (das Gefolge kommt sehr spät nach) in eine volle blühende Einsiedelei hinausfährt – kurz alle diese Tage können Idyllen werden und können singen: auch wir waren in Arkadien. – (259)

Diese Beispielreihe für idyllisch beschränkte Vollglücke ist aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens verweist sie auf Jean Pauls ‚Billett‘ zurück, wo eine ähnliche Reihung zu finden ist, und zweitens veranschaulicht sie die Synthese der zwei im ‚Billett‘ beschriebenen Glückswege zu jenem dritten, den Jean Paul „für den schwersten und klügsten“ hält, weil er darin besteht, „mit den beiden andern zu wechseln“.333 Bei den einzelnen Beispielen, die Jean Paul in der ‚Vorschule‘ gibt, handelt es sich um profane Situationen, deren Beschränkung im Text performativ durch ihre Aufzählung mittels Gedankenstrichen veranschaulicht wird. Es sind gewissermaßen Fragmente größerer Handlungszusammenhänge – die Geh-Fahrt eines Fuhrmanns wird beispielsweise ohne ihren Anfangs- noch Zielort genannt –, die aus eben diesen isoliert und dementsprechend objektiv beschränkt werden: Die Ferienzeit des gedruckten Schulmannes ist gegenüber dessen Arbeitsalltag genauso zeitlich beschränkt wie der blaue Montag des Handwerkers in Bezug auf den Rest seiner Werkwoche. Gleiches gilt für das singuläre Ereignis einer Kindstaufe oder den ersten Tag der Fürsten-Braut in ihrer Einsiedelei. All diese Situationen haben außer ihrer objektiven Beschränkung nichts weiter gemein, als dass man sie – in subjektiver Wahrnehmung – „zur Idylle erheben“ kann (259). Diese Erhebung bedeutet letztlich also, dass die Ereignishaftigkeit solcher Situationen übergeht in eine zwar beschränkte, deshalb aber idyllische Zustandshaftigkeit. Die objektive Beschränkung, die Jean Paul mit der Beispielreihe in der ‚Vorschule‘ veranschaulicht, entspricht dem zweiten der von ihm im ‚Billett‘ beschriebenen Glückswege, weil dieser durch die anempfohlene Einnahme einer Froschperspektive die optische Täuschung einer Vergößerung durch den Blick auf das isolierte Detail bewirkt. Die Einstellungsgröße dieser Perspektive korrespondiert – um es in der Terminologie des Films zu sagen – mit dem Close-up. Diese Analogie liegt insofern nahe, als Jean Paul im ‚Billett‘ zur Erläuterung des Glücksprinzips beim zweiten Weg mit der „optischen Metapher[]“ des Mikroskops operiert:334 333 334

Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 10. Schmitz-Emans: „Abenteuer des Sehens bei Jean Paul“, in: Schmitz-Emans, Monika/Benda, Wolfram (Hgg.): Jean Paul und die Bilder. Bildkünstlerische Auseinandersetzungen mit seinem Werk: 1783–2013, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 65–137, hier: S. 68.

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Was soll ich für einen Weg, hier selig zu werden, zeigen? – Bloß meinen zweiten; und das ist der: ein zusammengesetztes Mikroskop zu nehmen und damit zu ersehen, daß ihr Tropfe Burgunder eigentlich ein rotes Meer, der Schmetterlingsstaub Pfauengefieder, der Schimmel ein blühendes Feld und der Sand ein Juwelenhaufen ist. Diese mikroskopischen Belustigungen sind dauerhafter als alle teuren Brunnenbelustigungen...335

Der durch die vergrößernde Beschränkung des Gesichtsfeldes ermöglichte mikroskopische Blick auf das isolierte Detail lässt es schließlich zu, ebendieses zur Idylle zu „erheben“, wie es in der ‚Vorschule‘ heißt (259). Der durch dieses Verb angezeigte Vektor korrespondiert mit dem ersten von Jean Paul im ‚Billett‘ beschriebenen Glücksweg, der insofern eine panoramische Aufsicht darstellt, als er „in die Höhe geht“.336 In den von Jean Paul mit der Beispielreihe in der ‚Vorschule‘ beschriebenen idyllischen Beschränkungen des Vollglücks verbinden sich also nicht nur der erste und der zweite Glücksweg aus dem ‚Billett‘ – ihre Verbindung stellt vielmehr den dritten dort beschriebenen Weg als einen idyllischen dar. Diesen dritten und buchstäblich ‚wechselvollen‘ „Himmelsweg“ beschreibt Jean Paul als eine menschliche Disposition: „Eben aber durch Gehen ruhet und holet der Mensch zum Steigen aus, durch kleine Freuden und Pflichten zu großen.“337 Dergestalt führt der dritte Glücksweg zu einer biedermeierlich zu nennenden ‚Wendung‘, denn wenn der Mensch ihn beschreitet, „kann er so schön aus dem genialischen Glück“, das für Jean Paul den ersten Glücksweg darstellt, „in den des häuslichen einbeugen“.338 Durch Jean Paul erfolgt also tatsächlich die von Steiner mit Bezug auf die Idylle „genrespezifisch[]“ genannte „Transformation vom Arkadischen ins Bürgerliche“.339 Auch in der Beispielreihe der ‚Vorschule‘ ist dieser Wechsel vom ersten auf den zweiten Glücksweg angezeigt und zwar durch das dort gezogene emphatische Resümee: „kurz alle diese Tage können Idyllen werden und können singen: auch wir waren in Arkadien. –“ (259) An dieser Formulierung zeigt sich erneut Jean Pauls Spiel mit der Ambivalenz in dem, was er sagt. Mit seinem Schlusssatz scheint er sich insofern in die klassische Idyllentradition einzuschreiben, als Jean Paul hier die lateinische Formel ‚et in Arcadia ego‘ aufnimmt, die gerade im 18. Jahrhundert in ganz Europa durch verschiedene Stiche zweier Gemälde Nicolas Poussins von 1630 und vmtl. 1655 bekannt geworden ist. ‚Et in Arca335

336 337 338 339

Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 10. Norbert Miller merkt erläuternd an, dass die ‚mikroskopischen Belustigungen‘ vermutlich auf „eine damals verbreitete Titelmode bei wissenschaftlichen Werken“ anspielen und es sich bei den ‚Brunnenbelustigungen‘ um sog. Heilquellenbücher handeln dürfte (Jean Paul: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. VIII: Kleinere erzählende Schriften (II) [Anmerkungen], München/Wien: Hanser 1975, S. 1142). Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 10. Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 12f. Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 13. Steiner: „Die Sachen als Streitsachen der Idylle“, S. 261.

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dia ego‘ lautet nicht nur der jeweilige Titel dieser Bilder, die Formel findet sich in diesen auch als Inschrift auf architektonischen Elementen, die als Grabmäler zu deuten sind und von Hirten betrachtet werden.340 Poussins Gemälde beziehen sich motivisch wie stofflich auf ein vermutlich zwischen 1621 und 1623 von Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guernico, angefertigtes Gemälde. Dieses befindet sich heute in der Galleria Nazionale in Rom und zeigt ebenfalls Hirten bei der Betrachtung eines architektonischen Elements in Form eines Mauerstücks mit der Inschrift ‚ET IN ARCADIA EGO‘, auf dem ein Totenschädel liegt.341 Erwin Panofsky erläutert, dass die Formel vor Guernicos Bild weder in der bildenden Kunst noch in der Literatur auftaucht, weshalb sie keinesfalls antik, sondern eine Erfindung des 17. Jahrhunderts ist,342 die auf das in der Frühen Neuzeit insbesondere durch Jacopo Sannazaros Schäferroman Arcadia (um 1480) aktualisierte Arkadien-Konzept Vergils verweisen soll.343 Wie Panofsky weiter darlegt, gründet sich die europäische Überlieferung der lateinischen Arcadia-Formel auf eine Übersetzung durch Denis Diderot im Jahr 1758, die „mithin als die literarische Quelle sämtlicher späterer“ Varianten der Formel gelten darf.344 Demnach beschwöre das ‚et in Arcadia ego‘ „die rückwärtsgewandte Vision eines unübertrefflichen Glücks herauf, das in der Vergangenheit genossen wurde, danach für immer unerreichbar und dennoch in der Erinnerung dauerhaft lebendig“ geblieben ist.345 Mit Bezug auf die darstellerische Präsentation der Formel bei Guernico wie Poussin weist Panofsky nach, „daß unsere moderne Lesart“ der Formel im Sinn Diderots „in Wirklichkeit eine falsche Übersetzung“ darstellt.346 Sie erscheint nun nachgerade idyllisch überlagert, denn „[d]ie korrekte Übersetzung der Wendung in ihrer orthodoxen Form lautet [...] nicht: ‚Auch ich bin in Arkadien geboren oder lebe dort‘, sondern: ‚Selbst in Arkadien gibt es mich‘, woraus wir schließen müssen, daß der Sprecher nicht ein verstorbener arkadischer Hirte oder eine Hirtin ist, sondern der Tod persönlich.“347 Die wohl älteste deutsche Übersetzung der Arcadia-Formel findet sich in Johann Georg Jacobis Die Winterreise von 1769,348 ihre wirkmächtigste Verbreitung im deutschsprachigen Raum erfährt sie jedoch als Motto, das Johann Wolfgang Goethe seiner in 340

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344 345 346 347 348

Poussin, Nicolas: Et in arcadia ego, vmtl. um 1630, Chatsworth: Devonshire Collection; ders.: Et in arcadia ego, vmtl. um 1655, Paris: Musée du Louvre. Vgl. Panofsky, Erwin: Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen [1936], hrsg. von Volker Breidecker, Berlin: Friedenauer Presse 2002, S. 15. Vgl. Panofsky: Et in Arcadia ego, S. 15. Vgl. hierzu in den Kommentar von Herbert von Einem zu Goethes Italienreise im elften Band der Hamburger Ausgabe (HA: XI, S. 583). Panofsky: Et in Arcadia ego, S. 24. Panofsky: Et in Arcadia ego, S. 8. Panofsky: Et in Arcadia ego, S. 8. Panofsky: Et in Arcadia ego, S. 16. Vgl. HA: XI [Anmerkungen], S. 582.

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zwei Bänden 1816 und 1817 erschienen ‚Italienischen Reise‘ voranstellt.349 Während Jean Paul sich mit seiner Verwendung der Arcadia-Formel in der ‚Vorschule‘ keinesfalls auf Goethes autobiographischen Reisebericht beziehen kann, liegt – zumindest zeitlogisch – eine Anspielung auf deren Gebrauch durch Schiller in seinem Gedicht „Resignation“ von 1784 im Bereich des Möglichen – und aufgrund von Jean Pauls impliziter Auseinandersetzung mit der Schiller’schen Idyllentheorie auch in dem des Wahrscheinlichen. In Schillers Gedicht steht die durch das lyrische Ich aufgerufene Arcadia-Formel für die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die Vergangenheit angesichts des nahenden Lebensendes. Entsprechend heißt es dort zu Anfang: „Auch ich war in Arkadien geboren, / Auch mir hat die Natur / An meiner Wiege Freude zugeschworen, / Auch ich war in Arkadien geboren, / Doch Thränen gab der kurze Lenz mir nur. // Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder, / Mir hat er abgeblüht.“350 Bei Jean Paul erscheint die Verwendung der Arcadia-Formel in keiner Weise derart pessimistisch wie bei Schiller. Als ambivalent erweist sich ihr Gebrauch jedoch nicht etwa deshalb oder weil Jean Paul gar auf den seit Diderot tradierten ‚Übersetzungsfehler‘ aufmerksam machen würde. Ganz im Gegenteil ist vielmehr anzunehmen, dass er die Formel in dem im 18. Jahrhundert diskursiv etablierten Sinn verwendet und dadurch an der mit ihr verbundenen ‚retour‘-Idee jener, wie Panofsky es nennt, ‚rückwärts gewandten Vision‘ Kritik übt – eine Kritik, die Jean Paul, wie gezeigt, zwar mit Schiller teilt, sie jedoch nicht in eine auf die Zukunft gerichtete Projektion wendet. In diesem Sinn verwirft Jean Paul Arkadien also genauso wie Elysium. Die Erwähnung der Arcadia-Formel am Ende seiner Aufzählung von Situationen, die durch ihre objektive Beschränkung subjektiv als Idyllen wahrgenommen werden können, erweist sich deshalb als eine Kritik an den von ihm zuvor aufgezeigten zwei falschen Beschränkungen der Idylle, die diese erstens auf das „Hirten-Leben“ und zweitens auf „das goldne Alter der Menschheit“ beziehen (258). Die Arcadia-Formel verliert bei Jean Paul letztlich also ihre ‚idyllische Exklusivität‘, weil sie seiner Auffassung zufolge auch auf solche Situationen beziehbar sei, die nach dem allgemeinen Idylle-Verständnis, das die Arcadia-Formel gewissermaßen verdichtet, eben keine Idyllen sein können. Hieraus ergibt sich die Generalisierung der Idylle aus ihrer Beschränkung, was mit einer Korrektur der idyllischen Topographie einhergeht: Sei das Goldene Zeitalter nun verloren oder vielleicht doch wiedergewinnbar – Arkadien liegt nicht alleine dort. Zugleich impliziert die Jean Paul’sche Generalisierung der Idylle 349

350

Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. XI: Autobiographische Schriften, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 7–556. Schiller, Friedrich: „Resignation“ [Zweite Fassung], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. II/1: Gedichte, hrsg. von Norbert Oellers, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1983, S. 401ff, hier: S. 401.

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deren Demokratisierung, denn er setzt das ‚ego‘ der lateinischen Arcadia-Formel in seiner übersetzenden Adaption in den Plural. Die aufgrund einer Vervielfachung der Erzählinstanzen in Jean Pauls literarischen Texten vorherrschende „Ego-Pluralität“ kennzeichnet also auch seine theoretische Fassung der Idylle.351 Die Ego-Pluralität in Jean Pauls modifizierter Übersetzung der Arcadia-Formel lässt sich daher als Kritik lesen, die der idyllischen Exklusivität Arkadiens gilt, wo – gemäß dem geläufigen Idylle-Verständnis – „das verschwundene goldne Alter der Menschheit“ vorgestellt werde (257). Für Jean Paul muss die Arcadia-Formel aber allein schon deshalb ihre Exklusivität verlieren, weil „die Idylle das Vollglück in der Beschränkung dar[stellt]“ (260). Daraus leitet er zwei po(i)etische Konsequenzen für ihre konkrete Realisierung ab, von denen er die erste nachgerade idyllisch mit Hilfe von Wetter-Metaphern beschreibt: „Erstlich kann die Leidenschaft, insofern sie heiße Wetterwolken hinter sich hat, sich nicht mit ihren Donnern in diese stillen Himmel mischen; nur einige laue Regenwölkchen sind ihr vergönnt, vor und hinter welchen man schon den breiten hellen Sonnenschein auf den Hügeln und Auen sieht.“ (260) Zweitens seien zur Darstellung der idyllischen „Beschränkung im Vollglück“ nicht nur für die Landschaft „die hellsten örtlichen Farben“ notwendig, sondern „auch für Lage, Stand, Charakter“ der präsentierten menschlichen Figuren, um so nicht jene „unbestimmten duftigen Allgemeinheiten Geßners“ zu wiederholen, „in welchen höchstens etwan Schaf und Bock aus den Wasserfarben auftauchen, aber die Menschen verschwimmen“ (260f). Was Jean Paul hier an den Gessner’schen Idyllen kritisiert, beschreibt gleichsam ein für sie spezifisches optisches Phänomen, denn ‚verschwimmen‘ bedeutet „undeutlich werden, sich in den Umrissen verschwischen“.352 Jean Pauls Kritik gilt jedoch nicht nur Gessner, sondern auch Schiller und Rousseau – wenn man die ‚Vorschule‘ in Bezug setzt zu einem anderen poetologischen Text: Im 1795 verfassten Kapitel „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, das den Auftakt für „Einige Jus de tablette für Mannspersonen“ im Anhang zum Roman Leben des Quintus Fixlein (Ende 1795 erschienen und auf 1796 datiert) bildet, beschreibt Jean Paul nämlich das durch die Einbildungskraft ermöglichte Verfahren der Idealisierung als einen Effekt der ‚Vorbildung‘ durch idyllische Lektüren: „Belesene Mädchen, die im Sommer aufs Land gehen, machen aus den Landleuten wandelnde Geßnerische Idyllen-Ideale. Die Landleute idealisieren ihrerseits wieder die Mädchen zu Prinzessinnen der Marionetten oder der Hirtenbücher.“353 In seinen Reflexionen über die Einbildungskraft stellt Jean Paul die Phantasie als eine innere und nachgerade idyllische Fähigkeit des Menschen dar, durch die 351 352 353

Wirth: Die Geburt des Autors, S. 331, Hervorhebung i.O. Stichwort ‚verschwimmen‘, in: Wahrig, S. 1585. Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. VII: Kleinere erzählende Schriften (I), München/Wien: Hanser 1975, S. 195–205, hier: S. 199.

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dessen äußeres Sensorium ergänzt werde: „Die fünf Sinne heben mir außerhalb, die Phantasie innerhalb meines Kopfes einen Blumengarten vor die Seele; jene gestalten und malen, diese tut es auch [...].“354 Die Wirkung der Einbildung als „phantastische Kraft“ ist jedoch nicht auf den Kopf beschränkt, weil sie auch nach „auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht“.355 Aus diesem Grund ermöglicht sie jene Idealisierung, die Jean Paul bei belesenen Mädchen und Landleuten in ihrer jeweils wechselseitigen Wahrnehmung erkennen will. Wie Tismar darlegt, setzt Jean Paul hier „seinen Begriff von ‚Ideal‘ polemisch gegen den klassischen von Goethe und Schiller“, was daran liegt, dass er ihn „als eine relative Größe, also nicht normativ“, behandelt: Unter Idealisierung versteht Jean Paul das literarische Verfahren, „die poetischen Objekte größer, gewichtiger vorzustellen, als sie realiter erscheinen“.356 Jean Paul führt dieses Verfahren nicht nur vor, sondern geht dazu gleichsam auf komisierende Distanz, wenn er den banalen Teig als ein dem ‚erhabenen‘ Marmor gleichwertiges künstlerisches Gestaltungsmaterial nennt. Das, was Jean Paul also durch „die bewußt mißverständliche Verwendung der Begriffe“ polemisch als Idealisierung beschreibt, lässt sich mit Tismar als „(poetische) Überhöhung“ begreifen.357 Diese erweist sich jedoch vielmehr als eine idyllische Überlagerung durch eine entsprechende ‚literarische Vorbildung‘, denn genauso wie Mädchen sind auch die von ihnen zum „wandelnd[en] Geßnerisch[en] Idyllen-Ideal“ stilisierten Landleute belesen, wenn sie „Prinzessinnen der Marionetten oder der Hirtenbücher“ in den Mädchen erkennen.358 Dergestalt bilden solche ‚Idealisierungen‘ nach Jean Paul „den blumigsten Irrgang einer fremden Phantasie“.359 Im Fall der Mädchen und Landleute ist das offenkundig diejenige Gessners, denn ganz im Sinn der in den Reflexionen zur Einbildungskraft beschriebenen Idealisierung lässt die Phantasie des Zürcher Dichters in dessen Idyllen „die Menschen verschwimmen“, wie es in der ‚Vorschule‘ heißt. Für dieses „harte Urteil“ über Gessner beruft sich Jean Paul auf Herder, „der vor funzig Jahren in seinen ‚Fragmenten zur Literatur‘ den damals lorbeergekrönten regierenden Geßner weit unter Theokrit hinabstellte“ (261). Deshalb fordert Jean Paul, dass die Idylle „nicht von Geßner geschrieben sein [darf], noch von Franzosen“ (260). Insbesondere scheint die ‚vorschulische‘ Gessner-Schelte gegen die positive Rezeption seiner (literarischen wie gemalten) Idyllen durch die französischen Ancien-VertreterInnen der Querelle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerichtet zu sein. Hierfür sprechen 354 355 356 357 358 359

Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 195. Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 197. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 32. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 32. Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 199. Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 201.

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auch die genannten ‚Wasserfarben‘, „in welchen höchstens etwan Schaf und Bock [...] auftauchen, aber die Menschen verschwimmen“ (261), – schließlich hat Gessner nicht nur literarische Idyllen verfasst, sondern sie auch malerisch umgesetzt. Dabei folgt seine bildkünstlerische Poetik, die er in dem für Johann Casper Füßlis Vorrede zum dritten Band von dessen Geschichte der besten Künstler in der Schweitz verfassten „Brief über die Landschaftsmahlerey“ von 1770 darlegt, einer dezidiert ausbuchstabierten imitatio veterum. Dies muss den progressiven ‚Modernen‘ mit ihrer Kritik am Nachahmungspostulat genauso suspekt gewesen sein wie den VertrerInnen der Genie-Ideologie. So legt Gessner in seinem Brief dar, dass er „blos und allein die beyden Poussin [Nicolas Poussin und sein Adoptivsohn Gaspard Dughet, N.J.] und den Claude Lorrain“ studiert habe, denn „sie versetzen uns in jene Zeiten, die uns die Geschichte und die Dichter mit Ehrfurcht erfüllen“.360 Auch wenn er dann eingesteht, dass man „nie ein Original“ werden könne, wenn man „sich gewöhnt nur andern nachzudenken“,361 so erscheint die von ihm gewünschte „Anleitung“ gerade „für die Anfänger in der Kunst“ nachgerade regelpoetisch, solle sie doch „für jede Art der Kunst die sicherste und beste Art zu Werke zu gehen“ aufzeigen „und zugleich die besten Werke und die größten Künstler“ nennen, „die jeder für seine Absicht zu studieren hat“.362 Angesichts der von Gessners in seinem „Brief über die Landschaftsmahlerey“ empfohlene imitatio scheint Jean Paul genau diese ‚unmoderne‘ Ausrichtung idyllischer poiesis als eine falsche Beschränkung zu kritisieren, „weil die Kopie nicht mehr enthalten kann als das Urbild“, wie er bereits in „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“ ausführt.363 In der ‚Vorschule‘ greift er diesen Gedanken wieder auf und formuliert entsprechend gegen Gessner: „Schon welche köstliche Naturfarben hätte sich nicht Geßner von seine Alpen – von den Sennenhütten – den Schweizerhörnern – und aus den Tälern holen können!“ (261) Derartige Aussagen haben in der Forschung zu dem Schluss geführt, dass Jean Paul in seinen vorschulischen Reflexionen vornehmlich „das Was, nicht das Wie der Idylle“ umreiße.364 Dies werde zudem durch das Kriterium der Beschränkung umso deutlicher, weil es Jean Paul insbesondere mit Bezug auf die Gegenstände der Idylle entwickle und es somit inhaltlich ausrichte.365 Was Johannes Krogoll in seiner Untersuchung von Jean Pauls Idyllen darlegt, ist zwar durchaus richtig, jedoch eine zu einseitig ausgerichtete Einschätzung: Zwar finden sich in der ‚Vorschule‘ zahlreiche thematische Beispiele für einen möglichen Idyllenstoff, 360

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Gessner, Salomon: „Brief über die Landschaftsmahlerey“, in: ders: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 177–200, hier: S. 185. Gessner: „Brief über die Landschaftsmahlerey“, S. 187. Gessner: „Brief über die Landschaftsmahlerey“, S. 194. Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 202. Krogoll, Johannes: Idylle und Idyllik bei Jean Paul, Hamburg, Univ., Diss., 1972, S. 1. Vgl. Krogoll: Idylle und Idyllik, S. 1.

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Jean Paul zeigt aber mittels darstellerischer Beschränkungen, die letztlich eine Generalisierung der Idylle bewirken, zugleich auch konkrete Verfahren zur po(i)etischen Umsetzung auf. Diese führt er insbesondere durch seine idyllische Metaphorik zudem nachgerade performativ vor – man denke etwa an die von ihm gebrauchten Wetter-Metaphern (vgl. 260). Dergestalt bedingen sich bei Jean Paul das theoretische Wie und das praktische Was der Idylle wechselseitig. Verbunden sind sie durch das Kriterium der idyllischen Beschränkung, was Ulrike Hagel mit Bezug auf die Figuren in den Jean Paul’schen Idyllen herausstellt: „Die genannte Beschränkung des ‚Vollglücks‘ kann sowohl äußerlich als auch innerlich sein. Die Idyllenhelden Jean Pauls sind beispielsweise sowohl durch die kleinbürgerlichen Verhältnisse eingeschränkt als auch durch ihre geistige Verfaßtheit beschränkt.“366 Hieraus leitet Hagel sodann eine Kritik am Begriff des Idyllischen ab, denn idyllisch sei „nichts an sich“, sondern werde es erst „nach entsprechender Perspektive und Gestaltung“.367 Die von Hagel als Erweiterung ihrer Kritik am ‚Idyllischen‘ getroffene Unterscheidung von ‚Idylle‘ und ‚Idyll‘ in Bezug auf die Zeitdarstellung in Jean Pauls Idyllen orientiert sich zwar korrekt an der Etymologie des Idylle-Begriffs,368 erscheint aber aufgrund der vorgeschlagenen konzeptuellen Fassung – unter dem einen versteht Hagel das „literarisch dargestellte Szenario“,369 unter dem anderen „das in der Idylle Dargestellte“370 – so wenig trennscharf wie analytisch operationalisierbar. Trotzdem lässt sich ihr grundlegender Ansatz produktiv weiterdenken: Hagel geht nämlich von einer „idyllisch[en] Perspektivik“ aus,371 sodass sich in Bezug auf Jean Pauls theoretische Fassung der Idylle das Kriterium der Beschränkung gewissermaßen als zentraler ‚Fluchtpunkt‘ dieser Perspektivik begreifen lässt. Unter ‚Perspektive‘ kann ganz allgemein ein Darstellungssystem verstanden werden und das geläufigste ist seit der Renaissance das der Zentralperspektive. Diese macht (gemäß der lateinischen Wurzel ‚perspicere‘) ein deutliches Sehen, Erkennen und Wahrnehmen möglich macht – und zwar ganz im Sinn einer mimetischen ‚Nachahmung‘ der Natur.372

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Hagel, Ulrike: Elliptische Zeiträume des Erzählens. Jean Paul und die Aporien der Idylle, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 19. Hagel: Elliptische Zeiträume des Erzählens, S. 24, Hervorhebung N.J. ‚Idyll‘ ist die im 18. Jahrhundert von lat. ‚idyllium‘ und griech. ‚eidyllion‘ entlehnte Bezeichnung für ein „Bild des einfachen, beschaulichen Lebens in (ländlicher) Abgeschiedenheit“ bzw. für eine „komisch-beschauliche Szene“ (Stichwort ‚Idyll‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 571). Allerdings „setzt sich für die literarische Schilderung eines Idylls in lyrisch-dramatischer oder lyrisch-epischer Dichtung“ bereits im 18. Jahrhundert und vermutlich in Bezug auf die französische Bezeichnung ‚idylle‘ der Begriff ‚Idylle‘ durch (ebd.). Hagel: Elliptische Zeiträume des Erzählens, S. 19. Hagel: Elliptische Zeiträume des Erzählens, S. 24. Hagel: Elliptische Zeiträume des Erzählens, S. 19. Vgl. Stichwort ‚Perspektive‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 991f, hier: S. 992.

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Mit dem auf die idyllische Perspektivik angewandten Kriterium der Beschränkung etabliert Jean Paul letztlich also eine buchstäbliche Optik als „Lehre vom Sehen“.373 Eine solch idyllische Optik ist die einer Beschränkung, denn sie folgt dem Prinzip einer das Umgebende verdeckenden und nur auf das Wesentliche fokussierenden Lochblende. Deshalb kommt Jean Paul auch zu dem Schluss, dass „für die Idylle der Schauplatz gleichgültig“ sei (261). In seiner Lehre vom idyllischen Sehen läuft es also ebenfalls auf eine Generalisierung der Idylle hinaus, wie sie schon sein Kriterium der Beschränkung bewirkt: Indem sich die idyllische Optik überall bzw. auf alles anwenden lässt, avanciert die Idylle als „Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“ (258, Hervorhebungen i.O.) ihrerseits letztlich zum „Vollglück der Beschränkung“ (261), wie es Jean Paul zum Abschluss des Paragraphen in der ‚Vorschule‘ unter Weglassung der Präposition formuliert.374 Den Umstand, dass Jean Paul die Idylle zunächst mit einem präpositionalen und dann mit einem Genitiv-Attribut als ‚Vollglück in der Beschränkung‘ bzw. als ‚Vollglück der Beschränkung‘ beschreibt, deutet Hans Adler als eine nachgerade ‚rahmensprengende‘ „Perspektivpräzision in der Gattungsbestimmung“, weil „die Idylle nicht mehr als Darstellung des ‚Vollglücks‘ im beschränkten Umfang eines ‚Rahmes‘, sondern die Beschränkung selbst als Bedingung der Möglichkeit für ein ‚Vollglück‘“ erscheine: „zunächst durch und erst dann in der Beschränkung ist ‚Vollglück‘ möglich“.375 Auf diese Weise verbindet Jean Pauls Optik zwei Perspektiven, wie Birgit Diekkämper ausführt: Die objektive der „umgebend[en] Wirklichkeit“ verkoppelt sich durch ihre Beschränkung mit einer „subjektiv[en] Perspektive“, sodass alle dergestalt durch die idyllische Lochblende betrachteten und noch so profanen Situationen als „Glückszustände“ wahrgenommen werden können.376 Diese erscheinen laut Meyer-Sickendiek ihrerseits als

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Stichwort ‚Optik‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 952. Aus dieser theoretischen Beschreibung der Idylle mit Hilfe einer medientechnischen Metapher ergibt sich die Möglichkeit zu ihrer kulturtechnischen Perspektivierung als Alternative zum Versuch ihrer wissenspoetologischen Fassung, wie sie beispielsweise Hans Adler unternimmt. Wenn dieser die Idylle als ‚Gnoseotop‘ modelliert, impliziert das zwar Überlegungen, die denjenigen des materialen Topos der Idylle entsprechen, allerdings bedeutet eine derartige Fassung des Idylle-Begriffs, die ihre eigenen mimetischen Einschränkungen nicht reflektiert, letztlich dessen buchstäbliche ‚Verwässerung‘ für literatur- und medienkulturwissenschaftliche Analysen: „Das Leben in der gnoseologischen Idylle“, resümiert Adler zum Schluss seines erkenntnisphilosophischen Ausführungen, „ist, wie das im Biotop, nur relativ sicher, nämlich nur solange, wie das, was jenseits des Horizonts liegt, nicht einbricht in den vom Wissen eingehegten Raum – sei es als Katastrophe oder als Horizont verschiebende Innovation.“ (Adler, Hans: „Gattungswissen: Die Idylle als Gnoseotop“, in: Berg, Gunhild (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2014, S. 23–42, hier: S. 39.) Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 38, Hervorhebungen i.O. Diekkämper: Formtraditionen und Motive der Idylle, S. 52, Hervorhebung N.J.

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„das Resultat einer optischen Brechung“ und konstituieren das, was er eine „idyllische Kleinwelt“ nennt.377 Die gerade im 19. Jahrhundert literarisch höchst produktiven Nachwirkungen der von Jean Paul etablierten idyllischen Optik der Beschränkung und der durch sie ermöglichten po(i)etischen Konstitution einer ‚Kleinwelt‘ führt Alexander von Warsberg in seinem Reisebericht vor: Als er mit dem Fernglas auf den korfiotischen Fischer blickt, wirkt dieses wie eine Lochblende. Anders als Adler es beschreibt, liegt durch diese optische Beschränkung des Blicks bei Warsberg somit keine Suspension des Rahmens vor, sondern dessen Implementierung in ein optisches Medium – das Fernglas bei Warsberg wirkt wie die Hand vorm Auge bei Brockes: als Lochblende. Diese liegt schon dem optisch-technischen Prinzip der Camera obscura zu Grunde, die ihrerseits eine Optik der Beschränkung impliziert: Das Loch in der Camera reguliert nämlich den Lichteinfall, der die Tiefenschärfe beeinflusst – je weniger Licht einfällt, desto stärker ist diese. In der idyllischen Optik ist es demnach die Tiefenschärfe, die es zu beschränken gilt, um auf die Details der sichtbar werdenden ‚Kleinwelt‘ zu fokussieren und sie im Sinn Jean Pauls zur Idylle zu erheben. Die Fischer-Szene bei Warsberg führt dies nicht bloß vor, sondern buchstäblich auch vor Augen: Durch das Fernglas betrachtet, wird der Fischer am Ufer wie unter einem Mikroskop in allen seinen Einzelheiten wahrnehmbar. Das ermöglicht Warsberg schließlich die idyllische Ausgestaltung dieser Szene durch den Vergleich mit Goethes Gedicht „Der Fischer“. Nach denselben optischen Gesetzen der Idylle und ihrer Beschränkung wird auch einer von Jean Pauls wohl bekanntesten „Idylleninsassen“ po(i)etisch produktiv.378 Das in „ein[er] Art Idylle“, wie es im Untertitel der unmittelbar dem Roman Die unsichtbare Loge von 1793 angeschlossenen Erzählung heißt,379 lebende Schulmeisterlein Maria Wutz aus Auenthal gebraucht nämlich jenes „Fernrohr der Phantasie“, vom dem Jean Paul in seinen Reflexionen zur Einbildungskraft spricht380 – und das insbesondere, als Wutz im hohen Alter seine Memoiren verfasst: „Im Dezember von jenen“, und gemeint sind seine „ältern Jahre[]“, „ließ er allemal das Licht eine Stunde später bringen, weil er in dieser Stunde seine Kindheit – jeden Tag nahm er einen andern Tag vor – rekapitulierte“, berichtet der Erzähler, der zum Biographen des Schulmeisterleins

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Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 346, Hervorhebungen N.J. Campe: „Schreibstunden“, S. 140. In der ‚Vorschule‘ nennt Jean Paul „[d]as Schulmeisterlein Wutz des uns bekannten Verfassers“ dagegen explizit „eine Idylle“, aus der er „mehr machen würde als andere Kunstrichter, wenn es sonst die Verhältnisse mit dem Verfasser erlaubten“ (259). Wie komplex diese hier in komisch gebrochener Selbstreferenz thematisierten Verhältnisse sind, zeigt Wirth (vgl. Wirth: Die Geburt des Autors). Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 197.

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wird.381 Er beschreibt weiter, wie Wutz seine „Flegeljahre[]“ durch gewissermaßen ‚natürlich‘ und ‚technisch‘ eingerichtete optische Beschränkungen seiner Schreibszene erinnert: „Indem der Wind seine Fenster mit Schnee-Vorhängen verfinsterte und indem ihn aus den Ofen-Fugen das Feuer anblickte: drückte er die Augen zu und ließ auf die gefrornen Wiesen den längst vermoderten Frühling niedertauen“ (W 423).382 Durch diese „Abschließung von der Außenwelt“ werde laut Tismar eine „Innenwelt der Innenwelt“ sichtbar – vor dem geistigen Auge des Protagonisten der Erzählung wie auch dem der LeserInnen.383 Der nachgerade „behaglich[e] Erzähler“ stellt zum Auftakt der Erzählung außerdem bereits „ein intimes Verhältnis“ zwischen sich und den LeserInnen sowie zwischen diesen und dem Protagonisten her, „weil dem Leser ein Verhalten zugeschrieben wird, das dem der dargestellten Figur sehr ähnlich ist“:384 Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden, und an die grand mode über der Gasse drüben und ans Palais royal muß keiner von uns denken, bloß weil ich die ruhige Geschichte des vergnügten Schulmeisterlein erzähle – (W 422)

Die behagliche Einrichtung dieser Erzählszene, die „der eigentlichen Erzählung vom Leben und Sterben des Maria Wutz in Auenthal vorgeschaltet“ ist, antizipiert also „die räumliche Geborgenheit“ als Voraussetzung für die erzählerische Präsentation von Wutzens „Erinnerungsträumen“.385 Zugleich werden hierdurch „Erzähler und Leser (Zuhörer), Leser und Figur, Figur und Erzähler [...] in eine Korrespondenz gebracht, um ein idyllisches Territorium auszukundschaften“.386 Dieses Territorium sind Wutzens Kindheitserinnerungen, die er – mit geschlossenen Augen – nachgerade ‚erträumt‘, indem er sich durch seine behagliche Einrichtung von der Außenwelt „abkapselt, um sich

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Jean Paul: „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal. Eine Art Idylle“ [1793], in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. I: Unsichtbare Loge; Hesperus (I), München/Wien: Hanser 1975, S. 422–462, hier: S. 423. Der 1791 verfasste ‚Wutz‘ erscheint als Anhang zu Jean Pauls in zwei Bänden veröffentlichtem ersten Roman Die unsichtbare Loge. Die nachfolgenden Zitate werden mit der Sigle ‚W‘ gefolgt von der entsprechenden Seitenzahl in Klammern ohne weitere Fußnote direkt im Text belegt. Ähnlich erweisen sich die Begleitumstände des Schreibens im Fall des Romans von TRAUMSCHIFF-Chef-Hostess Beatrice: Wie sie in einem Gespräch mit Kreuzfahrtdirektor Schifferle mitteilt, habe sie ihren literarischen ‚Erstling‘ genauso palingenisierend geschrieben wie das Jean Paul’sche Schulmeisterlein seine Memoire, nämlich „an langen Abenden und verregneten Tagen“ (DAS TRAUMSCHIFF, Episode 80: „Los Angeles“, Regie: Stefan Bartmann, Erstausstrahlung: 1.1.2018, ZDF, hier: 01:01:47). Tismar: Gestörte Idyllen, S. 15. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 14. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 16. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 16.

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[diese] vorstellen zu können“.387 Dass sich ein dergestalt ‚traumhafter‘ Zustand dazu eigne, eine solche „Phantasieleistung“ zu bewerkstelligen,388 stellt Jean Paul in seinen Reflexionen über die Einbildungskraft und deren ‚natürliche Magie‘ anschaulich heraus: Der Traum führet [...] die längst weggeschobenen bunten Glasmalereien der Kindheit wieder in die dunkle Kammer des Schlafes zurück. Die Kindheits-Erinnerungen können aber nicht als Erinnerungen, deren uns ja aus jedem Alter bleiben, so sehr laben: sondern es muß darum sein, weil ihre magische Dunkelheit und das Andenken an unsere damalige kindliche Erwartung eines unendlichen Genusses, mit der uns die vollen jungen Kräfte und die Unbekanntschaft mit dem Leben belogen, unserem Sinne des Grenzenlosen mehr schmeicheln.389

Wenn die „Kindheits-Erinnerungen“ ihre eigene „magische Dunkelheit“ gerade in der „dunkl[en] Kammer des Schlafes“ entfalten und dort den „Sinne des Grenzenlosen“ anregen, dann wird die Einbildungskraft po(i)etisch produktiv: Wie Jean Paul zu Beginn seiner Reflexionen anmerkt, gestaltet und malt „die Phantasie [...] mit der Blässe der schwarzen Kunst oder (in einem Dichter) mit aqua tinta“.390 Was anderes als die ‚magische Dunkelheit‘ der Erinnerung kann jene ‚schwarze Kunst‘ sein, die nach Jean Paul zum Material der Phantasie wird – in derselben Weise nutzt schließlich auch der Erzähler in Gessners Lycas-Idylle den ihm von der „Einbildungskraft“ geöffneten „Schaz von Bildern“, die er aus dem „blumichten Lenz“, dem „schwülen Sommer“ und dem „bunten Herbst“ erinnert.391 Im Dispositiv von Wutzens ‚Kopfkino‘ wirken also die von der Witterung geschaffenen Vorhänge genauso als beschränkende Blende wie die Fugen des Ofens und die Augenlider des Schulmeisterleins. Die detaillierte Beschreibung dieses Dispositivs, durch das es möglich wird, die Vergangenheit in der Erinnerung bildhaft zugänglich zu machen, stellt somit das dar, was das von Gessners Lycas vorgeführte Idylle-Machen implizit stets voraussetzt: eine idyllische Optik der Beschränkung. Vor dem Hintergrund dieser Optik erscheint die Idylle in ihrer theoretischen Fassung nach Jean Paul als Komplement zu dem, was Albrecht Koschorke als ‚romantische Utopie‘ einer „Fernflucht“ beschreibt.392 Medial vermittelt ist sie vor allem durch die „unendlichen Landschaften der Naturdichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts“, wobei sie strukturell einer „religiösen Erhebung über das Irdische“ entspricht und zugleich als deren säkular-romantisiertes Pendant angesehen werden kann.393 In diesem Sinn wäre die Idylle also keine Fern-, sondern eine Nahflucht. Diese Nahflucht der Idylle erscheint gegen jene ‚Fernsehsucht der Romantik‘ gerichtet, die ihrerseits offenbar maßgeblich 387 388 389 390 391

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Tismar: Gestörte Idyllen, S. 15, Hervorhebung i.O. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 16. Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 202. Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 195. Gessner, Salomon: „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“, in: ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 39f, hier: S. 39. Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 180. Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 173.

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durch Schillers Theorie der sentimentalischen Idylle vorbereitet ist – zumindest lässt Koschorkes Beschreibung einer solchen ‚Sucht‘ als „Reproduktion von Ungreifbarkeit und Entfernung“ im Sinn einer die christliche Glaubensideologie ablösenden säkularen Transzendenz diese Schlussfolgerung zu: ‚Fernsehsucht‘ zielt auf ein Gebiet hin, das in einem imaginären Jenseits oder an der äußersten Grenze der visuellen Reichweite liegt; sie legt deshalb allen Wahrnehmungen und Empfindungen einen Mangel auf, den keine vereinnahmende Übersicht heilt. Das gegenständlich Gegebene wird durch das Ungewisse, das sich in seinem irreduziblen Fernesein dahinter zeigt, qualitativ überboten. [...] [D]iese neue Struktur der Transzendierung ist nur eine Folge der Abschaffung der älteren, und sie unterscheidet sich von der christlichen Höhenflucht dadurch, daß sie, unter dem Druck einer gewachsenen Gravitation des Realitätsprinzips, in der Richtung einer empirischen Flächenkoordination verläuft.394

Das, was Koschorke hier als bildkünstlerische Funktionalisierung des die Zentralperspektive möglich machenden Horizonts in der romantischen Landschaftsmalerei beschreibt, steht in Bezug zu Schillers Idyllentheorie, der ebenfalls eine „Struktur der Transzendierung“ zu Grunde liegt, allerdings ohne den das „Ungewisse“ anzeigenden landschaftlichen Horizont, den es mit seinem „irreduziblen Fernesein“ in der Literatur so nicht gibt. Die zentralperspektivische Funktion des Horizonts übernimmt in der ‚literarischen Landschaft‘ bei Schiller das durch die sentimentalische Idylle zu veranschaulichende Ideal: Das, was Schiller Elysium nennt und Koschorke als ‚Fernsehsucht‘ nach einem „imaginären Jenseits“ darstellt, holt die Idylle als ‚sinnliche Bekräftigung‘ in den Bereich des Möglichen.395 Während Koschorke dies als Transzendenz des „gegenständlich Gegeben[en]“ durch dessen qualitative Überbietung beschreibt, die in Landschaftsdarstellungen durch das vom Horizont angezeigte Ungewisse erfolgt, geht Schiller von einer Transzendenz der Wirklichkeit aus, die wieder mit dem Ideal in Übereinstimmung gebracht werde – nichts anderes leistet die sentimentalische Idylle. 394 395

Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 180. In einer solchen durch die Idylle bewirkten Evidenz erkennt Schiller in seiner idyllentheoretischen Abhandlung das Potenzial der Dichtung, die ihrerseits „der Vernunft zu Hülfe“ kommt (Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 468). Ganz ähnlich bewertet Jean Paul die Wirkmächtigkeit der Phantasie, die er in seinen Reflexionen über die Einbildungskraft als einen ‚inneren‘ Sinn von den fünf äußeren abgrenzt (vgl. Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 195). Erst durch die Phantasie stelle sich nämlich ‚Erhabenheit‘ als ein spezifisch subjektiver Wahrnehmungseffekt ein: „Die Natur zwar selber als Sinnengegenstand ist nicht erhaben, d.h. unendlich, weil sie alle ihre Massen wenigstens mit optischen Grenzen scharf abschneidet, das unabsenhliche Meer mit Nebel oder Morgenrot, den unergründlichen Himmel mit Blau, die Abgründe mit Schwarz. Gleichwohl sind Meer, der Himmel, der Abgrund erhaben; aber nicht durch die Gabe der Sinne, sondern der Phantasie, die sich an die optischen Grenzen, an jene scheinbare Grenzenlosigkeit hinstellet, um in eine wahre hinüberzugehen“ (ebd., S. 201)

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Für Koschorke ist die somit in der Idylle wirksame ‚Fernsehsucht‘ im Panoramablick realisiert, der für ihn den „Prototyp der erhebenden Seherfahrung“ im Sinn „einer subjektiven Selbsterhöhung“ darstellt, denn das Panorama biete „ein Gesamtbild der Landschaft in absoluter Bezogenheit auf den Horizont“.396 Dergestalt erweist sich die von Jean Paul mittels des Kriteriums der Beschränkung theoretisch gefasste Idylle als ein ‚beschränktes Panorama‘: Sie ermöglicht weniger subjektive Selbsterhöhung als vielmehr eine subjektive Selbstbeglückung, weil die Idylle zunächst das „Vollglück in der Beschränkung“ (260) darstellt und deshalb selbst zum „Vollglück der Beschränkung“ (261) avanciert. Insofern stellt die Idylle also jenen dritten Glücksweg dar, den Jean Paul im ‚Billett‘ an seine Freunde als Synthese aus dem panoramisch verkleinernden Höhenflug des ersten und der mikroskopisch vergrößernden Einnistung des zweiten Wegs beschreibt. In der idyllischen Optik der Beschränkung verbinden sich also diese beiden Perspektiven, weshalb sie letztlich zur Voraussetzung dessen wird, was die Forschung gemeinhin Schillers sentimentalischer Idylle als aporetische Wirkung unterstellt: Erst durch ihre Beschränkung erhält die Idylle nämlich jenen „utopischen Wert“, den Koschorke in Jean Pauls Landschaftsdarstellungen erkennt und der ihm zufolge in „der Kategorie des Möglichen“ liege.397 Dieses Mögliche ist daher nichts anderes als das von Jean Paul herausgestellte idyllische Potenzial jeder noch so profanen und mithin ‚unarkadischen‘ Situation, das durch ihre Beschränkung gewissermaßen ‚freigesetzt‘ werden kann. Insofern wird deutlich, dass Jean Paul mit seiner theoretischen Fassung der Idylle an deren sentimentalischer Bestimmung durch Schiller anknüpft und zugleich weit über diese hinausgeht, denn in der Vorschule der Ästhetik zeichnet sich bereits jene ‚universelle Verkitschung‘ ab, die der Idylle den Weg vom 19. ins 20. Jahrhundert weist.

3.3.3„Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel“, oder: Die ‚universelle Verkitschung‘ der Idylle Die po(i)etische Produktivkraft der idyllischen Optik der Beschränkung führt Jean Paul im ‚Leben des vergnügten Schulmeisterlein‘ vor: Für eine „andere palingenisierende“, also die Erinnerung seiner Kindheit unter der beschränkend-inspirierenden Abschließung von der Außenwelt wiedererzeugende „Winter-Abendstunde“ hat Wutz sich einen „prächtig[en] Trinitatis aufgehoben“, und wie Rousseau, der sich für jeden Tag des Jahres eine Gessner’sche Idylle zur Lektüre ersehnt, so wünscht sich Wutz: „ich wollt’, es 396

397

Koschorke: Geschichte des Horizonts, S. 178. Das Panorama in Landschaftsbildern hat in literarischen Landschaftsdarstellungen kein Pendant, denn es kann nur sukzessive als ein Aus- bzw. Überblick beschrieben oder fragmentarisch generiert werden, wie beispielsweise in Schillers ‚Jungfrau‘, wo das Schlachtgeschehen durch diverse Botenberichte und Teichoskopien vermittelt ist, die ihrerseits als Metonymien auf das eine große Panorama des Kriegs zwischen Engländern und Franzosen verweisen. Koschorke: Geschichte des Horizonts, S. 183, Hervorhebungen N.J.

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Theorien der Idylle

gäbe 365 Trinitatis“, um jeden Tag des Jahres wie das Kirchenfest am ersten Sonntag nach Pfingsten begehen zu können (W 424). Den impliziten Verweis auf Rousseau macht der Erzähler schließlich explizit, weil Wutzens Memoiren die „Rousseauischen Spaziergäng[e]“ sind (W 425, Hervorhebungen i.O.). Dass „J.J. Rousseau oder Wutz“ nach Aussage des Erzählers letztlich als „einerlei“ erscheinen (W 428), resultiert aus dem Umstand, „daß Wutz eine ganze Bibliothek – wie hätte der Mann sich eine kaufen können? – sich eigenhändig schrieb“ (W 425). Diese „Buchproduktion“ des Schulmeisterleins, die für Tismar „eine regelrechte Obsession“ darstellt,398 veranschaulicht, was sich mit Wirth als eine poetologische Verschiebung der „Aufmerksamkeit vom Werk als SchreibProdukt zum Werk als Schreib-Prozeß“ begreifen lässt.399 Zugleich folgt die Wutzische ‚Schreib-Prozession‘ einer grundlegenden Beschränkung, denn das Schulmeisterlein verfertigt seine Werke nach dem je aktuellen Messkatalog: „[J]edes neue Meßprodukt, dessen Titel das Meisterlein ansichtig wurde, war nun so gut als geschrieben oder gekauft: denn er setzte sich sogleich hin und machte das Produkt und schenkt’ es seiner anschaulichen Büchersammlung, die, wie die heidnischen, aus lauter Handschriften bestand.“ (W 425f) Aus dieser Beschränkung auf den Messkatalog erschreibt Wutz sich seine eigene literarische Welt und das weder als Nachahmung noch als Plagiat, denn er „unterlegt [...] etwas Eigenes dem Rezitieren des Fremden“:400 Wie der Erzähler mit Blick auf die publizistischen Gepflogenheiten um 1800 einwendet, sei Wutz „kein verdammter Nachdrucker, der das Original hinlegt und oft das meiste daraus abdruckt: sondern er nahm gar keines zur Hand“ (W 423). Deutlich wird hier, wie Jean Paul eine „Überblendung idyllischer und satirisch[er] Schreibweisen“ – und zwar im nicht-Schiller’schen Sinn – vornimmt,401 weil er in Wutzens Schreibmanie die beiden Mimesis-Konzepte der Nachahmung und der Schöpfung gegeneinander ausspielt. Unwissentlich parodiert Wutz also das Schöpfungsparadigma der Genie-Ästhetik, denn er ist ein „Autor, der sich selbst genügt“, und dabei „ein Original bleibt, auch wo er anderen nachschreibt“.402 Dabei kommt es zu zahlreichen komischen Missverständnissen und Verschiebungen, weil Wutz „z.B. im ganzen Federschen Traktat über Raum und Zeit von nichts handelte als vom Schiffs-Raum und der Zeit, die man bei Weibern Menses nennt“ (W 426, Hervorhebungen i.O.).403

398 399 400 401 402 403

Tismar: Gestörte Idyllen, S. 16. Wirth: Die Geburt des Autors, S. 331. Campe: „Schreibstunden“, S. 154. Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 347. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 17. Gemeint ist die von Johann Georg Heinrich Feder 1782 unter dem Titel Über Raum und Causalität. Zur Prüfung der Kantischen Philosophie (Göttingen: Johann Christian Dietrich) verfasste Streitschrift gegen Kant.

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel)

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Für Rousseau müsste Jean Pauls Wutz somit zu jenem „großen Haufen einfacher Schriftsteller“ gehören, „welche die Hindernisse weggeräumt haben, die den Zugang zum Tempel der Musen versperrten und die die Natur selbst dort ausgebreitet hatte“.404 Aus dem, was sich in Rousseaus Perspektive als Katastrophe der Aufklärung und ihrer ‚Popularisierung‘ der Wissenschaften und Künste erweist, macht Wutz durch seine „bedürfnislose Genügsamkeit“ eine Idylle und zwar als Vollglück (in) der Beschränkung,405 denn durch sein „verkapseltes Wesen“, kann er „alle Vergnügtheit nur aus sich entfalten“.406 Das gilt insbesondere für sein ‚genialisches Nachschreiben‘, durch das evident wird, wie Wutz die Hindernisse zum Musentempel insofern umgeht, als er sich in Form seiner selbsterschriebenen Bibliothek ein eignes Tempelchen errichtet. Somit widerlegt Wutz – in beschränktem Maße – Rousseau, der davon ausgeht, dass jeder, der „keine natürliche Bestimmung dafür besitzt, Künstler oder Wissenschaftler zu werden, und sich dennoch in diesen Bereichen betätigen will“, scheitern muss.407 Jean Pauls Wutz bzw. dessen Schreiben stellt also jenen ‚besonderen Fall‘ dar, von dem Olaf Gulbransson spricht, denn aus einer Katastrophe quillt hier die Idylle. Dies veranschaulicht auch das Ende der Erzählung vom Leben des vergnügten Schulmeisterleins: Akribisch protokolliert der Erzähler Wutzens langsamen Tod in Folge mehrerer Schlaganfälle – allerdings lässt er durch seine Beschreibung das Sterben vielmehr idyllisch als ein Erwachen aus dem „langen Traum des Lebens“ erscheinen (W 460). Dies korrespondiert mit dem von Tismar herausgearbeiteten Spannungsverhältnis „zwischen Tod und Täuschung in den jeanpaulschen Idyllen“.408 Der Erzähler berichtet von Wutzens Todesstunde: Der Lebensstrom nach seinem Kopfe wurde immer schneller und breiter: er glaubte immer wieder, verjüngt zu sein: den Mond hielt er für die bewölkte Sonne; es kam ihm vor, er sei ein fliegender Taufengel, unter einem Regenbogen an eine Dotterblumen-Kette aufgehangen, in unendlichen Bogen auf- und niederwogend, von der vierjährigen Ringgeberin über Abgründe zur Sonne aufgeschaukelt.... Gegen 4 Uhr morgens konnte er uns nicht mehr sehen, obgleich die Morgenröte schon in der Stube war – die Augen blickten versteinert vor sich hin – eine Gesichtszuckung kam auf die andre–den Mund zog eine Entzückung immer lächelnder auseinander – Frühlings-Phantasien, die weder dieses Leben erfahren, noch jenes haben wird, spielten mit der sinkenden Seele – endlich stürzte der Todesengel den blassen Leichenschleier auf sein Angesicht und hob hinter ihm die blühende Seele mit ihren tiefsten Wurzeln aus dem körperlichen Triebkasten voll organisierter Erde..... Das Sterben ist erhaben; hinter schwarzen Vorhängen tut der einsame Tod das stille

404 405

406 407 408

1. Abhandlung, S. 58. Küpper, Helmut: Jean Pauls „Wuz“. Ein Beitrag zur literarhistorischen Würdigung des Dichters [1928], Tübingen: Niemeyer 1972, S. 24. Küpper: Jean Pauls „Wuz“, S. 34. Rehm: „Aufklärung über Fortschritt“, S. 51. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 25.

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Theorien der Idylle Wunder und arbeitet für die andre Welt, und die Sterblichen stehen da mit nassen, aber stumpfen Augen neben der überirdischen Szene.... (W 461, Hervorhebungen N.J.)

Die detaillierte Beschreibung von Wutzens allerletzter Himmelfahrt erfolgt mit Hilfe des Schaukel-Bildes, das Jean Paul in der ‚Vorschule‘ zur zentralen Metapher für das durch die Idylle bewirkte Mitfreuen macht: Im prämortalen Delirium hält Wutz sich für einen „Taufengel“, der „unter einem Regenbogen an eine Dotterblumen-Kette aufgehangen“ ist und so „im unendlichen Bogen auf- und niederwogend“ bis „zur Sonne aufgeschaukelt“ wird. Die von diesen wiegenden Schaukelbewegungen angezeigten Vektoren schwingen buchstäblich in der Darstellung nach, die der Erzähler von Wutzens Verlassen des „körperlichen Triebkasten[s]“ gibt: Auf die „sinkend[e] Seele“ des Schulmeisterleins „stürzt[]“ der Todesengel, um die noch immer „blühende Seele mit ihren tiefsten Wurzeln“ emporzuheben. Aufgrund der mit hoher Frequenz oszillierenden Richtungswechsel scheint hier jener dritte Glücksweg performativ vorgeführt, den Jean Paul im ‚Billett‘ als Synthese aus der nach außen und oben sowie der nach unten und innen gerichteten ersten und zweiten Himmelfahrt beschreibt. Da dieser dritte Weg, wie gezeigt, letztlich zum idyllischen Vollglück führt, stellt das Ableben des Schulmeisterleins nicht nur sein letztes Vergnügen, sondern auch seine letzte und in diesem Fall ultimative Idylle dar, insbesondere weil das Sterben für Wutz „Frühlings-Phantasien“ bereithält, „die weder dieses Leben erfahren, noch jenes haben wird“. Tismar deutet die Darstellung des Wutzischen Sterbens nachgerade pessimistisch, denn hier werde „die Hoffnung auf Unsterblichkeit [...] zweifelhaft vor der Gewißheit des Todes“.409 Er zieht deshalb die Schlussfolgerung: „Vom Ende her gesehen zeichnet sich ein Muster ab: daß auch die glücklichsten Augenblicke im Leben des vergnügten Schulmeisters Momente einer selbstinszenierten Täuschung sind [...].“410 In Bezug auf Wutzens Todes-Idylle von einer Selbstinszenierung zu sprechen, verbietet sich nun aber insofern, als es der Erzähler ist, der das Sterben des Schulmeisterleins genauso idyllisch präsentiert wie die davor von ihm dargestellten Szenen aus dessen Leben. Wenn er Wutz selbst zu Wort kommen lässt, was nicht allzu oft der Fall ist, dann besteht keinerlei Zweifel, dass dieser von der von ihm gelebten „Kunst, stets fröhlich zu sein“ (W 431), und ihrer entsprechenden Wirkung überzeugt ist. Anders im Fall der vom Erzähler subtil ironisierten Beschreibung dieser Lebenskunst – beispielsweise wenn er von dem Wutzischen Kunstgriffen berichtet, die das Schulmeisterlein anwendet, „um stets fröhlich aufzuwachen“: Dazu hebe sich Wutz nämlich ganz einfach „immer vom Tage vorher etwas angenehmes für den Morgen auf“ (W 431). Die Universalität dieses kindlich-naiven Verfahrens veranschaulicht sich in der komischen Juxtaposition durch die vom 409 410

Tismar: Gestörte Idyllen, S. 17. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 17.

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel)

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Erzähler gegebenen Beispiele für derartig „Angenehmes“, das „entweder gebackene Klöße oder ebensoviel äußert gefährliche Blätter aus dem Robinson“ sein können (W 431). Das sich laut Tismar vom Ende der Erzählung her abzeichnende Muster folgt letztlich der idyllischen Optik der Beschränkung, wie überhaupt die ganze Wutzische Glückskunst an dieser ausgerichtet ist – und das bis in den Tod des Schulmeisterleins. Nach Helmut Küpper lese sich Jean Pauls Wutz-Idylle deshalb wie eine Antwort auf die lyrischen Mediationen, mit denen Johann Peter Uz 1760 einen Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn unternimmt.411 Darin findet sich am Ende des vierten Briefs eine Sentenz, der Jean Paul mit seinem ‚Wutz‘ eine nachgerade idyllische Evidenz gibt: „Nur wer zu sterben weiß, kann zufrieden leben! / Die wahre Freude nur, nach der die Weisen streben, / Versüßt dem Sterblichen die Reise durch die Zeit, / Und folgt, unsterblich selbst, ihm zur Unsterblichkeit.“412 Indem der Erzähler das „Leben und Sterben“ des Schulmeisterleins mitteilt (W 422), wird Wutz insofern zu einem Weisen, als sein Tod dem Erzähler die Erkenntnis vermittelt: „so fühlt’ ich unser aller Nichts und schwer, ein so unbedeutendes Lebens zu verachten, zu verdienen und zu genießen. –“ (W 461) Durch das Leben (und Sterben) des vergnügten Schulmeisterleins bewegt, wird dieses zum exemplum für den Erzähler, der sich gewissermaßen in ‚praktischer Vernunft‘ übt, denn sein Gelöbnis, das noch so unbedeutende Leben vor allem zu genießen, folgt den Gesetzmäßigkeiten einer idyllischen Optik der Beschränkung. Wie zuvor gezeigt, ist es diese Optik, die eine Generalisierung bewirkt, durch die die Idylle letztlich jeder noch so profanen Situation bzw. jedem noch so schlichten Gegenstand eignet. Jean Paul zufolge erfordere die Idylle deshalb nur „mäßigen Aufwand von Geist und Herz der Spieler“ (260). Der auffällige Begriff ‚Spieler‘, den Jean Paul in der ‚vorschulischen‘ Theoretisierung der Idylle gebraucht, ließe sich vor dem Hintergrund seines Versuchs erklären, die Idylle als Freudenspiel und damit als Komplement zum Trauerspiel zu etablieren. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass er die als „Nebenblüte der drei Zweige des Romans“ bezeichnete Idylle explizit als epische Darstellung definiert (257). Als ihre ‚Spieler‘ können deshalb sowohl die Figuren der Idylle als auch ihre RezipientInnen erachtet werden – und zwar als ‚Mitspieler‘, denn sie werden vom Spiel der Idylle-Figuren derart „froh bewegt“, dass es sie „zwar nicht hinreißt, doch schaukelt“ (260, Hervorhebung N.J.). Mit dem ‚mäßigen Aufwand von Geist und Herz‘ bezieht sich Jean Paul offenbar direkt auf Schillers Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ sowie die darin mit genau dieser Formel zum Ausdruck gebrachte Kritik an der klassischen und das heißt nicht-sentimentalischen Hirtenidylle. Dieser unverkennbare Bezug auf Schiller scheint an dieser Stelle des Idyllen-Paragraphen der ‚Vorschule‘ insofern nicht 411 412

Vgl. Küpper: Jean Pauls „Wuz“, S. 40ff. Uz, Johann Peter: Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn, Leipzig: Johann Gottfried Dyck 1760, S. 50.

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Theorien der Idylle

zufällig, als Jean Paul im Anschluss daran die affektive Wirkung der Idylle mit dem „Bilde von der körperlichen Schaukel“ veranschaulicht (260). Zugleich macht das Schaukel-Bild jenes „Mitfreuen“ evident, das Jean Paul zuvor als den Zweck des Freudenspiels in Abgrenzung zum durch das Trauerspiel erregten Mitleid(en) bestimmt hat (258): Für ihre RezipientInnen sei die Idylle wie die Schaukel, denn „auf dieser wiegt ihr euch in kleinen Bogen auf und nieder“ und zwar durch die geteilte „Freude mit einem Freudigen im Hirtengedichte“ (260). Eine derartige Schaukel-Freude, wie sie Idylle vermittelt, sei „ohne Eigennutz, ohne Wunsch und ohne Stoß, denn“, so führt Jean Paul in direkter Ansprache an die rezipierenden ‚MitspielerInnen‘ der Idylle aus, „den unschuldigen sinnlichen kleinen Freudenkreis des Schäfers umspannt ihr konzentrisch mit eurem höheren Freudenkreise“ (260). Offenbar resultiert also auch das idyllische Mitfreuen aus einer Optik der Beschränkung: Der kleine Freudenkreis der Schäfer, die hier paradigmatisch für alle potenziellen ‚Spieler‘ in der Idylle stehen, ist von dem höheren der LeserInnen außerhalb der Idylle umgeben. Somit beschränkt dieser buchstäblich den ersten und zugleich evoziert ein solch konzentrischer Einschluss der inneridyllischen Freude durch die außeridyllische das Bild einer Lochblende: Indem diese das idyllenspezifische Mitfreuen überhaupt erst als ‚Zusammenspiel‘ von Figuren und LeserInnen der Idylle ermöglicht, avancieren beide zum Teil des optischen Dispositivs der Idylle. Dieses Dispositiv wird mit dem Bild der Schaukel illustriert, das seinerseits auf die zuvor von Jean Paul in seiner Kritik am beschränkten Verständnis vom Goldenen Zeitalter mit dem Phaeton-Wagen kontrastierte Wiegen-Metapher zurückverweist – zumal ‚Schaukel‘ und ‚Wiege‘ dasselbe semantische Merkmal einer sanften Auf- und Abbewegung teilen: Die Schaukel ist eine technische Vorrichtung, mit der es sich „von einer Seite auf die andere wippen“ bzw. „wiegen“ lässt.413 Entsprechend bezeichnet ‚Wiege‘ nicht nur ein „Kinderbett auf gerundeten Brettern, sodass es seitwärts hin- u[nd] hergeschaukelt werden kann“, sondern in der ursprünglich althochdeutschen Bedeutung ganz allgemein „das sich Bewegende, Schwingende“.414 Mit der Metapher der Wiege, die als Kinderbett auf einen chronologischen Anfang und Ursprung verweist, kritisiert Jean Paul das falsche Verständnis der idyllischen Beschränkung in den ‚klassischen‘ Idyllen, weil diese das „goldne Alter der Menschheit“, das seinerseits eine Ursprungsmetapher ist, stets in Form „einer nie rückenden Wiege“ vorstellen (258). Jean Paul überblendet hier die ‚große‘ mythische Ursprungs-Metapher vom Goldenen Zeitalter mit einer kleinen, nachgerade profanen und holt so den Mythos der Antike gewissermaßen ins bürgerliche Interieur des 19. Jahrhunderts. Damit performiert der ‚Vorschullehrer‘ seine eigene theoretische Fassung der Idylle, weil das Kriterium der Beschränkung augenscheinlich auch auf der sprachlichen Ebene eine ‚idyllische Kleinwelt‘ konstituiert.

413 414

Stichwörter ‚schaukeln‘, ‚Schaukel‘, in: Wahrig, S. 1281. Stichwort ‚Wiege‘, in: Wahrig, S. 1659.

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel)

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Wie zuvor bereits dargelegt, ist der metaphorische Sprachgebrauch für Jean Paul ein zentrales Moment idyllischer poiesis, was seine Verwendung zahlreicher Wetter-Metaphern in der ‚Vorschule‘ veranschaulicht (vgl. 260). In seinen dem Fixlein-Roman angehängten Reflexionen über die Einbildungskraft beschreibt er die Metapher explizit als ein besonders wirkungsvolles Verfahren und das ganz im Sinn einer spezifisch poetischen Funktion von Sprache, wie sie Roman Jakobson fasst: „Wir denken“, führt Jean Paul aus, das ganze Jahr weniger in Bildern als mit Zeichen, d.h. zwar mit Bildern, aber nur mit dunklern, kleinern, mit Klängen und Lettern: der Dichter aber rücket nicht nur in unserem Kopfe alle Bilder und Farben zu einem einzigen Altarblatte zusammen, sondern er frischet uns auch jedes einzelne Bild und Farbenkorn durch folgenden Kunstgriff aus. Indem er durch die Metapher einen Körper zur Hülle von etwas Geistigem macht (z.B. Blüte einer Wissenschaft): so zwingt er uns, dieses Körperliche, also hier die „Blüte“ heller zu sehen, als in einer Botanik geschähe. Und wieder umgekehrt gibt er, wie vermittelst der Metapher vom Körperlichen durch das Geistige, ebenso vermittelst der Personifikation dem Geistigen durch das Körperliche höhere Farben.415

In der Metapher(!) vom syntagmatischen Zusammenrücken „aller Bilder und Farben zu einem einzigen Altarblatte“ scheint Jean Paul das vorwegzunehmen, was Jakobson später in Bezug auf die poetische Funktion der Sprache die Projektion des Prinzips der Äquivalenz „von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ nennt.416 Durch Jean Pauls konkrete Beschreibung des metaphorischen Sprachgebrauchs avanciert er deshalb nachgerade zum Strukturalisten: Anhand seines Beispiels der ‚Blüte der Wissenschaften‘ erläutert er nämlich, dass diese „Metapher einen Körper zur Hülle von etwas Geistigem“ mache, sodass „dieses Körperliche“, was den Signifikanten ‚Blüte‘ meint, eine ‚geistige‘, also semantische Expansion erfährt, die über das bloße Denotat, wie es etwa „in einer Botanik“ gegeben wäre, hinausgeht. Hier erfasst Jean Paul letztlich jene semiotischen Zusammenhänge, die Roland Barthes in Mythen des Alltags strukturell beschreibt.417 Die Wiegen-Metapher vom Anfang des Idylle-Paragraphen in der ‚Vorschule‘ ist in der dort später gebrauchten Metapher der Schaukel semantisch aufgehoben und das zeigt auch Jean Paul, wenn er darstellt, wie man sich in dieser Schaukel „wiegt“ und das ganz „ohne Mühe fliegend und fallend“ (260, Hervorhebung N.J.). Dieses ‚wiegende Geschaukel‘ scheint letztlich die „Auflösung“ jener von Schiller an „die Theorie der Idylle“ gestellte Frage zu sein, wie bei aller vorherrschenden „Ruhe der Vollendung“ 415 416

417

Jean Paul: ‚Einbildungskraft‘, Werke: VII, S. 199. Jakobson, Roman: „Linguistik und Poetik“ [1960], übersetzt von Tarcisius Schelbert, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hrsg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 83–121, hier: S. 94. Barthes, Roland: Mythen des Alltags [1957], übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, hier: S. 88ff.

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Theorien der Idylle

dennoch idyllisch „Bewegung hervorzubringen“ sei.418 Jean Paul nimmt Schillers Frage offensichtlich ganz und gar wörtlich, wenn er die ‚Bewegung‘ im „Bilde von der körperlichen Schaukel“ nicht nur als emotionale, sondern motorische Regung interpretiert und damit Schillers Konzept einer idyllischen Empfindungsweise nachgerade konterkariert (260, Hervorhebung N.J.). Die Schaukel avanciert also gerade deshalb zur zentralen Metapher der Jean Paul’schen Idyllentheorie, weil sie sich nämlich auch insofern als bildliche Veranschaulichung des Mitfreuens erweist, als dieses bereits zu Beginn des Idylle-Paragraphen in der ‚Vorschule‘ als genuin kindlicher Affekt herausgestellt wird, der allen Idyllen-LeserInnen aus ihrer eigenen Kindheit bekannt sein müsse (vgl. 257f). Entsprechend greift Jean Paul dies in den späteren Ausführungen zur Schaukel-Metapher nochmals auf und erklärt die Erinnerung der RezipientInnen zu einem wesentlichen Moment für die Idylle und ihre Beschränkung: „Ja ihr leihet dem idyllisch dargestellten Vollglück, das immer ein Widerschein eures früheren kindlichen oder sonst sinnlich engen ist, jetzo zugleich die Zauber euerer Erinnerung und euerer höheren poetischen Ansicht“ (260). Mit dieser „Verwurzelung der Idylle in der Kindheit“ betont Jean Paul das Moment des Subjektiven, genauer: das Moment der subjektiven Wahrnehmung als Konstituens einer als idyllisch wahrgenommen Situation oder eines Gegenstandes. 419 In diesem Kontext erscheint das, was Martin Seel in seiner Ästhetik der Natur über die Natur- und Kunstwahrnehmung sagt, auch auf die subjektive Wahrnehmung der Idylle bei Jean Paul zuzutreffen, denn dergestalt wie „alles und jedes […] so wahrgenommen werden [kann], als ob es Kunst wäre“,420 ließe sich aufgrund der idyllischen Optik der Beschränkung alles, worin sich ein ‚Widerschein der kindlichen Erinnerung‘ finden lässt, als Idylle wahrnehmen. Das Prädikat ‚idyllisch‘ übertrifft in seiner potenziellen Gültigkeit deshalb das Prädikat ‚schön‘, dessen subjektive Ubiquität als ästhetisches Werturteil Theodor W. Adorno in Bezug auf die Wahrnehmung der Natur herausstellt, wenn er sagt: „So wahr es ist, daß ein jegliches in der Natur als schön kann aufgefaßt werden, so wahr das Urteil, die Landschaft der Toscana sei schöner als die Umgebung von Gelsenkirchen.“421 Während nach Maßgabe Adornos und somit des ‚Schönen‘ zwischen einer toskanischen Landschaft und dem Gelsenkirchener Umland ein deutlicher Unterschied bestehen muss, können beide gemäß der Jean Paul’schen Optik durchaus als ‚idyllisch‘ gelten. Den literarischen Beweis dafür bietet Franz Hohler, der die Stadt, die, wie er darlegt, „laut Baedeker ‚im Herzen des Ruhrgebiets‘ liegt“ und deshalb „von anderen Städten 418 419 420 421

Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 473, Hervorhebung i.O. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 130f. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 161. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [1970], hrsg. aus dem Nachlass von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 101990, S. 112.

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel)

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wie Oberhausen oder Wanne-Eickel nicht recht zu unterscheiden“ ist, in seine reiseführerartige Idyllen-Sammlung aufnimmt. Hohlers Idyllen sind letztlich ein Katalog, der in alphabetischer Ordnung Beschreibungen von Städten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz versammelt.422 Von Hohlers idyllischem Gelsenkirchen aus ist der Weg in den Kitsch nicht weit: Dies zeigt Jacob Reisner, der mit seiner Untersuchung des Kitsch-Begriffs veranschaulicht, dass das von Adorno ästhetisch so gering geschätzte Gelsenkirchener Umland – zumindest theoretisch – ein kitschiges Potenzial besitzt: Reisner bezeichnet nämlich kitschige Wohnungseinrichtungen als „Wanne-Eickel-Barock“ und bezeichnenderweise gehört Wanne-Eickel als Stadtteil von Herne zu den unmittelbaren ‚urbanen Nachbarn‘ Gelsenkirchens.423 Reisners Neologismus verweist insofern auf die von Hohler mit Bezug auf den Baedeker-Reiseführer betonte Austauschbarkeit der einzelnen Städte im topographischen Syntagma des Ruhrgebiets, als ‚Wanne-Eickel-Barock‘ offenbar in Anlehnung an die geläufigere Formel ‚Gelsenkirchener Barock‘ gebildet ist. Der Duden lemmatisiert sie als scherzhafte Bezeichnung für „neu gefertigte Möbel im traditionellen Stil mit überladenen Verzierungen“.424 Das dergestalt idyllisch verkitschte Wanne-Eickel macht die Wirkung von Jean Pauls Optik der Beschränkung evident: 1962 adaptierten Friedel Hensch und die Cypries den französischen Chanson „Un clair de la lune à Maubeuge“, der ‚eingedeutscht‘ unter dem Titel „Der Mond von Wanne-Eickel“ zur inoffiziellen ‚Stadthymne‘ avanciert.425 In diesem Schlager wird das durch zwei Beschränkungen herausgestellte idyllische Potenzial der Ruhrgebietsstadt besungen. So lautet der Refrain: „Nichts ist so schön / Wie der Mond von Wanne-Eickel. / Die ganze Luft / Ist erfüllt vom ew’gen Mai. / Und jede Nacht / Am Kanal von Wanne-Eickel / Ist voller Duft / Wie die Nächte von Hawaii.“ Ganz im Sinn der Jean Paul’schen Optik wirft der Kehrreim des Schlagers einen „mikrologisch[en] Blick“ auf die Ruhrgebietsstadt:426 Einerseits wird Wanne-Eickel auf den Mond und – semantisch damit korrespondierend – andererseits auf den Kanal bei Nacht beschränkt. Während der Kanal tatsächlich als ein Spezifikum der urbanen Topographie anzusehen ist, hat der Mond dagegen keinerlei lokalen Bezug, weil er nächtens sowohl über dem Gelsenkirchener Umland als auch der Toskana scheint.427 422 423 424

425

426 427

Hohler, Franz: Idyllen [1970], Frankfurt a.M.: Fischer 1983, S. 25. Reisner, Jacob: Zum Begriff Kitsch, Göttingen, Univ., Diss., 1955, S. 178. Stichwort ‚Gelsenkirchen‘, in: Duden, Bd. I: Die deutsche Rechtschreibung, hrsg. von der Dudenredaktion, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag/Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus 242006, S. 442. Vgl. Berke, Wolfgang: „Die Stadt, der Mond und der Kitsch“, in: ders.: Wanne-Eickel. Mythen, Kult, Rekorde: Eine Zeitreise durchs Herz des Ruhrgebiets [2002], Essen: Klartext 22003, S. 60ff. Schmitz-Emans: „Abenteuer des Sehens bei Jean Paul“, S. 72. Beides sind jedoch insofern eindeutig lokale Bezugsgröße, als Wanne-Eickel an dem zwischen 1906 und 1914 gebauten Rhein-Herne-Kanal liegt, der den Duisburger Hafen mit dem

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Theorien der Idylle

Diese beiden Beschränkungen sind in entgegengesetzte Richtungen perspektiviert: Die eine weist in den Himmel, die andere dagegen zur Erde. Deren Trabant und die vom Rhein aus nach Osten verlaufende Wasserstraße liegen damit einerseits im Blickfeld einer teleskopischen Fern- und andererseits in dem einer mikroskopischen Nahsicht, was wiederum den jeweiligen Perspektiven entspricht, die Jean Paul im ‚Billett‘ dem ersten bzw. dem zweiten Glücksweg zuordnet – und wie gezeigt, liegt in der Verbindung des ersten mit dem zweiten Glücksweg der dritte und seinerseits idyllische. Aufgrund dieser Implikationen der im Schlagertext gemachten Beschränkungen erscheint Wanne-Eickel ganz und gar idyllisch:428 Die Kanal-Nächte in der Ruhrgebietsstadt gleichen nicht nur olfaktorisch denen auf Hawaii, sondern gemäß dem auf der syntagmatischen Achse der Kombination wirkenden Äquivalenzprinzips auch aufgrund gleichklingender Auslaute: Der Signifikant der Pazifikinseln reimt sich nämlich praktischerweise auf ‚Mai‘ – und welche potenziellen Idyllen der sprichwörtliche Wonnemonat verheißt, zeigt Wilhelm Lehmanns „Böse Idylle“ (vgl. Kapitel 2.2.3). Jean Pauls Beschränkungskriterium weist der Idylle gerade deshalb den Weg in den Kitsch, weil beide – sowohl die Idylle als auch der ihr ‚beschränkt verwandte‘ Kitsch – letztlich als Darstellung des Vollglücks aufgefasst werden können. Während Jean Paul das Vollglück der Idylle also ein beschränktes nennt, scheint Ludwig Giesz in seiner Phänomenologie des Kitsches diesen über genau jenes Kriterium zu bestimmen. Dabei erscheint die von ihm in Bezug auf den Kitsch herausgestellte Dominanz des „Privaten, Intimen, Isolierten“ nichts anderes zu sein, als ein Effekt der idyllischen Optik der Beschränkung, die den Kitsch als „Glück im Winkel“ erscheinen lässt: Demnach dominiert [im Kitsch, N.J.] das – schon im puren Genuß konstitutive – Moment des Privaten, Intimen, Isolierten. Sogar Kosmisch-Weitem (See, Wüste, Hochgebirge; Chor, großem Orchester, Meeres- und Frühlingsrauschen, hallenden Naturlauten) wird diese private, wir möchten sagen mikrokosmische Winkelstellung (Glück im Winkel) abgewonnen. Das kann durch ein kitschiges Detail geleistet werden [...].429

Was Giesz ‚Glück im Winkel‘ nennt, ist das Ziel jener Wegschreibung, die Jean Paul im ‚Billett‘ für seinen „dritte[n] Himmelsweg“ gibt: Dieser führt vom „Weg des genialischen

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Dortmund-Ems-Kanal verbindet, und unter ‚Mond von Wanne-Eickel‘ ein seit den 1960er Jahren von der ortsansässigen Privatdestillerie Eicker & Callen hergestellter Likör firmiert, der nach dem gleichnamigen Schlager benannt ist. Gänzlich unidyllisch erscheint Wanne-Eickel für den Jugendlichen Hans Kolekta, von dessen wenig perspektivreicher Suche nach einer Ausbildungsstelle die ZDF-Serie HANS IM GLÜCK AUS HERNE 2 in insgesamt sieben Episoden erzählt (Regie: Roland Gall, Erstausstrahlung: 2. Januar 1983, ZDF). (‚Herne 2‘ ist die nach der Gemeindereform im Ruhrgebiet aufgekommene Bezeichnung für das seit 1975 an Herne angeschlossene Wanne-Eickel.) Giesz: Phänomenologie des Kitsches, S. 57.

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel)

317

Glücks in den des häuslichen“.430 Jean Paul weist der Idylle also den Weg in den Kitsch, zumal mit seiner Optik der Beschränkung ein Verfahren zu Gebot steht, das die von Giesz genannten ‚kitschigen Details‘ nicht nur sicht-, sondern po(i)etisch nutzbar macht. Auch dem Kitsch eignet also eine idyllische Optik und darauf weist Harry Pross unwissentlich hin, wenn er feststellt, dass es im Kitsch zu einer „Angleichung der Größenverhältnisse“ komme, was ihm zufolge als „Verkleinerung des Unzugänglichen“ zu verstehen sei.431 Genau diese Verkleinerung beschreibt Giesz als „mikrokosmische Winkelstellung“ und nichts anderes ist das nach Jean Paul beschränkte Vollglück der Idylle. Wie der Kitsch leistet dieses daher ebenfalls jene von Pross behauptete „Verkleinerung des Unzugänglichen“, weil die Idylle als Vollglück (in) der Beschränkung das von Schiller in die Zukunft projizierte Ideal von Elysium in die Gegenwart und damit in den Bereich des Möglichen transponiert. Die Gemeinsamkeit zwischen Idylle und Kitsch ‚beschränkt‘ sich aber nicht allein auf die Beschränkung: Der Kitsch teilt mit der Idylle auch deren regressives Moment, das nach Jean Paul in den durch die Idylle wachgerufenen Kindheitserinnerungen ihrer LeserInnen liege. Analog zu seiner Bestimmung der Idylle als „Widerschein“ eines „kindlichen oder sonst sinnlichen engen“ Vollglücks (260) beschreibt auch Walter Benjamin in seinem Essay „Traumkitsch“, in dem er sich de facto mit surrealistischer Kunst auseinandersetzt, den Kitsch als „Repetition der kindlichen Erfahrung“.432 So wie die Idylle mit dem Kitsch verschränkt ist, so sind es auch ihre theoretischen Fassungen durch Schiller und Jean Paul. An der hier zuletzt aufgezeigten ‚universellen Verkitschung‘ der Idylle wird vor allem das deutlich, was sich bereits bei Schiller abzeichnet und dann bei Jean Paul umso evidenter wird: Der Wandel der Gattung ‚Idylle‘ zu einem – wie es Günter Häntzschel nennt – „Komplex aus Motiv- und Strukturelementen“,433 die als materialer Topos in andere literarische Formen und mediale Formationen diffundieren. Dieses ‚Absinken‘ der Idylle in die Niederungen der kitschigen Unterhaltung beschreibt Seel als ästhetischen Kategorienwechsel: „Was einmal so schien, als wäre es eine Geßnersche oder Vossische Idylle, ist zum banalen idyllischen Fleck430 431

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433

Jean Paul: ‚Billett‘, Werke: VII, S. 12f. Pross, Harry: „Kitsch oder nicht Kitsch?“, in: ders.: Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage, München: List 1985, S. 19–30, hier: S. 28, Hervorhebungen i.O. Benjamin, Walter: „Traumkitsch“ [1927 unter dem Titel „Glosse zum Sürrealismus“, in: Die Neue Rundschau], in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schepphäuser, Bd. II/2: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 620–622, hier: S. 621. Häntzschel, Günter: Stichwort ‚Idylle‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. II: H–O, gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Harald Fricke, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 122– 125, hier: S. 123.

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Theorien der Idylle

chen geworden: […] Dieser […] Wechsel ist der Übergang eines ästhetischen Phänomens in eine andere Kategorie.“434 Begreift man die von Jean Paul im ‚Wutz‘ beschriebene Pervertierung der genialischen Schöpfungsideologie als eine „Täuschung“,435 dann stellt das ‚inventive Nachschreiben‘, wie es das Schulmeisterlein betreibt, einerseits einen solchen Kategorienwechsel dar, der andererseits auf den Kitsch verweist: Im Rekurs auf dessen Verteufelung durch Hermann Broch, der in ihm gar „das Böse im Wertsystem der Kunst“ erkennen will,436 nennt Umberto Eco den Kitsch eine „ästhetische Täuschung“, denn dieser gebe sich „für eine künstlerische Mitteilung aus“.437 Damit geht Eco insofern über Brochs Bestimmung des Kitsches als „Imitationssystem“ hinaus,438 als er die spezifischen Verfahren des Kitsches in Bezug auf die von ihnen gezeitigten Effekte untersucht, wodurch dieses Phänomen eines vermeintlich ‚schlechten Geschmacks‘ als ein intertextuelles modellier- und analysierbar wird. Den Bezug des Kitsches auf die sog. ‚echte‘ Kunst (bzw. Literatur) beschreibt Eco entsprechend als einen „Registerwechsel“,439 denn der Kitsch erkläre sich insofern selbst „zum Kunstgebilde“, als er „ostentativ Ausdrucksweisen und Stilformen benutzt, die gemeinhin Werke auszeichnen, die als solche der Kunst anerkannt sind“.440 Um es noch einmal deutlich zu sagen: Jean Pauls ‚Wutz‘ ist so wenig kitschig wie das, was das Schulmeisterlein produziert. Jedoch verweist Wutzens inventives Nachschreiben auf der Ebene des Verfahrens und seiner Wirkung gerade deshalb auf den Kitsch, weil dieser sich mit Adorno als Kunst begreifen lässt, „die nicht ernst genommen werden kann oder will und die doch durch ihr Erscheinen ästhetischen Ernst postuliert“.441 Wie Adorno weiter räsoniert, führe eine solche Definition des Kitsches zur grundlegenden Infragestellung der Kategorie des Kunstwerks: „Man müßte wohl, damit jene Definition sinnvoll werde, den Ausdruck des Kunstwerks an sich als index veri et falsi betrachen; über dessen Authentizität jedoch zu befinden, führt zu derart endlosen Komplikationen […], daß nur kasuistisch zu entscheiden wäre und auch das nicht ohne 434 435 436

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Seel: Eine Ästhetik der Natur, S. 176, Hervorhebungen i.O. Campe: „Schreibstunden“, S. 154. Broch, Hermann: „Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches“ [1955], in: Dorfles, Gillo: Der Kitsch [1968], übersetzt von Birgid Mayr, Gütersloh: Prisma 1977, S. 49–66, hier: S. 62. Die ‚Bemerkungen‘ basieren auf einem Vortrag, den Broch im Winter 1950/51 am Germanistischen Seminar der Yale University gehalten hat und der 1955 im ersten Band der von Hannah Arendt herausgegebenen Essays Brochs erschienen ist. Eco, Umberto: „Die Struktur des schlechten Geschmacks“, in: ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur [1964/1978], übersetzt von Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 59–115, hier: S. 62. Broch: „Bemerkungen“, S. 62. Eco: „Die Struktur des schlechten Geschmacks“, S. 62. Eco: „Die Struktur des schlechten Geschmacks“, S. 64. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 466f.

Beschränkungen (Jean Pauls Schaukel)

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allen Zweifel.“442 Es sind genau diese Zweifel, die Wutzens idyllische poiesis aufwirft – die Darstellung, die Jean Paul im ‚Leben des vergnügten Schulmeisterleins‘ von diesem idyllisch beschränkten (Nach-)Schreiben gibt, veranschaulicht letztlich das (idyllen-)theoretische Potenzial solcher von Adorno offenbar sehr gefürchteten Zweifel. (Diese sollen im Ausblick der vorliegenden Arbeit keinesfalls aufgehoben, sondern hinsichtlich ihrer Produktivität für die idyllischen Implikationen der Kitschforschung befragt werden.)

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Adorno: Ästhetische Theorie, S. 467.

4 Paradigmen der Idylle

Wenn Michail Bachtin die „Verquickung des menschlichen Lebens mit dem Leben der Natur“ neben der „Einheit des Ortes“ sowie der Beschränkung „auf einige grundlegende Realitäten des Lebens“ als drittes besonderes Merkmal der Idylle herausstellt,1 dann könnte man glauben, er habe dabei an Gerhard Rühms „idyll“ gedacht – ein Gedicht aus dem Jahr 1987, das in geschlechterdings veröffentlicht ist: ein schrebergärtchen in der hölle rings qualm gestank und mord verhangne tage, nachts der feuerschein rund um die uhr getöse, discolärm doch dringt bei dichtgemachten läden die folter nur gedämpft herein man lebt daheim bequem.. fernsehkrimis plätschern angenehm auch ist das wirtschaftswachstum nicht zu leugnen.* * ein beispiel: Über 33,5 Millionen Kraftfahrzeuge waren Anfang des Jahres in der Bundesrepublik zugelassen. 3,7 Prozent mehr als zu Beginn 1986. (Kölner Stadtanzeiger vom 31.1.1987)2

Gemäß der durch den Titel erzeugten Erwartung präsentiert sich Rühms Text als Idyll(e), weil es sich um ein buchstäblich kleines Gedicht handelt, das aus zwei Strophen besteht. Mit dieser formalen Gliederung korrespondiert die Gegenüberstellung zweier Örtlichkeiten: Einerseits die – als letztes Wort des ersten Verses besonders exponierte

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Bachtin, Michail M.: Chronotopos [1975], übersetzt von Michael Dewey, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 32014, S. 161. Rühm, Gerhard: „idyll“, in: ders.: geschlechterdings. chansons romanzen gedichte, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 282. Nachfolgend werden Zitate aus dem Gedicht ohne weitere Fußnote durch Angabe des Verses in Klammern direkt im Text belegt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Jablonski, Idylle, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04937-7_4

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– Hölle, die als prototypischer locus horribilis gelten darf, weil sie im Sinn dieses Topos „Unannehmlichkeiten“, „Gefahren“ und „Schrecken“ konnotiert.3 Diesem Ort steht andererseits das Zuhause des lyrischen Ich gegenüber, das durch das Lokaladverb ‚daheim‘ nachgerade topothetisch hingestellt wird.4 Auf diesen heimeligen Ort, wo man, wie es im siebten Vers heißt, bequem und das bedeutet „behaglich“, „angenehm“, „mühelos“ lebt,5 verweist bereits der im ersten Vers genannte Schrebergarten, worunter ein „kleiner Garten innerhalb einer Gartenkolonie“ zu verstehen ist.6 Diese besondere Lage zeigt an, dass ein Schrebergarten letztlich dem entspricht, was Vilém Flusser in seinem epizyklischen, post-historischen Kulturmodell ein ‚Halbfabrikat‘ nennt. Dabei handelt es sich ganz allgemein um Objekte, die, „aus ihrem natürlichen Zustand gerissen, hergestellt, dorthin gestellt [werden], wo der Mensch steht“, um als „Folien für künftig in sie einzuprägende Informationen“ zu fungieren.7 Aus diesem Grund bilden Halbfabrikate das Vorstadium von Kulturobjekten, denen Flusser eine Position zwischen Natur und Kultur zuschreibt, weil sie nicht mehr Natur, aber auch noch nicht Kultur sind. (Damit stehen sie zugleich positional äquivalent zum Abfall, der seinerseits „nicht mehr Kultur und noch nicht Natur“ ist und in Flussers Analyse des ‚unvollkommenen Informationskonsums‘ deshalb eine Vorstufe des Kitsches bildet.8) Als eine besondere Form des Gartens stellt auch der im 19. Jahrhundert aufkommende Schrebergarten ein „abgegrenztes Gelände zum Kleinanbau von Nutz- od[er] Zierpflanzen“ dar.9 Der Zusatz, dass ein Garten immer als Fläche zum Anbau von etwas konzipiert ist, erscheint insofern bedeutsam, als wir, wie Renate Kühn herausstellt, „die Tendenz haben, uns sogleich einen bereits bepflanzten Garten vorzustellen, wie stilisiert er auch sein mag“.10 Aus diesem Grund lässt sich der (Schreber-) Garten, der in der urbanen Landschaft ein Stück private Natur bietet, mit Flusser als Halbfabrikat begreifen, denn „[d]as meiste von dem, was wir ‚Natur‘ nennen, erweist sich als ‚Halbfabrikat‘“.11 3

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Garber, Klaus: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, Köln/Wien: Böhlau 1974 (zugl. Bonn, Univ., Diss., 1969/70), S. 230. Vgl. Stichwort ‚daheim‘, in: Wahrig. Deutsches Wörterbuch [1966], hrsg. von Renate Wahrig-Burfeind, Gütersloh/München: Wissen Media Verlag 82006, S. 341. Stichwort ‚bequem‘, in: Wahrig, S. 251. Stichwort ‚Schrebergarten‘, in: Wahrig, S. 1314. Flusser, Vilém: „Gespräch, Gerede, Kitsch. Zum Problem des unvollkommenen Informationskonsums“, in: Pross, Harry (Hg.): Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage, München: List 1985, S. 47–62, S. 52. Vgl. Flusser: „Gespräch, Gerede, Kitsch“, S. 52. Stichwort ‚Garten‘, in: Wahrig, S. 573f, hier: S. 573. Kühn, Renate: Der poetische Imperativ. Interpretationen experimenteller Lyrik [1997], Bielefeld: Aisthesis 21998, S. 25. Flusser: „Gespräch, Gerede, Kitsch“, S. 53.

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So wie der Garten im Allgemeinen ist auch der Schrebergarten im Besonderen durch das semantische Merkmal ‚klein‘ gekennzeichnet, was die im ersten Vers gebrauchte Diminutivform ‚Schrebergärtchen‘ nachgerade pleonastisch überbetont. Sie verweist außerdem auf das titelgebende ‚Idyll‘ zurück, denn ‚klein‘ ist ein konjunktives Sem der beiden Signifikanten. Durch diesen semantischen (Rück-)Bezug erscheint der Schrebergarten in einer idyllischen Perspektive: Er stellt nämlich eine jener „neuzeitlichen Vorstellungen von Arkadien“ dar, die laut Oliver Zybok „als Gegenwelt“ der „individuellen und gesellschaftlichen Lebenswelt kommensurabel“ sind.12 Der Schrebergarten wäre also als eine dem antiken Arkadien der Idyllen Vergils vergleichbare Gegenwelt zum ‚unnatürlichen‘ Stadtraum zu begreifen, die ihrerseits aber keine „Fiktion“, sondern Teil der lebensweltlichen Wirklichkeit ist.13 Der idyllische Gegensatz von (schrebergärtlich-ruraler) Natur und (urbaner) Kultur wird in Rühms Gedicht auch dadurch aufgerufen, dass im ersten Vers von einem Schrebergarten die Rede ist. Der unbestimmte Artikel verweist darauf, dass diese großstädtischen ‚Natur-Enklaven‘ stets in größeren Einheiten als Kolonien zumeist „am Rand der Stadt“ gelegen sind.14 Dieser kontrastive topographische Bezug wird implizit insofern hergestellt, als der genannte Schrebergarten „in der hölle“ verortet ist. Als „Ort der Qual u[nd] des Leidens“ erscheint sie im christlichen Denken im Kontrast zum himmlischen Paradies, weil die Seelen der SünderInnen nach dem Tod dort die Ewigkeit zur Strafe für Verfehlungen im Leben verbringen müssen.15 In „idyll“ steht die Hölle offenkundig für die Außenwelt und obwohl der Schrebergarten dazu gehört, ist er zugleich von ihr abgegrenzt. Dies legen die folgenden drei Verse nahe, in denen die Umgebung „rings“ (V. 2) um den Schrebergarten beschrieben wird: Während „qualm gestank und mord“ (V. 2) auf die sprichwörtliche ‚Höllenpein‘ verweisen16 – wobei das fehlende Komma in der Aufzählung das triadische Syntagma der Substantive zu einem gewissermaßen ‚topischen‘ Attribut dieses locus horribilis „als Ort unerträglicher Hitze- oder Feuerqualen“ macht –,17 lassen sowohl das am Ende der ersten Strophe im vierten Vers genannte „getöse“ als auch der „discolärm“ diese Hölle allzu weltlich erscheinen (V. 4). Dafür spricht auch der Aspekt der irdischen Zeitlichkeit, der im vorangehenden dritten Vers durch einen iterativen Tag/Nacht-Wechsel eingebracht wird. Wenn in diesem Zusammenhang von verhangenen Tagen und nächtlichem Feuerschein die Rede ist, dann 12

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Zybok, Oliver: „Zur Aktualität des Idyllischen“, in: Kunstforum International (179) 2006, S. 39–79, hier: S. 73. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 73. Stichwort ‚Schrebergarten‘, in: Wahrig, S. 1314. Stichwort ‚Hölle‘, in: Becker, Udo: Lexikon der Symbole [1998], Freiburg/Basel/Wien: Herder 7 2006, S. 131. Vgl. Stichwort ‚Höllenpein‘, in: Wahrig, S. 738. Stichwort ‚Hölle‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 131.

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erweist sich das Leben in dieser weltlichen Hölle tatsächlich als das für diesen „Vergeltungsort“ typische „Schattendasein“:18 Das Adjektiv ‚verhangen‘ bedeutet „verschleiert, bedeckt“ und meint insofern die Abwesenheit von Sonnenschein, als damit ein (stark) bewölkter und deshalb als ‚verhangen‘ wahrgenommener Himmel bezeichnet wird.19 Analog dazu steht der Feuerschein bei Nacht, der nicht nur wärmt und aufgrund einer fehlenden ‚natürlichen‘ Lichtquelle zum Sehen notwendig ist, sondern seinerseits ‚künstlich‘ jene Schatten produziert, die gemeinhin metaphorisch für die BewohnerInnen der Hölle stehen.20 Wie eingangs erwähnt, kontrastieren die beiden Strophen des Gedichts zwei Orte. Darauf deutet das einen Gegensatz zum Ausdruck bringende Adverb ‚doch‘ hin, das als erstes Wort des fünften Verses die zweite Strophe einleitet. Nachdem in der ersten Strophe die Hölle als Umgebung des Schrebergartens beschrieben und somit das topographische Außen dargestellt wurde, wechselt der ‚Schauplatz‘ ins Innere. Dieser Wechsel wird durch eine nachgerade idyllische Abschottung von der Welt angezeigt, denn die „dichtgemachten läden“ (V. 5) erinnern an die behagliche Einrichtung des Jean Paul’schen Schulmeisterleins, das an einem kalten Dezemberabend die eigene Kindheit aus der Erinnerung zu palingenisieren versucht (vgl. Kapitel 3.3). Die abschottende Maßnahme, die im Gedicht beschrieben wird, betrifft hinsichtlich ihrer Wirkung nicht nur die Sichtbarkeit, worauf die zweifelsfrei gemeinten Fensterläden zunächst schließen lassen: Dichtgemacht wirken sie auch abmildernd auf das zuvor genannte „getöse“ sowie den „discolärm“ (V. 4), die beide akustische Phänomene darstellen und angesichts der negativen Konnotationen von ‚Getöse‘ als „anhaltend[em], klirrend[em] Krach“21 sowie ‚Lärm‘ als einem „sehr laut[en] Geräusch“22 hier etwas Unangenehmes und Unerwünschtes meinen. Aus diesem Grund verweist „die folter“, die zu Beginn des sechsten Verses genannt wird, auf die in der ersten Strophe dargestellte kakophone Klangwelt der Hölle zurück, die ins ‚dichtgemachte‘ Heim „nur gedämpft herein“ dringt (V. 6). Das präpositional gebrauchte Adverb ‚herein‘ bezieht sich aufgrund seiner syntaktischen Zirkumposition auf das Verb ‚dringen‘ im vorangehenden Vers zurück, wobei es gleichsam auf den Kontrast zwischen Außen und Innen verweist, der durch die beiden Strophen konstituiert wird: ‚Herein‘ zeigt nämlich eine Veränderung der Lokaldeixis an, die eine Bewegung „von (dort) draußen nach (hier) drinnen“ meint.23

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Stichwort ‚Hölle‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 131, Hervorhebung N.J. Stichwort ‚verhangen‘, in: Wahrig, S. 1572. Vgl. Stichwort ‚Schatten‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 253f. Stichwort ‚Getöse‘, in: Wahrig, S. 614. Stichwort ‚Lärm‘, in: Wahrig, S. 921. Stichwort ‚herein‘, in: Wahrig, S. 700.

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Das mit der zweiten Strophe konstituierte Innen wird im siebten Vers des Gedichts konkretisiert als „daheim“. Dieses Adverb bezeichnet das Zuhause,24 also jenen Ort des Privaten und der Zurückgezogenheit, der durch seine Abgeschlossenheit von der äußeren Welt in Kontrast zu dieser steht. Angesichts seiner spezifischen Lokalisierung erscheint dieser Ort, den das lyrische Ich ‚daheim‘ nennt, als Idylle. Dieser eignet, wie Oliver Zybok betont, nämlich immer eine „Sehnsucht nach Privatheit“.25 Aus diesem Grund versteht er die Idylle als „stete Suche nach einer vollkommenen Innerlichkeit“, die immer dort entsteht, wo „Subjekt und Objekt einander fremd werden und das Subjekt, um überleben zu können, in der fremd gewordenen Welt sich in Innerlichkeit zurückzieht“.26 In Rühms „idyll“ ist es weniger diese ‚Suche‘, die dargestellt wird, als vielmehr die Konstruktion einer solch idyllischen Innerlichkeit. Zu deren buchstäblichem Index avanciert im Gedicht das ‚daheim‘, weil der Text es als ein doppeltes Zentrum exponiert: Auf der paradigmatischen Ebene steht das Adverb im dritten Vers der zweiten Strophe und damit insofern in deren Mitte, als sie abweichend von der ersten Strophe aus fünf und nicht vier Versen besteht. Auch auf der syntagmatischen Ebene dieses Mittelverses der zweiten Strophe steht das ‚daheim‘ in der absoluten Mitte, die hier nicht durch die Anzahl der Wörter im Vers gebildet wird, sondern durch deren Silbenfolge: Das Metrum des Verses ist ein dreihebiger Jambus und so wie der Lautfolge ‚da-heim‘ eine unbetonte und betonte Silbe vorangehen (‚man lebt‘), folgt ihr eine ebensolche Kombination (‚be-quem‘). Das Gedicht nimmt das titelgebende Idyll also in seiner zweiten Strophe buchstäblich ins Visier und folgt damit insofern einer Optik der Beschränkung, als es die Idylle in Form des ‚daheim‘ kompositorisch scharf stellt und so die Tiefenschärfe der Umgebung verringert. Auf nichts Anderes zielt die zuvor beschriebene Abschottung des lyrischen Ich von der äußeren Hölle durch die „dichtgemachten läden“ (V. 5) seiner idyllischen Heimstatt. Die Einrichtung einer Idylle bildet also den Gegenstand des Gedichts und sofern man diese buchstäblich idyllische poiesis als Konstruktion von bzw. Suche nach Innerlichkeit begreift, dann zeigt der vierte Vers der zweiten Strophe, wie sich deren ‚Vollkommenheit‘, von der Zybok ausgeht, gestaltet: Indem nämlich die Idylle zum Medium eines anderen Mediums avanciert. Dieses andere Medium ist das Fernsehen: „fernsehkrimis plätschern angenehm“, heißt es im achten Vers und der metonymische Verweis auf das wohl idyllischste aller Medien zeigt an, dass das häuslich-zurückgezogene Leben für das lyrische Ich ein bequemes ist. Rühms „idyll“ verdichtet somit, was zuvor die Untersuchung der idyllischen Dimension der Serialität am Beispiel der TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF deutlich gezeigt hat: Fernsehen ist Idylle. Diese These bestätigt der achte Vers des Gedichts insofern, als das beschriebene Plätschern der Fernsehkrimis auf jenen 24 25 26

Stichworte ‚zuhause‘, ‚Zuhause‘, in: Wahrig, S. 1708. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 67. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 39.

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Wasserlauf verweist, den Ernst Robert Curtius als ein konstitutives Element des idyllischen locus amoenus bestimmt:27 Das Verb ‚plätschern‘ bezeichnet nämlich das Fließen eines Bachs „mit leisem, klatschendem Geräusch“,28 weshalb es hier zur Metapher jenes flow avanciert, den Raymond Williams als kennzeichnend für die Abfolge in der Programmstruktur des Fernsehens beschreibt.29 Im Kontrast zu den fiktiven Fernsehkrimis steht das im letzten Vers genannte „wirtschaftswachstum“ (V. 9), das seinerseits als so angenehm empfunden wird wie das Fernsehprogramm (und genauso wie dieses zur idyllischen Heimelichkeit beiträgt), denn durch das erwähnte Wachstum der Wirtschaft wird letztlich die im Text konstituierte Trennung zwischen Außen und Innen konfirmiert: Das Außen ist offenbar auf das Innen nicht angewiesen – die Wirtschaft wächst wie von allein und konsolidiert daher indirekt die unternommene Abschottung vom Außen. Obschon es seinerseits mit zur idyllischen Exklusion beiträgt, findet das marktwirtschaftlich-kapitalistisch Reale in Form der ‚frohen Kunde‘ vom Wirtschaftswachstums trotzdem seinen Weg in die innere Idylle – und das schlicht deshalb, weil es letztlich „nicht zu leugnen“ ist (V. 9). Wie „getöse“ und „discolärm“ (V. 4) dringt also auch das „wirtschaftswachstum“ (V. 9) lediglich „gedämpft“ (V. 6) nach Innen und das medial vermittelt: Dies zeigt der Asteriskus am Ende des letzten Verses an, der auf eine Fußnote verweist, die „ein beispiel“ für die erwähnte positive Entwicklung in der Wirtschaft gibt. Dazu werden in der Fußnote die im Kölner Stadtanzeiger vom 31. Januar 1987 mitgeteilten Zahlen der in der Bundesrepublik angemeldeten Kraftfahrzeuge zitiert. Diese paratextuelle ‚Zugabe‘ eröffnet eine komische Inkongruenz zwischen Gedicht und Zeitungsmeldung, die gleichsam zu einem Kurzschluss zwischen Außen und Innen, dem Realen der Ökonomie und dem Imaginären des idyllischen oikos führt. Durch die Darstellung der idyllischen Abschottung eines Ortes als Innenraum, der aber trotzdem mit dem Raum des Außen in spezifischer Verbindung bleibt, veranschaulicht Rühms Gedicht letztlich den Status der Idylle als ein „homöostatischer ‚Schutzraum‘“.30 Das titelgebende ‚Idyll‘ erscheint dabei als eine lyrische Konkretion des materialen Topos, indem es eine Variation „des idyllischen Raums als locus amoenus“ bildet, „der vor den in einen imaginierten Außenraum projizierten Bedrohungen geschützt

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Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948], Bern/München: Francke 71969, S. 202. Stichwort ‚plätschern‘, in: Wahrig, S. 1145f, hier: S. 1145. Vgl. Williams, Raymond: „Programm als Sequenz oder flow“, übersetzt von Malte Krückels, in: Adelmann, Ralf/Jesse, Jan-O./Keilbach, Judith/Stauff, Markus/Thiele, Matthias (Hgg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK 2001, S. 33–43. Niehaus, Michael: Macht/Phantasie. Eine Betrachtung zu J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe, Essen: Oldib 2014, S. 21.

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ist“.31 Insofern steht auch dieser Text in jenem Spannungsfeld von Idylle und Katastrophe, wie Olaf Gulbransson es im Prolog zu seinen ‚heiteren Bildergeschichten mit Versen‘ als „inner[en] Zusammenhang“ ‚besingt‘.32 Diese Perspektive, die bereits im zweiten Kapitel der Arbeit für die Untersuchung der drei konstitutiven Dimensionen der Idylle maßgebend gewesen ist, soll in diesem Kapitel wieder aufgenommen und erweitert werden, indem nun der Kitsch neben der Katastrophe als der zweite Pol der Idylle betrachtet wird: Zwar besteht kein Zweifel an Bachtins Beobachtung, dass „[d]as Thema der Zerstörung der Idylle (im weiten Sinne) [...] am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Themen der Literatur [wird]“,33 jedoch zeigt sich – wenn man Bachtins diachrone Perspektive weiter verfolgt und dabei nicht nur die sogenannte Hochliteratur betrachtet – gerade in der trivial genannten Unterhaltungsliteratur, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Etikett ‚Kitsch‘ firmiert,34 dass dieser den zweiten Pol der Idylle und damit die ‚Alternative‘ zu ihrer Gefährdung durch eine Katastrophe darstellt.

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Birkner, Nina/Mix, York-Gothart: „Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Einleitung“, in: dies. (Hgg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 1–13, hier: S. 4. Gulbransson, Olaf: „Prolog“ [V. 22], in: ders.: Idyllen und Katastrophen. Heitere Bildergeschichten mit Versen von Dr. Owlglaß, München: Piper 1951, S. 5f, hier: S. 6. Bachtin: Chronotopos, S. 169. ‚Kitsch‘ ist ein historisch relativ junges Wort: Das Substantiv ist etwa seit den 1880er Jahren belegt (vgl. Best, Otto F.: Der weinende Leser. Kitsch als Tröstung, Droge und teuflische Verführung, Frankfurt a.M.: Fischer 1985, S. 9), das Adjektiv ‚kitschig‘ seit etwa 1900 (vgl. Foltin, Hans Friedrich: „Die minderwertige Prosaliteratur. Einteilung und Bezeichnungen“, in: DVjs (39) 1965. S. 288–323). Allerdings bleibt die Etymologie bis heute unklar: Es wird angenommen, dass ‚Kitsch‘ in der Bedeutung ‚Schund‘ im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum auftaucht (vgl. Stichwort ‚Kitsch‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen [1989], hrsg. von Wolfgang Pfeifer, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 82005, S. 657). Gebraucht wurde es zu dieser Zeit zunächst im pädagogisch-moralischen „Kampf um eine saubere Jugendliteratur“ (Foltin: „Die minderwertige Prosaliteratur“, S. 301). Der Schundbegriff geht allerdings schnell in dem des Kitsches auf, weil dieser insofern zu einem regelrechten ‚umbrella term‘ avanciert, als auch andere Bezeichnungen für das, was Hans-Friedrich Foltin als ‚minderwertige Prosaliteratur‘ bezeichnet, unter dem Kitschbegriff subsumiert werden. Entsprechend weist Dieter Kliche auf die sich gerade um 1900 zeigende ‚diskursive Attraktivität‘ des Wortes ‚Kitsch‘ hin, denn es „bündelt in der Phase industriegesellschaftlicher Modernisierung auf verschiedenen Ebenen verschieden tief in der Geschichte liegende ästhetische Deprivationen so zu einer neuen Summe, daß durch das Wort ein Begriff anwendbar wird“ (Kliche, Dieter: Stichwort ‚Kitsch‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. III: Harmonie–Material [2001] Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 272–288, hier: S. 273). Gemeint ist damit die Abwertung verschiedenster künstlerischer Phänomene im Sinn eines engen Literatur- bzw. Kunstbegriffs, die gemäß der ästhetischen Ideologie dieses Konzepts nach den Kategorien authentischer Originalität und Innovation nicht als ‚echt‘ bzw.

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In seiner Untersuchung des idyllischen Chronotopos fokussiert Bachtin also auf dessen „klassische Hauptlinie“ und damit auf den katastrophischen Pol der Idylle,35 der zu jenem Phänomen führt, das Nina Birker und York-Gothart Mix als „Anti-Idyllik“ bezeichnen.36 Auch wenn Bachtin den Begriff der Katastrophe nicht gebraucht, lässt sich seine Perspektive zweifelsfrei diesem Pol zuordnen, weil er von der zum „Untergang verurteilten Mikrowelt“ spricht, der „die große, aber abstrakte Welt gegenübergestellt [wird], in der die Menschen isoliert leben, sich egoistisch zurückziehen und auf praktischen Nutzen bedacht sind“.37 Genau dieses Moment des idyllischen Rückzugs ins Innere angesichts einer katastrophisch-gefährdenden Bedrohung von außen stellt Rühms Gedicht heraus – jedoch nicht ohne auf den anderen Pol der Idylle zu verweisen: Das Zuhause des lyrischen Ich, wo die Fernsehkrimis angenehm auf dem TV-Bildschirm dahinplätschern, präsentiert sich schließlich als idyllischer „Sehnsuchtsort“.38 Inwiefern die Idylle als ein solcher und deshalb kitschig zu nennender Ort erscheinen kann, wurde vorangehend an der TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF untersucht. Die nachfolgenden Überlegungen zur Polarität der Idylle knüpfen daran insofern an, als zunächst der Strand als eine Konkretion des materialen Topos betrachtet wird, um so schließlich idyllische Strukturen zu veranschaulichen, die es ermöglichen, die Idylle unabhängig von dem engen Korsett ihrer gattungstheoretischen Bestimmung in literarischen, filmischen und televisiven Texten zu untersuchen. Indem dergestalt die idyllischen Strukturen des materialen Topos in den Fokus rücken, wird Bachtins Ansatz produktiv erweitert, weil dieser auf erzählende Literatur im Allgemeinen sowie den Roman im Besonderen beschränkt ist. Dass die Idylle „für die Entwicklung des Romans von enormer Bedeutung war“,39 ist Konsens in der For-

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‚ernst‘ gelten können und daher als unangemessen, minderwertig, trivial, bloß unterhaltsam – eben: kitschig abqualifiziert werden (vgl. hierzu Kapitel 1.1). Bachtin: Chronotopos, S. 169. Birkner/Mix: „Idyllik im Kontext von Antike und Moderne“, S. 2. In ihrem Artikel aus dem zusammen mit York-Gothart Mix herausgegebenen Sammelband unternimmt Nina Birkner den Versuch einer implizit an Schillers Idyllentheorie ausgerichteten Bestimmung der Anti-Idylle: Für sie stellt die literarische Präsentation einer ‚sozialutopischen Gegenwelt‘ die Folie dar, um das Fehlen einer solchen in Texten, die paratextuell explizit als ‚Idylle‘ bezeichnet sind, zum Kriterium sog. Anti-Idyllen zu machen. Ein derartiger Ansatz steht jedoch der Offenheit der Idylle entgegen, auf die Curtius explizit hinweist (vgl. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 195). Aus diesem Grund muss Birkners Ansatz als mimetisch beschränkt angesehen werden, weil er vornehmlich erzählende Literatur erfasst – Lyrik fiele ebenso aus dem Bereich dieser Bestimmung der Anti-Idylle wie überhaupt materialästhetische Artefakte (vgl. Birkner, Nina: „Herr und Knecht in der (Anti-)Idyllik von Johann Heinrich Voß und Fritz Reuter“, in: Birkner, Nina/Mix, York-Gothart (Hgg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 223–241). Bachtin: Chronotopos, S. 169f. Niehaus: Macht/Phantasie, S. 21. Bachtin: Chronotopos, S. 164.

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schung: Wie Bachtin beobachtet auch Renate Böschenstein-Schäfer, dass sich seit dem 19. Jahrhundert „in Roman und Drama integriert[e] partiell[e] Idyllen“ auffinden lassen.40 Im Gegensatz zu Böschenstein-Schäfer erfasst Günter Häntzschel diese spezifische Entwicklung der Idylle insofern präziser, als er nicht von einem „Denkbild“ der Idylle ausgeht,41 sondern das, was in der Forschung unter dem Begriff des Idyllischen verallgemeinernd gefasst wurde, konkret als einen „Komplex aus Motiv- und Strukturelementen“ zu beschreiben versucht.42 Inwieweit eine derartige Entwicklung der Idylle „nicht hinreichend erkannt und gewürdigt“ wurde, wie Bachtin behauptet,43 soll hier nicht weiter hinterfragt werden, zumal feststeht, dass diese Entwicklung einer Diffusion der Idylle in andere literarische Formen und mediale Formationen bislang kaum untersucht und schon gar nicht aus der Perspektive der materialen Topik betrachtet wurde. Hier wird deshalb der Versuch unternommen, die Beschränkung von Bachtins Untersuchung des Einflusses der Idylle „auf die Entwicklung des Romans in der Neuzeit“ insbesondere durch eine Betrachtung anderer medialer Konkretionen des materialen Topos zu erweitern.44 Den Ausgangspunkt dafür bildet Friedrich Schillers ‚modernes‘ Idyllen-Konzept, mit dem er erstens das in der Tradition von Theokrit und Vergil stehende neuzeitliche Modell einer ‚antikisierenden‘ Idylle im Sinn Salomon Gessners zusammen mit dem als endgültig verloren anerkannten Arkadien verabschiedet und die Gattung zweitens geschichtsphilosophisch perspektiviert, damit sie drittens den als zukünftig erreichbar vorgestellten „Zustand der Harmonie und des Friedens“ in Form eines an die Stelle Arkadiens tretenden Elysiums sinnlich bekräftigen kann.45 Wie gezeigt wurde, schließt Jean Pauls Theorie der Idylle implizit unmittelbar an Schillers Reflexionen an und das daraus ableitbare Konzept einer Optik der Beschränkung macht evident, inwiefern die Idylle letztlich überall gegenwärtig werden kann. Ausgehend von diesen grundlegenden theoretischen Fassungen der Idylle soll nachfolgend ein (kultur-)semiotisch ausgerichteter Ansatz entwickelt werden, der idyllische Strukturen in verschiedenen literarischen Formen und medialen Formationen mittels drei elementarer Paradigmen der Idylle erfasst. 40

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Böschenstein, Renate: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. III: Harmonie–Material [2001], Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 119–138, hier: S. 131. Vgl. Böschenstein-Schäfer: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 131. Häntzschel, Günter: Stichwort ‚Idylle‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. II: H–O, gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Harald Fricke, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 122– 125, hier: S. 123. Bachtin: Chronotopos, S. 164. Bachtin: Chronotopos, S. 164. Schiller, Friedrich: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ [1795], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XX: Philosophische Schriften. Erster Teil, hrsg. von Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1972, S. 413–503, hier: S. 467.

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Paradigmen der Idylle

Sie werden aus John Fiskes „Lesarten des Strandes“ abgeleitet und die Parameter für diese Paradigmen bilden einerseits die für die Idylle spezifischen Aspekte von Raum und Zeit sowie andererseits ihre beiden Pole, die Katastrophe und der Kitsch. Diese von der prototypischen Konkretion des materialen Topos der Idylle als locus amoenus ausgehende Betrachtung idyllischer Strukturen ist insofern eine ‚semiotopisch‘ zu nennende, als dieses Kunstwort die Verbindung zwischen Semiotik und der in der rhetorischen Tradition verstandenen materialen Topik begrifflich impliziert. Ein solch ‚semiotopischer‘ Ansatz steht dem nahe, was in der – insbesondere englischsprachigen – Kulturwissenschaft als ‚Cultural Geography‘ bezeichnet wird. Trotzdem ist ein semiotopischer Ansatz damit nicht zu verwechseln, denn Cultural Geography fokussiert, wie Christian Lenz herausstellt, insbesondere auf die bedeutungskonstitutiven Beziehungen zwischen places und spaces, während sie den für die Idylle konstitutiven Aspekt der Zeit weitgehend unberücksichtigt lässt.46 Die Differenz zwischen places und spaces besteht nach Ottmar Ette darin, dass erste auf eine Lokalität, zweite auf den Aspekt der Mobilität bezogen sind.47 Da aber der „raumzeitliche Stillstand“ eines der grundlegenden Merkmale der Idylle darstellt,48 wäre sie weder als place noch als space einzustufen, sondern als eine spezifische Kategorie dazwischen. Es ist dieser ‚Sonder-‘ bzw. ‚Zwischenstatus‘ der Idylle, dem die nachfolgenden theoretischen Überlegungen gelten. Um ihnen auch visuelle Anschaulichkeit zu geben, werden sie durch Schemata ergänzt, denn das Griechische „φεωρία [theoria, N.J.] bedeutet anschauende Betrachtung“, wie Joachim Ritter betont.49 Für die Idylle gilt daher dasselbe wie für die Landschaft: Beide sind „Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes“, sodass sie – mit Martin Seel gesprochen – letztlich nichts anderes darstellen als die „ästhetisch wahrgenommen[e] Natur“.50 Wenn die nachfolgende semiotopische Untersuchung idyllischer Örter und ihrer Strukturen in verschiedenen literarischen, filmischen und televisiven Texte also durch ihre „Verräumlichung im Schema“ veranschaulicht wird, darf bei aller visuellen Evidenz dieses ‚bildgebenden Verfahrens‘ allerdings nicht vergessen werden, worauf Roland Barthes hinweist: Ein Schema ist immer „nur eine einfache Metapher“, die komplexe Zusammenhänge sichtbar macht.51 

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Vgl. Lenz, Christian: Geographies of Love. The Cultural Spaces of Romance in Chick- and Ladlit, Bielefeld: transcript 2016 (zugl. Dortmund, Univ., Diss. 2014), S. 61ff. Vgl. Ette, Ottmar: „Theorien der Landschaft/Landschaften der Thoerien“, in: ders.: Roland Barthes. Landschaften der Theorie, Paderborn: Konstanz University Press 2013, S. 49–60, hier: S. 52. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 41. Ritter, Joachim: „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“ [1963], in: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 141–164, S. 144. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 221. Barthes, Roland: Mythen des Alltags [1957], übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 93, Hervorhebung N.J.

Strandlektüren

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 Strandlektüren „Möglicherweise gehört es zur Eigendynamik eines thematischen Interesses“, schreibt Friedrich W. Block im Einleitungskapitel seiner Dissertationsschrift zum Thema ‚Subjektivität und Medien‘, „daß dafür relevante Aspekte mit fortschreitender Beschäftigung an allen Ecken und Enden aufgefunden werden.“52 Diese Einsicht ist wenig überraschend, weil sich der wissenschaftliche Blick und der verliebte die sprichwörtliche ‚rosarote Brille‘ teilen: Beide nehmen selektiv wahr, sodass in Bezug auf die Liebe wie auf die Wissenschaft mit Fug und Recht (und Werther) behauptet werden darf: „Alles, alles verschlingt sich in dieser Aussicht.“53 Eine solcherart fast paranoisch zu nennende Disposition der Wahrnehmung kann, wenn sie eine wissenschaftliche ist, so produktiv wie aporetisch sein: Produktiv deshalb, weil sich aufgrund der stetig zunehmenden Zahl an Funden – so verschieden sie auch sein mögen – gewisse allgemeine Merkmale des jeweiligen Gegenstands abzeichnen, die dann wiederum als eine Art heuristisches tertium fungieren, das das Auffinden überhaupt erst ermöglicht und das Aufgefundene, einmal auf diesen ‚gemeinsamen Nenner‘ gebracht, vergleichbar werden lässt; aporetisch deshalb, weil eine dergestalt stetig anwachsende Sammlung an Funden letztlich immer nur dieselbe Formierung ein und desselben Phänomens präsentiert und daher zu Redundanz neigt. Das vormals als spezifisch Identifizierte verliert seine genuine ‚Tiefenschärfe‘ und droht daher in einer obskuren Allgemeingültigkeit unterzugehen. Die Idylle bietet eine solche, paranoisch alles verschlingende Aussicht, denn laut Hans Adler gilt: „Wir entkommen der Idylle nicht.“54 Der locus amoenus – wenn er als gleichsam charakteristisches wie konstitutives Element des materialen Topos verstanden wird – macht Idyllen in literarischen Texten, medialen Formationen wie Film und Fernsehen sowie überhaupt im diskursiven Gefüge der Kultur auffindbar. In einer dergestalt kompilierten Sammlung avanciert der materiale Topos also zu einem wahrhaft aristotelischen, denn als tertium des Aufgefundenen ermöglicht er eine Systematisierung und Typisierung dieser Idyllen. Genau das soll mit diesem vierten Kapitel der Arbeit geleistet werden und zwar visuell in Form diagrammatischer Schemata, die Beziehungen und Verflechtungen – ganz generell: Strukturen – der Idylle und der für sie konstitutiven 52

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Block, Friedrich W.: Beobachtungen des ‚ICH‘. Zum Zusammenhang von Subjektivität und Medien am Beispiel experimenteller Poesie, Bielefeld: Aisthesis 1999 (zugl. Kassel, Univ., Diss., 1998), S. 16. Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. VI: Romane und Novellen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 7–124, hier: S. 40. Adler, Hans: „Gattungswissen: Die Idylle als Gnoseotop“, in: Berg, Gunhild (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2014, S. 23– 42, hier: S. 40.

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Paradigmen der Idylle

Elemente genauso evident machen wie auch ihre genuin po(i)etische Artifizialität. Aus der Paranoia des wissenschaftlich-verliebten Blicks wird somit Dianoia, denn in Bezug auf die Idylle gilt nach Zybok: „Was sich zunächst als ursprünglicher Naturraum vorstellt, ist eigentlich ein höchst artifizielles Gebilde, ein Konstrukt aus Naturdingen und Kunstobjekten; alle ausgezeichnet durch den Aspekt eines überästhetisierten Daseins [...].“55 Als ein, wie Zybok sagt, Konstrukt, das aus Naturdingen wie auch Kunstobjekten besteht, nimmt die Idylle eine Position ein, die zwischen der „seit den Griechen eingespielten Polarität von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘“ liegt.56 Dabei steht Natur – ganz im Sinn von Jean-Jacques Rousseaus idyllisch überlagertem Konzept des Naturzustands – in Opposition zu Kultur, denn anders als diese werde Natur laut Erhard Schüttpelz als „nicht-willkürlich“ angesehen, was bedeutet, dass sie als „nicht von der Willkür der menschlichen Einwirkung betroffen und nicht aus ihr entstanden“ gedacht wird.57 Es ist genau diese besondere Position zwischen Natur und Kultur, wodurch die Idylle als „ein konstruierter Raum“ beschreibbar wird.58 Die durch eine spezifisch idyllische poiesis geleistete Konstruktion eines solchen Raums wurde bereits hinlänglich untersucht – im Folgenden soll es deshalb darum gehen, die künstlichen „Naturkompositionen“ der Idylle mit Blick auf die Polarität von Natur und Kultur genauer zu untersuchen.59 Dazu wird zunächst eine besondere Variante des materialen Topos betrachtet, wie sie sich in der kitschigen Unterhaltungsliteratur als Darstellung jener Insel findet, die Alexander von Warsberg im 19. Jahrhundert bereist hat. An diese literarischen ‚Strandlektüren‘ werden dann theoretische anschließen, die auf John Fiskes Kultursemiotik des Strandes Bezug nehmen, um so einerseits die Idylle innerhalb der Polarität von Natur und Kultur konkret zu ‚verorten‘ und andererseits die idyllische Chrono-Logik als (kultur-)konstitutiv für ebendiese Polarität herauszustellen. Dadurch wird letztlich die Voraussetzung gegeben für die später folgende Darstellung eines drei Paradigmen umfassenden Modells zur Systematisierung von Idyllen in verschiedenen literarischen, filmischen und televisiven Texten.

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Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 41. Schüttpelz, Erhard: „Unter die Haut der Globalisierung. Die Veränderung der Körpertechnik ‚Tätowieren‘ seit 1796“, in: Nanz, Tobias/Siegert, Bernhard (Hgg.): Ex Machina. Beiträge zur Geschichte der Kulturtechniken, Weimar: VDH 2006, S. 13–57, hier: S. 53. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 40. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 40.

Strandlektüren

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4.1.1Am Strand auf Korfu (Paradies der Liebe – Rebeccas Traum) Der Strand markiert eine „erschreckende Grenze“.60 Das muss auch Ilse, die Protagonistin in Wilhelm Lehmanns ‚Böser Idylle‘ feststellen, als sie Heinz nach dem Schäferstündchen, das die beiden Schüler am Strand verbracht haben, erschrocken fragt: „Warum sind wir auch so weit gegangen?“61 Wie gezeigt, ist es die zum Programm dieses Texts gemachte Ambivalenz vager Andeutungen, die Ilses Aussage einerseits auf den gemeinsamen Strandausflug und die darüber vergessene Zeit beziehbar macht, als auch auf das, was sich an diesem Ort zwischen ihr und Heinz ereignet hat. Die Wahl dieses Schauplatzes erscheint in Lehmanns Idylle besonders passend: Laut Fiske stellt der Strand nämlich insofern „eine anomale Kategorie zwischen Land und Meer“ dar, als er aufgrund seiner besonderen Lage „weder das eine noch das andere ist, aber Merkmale beider beinhaltet“.62 Deshalb zeigt der Strand einen „geographischen Gegensatz“ an, ist ansonsten aber „so lange ohne Bedeutung, bis unsere Ideologie ihm eine auferlegt“.63 (Wie das strukturell organisiert ist und welche idyllentheoretischen Konsequenzen das hat, wird in den zwei folgenden Teilen dieses Kapitels genauer erörtert.) Der Umstand, dass der Strand – wie Fiske darlegt – als natürlicher Index den Gegensatz von Land und Meer anzeigt, ansonsten aber ein Ort ohne Bedeutung ist, macht ihn gerade als Schauplatz für idyllische Inszenierungen zu einer bevorzugten Kulisse, denn die idyllische poiesis kann dem Strand Bedeutung verleihen bzw. sein Bedeutungspotenzial für die eigenen Zwecke nutzen. Dies zeigt beispielsweise eine Strandszene aus der Türkei-Episode von KREUZFAHRT INS GLÜCK, einem seit 2007 im ZDF ausgestrahlten spin off von DAS TRAUMSCHIFF. Hier wird in der Mise en Scène das für die Idylle seit der Antike charakteristische Verfahren der Topothesie genutzt, um einen Ort hinzustellen, der in Bezug zu demjenigen Schauplatz steht, an dem die Episode der TV-Serie spielen soll – auch wenn die Aufnahmen de facto keinen genuin landschaftlichen Hinweis auf die Türkei bieten.64 In der erwähnten Strandszene sieht man ein Paar an einer idyllischen Bucht, die in der eröffnenden Einstellung zunächst aus einer Totalen gezeigt wird (Abb. 33). Aufgrund des langen, palmengesäumten Strandes erinnert der Ort eher an die Südsee als an die türkische Mittel- oder Schwarzmeer-Küste. Da dieser Strand aber nicht durch weitere Landschaftselemente näher bestimmt und deshalb nicht ein60

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Fiske, John: „Lesarten des Strandes“, in: ders.: Lesarten des Populären [1989], übersetzt von Christina Lutter, Markus Reisenleitner und Stefan Erdei, Wien: Turia + Kant 2000, S. 56–95, hier: S. 58. Lehmann, Wilhelm: „Böse Idylle“ [1928], in: ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. II, [Gütersloh:] Sigbert Mohn Verlag 1962, S. 31–37, hier: S. 35. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 56. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S, 58. Vgl. KREUZFAHRT INS GLÜCK, Episode 21: „Hochzeitsreise in die Türkei“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 01.01.2015, ZDF.

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deutig als ein konkreter Ort in der Türkei erkennbar ist, wird ein fingierter ‚lokaler‘ Bezug in der filmischen Inszenierung durch Requisiten künstlich hergestellt (Abb. 34). Zu ihnen zählen diverse materielle Signifikanten, die das Picknick-Arrangement der beiden Liebenden bilden und die auf die Türkei verweisen. Dergestalt wird ein geographisch spezifischer Bezug auf das Land hergestellt, in dem die Kreuzfahrt-ins-Glück-Episode spielt: Neben einer Wasserpfeife sind Granatäpfel und bauchige Teegläser auf der Picknick-Decke zu erkennen, die – genauso wie die im Hintergrund zwischen den Palmen an einem Mast wehende Flagge – den in der Einstellung zu sehenden Ort als ‚türkisch‘ konnotiert anzeigen sollen. Eine derartige Inszenierung entspricht dem, was JeanFrançois Lyotard eine ‚affirmative Ästhetik‘ nennt. Anders als im Kino folgt sie im Fernsehen aber offenbar keinem Subtraktionsverfahren: Während der „Aufbau des Bildes, der Sequenz und des Films“ im Kino nämlich mit „Ausschließungen bezahlt werden“ muss, die alles Überflüssige und Ungewollte aus dem Film-Bild „eliminieren“,65 setzt die televisive Inszenierung des idyllischen Orts in dieser Sequenz aus der Türkei-Episode von KREUZFAHRT INS GLÜCK eindeutig auf das Verfahren der Addition zur Erzeugung einer so hypertrophen wie klischeehaften Symbolik in der Mise en Scène. Dadurch wird die für die ZuschauerInnen sichtbare Landschaft als episodenspezifischer Schauplatz topothetisch hingestellt, auch wenn das Gefilmte keine Hinweise auf die reale location in der außersprachlichen Wirklichkeit bietet. Auch Alexander von Warsberg gibt dem Strand auf der durch seinen Reisebericht nachgerade po(i)etisierten ionischen Insel Korfu eine spezifisch idyllische Bedeutung. Wie gezeigt, ist der korfiotische Strand sein präferierter Ort für die Lektüre Homers, die Vorbild und Gegenstand seines bildnerischen Schreibens ist – schließlich will der österreichische Freiherr den antiken Texten durch seine Darstellung Korfus den passenden „landschaftlichen Hintergrund“ schreibend nachtragen.66 Entsprechend präsentiert Warsberg seine idyllische Leseszene auf der Insel: „Hier sollte der Homer gelesen werden, an warmen Sommertagen hingestreckt auf den schwellenden Wiesengrund unter bergendem Schatten des Oelbaumes am wogenden Strande des Meeres.“67 Warsbergs Darstellung des Strandes verdeutlicht die beiden Fragen, die im Folgenden verhandelt werden: Inwieweit der Strand erstens als eine konkrete Variante des materialen Topos der Idylle begriffen werden kann und inwiefern er zweitens die Polarität von Natur und Kultur veranschaulicht, sodass die Idylle als ein spezifischer Ort zwischen diesen beiden Polen anzusehen ist – dem zugleich eine vermittelnde Funktion zwischen ihnen zukommt. 65

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Lyotard, Jean-François: „L’acinéma“ [1973], in: ders.: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, übersetzt von Eberhard Kienle und Jutta Kanz, Berlin: Merve 1982, S. 25–43, hier: S. 25. Warsberg, Alexander Freiherr von: Odysseeische Landschaften, 3 Bd.e, Bd. I: Das Reich des Alkinoos, Wien: Carl Gerold’s Sohn 1878, S. V. Warsberg: Odysseeische Landschaften I, S. 236.

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Bereits Warsbergs eröffnende Beschreibung seiner für die Homer-Lektüre empfohlenen Idylle, die er in der realen Topographie Korfus in einem Olivenwald auf dem Weg nach Leftimo lokalisiert (womit er das im Süden der Insel gelegene Dorf Lefkimmi meinen dürfte), zeigt die intermediäre Verortung dieser Idylle zwischen Natur und Kultur an: „Nichts schöner als dieser Hain; eine wahrhaft antike Tempelstätte.“68 Wie zuvor anschaulich gezeigt, vergleicht Warsberg die ihn auf Korfu umgebende Natur nicht nur beständig mit der Architektur, er betont auch die architektonische Natürlichkeit, die der Insel durch ihre Vegetation verliehen wird: Beispielsweise bilden die „säulensteif und säulenernst“69 aus den dichten Olivenbaumwäldern hervorragenden Zypressen regelrechte „Obeliskenpfort[en]“.70 Der Vergleich der Natur mit der Architektur bewirkt in Warsbergs Darstellung letztlich eine Sakralisierung der Landschaft, wie sie auch die einleitende Beschreibung der Idylle zur Homer-Lektüre kennzeichnet, wenn Warsberg den ihn umgebenden Hain eine ‚Tempelstätte‘ nennt. Die korfiotische Inselnatur wird somit im Bereich der Kultur verortet. Darauf weist auch das Stichwort ‚Hain‘ hin, womit ein „kleiner, lichter Wald“ bezeichnet wird.71 Zugleich ist der Hain als „[d]er ‚ideale‘ oder idealisierte ‚Mischwald‘“ ein zentrales Element des materialen Topos der Idylle und zwar insofern er den sog. locus amoenus konstituiert,72 der nach Curtius „ein schöner, beschatteter Naturausschnitt“ ist, dessen „Minimum an Ausstattung [...] aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach“ besteht.73 Mit diesem topischen Inventar stellt auch Warsberg seinen idyllischen Lektüre-Ort hin, wobei der anfänglich genannte Hain in der nachfolgenden Beschreibung hinsichtlich der ihn formierenden landschaftlichen Elemente präziser dargestellt wird, denn es ist der zwischen den umgebenden Ölbäumen liegende Wiesengrund, den Warsberg als beschatteten Lager- und Leseplatz anempfiehlt. Allerdings findet sich dort weder eine Quelle noch ein Bach – dafür aber der Meeresstrand, sodass dieser hier an die Stelle der von Curtius für den locus amoenus prototypisch genannten Elemente tritt. Dass der Strand explizit als ‚wogend‘ bezeichnet wird, verweist auf die strukturelle Ersetzung der Elemente ‚Quelle‘ bzw. ‚Bach‘ in Warsbergs Strandidylle, denn so wie diese beiden Wasserläufe zeichnet sich auch der Meeresstrand durch das semantische Merkmal ‚dynamisch‘ aus, was auf die sowohl für Quellen wie Bäche als auch für die Brandung an Stränden charakteristische Bewegung von Wasser verweist. Insofern stellt Warsbergs Beschreibung seiner am Strand gelegenen Idylle eine Variante des materialen Topos dar, die zudem durch den Vergleich mit einer antiken Tempelstätte deutlich eine besondere Stellung zwischen Natur auf der einen und Kultur auf der anderen Seite einnimmt. 68 69 70 71 72 73

Warsberg: Odysseeische Landschaften I, S. 236. Warsberg: Odysseeische Landschaften I, S. 127. Warsberg: Odysseeische Landschaften I, S. 115. Stichwort ‚Hain‘, in: Wahrig, S. 663. Curtius: Europäische Literatur, S. 201. Curtius: Europäische Literatur, S. 202.

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Aufgrund dieser Position zwischen den Polaritäten kommt der Idylle am Strand eine vermittelnde Funktion zwischen den Bereichen Natur und Kultur zu. Dies zeigt sich an Warsbergs eigener Homer-Lektüre und seiner mit dieser verbundenen Zielsetzung, den antiken Texten einen landschaftlichen Hintergrund zu geben. Ihn erkennt Warsberg in der korfiotischen Natur. Seine identifikatorische Lektüre, die er „auf den schönsten Punkten“ der Inseln unternehmen kann, weil er „den Homer in der Tasche“ als beständigen Begleiter bei sich trägt, ist also eine doppelte, denn sie gilt den Texten des antiken Autors wie auch der Insel selbst.74 Der Idylle als Warsbergs bevorzugtem Leseort kommt dabei insofern eine zwischen Kultur (Homer) und Natur (Korfu) vermittelnde Funktion zu, als Warsberg „aus dem Buche heraus- und von der Landschaft wieder in die Werke hineinschaut“.75 In ihnen erkennt er dann das Angeschaute als in den Texten Homers beschrieben wieder, sodass Korfu buchstäblich zu einer ‚poetischen Insel‘ avanciert. Seine doppelte Lektüre ist also genauso transitiv wie der Ort, an dem sie erfolgt, denn so wie Warsbergs lesender Blick von den Texten in die Landschaft und von dort wieder in die Texte zurückgeht, steht die Idylle einerseits in Verbindung zur Natur, zumal diese die Versatzstücke zur Formierung der Idylle bereithält, und andererseits in Verbindung zur Kultur, weil die Idylle letztlich ein po(i)etischer, also zugleich künstlerisch wie künstlich gemachter Ort ist. Dabei gehört es zur Eigenheit idyllischer poiesis, dass sie ihre genuine Artifizialität kaschiert (was Warsbergs bildnerisches Schreiben durch die Vergleiche der Natur mit der Architektur sowie der bildenden Kunst leistet, um die korfiotische Idylle als eine gewissermaßen ‚natürliche‘ zu präsentieren). Als ein transitorischer Bereich zwischen Natur und Kultur erscheint auch eine Idylle, die in Natalie Rivers Roman Korfu – Paradies der Liebe beschrieben wird, um die ionische Insel als Schauplatz der Handlung einzuführen. Carrie, die Protagonistin in Rivers Roman, ist auf Korfu zu Besuch bei Nikos, dem Bruder ihres durch einen „entsetzlichen Autounfall“ verstorbenen Mannes Leonidas.76 Carries erste Begegnung mit diesem aufgrund seines „wohlproportionierten“ sowie „anbetungswürdigen“ Körpers schlichtweg „atemberaubend gut“ aussehenden Mannes erweist sich als der für die „situation initiale“77 der Kitscherzählungen konstitutive coup de foudre:78 Carrie verliebt sich in Nikos, 74 75 76

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Warsberg: Odysseeische Landschaften I, S. 124. Warsberg: Odysseeische Landschaften I, S. 124. Rivers, Natalie: Korfu – Paradies der Liebe [2007], übersetzt von Claudia Stevens, Hamburg: Cora 2008 (= Romana 1719), Kap. „Prolog“. Da es sich bei diesem Text um eine digitale Ausgabe ohne feststehende Paginierung handelt, wird bei Zitaten die Kapitelnummer durch römische Ziffern angezeigt. Nachfolgend geschieht dies ohne weitere Fußnote im Anschluss an das jeweilige Zitat unmittelbar im Text. Atzenhoffer, Régine: Ecrire l’amour kitsch. Approches narratologiques de l’œuvre romanesque de Hedwig Courths-Mahler (1867–1950), Bern: Peter Lang 2005, S. 401. Vgl. Dingeldey, Erika: Luftzug hinter Samtportieren. Versuch über E. Marlitt, Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 169.

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denn für sie fühlt es sich an, „als schaute er direkt in ihre Seele“ (I). Zwar ist Carrie noch nie zuvor auf Korfu gewesen, doch die „Touristeninsel“ ist der Londonerin bekannt, weil sie „besonders bei den Briten beliebt“ ist (VI). Nikos’ Haus, wo Carrie ihren Aufenthalt als sein persönlicher Gast verbringt, „liegt ziemlich abgeschieden“ umgeben von „Olivenhainen“ an einem Berghang (VI). Von der Terrasse des Hauses erhält Carrie die ersten landschaftlichen Eindrücke nach ihrer Ankunft bei „Dunkelheit“ (VI) – offenbar ein Topos für Korfu-Reisende, denn auch Warsberg erblickt die Insel erstmalig in der Nacht, genauso wie der Held in Homers Odyssee.79 Carries erste Impressionen der korfiotischen Landschaft sind in der literarischen Darstellung im Roman vermittelt durch das Frühstücksbüffet, das Nikos ihr am ersten Morgen auf der Insel bereitet. Darüber gleitet Carries bewundernder Blick, so als würde sie eine Landschaft betrachten: „Dann ließ sie den Blick über die köstlichen Speisen vor sich auf dem Tisch gleiten. Diverse Sorten Obst, knusprige Brötchen, sahniger Joghurt und süßes griechisches Gebäck luden zum Zugreifen ein.“ (VII) Die lukullische Szenerie aktualisiert das Schlaraffenland-Motiv,80 das seinerseits auf das idyllische Arkadien Vergils und damit auf das Goldene Zeitalter verweist.81 Carrie wendet ihren Blick vom Büffet ab und – wie durch Zufall – schließlich der Landschaft zu: Sowohl die leiblichen als auch die landschaftlichen Köstlichkeiten avancieren dadurch zum Gegenstand des Genusses und damit ästhetischer Konsumption. Die so etablierte Verbindung zwischen der Natur in Form der korfiotischen Landschaft und Kultur in Form der reichhaltigen Mahlzeit wird sprachlich zudem dadurch betont, dass Carrie beide ‚in vollen Zügen‘ genießen kann: Sie hob das Saftglas und hielt mitten in der Bewegung inne, als ihr die atemberaubende Landschaft auffiel, die man von hier aus überblickte. Nik [d.i. Nikos, N.J.] hatte erwähnt, dass sein Haus in den Bergen lag, doch Carrie hätte nie geglaubt, dass dieser Ort so schön war. Bewaldete Hänge fielen steil zum türkis glitzernden Meer ab. Olivenhaine schimmerten silbrig grün in der Sonne [...]. Es war ein vollkommener Frühsommertag am Mittelmeer, und eine überwältigendere Umgebung hätte Carrie sich kaum wünschen können. Sie erhob sich und trat [...] an die Balustrade, um die Aussicht in vollen Zügen zu genießen. (VII)

Zu Nikos’ idyllisch abgeschieden gelegenem Anwesen, das ihm die Möglichkeit bietet, sich „vom Stadtleben zurückzuziehen“, gehört auch ein „Privatstrand“ (VIII). Dort eröffnet sich für Carrie „ein atemberaubender Blick auf das Meer“ unter dem „wolkenlosen blauen Himmel“ (VIII). An diesem Strand kommt es zu einer idyllischen Verkopplung von Natur und Kultur – zumindest auf der sprachlichen Ebene, denn das Epi79 80

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Vgl. Warsberg: Odysseeische Landschaften I, S. 13. Vgl. Stichwort ‚Arkadien‘, in: Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte [1976], Stuttgart: Kröner 62008, S. 27–37, hier: S. 28. Vgl. Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis, S. 216.

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theton ‚atemberaubend‘ gehört im Roman zu einer Gruppe von Schemaadjektiven, die stereotyp wiederholt werden, um Carries Sinneseindrücke darzustellen. Dabei ist es gleichgültig, ob sie die Landschaft betrachtet oder aber Nikos, der Carrie am Strand aufsucht: „In seinen ausgeblichenen Jeans und dem schwarzen T-Shirt“, heißt es in erlebter Rede aus Carries Perspektive, „sah er atemberaubend aus. Sein wohlproportionierter, trainierter Körper kam perfekt zur Geltung.“ (VIII, Hervorhebungen N.J.) Nikos’ körperliche Perfektion wird hier insofern zu seiner ‚natürlichen‘ Eigenschaft, als Carrie dasselbe Urteil über die Kieselsteine fällt, mit denen sie zuvor gedankenversunken am Strand gespielt hat: „Sie nahm ein paar Kieselsteine in die Hand und bewunderte ihre glatte Oberfläche. Jeder einzelne dieser Steine war perfekt geformt [...].“ (VIII, Hervorhebung N.J.) Statt eine Grenze zu markieren, wie es Fiske behauptet, bewirkt der Strand, an dem Carrie und Nikos auf Korfu immer wieder zusammenkommen, nachgerade eine Transgression, durch die die Grenze zwischen Natur und Kultur insofern verwischt, als diese beiden Polaritäten in der sprachlichen Darstellung gewissermaßen überlagert und so wechselseitig aufeinander bezogen werden. Dies zeigt sich daran, dass das Schemaadjektiv ‚atemberaubend‘ sowohl die Landschaft bezeichnet, die Carrie wahrnimmt, als auch den Eindruck, den sie von Nikos’ Aussehen gewinnt. Die idyllische Verkopplung von Natur und Kultur verdeutlicht sich aber beispielsweise auch, als Carrie am Strand mit Nikos intim wird: „Eine leichte Brise strich über ihre Haut, und während Niks Mund sich auf Wanderschaft begab, entdeckte Carrie immer mehr empfindsame Stellen an ihrem Körper [...].“ (X, Hervorhebungen N.J.) Im Bereich der literarischen ‚armchair travel‘, also Romanen, die analog den seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär werdenden illustrierten Reportagen in Form von Fotobüchern Ferien im Imaginären verheißen,82 ist die touristische Attraktion also vor allem eine sprachliche: In dem Maß, wie die Ferien auf Korfu für Carrie zu einem sexuellen Erlebnis avancieren, werden sie für die LeserInnen zu einem imaginären Reiseerlebnis, denn die beiden – nach Claude LéviStrauss – ‚traurigen Tropen‘ Metonymie (‚Niks Mund‘) und Metapher (‚Wanderschaft‘) erscheinen hier innerhalb des Syntagmas des eben zitierten Satzes regelrecht als ‚touristische‘, schließlich ermöglichen sie eine sprachliche Entdeckungsreise. Inwieweit die ‚leichte Brise‘, die Carrie über die Haare streicht, im Kontext der Idylle sexualsymbolisch zu deuten ist, wurde zuvor bereits an der Luise von Johann Heinrich Voß untersucht. In Rivers Roman verknüpft der Windhauch zudem zwei idyllische Strandszenen – auch wenn in deren sprachlicher Realisierung die verwendeten Schemaadjektive variieren. Bei der zweiten Strandszene handelt es sich um einen Spaziergang von Carrie und Nikos, der aus Carries Sicht beschrieben wird: 82

Der Begriff taucht laut Gesine Asmus erstmalig im Vorwort zu dem 1878 erschienenen Fotoband Egypt and Nubia von Félix Bonflis auf (vgl. Asmus, Gesine: „Aus der Ferne aus der Nähe. Bilder vom Mittelmeerraum vor und nach der Erfindung der Fotografie“, in: Pohl, Klaus (Hg.): Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850 – heute, Giessen: Anabas 1983, S. 7–57, hier: S. 12).

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Die Bucht war bezaubernd, von zwei Seiten von Klippen eingefasst, und in Carries Rücken befanden sich bewaldete Hügel. Die See war ruhig und blau, und eine sanfte Brise strich durch Carries Haar. Und doch war es nicht die Aussicht, die Carries Aufmerksamkeit fesselte. Ihr Blick ruhte unentwegt auf Nik. Sein Anblick und seine Art, sich zu bewegen, schlugen sie immer wieder in Bann. (X)

Die aus Carries Perspektive beschriebene Wirkung der Bucht ist deshalb ‚bezaubernd‘, weil sie gewissermaßen natürlich gerahmt ist – und wie anhand von Warsbergs bildnerischem Schreiben gezeigt wurde, ist das eine zentrale Voraussetzung für ein Engagement des Blicks, dem dadurch überall Idyllen ansichtig werden können. Jedoch besteht für Carrie die Faszination hier weniger in der idyllischen Landschaft als vielmehr in Nikos, dessen ‚Anblick‘ sie in den Bann schlägt. Von der ‚bezaubernden‘ Bucht auf Korfu geht also eine – mit Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ gesprochen – „fast magische Anziehungskraft“ aus,83 die sich auf Carrie und ihre Wahrnehmung von Nikos überträgt. Dies zeigt sich in der Metapher, mit der die Wirkung von Nikos auf Carrie als genauso ‚magisch‘ beschrieben wird, wie die der Bucht, denn „im übertragenen Sinn wird Bann auch in der Bedeutung von ‚Zauber‘ und ‚Kreis, in dem dieser Zauber wirkt‘ verwendet“.84 Diese sich in der Strandidylle entfaltende ‚magische Anziehungskraft‘, die Nikos auf Carrie ausübt und die ihre „Aufmerksamkeit“ stärker zu fesseln vermag als die „Aussicht“ über die bezaubernde Bucht (X), wird in einer folgenden Idylle nochmals verdeutlicht. Bei einem weiteren Spaziergang am Strand zieht die idyllische Natur im Wettkampf der visuellen Attraktionen um Carries Aufmerksamkeit den Kürzeren, denn „[n]un, da Nik hier war, hatte sie den Blick für die Schönheit ihrer Umgebung verloren. Es schien unmöglich, die Augen von ihm zu wenden.“ (XI) Eine solche Schönheitskonkurrenz, in die die Kitscherzählung die von ihrer Protagonistin begehrte männliche Figur beständig bringt, um deren Schönheit vor der Folie derjenigen der Natur als – wie es Carrie fasst – „überirdisch“ (XII) herauszustellen, ist insofern selbst topisch, als sie sich allerorts im literarischen Kitsch findet.85 In Rivers Korfu-Roman vermittelt die Idylle, in der die Schönheit der geliebten Person umso schöner (und die Person umso begehrlicher) wirkt, für Carrie eine existenzielle Erkenntnis in Bezug auf ihre Beziehung zu Nikos: „Sie liebte ihn, sie spürte es mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele. Das Gefühl durchflutete sie von Kopf bis in die Zehen.“ (XI)

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Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. VI: Romane und Novellen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 243–490, hier: S. 478. Stichwort ‚Bann‘ (1), in: Wahrig, S. 226, Hervorhebung i.O. So heißt es beispielsweise in der ‚Vampir-Liebesschnulze‘ Twilight, als sich Edward gegenüber seiner Geliebten auf einer Waldlichtung als Vampir offenbart, aus der Perspektive von Bella, die als personale Ich-Erzählerin im Roman auftritt: „The meadow, so spectacular to me at first, paled next to his magnificence.“ (Meyer, Stephenie: Twilight [2005], London: Atom 2010, S. 229.)

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Die zuletzt zitierte Passage liefert ein anschauliches Beispiel für die unfreiwillige Komik des Kitsches, die hier in der Übersetzung vom Englischen ins Deutsche zu einer Verfremdung der Redensart ‚vom Kopf (bzw. Scheitel) bis zur Sohle‘ führt: Offenbar ist die analoge englische Formel ‚from head to toes‘ wortwörtlich ins Deutsche übertragen worden. Der hierdurch ausgedrückten Wirkung – dass Carrie vollständig, und das heißt geistig wie körperlich, von der Liebe zu Nikos ergriffen ist – tut diese translatorische Schieflage keinen Abbruch, denn den größten Nachdruck erhält die Darstellung des ‚Liebesgefühls‘ durch das Verb ‚durchfluten‘: Es wird hier metaphorisch gebraucht, sodass sich der damit bezeichnete Naturvorgang auf die menschlichen Emotionen überträgt. Der die Metapher formierende Bildbereich konstituiert auf der Metaebene zudem insofern eine Isotopie, als er seinerseits zahlreichen anderen Metaphern zugrunde liegt, die sich im gesamtem Text finden: So wird Carrie zunächst als „stilles Wasser“ apostrophiert, was semantisch zu der Metapher passt, mit der die von Nikos ausgehende Anziehung auf Carrie bei deren erster Begegnung beschrieben wird, denn es heißt: „ihr Körper warf alle Vernunft über Bord“ (I). Dergestalt von ihrer Ratio befreit, kann Carrie sich ganz ihrer Lust und Nikos hingeben – den sie zwar körperlich attraktiv findet, aber zunächst nicht für den passenden Partner hält, um mit ihm eine Familie zu gründen. Entsprechend verspürt sie bei den ersten intimen Begegnungen eine „Welle der Erregung“, die der „Sturm des Begehrens“ in ihr aufschlagen lässt (VII). Während es zwischen den beiden also buchstäblich stürmisch ‚zur Sache‘ geht und Nikos dabei immer weiter zu Carries „Zentrum ihrer pulsierenden Weiblichkeit“ vordringt, schlägt zunächst zwar „eine Welle der Nervosität über ihr zusammen“, jedoch treibt der griechische Liebhaber „die Welle der Lust in ihr weiter in die Höhe“, als „er sich endlich in ihr versenkt[]“ (VII). Durch derartige Naturmetaphern widerlegt Rivers Roman Jean Paul, der in seiner Vorschule der Ästhetik der Idylle Leidenschaft nicht als „heiße Wetterwolken“, sondern bloß als „einige laue Regenwölkchen“ zuerkennt.86 Dass sich die korfiotischen Idyllen diese Transgression erlauben können, ermöglicht das von Jean Paul herausgestellte Kriterium der Beschränkung: Carries und Nikos’ emotionale Wellen sind insofern ein ‚Sturm im Wasserglas‘, als man hinter den Wetterwolken ihrer Leidenschaft stets schon den von Jean Paul für die Idylle geforderten „breiten hellen Sonnenschein auf den Hügeln und Auen“ der ionischen Insel erkennt.87 Für Carrie fügt sich nämlich „alles zum Guten“, denn Nikos „liebte sie so, wie sie ihn liebte“ (XII) – ihre Beziehung bleibt also nicht rein körperlich. Am Ende dieser Kitscherzählung steht deshalb das für sie konstitutive Happy End, das gleichsam als ein idyllisches gelten kann, weil es die Grenzen von Raum und Zeit für das Liebespaar suspendiert. Das bringt Carrie zum Ausdruck, als sie

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Jean Paul: Vorschule der Ästhetik [1813], in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Norbert Miller, Bd. IX: Vorschule der Ästhetik; Levana (I), München/Wien: Hanser 1975, S. 7–456, hier: S. 260. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, Werke: IX, S. 260.

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„den Mann, den sie liebte, verträumt an[lächelt]“, und beteuert: „Wir [...] werden immer zueinandergehören“. (XII) Die Darstellung Korfus in Romanen aus dem Bereich der kitschig zu nennenden Unterhaltungsliteratur ist auch in anderer Hinsicht eine idyllisch beschränkt zu nennende, weil die griechische Insel auf zwei landschaftliche Elemente reduziert wird: Silbrig-glänzende Olivenbäume, die bereits Alexander von Warsberg als Besonderheit der insularen Topographie in seinem Reisebericht hervorhebt, und tiefblaues Meer. Diese zwei Versatzstücke werden bei nahezu jeder Landschaftsbeschreibung der Insel wiederholt. Der Signifikant ‚Idylle‘ wird – anders als etwa bei Warsberg – dabei aber nicht gebraucht. Dies lässt sich als einer jener „Signifikatseffekte“ begreifen, die Jacques Lacan zufolge „durch die Permutation des Signifikanten“ veranschaulichen, „was in Wahrheit in der Sprache geschieht“:88 Die Idylle wird hier nämlich „in der Substitution des Signifikanten extrapoliert“.89 Zugleich ist die Substitution des Signifikanten ‚Idylle‘ in derartigen Kitscherzählungen auf deren konstitutiven Schematismus zurückzuführen, wie er zuvor bereits als Merkmal idyllischer Serialität anhand der TV-Produktion DAS TRAUMSCHIFF untersucht wurde. Wie in der Fernsehserie so fungiert auch in der kitschigen Literatur, die ihre i.d.R. weiblichen Protagonisten an idyllischen Ferienzielen die wahre Liebe und damit den Partner fürs Leben finden lässt, die Idylle als buchstäblicher ‚Isotopos‘ im Sinn einer letztlich immergleichen landschaftlichen Kulisse. Aufgrund ihrer Funktionalisierung erscheint diese Kulisse nicht nur immergleich, sondern auch austauschbar. Deshalb wird sie in den Romanen niemals explizit als ‚Idylle‘ bezeichnet, jedoch sprachlich durch verschiedene Adjektive indirekt als eine angezeigt. Dafür werden beispielsweise die landschaftlichen Panoramen, deren die Figuren von besonderen Aussichtspunkten wie Balkonen in Hotelzimmern oder Felsklippen aus ansichtig werden, als „atemberaubend“ (VII, VIII), „überwältigend“ (VII), „spektakulär“ oder „bezaubernd[]“ (X) beschrieben. Solchen Adjektiven kommt in Bezug auf den Gebrauch des materialen Topos in diesen Kitscherzählungen eine spezifische Funktion zu, weil sie einerseits die beschriebenen Landschaften im Imaginären von LeserInnenseelen veranschaulichen, ohne dabei topographisch konkret zu sein. Ein dergestalt fehlender bzw. fingierter referentieller 88

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Lacan, Jacques: „Zum Gedenken an Ernest Jones: Über seine Theorie der Symbolik“ [1959], in: ders.: Schriften. Vollständiger Text, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, 2 Bd.e, Bd. II, Wien/Berlin: Turia + Kant 2015, S. 205–229, hier: S. 215. Lacan: „Zum Gedenken an Ernest Jones“, S. 216. Auf diese Weise erscheint ‚Korfu‘ als topographische Metapher, die „durch die Einpflanzung eines anderen Signifikanten in eine signifikante Kette“ sprachlich erzeugt wird, „wodurch der Signifikant, den er aussticht, in den Rang des Signifikats fällt und als latenter Signifikant darin das Intervall aufrechterhält, worin eine andere signifikante Kette dort gepfropft werden kann“ (ebd., S. 219). Was Lacan als strukturelle Definition der Metapher vorstellt, steht in Analogie zur mythischen Aussage, deren Struktur Roland Barthes mittels eines sog. ‚sekundären semiotischen Systems‘ beschreibt (vgl. hierzu Kapitel 4.1.2).

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Bezug auf die in der außersprachlichen Wirklichkeit real existierende Örtlichkeit, die den jeweiligen Schauplatz einer solchen Erzählung darstellt, ermöglicht es andererseits, die Figuren dadurch zu idyllisieren, dass sie mit denselben Adjektiven attribuiert werden, die auch die Landschaft idyllisch erscheinen lassen. Hierdurch erfolgt eine Verkoppelung der (i.d.R. männlichen) begehrten Figur mit dem ebenfalls als begehrenswert präsentierten idyllischen Ferienziel. Besonders anschaulich wird das durch die Strandszenen in einem anderen Roman aus dem Bereich der kitschigen Unterhaltungsliteratur, dessen Schauplatz die gleichsam „wundervoll“, „verlockend“ (I) und so „wunderschön“ wie „atemberaubend“ (II) wirkende Landschaft auf der so „magisch[en]“ (II) wie „traumhaft[en]“ (IV) und deshalb „unvergesslich“ (II) bleibenden Insel Korfu darstellt.90 Nora Roberts Roman Rebeccas Traum erzählt die Geschichte von Rebecca Malone, einer 24 Jahre alten Buchhalterin aus Philadelphia, die nach einem schweren Schicksalsschlag ihr altes Leben in den Vereinigten Staaten aufgibt, um Europa zu bereisen. Nach dem Tod ihrer letzten verbliebenen Verwandten entscheidet Rebecca sich dazu, „das Leben in vollen Zügen zu genießen, solange es nur ging“ (I). Da sie „eine nüchtern denkende und ebenso handelnde Frau“ ist, stellt dieser Entschluss für sie „eigentlich kein Davonlaufen“, sondern „ein ‚Sichbefreien‘ von vielen Zwängen und starren Gewohnheiten“ dar (I). Vor allem möchte Rebecca dem traurigen Schicksal ihrer Tante entgehen und nicht alleine sterben. Damit begründet sich ihre Motivation für die Reise nach Korfu aus der für die Kitscherzählung konstitutiven Funktion des Mangels, der hier – so stereotyp schematisch wie klischeehaft – im Fehlen eines Lebenspartners besteht. Komplementär zu dieser ersten ist die zweite Funktion der Kitscherzählung – wie gezeigt – die Begegnung mit einer Person, durch die der für die Protagonistin problematische Mangel ausgeglichen werden kann. Zu einer solch schicksalhaften Begegnung kommt es während Rebeccas Aufenthalt auf Korfu. Beim Abendessen in einem Restaurant wird sie auf einen „ausgesprochen attraktiven Mann“ aufmerksam: „Er war schlank und hoch gewachsen und hatte dichtes blondes Haar. Seine Haut war sonnengebräunt, und an seinem Kinn entdeckte sie eine kaum sichtbare Narbe. Es war ein ausdrucksstarkes Gesicht mit einem Kinn, das Willensstärke und Energie ausdrückte.“ (I) Diese Beschreibung des Äußeren des Mannes dient letztlich zur Legitimation von Rebeccas Attraktion, denn für sie sieht der unbekannte Fremde schlicht „blendend“ aus (I). Auffällig ist der Hinweis auf die sonnengebräunte Haut – und das nicht etwa, weil sie im Gegensatz zu seiner ansonsten klischeehaft ‚arischen‘ Attribuierung als schlank, groß und blond steht. Die Sonnenbräune ver90

Roberts, Nora: Rebeccas Traum [1989], übersetzt von Michael Rabe, München: Heyne o.J. [deutsche Erstausgabe 2004 in der Mia-Reihe des Cora-Verlags]. Da es sich um eine digitale Ausgabe ohne feststehende Paginierung handelt, werden Zitate hier wie im Folgenden ohne weitere Fußnote durch die Angabe der Kapitelnummer in römischen Ziffern direkt im Text belegt.

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weist indirekt auf den Strand, weil sie analog zu diesem eine „anomale Kategorie zwischen Haut (Mensch, Kultur) und Pelz (Tier, Natur)“ darstellt.91 Aufgrund seiner Position zwischen diesen beiden Polaritäten konnotiert der Mann für Rebecca ‚Fremdheit‘ und ‚Exotik‘ und deshalb richtet sich ihre Aufmerksamkeit überhaupt erst auf ihn. Darüber hinaus besitzt die Sonnenbräune laut Fiske eine „signifikante Funktion“, die jener transitorischen der Idylle entspricht, wenn diese zwischen den Polaritäten Natur und Kultur vermittelt: Die Sonnenbräune trägt nämlich „das Natürliche in die Kultur“, das „nicht die Natur, sondern die kulturelle Konstruktion derselben“ darstellt.92 Im Kontext der kurzen und buchstäblich oberflächlichen, weil an den Äußerlichkeiten des Körpers verweilenden Beschreibung des Mannes fungiert die Sonnenbräune als Scharnier, das gemäß der von Fiske beschriebenen signifikanten Funktion die Polaritäten Kultur und Natur verbindet: Die Attribuierung als schlank, groß und blond verweist auf den Bereich der Kultur und damit das, was für Rebecca – aus ihrer eurozentrischen Perspektive – das ihr Bekannte und Vertraute darstellt. Auf den Bereich der Natur verweist in der weiteren Beschreibung des Mannes schließlich all das, was im Anschluss an den Hinweis auf seine sonnengebräunte Haut folgt. Dabei handelt es sich um Rebeccas ‚Interpretation‘ der auffälligen Gesichtszüge, die das Kinn des Mannes betreffen: Die dort „kaum sichtbare Narbe“ lässt sein Gesicht für Rebecca insofern markant erscheinen, als sie dieses ‚Hautzeichen‘ mit „Willensstärke und Energie“ assoziiert (I). Während es sich bei den anfänglichen Attribuierungen, die vor der Sonnenbräune genannt werden, also um empirische Beobachtungen handelt, gibt das danach genannte Merkmal des vernarbten Kinns Rebecca den Anlass zu einer subjektiven Exegese der fazialen Eigenheiten. Diese verleihen dem Mann eine ähnliche ‚Exotik‘, wie Rebecca sie von ihrem Urlaubsziel erwartet: „Korfu. Allein schon der Name klang geheimnisvoll und verlockend.“ (I) Vermittelt durch seine sonnengebräunte Haut wirkt also auch der Mann, den Rebecca auf Korfu trifft, so geheimnisvoll und verlockend wie die ionische Insel. Dies zeugt von ihrer naiven Unerfahrenheit, denn Rebecca hat sich „vorher nie mehr als ein paar hundert Kilometer von Philadelphia entfernt“ (I). Dass der Mann aus Rebeccas begehrender Sicht eine besondere Stellung zwischen Natur und Kultur einnimmt, wird nicht nur durch seine Sonnenbräune angezeigt, sondern auch durch die weitere Beschreibung, die die Erzählung von ihm gibt: „Er sprach ohne Akzent, mit tiefer voller Stimme.“ (I) Obschon von Rebecca mit den Merkmalen einer begehrlichen ‚Exotik‘ und ‚Fremdheit‘ assoziiert, ist der Mann für sie insofern also kein ‚Wilder‘, als er durch sein akzentfreies Sprechen auf derselben ‚Kulturstufe‘ steht wie die ehemalige Buchhalterin. Die gesamte erzählerische Exposition des Mannes ist idyllisch funktionalisiert: Seine Darstellung aus Rebeccas Perspektive steht in struktureller Analogie zu ihrer Erwartung

91 92

Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 61, Hervorhebungen i.O. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 61.

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an das Ferienziel, denn genauso wie der begehrte Fremde steht auch die Insel zwischen der Polarität von Natur und Kultur. Zwar weiß Rebecca, dass Korfu als eines „der bevorzugten Ferienparadiese Europas“ (I) Teil der ‚zivilisierten‘ Welt ist und sich damit als dem Bereich der Kultur zugehörig erweist; da es für sie aber der Name ‚Korfu‘ ist, der „geheimnisvoll und verlockend“ klingt, etabliert dies eine Natur und Kultur verkoppelnde Semiotik. Der Klang des Lautbildes wirkt auf Rebeccas Imaginäres, sodass die populäre Feriendestination (Kultur) als Signifikat mit dem Signifikanten ‚Korfu‘ (Natur) verkoppelt wird. Dieses idyllische Zeichen verweist für Rebecca auf eine (touristische) Begehrlichkeit, die zwischen Natur und Kultur verortet ist. In der korfiotischen Idylle kommt es also zu jener schicksalhaften und für das narrative Schema der Kitscherzählung konstitutiven Begegnung, die den für Rebecca problematisch werdenden Mangel in ihrem Leben ausgleicht. Dass die Kitscherzählung dergestalt mit einem Happy End für ihre Protagonisten schließen wird, deutet der Text für die LeserInnen bereits zu Beginn an und zwar durch einen Perspektivwechsel, sodass Rebecca aus der Wahrnehmung des Fremden dargestellt wird. Als Marker für diese narrative Transition fungiert der Blickwechsel zwischen den beiden Figuren, denn „[s]schließlich trafen sich ihre Blicke“ (I). Analog zur Beschreibung des Fremden aus Rebeccas Wahrnehmung wird sie den LeserInnen dann aus dessen Perspektive vorgestellt: Sie war eigentlich keine wirkliche Schönheit. Schöne Frauen sah man jeden Tag. Aber an dieser war etwas, das ihn faszinierte. Sie ging stolz und aufrecht, als gehöre ihr die Welt. Stephanos betrachtete die Fremde genauer. Sie war schlank und besaß eine gute Figur und helle Haut. […] Das weiße Strandkleid ließ Schulter und Rücken frei und stand in aufregendem Gegensatz zu dem pechschwarzen, kurz geschnittenen Haar. […] Stephanos gefiel ihr Gesicht. Es wirkte fröhlich, intelligent und offen. (I)

Der erzählerische Perspektivwechsel relativiert den eurozentrischen Kulturrassismus, den man Rebecca unterstellen kann, weil sie es ist, die für Stephanos an die Position der ‚Fremden‘ rückt. Aufgrund ihrer schlanken und deshalb von Stephanos als ‚gut‘ bewerteten Figur, steht Rebecca dem attraktiven Mann in nichts nach. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden liegt in der Tönung ihrer Haut, denn anders als Stephanos ist Rebecca – die ja gerade erst auf Korfu angekommen ist – (noch) nicht sonnengebräunt. Mit ihrer „hell[en] Haut“ korrespondiert das von ihr getragene „weiße Strandkleid“. Das Kleidungsstück, das den von Natur aus nackten Körper verhüllt und somit in die Kultur integrierbar macht, erweist sich angesichts dieser Korrespondenz als eine gewissermaßen ‚natürliche‘ zweite Haut und steht angesichts dieser vermittelnden Funktion zwischen den Polaritäten Natur und Kultur äquivalent zu Stephanos Sonnenbräune. Diese Äquivalenz wird zudem dadurch unterstrichen, dass es sich um ein spezifisches Kleid handelt, das dem Namen nach an jenem Ort getragen wird, auf den

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Stephanos’ gebräunte Haut verweist: den Strand. Die erzählerische Präsentation der zwei Protagnisten zu Beginn der Erzählung verkoppelt beide also erstens dadurch, dass sie jeweils aus der Sicht des/der anderen dargestellt und durch diese wechselseitige Darstellung zweitens idyllisch perspektiviert werden – und zwar in Bezug auf den Strand, der in der Erzählung zu einem zentralen Schauplatz für weitere Begegnungen zwischen Rebecca und Stephanos sowie für die Entwicklung ihrer sich von Beginn an abzeichnenden Liebesbeziehung avanciert. An die initiale Begegnung schließt ein gemeinsamer Spaziergang von Rebecca und Stephanos am Strand an, über den die Erzählung ihre Protagonistin in erlebter Rede reflektieren lässt: „Wie konnte man einen solchen Abend besser beenden als mit einem Spaziergang im Mondlicht?“ (I) Die Antwort auf diese rhetorische Frage gibt Rebecca durch ihr nächtliches Bad im Meer, wodurch sie für Stephanos nur umso begehrlicher erscheint: „[D]as silberne Mondlicht ließ ihr Haar schimmern. Das Wasser lief ihr in Bächen über die Wangen, und die Tropfen glitzerten wie Diamanten auf ihrer Haut. Sie bot einen hinreißenden Anblick.“ (I) Die Darstellung von Rebeccas Badeeinlage während des Strandspaziergangs mit Stephanos folgt demselben Verfahren des erzählerischen Perspektivwechsels, durch das bereits die Begegnung und wechselseitige Wahrnehmung der beiden im Restaurant präsentiert wurde. Indem Rebecca für Stephanos einen „hinreißenden Anblick“ bietet, wird Fiskes Behauptung belegt, dass der Strand „ein Ort des Schauens“ sei, weil hier die „Inbesitznahme der Frau durch den männlichen Blick“ erfolgt.93 Wie schon Luise in der gleichnamigen Idylle von Voß, die sich der bei ihrem Brautabend in ihrem Elternhaus anwesenden Gesellschaft in dem von ihrer Freundin Amalia kunstvoll hergerichteten Hochzeitsputz zeigt und dabei gerade die Blicke der Männer besonders genießt, bemerkt auch Rebecca, dass Stephanos sie vom Strand aus beobachtet. Sein für sie dabei erkennbar werdendes Begehren steigert letztlich das ihre: „Seine Augen hatten einen besonderen Ausdruck angenommen, der sie erregte. Ihre Haut begann zu prickeln, als sein Blick an ihren vom Meerwasser feuchten Lippen hängen blieb.“ (I) Der Blick, durch den sich Stephanos’ Begehren auf Rebecca richtet, erweist sich hier als metonymischer Agens des körperlichen Zusammenseins der beiden, das am Strand erfolgt, sobald Rebecca wie Venus dem Meer entstiegen ist: „Sie standen dicht beieinander, so dicht, dass ihre Körper sich berührten. Rebecca begann zu zittern, und sie wusste, es hatte nichts mit ihrer nassen Kleidung und dem leichten Wind zu tun...“ (I) Die Erzählung bricht an dieser Stelle ab und spart eine Explizierung dessen aus, worauf die Auslassungspunkte hindeuten. Rebeccas Zittern ist dabei weder auf ihre nasse Kleidung noch auf die lustvolle Antizipation einer körperlichen Vereinigung mit Stephanos zurückzuführen, sondern auf die Erfüllung eines von ihr sehnlich gehegten Wunsches, denn in erlebter Rede heißt es im Anschluss an diese Strandszene: „Wie oft hatte sie 93

Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 68, Hervorhebung i.O.

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sich heimlich in ihren Träumen vorgestellt, an einem romantischen Ort mit einem faszinierenden Mann bei Mondlicht [...] zusammen zu sein?“ (I) Die Idylle am korfiotischen Strand bewirkt für Rebecca also einen Einbruch des Imaginären ins Reale, weil sich im Zusammensein mit Stephanos ihr heimlicher Traum erfüllt. Die nächtliche Szenerie, die immer wieder durch die Erwähnung des Mondlichts aktualisiert wird, verweist dabei symbolisch einerseits auf Rebeccas Traum zurück, der dem Roman seinen Titel gibt, und andererseits auf das narrative Schema jeder Kitscherzählung, das im Ausgleich eines Mangels besteht. Wie herausgestellt, liegt dieser für Rebecca in einem fehlenden Partner, den sie in Stephanos finden wird – schließlich steht der Mond symbolisch nicht nur für das Weibliche, sondern wird überdies auch mit dem ebenfalls auf das Weibliche verweisenden Element des Wassers als ‚feucht‘ charakterisiert; darüber hinaus gilt der Mond als Partnerin der symbolisch männlich konnotierten Sonne.94 Innerhalb des Syntagmas der idyllischen Strandszenen, in denen der Roman seine beiden Protagonisten präsentiert, kommt der durch den Mond symbolisch angezeigten Zeitlichkeit insofern eine bedeutsame Funktion zu, als der nächste Ausflug, den Rebecca und Stephanos zu einem Strand unternehmen, nicht nachts, sondern tagsüber erfolgt. Mit dieser zeitlichen Kontrastierung wird angezeigt, dass Rebeccas Wunsch nicht länger ein heimlicher Traum bleibt, sondern für sie Wirklichkeit wird. Die Erzählung knüpft hier direkt an das an, was zuvor während der ersten körperlichen Annäherung nach dem nächtlichen Bad im Meer ausgespart geblieben ist: Das nächste Wiedersehen von Rebecca und Stephanos erfolgt bei einem Ausflug, als der ‚Eingeborene‘ der Urlauberin die Insel und damit die Heimat seiner Kindheit zeigen will. Als Ort für ihr mittägliches Picknick wählt Stephanos mit dem „grasbewachsenen Fleck unter einem riesigen Olivenbaum“ einen idyllischen Lagerplatz, wo er Rebecca nicht nur lukullische Genüsse anbietet: „‚Ich möchte mit dir schlafen – hier, im Sonnenlicht‘, sagte er [...]. Rebecca errötete tief. Weniger, weil seine direkte Art sie verlegen machte, sondern vielmehr, weil er genau das ausdrückte, was auch sie sich wünschte.“ (II) Dass Stephanos sein Begehren gegenüber Rebecca explizit macht, liegt an der Einsicht, zu der er während des gemeinsamen Ausflugs gekommen ist: „Ihm war, als seien sie füreinander geschaffen [...].“ (II) Da er jedoch gegenüber Rebecca nicht erwähnt, dass er in ihr die ‚wahre Liebe‘ gefunden zu haben glaubt, bleibt diese im Unklaren über Stephanos’ Absichten und seine unzweideutigen Avancen. Diese Unsicherheit löst in Rebecca „Angst vor der Macht der Gefühle“ aus, „die sie in ihren Bann geschlagen hatten“ (II). Da sie fürchtet, „jede Kontrolle über sich zu verlieren“, lehnt sie Stephanos Angebot, mit ihr zu schlafen, ab (II). Diese idyllische Kitscherzählung folgt damit also ebenfalls dem Programm eines ‚coitus procrastinatus‘, das – wie gezeigt – die Luise von Voß strukturiert. Anders als in der Voß’schen Idylle wird das beständig iterierte Begehren 94

Vgl. Stichwort ‚Mond‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 197f.

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hier aber nicht ins Symbolische, sondern in den Bereich des Imaginären ausgelagert, denn nachdem Rebecca den Beischlaf mit Stephanos abgelehnt hat, lädt die Erzählung ihre LeserInnen ins ‚Kopfkino‘ der Protagonistin ein: „Ein Bild stieg vor [Rebeccas] innerem Auge auf. Sie sah sich und Stephanos nackt auf dieser Decke liegen, spürte seine Liebkosungen und stellte sich vor, wie sie sich unter dem Olivenbaum liebten...“ (II) Rebeccas Tagtraum veranschaulicht, dass sie Stephanos’ Begehren zwar teilt, ihrem eigenen aber insofern noch keine Erfüllung gewährt, als die Kompatibilität zwischen ihr und dem griechischen Mann bislang nur für die LeserInnen offensichtlich ist. Durch den erzählerischen Wechsel zwischen Rebeccas und Stephanos’ Innensicht wissen diese schließlich bereits vor den Figuren, was beide füreinander empfinden. Für die Protagonisten der Erzählung bedarf es also weiterer Zeichen, durch deren Decodierung sie erkennen können, dass sie füreinander ‚gemacht‘ sind. Hierfür wird der Strand erneut zu einem signifikanten Ort, schließlich ist dem Körper „in diesem anomalen Streifen Sichtbarkeit gestattet, die ihm in den kulturell zentralen Umfeldern verwehrt“ bleibt.95 Diese besondere Sichtbarkeit wird in einer weiteren Badeszene am Strand herausgestellt, die sich an Rebeccas und Stephanos’ Picknick anschließt: „Rebecca kam aus dem Wasser, ihr Körper war nass und schimmerte im hellen Licht der Sonne. In den vergangenen Tagen hatte ihre Haut eine leichte Bronzefärbung angenommen, die ihr ausgesprochen gut stand. Stephanos nahm den Anblick in sich auf und spürte wieder dieses Verlangen nach ihr.“ (II) Diese Passage verweist auf das nächtliche Bad im Meer nach dem ersten Spaziergang von Rebecca und Stephanos zurück, jedoch zeitigt die Wiederholung eine entscheidende Variation. Sie besteht aber weniger im Wechsel der Tageszeit, als vielmehr in Rebeccas nun nicht länger heller, sondern bronzefarbener und damit offenbar von der Sonne inzwischen gebräunter Haut. Hierdurch avanciert die Protagonistin zu einem Zeichen, das von Stephanos gedeutet werden kann, denn wie Fiske mit Bezug auf den Strand herausstellt, liegen Frauen dort „nicht nur in der Sonne, um braun zu werden [...], sondern sie konstituieren sich selbst als Trägerinnen von Bedeutungen für Männer“.96 Die Bedeutung, die Rebeccas sonnengebräunter Haut im Kontext der Kitscherzählung zukommt, ist ihre augenfällig werdende Kompatibilität mit Stephanos, dessen dunkler Teint Rebecca bei der ersten Begegnung als besonderes Merkmal seiner äußeren Erscheinung wahrgenommen hat. Dass Rebeccas Sonnenbräune in dieser Strand-Szene tatsächlich zeichenhaft zu verstehen ist, folgt aus der weiteren Darstellung, die die Erzählung aus Stephanos’ Perspektive gibt: Rebecca blieb stehen. Die Wassertropfen liefen an ihrem wohlgeformten Körper hinab, und sie streckte sich ausgiebig in der Sonne. [...] Sie trug einen knapp 95 96

Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 68. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 68.

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Paradigmen der Idylle sitzenden Tanga, dessen Oberteil ihre festen runden Brüste aufregend betonte. Er hatte das Gefühl, dass sie sich und ihren Körper in diesem Augenblick einfach nur genoss und nicht daran dachte, welch erregendes Bild sie bot. [...] Nun strich sie sich mit den Fingern durch das feuchte Haar und hob den Kopf gegen die Sonne, dabei lächelte sie. (II)

Rebecca, die sich nach dem Bad im Meer am Strand in der Sonne räkelt, bietet tatsächlich insofern ein erregendes Bild, als ihre erzählerische Präsentation auf eine ikonographische Tradition rekurriert, die bis auf Sandro Botticellis berühmtes Gemälde zurückgeht, das zeigt, wie die Liebesgöttin Venus dem Meer entsteigt. Den topischen Status dieser Ikonographie belegt ihre Integration in die visuelle Enzyklopädie der Populärkultur, denn nicht nur die beiden James-Bond-Filme DR. NO (Regie: Terence Young, GB 1962) und DIE ANOTHER DAY (Regie: Lee Tamahori, GB/USA 2002) spielen mit dem Motiv der an einem Strand dem Meer entsteigenden weiblichen Schönheit (die im Fall des ersten Films von Ursula Andress, im Fall des zweiten von Halle Berry gemimt wird) – es findet sich auch in anderen Kitscherzählungen, wie dem Roman Korfu – Paradies der Liebe.97 Nachdem der erste gemeinsame Ausflug von Rebecca und Stephanos über Land geführt hat, geht es beim nächsten hinaus aufs Meer. Dieser Nicht-Ort wird durch die Jacht des wohlhabenden Geschäftsmannes zu einer Idylle, wie sie das Traumschiff in der gleichnamigen TV-Serie darstellt – und das liegt nicht etwa nur daran, dass der für Stephanos auf der Jacht arbeitende Steward denselben Namen trägt wie derjenige des Traumschiffs. In der Idylle auf See kommt es zwischen den beiden zu weiteren körperlichen Annäherungen: „Stephanos fasste sie um die Taille [...]. [...] Langsam glitten seine Hände etwas tiefer, und er zog sie dicht zu sich heran, dass sich ihre Schenkel gegeneinander pressten. [...] Rebecca legte ihm die Hände auf die Schulter, ohne es recht zu bemerken.“ (III) Anders als bei den ersten Avancen während des Picknicks ist Rebecca diesmal alles andere als zurückhaltend: „[S]ie wollte alles ausprobieren, jetzt, wo er sie so festhielt, wo der tiefblaue Himmel sich über ihnen spannte und das Meer silbern in der Sonne schimmerte. Sie schmiegte sich an ihn.“ (III) Dergestalt verbunden, gerät Rebecca in den

97

Hier findet sich der materiale Topos allerdings nicht in Form eines Strandes, sondern als swimming pool in einem idyllischen Garten. Nachdem Carrie in diesem Pool ein Bad genommen hat, wird sie von Nikos beim Verlassen des Schwimmbeckens beobachtet. Die erzählerische Darstellung ist sowohl hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung wie auch der Wirkung auf den männlichen Voyeur kongruent mit derjenigen der Strand-Szenen in Rebeccas Traum: „Der Umstand, dass sie [d.i. Carrie, N.J.] gerade wie eine Nixe aus dem Wasser gestiegen war, trug nicht gerade zu seiner [d.i. Nikos, N.J.] Beruhigung bei. Sofort erinnerte er sich an ihren letzten gemeinsamen Abend, an ihre Umarmung, den Kuss... Instinktiv sog er ihren verführerischen Anblick in sich auf. Ihre atemberaubenden Kurven waren in einen winzigen schwarzen Bikini gehüllt, und perlende Nässe lag auf ihrer zart gebräunten Haut. Sein Körper reagierte augenblicklich.“ (Rivers: Korfu – Paradies der Liebe, IV)

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idyllischen Zustand einer ‚glückseligen Parenthese‘, wie sie schon Luise und ihr Verlobter Walter erleben. Diese empfindet Rebecca als eine die Zeit suspendierende absolute Gegenwart, denn für sie gibt es „[k]eine Wahl, keine Vergangenheit und auch keine Zukunft. Nur das Jetzt.“ (III) Nicht nur Stephanos’ Jacht erweist sich als Idylle – der buchstäbliche ‚Kinetopos‘ des Schiffs macht den Protagonisten weitere idyllische Orte zugänglich, wie etwa eine „hübsche kleine Bucht“, die für eine längere Badepause genutzt wird: „Das Wasser war erfrischend kühl und kristallklar. Mit einem Seufzer des Wohlgefühls ließ sich Rebecca hineingleiten.“ (III) Diese – innerhalb der Erzählung inzwischen dritte – Strandszene avanciert für Rebecca zu einem Ort der Erkenntnis über ihre Beziehung zu Stephanos. Badend reflektiert sie über alles, was sich in der kurzen Zeit zwischen ihm und ihr ereignet hat: „Hier, nur einen Meter weit von ihr entfernt, gab es den Mann, der sie alles über ihre Bedürfnisse lehrte, ihre Wünsche und die Verletzlichkeit ihres Herzens.“ (III) Diese Passage steht analog zu der von Stephanos formulierten Einsicht, dass er und Rebecca füreinander geschaffen seien. Indem nun auch Rebecca dasselbe empfindet wie Stephanos, sind die beiden Sonnengebräunten also nicht nur ‚äußerlich‘ miteinander kompatibel, sondern auch ‚innerlich‘. Dies wird durch Rebeccas zweite Erkenntnis belegt: „Denn wenn er mich in seinen Armen hält, fühle ich mich nicht schwach und unerfahren. Ich finde mich schön, begehrenswert und ein wenig verrucht.“ (III) Mit Bezug auf die schematische Struktur der Kitscherzählung wird hierdurch angezeigt, dass Stephanos für Rebecca der einzige und einzig richtige Mann ist, um den Mangel eines bislang fehlenden (Lebens- und Liebes-) Partners auszugleichen: Durch die Reproduktion heteronormativer Genderklischees im (literarischen) Kitsch verweist Rebeccas Reflexion zudem auf das Ideologem der einzig wahren Liebe, die allein deshalb gefunden werden muss, weil die weibliche Protagonistin sich solange als minderwertig und nicht begehrenswert fühlt, bis sie ihren männlichen Gegenpart gefunden hat, der sie endlich zu einer ‚vollwertigen‘ Frau macht. Von ihrer ersten Begegnung an stellt Stephanos für Rebecca zweifelsfrei diesen Gegenpart dar. Erzählerisch wird das in dieser dritten Strand-Szene durch eine Parallelisierung nochmals deutlich, denn auch Stephanos bietet beim Verlassen des Wassers einen begehrenswerten Anblick. Entsprechend wird er in derselben Weise dargestellt wie zuvor Rebecca: „Seine Haut hatte einen Goldschimmer, und das Wasser rann in kleinen Bächen über seine breite Brust. Die Sonnenstrahlen ließen sein feuchtes Haar schimmern, und seine Augen hatten die gleiche Farbe wie das Meer.“ (III) Der offenbar durch das sich auf der feuchten Haut brechende Sonnenlicht hervorgerufene Effekt des Goldschimmers korrespondiert mit Stephanos’ ‚blendendem‘ Aussehen, schließlich steht Gold symbolisch für Vollkommenheit.98 Zudem verweist dieses edelste aller Metalle auf 98

Vgl. Stichwort ‚Gold‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 104f, hier: S. 104.

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die Sonne, die ihrerseits als Symbol Apollos für die männliche Schönheit steht.99 Nachdem Rebecca in den vorangehenden Strandszenen mit dem Mond assoziiert wurde und Stephanos komplementär dazu hier nun mit dem größten Himmelskörper in Verbindung gebracht ist, erscheinen die beiden Protagonisten auch auf der Ebene der Symbolik als ein füreinander bestimmtes Paar. Dieser symbolischen ‚(Ver-)Kuppelei‘ von Rebecca und Stephanos korrespondiert die dann folgende Assoziierung des männlichen Protagonisten mit dem Bereich des Weiblichen, die darstellerisch durch einen Vergleich von Stephanos’ Augenfarbe mit der des Meeres erfolgt. Hierdurch wird insofern die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen ihm und Rebecca symbolisch antizipiert, als Stephanos zuvor über genau diese Möglichkeit reflektiert hat und seine Gefühle mittels einer Redensart veranschaulicht, die bezeichnenderweise durch eine Wassermetapher auf das noch nicht verwirklichte, aber in zweifelsfreier Aussicht stehende Zusammensein der beiden Liebenden als Paar verweist: „Es gibt Zeiten im Leben, dachte er dann, wo ein Mann dem Schicksal vertrauen und ohne zu zögern einfach ins kalte Wasser springen sollte...“ (II) Der redensartliche ‚Sprung ins kalte Wasser‘ macht hier deutlich, dass Stephanos erst dann mit Rebecca zusammen sein kann, wenn er das, was die Metapher im übertragenen Sinn veranschaulicht, in die Tat umgesetzt hat. Dies erfolgt während des gemeinsamen Jachtausflugs, als er und Rebecca zusammen in der idyllischen Bucht baden. Stephanos’ Sprung ins weiblich konnotierte Element des Wassers korrespondiert mit jener buchstäblich ‚oberflächlichen‘ Annäherung zwischen den beiden, die durch Rebeccas zunehmend gebräunte Haut erfolgt. Indem also von beiden Seiten die Kompatibilität symbolisch hergestellt ist, steht dem Zusammenkommen der beiden als Liebespaar nichts mehr im Weg. Dies wird in der Erzählung als ein idyllischer Zustand veranschaulicht, wobei der materiale Topos in diesem Fall insofern in die beiden Figuren verlagert ist, als sie mit ihrer Umgebung nachgerade zu verschmelzen scheinen. Dazu wird zunächst die idyllische Bucht aus Stephanos’ Perspektive beschrieben, die er panoramisch überblickt, als er Rebecca beim Baden im Meer beobachtet. Erneut bietet sie ihm dabei „ein schönes Bild“: „Stephanos schaute sich in der kleinen Bucht um [...]. Er konnte die Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche tanzen sehen, die kleinen Wellen, die sich durch ihre Bewegungen um Rebecca herum ausbreiteten.“ (III) Idyllisch attribuiert wird dieser Strand, über den „[b]unte Schmetterlige flatterten“, insbesondere durch die mehrfache Wiederholung des Adjektivs ‚klein‘ sowie durch den Eindruck einer scheinbar unberührten Natur, denn wie Adam und Eva im Paradies sind die beiden allein in der Bucht – „ansonsten war [der Strand] leer“ (III). Für Stephanos ermöglicht dies ein besonders intensives Empfinden, das ihn in eine solche Nähe zu der 99

Vgl. Stichwort ‚Sonne‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 275–282, hier: S. 279.

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ihn umgebenden Natur versetzt, wie sie nicht einmal Goethes Werther erreicht, als er „im hohen Grase am fallenden Bache“ liegt und „das Wimmeln der kleinen Welt zwischen den Halmen“ um sich herum spürt:100 „Es herrschte Stille, beinahe eine unwirkliche Stille, nur die leichten Wellen schlugen mit einem immer gleichen Geräusch ans Ufer. Und [Stephanos] fühlte sich entspannt und eins mit seiner Umgebung.“ (III) Das, was Stephanos an diesem Strand als ein idyllisches Einssein mit seiner Umgebung empfindet, figuriert Rebecca buchstäblich, indem sie nach dem Baden in der Brandungszone, also jenem transitorischen Ort verweilt, der den Übergang zwischen Land und Meer markiert und zugleich verwischt: Am Ufer „legte sie sich so hin, dass sie halb im erfrischenden Wasser lag. Der feine Sand klebte an Haut und Haaren, aber sie kümmerte sich nicht darum.“ (III) Dergestalt erscheint Rebecca mit dem Strand verbunden und körperlich zum Teil dieser Idylle zu werden. Das ergänzt Stephanos’ geistige Verschmelzung mit dem lieblichen Ort. Dieses komplementäre ‚Eintauchen‘ der beiden Figuren in die Idylle macht deren besondere Funktion als Kulisse für die Kitscherzählung evident, denn der Strand avanciert zu einem funktionalisierten Isotopos: Er macht die beiden Protagonisten gleich, um sie als Liebespaar kompatibel zu machen und schließlich zusammenzuführen. Insofern strahlt ein Stück der Idylle auch an jenem Ort nach, an dem die Erzählung das finale Zusammenkommen ihrer beiden Protagonisten präsentiert: „Stephanos trug Rebecca langsam ins andere Zimmer. Die Sonne schien auf das Bett, als er sie langsam daraufgleiten ließ und sich zu Rebecca legte. [...] Sie hatte mit ihm die Verzweiflung erlebt, die die Liebe mit sich bringen konnte, und auch die Hitze der Leidenschaft. Aber nun zeigte er ihr, was Liebe noch bedeutete.“ (IV) So wie der Strand in diesem Roman eine Variante des materialen Topos darstellt, verweist auch das von der Sonne beschienene Bett gewissermaßen metonymisch auf die Idylle zurück. Dasselbe gilt für eines derjenigen Elemente, das laut Curtius „[d]ie reichste Ausführung“ des locus amoenus kennzeichnet: der Windhauch.101 Dieser ist in Rebeccas Traum jedoch nicht an den lieblichen Ort des Strandes gekoppelt. Das zeigt bereits die erste Begegnung von Rebecca und Stephanos im Restaurant, als dieser zur Begrüßung ihre Hand küsst. Die „Berührung“ durch seine „warmen Lippen“ ist für sie „wie ein Hauch“ (I). Das gleiche empfindet sie, als es während ihres ersten gemeinsamen Ausflugs über die Insel zu einer erneuten Berührung kommt: „Dann hob er langsam die Hand und strich Rebecca leicht über die Wange. Es war kaum wie ein Hauch.“ (II) Auch bei ihrem zweiten Ausflug, der mit der Jacht in die einsame Bucht führt, kommt es zu körperlichen Annäherungen: Stephanos küsst Rebecca „hauchzart auf die Stirn“ und für sie ist die Berührung durch seine Lippen abermals „wie ein Hauch,“ denn „sie 100 101

Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA: VI, S. 9. Curtius: Europäische Literatur, S. 202.

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spürte sie kaum“ (III). Während die sprachliche Darstellung von Rebeccas Wahrnehmung der kaum spürbaren Berührungen intertextuell auf Goethes Gedicht „Ein gleiches“ zu verweisen scheint,102 avanciert der für den locus amoenus charakteristische Windhauch hier deshalb zu einem idyllischen Attribut von Stephanos, weil sein ‚Hauchen‘ letztlich analog zum göttlichen Pneuma steht und damit das Idylle-Machen als genuin männliches Prärogativ reklamiert: Stephanos ist nämlich tatsächlich insofern idyllisch produktiv, als er Rebecca durch die von ihm geplanten und durchgeführten Ausflüge in die Idylle bringt. Dadurch wird sie – wie gezeigt – zunehmend kompatibler mit dem von ihr begehrten Mann, sodass beide am Ende als Liebespaar vereint sein können: und das bis in eine suggerierte Ewigkeit, denn Stephanos hält um Rebeccas Hand an.

4.1.2Natur, Natürliches, Kultur: Fiskes Strand und Barthes’ Mythos Wenn Michel Foucault die Gegenwart – seine Gegenwart, zunächst die der späten 1960er und dann der frühen 1980er Jahre – als „Zeitalter des Raumes“ beschreibt,103 dann unternimmt John Fiske mit seiner kultursemiotischen Untersuchung des Strandes eine strukturalistische Erschließung dieser „anomal[en] Kategorie zwischen Land und Meer“104 als Raum der Lage. Laut Foucault wird die Lage „durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen“ bestimmt und die strukturalistische Kategorie der Zeit erscheint hierfür „nur noch als eine der möglichen Verteilungen der über den Raum verteilten Elemente“.105 Die Kategorie der Zeit scheint bei Fiske denn auch tatsächlich ganz verdrängt, obwohl sie implizit weiterhin ‚präsent‘ ist – wie etwa in der kulturellen Bedeutung des (australischen) Strandes als einem besonderen Ort, der zu besonderen Zeiten zur Ausübung besonderer kultureller Praktiken aufgesucht wird. Deshalb klingen im Begriff ‚holidays‘ etymologisch auch noch immer die ‚Holy Days‘ nach.106 Zeitlichkeit ist auch dann impliziert, wenn Fiske die von ihm herausgearbeiteten Strand-Paradigmen nacheinander am Beispiel konkret benennbarer Strand-Orte an der australischen Küste in seiner schematischen Darstellung ‚durchschreitet‘.107 Er unterteilt 102

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„Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, bade / Ruhest du auch.“ (Goethe, Johann Wolfgang: „Ein gleiches“, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. I: Gedichte und Epen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 142, Hervorhebungen N.J.) Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“ [Vortrag 1967, Publikation 1984], übersetzt von Michael Bischoff, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrance, Bd. IV: 1980–1988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 931–942, hier: S. 931. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 56. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 933. Vgl. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 56. Vgl. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 71.

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dabei den Kontext des Strandes in verschiedene Zonen und beschreibt deren wie auch das Verhältnis der sich dort befindlichen Elemente zueinander. Dieser Ansatz soll hier in Bezug auf die Idylle aufgenommen und ausgeweitet werden zu einer semiotopischen Betrachtung der Idylle, d.h. der sie konstituierenden Elemente und zwar anhand idyllischer Orte als spezifische Konkretionen des materialen Topos. Dafür bildet der locus amoenus als ‚oikos‘ all dieser Orte den Ausgangs- und Fluchtpunkt der nachfolgenden Betrachtungen. Dabei geht es allerdings nicht darum, Fiskes Ansatz eins zu eins auf das po(i)etische ‚Gebiet‘ der Idylle zu übertragen, sondern um die Aufnahme und das modifizierende Weiterdenken der Potenziale von Fiskes Semiotik des Strandes, um das daraus entwickelte Modell für eine Untersuchung des materialen Topos in unterschiedlichen literarischen Formen und medialen Formationen analytisch produktiv zu machen. Wie im vorangehenden Kapitel durch eine Untersuchung der funktionalisierten Darstellung des Strandes auf Korfu, das den idyllischen Schauplatz für entsprechende Kitscherzählungen darstellt, gezeigt wurde, bestimmt Fiske den Strand als „eine anomale Kategorie zwischen Land und Meer, die weder das eine noch das andere ist, aber Merkmale beider beinhaltet“.108 Das Attribut ‚anomal‘ hat bei Fiske den Status einer deskriptiven Hilfskonstruktion: Er unternimmt keine Analyse des Strandes in der Perspektive der Normalismusforschung, sondern kennzeichnet den Strand deshalb als anormal, weil er eine Kategorie zwischen zwei anderen Kategorien darstellt. Mit diesen beiden anderen Kategorien, dem Land und dem Meer, steht der Strand in einer spezifischen Verbindung: Weil er nicht deckungsgleich mit ihnen ist, kann er zwischen der Polarität, die sie allein aufgrund des Gegensatzes von ‚fest, zugänglich, urbar‘ vs ‚flüssig, unzugänglich, lebensfeindlich‘ darstellen, vermitteln. Die strukturelle ‚Anomalität‘ des Strandes steht analog zu Foucaults Definition der Heterotopien, die besondere Orte sind, „denen die merkwürdige Eigenschaft zukommt, in Beziehung mit allen anderen Orten zu stehen, aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie zur Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren“.109 Weil Heterotopien „in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen“, ist ihnen eine topographische Ambivalenz eigen, die sie zu einem ebensolchen ‚Zwischenort‘ wie Fiskes Strand macht.110 Als ein ‚Zwischenort‘ entspricht der Strand dem Schiff, dessen idyllische Disposition durch die vorangehende Untersuchung der TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF im Kontext der für die Idylle konstitutiven Dimension der Serialität herausgestellt wurde. Wie das Schiff steht der Strand daher ebenfalls in Analogie zur Heterotopie: Da sich das schwimmende Gefährt, das den Nicht-Ort des Meeres durchquert, um seine Passagiere während ihrer idyllischen Ferien zu anderen Ferienidyllen fernab des Alltags in ihrer Heimat zu befördern, als ein locus amoenus und damit als eine Konkretisierung des materialen 108 109 110

Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 56. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 934. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 934.

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Topos der Idylle betrachten lässt, gilt das auch für den Strand. Die auf Korfu spielenden Kitscherzählungen belegen dies eindrücklich und zugleich veranschaulichen sie jene ‚universelle Verkitschung‘, wie sie im Anschluss an Jean Pauls theoretische Fassung der Idylle herausgestellt wurde: Als idyllischer Ort avanciert der Strand in diesen Texten zur amönen Kulisse, wo der Mangel als erste der beiden für die Kitscherzählung konstitutiven Funktionen für die Protagonistin spürbar und problematisch wird und wo es schließlich zur Begegnung mit der begehrten Person kommt. Mit Bezug auf diese zweite Funktion wirkt der Strand innerhalb der Kitscherzählung insofern vermittelnd, als er die beiden sich lieben lernenden Protagonisten schrittweise zusammenführt. Das geschieht dadurch, dass die Idylle des Strandes sie wechselseitig kompatibel macht. Die Kitscherzählung kann so letztlich ein Liebespaar zusammenbringen, um – gemäß ihrem strukturellen Schematismus – mit dem konstitutiven Happy End einen versöhnlichen Ausgang der erzählten Geschichte zu präsentieren. Das Happy End aktualisiert das für den Kitsch konstitutive Ideologem der einzigen und einzig wahren Liebe, weil sich zwei Personen finden, die – wie es in stereotyper Wiederholung in allen diesen Erzählungen immer wieder heißt – „füreinander geschaffen“ sind.111 Auch Fiske betont die vermittelnde Funktion des Strandes: Dieser ist „so lange ohne Bedeutung, bis unsere Ideologie ihm eine auferlegt“.112 Diese Bedeutung liegt in der Indizierung des seinerseits ‚bedeutsamen Gegensatzes‘ von Land und Meer. Im Zuge dieser Bedeutungskonstitution erweist sich der Strand insofern als kulturell produktiv, als er „das Ideologische zu neutralisieren“ sucht, das ihn zum (natürlichen) Index der Opposition von Land und Meer macht.113 Durch diese ideologische Bedeutungskonstitution mitsamt ihrer gleichzeitigen Neutralisierung erhält der Strand seine vermittelnde Funktion, denn durch ihn bzw. durch die Nutzung des Strandes als Ort für bestimmte kulturelle Praktiken wird „die materielle Struktur Land/Meer mit der sozialen Struktur Natur/Kultur“ überlagert.114 Das, was Fiske als Überlagerung beschreibt, stellt letztlich eine konzeptuelle Fassung der Opposition von Natur und Kultur dar: Im Unterschied zu Kultur erscheint Natur nämlich „als das vom Menschen nicht Veränderte, nicht Geschaffene, als das unabhängig von der Tätigkeit des Menschen Entstandene“.115 Indem Fiske die beiden Kategorien Natur und Kultur als soziale Strukturen bestimmt, wird die konstruktivistische Perspektivierung dieser Opposition deutlich, auf die seine Kultursemiotik gründet: Aus111 112 113 114 115

Roberts: Rebeccas Traum, II. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 58. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 58. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 58. Stichwort ‚Natur‘, in: Philosophisches Wörterbuch [1964], hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, 2 Bd.e, Bd. II: Konflikt bis Zyklentheorie, Berlin [DDR]: das europäische buch 81972, S. 760f, hier: S. 761.

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gehend von dem Axiom, dass letztlich „alles Kultur ist“, hat man es, wenn man über Natur spricht, „prinzipiell nicht mit Natur, sondern mit kulturellen Konstruktionen von ihr zu tun“.116 Auf diese Weise erscheint Natur, die laut Hartmut Böhme „aus systematischen Gründen nicht begrifflich definiert werden“ kann, als ein „semantisches Ensemble“, in dem sich „Menschen kulturell artikulieren“.117 Fiskes Überlagerungen stellen deshalb nicht nur selbst eine der spezifischen „Sprechweisen über Natur“, sondern die Struktur solcher „Verständigungsformen“ dar, die ihrerseits stets „kulturell und historisch [...] differenziert und pluralisiert“ sind.118 Aufgrund einer solchen Überlagerung von materiellen (Land/Meer) mit sozialen Strukturen (Kultur/Natur) erscheint der Strand als eine ‚anomale Kategorie‘, die sich durch weitere, zwischen den Oppositionen (Land/Meer bzw. Kultur/Natur) vermittelnde Zonen genauer bestimmen lässt. Fiske zählt dazu das tiefe wie das flache Wasser auf der einen Seite des Strandes und die Esplanade, den Rasen, die Straße und schließlich die Stadt auf seiner anderen.119 Die von ihm bezeichnender Weise durch das idyllische Verfahren der Überlagerung beschriebene topographische Struktur, die der Strand anzeigt, nennt Fiske deshalb ideologisch, weil sie dazu dient, die beiden geographischen Phänomene bzw. faktisch gegebenen Größen ‚Land‘ und ‚Meer‘ aus der Perspektive der Kultur als Natur lesbar zu machen und das heißt: ihnen ‚Bedeutung‘ zu geben. Diese erscheint dann aber nicht als von Seiten der Kultur ‚zugeschrieben‘, sondern gewissermaßen als ‚natürliche‘ Gegebenheit: Die materielle Struktur ‚Land/Meer‘ ist also zunächst ‚bedeutungslos‘ und ihre Überlagerung mit der sozialen Struktur ‚Natur/Kultur‘, die durch die Kategorie des Strandes vermittelt ist, macht sie für potenzielle Bedeutungen ‚zugänglich‘. Das Gegebene bzw. Angeschaute wird aus Fiskes kultursemiotischer Perspektive somit zum Text, den er definiert als „ein signifizierendes Konstrukt potenzieller Bedeutungen“, die aus „ein[er] Reihe von historisch determinierten Gemeinschaftspraktiken“ hervorgehen, sodass es letztlich möglich wird, den Strand genauso zu ‚lesen‘ wie die durch ihn miteinander in Verbindung stehenden Kategorien Natur und Kultur.120 Die von Fiske gebrauchte Differenzierung zwischen materiellen und sozialen Strukturen lässt sich unter die für das gesamte abendländische Denken seit der Antike zentrale Differenz ‚physis‘ versus ‚nomos‘ subsumieren, in der die „Polarität von ‚Natur‘ und ‚Kul-

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117 118 119 120

Böhme, Hartmut: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. IV: Medien–Populär [2002], Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 432–498, hier: S. 437. Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 432f. Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 433. Vgl. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 57. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 56.

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tur‘“ bereits angelegt ist, wie Erhard Schüttpelz herausstellt.121 Materiell wäre in diesem Sinn alles empirisch-faktisch Gegebene und sozial alles, was erst durch menschliche Einwirkung hervorgebracht ist. Aus diesem Grund steht Fiskes Terminologie analog zu derjenigen der Kulturanthropologie, deren ‚milieu extérieur‘ mit den materiellen Strukturen vergleichbar wäre und das ‚milieu intérieur‘ entsprechend mit den sozialen.122 Das Verfahren der Überlagerung von materiellen mit sozialen Strukturen ist daher grundlegend kulturkonstitutiv. Dies zeigt bereits das älteste, bedeutungsstiftende Modell zur Konstitution von – mit Paul Veyne gesprochen – „Wahrheitswelten“:123 strukturell betrachtet ganz ähnlich verfahrende Mythos, den Pierre Lemonnier in seiner Untersuchung von Elementen einer Anthropologie der Technologie explizit als ein ‚soziales Produkt‘ bestimmt.124 Überall dort, wo Fiske den Begriff der Ideologie gebraucht, ließe sich also mit Roland Barthes vom Mythos sprechen: Ihn definiert er semiologisch als „Aussage“ im Sinn eines „Mitteilungssystem[s]“, weshalb der Mythos zugleich immer „eine Weise des Bedeutens“ darstellt.125 Analog zu Fiskes bedeutungskonstituierenden Überlagerungen legt auch Barthes den synthetisch-generativen Aspekt des Mythos dar, schließlich baue dieser immer „auf einer semiologischen Kette auf[], die bereits vor ihm existiert“.126 Deshalb ist der Mythos als ein „sekundäres semiologisches System“127 in Bezug auf ein primäres zu verstehen, das ein beliebiges Zeichen, „die assoziative Gesamtheit“128 eines Bedeutenden und eines Bedeuteten, zu seinem neuen Bedeutenden macht. Barthes nennt das erste System eine Objektsprache, derer sich das zweite, das mythische System, bemächtigt und deshalb den Status einer Metasprache erhält.129 Als Korrelat von Bedeu121 122

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Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Vgl. Leroi-Gourhan, André: Milieu et technique [1945], Paris: Éditions Albin Michel 1973, S. 336. Als ‚externer Lebensraum‘ einer menschlichen Gemeinschaft ließe sich daher die Natur (bzw. allgemeiner: Umwelt) auffassen, die als Voraussetzung für technische Entwicklungen je nach geographischer Region genauso variabel ist wie der als Kultur (i.w.S.) zu bezeichnende ‚interne Lebensraum‘. Technische Entwicklungen, deren Voraussetzungen André Leroi-Gourhan untersucht, entstehen dabei aus dem Zusammenwirken dieser beiden ‚milieux‘: „On a vu que le fait matériel, observable, est déterminé par le jeu des milieux extérieur et intérieur. Le milieu extérieur, constitué par les traits de position géographique, zoologique, botanique et par ceux du voisinage avec d’autres groupes humains, est très variable d’un groupe à l’lautre; le milieu intérieur qui recèle les traditions mentales de chaque unité ethnique n’est pas moins variable.“ (ebd.) Veyne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft [1983], übersetzt von Markus May, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 28. Vgl. Lemonnier, Pierre: Elements for an Anthropology of Technology, Ann Arbor: University of Michigan 1992, S. 2. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 85, Hervorhebung N.J. Barthes: Mythen des Alltags, S. 92. Barthes: Mythen des Alltags, S. 92. Barthes: Mythen des Alltags, S. 90. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 96.

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tendem bzw. Signifikant und Bedeutetem bzw. Signifikat besitzt das Zeichen des ersten Systems bereits eine Bedeutung, die im zweiten System, dem des Mythos, nicht aufgehoben, sondern dergestalt ‚verarmt‘ bzw. ‚deformiert‘ bzw. ‚entfremdet‘ wird, dass sie als Ganzes zum Bedeutenden des zweiten Systems wird und mit einem weiteren Signifikat verknüpft werden kann. Dabei ist die primäre Bedeutung im zweiten System nicht aufgehoben – sie wird vielmehr ergänzend überlagert.130 Strukturell analog zum Mythos steht nun die von Fiske dargestellte Überlagerung der materiellen Struktur Land/Meer mit der sozialen Natur/Kultur, wodurch eine den zu konstituierenden Gegensatz ‚Natur vs Kultur‘ überhaupt erst vermittelnde dritte Kategorie etabliert wird: das Natürliche. Zur konzeptuellen Fassung des Natürlichen bezieht sich Fiske auf Claude Lévi-Strauss’ Unterscheidung zwischen ‚Natur‘ und ‚Natürlich‘: „Natur ist prä-kulturelle Realität. Sie ist jene äußere Welt, bevor irgendwelche kulturelle Wahrnehmung oder Prozesse der Sinnproduktion auf sie angewendet werden. Mit anderen Worten ist das Natürliche ein kulturelles Produkt, und Natur existiert allein als konzeptioneller Gegensatz zur Kultur.“131 In diesem Sinn erscheint das ‚Natürliche‘ bei Fiske als das, was Böhme mit Bezug auf die Romantik ‚Natürlichkeit‘ nennt und darunter eine „Haltung des Menschen“ versteht, „worin dieser der Natur nahe ist“.132 Das heißt nun konsequenterweise, dass es Natur als ‚prä-kulturelle Realität‘ immer nur als eine nachträgliche Setzung in Bezug auf ein Konzept von Kultur geben kann. Insofern wird Natur erst durch die Vermittlungskategorie des Natürlichen zu jenem „Relationsbegriff“, von dem Böhme spricht,133 denn um die Polarität von Natur und Kultur überhaupt zu konstituieren, muss die kulturelle Setzung von ‚Natur‘ gewissermaßen kaschiert und die Logik dieser Setzung so umkehrt werden, als sei Kultur aus Natur hervorgegangen (dies wird im folgenden dritten Teil dieses Kapitels als kulturell produktive ChronoLogik der Idylle untersucht). Bei Fiske ist es das ‚Natürliche‘, was dieses Kaschieren bewirkt, weshalb der Strand, der als anomale Kategorie vermittelnd zwischen zwei anderen Kategorien steht, unter dem ‚Natürlichen‘ zu subsumieren ist. Als Konkretion des materialen Topos der Idylle stellt der Strand damit zugleich eine „medial[e] Vergegenständlichung von Natur“ dar, denn „[a]ls was uns Natur gilt, wird durch alle drei basalen Kulturtechniken – Bild, Schrift und Zahl – konstituiert“.134 Dies veranschaulicht insbesondere Jean-Jacques Rousseaus Konzept eines „état de Nature“,135 mit dem der Genfer Philosoph über die 130 131 132 133 134 135

Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 97, 102. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 58. Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 437. Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 433. Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 435. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, in: ders: Œuvres complètes, hrsg. unter der Leiung von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Bd. III: Du contrat social, Écrits politiques, Paris: Éditions Gallimard 1964, S. 109–223, hier: S. 132.

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Natur des Menschen sowie die Gründe für die Verderbnisse der Kultur reflektiert und den dazu entworfenen Zustand als einen möglichen, vielleicht niemals gewesenen und vielleicht auch niemals existierenden zum hypothetischen Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Der Naturzustand veranschaulicht daher letztlich das, was Böhme herausstellt: „Über Natur sprechen [...], heißt schon woanders stehen, in einem anderen Medium, in einer Distanz und Fremde, die nicht einfach in Wort, Bild oder Zahl aufgehoben werden kann.“136 Dem von Böhme hier angesprochenen Problem begegnet die idyllische poiesis, die durch das für sie konstitutive Fingieren des Fingierens letztlich suggeriert, man könne sehr wohl unvermittelt über Natur sprechen – die sich bei Rousseau sowie in der Rousseau-Rezeption findenden idyllischen Überlagerungen machen dies evident. Was Fiske als die zwischen den Polaritäten Natur und Kultur vermittelnde Funktion der Kategorie des Natürlichen beschreibt, entspricht jenem „Natürlichmachen“, das Barthes als „die wesentliche Funktion des Mythos“ bezeichnet.137 Aufgrund dieser Funktion erweist sich der Mythos als „eine gestohlene und zurückgegebene Aussage“.138 Die hier herausgestellte Analogie zwischen der Funktion des Natürlichen bei Fiske und derjenigen des Natürlichmachens bei Barthes ist insofern kein homonymer Trugschluss, als das „eigentlich[e] Prinzip des Mythos“ darin besteht, „Geschichte in Natur“ zu verwandeln.139 Hierin entsprechen sich der Mythos und Fiskes Kategorie des Natürlichen in Bezug auf ihr bedeutungskonstitutives Potenzial, denn für beide gilt: „[A]lles vollzieht sich [...] auf natürliche Weise“, so „als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete“.140 Barthes kann dies behaupten, weil er den Mythos als eine Aussage betrachtet und deshalb zugleich als „ein semiologisches System, das vorgibt, über sich selbst in ein Faktensystem hinauszugehen“.141 Dasselbe gilt für die Kultursemiotik des Strandes mit ihrer Überlagerung materieller durch soziale Strukturen, denn was Fiske als ‚Neutralisierung‘ ebendieser Überlagerung beschreibt, entspricht dem ‚Natürlichmachen‘ des Mythos bei Barthes. Aufgrund dieser ‚Neutralisierung‘ bzw. dieses ‚Natürlichmachens‘ der (kulturellen Setzung der) Polarität von Natur und Kultur konnotieren beide einander implizit immer wechselseitig als ihr jeweiliges Gegenteil – und das ‚Natürliche‘ ist ihnen gewissermaßen als zweites Konnotat gemeinsam. Hierdurch wird der wechselseitige Ausschluss des einen vom anderen (Kultur ist nicht Natur, weil Natur nicht Kultur ist) sowohl etabliert als auch suspendiert. Der Strand veranschaulicht das, weil er in der Weise nicht mehr Natur ist, wie er noch nicht Kultur ist (und umgekehrt) – und deshalb in die Kategorie des Natürlichen fällt. 136 137 138 139 140 141

Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 437. Barthes: Mythen des Alltags, S. 114. Barthes: Mythen des Alltags, S. 107. Barthes: Mythen des Alltags, S. 113. Barthes: Mythen des Alltags, S. 113, Hervorhebung i.O. Barthes: Mythen des Alltags, S. 119.

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Das Natürliche vermittelt also bei Fiske die mit Barthes mythisch zu nennende Überlagerung von materiellen Strukturen (Meer/Land) mit sozialen (Natur/Kultur). Um diese Funktion des Natürlichen hierbei genauer zu erfassen, ist es notwendig, Barthes’ Mythen-Konzept konkreter zu beleuchten, denn terminologisch beschreitet er damit einen komplizierten Weg verschiedener begrifflicher Transpositionen zur Beschreibung des sekundären semiologischen Systems: Innerhalb des ersten Systems bezeichnet Barthes das Bedeutende, also den Signifikanten, als Sinn und das Bedeutete, also das Signifikat, als Begriff. Die Korrelation aus beiden bildet – analog zum linguistischen Modell Ferdinand de Saussures – das Zeichen. Auf der zweiten Ebene, der des Mythos, ist das Bedeutende die Form und das Bedeutete abermals der Begriff. Die Korrelation aus beiden bildet den Mythos und der gilt Barthes als die Bedeutung.142 Der Mythos stiftet also immer eine Form (Signifikant des zweiten Systems) für einen Sinn (Signifikant des ersten Systems) und verknüpft beide mit einem Begriff (Signifikat). Dabei ist zu beachten, dass der Signifikant des zweiten Systems die zeichenhafte Gesamtheit der Korrelation von Signifikant und Signifikat des ersten Systems immer schon umfasst. Fiskes materielle und soziale Strukturen ließen sich nun ihrerseits einmal als Signifikat und einmal als Signifikant auffassen, die zeichenhaft zusammengeschlossen werden, wobei die materiellen Strukturen dem mythischen Sinn und die sozialen der mythischen Form entsprechen. Durch ihre gegenseitige Überlagerung erhalten sie Bedeutung: Das reale, außersprachlich-faktische Phänomen des Meeres, das konstitutiv unterschieden ist vom Land (flüssig vs fest), wird durch diesen Prozess nicht nur deshalb ‚sinnhaft‘, weil es als ‚Meer‘ bezeichnet wird (1. System: Objektsprache); es erhält gerade dadurch Bedeutung, dass es den Bereich der Natur ‚formiert‘ (2. System: Metasprache), die ihrerseits nicht Kultur ist. Entsprechendes gilt für das Phänomen des Landes. Dem Verhältnis der beiden Strukturen, das somit als eines zwischen Signifikat (Meer/Land) und Signifikant (Natur/Kultur) aufgefasst werden kann, liegt die Logik des Mythos zugrunde, der Signifikant und Signifikat in eine spezifische Beziehung zueinander setzt, die natürlich zu nennen ist: „Die Sache, die bewirkt, daß die mythische Aussage gemacht wird, ist vollkommen explizit, aber sie gerinnt zu Natur. Sie wird nicht als Motiv, sondern als Begründung gelesen“, sodass es tatsächlich scheint, „als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete“.143 Der Überlagerungsprozess konstituiert also eine ‚natürlich‘ erscheinende Beziehung zwischen den Strukturen gemäß der ihnen jeweils eingeschriebenen Oppositionen: Das Land wird dem Bereich der Kultur, das Meer dem Bereich der Natur zugeordnet. Analog zur Struktur des Mythos bewirkt diese etablierte Relationierung, dass „das Bedeutete durch das Bedeutende rational“ erscheint.144 Darin liegt laut Barthes die wesentliche 142 143 144

Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 96. Barthes: Mythen des Alltags, S. 113, Hervorhebung i.O. Barthes: Mythen des Alltags, S. 113, Hervorhebung N.J.

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Funktion des Mythos: „das ‚Natürlichmachen‘ des Begriffs“, also des Signifikats.145 Durch das ‚Natürlichmachen‘ lässt sich die durch die Überlagerung erzeugte oppositionale Doppel-Korrelation (Meer = Natur vs Land = Kultur) als ‚natürlich‘ begreifen, weil sie motiviert und deshalb – im Sinn von Barthes’ Bedeutungsstiftung durch den Mythos – gleichsam zweifelsfrei begründet scheint. Eine solcherart ‚künstlich‘ gemachte, aber als ‚natürlich‘ ausgegebene Motiviertheit bestätigt die „seit den Griechen eingespielt[e] Polarität von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘“, weil die letztgenannte ihr Gegenteil, also die Natur, als „nicht-willkürlich“ begreift, und das heißt als „nicht von der Willkür der menschlichen Einwirkung betroffen und nicht aus ihr entstanden“.146 Die Polarität von Natur und Kultur erscheint deshalb als eine ‚natürliche‘, weil diese Setzung der Logik des Mythos bzw. der mythischen Aussagen folgt: Anders als beim sprachlichen Zeichen bzw. anders als beim Zeichen des ersten Systems, dessen sich der Mythos als einer Objektsprache bemächtigt, ist das Zeichen des zweiten, des mythischen Systems nie arbiträr, sondern aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine semiologische Verkettung mit einem vorangehenden, ersten System handelt, immer schon motiviert.147 Es ist genau diese ‚mythische‘ Motiviertheit der Überlagerung von materiellen mit sozialen Strukturen, die unweigerlich das Natürliche als eine zwischen Natur und Kultur vermittelnde Kategorie etabliert. Diese steht wiederum in direkter Analogie zum Mythos – wenn man Barthes folgt, der sagt: „Die Welt liefert dem Mythos ein historisch Reales“, das seinerseits mit Fiskes materiellen Strukturen gleichzusetzen wäre und das nun „durch die Art und Weise definiert wird, auf die es die Menschen hervorgebracht oder benutzt haben“.148 Diese ‚Benutzung‘ fiele bei Fiske in den Bereich der sozialen Strukturen. Deshalb gilt für das zwischen Natur und Kultur vermittelnde Natürliche dasselbe wie für den Mythos, der „ein natürliches Bild dieses Realen wieder[gibt]“,149 schließlich heißt ‚natürlich‘ bei Barthes, dass die mythische Konstruktion ihr Gemachtsein kaschiert, um so jenem „Dilemma zu entgehen“, das entweder in der Entschleierung oder Liquidierung des Mythos bestünde.150 Was Barthes als Entschleierung und Liquidierung beschreibt, sind zwei Lesarten des Mythos, wobei die erste seine Bedeutung „wörtlich“ nimmt und den Mythos so als „einfaches System“ begreift, während die zweite Lesart ihn „entziffert“ – was der Lesart des Mythologen entspricht.151 Den beiden das Dilemma des Mythos bildenden Lesarten stellt Barthes eine dritte gegenüber, die den Mythos „als ein unentwirrbares Ganzes von 145 146 147 148 149 150 151

Barthes: Mythen des Alltags, S. 114. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 108. Barthes: Mythen des Alltags, S. 130. Barthes: Mythen des Alltags, S. 130, Hervorhebung N.J. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 112. Barthes: Mythen des Alltags, S. 111.

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Sinn und Form“ begreift, sodass er „in der Art einer wahren und zugleich irrealen Geschichte“ erscheint.152 Durch diese Lesart entgeht der Mythos seiner Entschleierung und Liquidierung, indem sich seine primäre Funktion erfüllt: „[E]r verwandelt Geschichte in Natur“, sodass es erscheint, „als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete“.153 Genau diesem Mechanismus folgt beispielsweise auch Alexander von Warsbergs identifikatorische Homer-Lektüre auf Korfu, durch die er die ihn umgebende Landschaft als die in der Odyssee beschriebene erkennt. Auch die Identifikation der Gessner’schen Idyllen mit der Schweiz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheint letztlich als das Produkt einer ‚mythischen‘ Lektüre dieser Texte, genauso wie sich Rousseaus Konzept des idyllisch überlagerten Naturzustands letztlich mythisch und das heißt „in der Art einer wahren und zugleich irrealen Geschichte“ lesen ließe.154 Das anschaulichste Beispiel für die hier in Bezug auf ihre der Struktur des Mythos als analog wirkende Funktion der Kategorie des Natürlichen ist jener kulturhistorisch so bedeutsame Moment, als ‚Natur‘ erstmalig ästhetisch wahrgenommen wird und zwar als Landschaft. Nach Joachim Ritter kann dieses Ereignis auf das Jahr 1336 datiert werden. Allerdings ist es eben nicht, wie von Ritter behauptet, Petrarcas damalige Besteigung des Mont Ventoux, sondern dessen epistolarische Aufzeichnung darüber, die die Transformation von Natur zu Landschaft in der ästhetischen Wahrnehmung des Abendlandes bewirkt.155 Fortan gilt Landschaft als Paradigma von Natur, die so „im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig“ wird.156 Abstrahiert man hier von allem, mit Adorno gesprochen, „Gefühlsplunder“157 einer an der Kantischen Ästhetik ausgerichteten Fixierung auf das Betrachter-Subjekt, lässt sich Ritters Erkenntnis für die das Verhältnis zwischen Natur und Kultur vermittelnde Kategorie des Natürlichen produktiv machen, schließlich setzt „[d]ie Zuwendung zur Natur als Landschaft“ die Natur immer schon „geschichtlich und sachlich voraus.“158 Dergestalt kann eine „aus der Nutzung herausgelöst[e] Natur“ in Opposition zu ihrem Gegensatz, nämlich Kultur, gedacht werden.159 Dass es eine ‚unbenutzte‘ Natur aber

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Barthes: Mythen des Alltags, S. 111. Barthes: Mythen des Alltags, S. 113, Hervorhebung i.O. Wie Barthes herausstellt, produziert der Mythos dadurch letztlich Ideologie, die stets als Antwort „auf das Interesse einer bestimmten Gesellschaft“ in einem bestimmten historischen Kontext zu verstehen ist (ebd., S. 112). Barthes: Mythen des Alltags, S. 111. Vgl. Petrarca, Francesco: „An Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro in Paris“, in: ders.: Dichtungen, Briefe, Schriften, hrsg. von Hanns W. Eppelsheimer, Frankfurt a.M.: Fischer 1956, S. 80–89. Ritter: „Landschaft“, S. 150. Vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [1970], hrsg. aus dem Nachlass von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 101990, S. 355. Ritter: „Landschaft“, S. 144, Hervorhebung N.J. Ritter: „Landschaft“, S. 151.

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nicht gibt, wurde vorangehend durch eine an Barthes’ sekundärem semiologischem System des Mythos orientierte Analyse von Fiskes ‚Strandlektüre‘ herausgestellt: Natur ist immer schon eine Setzung seitens der Kultur, die lediglich „als konzeptioneller Gegensatz zur Kultur“ existiert.160 Das von Ritter beschriebene Konzept von Landschaft erscheint in dieser Lesart daher als eine dem Bereich des Natürlichen zugehörige Vermittlungskategorie zwischen Natur und Kultur. In diesem Sinn ist Natur also immer schon natura naturata, „geschaffene Natur“, und damit etwas buchstäblich Po(i)etisches.161 Analog dem von Ritter dargelegten Konzept von Landschaft, die laut Martin Seel ihrerseits immer „ein nach Vorbildern der Kunst geformtes Bild von der Welt“ darstellt,162 fällt auch die Idylle in den Bereich des zwischen der Polarität von Natur und Kultur vermittelnden Natürlichen, denn „[d]ie Idylle gründet [...] auf dem Gegensatz von Natur und Kultur“.163 Wie Oliver Zybok – ohne den naheliegenden Bezug zu Rousseau herzustellen – weiter ausführt, ist Kultur „dabei zunächst nichts anderes als ein Synonym für den Verlust von Ursprünglichkeit, die sich in der unveränderlich erscheinenden Natur wiederfindet“.164 Inwieweit sich die Idylle daher als eine spezifisch po(i)etische „Zuwendung zur Natur“ von Seiten der Kultur begreifen lässt,165 soll im Folgenden erörtert werden: In Bezug auf die hier etablierte Kategorie des Natürlichen wird dazu die idyllische Chrono-Logik untersucht, die der Polarität von Natur und Kultur zugrunde liegt. Auf diese Weise kann Fiskes kultursemiotische Untersuchung des Strandes als Raum der Lage im Sinn Foucaults um den Aspekt der Zeitlichkeit erweitert werden, sodass sich dieser Ansatz für eine Betrachtung des materialen Topos in verschiedenen literarischen Formen und medialen Formationen produktiv machen lässt.

4.1.3Die idyllische Chrono-Logik, oder: Der ‚natürliche Ursprung‘ der Kultur Als ein Beispiel für die zwischen der Polarität von Natur und Kultur vermittelnde Kategorie des Natürlichen ist die Landschaft deshalb so interessant, weil sie implizit auf jenen Aspekt verweist, der – erinnert sei an Foucault – in Fiskes kultursemiotischer Betrachtung des Strandes als ein Raum der Lage zwar nicht offensichtlich, aber implizit immer noch vorhanden ist: die Zeit bzw. das Zeitliche. Sowohl für die Landschaft im Allgemeinen als auch für die Idylle im Besonderen ist nämlich nicht nur der Aspekt des

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Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 58. Vgl. Stichwort ‚natura naturans‘, in: Philosophisches Wörterbuch II, S. 761. Seel: Eine Ästhetik der Natur, S. 145. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 41. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 41. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 43.

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Raumes, sondern auch derjenige der Zeit zentral, weil sich die Idylle durch einen „raumzeitlich[en] Stillstand“ auszeichnet.166 Wie Seel in seiner ‚Ästhetik der Natur‘ herausstellt, ist Landschaft „als Form der Anschauung eines größeren Raumes der (möglichst freien) Natur“ zu verstehen, der erst durch „eine bestimmte Art seiner Präsenz“ zur „ästhetisch wahrgenommenen Natur“ und dadurch zur „ästhetischen Landschaft“ avanciert.167 Das, was Seel als ‚Präsenz‘ bezeichnet, lässt sich auf jenen raumzeitlichen Stillstand beziehen, den Zybok als konstitutiv für die „unterschiedlichen Erscheinungsformen“ der Idylle und – in der Perspektive der vorliegenden Untersuchung – damit also auch für die verschiedenen Konkretionen des materialen Topos bestimmt.168 Mit Rückbezug auf Seel ließe sich deshalb von einer spezifisch ‚idyllischen Landschaft‘ sprechen, die allerdings nicht den größeren Raum, sondern seinen im Sinn der Jean Paul’schen Optik der Beschränkung kleineren Ausschnitt betrifft. Dieser kleine Raum der idyllischen Landschaft wäre insofern unter die Kategorie des Natürlichen zu subsumieren, als er zwischen Natur und Kultur steht: Die idyllische Landschaft erweist sich sowohl als ästhetisch wahrgenommen (Bereich der Natur) und zugleich po(i)etisch gestaltet (Bereich der Kultur). Den für die idyllische Landschaft charakteristischen raumzeitlichen Stillstand veranschaulicht das von Gessners Lycas betriebene Idylle-Machen genauso wie Alexander von Warsbergs bildnerisches Schreiben, weil ihre jeweilige idyllische poiesis Zeit und Raum suspendiert: Lycas imaginiert einen Garten, der als Denkmal an seine Liebesbegegnung mit Chloe erinnert, sodass – mit Goethe gesprochen – Vergangenes voraus lebendig wird, und für Warsberg macht das landschaftlich Reale des korfiotischen Inselraums das Imaginäre der Homerischen Dichtung als ein Vergangenes gegenwärtig. Ganz im Sinn der von Barthes beschriebenen Struktur des Mythos verwandelt sich für den österreichischen Reisenden somit buchstäblich Geschichte in Natur und nichts anderes stellt Lycas’ po(i)etisches Vorhaben seiner Gärtnerei in Aussicht. Den für die Wahrnehmung von Natur als Landschaft fundamentalen Zusammenhang von Zeit und Raum stellt auch Ottmar Ette heraus: Mit Bezug auf Ritters Unterscheidung von Natur und Landschaft bestimmt er diese als „ein komplexes System der Wechselwirkungen und des Zusammenwirkens unterschiedlicher Kräfte und Faktoren“.169 Ein solcher Raum der Lage ist durch ihm inhärente Richtungen und „Bewegungsmomente“ konstituiert,170 weshalb Ette Landschaft vor dem Hintergrund von Alexander von Humboldts Theorem der Vielverbundenheit als ‚vektopisch‘ bestimmt:171 Landschaften implizieren nämlich immer „Bewegungs-Bilder des Imaginierens und Denkens, des 166 167 168 169 170 171

Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 41. Seel: Eine Ästhetik der Natur, S. 221, Hervorhebung i.O. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 41. Ette: „Theorien der Landschaft“, S. 51f, Hervorhebung i.O. Ette: „Theorien der Landschaft“, S. 52, Hervorhebung N.J. Vgl. Ette: „Theorien der Landschaft“, S. 51.

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Schreibens und Lebens, der Motionen und Emotionen“.172 Angesichts dieser ‚bewegten‘ Disposition von Landschaft ist sie „dank ihres hohen Bewegungskoeffizienten immer auch auf Zukunft gestellt“.173 Ettes „Theorien der Landschaft“ basieren also auf einer Verkopplung von Raum und Zeit: Damit erscheint dieser strukturalistische Aspekt innerhalb eines Raumes der Lage, wie Foucault ihn denkt, nicht mehr bloß „als eine der möglichen Verteilungen“ der Elemente über den Raum, sondern avanciert zu einer diesen Raum grundlegend strukturierenden Größe.174 Was also für die Landschaft im Allgemeinen gilt, trifft im Besonderen auf die idyllische Landschaft zu – vor allem wenn sie als ein Raum der Lage semiotisch genauer untersucht werden soll: Laut Bachtin ist das „besonder[e] Verhältnis der Zeit zum Raum“ schließlich eines der zentralen Merkmale der Idylle.175 In der Forschung wurde dieses besondere und für die Idylle konstitutive Verhältnis schon früh erkannt und seither als raumzeitliche Statik der Idylle fortgeschrieben.176 Unter Berücksichtigung aller produktiven Konsequenzen weitergedacht wurde es dagegen nicht – lediglich Bachtins Ansatz stellt eine Ausnahme dar: Sein Konzept des idyllischen Chronotopos ist zunächst räumlich ausgerichtet, denn Bachtin reklamiert eine „Einheit des Ortes“ für die Idylle.177 Daraus resultiert schließlich das, was er – konform mit der Perspektive einer idyllischen Optik der Beschränkung – als „begrenzt[e] räum-

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Ette: „Theorien der Landschaft“, S. 54. Ette: „Theorien der Landschaft“, S. 55, Hervorhebung N.J. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 933. Bachtin: Chronotopos, S. 160. Die spezifische Verkopplung von Raum und Zeit in der Idylle erweist sich letztlich als eine ähnlich „strategische Koordinierung zweier Kraftfelder“, wie sie Manfred Schneider mit Bezug auf Harold A. Innis als „Fusionen religiöser und politischer Schriftmächte“ in seiner ‚Medientheorie und Semiotik heiliger Zeichen‘ darlegt (Schneider, Manfred: „Luther mit McLuhan. Zur Medientheorie und Semiotik heiliger Zeichen“, in: Kittler, Friedrich A./Schneider, Manfred/Weber, Samuel (Hgg.): Diskursanalysen I. Medien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 13–25, hier: S. 13). Schneiders Ansatz erlaubt es, „in der abendländischen Geschichte die Kommunikationsbedingungen“ hinsichtlich ihrer innovierenden Weiterentwicklungen als eine besondere „Strukturierung von Zeit und Raum“ zu lesen (ebd., Hervorhebungen i.O.). Dadurch wird aufgezeigt, dass „Kulturwandel und Sinneswandel“ nicht nur zusammenfallen, sondern letztlich immer medientechnisch bedingt sind (ebd., S. 14). Schneider legt damit die technische Vorgeschichte der „zunehmenden Dominanz der Schrift“ in der sich seit der frühen Neuzeit formierenden „visuell[en] Kultur“ dar (ebd.), die zu jener Monopolisierung dieses Mediums führt, das laut Friedrich Kittler das Aufschreibesystem um 1800 kennzeichnet (vgl. hierzu Kapitel 2). Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle [1967], Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 21977, hier: S. 8ff; sowie: Diekkämper, Birgit: Formtraditionen und Motive der Idylle in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bemerkungen zu Erzähltexten von Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck und Adalbert Stifter, Frankfurt a.M.: Lang 1990 (zugl. Bochum, Univ., Diss., 1989), hier: S. 3ff; 40ff. Bachtin: Chronotopos, S. 161.

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lich[e] Mikrowelt“ der Idylle bezeichnet.178 Diese räumliche Betrachtung der Idylle verkoppelt Bachtin mit einer zeitlichen, denn für die idyllische Mikrowelt sei auf der temporalen Ebene die „Abschwächung aller Zeitgrenzen“ konstitutiv.179 Insofern ist die Idylle als spezifische Konkretion eines Chronotopos zu verstehen, der laut Bachtin ganz allgemein „eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur“ darstellt, denn „[i]m künstlerischliterarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen.“180 Aufgrund dieser Verschmelzung von räumlichen und zeitlichen Merkmalen werde im Chronotopos die Zeit „auf künstlerische Weise sichtbar“ und zwar durch den Raum: dieser „gewinnt Intensität“ dadurch, dass er „in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen“ wird.181 Strukturell wirkt der Chronotopos darüber hinaus insofern mythisch, als seine Funktion nach Bachtin darin besteht, dass sich die „Merkmale der Zeit [...] im Raum offenbaren“ und dieser „von der Zeit mit Sinn erfüllt“ wird.182 Bachtin präzisiert dieses spezifisch chronotopische Raum-Zeit-Verhältnis für die Idylle als „Wiederherstellung des vorzeitlichen Komplexes und der Folklorezeit“.183 Das ist in Bezug auf die antiken Idyllen Theokrits und Vergils zu verstehen, denn Bachtin richtet seine Untersuchung des Chronotopos als diachrone Betrachtung der Gattung bzw. der Gattungsgeschichte des Romans aus. Das entspricht insofern dem Ansatz der vorliegenden Arbeit, als Bachtin zu der Feststellung gelangt, „daß in den Roman [...] einzelne Momente des idyllischen Komplexes eindringen“.184 Letztlich stellt der Chronotopos damit genauso eine Alternative zur vagen Begrifflichkeit des Idyllischen dar wie der materiale Topos der Idylle, wobei dieser allerdings nicht auf die Untersuchung der literarischen Gattung des Romans beschränkt ist, sondern im Gegenteil auch Konkretionen der Idylle in anderen literarischen Formen und medialen Formationen wie dem Film und Fernsehen untersuchbar macht. Was Bachtin im Zusammenhang seiner Bestimmung des idyllischen Chronotopos einen vorzeitlichen Komplex nennt, bezieht sich also sowohl auf Vergils Arkadien und damit das Goldene Zeitalter sowie auf ähnliche Paradiesvorstellungen einer als verloren geglaubten Vergangenheit. Damit fiele der Chronotopos innerhalb der im folgenden Kapitel darzulegenden Typologie in das arkadisch zu nennende Paradigma der Idylle. Diese ‚Prolepse‘ auf den Systematisierungsvorschlag, den dieses abschließende vierte Kapitel der Arbeit liefert, macht einen ‚blinden Fleck‘ in Bachtins Konzept evident: 178 179 180 181 182 183 184

Bachtin: Chronotopos, S. 160. Bachtin: Chronotopos, S. 161. Bachtin: Chronotopos, S. 7. Bachtin: Chronotopos, S. 7. Bachtin: Chronotopos, S. 7, Hervorhebung N.J. Bachtin: Chronotopos, S. 160. Bachtin: Chronotopos, S. 171.

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Einer chronotopischen Betrachtung der Idylle eignet allein deshalb eine Verkopplung mit Friedrich Schillers Idyllentheorie, weil es sich bei „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ um eine ähnlich „literaturphilosophische Analyse“ handelt, wie sie Bachtin unternimmt, sodass sich „im Hinblick auf ihr literatur- und kulturtheoretisches Potenzial“ wechselseitig Synergien ergeben würden,185 die sich für die hier im Weiteren genauer zu entwickelnde Systematisierung der verschiedenen Konkretionen des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen gewinnbringend nutzen lassen. Obschon Bachtin Schillers Überlegungen zur Idylle nicht rezipiert, ist sein Ansatz für die Idyllenforschung gerade deshalb so innovativ wie produktiv, weil er die Idylle durch das für sie spezifische Verhältnis von Raum und Zeit her einer strukturellen Betrachtung aus diachroner Perspektive zugänglich macht und sich so gleichsam von einer (gerade in der klassisch germanistischen Forschung fast schon fetischisierten) Fixierung auf eine traditionelle gattungstheoretische Bestimmung emanzipiert. Das Bachtins Konzept zugrunde liegende chronotopische Raum-Zeit-Verhältnis kennzeichnet letztlich auch die von Fiske beschriebene Überlagerung materieller (Meer/Land) mit sozialen Strukturen (Natur/Kultur). Wie vorangehend gezeigt, stellt Fiskes kultursemiotisches Modell eine Verräumlichung dar, die durch das Verfahren der Überlagerung strukturell beschreibbar wird. Zugleich lässt sich die durch eine solche Überlagerung produzierte Ideologie mit Barthes’ Mythos semiotisch als eine ‚natürliche Neutralisierung‘ ebendieser ideologischen Überlagerung erfassen. Darüber hinaus wird mit der dabei etablierten und ihrerseits zwischen der Polarität von Natur und Kultur vermittelnden Kategorie des Natürlichen eine chrono-logische Beziehung in die räumliche des Gegensatzpaares ‚Natur vs Kultur‘ eingeschrieben – schließlich gilt für diese Polarität genau das, was Bachtin als spezifisch für den Chronotopos herausstellt: „Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“.186 Auch die Etablierung einer Chrono-Logik des Raumes kann letztlich als eine sich selbst neutralisierende ideologische/mythische Überlagerung von kulturkonstitutiver Bedeutung angesehen werden, weil Natur als ‚Ursprung‘ (und damit ideologisch als ‚ursprünglich‘) denkbar wird, um als ‚prä-kulturelle Realität‘ zu gelten, obschon sie eine (ideologische/mythische) Setzung seitens der Kultur darstellt. Die durch die Kategorie des Natürlichen vermittelte chrono-logische Beziehung der – mit Bezug auf Fiskes Kultursemiotik des Strandes – zunächst räumlich verstandenen Polarität von Natur und Kultur lässt sich mit der rhetorischen Figur des hysteron proteron genauer beschreiben. Sie veranschaulicht die Verkopplung von räumlicher und zeitlicher Relation innerhalb des Gegensatzpaares ‚Natur vs Kultur‘, was bei Fiske aus der Überlagerung von materiellen (Land/Meer) mit sozialen Strukturen (Kultur/Natur) resultiert: Im Sinn der künstlichen Ordnung – also der ordo artificialis rhetorischer dispositio –

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Sasse, Sylvia: Michail Bachtin zur Einführung, Hamburg: Junius 2010, S. 143. Bachtin: Chronotopos, S. 7.

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verkehrt die Figur des hysteron proteron die logische Folge eines Geschehensablaufs, „indem zuerst das (affektisch besonders interessierende und so sich vordrängende) Endstadium des Geschehensablaufs gesetzt wird, an das sich [...] die zeitlich vorhergehende Phase des Geschehensablaufs anschließt“.187 Im nachfolgenden Schema ist dieser Zusammenhang erfasst: Die kulturelle Logik (mit Fiske ließe sich hier von Ideologie sprechen), die strukturell gemäß Barthes’ Mythos verfährt, setzt Natur als eine der Kultur vorgängige Kategorie und überführt diese Logik in eine (scheinbar) natürliche, die den ‚kulturellen Ursprung‘ dieser Setzung umkehrt und mittels dieser Umkehrung gleichsam ‚neutralisiert‘ – und das heißt: ‚natürlich‘ macht. kulturelle Logik

B

NATUR

A kulturelle Logik ‚natürliche‘ Logik

=

‚NATÜRLICHES‘

A

vs

KULTUR

B

‚natürliche‘ Logik

B: Wirkung

A: Ursache Positionstausch zwischen Ursache (A) und Wirkung (B)

A: Ursache

B: Wirkung

Schema 2: Idyllische Chrono-Logik (Quelle: eigene Darstellung)

Eine solche Chrono-Logik ist deshalb idyllisch zu nennen, weil sie eine ‚gemachte‘ ist, die ihr eigenes Gemachtsein letztlich kaschiert. Dies wird anhand einer strukturellen Beschreibung der Chrono-Logik gemäß dem rhetorischen hysteron proteron evident: Das eigentlich zweite (nachträglich gesetzte und konstruierte) Element B auf der Ebene der kulturellen Logik, das bei Fiske der Kategorie ‚Natur‘ entspricht, wird dem eigentlich ersten Element A als ursprüngliches buchstäblich vor(an)gestellt. Dieser Positionswechsel etabliert letztlich eine zweite Ebene, die der natürlichen Logik, wo sich eine spezifisch chrono-logische Beziehung zwischen den beiden Elementen A und B abweichend zur Kausalität auf der Ebene der kulturellen Logik ergibt. Die beiden Elemente werden nämlich in ein anderes Ursache-Wirkungs-Verhältnis überführt: Während auf der Ebene der kulturellen Logik die Natur ihre ‚Ursache‘ in der Kultur hat und deshalb mit der Kategorie des Natürlichen – die zwischen der Polarität von Natur und Kultur vermittelt – ineinsgesetzt ist, verkehrt sich diese Beziehung auf der Ebene der ‚natürlichen Logik‘: Die durch die Kategorie des Natürlichen vermittelte Natur, die – wie einleitend

187

Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik [1963], München: Hueber 31967, S. 137.

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dargelegt – immer schon als Landschaft und damit etwas po(i)etisch Gestaltetes wahrgenommen wird, erscheint als Ursache und damit Ursprung von Kultur. Es ist also diese kulturelle Logik, die die ‚Ursprünglichkeit‘ von Natur im Gegensatz zur Kultur als eine natürliche Logik etabliert, weil deren ‚Gemachtheit‘ als eine mythische (Barthes) bzw. ideologische (Fiske) Konstruktion durch die Überlagerung von materiellen mit sozialen Strukturen kaschiert wird. Hierfür verwendet Barthes in Bezug auf den Mythos den Begriff ‚natürlich‘, denn in dieser Weise muss der Mythos erscheinen, um seiner demaskierenden ‚Entschleierung‘ oder ‚Liquidierung‘ zu entgehen.188 Wie bereits dargelegt, verbindet Barthes mit dem Begriff des Natürlichen die (künstlich erzeugte) ‚Motiviertheit‘ des Mythos bzw. der mythischen Aussage.189 Semiotisch betrachtet steht der möglichen Motiviertheit eines Zeichens die Arbitrarität gegenüber: Während indexikalische und ikonische Zeichen aufgrund der Kausalitäts- bzw. Ähnlichkeitslogik in ihrem Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit als motiviert erscheinen, sind symbolische Zeichen stets unmotiviert, weil zwischen dem Zeichen und dem Referenten in der außersprachlichen Wirklichkeit sowie zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem „eine beliebige, nicht naturnotwendige, d.h. abbildende Beziehung besteht“.190 Diese als ‚Arbitrarität‘ bezeichnete Willkürlichkeit ist nicht nur eine zentrale Kategorie der Zeichentheorie, sondern konstitutiv für das abendländische Denken, wie Schüttpelz herausstellt, wenn er auf die „seit den Griechen eingespielt[e] Polarität von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ verweist“.191 Wie zuvor erwähnt, wird diese Polarität „in der griechischen Semantik als ‚physis‘ und ‚nomos‘ bezeichnet“.192 Das beide voneinander abgrenzende Kriterium ist die Arbitrarität bzw. Willkürlichkeit: „Die Natur (physis) ist nicht-willkürlich, d.h. nicht von der Willkür der menschlichen Einwirkung betroffen und nicht aus ihr entstanden.“193 Der „untrügliche Beweis“ für das Willkürliche als Kennzeichen der Kultur liegt nach Schüttpelz in der „Festsetzung durch eine soziale Übereinkunft (Konvention) oder durch ‚Sitte und Satzung‘ (nomos)“, sodass die Kultur als „Nicht-Natur“ und das Vorherrschen von Arbitrarität bestimmbar wird.194 (Aus diesem Grund ließe sich das, was Schüttpelz eine soziale Übereinkunft nennt, analog zu Fiskes Überlagerung der materiellen mit sozialen Strukturen begreifen.) Im Umkehrschluss muss die Natur als ‚NichtKultur‘ durch das Fehlen von Willkür und deshalb durch das Vorherrschen von Motiviertheit bestimmt sein. Allerdings ist diese kulturkonstitutive Unterscheidung von motivierter Natur und arbiträrer Kultur (als Nicht-Natur), die Schema 2 veranschaulicht, 188 189 190

191 192 193 194

Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 112f. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 108. Stichwort ‚Arbitrarität‘, in: Lexikon der Sprachwissenschaft [1983] hrsg. von Hadumod Bußmann, Stuttgart: Kröner 32002, S. 91f Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53, Hervorhebung i.O. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53, Hervorhebung i.O.

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durch die mythische Struktur dieser Setzung bereits in die kulturelle Logik eingeschrieben. Angesichts der Polarität von Natur als Bereich der physis und Kultur als Bereich des nomos lässt sich nachvollziehen, inwiefern die (mythische bzw. ideologische) Setzung von beiden Bereichen – als ihr jeweiliges Gegenteil – auf der Ebene der kulturellen Logik als arbiträr und auf der Ebene der natürlichen Logik als motiviert anzusehen ist: Konform mit dem „eigentlich[en] Prinzip“ des Mythos, das laut Barthes im ‚Natürlichmachen‘ besteht, „verwandelt“ der Mythos nicht bloß „Geschichte in Natur“, sondern überführt zugleich (kulturelle) Arbitrarität in (natürliche) Motiviertheit und etabliert somit die Chrono-Logik einer Natur als Ursprung der Kultur.195 Diese Verkehrung der chrono-logischen Kausalität, mit der die kulturelle eine natürliche Logik etabliert, ist ein hochgradig mythisch zu nennender Prozess der Bedeutungsstiftung, weil der Mythos, wie Barthes herausstellt, eben immer seine eigene Kausalität erzeugt: „In dem sekundären (mythischen) System ist die Kausalität künstlich und falsch“, und trotzdem wird der Mythos „als eine unschuldige Aussage empfunden: nicht weil seine Intentionen verborgen sind [...], sondern weil sie natürlich gemacht werden“.196 Daher das Zusammenfallen der Kategorie des Natürlichen mit der Kategorie der Natur: Natur ist immer als Konzept, als begriffliche Vorstellung und nicht als Menge aller (empirisch-faktischen) Phänomene der außersprachlichen Wirklichkeit zu verstehen, die ohne begriffliche Vermittlung überhaupt nicht fassbar sind. Die Idylle ist eine dieser Vermittlungen, zu denen auch Literatur, Kunst oder die Wissenschaften gehören. Dies lässt sich als die gnoseotopische Funktion der Idylle begreifen, auf die Hans Adler hinweist. Mit dem Neologismus ‚Gnoseotop‘ meint er „den begrenzten Erkenntnisbereich, in dem Menschen Erfahrungen zu systematischem Wissen [...] transformieren können, gleichzeitig aber sich der mit jedem Wissen verbundenen zeitlichen und systematischen Beschränkung mehr oder minder bewusst sind“.197 In dieser wissenspoetologischen Perspektive begreift Adler die Gattung ‚Idylle‘ als eine spezifische Form „sprachlicher Artikulation“, die „innovative künstlerische Sichtweisen“ ermöglicht und sie zugleich „in der Konfrontation mit bestehenden Denkgewohnheiten zur Anschauung“ bringt.198 Im Folgenden wird dieser Ansatz insofern produktiv weitergedacht, als er einerseits von seiner Zentrierung auf die Idylle als Gattung gelöst und somit andererseits für eine Betrachtung des materialen Topos der Idylle geöffnet wird. 

195 196 197 198

Barthes: Mythen des Alltags, S. 113. Barthes: Mythen des Alltags, S. 115. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 29. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 28.

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Paradigmen der Idylle

 Das Koordinatensystem der Idylle Die Idylle ist, wie Hans Adler herausstellt, „hochgradig emotional konnotiert“, weil sie „mit den Elementen Frieden, Harmonie, Natur, Liebe, Simplizität, Spiel u.a. [...] tiefliegende Wünsche [bedient]“.199 Aus diesem Grund spricht er von einer durch die Idylle gestalteten „Wunschwelt“,200 in der letztlich jene Aktualität begründet liegt, die Oliver Zybok untersucht und sie an einer sich in der und durch die Idylle artikulierenden „Sehnsucht nach Privatheit“ festmacht.201 Diese Sehnsucht führe zur Konstitution ganz unterschiedlicher Idyllen, die sich als Eigenheime, Gärten, Parks und Grünanlagen, Naherholungsgebiete, Zoos oder auch Shopping Malls konkretisieren.202 Da es sich bei diesen Idyllen letztlich um Formen „der Idealisierung“ bei „gleichzeitiger Artifizialisierung und Verfremdung“ der Natur handelt, fasst Zybok sie unter der Kategorie des Idyllischen zusammen.203 Dies ist ein Ansatz, der legitim erscheint, wenn man unberücksichtigt lässt, dass die Forschung ihre genealogische Ableitung des Idyllischen aus der Idyllentheorie Friedrich Schillers mit Bezug auf die darin implizit verhandelten Verschiebungen innerhalb des Mimesis-Konzepts nur unzureichend reflektiert hat (vgl. Kapitel 3.2). Die Kritik daran formuliert die vorliegende Arbeit, um so das Konzept des materialen Topos der Idylle alternativ zur dichotomen Betrachtung der Idylle i.e.S. als Gattung sowie dem Idyllischen, das i.w.S. einen Komplex aus Motiv- und Strukturelementen meinen kann, zu etablieren (vgl. Kapitel 1.2). Dergestalt lassen sich all jene „Varianten des Idyllischen in der Gegenwart“, von denen Zybok spricht,204 in dieser Perspektive als Konkretionen des materialen Topos der Idylle begreifen. 199 200 201 202

203 204

Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 23. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 23. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 67. Vgl. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 67. Mit Zybok ließe sich daher von einer regelrechten ‚Idylle-Kultur‘ sprechen, deren historische Entwicklung sich am Kontrast von privatem und öffentlichem Raum festmachen lässt: „Der Traum vom eigenen Heim, das als Zuflucht gegen die Gefahr dienen soll, die vom öffentlichen Raum ausgeht, hat in Deutschland durch den Reihenhausboom nach dem Zweiten Weltkrieg – ausgelöst durch die Erfahrung des Missbrauchs von Öffentlichkeit, das heißt der manipulativen Inszenierung des öffentlichen Raums im Dritten Reich – neuen Aufschwung erfahren, lässt sich aber bereits in der bürgerlichen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts verorten. Aus dieser Zeit stammen die ersten Konzepte, Sicherheitszonen inmitten der Stadt zu errichten; nichts anders sind die großen Kaufhäuser und Passagen, die Anreize für eine private Idylle bieten.“ (ebd., S. 65) In Zyboks Auflistung ließe sich noch der ebenfalls im 19. Jahrhundert aufkommende Schrebergarten ergänzen, dessen idyllisches Potenzial Gerhard Rühms einleitend untersuchtes Gedicht „idyll“ darstellt. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 67. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 73.

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Um derartige Idyllen in Literatur, Film und Fernsehen genauer beschreibbar zu machen, soll nachfolgend der Versuch unternommen werden, sie durch ein semiotopisches Schema zu systematisieren. Den Ausgangspunkt dafür bilden die Überlegungen aus dem vorangehenden Kapitel, wonach sich die Idylle innerhalb der Polarität von Natur und Kultur verorten lässt: Als der Kategorie des Natürlichen zugehörig, vermittelt sie zwischen diesen beiden Polen, sodass der Idylle letztlich jene „epistemische Funktion“ zukommt, auf die Adler hinweist.205 Während er die These vertritt, dass sich aus der „Grunddefinition der Idylle [...] Überlegungen zu anthropologisch vertretbaren Dimensionen menschlichen Wissens“ ableiten lassen,206 nimmt der hier vorgeschlagene Ansatz auf einer Metaebene die idyllisch zu nennenden Strukturen in den Blick, die erstens allen literarischen, filmischen und televisiven Konkretionen des materialen Topos gemeinsam sind und die zweitens überhaupt erst die Voraussetzungen für das darstellen, was Adler die epistemische Funktion von Gattungen im Allgemeinen sowie der Idylle im Besonderen nennt. Hierdurch lässt sich zudem das Problem von Adlers Terminologie umgehen, die er hinsichtlich ihrer mimetischen Implikationen nicht weiter kritisch hinterfragt: Er gelangt nämlich zu dem Eindruck, dass die dergestalt gnoseotopisch perspektivierte Idylle analog dem Biotop einen begrenzten Lebensraum bilde und sich „fruchtbar“ machen lasse für wissenspoetologische Überlegungen.207 Als po(i)etisches Artefakt stellt die Idylle einen Lebensraum allenfalls dar – und lässt deshalb Schlüsse über seine Konstruktion zu. Aus diesem Grund erscheinen die in literarischen, filmischen und televisiven Texten anschaulich werdenden Strukturen der Idylle dann aber sehr wohl in Adlers Verständnis epistemisch, weil sie elementar kulturkonstitutiv wirken. Für eine Untersuchung dieser spezifischen Funktion der Idylle avancieren die sie grundlegend kennzeichnenden Aspekte von Raum und Zeit, die im vorangehenden Kapitel untersucht wurden, einerseits zu den Achsen im Koordinatensystem der Idylle und andererseits zu den beiden Parametern der aus diesem System ableitbaren Paradigmen der Idylle. Dabei werden Raum und Zeit hinsichtlich ihrer Verschränkung im Sinn von Bachtins Chronotopos verstanden: Indem die Zeit sich im Raum veranschaulicht, erhält dieser seine Bedeutung als Idylle.208 Entsprechend ihrer jeweiligen Konkretion in Literatur, Film oder Fernsehen lässt sich die Idylle daher als arkadisch, heterotopisch oder elysisch begreifen. Auch Adler weist auf die spezifische Verschränkung von Raum und Zeit in der Idylle hin, deren „Grunddefinition“ nämlich „die der Ordnung in zeitlicher und räumlicher Beschränkung“ sei.209 Während Adler mit der Beschränkung direkt auf Jean Paul rekurriert, verweist die Ordnung auf die epistemische Funktion der Idylle: Sie 205 206 207 208 209

Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 28. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 28. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 28. Vgl. Bachtin: Chronotopos, S. 7. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 28.

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Paradigmen der Idylle

stellt für ihn nämlich „eine Wissensform mit Imaginationspotenzial“ dar, weil sie „die Bedingungen ihrer Möglichkeiten in mehr oder weniger reflektierter Weise ‚vor sich her‘ trägt“, sodass die „durch sie vorgestellte Ordnung hypothetisch bedingt oder wunschorientiert ist und/oder spielerisch experimentell gefasst“ werden kann.210 Konform mit der hier im zweiten Kapitel der Arbeit untersuchten Dimension der Poetizität betont Adler, dass die von der Idylle vorgestellte Ordnung „in ihrer Artifizialität markiert“ ist und zwar „implizit etwa durch Distanzierung von ‚Kultur‘ und durch ‚Naturalisierung‘, explizit etwa durch katastrophale Einbrüche [...] oder programmatische Rahmungen“.211 Wie er weiter herausstellt, sei die Beschränkung „[d]as entscheidende formale Merkmal der Idylle“ und zugleich die „Bedingung von Ordnung“, sodass Adler die von ihm genannte ‚Grunddefinition‘ präzisieren und die Idylle bestimmen kann „als Darstellung möglicher Ordnung unter unkontrollierbaren Bedingungen“.212 Wie im dritten Kapitel der Arbeit dargelegt wurde, erweist sich das von Jean Paul etablierte Kriterium der Beschränkung als notwendige Voraussetzung, um die von Adler unkontrollierbar genannten Bedingungen zunehmend unter ‚idyllische Kontrolle‘ zu bringen. Auch wenn Adlers Ansatz aufgrund der wissenspoetologischen Ausrichtung von demjenigen der vorliegenden Arbeit unterschieden ist, gleicht er ihm insofern, als Adler den Aspekt der Ordnung analog zu demjenigen der Struktur begreift.213 Aus diesem Grund stellen die in diesem Kapitel der Arbeit zu entwickelnden Paradigmen der Idylle letztlich eine Erweiterung von Adlers Ordnungen dar, zumal die einen wie die anderen durch die spezifisch idyllische Verschränkung von Raum und Zeit gekennzeichnet sind. Deshalb wird das hier vorgestellte Koordinatensystem der Idylle entlang dieser beiden Parameter entworfen, sodass eine semiotopische Untersuchung der Konkretionen des materialen Topos anhand idyllischer Strukturen möglich wird. Diese Perspektive stellt in Bezug auf die Idylle eine Notwendigkeit dar und ist weniger als Einverständnis mit dem von Adler erwähnten „hermeneutisch[en] Grundkonsens“ zu verstehen, den er in Anlehnung an die von Emil Staiger geprägte Formel eines (nachgerade kitschigen) Begreifens dessen, was uns ergreift, formuliert: Laut Adler gilt, „dass die Begriffe ‚an ihrem Ort‘ aufgesucht werden müssen, um zu verstehen, was sie ‚begreifen‘.“214 Auch wenn Begriffe bekanntlich bezeichnen und nicht(s) begreifen – sodass Adler lediglich Friedrich Schlegels Einschätzung bestätigt, der zufolge „die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen von denen sie gebraucht werden“215 – erscheint es gerade in Bezug auf die Idylle sinnvoll, Adler beim Wort zu neh210 211 212 213 214 215

Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 29. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 28. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 37. Vgl. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 25. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 25. Schlegel, Friedrich: „Über die Unverständlichkeit“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hrsg. von Hans Eichner, München/Paderborn/Wien: Schöningh 1967, S. 363–372, hier: S. 364.

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men und sie an ihrem Ort bzw. ihren möglichen Örtern aufzusuchen. Aus diesem Grund werden die nachfolgenden Überlegungen zu den unterschiedlichen Konkretionen des materialen Topos vom locus amoenus als dem prototypisch idealen Ort der Idylle ausgehen. Nachdem zunächst das aus den vorangehenden Überlegungen zur ‚Verortung‘ der Idylle abgeleitete Konzept einer ‚tendence idyllique‘ vorgestellt wurde, um dann in einem weiteren Schema das ‚semiotopische Feld‘ der Idylle zu veranschaulichen, werden dessen Pole, die die Katastrophe auf der einen und der Kitsch auf der anderen Seite bilden, dargelegt. Mit Bezug auf die kitschigen wie katastrophischen Ausprägungen der Idylle werden dann im dritten Unterkapitel dieses Teils der Arbeit die drei Paradigmen der Idylle aus Analysen literarischer, filmischer und televisiver Texte entwickelt.

4.2.1‚Idyllisches Denken‘ versus ‚tendence idyllique‘: Von der regelpoetisch gefassten Natürlichkeit zur Artikulation von Innerlichkeit durch die Idylle Wenn Friedrich Schiller feststellt, dass „[a]lle Völker, die eine Geschichte haben“, auch „ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldenes Alter“ kennen, so wie „jeder einzelne Mensch“ für sich „sein Paradies, sein goldenes Alter“ reklamieren kann, „dessen er sich, je nachdem er mehr oder weniger poetisches in seiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert“, perspektiviert er die Gattung nicht nur geschichtsphilosophisch, sondern verortet das, was „die Hirtenidylle behandelt“, in der menschlichen „Erfahrung“.216 Die Idylle erscheint damit also einerseits als eine anthropologische Disposition und andererseits als jene „transkulturelle Universalie[]“, nach der Nina Birkner und York-Gothart Mix vorsichtig fragen, wenn sie über die „Ursprünge idyllischen Denkens im europäischen Spannungsfeld von Antike und Moderne“ sprechen.217 Inwieweit die Idylle ein gleich dreifaches „Bedürfnis nach kausaler Geschlossenheit, kollektiven Mythen und Reduktion von Komplexität“ bedient, um als „Strategie der Existenzbewältigung im Prozess der Zivilisation“ aufgefasst werden zu können,218 wurde im vorangehenden Kapitel der Arbeit insbesondere in Bezug auf Jean-Jacques Rousseaus Konzept des Naturzustands dargelegt, das seinerseits die Grundlage für Schillers wie auch Jean Pauls theoretische Reflexionen zur Idylle bildet. Die von Birkner und Mix gestellte Frage, „[w]arum [...] die Idylle heute nicht mehr als ästhetisches Genre, aber permanent als vermeintlich natürliches Gegenbild und Korrektiv der Zivilisation imaginiert“ werde,219 erscheint vor dem Hintergrund des in dieser Arbeit Dargelegten als ein gleichsam konstruierter und trügerischer Anachronismus, denn weder schließt 216 217 218 219

Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 468. Birkner/Mix: „Idyllik im Kontext von Antike und Moderne“, S. 2. Birkner/Mix: „Idyllik im Kontext von Antike und Moderne“, S. 2. Birkner/Mix: „Idyllik im Kontext von Antike und Moderne“, S. 2.

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die eine Perspektive auf die Idylle die andere aus, noch wäre es korrekt, aus den beiden eine diachrone Dualität abzuleiten: Schon in der Antike stellen die idyllischen Texte ihre Poetizität explizit heraus und das gerade deshalb, weil sie stets ein idyllisch-harmonisches ‚Gegenbild‘ evozieren. Mit Blick auf die Konkretionen des materialen Topos in der gegenwärtigen Literatur, insbesondere aber im Bereich des (Unterhaltungs-) Fernsehens drängt sich vielmehr eine der Einschätzung von Birkner und Mix entgegengesetzte Beobachtung auf: Gerade weil die Idylle – bereits seit Ende der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – als ‚Korrektiv der Zivilisation‘ begriffen wird, nimmt sie als ein ‚ästhetisches Genre‘ jene Funktion ein, die Martin Seel der Natur in Bezug auf die Kunst zuspricht: Sie wird zum „Schauplatz der Imagination“,220 der sich in unterschiedlichen medialen Formationen als Idylle konkretisieren kann. Die Wirkmächtigkeit dieses Schauplatzes zeigt sich darin, dass die Idylle nicht nur in – fiktiven – literarischen (sowie filmischen und televisiven), sondern auch philosophischen Texten zu finden ist: Am Beispiel von Rousseaus idyllischen Überlagerungen wurden die diskursiven Konsequenzen verdeutlicht, die bis in die theoretischen Fassungen der Idylle bei Schiller und Jean Paul nachwirken. Sie reichen zudem noch bis zu jenem Versuch, den Birkner und Mix unternehmen, wenn sie von ‚idyllischem Denken‘ sprechen, ohne dies jedoch als eine „rückwärtsgewandte Projektion“ zu reflektieren, „wie sie in der Nachfolge Jean-Jacques Rousseaus immer wieder auftaucht“: Auf diesen idyllisch zu nennenden Mechanismus, der dem Verfahren der Überlagerung folgt, weist Hartmut Böhme explizit hin, denn „[i]n dem Maß, wie die gegenwärtige Gesellschaft unnatürlich, entfremdet und dekadent erscheint“, wird jene „vermeintliche Naturnähe“, wie sie die Idylle darstellt und propagiert, „zum Container der europäischen Sehnsüchte nach Natur und Ursprünglichkeit“.221 Es besteht also kein Zweifel daran, dass der abendländischen Kultur ein ‚idyllisches Denken‘ eignet. Statt das hinlänglich bekannte Phänomen also erneut zu verifizieren – dies leisten die Beiträge im Sammelband von Birkner und Mix anhand einer beeindruckenden Materialfülle –,222 soll es im Folgenden darum gehen, die Strukturen dieses Denkens, die in literarischen, filmischen und televisiven Texten manifest werden, genauer zu untersuchen. Um dies zu ermöglichen, soll zunächst nach einer Alternative für den vagen Begriff eines ‚idyllischen Denkens‘ gesucht werden. Diese bietet sich in der Kulturanthropologie, die in Analogie zur evolutionsbiologischen Entwicklung der Arten von einer „con220 221 222

Seel: Eine Ästhetik der Natur, S. 135. Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 439. Die Untersuchung der im Titel des Sammelbandes genannten „Tradition und Transformation“ der Idylle ist auf den Bereich der (ernsten) Literatur beschränkt und auch wenn die Idylle als ein ‚europäischer Topos‘ „im Kontext von Antike und Moderne“ betrachtet wird, erfolgt weder eine method(olog)ische Anbindung an die Arbeit von Ernst Robert Curtius noch an die sich daraus ableitende Möglichkeit, die Idylle als materialen Topos zu begreifen.

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vergence technique“ ausgeht.223 André Leroi-Gourhan fasst darunter ein Phänomen, das die menschliche Technikgeschichte kennzeichnet: „[P]ar simple harmonie physique, deux objects dans le même emploi peuvent apparaître identiques chez deux peuple sans commerce mutuel“.224 Als Ursache für eine solch identische Entwicklung von technischen Objekten in Gemeinschaften, zwischen denen keinerlei Kontakt besteht, wird – analog der evolutionsbiologischen Unterscheidung von Geno- und Phänotyp – ein genereller Bauplan angenommen, der sich in verschiedenen Ausprägungen in Bezug auf die jeweilige Lebensumwelt in einer Technik bzw. einem konkreten technischen Objekt materialisiert. Auf diese Weise lassen sich technische Entwicklungen als evolutionärer Prozess beschreiben,225 als dessen zentraler Parameter die sog. ‚Naturkonvergenz‘ angesehen werden kann. Wie Erhard Schüttpelz mit Verweis auf Leroi-Gourhan erläutert, lässt sich Technik in dieser Perspektive als Nutzung einer Naturkraft verstehen. Dies veranschaulicht Schüttpelz am Beispiel des Hammers, der als Technikobjekt insofern besonders ‚nah‘ an einer spezifischen Naturkraft ist, als er dazu dient, die primär muskulär erzeugte Schlagkraft auf einen anderen Gegenstand zu übertragen. Diese eindeutige Nähe kennzeichnet all jene technischen und das heißt vom Menschen gemachten Objekte, die dieselbe Funktion erfüllen und sich deshalb weltweit in ihrer materiellen Umsetzung gleichen.226 Eine solche Naturkonvergenz erscheint als Konstante in der Geschichte der Entwicklung von Techniken und technischen Objekten, weshalb Leroi-Gourhan sie als „die natürliche ‚tendence‘ der Technik“ bezeichnet.227 Wie Schüttpelz weiter ausführt, lässt sich die gesamte „Technikgeschichte“ aus der von Leroi-Gourhan dargelegten anthropologischen Perspektive im Spannungsfeld von „‚Arbitrarität und Naturkonvergenz‘ der Techniken“ beschreiben.228 Dieses Spannungsfeld weist Schüttpelz als der seit der Antike etablierten Polarität von Natur und Kultur zugehörig aus, innerhalb derer sich auch die Idylle als eine zwischen den beiden Polen vermittelnde Kategorie verorten lässt: Die elementare Polarität von Natur und Kultur gründet nämlich auf einem konstitutiven Gegensatz zwischen den beiden Bereichen, die als ihr jeweiliges Gegenteil aufgefasst werden, denn Kultur gilt als Nicht-Natur und deshalb als arbiträr bzw. willkürlich. Aus diesem Grund liegt „[d]er untrügliche Beweis für das Willkürliche und die menschliche Geschaffenheit“ laut Schüttpelz „in der Verschiedenheit“ von Techniken und technischen Objekten.229 223 224 225 226 227 228 229

Leroi-Gourhan: Milieu et technique, S. 337, Hervorhebung i.O. Leroi-Gourhan: Milieu et technique, S. 337. Vgl. Leroi-Gourhan: Milieu et technique, S. 336. Vgl. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53.

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Inwieweit auch die Technikgeschichte durch die Polarität von Natur und Kultur strukturiert ist, erläutert Schüttpelz mit Bezug auf die Gestaltung technischer Objekte, die entweder stärker arbiträr oder naturkonvergent erscheinen: „Je willkürlicher entsprechende Artefakte und ihre Operationsketten [...] entwickelt werden können, desto stärker behauptet sich das ‚fait social‘ und damit die kulturelle Verschiedenheit des Entwurfs, etwa im Bereich der Textilien und ihrer Farben und Muster.“230 Letztere zeichnet keine ‚Naturkonvergenz‘ aus, weil sie das Ergebnis „ihrer Festsetzung durch eine soziale Übereinkunft (Konvention)“ sind.231 Das heißt im Umkehrschluss: Techniken und technische Objekte, die aufgrund des Einflusses der ‚tendence technique‘ als naturkonvergent anzusehen sind, erscheinen wenig(er) willkürlich, denn für ihre Herstellung ist ein einziger Bereich des Wissens notwendig, auf den Pierre Lemonnier hinweist: „the knowledge of principles of action on the material world“, während die ‚willkürlich(er)‘ erscheinenden Techniken und technischen Objekte neben ihrer rein praktischen Funktion eine andere aufweisen, die insbesondere durch „social representations“ bedingt ist.232 Entsprechend gilt für sie das, was Lemonnier in seinen ‚Elementen einer Anthropologie der Technologie‘ bezüglich der Ausführungen von Leroi-Gourhan erläutert: „[Their] scope of possible variations is narrowed“.233 Die Überlegungen, die Schüttpelz in seiner kulturtechnischen Untersuchung des Tätowierens unter Bezug auf die anthropologischen Implikationen der Technikgeschichte unternimmt, um so letztlich zu einer strukturellen Beschreibung der Polarität von Natur und Kultur zu gelangen, lassen sich nicht nur deshalb auf die Idylle übertragen, weil sie als eine zwischen den beiden Bereichen Natur und Kultur vermittelnde Kategorie angesehen werden kann, sondern weil sich aufgrund ihrer Verortung zwischen diesen Polen die Möglichkeit ergibt, von einer kulturkonstitutiven ‚tendence idyllique‘ zu sprechen. Mit dem strukturalen Konzept einer solch ‚idyllischen Tendenz‘ – deren Bezeichnung bei Friedrich Nietzsche und seinen Beobachtungen zur Oper als genealogische Fortführung der attischen entliehen ist234 – lässt sich einerseits der Begriff des ‚idyllischen Denkens‘, von dem Birkner und Mix sprechen, konkreter fassen, sodass sich letztlich Schillers Behauptung von der Idylle als einer anthropologischen Disposition bestätigen würde (die zumindest für den Bereich der abendländischen Kultur gültig erscheint). Hinsichtlich ihrer spezifischen Strukturen würde das Konzept einer ‚tendence idyllique‘ andererseits dann auch einen interkulturellen Vergleich ermöglichen.

230 231 232 233 234

Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Lemonnier: Elements for an Anthropology of Technology, S. 75 Lemonnier: Elements for an Anthropology of Technology, S. 75 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872], in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. III/1: Die Geburt der Tragödie; Unzeitgemäße Betrachtungen I–III (1872–1874), Berlin/New York: de Gruyter 1972, S. 17– 152, hier: S. 120.

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Eine solche aus den Überlegungen von Schüttpelz gezogene Konsequenz mag zunächst trivial erscheinen, wenn man unter einer ‚tendence idyllique‘ versteht, dass die Idylle mitsamt ihren Strukturen überall in der Kultur gegenwärtig und gewissermaßen ‚am Werk‘ ist, weshalb sie buchstäblich kulturkonstitutiv erscheint. Diese Beobachtung verliert ihre Trivialität, wenn man berücksichtigt, dass auch die Anthropologie, auf die Schüttpelz seine Überlegungen gründet, offenbar implizit ganz und gar idyllisch überlagert ist und damit implizit dem Mechanismus der ‚tendence idyllique‘ folgt. Dies zeigt sich bei Leroi-Gourhan, wenn er seine Arbeit zur Evolution der Technikgeschichte von jenen geschichtlichen Vorstellungen abgrenzt, die insbesondere seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hohe Konjunktur haben: Au lieu d’une conception pessimiste qui veut voir dans les races actuelles les vestiges abâtardus des races pures primitives, et dans les peuples très rustique d’aujourd’hui les survivants flétris d’un inaccessible Age d’Or, nous avons posé que races et peuples font face à l’avenir, et non pas au passé, et que seul l’historien dispose du privilege de voir la civilization défiler comme de la dernière plate-forme d’un train en marche.235

Jene pessimistische Sichtweise, die in den gegenwärtigen Menschen entfremdete Spuren der ‚Naturvölker‘ erkennt und in den sehr ländlichen Gemeinschaften die verwelkten Überlebenden aus einem verlorenen Goldenen Zeitalter, verweist ganz offensichtlich auf jenes Konzept einer negativen Kulturalisation, für das Rousseaus Naturzustand die diskursive Folie bildet. Auch für Leroi-Gourhan besitzt sie also weiterhin Aktualität, wenn er mit dieser eher programmatischen statt method(olog)ischen Reflexion sein positiv-progressives Verständnis kultureller Entwicklung dagegen abgrenzt und betont, dass Kulturalisation – und das schließt die von ihm untersuchten technischen Entwicklungen mit ein – auf die Zukunft und nicht die Vergangenheit gerichtet sei. Damit postuliert er letztlich nichts anderes als das, was Schiller zum Ausgangspunkt seiner theoretischen Fassung der Idylle macht, wenn er – mit seiner Kritik am ‚klassischen‘ Gattungsverständnis der Idylle antiker Provenienz im Sinn Gessners – Elysium an die Stelle Arkadiens setzt. Unter dem Begriff der ‚tendence idyllique‘ lassen sich also jene Mechanismen fassen, die im vorangehenden Kapitel als spezifische Chrono-Logik der Idylle untersucht wurden: Durch sie wird das Verhältnis zwischen Natur und Kultur als das einer Polarität fassbar, wobei Natur, die zwar letztlich eine kulturelle Setzung darstellt, als Gegensatz zu Kultur begriffen wird, weil sie als nicht vom Menschen geschaffen und daher ursprünglich gilt – oder um es mit Schüttpelz zu sagen: Natur ist, anders als Kultur, nicht willkürlich. Wie gezeigt, erfolgt die Etablierung der Polarität von Natur und Kultur mittels der Kategorie des Natürlichen, das insofern mit der Natur in eins fällt, als diese immer nur ästhetisch vermittelt fassbar ist – als Landschaft oder aber als: Idylle. Chrono-logisch und deshalb 235

Leroi-Gourhan: Milieu et technique, S. 341, Hervorhebungen i.O.

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idyllisch erscheint der Gegensatz von Natur und Kultur deshalb, weil sich in dieser Polarität die für die Idylle konstitutive Verschränkung der Aspekte von Raum und Zeit veranschaulicht: Natur und Kultur stellen – im Sinn von Fiskes Kultursemiotik – Kategorien des Raumes dar, die ihrerseits in einem zeitlichen Verhältnis zueinander stehen, das zugleich eine Kausalität zwischen beiden herstellt. Als Gegensatz von Kultur bildet die Natur nämlich deren Voraussetzung bzw. Ursprung, von dem sich die Kultur gemäß all jener pessimistischen Fortschrittskonzepte zusehends entfernt und entfremdet (hat). Zugleich erscheint die Natur dadurch als idyllischer Ort einer Sehnsucht der Kultur nach dem, was sie (vermeintlich) nicht – mehr – ist, aber einmal gewesen sein soll. Derartigen Konzepten, zu denen auch Rousseaus Naturzustand sowie dessen diskursive Weiterführung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezählt werden kann, eignet also eine ‚tendence idyllique‘. Auch die Ausführungen von Leroi-Gourhan zum Goldenen Zeitalter machen dies evident, obwohl er sie als Kritik an solch pessimistischen Denkrichtungen formuliert, wie sie seiner Aussage nach vor allem dem Historiker schnell zur Hand sind. Dieser vermag das Phänomen der sich in steter Bewegung befindlichen Zivilisationsgeschichte wie einen vorbeifahrenden Zug immer nur als bereits entschwunden zu erfassen. Die Verwendung des Kollektivsymbols ‚Zug‘ als wirkmächtigem sprachlichen Vergleichsbild bei Leroi-Gourhan ist insofern bemerkenswert, als es den bereits von Schiller in seiner Idyllentheorie kritisierten ‚Blick zurück‘ auf das unwiederbringlich Vergangene aufruft und – analog zu Schillers Neuperspektivierung der Idylle – darauf verweist, dass Kulturalisation (also die Entwicklung von Gemeinschaften bzw. Zivilisationen) stets und einzig auf die Zukunft ausgerichtet ist. Dies impliziert, dass die Erfassung einer solchen Entwicklung nicht mit dem Blick des Historikers auf den bereits vorbeigefahrenen, sondern mit dem des Anthropologen wie auch des Literatur- und Medien(kultur)wissenschaftlers auf den einfahrenden Zug gerichtet sein müsste.236

236

In der Perspektive einer ‚tendence idyllique‘ avanciert Anthropologie zur Medienwissenschaft, denn diesem von Leroi-Gourhan beschriebenen ‚Blickwechsel‘ eignet eine genuin medienreflexive Dimension: Das sprachliche Bild des fahrenden Zugs verweist implizit auf jenen für die Filmgeschichte so zentralen Moment, als das neue Medium des aufgezeichneten Bewegtbildes sich von den etablierten und ihn prägenden Verfahren der performativen Künste löst. Dies veranschaulichen die filmtechnischen Besonderheiten der Einstellungsmodalitäten in Louis Lumières THE ARRIVAL OF A TRAIN AT LA CIATOT von 1897, auf die David Bordwell und Kristin Thompson hinweisen: „Had Lumière followed theatrical practice, he might have framed the shot by setting the camera perpendicular to the platform, letting the train enter the frame from the right side, broadside to the spectator. Instead, Lumière positioned the camera at an oblique angle. The result is a dynamic composition, with the train arriving from the distance on a diagonal.“ (Bordwell, David/Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction [1979], New York u.a.: McGrawHill 62001, S. 208.)

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Das, was hier als ‚idyllische Tendenz‘ zur begrifflich präziseren Fassung eines kulturkonstitutiven ‚idyllischen Denkens‘ vorgeschlagen wird, ist die eine der beiden Konsequenzen, die sich aus einer Übertragung von Schüttpelz’ struktureller Beschreibung der Polarität von Natur und Kultur auf die Idylle ergibt. Die andere Konsequenz betrifft die ‚Verortung‘ Idylle zwischen Natur und Kultur: Wie gezeigt, fällt die Idylle unter die Kategorie des Natürlichen, da sie letztlich eine der verschiedenen möglichen medialen Vermittlungen von Natur darstellt und deshalb – von Seiten der Kultur – selbst als ‚Natur‘ bzw. etwas ‚Natürliches‘ begriffen wird. Die ganze ‚Wahrheit‘, die Rousseau in Gessners Idyllen erkennen will,237 veranschaulicht diese Ineinssetzung genauso wie die Identifikation der Schweizerischen Landschaften mit dem von Gessner po(i)etisch Produzierten. Die Idylle muss in einer solchen Perspektive insofern als Natur (als das die Natur vermittelnde Natürliche) wahrgenommen werden, weil sie – als Zeichen – motiviert erscheint: Die Idylle avanciert – aufgrund der mit Barthes mythisch zu nennenden Struktur der ‚tendence idyllique‘ – zum natürlichen Signifikanten von ‚Natur‘. Deshalb kann sie als etwas aufgefasst werden, das nichts Willkürlich-Arbiträres, nichts vom Menschen Geschaffenes ist, sondern etwas, das dieser – um es mit Alexander von Warsberg zu sagen – von der Natur abschreibt, um sie zu bedeuten. Das ist letztlich genau dieselbe idyllische poiesis, die auch Gessner in seinem „Brief über die Landschaftsmahlerey“ propagiert, wenn es dort heißt, man habe „die Natur wie ein Gemählde zu betrachten“.238 Trotz der ihr unterstellten ‚Natürlichkeit‘ ist die Idylle ein po(i)etisches Artefakt und die Besonderheit ihrer spezifischen Poetizität liegt darin, dass sie ihr Gemachtsein stets kaschiert. Das gilt gleichsam für ihre zuvor beschriebene ‚Motiviertheit‘, die der Idylle überhaupt erst den ‚Anschein‘ des Natürlichen verleiht. In der literarischen Produktionslogik wird diese Motiviertheit der Idylle durch ihre regelpoetische Fassung gewährleistet, indem sie gemäß dem gültigen Mimesis-Verständnis eine Nachahmung von Natur bzw. Wirklichkeit darstellt. Im fünften Kapitel seines ‚Buchs von der Deutschen Poeterey‘ von 1624 bestimmt Martin Opitz – der noch nicht von der Idylle spricht, weil sich dieser Begriff erst im 18. Jahrhundert durchsetzt – die Gegenstände der „Eclogen oder Hirtenlieder“ als dem Bereich der Natur zugehörig, denn sie „reden von schaffen / geißen / seewerck / erndten / erdgewächsen / fischereyen vnnd anderem feldwesen; vnd pflegen alles worvon sie reden / als von Liebe / heyrathen / absterben / buhl-

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238

Vgl. Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, 52 Bd.e, hrsg. von Ralph Alexander Leigh, Bd. IX: juillet–décembre 1761, Genf: Institut et Musée Voltaire; Madison: The University of Wisconsin Press 1969, S. 349f [Brief Nummer 1607]. Gessner, Salomon: „Brief über die Landschaftsmahlerey“, in: ders: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 177–200, hier: S. 180.

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schafften / festtagen vnnd sonsten auff jhre bäwrische und einfältige art vor zue bringen“.239 Es ist gerade die den Idyllen unterstellte ‚bäurisch-einfältige‘ Art, durch den sich ihre ‚Natürlichkeit‘ begründet. Dies zeigt insbesondere Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst, worin er behauptet, „daß diese Gattung von Gedichten die allerälteste sey“.240 Argumentativ stützt Gottsched diese Behauptung auf eine ‚natürliche‘ Genese dieser „allerersten Lieder“, die „Schäferlieder oder Hirtengedichte gewesen“ sind (§ 1, 581) – und damit nicht nur den Anfang in der Geschichte der Dichtung markieren, sondern gleichsam den der kulturellen Entwicklung des Menschen. Gemäß der mimetischen Nachahmungslogik liefert das natürliche Geschäft der ersten Menschen den Gegenstand für ihre künstlerische poiesis – und entsprechend verbindet Gottsched eine anthropologische mit einer poetischen Perspektive zur Erläuterung der Genese der Gattung ‚Idylle‘: Die ersten Einwohner der Welt nährten sich bloß von der Viehzucht, Der Ackerbau, die Jagd, der Fischfang und das Weinpflanzen sind viel später erfunden und in Schwang gebracht worden. Die Kaufmannschaft und alle andere Künste sind noch viel jünger. Da nun die Erfindung der Poesie mit den ersten Menschen gleich alt ist, so sind die ersten Poeten, oder Liederdichter, Schäfer oder Hirten gewesen. Ohne Zweifel haben sie ihre Gesänge nach ihrem Charakter, und nach ihrer Lebensart eingerichtet: folglich sind ihre Gedichte Schäfergedichte gewesen. (§ 1, 581)

Gottscheds Bestimmung der Gattung ‚Idylle‘ als der ältesten Erscheinungsform von Poesie folgt den Mechanismen einer ‚tendence idyllique‘, weil er das, was letztlich ein kulturelles Artefakt ist, als etwas Natürliches darstellt, denn die „ersten Poeten“, die allesamt „Schäfer oder Hirten“ gewesen seien, haben „ihre Gesänge nach ihrem Charakter [...] eingerichtet“. Die Idylle erscheint damit als die vielleicht natürlichste Nachahmung von Natur im Sinn eines mimetischen Verständnisses von Literatur. Dabei ist in diesem Fall unter der nachzuahmenden ‚Natur‘ die „Lebensart“ dieser frühesten „Liederdichter“ zu verstehen, deren „Gedichte Schäfergedichte gewesen“ sein müssen. Was Gottsched hier als älteste Gattung überhaupt bestimmt, erweist sich letztlich als eine Konstruktion, die genauso hypothetisch ist wie etwa Rousseaus Naturzustand, denn „[d]ie allersten Poesien sind nicht bis auf unsere Zeiten gekommen: ja sie haben nicht können so lange erhalten werden; weil sie niemals aufgeschrieben worden“ sind (§ 2, 581). Aus diesem Grund sei das, „was wir von Theokritus, Bion und Moschus in

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Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Studienausgabe, hrsg. von Herbert Jaumann, Stuttgart: Reclam 1970, S. 31. Gottsched, Johann Christoph: „Von den Idyllen oder Schäfergedichten“ [§ 1], in: ders: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert [1730], Leipzig: Johann Christoph Breitkopf 41751, S. 581–602, hier: S. 581. Nachfolgend werden Zitate aus diesem Kapitel der ‚Critischen Dichtkunst‘ unter Angabe des Paragraphen gefolgt von der Seitenzahl in Klammern ohne weitere Fußnote direkt im Text belegt.

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dieser Art haben“, laut Gottsched im Vergleich zu den allersten Schäfergedichten der Menschheits- und Dichtungsgeschichte „sehr neu“ (§ 2, 581). Es sind aber gerade diese antiken Texte, die auf die von Gottsched als hypothetisch entworfene Gattung des Schäfergedichts verweisen: „Daß aber vor Theokrits Zeiten wirklich Schäfergedichte müssen gemacht worden seyn,“ folgert er, „das kann aus seinen eigenen Idyllen erwiesen werden.“ (§ 2, 581f) Um diesen deduktiven Schluss zu ziehen, nimmt Gottsched eine idyllische Überlagerung vor, indem er Theokrit das Arkadien Vergils als Schauplatz seiner Idyllen unterschiebt, denn Theokrit „berufft sich immer auf die arkadischen Hirten, als auf gute Poeten, die ihre Musik vom Pan gefasset hätten“ (§ 2, 582). Der arkadische Hirtenstand stellt für Gottsched also eine historische Wahrheit dar und Theokrits Idyllen bürgen dafür, indem sie letztlich darstellen, dass „doch also unter den damaligen Schäfern mancherley Lieder im Schwange gegangen seyn [müssen]“ (§ 2, 582). So etwa in Theokrits erster Idylle, in der die Befähigung zum schäferlichen Gesang vom Geishirt als ein Privileg beschrieben wird, das nicht ihm, dafür aber Thyrsis durch Pan gewährt ist.241 Die hypothetischen ersten Hirten, von deren Gesängen die Idyllen Theokrits handeln, erscheinen für Gottsched als die natürlichsten Mimetiker, denn „[d]ie Natur allein war ihre Lehrmeisterinn gewesen, und die Kunst mochte noch keinen Theil daran gehabt haben“ (§ 2, 582). Indem diese Hirtengesänge in ihrer Ur-Form noch gänzlich als ‚unkünstlerisch‘ und deshalb vollkommen ‚natürlich‘ ausgegeben werden, konstruiert Gottsched ein weiteres Argument für seine hypothetischen Idyllen avant la lettre. Von diesen lässt sich nämlich erst seit Theokrit sprechen, denn er habe „beydes zu vereinigen gesucht“ und durch diese Synthese von Natur und Kunst „also seine Vorgänger weit übertroffen“ (§ 2, 582). Dergestalt historisch perspektiviert, etabliert Gottsched die Gattung ‚Idylle‘ als eine – mit Goethe gesprochen – buchstäbliche ‚Naturform‘ der Dichtung.242 So kann er sie vor dem Hintergrund ihrer gleichwohl konstruierten, aber als natürlich erscheinenden Genese konkret fassen: „Will man nun wissen, worinn das rechte Wesen eines guten Schäfergedichtes besteht; so kann ichs kürzlich sagen: in der Nachahmung des unschuldigen, ruhigen und ungekünstelten Schäferlebens, welches vorzeiten in der Welt geführet worden.“ (§ 3, 582) Diese regelpoetische Bestimmung eines dem ‚Wesen‘ nach ‚guten‘ Schäfergedichts ist insofern bemerkenswert, als sie den Mechanismen der ‚tendence idyllique‘ folgt: Gottsched erhebt die von ihm zuvor dargelegte hypothetische Konstruktion eines „unschuldigen, ruhigen und ungekünstelten Schäferlebens“, dessen historische Faktizität die po(i)etische Darstellung in den Idyllen 241

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Vgl. Theokrit: „Thyrsis“ [V.15ff], in: Theokritos, Bion und Moschos. Deutsch im Versmaß der Urschrift, hrsg. von Eduard Mörike und Friedrich Notter, Stuttgart: Hoffmann’sche Verlags-Buchhandlung 1855, S. 29–33, hier: S. 29f. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans“, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. II: Gedichte und Epen II, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 162–267, hier: S. 187ff.

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Theokrits beweisen soll, zum Gegenstand „eines guten Schäfergedichts“, das deshalb im strengsten mimetischen Sinn als eine „Nachahmung“ der Natur gelten kann, weil das dergestalt nachgeahmte Schäferleben tatsächlich „vorzeiten in der Welt geführet worden“ sein muss. Gottscheds Argumentation gründet also auf einen ‚mimetischen Kurzschluss‘, wie er im zweiten Kapitel der Arbeit als konstitutiv für die Poetizität der Idylle herausgestellt wurde: Nachgerade idyllisch kaschiert die Argumentation ihre eigene ‚Gemachtheit‘, indem das Konstrukt eines hypothetischen Schäfer- bzw. Hirtenliedes vor seiner Etablierung als spezifische Gattung durch Theokrit zum natürlichen Ursprung dieser Gattung erklärt wird. Die ‚tendence idyllique‘ lässt die Idylle also auch bei Gottsched als Signifikant von ‚Natur‘ erscheinen. Dabei liegt in seiner Bestimmung „eines guten Schäfergedichtes“ zugleich der Ansatzpunkt für Schillers Kritik an der Rückwärtsgewandtheit der Gattung ‚Idylle‘, denn Gottsched erkennt „das rechte Wesen“ des Schäfergedichts schließlich darin, dass es „eine Abschilderung des güldenen Weltalters“ sei bzw. „eine Vorstellung des Standes der Unschuld oder doch wenigstens der patriarchalischen Zeit, vor oder nach der Sündfluth“ präsentiere (§ 3, 582). Ein solcher ‚Blick zurück‘ auf eine – als unwiederbringlich vorgestellte – Vergangenheit, den das Schäfergedicht leistet, liefert Gottsched implizit ein weiteres Argument für die historische Faktizität seines hypothetischen Konstrukts der ursprünglichen ‚Schäferpoeten‘ und damit für eine Bestimmung der Idylle als einer mimetischen Nachahmung der Natur. Dazu stellt er einen zeitlichen Bezug zur gegenwärtigen Lebenswirklichkeit her, die sich nicht als Gegenstand idyllischer Nachahmungen eigne: „Denn die Wahrheit zu sagen, der heutige Schäferstand, zumal in unserm Vaterlande, ist derjenige nicht, den man in Schäfergedichten abschildern muß. Er hat viel zu wenig Annehmlichkeiten, als daß er uns recht gefallen könnte. Unsere Landleute sind mehrentheils armselige, gedrückte und geplagte Leute. [...] Zudem herrschen unter ihnen schon so viel Laster, daß man sie nicht mehr als Muster der Tugend aufführen kann.“ (§ 3, 582, Hervorhebungen N.J.) Indem Gottsched den „heutig[en] Schäferstand“ aufgrund seiner „Laster“ als ungeeignetes „Muster der Tugend“ für eine idyllische Abschilderung ausweist, gibt er seiner Gattungsbestimmung ex negativo eine erzieherisch-moralische Ausrichtung, die ganz offenbar jene diskursive Anschlussfähigkeit zwischen Rousseaus Naturkonzept und der Gattung ‚Idylle‘ vorbereitet, wie sie im vorangehenden Kapitel der Arbeit untersucht wurde. Da der „heutige Schäferstand“ der Idylle nicht zum Gegenstand gereiche, kommt Gottsched zu dem Schluss: „Es müssen ganz andere Schäfer seyn!“ (§ 3, 582) Deren konkretes Bild entwirft er vor der Folie der Situation des zuvor beschriebenen heutigen Schäferstandes: „Man stelle sich die Welt in ihrer ersten Unschuld vor.“ (§ 4, 583) Der implizite Verweis auf ein derart unschuldiges Goldenes Zeitalter macht es möglich, diese ursprünglichen Schäfer als „[e]in freyes Volk“ zu imaginieren, „welches von keinen Königen und Fürsten weis“ (§ 4, 583). Dieses Volk lebt nachgerade paradiesisch, denn es

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wohnet in einem warmen und fetten Lande, welches an allem einen Ueberfluß hat; und nicht nur Gras, Kräuter und Bäume, sondern auch die schönsten Früchte von sich selbst hervorbringet. Von schwerer Arbeit weis man daselbst eben so wenig, als von Drangsalen und Kriegen. Ein jeder Hausvater ist sein eigener König und Herr; seine Kinder und Knechte sind seine Unterthanen, seine Nachbaren sind seine Bundesgenossen und Freunde; seine Heerden sind sein Reichtum, und zu Feinden hat er sonst niemanden, als die wilden Thiere, die seinem Viehe zuweilen Schaden thun wollen. (§ 4, 583)

Unabhängig von einer möglichen politischen Lesart dieser Darstellung des ursprünglichen Schäferstandes erscheint sie angesichts ihrer zeitlichen Verortung in der „Welt in ihrer ersten Unschuld“ viel stärker utopisch als alle Ausführungen, die Schiller später in seiner Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ zur Idylle machen wird. Der entscheidende Unterschied zu Schiller besteht allerdings darin, dass Gottsched hier eine nachgerade rückwärtsgewandte Utopie entwirft – und genau das kennzeichnet jene Bestimmung der Idylle, die Schiller kritisch zurückweisen wird, weil „die Dichter den Schauplatz der Idylle aus dem Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenstand verlegt, und derselben ihre Stelle vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Alter der Menschheit angewiesen“ haben.243 Nachdem Gottsched die ursprüngliche Unschuldswelt des prototypischen IdyllenHirten beschrieben hat, konkretisiert er dessen idyllische Lebensverhältnisse: Eine hölzerne Hütte, oder wohl gar ein Strohdach, ist ihm ein Pallast, ein grüner Lustwald sein Garten, eine kühle Höhle sein Keller, eine Lauberhütte sein Sommerhaus: Pelz und Wolle und ein Strohhut sind seine Kleidung; Milch und Käse sind seine Nahrung, die Feld- und Gartenfrüchte seine Leckerbissen; ein hölzerner Bächer, ein Korb, eine Flasche, ein Schäferstab und seine Hirtentasche sein ganzer Hausrath. Sein Hund ist sein Wächter, eine Blume sein Schmuck und seine Erquickung, die Musik aber sein bester Zeitvertreib. (§ 4, 583)

So deutlich diese Beschreibung das Bild einer gewissermaßen ‚natürlichen Zivilisation‘ zeichnet, avancieren die Lebensumstände der „glückseligen Schäfer“ zur inhaltlichen Vorgabe einer Darstellung für die Figuren der Idylle (§ 5, 583). Des Weiteren stellt Gottsched hier implizit ein formales Merkmal der Gattung heraus, denn indem er beispielweise die einfache Hütte des Hirten als dessen Palast ausgibt, antizipiert er letztlich nichts anderes als jene Beschränkung, die Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik später zum konstitutiven Kriterium der Idylle erklären wird, weil dieses das „idyllisch dargestellt[e] Vollglück“ überhaupt erst evident mache.244 Eine weitere formale Vorgabe macht Gottsched hinsichtlich der „Schreibart“ der Idylle, die „niedrig und zärtlich seyn [muß]“, sodass „[i]hre Zierrathe [...] nicht weit gesucht [zu] seyn“ brauchen (§ 23, 598). Auch auf der sprachlichen Ebene der Darstellung 243 244

Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 467. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, Werke: IX, S. 260.

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zeigt sich also der Mechanismus einer ‚tendence idyllique‘, insofern die Idyllen „sehr natürlich herauskommen“ sollen (§ 23, 598, Hervorhebung N.J.). Diese formale Vorgabe korrespondiert in Bezug auf ihre beabsichtigte Wirkung mit den zuvor durch die als natürlich ausgegebene Genese der Gattung aufgestellten inhaltlichen Vorgaben. Eine solcherart regelpoetische Fassung der Idylle lässt diese letztlich als eine mimetische Nachahmung erscheinen. Dergestalt avanciert sie tatsächlich zum Signifikanten von ‚Natur‘, weil die Idylle evident macht, „daß noch ein Ueberrest der alten Unschuld, in einer gewissen glücklichen Landschaft, geblieben; nachdem man sonst allenthalben Städte gebauet“ (§ 21, 596). Die – regelpoetisch gefasste – Idylle steht daher also insofern unter dem Einfluss der ‚tendence idyllique‘, als sie letztlich das veranschaulicht, was Jochen Schmidt mit Bezug auf das Mimesis-Konzept herausstellt: „Es gibt immer nur Auslegungen der ‚Natur‘.“245 Deshalb sind „Begriffe wie ‚Nachahmung‘ oder ‚Natur‘ und erst recht Begriffskombinationen wie ‚Natur-Nachahmung‘ [...] zunächst als Leerbegriffe zu verstehen“, die „als seit der Antike tradierte Begriffshülsen“ je nach vorherrschender Poetologie und literarisch-künstlerischer Ideologie „mit neuem Inhalt [ge]füllt“ werden.246 Im Kontext mimetischer Vorstellungen von Literatur (und Kunst) lässt sich diese inhaltliche Füllung für die Gattung ‚Idylle‘ strukturell durch die zuvor dargelegten Mechanismen der ‚tendence idyllique‘ genauer beschreiben: Verstanden als eine Nachahmung von Natur muss die Idylle ‚natürlich‘ gemacht werden. Genau das leistet Gottsched mit ihrer regelpoetischen Fassung, wodurch die Idylle ihre ‚Motiviertheit‘ erhält, um als etwas ‚Natürliches‘ zu erscheinen – obwohl sie als literarisch-künstlerisches Artefakt etwas vom Menschen Gemachtes und daher, in der Terminologie von Schüttpelz, als etwas Willkürlich-Arbiträres dem Bereich der Kultur zugehörig ist. Angesichts der literarhistorisch bedeutsamen poetologischen Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts müsste diese Natürlichkeit der Idylle, die ihr durch eine regelpoetische Fassung zugesichert wird, den Trägern der ersten „Literaturrevolution“ höchst suspekt erschienen sein:247 Immerhin bestand deren erklärtes Ziel in der Abschaffung einer seit dem Barock bestehenden und dann insbesondere an französischen Vorbildern ausgerichteten normativ-präskriptiven Konzeption von Literatur. Im Zuge der ersten Literaturrevolution wird der Begriff von Literatur zusehends verengt durch das paradigmatisch zum Qualitätskriterium erhobene Originalitätspostulat mit seinen Kategorien des ‚Ernsten‘ bzw. ‚Echten‘, die ihrerseits zu einer indirekt nor245

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Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945 [1985], 2 Bd.e, Bd. I: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 21988, S. 13. Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens I, S. 13. Curtius, Ernst Robert: „Zum Begriff einer historischen Topik (1938–1949)“, in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 3–19, hier: S. 10.

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mativen Beurteilung von Literatur führen. Maßgeblich hierfür ist das „literaturtheoretische Postulat[]“ des sog. ‚Originalgenies‘,248 das die ‚literarische Ideologie‘ der Moderne nachhaltig prägt: Mit dem „Import der englischen Theorie vom original genius“ kommt es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Abschaffung der Regelpoetik,249 indem die Träger der ersten Literaturrevolution das auf Julius Cäsar Scaliger zurückgehende Konzept vom Autor als alter deus – für das (Anthony Ashley Cooper Earl of) Shaftesbury später den Ausdruck ‚second maker‘ gebraucht – in ihre Vorstellung eines aus sich selbst heraus schöpferisch tätigen Künstler-Genies transformieren. Mit der Überwindung der aus Renaissance und Barock stammenden regelgeleiteten Verfertigung von Literatur, wofür Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst das letzte wesentliche Zeugnis im deutschsprachigen Raum darstellt,250 avancieren Originalität und Innovativität zu den zwei wesentlichen Kennzeichen von ‚echter‘ Literatur – und der Verstoß gegen jegliche von außen auferlegte Regel zu ihrem grundlegenden Verfahren. Durch diese Entwicklung ist letztlich die sich bis in die Gegenwart erhaltene Dichotomisierung von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Literatur bedingt, denn Originalität und Innovativität sowie der Verstoß gegen normative Regeln werden gleichsam zu den Qualitätskriterien ‚hoher‘ Literatur erhoben: Diese wird deshalb als ‚gut‘ erachtet, weil man sie von anderen, dem Geniekonzept nicht entsprechenden Formen von ‚niederer‘ und das heißt zugleich ‚schlechter‘ Literatur abgrenzt. Wie Christa Bürger herausstellt, ist diese Dichotomisierung zugleich eine „der Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft“, denn die von ihren Vertretern als elitär begriffene ‚ernste‘ bzw. ‚echte‘ Literatur führt gewissermaßen ein ‚autonomes‘ und das heißt „abgehobenes Dasein“, das abgekoppelt ist „von den Kulturbedürfnissen des Volkes“.251 Daher geht mit dieser Dichotomisierung am Ende des 18. Jahrhunderts die Etablierung der Ideologie der sog. Autonomieästhetik einher, die die „Entfremdung zwischen künstlerischer Intelligenz und Publikum“ gewissermaßen künstlerisch legitimiert, weil das Autonomie-Postulat den ‚Schöpfern‘ der ‚echten‘ Literatur „zur Bewahrung ihrer vom

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Nusser, Peter: Stichwort ‚Trivialliteratur‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. III: P–Z, gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Jan-Dirk Müller, Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 691–695, hier: S. 692. Curtius: „Zum Begriff einer historischen Topik“, S. 10. Vgl. Frenzel, Herbert A./Frenzel, Elisabeth: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte [1953], 2 Bde., Bd. I: Von den Anfängen bis zum Jungen Deutschland, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 201982, S. 162f. Bürger, Christa: „Die Dichotomie von hoher und niederer Literatur. Eine Problemskizze“, in: Bürger, Christa/Bürger, Peter/Schulte-Sasse, Jochen (Hgg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 9–39, hier: S. 10.

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Leben des Volkes abgespalteten Subjektivität“ dient.252 Damit markiert die erste Literaturrevolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Beginn eines engen Literaturbegriffs, der mit seiner normativ-präskriptiven Bestimmung einer sich selbst als autonom verstehenden ‚Hochliteratur‘ bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts Gültigkeit besitzt und z.T. noch bis in die Gegenwart hinein für das allgemeine Verständnis von Literatur entweder maßgeblich oder aber prägend ist. Die erste Literaturrevolution bewirkt also erfolgreich eine Abschaffung der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts als gültig erachteten Regelpoetiken. „Was während der Ersten Literaturrevolution demgegenüber unangetastet blieb“, erläutert Renate Kühn, ist die Vorstellung, dass „Literatur Mimesis ist, d.h. der ‚Nachahmung‘ bzw. ‚Widerspiegelung‘ der Wirklichkeit dient“.253Auch wenn das Mimesis-Prinzip im Zuge der ersten Literaturrevolution ‚unangetastet‘ bleibt,254 kommt es – wie im vorangehenden Kapitel der Arbeit anhand von Schillers Überlegungen zur sentimentalischen Dichtung gezeigt – jedoch sehr wohl zu Verschiebungen innerhalb seiner konzeptuellen Fassung: Bei Schiller steht die Mimesis nicht länger unter dem Primat der Nachahmung, sondern wird unter Maßgabe des Möglichen statt des Wahrscheinlichen im Sinn der aristotelischen Poetik zunehmend als Darstellung perspektiviert (vgl. Kapitel 3.2). In diesem Zusammenhang ändert sich auch Schillers (mimetisches) Verständnis der Gattung ‚Idylle‘, die er als eine der Formen sentimentalischer Dichtung begreift und nicht länger – wie etwa

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Bürger: „Die Dichotomie von hoher und niederer Literatur“, S. 10. Goethes Lotte gibt über derartige Unterhaltungsbedürfnisse bereitwillig Auskunft: „Wie ich jünger war“, erklärt sie gegenüber Werther, „liebte ich nichts so sehr als Romane. Weiß Gott, wie wohl mir’s war, wenn ich mich Sonntags in so ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Miß Jenny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme, so muß es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist“ (Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA: VI, S. 23.) Kühn, Renate: „mémoire. Überlegungen zum Thema ‚Avantgarde‘ aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert“, in: perspektive. Hefte für zeitgenössische Literatur (37/38) 1999, S. 32–42, hier: S. 38. Dies erfolgt zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Der Abschaffung dieses Literaturbegriffs“, der einerseits streng mimetisch ausgerichtet und andererseits aufgrund seiner Beschränkung auf Hochliteratur als eng anzusehen ist, „samt dem darin implizierten ‚organischen‘ Werkbegriff und der entsprechenden Vorstellung von Autorschaft galt die zweite Literaturrevolution, deren Träger die historischen Avantgarden waren“ (Kühn: „mémoire“, S. 38). Zu den organischen Vorstellungen von Literatur als ‚Schöpfung‘ vgl. Kühn, Renate: „‚Weil sie mit Werken schwanger sind‘. Anthropomorphe metapoetische Metaphorik im Kontext des biologischen Modells von Autorschaft“, in: Hoffmann, Ludger/Stingelin, Martin (Hgg.): Schreiben. Dortmunder Poetikvorlesungen von Felicitas Hoppe; Schreibszenen und Schrift – literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven, München: Fink 2017, S. 39–90.

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noch Gottsched – als die „poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit“ in einem als unwiederbringlich verloren vorgestellten Arkadien.255 Für Schiller veranschaulicht die Idylle deshalb die Möglichkeit einer Aufhebung des „Gegensatz[es] der Wirklichkeit mit dem Ideale“,256 um so „den Menschen im Stand der Unschuld, d.h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst und von außen darzustellen“.257 Diesen Zustand, den die Idylle präsentiert, begreift Schiller – entgegen der etablierten Gattungstradition – nicht als dem Goldenen Zeitalter analog, das als ein verlorenes in der Vergangenheit liegt, sondern als „mögliche Realität“ im Sinn eines Ideals, von dessen „Ausführbarkeit“ die Idylle „eine sinnliche Bekräftigung“ geben kann.258 Eine Konkretisierung dieses Zustands durch „den einfachen Hirtenstand“ sowie durch dessen zeitliche Verortung „vor dem Anfange der Kultur“,259 wie sie etwa Gottsched unternimmt, kann Schiller in seiner sentimentalischen Betrachtung der Idylle relativieren, weil „diese Bestimmungen bloß zufällig“ und deshalb „nicht als der Zweck der Idylle“, sondern als deren „natürlichste[s] Mittel“ anzusehen sind.260 Durch die Ersetzung von Arkadien mit Elysium liefert Schiller in seiner sentimentalischen Theorie der Idylle letztlich ein anderes – po(i)etisches – ‚Mittel‘, um den idealen Unschuldszustand des Menschen als „Idee zur Anschauung“ zu bringen.261 Sowohl bei Gottsched als auch bei Schiller stellt die Idylle somit jeweils einen Ort der Sehnsucht dar – allerdings ist dieser im Fall des einen in der Vergangenheit und im Fall des anderen in der Zukunft gelegen. Ein derartig kontrastiver Vergleich zwischen der regelpoetischen Bestimmung der Idylle bei Gottsched und ihrer sentimentalischen Theoretisierung bei Schiller, die nach Abschaffung der Regelpoetik erfolgt, macht letztlich evident, dass auch die in „Ueber naive und sentimenatlische Dichtung“ dargelegten Reflexionen den Mechanismen einer ‚tendence idyllique‘ folgen: Schiller betrachtet die Idylle weiterhin unter der Voraussetzung eines nun insbesondere auf die Darstellung des Möglichen fokussierenden MimesisVerständnisses und bestimmt sie gemäß seines theoretischen Ansatzes als sentimentalische Dichtung. Dabei fällt die Idylle als Signifikant von ‚Natur‘ weiterhin unter die Kategorie des Natürlichen – nur ist der Natürlichkeitsbegriff gegen Ende es 18. Jahrhunderts ein anderer als derjenige, der noch Gottscheds regelpoetischer Bestimmung der Idylle zugrunde liegt. Dies lässt sich mit Bernhard Siegerts Untersuchung zu den ‚Geschicken der Literatur‘ evident machen, worin gezeigt wird, dass die Faltung des Papiers 255 256 257 258 259 260 261

Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 467. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 472, Hervorhebungen i.O. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 467. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 467f, Hervorhebung N.J. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 467, Hervorhebungen i.O. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 467, Hervorhebung N.J. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 468.

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Paradigmen der Idylle

in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unvorhersehbare Konsequenzen zeitigt – für den postalischen Briefverkehr wie für die als Dichtung auftretende Literatur: Anders als die barocke Briefstellerei ist die sich entwickelnde Privatkorrespondenz nämlich dadurch gekennzeichnet, dass „systematisch alle repräsentativen und mithin öffentlichen Außenreferenzen des Mediums Briefs“ gekappt werden, „um sie sämtlich in eigentümliche und mithin private Innenreferenzen zu verwandeln“.262 Dies ist mit der Entwicklung eines anderen Natürlichkeitsbegriffs verbunden. Die Möglichkeit des Verschickens von Briefen, die auf faltbarem, transportablem, aber auch vergänglichem Papier geschrieben sind, ist die Konsequenz aus einer „Ausdifferenzierung des ‚Öffentlichen‘ und ‚Privaten‘“, die ihrerseits in der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzt, als man in „Europa zur Eigenproduktion von Papier“ übergeht.263 Am Ende dieser Entwicklung steht intime Kommunikation durch den sog. Privatbrief auf gefaltetem Papier, der über das Relais-Netzwerk der Post verschickt wird. Vom „Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert“ stellt die Briefstellerei eine spezifische „Diskurspraxis“ dar,264 die briefliche Außenreferenzen „durch Klassifikationsraster ihrer möglichen Realisationen“ erzeugt: Entsprechend gibt es Raster für das Titular von Absender und Adressat genauso wie für die Gelegenheit und das damit verbundene Thema eines Briefes und alle diese Parameter der Briefstellerei haben letztlich „entscheidenden Einfluß auf die Stillage und die Topologie des Briefes“.265 Die ‚Kunst‘ eines solchen Briefeschreibens liegt „in der Kombinatorik der Anwendungsraster“ und da jeder Brief somit Teil eines festen „Regelsystems“ ist, kann er „folglich nie ein Privatbrief“ sein.266 Dieser entsteht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch „die Tilgung des Aprioris der Gelegenheit“, denn das Briefeschreiben avanciert zu der sich selbst legitimierenden „Schreibsituation“ als Gelegenheit zum Briefeschreiben.267 Wie Siegert ausführt liegt in dieser „Ersetzung der Außenreferenz des Situationsrasters“, das für die Briefstellerei konstitutiv gewesen ist, „durch die Einbildung der Situation in den Brief“ dessen „prinzipielle Fiktionalität“ begründet.268 Dies ist die Voraussetzung für die literarische Karriere des Briefes, wie er sie in der deutschen Literatur insbesondere durch Goethes ‚Werther‘ macht. Einer sich in diesem Roman veranschaulichenden „Literarisierung“ des Briefes kommt entgegen, dass er eine „Vergegenwärtigung von Absentem“ zu bewirken vermag: Briefeschreiben ist letztlich immer „ein Träumen des Briefeschreibens des anderen und im Idealfall also ein Träumen des Träu262

263 264 265 266 267 268

Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913, Berlin: Brinkmann & Bose 1993, S. 39. Siegert: Relais, S. 36. Siegert: Relais, S. 39f. Siegert: Relais, S. 38. Siegert: Relais, S. 39. Siegert: Relais, S. 40. Siegert: Relais, S. 43.

Das Koordinatensystem der Idylle

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mens des anderen“, wie Siegert mit Verweis auf Christian Fürchtegott Gellerts Briefe einerseits und Ludwig Tiecks Roman William Lowell andererseits herausstellt.269 Die Literarisierung des Briefes wird dabei insbesondere durch jenes „Vermögen der Seele“ bewirkt, das sich gemeinhin als Einbildungskraft bezeichnen lässt.270 Wie gezeigt, bildet sie laut Friedrich Kittler jenes „Universalmedium“, in dem die Dichtung als „Universalkunst“ schaltet und ihrerseits so die Monopolstellung der (Hand-)Schrift im manuellen Aufschreibesystem um 1800 durchsetzt und behauptet.271 Diese neue Diskurspraxis des Schreibens von privaten Briefen wird nicht länger gemäß der vorangehenden Briefstellerei als Kunst im Sinn einer techné begriffen, der zufolge ein Brief letztlich immer „als Regelanwendung“ und deshalb als „Manifestation der Beispielhaftigkeit der Regel“ zu verstehen gewesen ist.272 Im Gegenteil: Der Privatbrief erscheint als Ausdruck von Individualität, weil sich im (handschriftlich) Geschriebenen „eine die intimen Geständnisse der Seele ausplaudernde Natur“ artikuliere, weshalb Siegert betont, dass die Entwicklung einer solchen Korrespondenz des Intimen mit der „Erfindung der Innerlichkeit“ verkoppelt ist.273 Wie Goethes unermüdlich schreibender Werther zeigt, avanciert der Privatbrief zum Medium einer solchen Innerlichkeit und weil sie durch intime Seelengeständnisse anschaulich wird, stellt der Brief immer auch eine „schriftliche Kompromittierung eines Selbst“ dar, denn er steht in der „Nachfolge der alten religiösen Kontrolltechnik der Beichte“.274 Aus diesem Grund fallen im Brief „Intimität und Geheimhaltung“ zusammen – und aus diesem Grund eignet er sich für die literarische Ausstellung von Innerlichkeit.275 Dass diese durch den Brief in der Literatur vermittelte Innerlichkleit letztlich eine künstlich erzeugte ist, zeigt sich daran, dass die epistolarischen Kompositionen letztlich durch „exakt dieselben rhetorischen Figuren“ gestaltet werden, „die seit Cicero oratorische Kunstfertigkeit bewiesen“, nun aber „von Natürlichkeit zeugen“ sollen.276 Auch das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte Konzept der Innerlichkeit, worunter mit Oliver Zybok „der gesamte Komplex von Empfindungen, religiösen und erotischen Gefühlen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Entsagungen, Euphorien und Depressionen, Gedanken und Entwürfen im Hinblick auf ‚Welt‘ und ‚Ich‘ angesehen“ werden kann,277 steht unter dem Einfluss der ‚tendence idyllique‘, weil diese Innerlichkeit einen Ausdruck von Natürlichkeit darstellt. 269 270 271 272 273 274 275 276 277

Siegert: Relais, S. 43. Siegert: Relais, S. 43. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 · 1900 [1985], München: Fink 42003, S. 301. Siegert: Relais, S. 39. Siegert: Relais, S. 39, Hervorhebung N.J. Siegert: Relais, S. 44. Siegert: Relais, S. 43. Siegert: Relais, S. 40, Hervorhebung N.J. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 39.

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Paradigmen der Idylle

Allerdings muss hier insofern von einem neuen Natürlichkeitsbegriff ausgegangen werden, als dieser eng mit den durch die Abschaffung der Regelpoetik implizit bewirkten Verschiebungen innerhalb des Mimesis-Konzepts verkoppelt ist: Wie sich an Gottscheds Bestimmung der Gattung ‚Idylle‘ zeigt, wird ihre streng normativ-präskriptive Fassung als ‚natürlich‘ ausgegeben; während eine solcherart regelpoetische Gattungskonzeption obsolet geworden ist, das mimetische Prinzip für die Literatur aber weiterhin Gültigkeit besitzt, bedarf es also auch einer Neufassung des Natürlichkeitsbegriffs in Bezug auf die Idylle, die dadurch dann der neuen „Erfindung der Innerlichkeit“ Rechnung tragen kann.278 Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich also die Idylle mit Zybok als „die stete Suche nach einer vollkommenen Innerlichkeit“ begreifen,279 denn so wie der Brief bzw. genauer das Briefeschreiben laut Siegert letztlich als „ein Träumen des Briefeschreibens des anderen“ begriffen werden kann,280 so lässt sich die Idylle mit Zybok als „ein Traum vom verlorenen Paradies des ursprünglichen, einfachen Lebens“ begreifen.281 Dies ist aber nur möglich, weil die Idylle wie auch der Brief zum Medium der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu erfundenen Innerlichkeit werden, die ihrerseits wiederum den ‚natürlichen‘ Gegenstand dieser Medien darstellt. Werther muss also Briefe schreiben und seine Briefe müssen voller Idyllen sein, um so „dem Papiere das ein[zu]hauchen, was so voll, so warm in [ihm] lebt, daß es würde der Spiegel [seiner] Seele“.282 Als Medien der Innerlichkeit besteht zwischen Brief und Idylle eine medienmetonymische Verschränkung: Werthers Briefe, in denen er Wilhelm die „unaussprechliche Schönheit der Natur“ beschreibt, werden in dem Maße zum Medium der Idylle, in dem diese zum Medium jener unaussprechlichen Schönheit der Natur avanciert, die sich Werther nur idyllisch vermittelt erschließt – beispielsweise in Form jenes „Garten[s] auf einem Hügel“, als dessen Herr er sich im Sinn eines prototypisch patriarchalischen Idylle-Machens imaginiert (vgl. Kapitel 2.1.3).283

4.2.2Die Struktur der ‚idyllischen Materialität‘ von literarischen, filmischen und televisiven Texten „Mit dem Begriff ‚Struktur‘“, erläutert Umberto Eco in seiner Untersuchung zum schlechten Geschmack, „verbindet sich der Gedanke einer Beziehung zwischen Ele-

278 279 280 281 282 283

Siegert: Relais, S. 39. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 39. Siegert: Relais, S. 42. Zybok: „Zur Aktualität des Idyllischen“, S. 39. Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA: VI, S. 9. Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA: VI, S. 8.

Das Koordinatensystem der Idylle

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menten, die zwar zu einer Struktur“ – oder um es mit Hans Adler zu sagen: Ordnung – „gehören, die sich aber von ihr abtrennen und in andere Strukturzusammenhänge einfügen lassen“.284 Vor diesem Hintergrund bestimmt Eco ein Kunstwerk als Struktur, weil es „ein System von Beziehungen zwischen vielfältigen Elementen“ bildet.285 Wie Friedrich Kittler ausführt, wird der Begriff ‚Struktur‘ seit den 1950er Jahren verwendet, um genau solche systematischen Zusammenhänge, von denen Eco in Bezug auf verschiedenartige (mediale) Artefakte spricht, hinsichtlich ihrer Mehrdimensionalität und Pluralität beschreibbar zu machen: Das Konzept einer strukturalen Betrachtung geht daher immer von mehreren, mindestens aber zwei Ebenen aus,286 wodurch die „Relationen zwischen den Elementen eines Systems“ als dessen Struktur analysierbar werden.287 Eine solche Konzeption führt „zur Überwindung von Denkweisen in ‚Ganzheiten‘“,288 weil die strukturellen Zusammenhänge, die ein System konstituieren, nicht länger als monoman, also eindimensional und singulär begriffen werden.289 In diesem Sinn kommt einer Betrachtung der „Verknüpfung von Elementen zu einer St[ruktur]“ immer ein „erkenntnistheoretisch[er] Status“ zu, denn die Struktur „ist keine Eigenschaft des Objektes, sondern der theoretischen Modellbildung“, die auf eine „systematisch[e] Rekonstruktion der dem jeweiligen Objekt zugrundeliegenden Ordnung“ zielt.290 Für die semiotisch ausgerichtete Literatur- bzw. Medienkulturwissenschaft ist ein derartiges Objekt ein Text, der als „Träger eines Sinns“ aufgefasst wird,291 sodass die Analyse- und Interpretationsarbeit, die auf die Struktur fokussiert, der Konstitution möglicher Bedeutungen gilt. Als eine Verknüpfung von Elementen kann sich ein solcher Text in verschiedener Weise (d.h. in unterschiedlichen medialen Realisierungsformen) materialisieren als literarisches, bildkünstlerisches, filmisches oder televisives Artefakt. Eine Untersuchung der Struktur von Texten ist daher „keine Wissenschaft der Inhalte“ im engeren Sinn, „sondern eine Wissenschaft von den Bedingungen des Inhalts, das heißt der Formen“, denn worauf eine solche Untersuchung vornehmlich zielt, sind laut

284

285 286

287

288 289 290

291

Eco, Umberto: „Die Struktur des schlechten Geschmacks“, in: ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur [1964/1978], übersetzt von Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 59–115, hier: S. 74. Eco: „Die Struktur des schlechten Geschmacks“, S. 74. Vgl. Kittler, Friedrich A.: Philosophie der Literatur. Berliner Vorlesung 2002, Berlin: Merve 2013, S. 270. Krah, Hans: Stichwort ‚Struktur‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe [1998], hrsg. von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar: Metzler 32004, S. 633f, hier: S. 634. Krah: Stichwort ‚Struktur‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 633. Vgl. Kittler: Philosophie der Literatur, S. 270. Krah: Stichwort ‚Struktur‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 634, Hervorhebung N.J. Krah: Stichwort ‚Struktur‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 634.

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Paradigmen der Idylle

Roland Barthes gerade „die Variationen“ von in den Texten „angelegten und gewissermaßen anlegbaren Bedeutungen“.292 Was Barthes hier als den Gegenstand einer ‚Wissenschaft von der Literatur‘ im gleichnamigen Abschnitt von Kritik und Wahrheit umreißt, ist jenes Phänomen, das Renate Kühn „Sinnkonstitution“ nennt und „als eine Wirkung der sprachlichen Materialität des Textes“ beschreibt.293 Die sprachliche Materialität literarischer Texte, die in Form von experimenteller Lyrik den Gegenstand von Kühns Untersuchung bilden, meint dabei das strukturelle Gefüge aus Signifikant und Signifikat als den beiden Elementen des sprachlichen Zeichens gemäß der Linguistik Ferdinand de Saussures, die sich für die (post-)strukturalistische Theorie als modellbildend erweist.294 Da es im Folgenden insbesondere um die ‚idyllische Materialität‘ von literarischen, filmischen und televisiven Texten geht, soll deren Struktur anhand der Relationen zwischen potenziell idyllischen Örtern und ihrem Bezug zum locus amoenus als dem ‚idealen‘ Ort der Idylle untersucht werden. Die Systematisierung dieser in den unterschiedlichen Texten dargestellten Örter erfolgt innerhalb eines Koordinatensystems der Idylle, das sich aufgrund der vorangehenden Überlegungen in einem ‚semiotopisch‘ zu nennenden Schema veranschaulichen lässt (vgl. Schema 3). Die x-Achse in diesem Koordinatensystem bildet jene Polarität von Natur und Kultur, wie sie John Fiskes kultursemiotischer Untersuchung des Strandes zugrunde liegt. Zwischen den Polen Natur und Kultur steht das Natürliche als eine Kategorie, die gemäß der zuvor dargelegten idyllischen Chrono-Logik insofern vermittelnd wirkt, als sie Natur und Kultur in ein zeitlich-kausales Verhältnis zueinander setzt. Diesem entspricht im Schema die zeitliche Dimension, die sich ebenfalls entlang der x-Achse erstreckt und von einer hypothetischen Vor-Gegenwart auf der einen (linken) sowie einer Nach-Gegenwart auf der anderen (rechten) Seite ausgeht. An diesen zeitlichen Extrempolen befinden sich die beiden komplementär zueinander stehenden idyllischen Örter, die nach Friedrich Schillers Idyllentheorie für das naive und sentimentalische Konzept der Idylle stehen: Arkadien als eine in der Vergangenheit liegende Vorstellung von einem als unwiederbringlich vorgestellten idealen Ort idyllischer Harmonie sowie Elysium als einem in der Zukunft als zu realisierende Möglichkeit vorgestellte sinnliche Bekräftigung eines – mit Schiller gesprochen – Zustands, in dem kein Widerspruch mehr zwischen Wirklichkeit und Ideal besteht. Diesen beiden Örtern korrespondieren andere idyllische Vorstellungen: Analog zu Arkadien etwa das seit der 292

293 294

Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit [1966], in: ders.: Am Nullpunkt der Literatur/Literatur oder Geschichte/Kritik und Wahrheit, übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 181–230, hier: S. 216. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 14, Hervorhebungen i.O. Vgl. Lieske, Stephan: Stichwort ‚Strukturalismus‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe [1998], hrsg. von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar: Metzler 3 2004, S. 634–637.

Das Koordinatensystem der Idylle

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Antike geläufige Goldene Zeitalter oder die etwa vom christlichen Paradies des Garten Edens, aus dem die ersten Menschen vertrieben wurden. Zu einem als zukünftig erreichbar vorgestellten Elysium stehen insbesondere Nachwelt-Konzepte wie etwa der antike Hades, Walhalla in der nordischen Mythologie oder die christliche Dualität von Himmel und Hölle in Analogie. Gemäß der idyllischen Chrono-Logik, die die Kategorien ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ in das Verhältnis einer ‚natürlichen‘ Kausalität setzt, sodass die Natur als das vorangehend Ursprüngliche, aus dem die Kultur hervorgeht, vorgestellt werden kann, lässt sich die xAchse an diesem ‚Nullpunkt‘ um 90 Grad drehen, sodass sich die für ein Koordinatensystem notwendige zweite Achse als Spiegelung aus der ersten ergibt. Dergestalt können innerhalb dieses Systems die verschiedenen idyllischen Örter als Elemente verteilt werden und zwar mit Bezug auf die Polarität von Natur und Kultur. Dies ist in Schema 3 veranschaulicht: Die einzelnen Elemente würden daher dem entsprechen, was Fiske in seiner Semiotik als materiale Strukturen bezeichnet, die ihrerseits von sozialen Strukturen überlagert werden und auf diese Weise Bedeutung erhalten. Im Schema erfolgt die Anordnung dieser Elemente sowohl auf der horizontalen als auch auf der vertikalen Achse gemäß der Natur/Kultur-Polarität. Diese Verteilung impliziert allerdings keine Wertigkeit, die sich auf der x-Achse nach links bzw. rechts und auf der y-Achse nach unten bzw. oben ausrichten würde, wenngleich die einzelnen Elemente durchaus positive und/oder negative Konnotationen aufweisen können. Die Besonderheit der Elemente liegt also in einem Double bind, das einerseits in ihrer genuinen Ambivalenz in Bezug auf ihr jeweiliges idyllisches Potenzial besteht, sodass sich, wie später noch gezeigt wird, Kitsch und Katastrophe als die beiden Pole der Idylle bestimmen lassen. Andererseits besteht das Double bind der einzelnen Elemente in ihrer heuristischen Funktionalisierung zur Bestimmung idyllischer Strukturen mittels des vorliegenden Schemas, weil sie sich gemäß der Polarität von Natur und Kultur verteilen lassen und dadurch gleichsam diese Polarität überhaupt erst konstituieren. Dies macht evident, was Barthes meint, wenn er sagt, dass eine Verräumlichung im Schema immer nur eine Metapher sein kann:295 Sobald man Metaphern nämlich wörtlich nimmt, dekonstruiert man sie – weshalb dieses Verfahren zu einem zentralen in der (vor allem, aber nicht ausschließlich) experimentellen Literatur avanciert. Durch eine derartige Behandlung des Sprachmaterials, deren verfremdende Effekte, mit Barthes gesprochen, letztlich immer „ein Spiel mit der Struktur“ darstellen,296 lässt sich „die überkommene, an mimetischen Vorstellungen orientierte Auffassung eines dem Text vorausgehenden ‚Sinns‘“ infrage stellen.297 Die Metapher des vorliegenden 295 296

297

Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 93 Barthes, Roland: „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“ [1966], in: ders.: Das semiologische Abenteuer [1985], übersetzt von Dieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 102–143, hier: S. 133. Kühn: Der poetische Imperativ, S. 13f.

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Paradigmen der Idylle

Schemas soll also trotz all ihrer Evidenz insofern keinesfalls wörtlich genommen werden, als das entworfene Koordinatensystem der Idylle eine Möglichkeit zur Untersuchung idyllischer Strukturen darstellt und nicht den Anspruch einer unumstößlichen Allgemeingültigkeit erhebt, die – um es mit der von Friedrich Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ formulierten Sprachkritik zu sagen – „etwas von den Dingen selbst zu wissen“ glaubt, obschon wir „doch nichts als Metaphern der Dinge [besitzen], die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen“.298 Die oppositional angeordneten Elemente im oberen Teil des Koordinatensystems veranschaulichen dessen Strukturierung gemäß der drei Kategorien Natur, Natürliches und Kultur auf der x-Achse: Dem Menschen, der auf Seiten der Kultur verortet ist, steht das Tier auf Seiten der Natur gegenüber. Beide Elemente bilden jeweils einen Komplex, der durch die darunter aufgelisteten Merkmale gekennzeichnet ist, die ihrerseits wiederum in Opposition zueinander stehen: In Abgrenzung zum ‚Tierhaften‘, das sich u.a. durch die Merkmale ‚Körper, Instinkt, Exzess, Chaos‘ auszeichnet, bilden die Merkmale ‚Geist bzw. Logos, Vernunft, Genuss, Ordnung‘ den Komplex des ‚Menschlichen‘. Das heißt aber nicht, dass dieser Komplex die unter dem ‚Tierhaften‘ gelisteten Merkmale ausschließen würde – es geht hier um eine polare Abgrenzung, durch die letztlich die Polarität von Natur und Kultur konstituiert und zugleich genauer fassbar wird. Das Merkmalspaar, das die wechselseitige Beziehung der Polarität von Natur und Kultur am Beispiel der oppositionalen Komplexe ‚tierhaft‘ vs ‚menschlich‘ deutlich werden lässt, ist dasjenige von ‚Instinkt‘ und ‚Trieb‘ (auf der Tier-Seite) sowie von ‚Vernunft‘ und ‚Disziplin‘ (auf der Mensch-Seite). In Nora Roberts Korfu-Roman Rebeccas Traum lässt sich die Entwicklung der Beziehung zwischen Rebecca und Stephanos, die sich auf der ionischen Insel kennen- und lieben lernen, gemäß dieser Opposition beschreiben, denn das Verlangen, das beide instantan seit ihrer ersten Begegnung für einander verspüren, steht im Spannungsverhältnis von Instinkt und Vernunft bzw. Trieb und Disziplin. Obwohl sich für Rebecca beim ersten abendlichen Zusammensein mit Stephanos während des gemeinsamen Strandspaziergangs das erfüllt, was „sie sich heimlich in ihren Träumen vorgestellt“ hat, ist für sie von Anfang an eines klar: sich nicht mit Stephanos „auf eine kurzfristige Affäre einzulassen“.299 Gerade aufgrund dieser sich selbst auferlegten Disziplinierung wird der attraktive Grieche für den ‚Vernunftmenschen‘ Rebecca umso begehrlicher.

298

299

Nietzsche, Friedrich: „Ueber Warhheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ [1872], in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. III/2: Nachgelassene Schriften 1870–1873, Berlin/New York: de Gruyter 1973, S. 367–384, hier S. 373. Roberts: Rebeccas Traum, I.

Goldenes Zeitalter Garten Eden/ Paradies

Arkadien

‚tierhaft‘

> Höhle



Meer/Wüste > Gebirge, Wald, Küste

Tier - Körper - Instinkt - Trieb - Exzess - Chaos - ...

zeitliche Achse

Wildnis

Vor-Gegenwart (Vergangenheit)

(Natur)

(Natürliches)

Orgie

Abfall

naturalisierte Kultur

Dorf

Schema 3: Das Koordinatensystem der Idylle (Quelle: eigene Darstellung) …

Partykeller, Hobby-/Spiel-/Studierzimmer Kino, Fernseher (> F.zimmer, F.couch)

Raststätte, Restaurant, Tankstelle Supermarkt, Möbelhaus

Fluss, (Bagger-)See, Bach, Teich, Lichtung Park, (Lust-)Garten, Terrasse, Balkon Freizeitpark/Jahrmarkt, Stadion, Spielplatz Bordell, Bahnhof, Flughafen

Grotte, Laube, Ruine

(idealer l. a.)

‚Landschaft‘ Insel/Oase/Strand * Idylle

(potenzielle) loci amoeni



semiotopisches Feld

Chimären - Hirten - Touristen - ... Sex

NATÜRLICHES

Ehe

Nahrung

KULTUR



> Küche, Wohn-, Schlaf-, Bade-, Kinderzimmer

Seniorenwohnheim, Hospiz, Friedhof, Bibliothek Universität, Schule, Kindergarten

Gefängnis, Krankenhaus

Stadt > Felder, Wiesen/Weiden Haus

Mensch - Geist/Logos - Vernunft - Genuss - Disziplin, Monogamie (Zölibat) - Ordnung - ...

kulturalisierte Natur

‚menschlich‘

(Kultur)

NATUR

Wa

* Gnoseotopoi: Mythos, Kunst und Literatur, Wissenschaften

Hades Walhalla Himmel/ Hölle

Elysium

Nach-Gegenwart (Zukunft)

Das Koordinatensystem der Idylle 395

Zivilisation

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Paradigmen der Idylle

Das zeigt sich bei den ersten körperlichen Annährungen zwischen den beiden, als es in erlebter Rede aus Rebeccas Perspektive nach einem der ersten Küsse heißt: „Stephanos’ Lippen versprachen ihr alles. Sie schmeckten wie wilder Honig, und Rebecca genoss es, diesen Geschmack zu kosten, immer wieder. Es war genauso, wie sie es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte.“300 Indem Rebecca ihrem Verlangen nachgibt, erlebt sie das Zusammensein mit Stephanos nicht etwa deshalb als Idylle, weil seine Lippen wie wilder Honig schmecken (wodurch auf der Ebene der sprachlichen Darstellung auf den mit der Idylle korrespondierenden Schlaraffenland-Topos rekurriert wird), sondern weil Wirklichkeit und Traum miteinander zu verschmelzen scheinen. Ein solch idyllischer Einbruch des Imaginären ins Reale zeitigt für Rebecca jedoch buchstäblich überwältigende Konsequenzen, denn sie bekommt „Angst vor der Macht der Gefühle“, die sich ihrer dergestalt bemächtigen, dass sie „jede Kontrolle über sich zu verlieren“ droht.301 Während Rebecca also den Verlust ihrer Selbstbestimmtheit und -kontrolle fürchtet, sieht Stephanos, der ebenfalls mit Vernunft und Instinkt, Disziplin und Trieb hadert, seine Rationalität und sein Selbstbewusstsein bedroht, das er insbesondere daran festmacht, dass er „reich, geschäftlich erfolgreich und frei“ ist.302 Doch die Begegnung mit Rebecca und die von ihr ausgehende Attraktion bieten ihm eine gänzlich neue, nachgerade beängstigende Erfahrung: „Sich zu einer attraktiven Frau hingezogen zu fühlen [sic] war für ihn etwas völlig Natürliches. Aber dass dieses Empfinden bei ihm Beunruhigung, Verwirrung und sogar Zorn auslöste, war eine völlig neue Erfahrung [...].“303 Sie scheint Stephanos nachgerade zu überfordern, denn er kommt „nicht damit zurecht, dass [Rebecca] dieses ungezügelte Verlangen in ihm auslöste“, zumal es für ihn schlicht nicht nachvollziehbar scheint, dass ihn „[e]in paar einfache Küsse“ derart „um den Verstand bringen“.304 Was die beiden Protagonisten durch die für einander entdeckte Liebe mit sich ausmachen, ist ein Widerstreit zwischen emotio und ratio, der auf den klassisch-tragischen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung verweist – oder um es aus Rebeccas Perspektive zu sagen: „Ihr Herz und ihr Körper gaben eine ganz andere Antwort als ihr Verstand.“305 Da die beiden Protagonisten gemäß dem konstitutiven Schema der Kitscherzählung für einander bestimmt sind und allein deshalb zusammen finden, damit die Erzählung ihre narrative Legitimation erhält, muss das, was sowohl Rebecca als auch Stephanos Einhalt gebietet, ausgeschaltet werden. Im Fall des attraktiven Griechen ist das

300 301 302 303 304 305

Roberts: Rebeccas Traum, II. Roberts: Rebeccas Traum, II. Roberts: Rebeccas Traum, I. Roberts: Rebeccas Traum, II. Roberts: Rebeccas Traum, II. Roberts: Rebeccas Traum, III.

Das Koordinatensystem der Idylle

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sein Verstand, weshalb in beständiger Wiederholung davon gesprochen wird, wie er diesen verliert: Sein Körper befand sich in Aufruhr. Er konnte sich nicht erinnern, in Gegenwart einer Frau jemals Mühe gehabt zu haben, einen klaren Kopf zu bewahren. Er wusste, wie man eine Frau verführte, und hatte auf diesem Gebiet auch genügend Erfahrungen gesammelt. Aber jedes Mal, wenn er sich in Rebeccas Nähe befand, verließen ihn alle seine Erfahrungen und Weltläufigkeit in diesen Dingen. Er kam sich wie ein unerfahrener junger Bursche vor, der völlig den Verstand verlor, wenn er diese Frau seines Herzens sah.306

Wenig später lässt die Erzählung ihren Protagonisten in erlebter Rede noch einmal darüber reflektieren, was bereits durch den Anblick jener Frau, die für ihn so „unwiderstehlich“ erscheint, in ihm ausgelöst wird: „Ich muss den Verstand verloren haben, dachte er erschrocken. [...] Vielleicht habe ich wirklich den Verstand verloren, dachte er weiter.“307 Während es bei Stephanos also der Verstand ist, der als eine seinem Begehren Einhalt gebietende Kraft ausgeschaltet wird, lernt Rebecca durch das Zusammensein mit Stephanos, ihre Selbstkontrolle abzugeben. Dies erfolgt durch die buchstäbliche Hingabe an den Geliebten beim Sex: „Rebecca bog sich dem Geliebten entgegen“, was zum körperlichen Anzeichen dafür wird, dass sie bereit ist, „Stephanos alles zu geben, was er von ihr fordern würde.“308 Damit sind nun aber mehr als koitale Konzessionen gemeint, denn Rebecca gelangt zu einer grundlegenden Erkenntnis: „Und sie begriff, dass dies die Liebe war, die wirkliche Liebe, die nichts forderte, sondern nur geben wollte.“309 Durch den Umstand, dass Rebecca während des Beischlafs zu einer solch kitschigexistenziellen Einsicht gelangt, lässt sich das Element ‚Sex‘ im Schema unter dem Bereich des Natürlichen verorten: Der Sex vermittelt insofern zwischen der Polarität Natur und Kultur, als er die beiden Komplexe des Tierhaften und des Menschlichen miteinander in Einklang bringt. Als gewissermaßen ‚sexuelle Zwischenbereiche‘ stehen im Schema deshalb die Orgie auf der einen und die Ehe auf der anderen Seite, denn beide sind – kulturgeschichtlich betrachtet – kulturtechnische Institutionalisierungen des Sex: Als Ritus innerhalb des antiken Dionysos-Kults vermittelt die Orgie zwischen der Polarität von Natur und Kultur,310 denn „[d]ie Dionysos-Feste schließen nicht nur den Bund zwischen Mensch und Mensch, sie versöhnen auch Mensch und Natur“, wie es

306 307 308 309 310

Roberts: Rebeccas Traum, III. Roberts: Rebeccas Traum, III. Roberts: Rebeccas Traum, V. Roberts: Rebeccas Traum, V. Vgl. Stichwort ‚Orgie‘, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 955f.

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Paradigmen der Idylle

Nietzsche in seiner Darstellung zur Dionysischen Weltanschauung darlegt.311 Der Ehe kommt eine ähnlich vermittelnde Funktion zu, schließlich erweist sich diese ursprünglich politische Machttechnik einer zunächst gottgegebenen, dann – zunehmend säkularisiert – gesetzlich geregelten Verbindung als idyllisch, weil insbesondere das seit dem 18. Jahrhundert „als mögliche Ehegrundlage“ etablierte Konzept der personalisierten Liebesbeziehung zwei Dinge sicherstellt:312 einerseits die Züchtung genelogisch-genetisch ‚reiner‘ Stammbäume und andererseits die diesem Zweck dienende Kanalisierung ‚menschlich-allzumenschlicher‘ Bedürfnisse. Unabhängig davon, ob der Sex, wie im Fall von Rebecca und Stephanos, im Vollzug dargestellt oder ob er, wie im Fall von Voß’ Idylle Luise, in seinem beständigen Aufschub inszeniert wird – er ist als eine idyllische Aktivität anzusehen. Diese hat gerade für Kitscherzählungen wie Rebeccas Traum insofern eine besondere Funktion, als der Sex dazu beiträgt, dass die beiden Protagonisten zusammenfinden und sich gegenseitig als ‚kompatibel‘ wahrzunehmen lernen. Dieselbe Funktion kommt, wie gezeigt, auch dem Strand zu, sodass es nicht verwundert, wenn dieser zu einem der bevorzugten Orte für schäferstündliche Stelldicheins wird. Rebecca, die mit Stephanos am Strand auf Korfu mehr als einmal zusammen( )kommt, hat deshalb den gleichen ‚Status‘ wie die Hirten in den ‚klassischen‘ Idyllen: Als Touristin ist sie eine Chimäre, denn sie bewegt sich beständig zwischen Natur und Kultur. Dasselbe gilt für die Hirten, die laut Ernst A. Schmidt eben immer eine ‚Doppelrolle‘ haben, weil sie zugleich „Geschöpfe der Poesie und Poeten“ sind:313 Sie hüten ihr Vieh in der freien Natur und damit außerhalb des Raums der Kultur und integrieren durch ihren Gesang über ihre Tätigkeit sowie den Ort, an dem sie diese verrichten, die Natur als Idylle in die Kultur. TouristInnen und Hirten sind nicht die einzigen ‚Wesen‘, denen ein besonderer Status zwischen Natur und Kultur zukommt. Die Liste derartiger ‚Chimären‘ ließe sich fortschreiben – beispielsweise bis hin zu Prostituierten, die bekanntermaßen das älteste Gewerbe der Welt betreiben. Stigmatisiert als Unberührbare sind sie aus dem Bereich 311

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Nietzsche, Friedrich: „Die dionysische Weltanschauung“ [1870], in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. III/2: Nachgelassene Schriften 1870–1873, Berlin/New York: de Gruyter 1973, S. 43–69, hier: S. 47. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität [1994], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 12 2002, S. 126. Luhmanns systemtheoretische Untersuchung der Liebessemantik in Bezug darauf, inwiefern im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert „der Umbau des Gesellschaftssystems von stratifikatorischer in funktionale Systemdifferenzierung“ mit Veränderungen in der „Semantik von ‚Liebe‘“ verkoppelt ist, sodass dieser „symbolisch[e] Code“ weiterhin „darüber informiert, wie man in Fällen, wo dies eher unwahrscheinlich ist, dennoch erfolgreich kommunizieren kann“ (ebd., S. 9), zeigt deutlich, dass die für Kitscherzählungen konstitutiven Ideologeme wie dem von der ‚einzig wahren Liebe‘ sich bereits in der „Romanliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts“ konstituieren (ebd., S. 12). Luhmann liefert mit seiner Untersuchung daher einen für die Kitschforschung nicht hoch genug zu würdigenden Beitrag, zumal sein Korpus insbesondere „zweit- und drittrangige Literatur“ umfasst (ebd.). Schmidt, Ernst A.: Poetische Reflexionen. Vergils Bukolik, München: Fink 1972, S. 112.

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der Kultur ausgeschlossen, obschon ihr Ausschluss impliziert, dass sie Teil der Kultur sind. Dies veranschaulicht eine Figur aus Federico Fellinis Film AMARCORD (Italien/Frankreich 1973), der in einer fiktiven Stadt spielt, die Fellini an das Rimini seiner Kindheit während der Zeit des italienischen Faschismus anlehnt. Diese Stadt erweist sich aufgrund ihrer filmischen Inszenierung als Idylle. Dies liegt weniger daran, dass hier ein harmonisch-friedvolles Zusammenleben präsentiert würde – im Gegenteil: Der idyllische Schein ist ein trügerischer, wofür der Aufmarsch der Faschisten und deren politische Drangsal gegenüber politisch Andersdenkenden genauso steht wie die zwar stets in humorvoller Übertreibung präsentierten, aber deshalb nicht minder konflikthaft wirkenden Streitigkeiten innerhalb der Familie des Protagonisten Titta. Der Eindruck der Idylle entsteht also weniger auf der Ebene der srory als auf der des plot, denn ihn vermitteln hier die filmischen Verfahren: Episodenhaft werden einzelne Ereignisse präsentiert, die sich im Laufe eines Jahres in der Stadt ereignen. Diese zyklische Zeitlichkeit wird durch den Wechsel der Jahreszeiten vom Frühling bis zum Winter angezeigt. Dabei entsteht der Eindruck einer idyllischen Zustandshaftigkeit von Raum und Zeit, der paradoxerweise gerade durch das episodische Erzählen verstärkt wird, weil Ereignisse präsentiert werden, die auf ihre Iterierbarkeit schließen lassen: das zu Beginn des Films gezeigte Stadtfest, der Schulunterricht mitsamt den Streichen der Eleven, die Beichte von Titta, der Geburtstag seines in einer psychiatrischen Anstalt lebenden Onkels, der Schulweg von Tittas jüngerem Bruder sowie das gemeinsame Mittagessen der Familie. Jedoch werden diese potenziellen Wiederholungen des Immergleichen unterbrochen durch singuläre Ereignisse wie etwa den Tod von Tittas Mutter oder die Hochzeitsfeier der Gradisca. Zu den weiteren idyllischen Darstellungsverfahren des Films zählen die Narrationen innerhalb der filmischen Narration, die, wie im Fall des Anwalts und ‚Hobbyhistorikers‘ der Stadt, entweder als direkte Figurenrede gestaltet sind oder aber, wie im Fall von Tittas Erinnerungen, als filmische Rückblenden. Analog der idyllischen poiesis der singenden Hirten, deren Lieder beständig auf sich selbst bezogen sind, weil die Hirten darin über ihren Gesang am idyllischen Ort singen, erscheinen auch diese filmischen Verfahren als hochgradig autoreferenziell: Sie tragen dazu bei, die Stadt als idyllischen Ort zu konstituieren, indem sie das dortige Leben entweder zum Thema haben (wie im Fall der erzählten Geschichten des Anwalts) oder direkt als bebilderte Erinnerung daran präsentiert werden. So wie die Idylle als „Dichtung über das eigene Dichten und die eigene Dichtung“ begriffen werden kann,314 erscheint Fellinis AMARCORD auf der Metaebene als ein Film über das Erzählen und die verschiedenen Verfahren und Medien der filmischen Narration. Eine besondere Rolle innerhalb dieser italienischen Kleinstadtidylle kommt dem dortigen leichten Mädchen zu: Zwar wohnt Volpina stets dem geschäftigen Treiben in der 314

Schmidt: Poetische Reflexionen, S. 107.

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Stadt bei, nimmt aber nie aktiv daran teil. Ihre dergestalt inkludierte Exklusion wird in einer Sequenz des Films dadurch angezeigt, dass sie am Strand zu sehen ist. Dieser wird als ein Ort präsentiert, der insofern zwischen Natur und Kultur steht, als er zwar zur Stadt gehört, aber nicht Teil von ihr ist. Darauf verweist die Baustelle am Strand, wo Volpina die arbeitenden Männer aufsucht, um ihnen ihre Dienste anzubieten. Während alle anderen Hauptfiguren des Films festen Örtlichkeiten innerhalb der Stadt zugeordnet sind – Titta dem Haus seiner Familie, Tittas Mutter Miranda innerhalb dieses Hauses der Küche, die Gradisca dem Kino in der Stadt, die Tabakverkäuferin ihrem Geschäft usf. –, hat Volpina keinen solchen Platz. Als Ortloser bleibt ihr nur der Strand. Dieser kann insofern als ihr ‚Zuhause‘ angesehen werden, als sie dort ihr Geschäft betreibt: In der Sequenz, in der sie sich den Bauarbeitern nähert, wird sie dabei gezeigt, wie sie am Strand ihr ‚natürliches‘ Geschäft verrichtet, nachdem die Arbeiter ihr anderes geschäftliches Angebot abgelehnt haben (Abb. 35). Diese kurze Einstellung ist insofern bedeutsam, als sie Volpinas besonderen Zwischenstatus veranschaulicht: Sie ist nicht als Teil der städtischen Gemeinschaft anzusehen, weshalb ihr die Zugehörigkeit zu jenem Komplex, der im Schema als ‚menschlich‘ bezeichnet ist, abgesprochen wird. In der filmischen Inszenierung erfolgt dies dadurch, dass Volpina beim Urinieren am Strand gezeigt wird, wodurch sie sich als dem oppositionalen Komplex zugehörig erweist, der im Schema als ‚tierhaft‘ bezeichnet ist. Ausgehend von Volpinas Verrichtung ihrer Notdurft am Strand lässt sich ein weiteres Merkmalspaar des Schemas erläutern: Abfall vs Nahrung. Beide Phänomene sind jeweils am gegenüberliegenden Randbereich des Natürlichen zu verorten, weil für sie genau das gilt, was Fiske über das Phänomen der Exkremente sagt, deren strukturellen Merkmale er am Beispiel jener „sprachlichen Kategorie“ erläutert, „die zwei scheinbar so verschiedene natürliche Objekte umfaßt – nämlich die Kategorie ‚schmutzig‘“.315 Exkremente sind gewissermaßen ein ‚natürlicher Abfall‘, der durch die Verdauung aufgenommener Nahrung entsteht, und sie gelten – strukturell betrachtet – als schmutzig, weil Schmutz „ein Stoff am falschen Ort“ ist.316Aus diesem Grund markieren sie „in einem präzis physischen Sinn die Grenze zwischen dem Menschlichen und Nicht-Menschlichen“, denn „Exkremente sind Mensch, der Natur wird, ebenso wie die aufgenommene Nahrung Natur ist, die zum Menschen wird“.317 Insofern ‚schmutzig‘ also „nur eine Eigenschaft des Anomalen“ ist,318 muss der Strand der bevorzugte Ort des Schmutzigen sein, schließlich stellt er aufgrund seiner eigenen Verortung zwischen Natur und Kultur eine „anomale Kategorie“ dar.319 Deshalb wird Volpina im Film beim Urinieren am Strand 315 316 317 318 319

Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 70. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 72. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 70. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 70. Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 56.

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gezeigt, zumal sie einmal metaphorisch und einmal metonymisch auf den physischen und moralischen Schmutz verweist, der sich am Strand finden lässt: Hunde und Brüste. „Im strukturalistischen Sinn“, erläutert Fiske, „sind sie beide deshalb schmutzig, weil sie sich beide an der konzeptionellen Grenze zwischen Mensch und Natur herumtreiben“.320 Nichts anderes tut Volpina in AMARCORD. Gemäß der zuvor erläuterten Verteilung der Elemente im Schema entlang der Polarität Natur versus Kultur sowie der dazwischen vermittelnden Kategorie des Natürlichen lassen sich auch all jene potenziellen loci amoeni in Bezug auf die Idylle als dem idealen lieblichen Ort strukturieren. Zusammengenommen bilden sie das, was im Schema grau unterlegt ist und im folgenden Teil dieses Kapitels als das semiotopische Feld der Idylle genauer untersucht wird. Gemäß den beiden Achsen des Koordinatensystems der Idylle weist dieses Feld eine diagonal angelegte Polarität auf, die auf der einen Seite von dem Bereich gebildet wird, den man als ‚Wildnis‘ bezeichnen kann, sowie dem der ‚Zivilisation‘ auf der gegenüberliegenden Seite. Im Zentrum dieses Feldes liegt die Idylle, die hier gleichsam als das erscheint, was Adler ein ‚Gnoseotop‘ nennt und was hier – dem Gegenstand der vorliegenden Arbeit angepasst – als Gnoseotopos bezeichnet werden kann: ein Raum der Wissensordnung. Neben der Idylle gehören der Mythos, die Kunst und Literatur genauso wie die Wissenschaften zu den verschiedenen Gnoseotopoi, die immer Teil der ‚Zivilisation‘ sind bzw. überhaupt erst dazu beitragen, dass sich dieser Bereich des semiotopischen Feldes konstituiert. Alle Gnoseotopoi vermitteln also letztlich zwischen der Polarität von Natur und Kultur auf ihre je spezifische Weise – als Welterklärungsmodell, das Geschichte in Natur verwandelt (Mythos), als ästhetische Darstellungen, die unter dem hermeneutischen Paradigma des Verstehens an die Stelle älterer Modelle wie dem des Mythos oder dem der Religion treten können, oder als wissenschaftliche Rationalisierungen, die unter dem naturwissenschaftlichen Paradigma des Erklärens andere strukturelle Zusammenhänge aufzeigen als etwa Mythos und Religion sowie Kunst und Literatur. Ihre jeweilige „epistemische Funktion“ liegt in der bedeutungsgebenden Vermittlung zwischen der Polarität von Natur und Kultur, sodass der einzelne Gnoseotopos als mythische, literarischkünstlerische oder eben (natur-)wissenschaftliche „Denk- und Darstellungsform für den Wissensbegriff der Moderne“ angesehen werden kann.321 Die Idylle ist daher ein Gnoseotopos von vielen und kann nicht losgelöst betrachtet werden von den anderen möglichen Gnoseotopoi, was allein durch die interdiskursive Disposition von Literatur (und Kunst) als dem ‚Ursprung‘ der Idylle begründet ist, denn „Kunst und Literatur kommt in dieser Konstellation eine den Wissenschaften mindestens gleichwertige Rolle zu“.322 Wie gezeigt, sind Rousseaus philosophische Reflexionen ihrerseits idyllisch überlagert und noch die Ökologiebewegung des 20. und 21. Jahrhun320 321 322

Fiske: „Lesarten des Strandes“, S. 72. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 23. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 39.

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derts – mit ihrem kulturwissenschaftlichen Ableger des sog. Eco criticism – kommt nicht ohne die von Adler als ‚Denk- und Darstellungsformen‘ bezeichneten Ordnungen bzw. Strukturen eines dergestalt idyllischen Wissens aus. In diesem Sinn erscheint der Gnoseotopos ‚Idylle‘ als ein „begrenzt[er] Erkenntnisbereich, in dem Menschen Erfahrungen zu systematischem Wissen (Ordnung) transformieren können, gleichzeitig aber sich der mit jedem Wissen verbundenen zeitlichen und systematischen Beschränkung mehr oder minder bewusst sind“.323 Eine (medienästhetische) Betrachtung der Idylle als materialer Topos steht dieser von Adler vorgeschlagenen Perspektive also keinesfalls entgegen – sie fokussiert vielmehr auf die konkreten Verfahren einerseits und Strukturen andererseits, die eine solch spezifische Denk- und Darstellungsform von Wissen konstituieren und kennzeichnen. Dazu gehören beispielsweise die Verfahren der Überlagerung, Idealisierung und Beschränkung, wie sie im dritten Kapitel der Arbeit zu den Theorien der Idylle sowie zu deren eigenen theoretischen Grundlagen untersucht worden sind, genauso wie die in diesem Kapitel mit Hilfe schematischer Darstellungen visuell anschaulich gemachten Strukturen, die von einer der Polarität ‚Natur vs Kultur‘ zugrundeliegenden idyllischen Chrono-Logik bis hin zu den drei im folgenden Kapitel genauer zu entwickelnden Paradigmen der Idylle reichen. Anhand von zwei Beispielen sollen hier zunächst einige der Elemente, die potenzielle loci amoeni darstellen, erläutert werden, bevor das semiotopische Feld im nächsten Teil dieses Kapitels hinsichtlich des idyllischen Spannungsverhältnisses zwischen Kitsch und Katastrophe genauer untersucht wird. Die Vermittlungsfunktion der unter die Kategorie des Natürlichen fallenden Idylle zeigt sich an den verschiedenen Elementen innerhalb des semiotopischen Feldes: Als potenzielle loci amoeni werden diejenigen Elemente, die ‚genuin‘ im Bereich der Natur (bzw. der Kultur) zu verorten sind, als naturalisierte Kultur (bzw. als kulturalisierte Natur) in den Bereich der Kultur (bzw. Natur) integrierbar. Dies zeigt sich an einem idyllischen Ort, der im Film NOTTING HILL,324 den man zum Subgenre der romantischen Komödie zählen kann, als buchstäblicher hortus conclusus inmitten eines Londoner Wohnviertels liegt. Innerhalb der filmischen Narration, die letztlich durch die zufällige Begegnung zweier Personen, die sich ineinander verlieben, aber aufgrund äußerer Umstände nicht zusammen sein können, eine Kitscherzählung darstellt, kommt diesem Garten als idyllischem Ort der Liebesbegegnung eine besondere Funktion zu. Nachdem die US-amerikanische Hollywood-Schauspielerin Anna Scott im Geschäft von William Thacker, eines im Londoner Stadtteil Notting Hill ansässigen Fachbuchhändlers für Reiseliteratur, eingekauft hat, sehen sich die beiden durch verschiedene Zufälle wieder. Die Begegnung mit Anna ist für William besonders, wie es der Protagonist, der im Film als ein durch Voice-over-Kommentare in Erscheinung tretender Erzähler fungiert,

323 324

Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 29. NOTTING HILL, Regie: Roger Michell, USA/GB 1999.

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berichtet. So erzählt er während seines Wegs zur Arbeit, der in einer langen Einstellung ohne Schnitte durch eine Kamerafahrt entlang der Straße, auf der William sich bewegt, gezeigt wird: „And so it was just another hopeless Wednesday as I walked the thousands yards through the market to work, never suspecting that this was the day that was gonna change my life forever.“325 Durch die gesamte Begegnungssequenz wird das für die Kitscherzählung konstitutive Moment des initialen Treffens der beiden sich lieben lernenden Protagonisten als insgesamt dreimaliges (und aufgrund der Symbolik dieser Zahl nachgerade märchenhaft erscheinendes) Zufalls-Ereignis inszeniert.326 Das auf diese Zufälle folgende nächste Wiedersehen der beiden ist ein verabredetes, bei dem William Anna schließlich zur Geburtstagsfeier seiner Schwester einlädt. Diese wird im Kreis einiger Freunde von William gefeiert. Auf dem nächtlichen Nachhauseweg von dieser Party spaziert er mit Anna an einem der nachbarschaftlichen Gemeinschaftsgärten vorbei.327 Für die sich weiter intensivierende Beziehung zwischen den beiden Protagnisten des Films hat dieser Garten insofern eine besondere Funktion, als er zu einem örtlichen Surrogat des Zusammenseins avanciert, denn Anna muss Williams Angebot, ihn zu sich nach Hause zu begleiten, ausschlagen, weil dies wegen der für sie am nächsten Tag anstehenden beruflichen Verpflichtungen an diesem Abend „too complicated“ sei.328 Zu den „mysterious communal gardens“, die, wie William erläutert, aufgrund ihrer enklavenhaften Integration in die städtische Landschaft „like little villages“

325

NOTTING HILL, 00:05:13. Vgl. NOTTING HILL, 00:05:13–00:17:54. Zuerst begegnen sich die beiden, als Anna in Williams Buchlanden einkauft, wobei er die prominente Schauspielerin nicht als solche erkennt, sondern erst durch einen anderen Kunden, der sie nach einem Autogramm fragt, darauf aufmerksam wird. Die zweite Begegnung der beiden erfolgt im unmittelbaren Anschluss an diese Szene als ein gemäß den aristotelischen Gesetzmäßigkeiten der Wahrscheinlichkeit noch größerer Zufall: Nachdem William für sich und seinen Mitarbeiter etwas zu trinken gekauft hat, stößt er an einer Straßenecke mit Anna zusammen und schüttet ihr Orangensaft über die weiße Bluse. Um sich umzuziehen, bietet William ihr an, sie zu seinem nahegelegenen Haus zu begleiten. Dort wechselt Anna ihre Kleidung und verabschiedet sich von einem mit der Situation sichtlich überforderten William, der die Begegnung mit Anna als „surreal but nice“ bezeichnet (ebd., 00:15:11). Die dritte Wiederbegegnung erfolgt ebenfalls umgehend, denn Anna hat eine ihrer Einkauftaschen bei William liegen gelassen. Bei der erneuten Verabschiedung küsst Anna William und schlägt vor, dass es wohl am besten wäre, niemandem von ihrer Begegnung zu erzählen. Darauf erwidert William: „I’ll tell myself sometimes, but, don’t worry, I won’t believe it.“ (ebd., 00:17:12) In Aktualisierung seines ‚surreal, aber schön‘-Kommentars verweist William in diesem kurzen Dialog mit Anna auf das märchenhafte Moment ihres Zusammentreffens, worauf inszenatorisch auch das dreimalige Wiedersehen der beiden nach Annas Einkauf in Williams Buchladen symbolisch hindeutet: „Als Zahl der Erfüllung eines in sich geschlossenen Ganzen“ begegnet die Drei insbesondere „in Märchen als Anzahl zu bestehender Prüfungen, zu lösender Rätsel usw.“ (Stichwort ‚Drei‘, in: Becker: Lexikon der Symbole, S. 60f, hier: S. 60). 327 Vgl. NOTTING HILL, 00:45:08–00:50:15. 328 NOTTING HILL, 00:46:07. 326

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seien, haben nur die Anwohner eines Viertels Zutritt.329 Trotzdem will Anna einen dieser Gärten sehen und so klettern beide unerlaubter Weise über den mit rankenden Pflanzen bewachsenen Zaun, durch den der Garten von den umgebenden Straßenzügen abgegrenzt ist (Abb. 36). Die Überwindung des Zauns erweist sich für William, der insgesamt drei Versuche dazu braucht, schwieriger als für Anna, und deshalb fragt er nach diesem Einbruch in die Idylle: „Now what in the world in this garden could make that ordeal worthwhile?“330 Die Antwort gibt Anna, als sie ihn unvermittelt küsst, sobald er neben ihr steht (Abb. 37). Der idyllisch abgeschiedene Garten avanciert also zum Ort der körperlichen Annäherung und die filmische Inszenierung unterstreicht dies gleich doppelt, indem William und Anna während des Kusses in einer Close-up-Einstellung zu sehen sind und auf der extradiegetischen Ton-Ebene das musikalische Thema eingespielt wird, durch das in vorangehenden Einstellung bereits das Zusammensein der beiden Protagonisten eine buchstäblich romantisch-kitschige Note erhält: der von dem britischen Pop-Sänger Ronan Keating komponierte und gesungene Song „When You Say Nothing At All“ – was in dieser Einstellung insofern besonders passend erscheint, als Anna auf Williams Frage statt Worten romantische Taten folgen lässt. Im Anschluss an den Kuss sind Anna und William in zwei langen Einstellungen aus einer Totalen zu sehen, wie sie durch den nächtlichen Garten spazieren. Während ihn die beiden Figuren von rechts nach links durchqueren, bewegt sich die Kamera in einer langsamen Fahrt in die entgegengesetzte Richtung von links nach rechts, was der filmischen Darstellung trotz der gezeigten Bewegung eine ruhige Stimmung verleiht. Diese korrespondiert einerseits mit der weiterhin zu hörenden tonalen ‚Untermalung‘ durch das musikalische Thema des Titelsongs des Films sowie andererseits mit den weichen Überblendungen, durch die alle Übergänge zwischen den Einstellungen in dieser Sequenz gestaltet sind. Die dritte Einstellung bei diesem Spaziergang in der geheimen Gartenidylle zeigt Anna und William weiterhin in einer Totalen, nun allerdings aus frontaler Ansicht, wie sie auf eine hölzerne Gartenbank zugehen (Abb. 38). Durch die niedrige Perspektive der zunächst stillstehenden und dann langsam nach links schwenkenden Kamera wechselt die Größe der Einstellung, in der die Figuren zu sehen sind, langsam zu einer Halbnahen. Annas Blick ist auf die Bank gerichtet (Abb. 39), vor der sie mit William stehen bleibt, um die sich offenbar dort befindliche Gravur vorzulesen: „For June who loved this garden, from Joseph who always sat beside her.“331 Die Bank ist also nicht nur eine einfache Sitzgelegenheit innerhalb des Gartens, sie erscheint dort als ein Denkmal – gleich demjenigen, das Lycas in Solomon Gessner Idylle von der Erfindung der Gärten für seine Liebesbegegnung mit Chloe imaginiert. Indem 329 330 331

NOTTING HILL, 00:46:28. NOTTING HILL, 00:48:22. NOTTING HILL, 00:49:13.

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Anna und William die Bank betrachten, wird somit die bereits für die antiken Idylle charakteristische Ekphrasis in dieser Idyllen-Sequenz des Films aktualisiert. Nachdem Anna und William für einen kurzen Moment vor der Bank innehalten, stellt Anna fest: „Some people do spend their whole lives together.“332 In der nächsten Einstellung wechselt die Kamera an die gegenüberliegende Position der mit Bezug auf die vorangehende Einstellung, in der Anna und William vor der Bank stehen, etablierten 180-Grad-Achse. Damit dieser extreme Positionswechsel nicht unvermittelt wirkt, wird zwischen die beiden Einstellungen kurz ein Close-up der Inschrift geschnitten, die Anna zuvor vorgelesen hat (Abb. 40). Die Bank, die bislang nur aus der Rückansicht gezeigt worden ist, sieht man nun von vorn und Anna und William stehen weiterhin davor, sind allerdings nun ihrerseits aus der Rückansicht zu sehen – das allerdings wieder in einer Totalen, statt wie zuvor noch in einer Halbtotalen. Während William links regungslos an der Bank steht, geht Anna auf diese zu und nimmt darauf Platz (Abb. 41). Die bis dahin unbewegte Kamera setzt nun zu einer Fahrt in die Höhe an, sodass die nächtliche Bankszenerie im Garten schließlich in einer extremen Vogelperspektive aus der Draufsicht zu sehen ist (Abb. 42). Gerahmt von den dunklen Baumkronen bildet die freie Rasenfläche eine aufgrund ihrer Helligkeit von der Umgebung farblich abgesetzte Lichtung. Deutlich ist darauf die Bank zu erkennen, auf der Anna sitzt, sowie William, der sich auf sie zubewegt und schließlich neben Anna Platz nimmt, nachdem sie ihn aufgefordert hat: „Come and sit with me.“333 Dies ist einer der wohl banalsten und dabei zugleich kitschigsten Sätze der Filmgeschichte, denn er erweist sich als metaphorische Variante eines der zentralen Ideologeme des Kitsches: der einzigen und einzig wahren Liebe, die – gemäß jener topischen Schlussformel des Märchens – bis ans Ende aller Tage gemeinsames Glück verheißt. Dass Anna William mit diesem Satz ihre Liebe – nicht durch die Blume, sehr wohl aber durch die Bank – gesteht, zeigt sich am Ende des Films, das mit dem für die Kitscherzählung konstitutiven Happy End schließt. Es besteht tatsächlich in der Hochzeit von Anna und William, allerdings liefert diese dem Film nicht sein letztes Bild. In einer variierten Wiederholung verweist die allerletzte Einstellung auf die nächtliche Gartenszene zurück, denn erneut sind Anna und William auf einer Bank in einem Garten zu sehen, der – angesichts der sie umgebenden erwachsenen Menschen und spielenden Kinder – einer jener idyllischen ‚communal gardens‘ sein muss, wo es zur ersten Liebesbekundung zwischen den beiden gekommen ist (Abb. 43). In dieser Einstellung werden Anna und William in einer Halbnahen gezeigt und das zunächst aus der Rückansicht. Die auf derselben Höhe bleibende Kamera fährt dann entgegen dem Uhrzeigersinn um sie herum, sodass das Paar schließlich in Frontansicht zu sehen ist. William sitzt rechts lesend auf der Bank und Anna liegt neben ihm auf der

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NOTTING HILL, 00:49:27. NOTTING HILL, 00:50:02.

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Sitzfläche – das eine Beine ausgestreckt über die rechte Armlehne, ihren Kopf in Williams Schoß und die linke Hand auf ihrem Bauch. Allein diese Geste, die in der marienikonographischen Tradition auf die Empfängnis Jesu verweist, würde ausreichen, um als Index für Annas Schwangerschaft zu fungieren – als zusätzliches Zeichen lässt ihr deutlich gewölbter Bauch keinen Zweifel daran, dass sie und William sich in freudiger Erwartung befinden. Kitschig ist diese letzte Einstellung des Films deshalb, weil sie visuell das aktualisiert, was Annas Aufforderung an William in der nächtlichen Gartensequenz bereits angedeutet hat; zugleich bestätigt sie das heteronormative ‚Ideal‘ des idyllischen Zusammenseins zweier Liebender als Paar, das durch die Institution der Ehe die Legitimation zur Gründung einer Familie erhalten hat.334 Mit Bezug auf die Struktur der Kitscherzählung kommt dem städtischen Garten in NOTTING HILL also dieselbe Funktion zu wie dem Strand in den Korfu-Romanen: Er macht Anna und William miteinander als Liebespaar kompatibel, indem er zum Ort der gegenseitigen Annäherung wird, die einerseits körperlich ist und andererseits auf emotional-zwischenmenschlicher Ebene zeigt, dass die beiden Protagonisten bereit sind für eine partnerschaftliche Beziehung. Als potenzieller locus amoenus besitzt der Garten zudem eine für die Idylle typische Vermittlungsfunktion, indem er die beiden polaren Bereiche Natur und Kultur einander annähert: Der Garten ist Teil der Stadtlandschaft und somit dem Bereich der Kultur zugehörig. In diese integriert er ein Stück Natur, die 334

Der selbst topisch zu nennende Status der Bildkomposition in der letzten Einstellung des Films bestätigt diese These: So findet sich beispielsweise auf einer Doppelseite in der Kundenzeitung der Sparda-Bank West ein Feature zum Erwerb von Wohneigentum (vgl. Sparda aktuell (5) 2014, S. 4f). Das zentrale Bild der Doppelseite zeigt eine junge Frau und einen jungen Mann, die – ähnlich wie William und Anna in NOTTING HILL – hier auf einer Couch sitzen, die sich nicht in einem Garten, sondern einer Wohnung befindet, die offenbar gerade renoviert wird. Der Kontext des Features sowie die heteronormativ konditionierten Sehgewohnten suggerieren, dass es sich hierbei erstens um ein junges Paar handelt, das zweitens dem im Artikel beworbenen Vorschlag des Eigentumserwerbs gefolgt ist. Auffallend an dieser fotografischen Darstellung ist die linke der Hand der jungen Frau, die sich auf ihrem Bauch befindet – der allerdings keine Schwangerschaft anzeigende Wölbung wie bei Anna aufweist. Trotzdem liegt die Annahme, dass die renovierenden Eigenheimbesitzer baldigst Zuwachs erwarten werden, strukturell nahe: An der anderen wichtigen Extremposition im kompositorischen Aufbau der Doppelseite – nämlich rechts unten – sind zwei Kinder zu sehen, die das Modell eines Hauses interessiert betrachten, während ein Mann und eine Frau, die man als Eltern zu identifizieren gewillt ist, im Hintergrund des Bildes mit einem Mann zu sprechen scheinen, sodass die gesamte Darstellung nahelegt, dass eine Familie hier ihren idyllischen ‚Traum vom eigenen Heim‘ plant. Inwieweit das, was die Kundenzeitung der Bank mit derselben Bildlichkeit bewirbt, wie sie der Film NOTTING HILL als kitschiges Happy End präsentiert, als Verdichtung eines heteronormativen Kitsch-Ideologems zum Bild einer kleinbürgerlichen Familienidylle aufgefasst werden kann, zeigt sich am humoristischen Potenzial eines solchen ‚Ideals‘, das Michael Stauffer mit dem so überlangen wie vielsagenden Titel seines Buches Haus gebaut, Kind gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch parodiert (vgl. Stauffer, Michael: Haus gebaut, Kind gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch, [Weil am Rhein:] Edition Urs Engeler 2003).

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deshalb als kulturalisiert erscheint. Aus diesem Grund fällt der Garten, wie ihn der Film NOTTING HILL präsentiert, innerhalb des semiotopischen Feldes der Idylle unter die Kategorie des Natürlichen. Als funktionalisierte Kulisse innerhalb der filmischen Narration verweist er zudem auf den Kitsch als einen der beiden Pole der Idylle – doch auch der andere Pol fehlt in NOTTING HILL nicht, denn wie nachfolgend gezeigt wird, kommt die Dramaturgie der idyllischen Kitscherzählung nicht ohne eine zentrale Katastrophe aus.

4.2.3Kitsch und Katastrophe als Pole der Idylle (NOTTING HILL – Das Parfum) Die kurze Zeit nach der Liebesbekundung auf der Gartenbank ist für Anna und William das, was Roland Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe „die eigentliche Zeit der Idylle“ nennt.335 Doch findet diese „Süße des Anfangs“ der Beziehung zwischen dem britischen Buchhändler und der US-amerikanischen Hollywood-Schauspielerin ein jähes Ende:336 Nach einem gemeinsamen Abendessen bittet Anna William mit in ihr Londoner Hotel, wo zur Überraschung der beiden Annas aus den USA eingeflogener boyfriend auf sie wartet. Um einer Konfrontation zu entgehen, gibt William sich als Kellner aus und kommentiert mit stereotyp britischem Understatement gegenüber Anna: „This is a fairly strange reality to be faced with.“337 Dies markiert das vorläufige Ende ihrer Beziehung, bis es einige Monate später zu einem unerwarteten Wiedersehen kommt, als Anna plötzlich vor Williams Tür steht. Ihr Besuch hat zwei Gründe: In der Presse sind erotische Fotos von Anna aufgetaucht, die sie noch vor dem Beginn ihrer Hollywood-Karriere gemacht hat. Wie sie William erklärt, ist sie ohne ihr Wissen während der Aufnahmen offenbar auch gefilmt worden, was die ganze Angelegenheit für sie noch delikater macht: „So what was a stupid photo shoot now looks like a porn film.“338 Dieser Skandal wird von der Boulevardpresse dergestalt ausgeschlachtet, dass die mediale Persona Anna Scott sich nicht mehr ungestört in der Welt bewegen kann: „And the pictures have been sold and they’re just everywhere.“339 Für Anna gilt es daher, nun ihr eigenes ‚Schrebergärtchen in der Hölle‘ zu finden, wie es in der ersten Strophe von Gerhard Rühms „idyll“ beschrieben wird. Das ist der zweite Grund für ihren Besuch bei William, denn sein Heim erscheint ihr als die letzte Zuflucht, wie sie erklärt: „I didn’t

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Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe [1977], übersetzt von Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 50. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 50. NOTTING HILL, 00:57:03. NOTTING HILL, 01:07:35. NOTTING HILL, 01:07:42.

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know where to go. The hotel’s surrounded.“340 William heißt Anna daraufhin mit dem schlichten Satz willkommen: „This is the place.“341 Sein Zuhause avanciert für Anna also zur Idylle, weil es für sie ein Refugium darstellt, das gleichsam ein Ort der Sehnsucht ist. Dies bringt sie in einem kurzen Dialog zum Ausdruck, nachdem sie sich in ihrer Bleibe auf Zeit – Anna kann nur zwei Tage in London verbringen, um dann für den nächsten Dreh nach Los Angeles zu reisen342 – durch ein Bad akklimatisiert hat. Das Gespräch findet in Williams Küche statt: Die Einstellung zeigt die beiden dort zusammen am Tisch sitzend und die Halbnahe suggeriert eine heimelige Atmosphäre von Intimität, die sowohl von den dominant sanften Naturfarben der Einrichtungsgegenstände als auch von der legeren Kleidung erzeugt wird, die Anna und William in dieser privaten Situation tragen (Abb. 44).343 William spricht die unglücklichen Ereignisse ihrer abrupten Trennung vor einigen Monaten an, woraufhin Anna sich für die unerwartete Begegnung mit ihrem damaligen Lebenspartner zu entschuldigen versucht. Der Dialog wird in Form einer Schuss-Gegenschuss-Montage präsentiert und die dafür gewählte Einstellungsgröße des Close-up verstärkt den zuvor bereits erzeugten Eindruck von Intimität bei diesem Privatgespräch: Anna: I’m really sorry about last time. I mean, he just flew in. I had no idea. In fact, I had no idea if he was ever gonna fly in again. […] William: So how is he? A: I don’t know. I just got to the point where I couldn’t remember any of the reasons why we were together. And you and love? W: Oh, well, there’s a question without an interesting answer.344

Dass William auf die Frage nach ihm und der Liebe keine interessante Antwort liefern kann, erweist sich als die genau richtige Antwort, denn der Umstand, dass sowohl Anna als auch er momentan wieder bzw. noch Singles sind, eröffnet die Aussicht auf die 340 341 342

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NOTTING HILL, 01:07:49. NOTTING HILL, 01:08:03. „I’m just in London for two days, but what with your papers, it’s the worst place to be“, erklärt Anna gegenüber William (NOTTING HILL, 01:0815). Die Lage der Küche in Williams Haus macht diesen Raum zu einer Idylle: Wie durch vorangehende Einstellungen, die eine räumliche Orientierung im Haus erlauben, deutlich markiert ist, liegt die Küche gegenüber der Eingangstür auf der anderen Seite des Hauses und damit soweit wie möglich abgewandt vom dessen ‚öffentlicher Seite‘, die zur Straße hin ausgerichtet ist. Die Mise en Scène in dieser Einstellung unterstützt den idyllischen Eindruck – weniger aufgrund der großen Zimmerpflanze neben Anna, sondern durch die Vorhänge, die zwar zurückgezogen sind und den Blick in einen kleinen angrenzenden Hinterhof freigeben, der seinerseits aber durch eine Ziegelsteinmauer sowie hölzerne Zaunelemente von seiner Umgebung abgetrennt ist und wie ein hortus conclusus erscheint. In dieser idyllischen ‚Abgeschiedenheit‘ von der urbanen Welt ist es William und Anna möglich, über ihre Gefühle und ihre Beziehung zueinander zu reden. NOTTING HILL, 01:09:45ff.

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Fortsetzung ihrer begonnenen und dann unvermittelt abgebrochenen Beziehung. Annas anschließender Kommentar zeigt genau das an: „I have thought about you.“345 Anders als Anna wissen die ZuschauerInnen, dass William – auf dessen Perspektive die gesamte filmische Erzählung fokussiert346 – dasselbe sagen könnte, schließlich wurden die Monate, die seit der Trennung von Anna vergangen sind, durch einige einzelne Momente aus Williams Leben und damit zeitraffend dargestellt: Neben drei von Williams Freunden arrangierten blind dates zählt dazu auch ein Kino-Besuch, bei dem William Annas letzten Film ansieht.347 Wie Heinz in Wilhelm Lehmanns ‚Böser Idylle‘ sucht also auch der Protagonist in NOTTING HILL die virtuelle Gesellschaft einer Leinwand-Frau, die in diesem Fall zugleich die von ihm begehrte reale Frau ist. Der Kino-Besuch erscheint somit als eine idyllische Kompensation, denn einerseits hat sich für William aus den drei Dates nichts ‚Festes‘ entwickelt und andererseits erscheint ihm zu diesem Zeitpunkt das Zusammensein mit der ‚echten‘ Anna endgültig unmöglich. Es ist diese traurige Vorgeschichte ihrer Beziehung, die das auf zwei Tage befristete Wiedersehen von William und Anna zu einer idyllischen Zeit des Zusammenseins macht. Dies stellt der Film erzählerisch durch eine der längsten Sequenzen heraus, die eine chronologisch zusammenhängende Einheit bildet. Die Besonderheit dieser Sequenz innerhalb der filmischen Narration zeigt sich am Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit: Zwar werden innerhalb der etwa zwölfeinhalb Minuten die Ereignisse eines einzelnen Tages komprimiert, sodass man in der narratologischen Terminologie von Zeitraffung sprechen müsste, jedoch erweist sich die Zeitdarstellung in dieser Sequenz mit Bezug auf den knapp 120 Minuten langen Film, dessen story einen Zeitraum von mindestens mehr als einem Jahr umfasst,348 als regelrecht zeitdehnend. Aus diesem 345 346

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NOTTING HILL, 01:10:41. Dadurch erscheint der Film als eine Variation der ‚klassischen‘ Kitscherzählung, die i.d.R. aus der Perspektive der weiblichen Protagonistin erzählt ist oder aber, wie beispielsweise im Fall des Korfu-Romans Rebeccas Traum, zwischen den Perspektiven der beiden Protagonisten wechseln. Aus diesem Grund kommt William in NOTTING HILL auch die kitschtypische ‚Frauenrolle‘ zu, denn im Kontrast zu Anna zeichnet er sich als männliche Hauptfigur durch die als weiblich konnotierten Merkmale ‚passiv, statisch‘ aus, während Anna durch die männlich konnotierten Merkmale ‚aktiv, dynamisch‘ gekennzeichnet ist. Mit Bezug auf die Figurenkonfiguration wäre William daher als konzeptionell weiblich zu bezeichnen und da er in der Konstellation seiner Beziehung mit Anna zudem die Eigenschaften ‚verlässlich, häuslich, umsorgend‘ aufweist, ließe sich dieser Komplex als Merkmalsbündel ‚Idylle‘ für eine Analyse der Kitscherzählung auf der figuralen Ebene nutzen. Hierin läge eine Möglichkeit, um den (literarischen) Kitsch aus der Perspektive der Idylle als einen der zentralen Bereiche untersuchbar zu machen, in den der materiale Topos diffundiert und produktiv genutzt wird. Dies stellt sowohl in der Idyllen- als auch der Kitschforschung bislang ein Desiderat dar. Vgl. NOTTING HILL, 00:58:38–00:59:22. Nach Annas und Williams erstem Zusammentreffen vergehen wenige Tage oder aber Wochen. Zwischen ihrer Trennung nach der unerwarteten boyfriend-Begegnung in Annas Hotel bis zu ihrer Flucht zu William vergehen einige Monate, wie man aus dem Gespräch zwischen den

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Grund entsteht der Eindruck, als würde nicht ein einzelner Tag, sondern eine unbestimmte Anzahl mehrerer Tage präsentiert – zumal das, was gezeigt wird, sehr wohl singuläre Ereignisse sind, die aber auf die Zustandshaftigkeit alltäglichen Zusammenlebens verweisen: Dazu gehört Annas Bad bei William genauso wie das gemeinsame Gespräch am Küchentisch. Es ist also die Katastrophe der Verbreitung von Annas Nacktfotos durch die Klatschpresse, die in NOTTING HILL zur Konstitution der Idylle führt. Der materiale Topos erfährt seine Konkretion hier in Form von Williams Haus, das neben der Küche weitere verschiedene idyllische Örter integriert. Diese folgen der Struktur des Hauses, insofern sie dessen Rahmung in der Horizontalen darstellen: Mit der Küche im Erdgeschoss des Hauses steht die Terrasse auf dem Dach in idyllischer Korrespondenz. Dort werden Anna und William in den unmittelbar an das Küchengespräch anschließenden Einstellungen dabei gezeigt, wie sie gemeinsam das Skript für Annas nächsten Film einüben.349 Diese kurze Binnensequenz ist insofern von Bedeutung, als sie die Alltagskompatibilität zwischen Anna und William herausstellt, nachdem diese zuvor von Anna im Küchengespräch in Zweifel gezogen worden ist – und zwar mit Bezug auf den ‚Standesunterschied‘ zwischen ihr als Hollywood-Star und einem ‚Normalsterblichen‘ wie William: „It’s just that any time I’ve tried to keep anything normal with a person that was normal, it’s just been a disaster.“350 Die Sequenz auf der Dachterrasse veranschaulicht, dass diese von Anna als ‚disaster‘ bezeichnete Möglichkeit eines katastrophischen Scheiterns ihrer Beziehung nicht zu erwarten ist. Im Vergleich zu anderen Dachterrassen, auf denen sich Katastrophen in partnerschaftlichen Beziehungen ereignen (vgl. Kapitel 2.1.3), erscheint die in NOTTING HILL präsentierte Idylle auf Williams Haus insofern nicht gefährdet, als die Mise en Scène bei der Einrichtung des lieblichen Ortes mit zahlreichen Pflanzen in tönernen Töpfen sowie hölzernen Gartenmöbeln, einem Sonnenschirm und einem eingedeckten Tisch auf das Detail eines verfänglichen Tischtuchs verzichtet und offenkundig ausreichend Bewegungsfreiheit bietet. Das ist in der Einstellung, als die Dachterrasse in einer Totalen aus der Frontansicht gezeigt wird, durch Anna vermittelt, die ihren Text in Bewegung memoriert (Abb. 45).

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beiden erfährt. Wie angekündigt bleibt Anna zwei Tage in London und nach ihrer Abreise vergeht ein ganzes Jahr, was durch eine zeitraffende Montagesequenz dargestellt wird. Nach dieser langen Zeit kommt es zu einem erneuten Wiedersehen zwischen Anna und William, die dann endgültig als Paar zusammenkommen. Wann danach ihre Hochzeit stattfindet, bleibt unklar. Die letzte Einstellung des Films lässt angesichts von Annas unverkennbar anderen Umständen das Verstreichen weiterer Monate vermuten, sodass die gesamte story in Summa einen Zeitraum umfassen muss, der deutlich länger als ein Jahr ist. Vgl. NOTTING HILL, 01:11:32–00:12:44. NOTTING HILL, 01:10:46.

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Ganz im Sinn der ‚klassischen‘ Idyllentradition avanciert die Dachterrasse in NOTTING HILL zum Ort künstlerischer Betätigung sowie zu einem Ort der Diskussion über

Kunst: Auf Annas Frage danach, was William von ihrem nächsten Film halte, kommentiert er zurückhaltend, dass Anna ihre schauspielerischen Qualitäten in einer Jane-Austen- oder Henry-James-Verfilmung wesentlich besser präsentiere könne als in einem generischen Hollywood-Actionfilm, der von der heldenhaften Verhinderung des Untergangs der Welt erzählt: „You know, it’s not Jane Austen. It’s not Henry James. But it’s gripping.“ Und auf Annas Nachfrage, ob sie in solchen Literaturverfilmungen mitspielen sollte, antwortet William diplomatisch: „Well, I think you would be brilliant in Henry James, but, you know, this writer – these writers, they’re pretty damn good, too.“351 Auch dieses kurze Gespräch stellt erneut die Kompatibilität zwischen den beiden heraus, denn William erscheint nicht nur als geduldiger Partner beim Einüben des Drehbuchtexts, sondern tritt zudem als kritischer Ratgeber für Annas weitere schauspielerische Karriere auf. (Bezeichnender Weise findet das nächste Wiedersehen der beiden bei Dreharbeiten zu einer Henry-James-Verfilmung statt.) So wie die Dachterrasse fungiert auch die Küche als Ort eines Gesprächs über Kunst: Nach dem Einstudieren des Filmskripts werden Anna und William in der anschließenden Binnensequenz nochmals am Tisch sitzend gezeigt (Abb. 46). Anna bemerkt einen Chagall-Druck, der an der Küchenwand neben dem Fenster hängt. Während dieses lediglich eine begrenzte Aussicht auf die Backsteinwand des Nachbarhauses bietet, ermöglicht Annas Antwort auf Williams Frage danach, ob sie Chagall möge, tiefe Einblicke in die Gefühlswelt der Schauspielerin: „It feels like how love should be. Floating through a dark blue sky.“352 Eine zwischengeschnittene Close-up-Einstellung der Gemäldereproduktion stellt den ZuschauerInnen diesen Gegenstand des Gesprächs, das wie in der vorangehenden Küchen-Sequenz erneut durch eine Schuss-GegenschussMontage präsentiert wird, deutlich vor Augen, sodass Williams nachfolgender Hinweis auf die Geige spielende gelbe Ziege logisch in den Verlauf der Unterhaltung eingebunden ist. In Annas Bildexegese erscheint dieses Motiv als Allegorie eines nachgerade idyllischen Zustands der Glückseligkeit: „Happiness isn’t happiness without a violin-playing goat.“353 Den Rest des Tages, von dem Anna sagt „Today’s been a good day“,354 verbringen die beiden lesend in Williams Wohnzimmer noch gemeinsam, für die Nacht sind jedoch getrennte Unterbringungen arrangiert: William bietet Anna sein Schlafzimmer an, während er im Wohnzimmer auf der Couch schläft. Jedoch ist diese räumliche Trennung nicht von Dauer. William erhält nächtlichen Besuch von Anna und nach einem leidenschaftlichen Kuss beschließen beide, sich das Bett im Schlafzimmer zu teilen. Was sich 351 352 353 354

NOTTING HILL, 01:12:19ff. NOTTING HILL, 01:12:57. NOTTING HILL, 01:13:05. NOTTING HILL, 01:15:023.

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dort zwischen den Liebenden ereignen mag, überlässt der Film dem Imaginären der ZuschauerInnenseelen – die folgende Einstellung zeigt die beiden am nächsten Morgen nach dem Aufwachen. Während dieses intimen Zusammenseins kommentiert Anna die Situation mit einem Zitat der Schauspielerin Rita Hayworth. Die Frage, die sie dabei an William richtet, verweist auf den konstitutiven Mechanismus der Idylle: „Rita Hayworth used to say, ‚They go to bed with Gilda, they wake up with me.‘ [...] Men went to bed with the dream, and they didn’t like it when they woke up with reality. Do you feel that way?“ Williams Antwort ist eindeutig und eindeutig kitschig: „You are lovelier this morning than you have ever been.“355 Auf der Metaebene gelesen, sind nicht nur die beiden Pole der Idylle das Thema dieses kurzen Dialogs – er stellt gleichsam den, mit Olaf Gulbransson gesprochen, ‚inneren Zusammenhang‘ zwischen Kitsch und Katastrophe in Bezug auf die Idylle heraus:356 Während die Idylle durch einen Einbruch des Imaginären ins Reale dem Pol des Kitsches zugeordnet werden kann, ergibt sich ihre katastrophische Ausprägung aus einer Umkehrung dieses konstitutiven Mechanismus. Genau diesen Einbruch des Realen ins Imaginäre fürchtet Anna, falls William sie nicht länger als mediale Persona, sondern nun beim Aufwachen als ‚normalen‘ Menschen wahrnimmt. Doch Annas Angst ist unbegründet, was sich im weiteren Verlauf des morgendlichen Gesprächs schnell zeigt. Dieses avanciert zum kitschigen Höhepunkt des Films: Nachdem Anna für William das Frühstück ans Bett gebracht hat, fragt sie ihn: „Can I stay a bit longer?“ Williams Antwort ist kein schlichtes Ja, sondern in Form eines Antrags, das restliche Leben zusammen zu verbringen, eine Aktualisierung des Kitsch-Ideologems der ewigen Liebe: „Stay forever.“ Nach einem kurzen Moment willigt Anna mit einem schlichten „Okay“ ein.357 Dass ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen den beiden Polen der Idylle besteht, zeigt die Katastrophe, die nach der kitschigen Klimax eines inoffiziellen Heiratsantrags über William und Anna hereinbricht: Nachdem es an der Haustür geklingelt hat, öffnet William diese und sieht sich einer enormen Menge von fotografierenden Reporterinnen und Reportern gegenüber. Im Gegensatz zu Rühms „idyll“ dringt das Getöse der höllischen Außenwelt in die Idylle von Williams Zuhause alles andere als gedämpft herein. Das abrupte Zuschlagen der Eingangstür kann diesen katastrophischen Einbruch des Realen in Form der sensationslustigen Boulevardpresse ins Imaginäre des idyllischen Eigenheims im Londoner Stadtteil NOTTING HILL nicht verhindern.

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NOTTING HILL, 01:20:54ff. Gilda Mundson Farrell heißt die von Rita Hayworth gemimte Protagonistin des melodramatischen Spielfilms GILDA (Regie: Charles Vidor, USA 1946). Anna erläutert auf Williasm Nachfrage, dass diese Figur Rita Hayworths „most famous part“ gewesen sein (ebd., 01:21:05). Vgl. Gulbransson: „Prolog“ [V. 22], in: ders.: Idyllen und Katastrophen, S. 6. NOTTING HILL, 01:21:51ff.

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Neugierig über den unerwarteten Besuch, öffnet Anna die Tür, ehe William sie davon abbringen kann. Die Zuflucht, die ihr Williams Haus bis dahin geboten hat, ist für Anna zur Falle geworden. Wie sich später herausstellt, hat Williams Mitbewohner Spike den Aufenthaltsort der berühmten Schauspielerin verraten.358 Überstürzt bricht Anna auf und verlässt William mit den Worten: „I’ll regret this forever.“359 Nachdem eine von der Klatschpresse verursachte Katastrophe die beiden Getrennten wieder zusammengerbacht hat, ist es nun eine weitere Katastrophe, die ihre erneute und scheinbar endgültige Trennung bewirkt. Die Zeit des Zusammenseins in Williams Haus erscheint somit als eine – mit Georges Perec gesprochen – „glückselig[e] Parenthese“,360 die, wie ein Urlaub, wenigstens für kurze Zeit die Widrigkeiten des Alltags vergessen machen konnte. Auf der plot-Ebene erweist sich diese in der erzählten Zeit gemessen kurze, aber ‚glückselige Parenthese‘ als eine der längsten zusammenhängenden Sequenzen des gesamten Films. Dieser Eindruck eines zeitdehnenden Erzählens entsteht insbesondere im Kontrast zur nachfolgenden Sequenz, durch die in weniger als einer Minute Erzählzeit das Vorübergehen eines ganzen Jahres dargestellt wird.361 Das filmtechnische Verfahren zur zeitraffenden Darstellung ist eine suggerierte Plansequenz, die scheinbar ohne (sichtbare) Schnitte auskommt. Diese sind jedoch durch fließende Übergänge kaschiert, was durch das Gezeigte ermöglicht wird: Zu sehen ist Williams Weg zur Arbeit, der ihn von seinem Haus zum Buchladen führt. Die Einstellung verweist damit auf die Eröffnungssequenz des Films nach dem Vorspann zurück, die von diesem dadurch unterschieden ist, dass keine Titelei mehr eingeblendet wird. Während seines Wegs zur Arbeit wechselt William auf der belebten Straße beständig zwischen zwei Ebenen, die durch im Bildvordergrund befindliche Personen, Marktstände oder Fahrzeuge gebildet werden. Wenn William sich in der hinteren Ebene und damit auf der Straßenmitte befindet, ist er in einer Totalen zu sehen, im Bildvordergrund sieht man ihn ein einer Halbnahen. Die Übergänge bei Williams Positionswechsel ermöglichen unsichtbare Schnitte, beispielsweise wenn er an Gegenständen bzw. Personen vorbeigeht, die übergroß im Vordergrund stehen und somit die gesamte Bildfläche in der Vertikalen einnehmen (Abb. 47).362 Der für die Idylle konstitutive innere Zusammenhang zwischen ihren beiden Polen zeigt sich nicht nur in filmischen, sondern auch literarischen Texten. Dazu gehört Die 358 359 360

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Vgl. NOTTING HILL, 01:28:02. NOTTING HILL, 01:26:43. Perec, Georges: Ein Mann der schläft [1967], übersetzt von Eugen Helmlé, Zürich: Diaphanes 2 2014, S. 57. Vgl. NOTTING HILL, 01:28:06–01:29:46. Eine weitere Schnittmöglichkeit bieten die stets mit diversen Gegenständen dicht behangenen Seitenwände der Marktstände; es ist angesichts dieser Spezifik der Mise en Scène davon auszugehen, dass die gesamte Sequenz eine Montage aus Studioaufnahmen mit Green Screen und Realaufnahmen ist.

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Geschichte eines Mörders, die Patrick Süskinds Roman Das Parfum seinem Untertitel nach erzählt.363 Der Roman ist keine Idylle, stellt aber eine besondere Konkretion des materialen Topos in Form einer für den Protagonisten zum locus amoenus avancierenden Höhle dar: Nach seiner Parfümeursausbildung, die mit dem Einsturz des Hauses seines Lehrmeisters Giuseppe Baldini und dessen Tod ein jähes Ende findet, verlässt Jean Baptiste Grenouille Paris, um in Südfrankreich sein Handwerk durch das Erlenen neuer Verfahren zur Produktion von Duftessenzen zu perfektionieren. Das Verlassen des olfaktorischen Molochs der französischen Hauptstadt ist für den mit einer besonders feinen Nase und Geruchserinnerung begabten Grenouille eine „Erlösung“ von der Bürde, zig tausend „verschieden[en] Gerüche in rasendem Wechsel“ ausgesetzt zu sein (147). Fernab vom „Dunstkreis der großen Stadt“ schmeicheln „[d]ie gemächlichen Düfte“ auf dem Land „seiner Nase“: „Zum ersten Mal in seinem Leben mußte er nicht mit jedem Atemzug darauf gefaßt sein, ein Neues, Unerwartetes, Feindliches zu wittern oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu müssen.“ (147) Diese auf dem Land „frischgewonnene Atemfreiheit“ (149) erscheint für Grenouille wie sein persönlicher ‚Naturzustand‘ und deshalb entfernt er sich auf seiner Reise nach Grasse immer weiter von der Zivilisation: „Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen“ (148), denn „[e]r war wie berauscht von der sich immer stärker ausdünnenden, immer menschenferneren Luft“ (149). Grenouille folgt für seinen Rückzug in die Natur „nur dem Kompaß seiner Nase“ (151), der ihn „immer heftiger dem Magnetpol der größtmöglichen Einsamkeit entgegen“ führt (152). Diesen „menschenfernst[en] Punkt“ findet er schließlich „auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkans namens Plomb du Central“ in der Auvergne (152). Wie Williams Haus für Anna so stellt diese „trostlos[e] Unwirtlichkeit“ (152) für Grenouille sein idyllisches ‚Schrebergärtchen in der Hölle‘ dar, denn „[ü]berall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne“ (153). Diese ‚geruchliche‘ Abgeschiedenheit versetzt Grenouille in ein „immer stärker werdnend[es] Gefühl der Euphorie“, das für ihn ein „Glück“ darstellt, auf das er „nicht vorbereitet“ ist, wie es die Erzählung in erlebter Rede verdeutlich: „Er war dem verhaßten Odium entkommen! Er war tatsächlich vollständig allein! Er war der einzige Mensch auf der Welt!“ (154) Nachdem Grenouille seine persönliche Idylle gefunden hat, beginnt „er damit, sich auf dem Berg einzurichten“ (155). Wie das lyrische Ich in Rühms „idyll“, das es sich bei friedlich auf der Mattscheibe dahinplätschernden Krimis vor dem Fernseher genauso gemütlich macht wie Anna in Williams Haus, betreibt auch Grenouille idyllischen ‚Nestbau‘ – und das in einer Höhle auf dem Berggipfel: „Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen natürlichen Stollen, der in vielen engen Windungen in das Innere des Berges 363

Süskind, Patrick: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders [1985], Zürich: Diogenes 1994. Nachfolgend werden Zitate aus diesem Roman ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt.

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führte, bis er nach etwa dreißig Metern an einer Verschüttung endete.“ (156) Für Grenouille besitzt dieser Ort „unschätzbare Vorzüge“: Am Ende des Tunnels herrschte selbst tagsüber stockfinstere Nacht, es war totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige Kühle. Grenouille roch sofort, daß noch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es überfiel ihn beinahe ein Gefühl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er einen Altar, und legte sich darauf. Er fühlte sich himmlisch wohl. Er lag im einsamsten Berg Frankreichs fünfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gefühlt [...]. Es mochte draußen die Welt verbrennen, hier würde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wußte nicht, wem er danken sollte für so viel Glück.“ (156)

In der morbiden Abgeschiedenheit seines selbstgewählten Grabes liegt für Grenouille also das, was sich mit Jean Paul als das idyllische Vollglück (in) der Beschränkung beschreiben lässt. Diese ist weniger eine metaphorische, denn eine ganz und gar buchstäbliche: „Dort, am Ende des Stollens, war es so eng, daß Grenouilles Schultern das Gestein berührten, und so niedrig, daß er nur gebückt stehen konnte. Aber er konnte sitzen, und wenn er sich krümmte, konnte er sogar liegen. Das genügte seinem Bedürfnis nach Komfort vollkommen.“ (156) In seinem höhlenartigen Stollen im Berg ist Grenouille mit allem versorgt, was er zum Überleben benötigt: Als Wasserstelle dient ein „Einbruch etwas unterhalb des Gipfels“, wo das Wasser „in einem dünnen Film am Fels“ herunterläuft (155). Um „seinen Feuchtigkeitsbedarf für einen Tag“ zu stillen, brauchte Grenouille nur „geduldig eine Stunde lang“ daran lecken (155). Sein weiteres leibliches Wohl befriedigt er durch eine „nach bürgerlichen Maßstäben völlig indiskutable Ernährungsweise“, denn er isst Kleintiere sowie „Flechten und Gras und Moosbeeren“ (155). Dergestalt in seiner Existenz gesichert, erlebt Grenouille in dieser „Gruft“ die idyllischste und das heißt gleichsam glücklichste Zeit seines Lebens „in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit“ (157), denn zum ersten Mal ist er „sich selbst nahe“ –darin besteht sein ganzes „Vergnügen“: Grenouille „badete in seiner eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich“ (158). Die Untersuchung der Medialität als eine der drei konstitutiven Dimensionen der Idylle im zweiten Kapitel dieser Arbeit hat gezeigt, dass sie insofern eine metonymische Struktur aufweist, als die Idylle immer eine andere Idylle – bzw. ein anderes Medium des Idylle-Machens – zum Gegenstand hat. Dasselbe gilt für Grenouilles Idylle im Bergstollen, denn durch die Beschränkungen (in) seiner Einsiedelei lebt er „so intensiv und ausschweifend, wie nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat“: In der „Felsengruft“ avanciert er nämlich zum Gestalter einer imaginären Idylle, deren „Schauplatz [...] sein inneres Imperium“ ist, „in das er von Geburt an die Konturen aller Gerüche eingegraben hatte, denen er jemals begegnet war“ (158). Diesen Gerüchen, die für Grenouille nachgerade eidetisch mit Erinnerungen verkoppelt sind, kommt also diesel-

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be Funktion zu, wie sie der „Schaz von Bildern“ besitzt, der sich dem lyrischen Ich in Gessners Lycas-Idylle durch die „Einbildungskraft“ eröffnet.364 Auch Grenouille folgt dem von Gessner vorgestellten Paradigma der idyllischen poiesis, weil er aus seinem olfaktorischen Erinnerungsschatz bestimmte Gerüche auswählt, um mit ihnen sein „inner[es] Universium“ zu schaffen, in dem es „überhaupt keine Dinge“ gibt, „sondern nur die Düfte von Dingen“ (160). Dieser Umstand veranlasst die auktoriale Erzählinstanz zu einem Kommentar in Klammern, der die sprachliche Vermittlung des Abstraktums der Grenouille’schen Gedankenwelt betrifft und deren nachgerade idyllische Disposition erläutert: „(Darum ist es eine façon de parler, von diesem Universium als einer Landschaft zu sprechen, eine adäquate freilich und die einzig mögliche, denn unsere Sprache taugt nicht zur Beschreibung der riechbaren Welt.)“ (160) Grenouilles imaginäre Errichtung seines „einzigartig[en] Grenouillereich[s]“ (161) erweist sich ganz im Sinn idyllischer poiesis als ein männliches Prärogativ, denn „der rasende Gärtner“ entwirft sich durch sein Idylle-Machen als absoluter Herrscher dieser fingierten Welt, wo er „mit dem Flammenschwert“ regiert: „Von ihm, dem einzigartigen Grenouille erschaffen und beherrscht, von ihm verwüstet, wann es ihm gefiel, und wieder aufgerichtet“, gilt an diesem Ort „nichts als sein Wille, der Wille des großen, herrlichen, einzigartigen Grenouille“ (161). Als Schöpfer seiner eigenen Welt, über die er gottgleich gebietet, betätigt sich Grenouille wie Lycas, der gärtnernde Hirte, von dessen Erfindung der Gärten das lyrische Ich in Gessner Idylle berichtet: Nachdem Lycas seinen Garten, den er als Denkmal für seine Liebesbegegnung mit der Hirtin Chloe anlegt, durch verschiedene landschaftliche Versatzstücke topothetisch hingestellt hat, belebt er diesen durch die Anrufung verschiedener Tiere, die sich dort einrichten sollen. Ähnlich verfährt Grenouille, wenn er sein imaginäres Reich zum Duften bringt. Im Roman wird diese ‚olfaktorische Beseelung‘ durch agrikulturelle Metaphern vermittelt, die – gemäß dem vorangehenden Kommentar der Erzählinstanz – Grenouilles rasender Gärtnerei idyllische Evidenz geben: „Und er ging mit mächtigen Schritten über die brachen Fluren und säte Duft der verschiedensten Sorten, verschwenderisch hier, sparsam dort, in endlos weiten Plantagen und kleinen intimen Rabatten, den Samen faustweise verschleudernd oder einzeln an eigens ausgewählten Plätzen versenkend.“ (161) Als idyllischer Gärtner erscheint Grenouille gottgleich, was in der Beschreibung des Abschlusses seiner idyllischen poiesis ein intertextueller Bezug auf den zehnten Vers im 1. Buch Mose deutlich macht: Und als er sah, daß es gut war und daß das ganze Land von seinem göttlichen Grenouillesamen durchtränkt war, da ließ der Große Grenouille einen Weingeistregen herniedergehen, sanft und stetig, und es begann überall zu keimen und zu sprießen, und die Saat trieb aus, daß es das Herz erfreute. Schon wogte es üppig

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Gessner, Salomon: „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“ [V. 15], in: ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe, hrsg. von E. Theodor Voss, Stuttgart: Reclam 1973, S. 39f, hier: S. 39.

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auf den Plantagen, und in den verborgenen Gärten standen die Stengel im Saft. Die Knospen der Blüten platzten schier aus ihrer Hülle. (161)

Neben dem indirekten Bibelzitat im Anfang der Passage ist vor allem die unverhohlene Sexualsymbolik auffällig, die Grenouilles Idylle-Machen zu einer patriarchalischen Allmachtsfantasie macht. Der po(i)etischen Gärtnerei kommt darüber hinaus eine kompensatorische Funktion zu, denn im Imaginären wird Grenouille das möglich, was ihm im Leben versagt bleibt, nämlich eine Sexualität zu besitzen und diese zugleich auszuleben – ohne katastrophische Konsequenzen: Grenouilles Lust, sein sinnliches Begehren wie auch seine körperliche Begierde, gilt der „Ahnung von etwas Niegerochenem“, das er noch während seiner Zeit in Paris als „Schlüssel zur Ordnung aller anderen Düfte“ erkennt (50). Wie durch einen Zufall, den der Wind herbeiführt, als er Grenouille „etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Bröselchen, ein Duftatom, nein, noch weniger: eher die Ahnung eines Duftes als einen tatsächlichen Duft“ in die Nase weht (50), begegnet der Riechende dieser olfaktorischen Seduktion. Da er unwiderstehlich auf ihn wirkt, muss Grenouille die Quelle dieses Duftes ausfindig machen, „den er über eine halbe Meile hinweg bis andere Ufer [der Seine, N.J.] gerochen hatte“ (53f). Sein Weg führt ihn zu einem Mädchen, das in einem Hinterhof bei Kerzenschein Mirabellen putzt: „Er wußte sofort, was die Quelle des Duftes war [...]: nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war das Mädchen.“ (53f) Die zufällige Begegnung mit dem „apotheotisch[en] Parfum“, das von diesem Mädchen ausgeht, offenbart Grenouille einen existenziellen Mangel, denn für ihn steht fest, „daß ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte“ (55). Die ‚Geschichte eines Mörders‘ erweist sich angesichts dieser Ausgangssituation als Variante einer Kitscherzählung, denn auch die „genialsten und abscheulichsten Gestalten“ (5), zu denen die Erzählinstanz den Protagonisten des Romans rechnet, kann ein kitschiger coup de foudre treffen. Während es in der ‚klassischen‘ Kitscherzählung darauf hinausläuft, dass eine Kongruenz zwischen dem sinnlichen Begehren und der körperlichen Begierde der sich lieben lernenden Protagonisten hergestellt wird – und der Strand ist, wie die Korfu-Romane zeigen, hierfür der bevorzugte Ort –, führen diese beiden Triebkräfte bei Grenouille zu einer verhängnisvollen Verwechslung: „Für einen Moment war er so verwirrt, daß er tatsächlich dachte, er habe in seinem Leben noch nie etwas so Schönes gesehen wie dieses Mädchen. [...] Er meinte natürlich, er habe noch nie so etwas Schönes gerochen.“ (54) Um sich in den Besitz des Begehrten zu bringen, erwürgt Grenouille das Mädchen und tötet es gleich doppelt: „Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die Mirabellenkerne, riß ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie überschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er stürzte sein Gesicht auf ihre Haut“, bis

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Grenouille das Mädchen schließlich „welkgerochen hatte“ (56).365 Es ist einerseits diese doppelte Katastrophe eines Mordes sowie des Vergehens des begehrten Dufts, die Grenouilles Entschluss motiviert, das Parfümeurshandwerk zu lernen. Dies erscheint ihm als das beste Mittel zu dem Zweck, ein anderes, bis dahin unbekanntes Begehren zu befriedigen, nämlich den Zustand idyllischer Glückseligkeit wiederzuerlangen, den er nach dem Mord erlebt: „In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Glück sei, hatte er in seinem Leben bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zustände von dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Glück und konnte vor lauter Glückseligkeit nicht schlafen.“ (57) Zwar erreicht Grenouille in seiner Einsiedelei im Zentralmassiv nochmals einen solchen Zustand wie nach dem Mord in Paris, jedoch bietet dieser insofern keine dauerhafte Befriedigung, als die im Berg geschaffene Idylle „in den frühlingshaften Duftgefilden seiner Seele“ erstens eine imaginäre ist und zweitens durch den Einbruch einer Katastrophe zunichtegemacht wird (167). Aus diesem Grund muss er seine Reise fortund somit seinen Plan, neue Verfahren zur Konservierung von Düften zu erlernen, durch eine Ausbildung in Grasse umsetzen. „Die Katastrophe“, berichtet die Erzählinstanz, „war kein Erdbeben, kein Waldbrand, kein Bergrutsch und kein Stolleneinsturz“ (170), sondern sie erweist sich vielmehr als ein Einbruch des Realen ins Imaginäre: Was Grenouille „aus dem Berg vertrieben und in die Welt zurückgespieen“ hat, „war überhaupt keine äußere Katastrophe, sondern eine innere“, die sich „im Traum im Schlaf im Herz in seiner Phantasie“ ereignet (170). Der katastrophische Traum ist der einer existenziellen Selbsterkenntis: Grenouille glaubt sich von einem Nebel umgeben, dessen Schlieren für ihn „deutlich erkennbare Fetzen eines Geruchs“ sind (170). Um nicht darin zu ersticken, muss er „diesen Nebel einatmen“, der letztlich nichts anderes ist als „sein eigener Geruch“ (170f): „Und nun war das Entsetzliche, daß Grenouille, obwohl er wußte, daß dieser Geruch sein Geruch war, ihn nicht riechen konnte. Er konnte sich, vollständig in sich selbst ertrinkend, um alles in der Welt nicht riechen!“ (171, Hervorhebung i.O.) Grenouilles tatsächliche Geruchslosigkeit dringt also als ein Element des Realen in seinen Traum und führt so zur katastrophischen Zerstörung seiner im Imaginären errichteten Idylle. Noch im Traum schreit Grenouille „so fürchterlich laut“, dass alles, was er sich im Imaginären erschaffen hat, zerstört wird: „Der Schrei zerschlug die Wände des Purpurschlosses, [...] er fuhr aus dem Herzen über die Gräben und Sümpfe und Wüsten hinweg, raste über die nächtliche Landschaft seiner Seele wie ein Feuersturm, gellte aus seinem Mund hervor, durch den gewundenen Stollen, hinaus in die Welt“ – bis Grenouille schließlich von seinem eigenen Schrei erwacht (171). Da er „einen so furcht365

Den durch das Pronomen angezeigten Wechsel des grammatischen Geschlechts legitimiert der Roman erzählerisch durch einen Wechsel der Perspektive bei der Ermordung, die von Grenouilles Innensicht zu derjenigen des Mädchens übergeht (vgl. Das Parfum, S. 55).

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baren Traum kein zweites Mal“ erleben will, gelangt er zu dem Entschluss, „sein Leben [zu] ändern“ (171). Noch in derselben Nacht verlässt Grenouille sein persönliches ‚Schrebergärtchen in der Hölle‘, das ihm „sieben ganze Jahre lang“ als der idyllischste aller Orte erschienen ist, weil er dort „im selbstgeschaffenen Reich seiner Seele“ zufrieden existieren konnte, während „in der äußeren Welt Krieg“ herrschte (169). Innerhalb des semiotopischen Feldes im Koordinatensystem der Idylle nehmen Grenouilles höhlenartiger Stollen im französischen Zentralmassiv und Williams Haus im Londoner Stadtteil NOTTING HILL als potenzielle loci amoeni zwei Extrempositionen ein: Während die Höhle dem Bereich der Natur und das Haus dem der Kultur zuzuordnen ist, verbindet beide, dass sie als Behausung zum Wohnen genutzt werden – auch wenn sich die Qualität der Logis im Fall von Grenouilles ‚Grab‘ und Williams Eigenheim deutlich unterscheidet.366 Im semiotopischen Feld liegen beide auf derselben Ebene wie etwa die Grotte, Laube oder Ruine als andere Konkretionen des materialen Topos. Diese sind ihrerseits dem Bereich des Natürlichen zuzuordnen, weil sie als naturalisierte Kultur (Laube) bzw. kulturalisierte Natur (Grotte, Ruine) weder ganz dem einen noch dem anderen Bereich zugehörig erscheinen. Aus diesem Grund sind solche ‚natürlichen Behausungen‘ wie Grotten, Lauben oder eben Ruinen auch bevorzugte Elemente im englischen Landschaftsgarten. Wie alle Gärten stellen auch diese „semiotische Systeme“ dar, weshalb Michael Gamper erklärt, dass „der Textcharakter eines Gartens nicht zu leugnen“ ist.367 Dasselbe gilt für den materialen Topos der Idylle – sei es in seiner literarischen, filmischen oder televisiven Konkretion. Wie zuvor herausgestellt, ist jedes Element im semitopischen Feld durch eine genuine Ambivalenz gekennzeichnet, sodass sich in Bezug auf die Idylle zwei Pole ergeben: der Kitsch und die Katastrophe. Entsprechend lässt sich das semiotopische Feld entlang zweier Achsen genauer differenzieren (vgl. Schema 4): Die erste entspricht der x-Achse im Koordinatensystem der Idylle entlang der Polarität von Natur auf der einen und Kultur auf der anderen Seite; den ‚Nullpunkt‘ auf dieser Achse bildet die Idylle und zwar gemäß ihrer jeweiligen Pole, die somit die y-Achse dieses neuen Koordinatensystems zur genaueren Differenzierung des semiotopischen Feldes ergibt. Jedes Element, das sich darin findet, lässt sich einmal in seiner katastrophischen und einmal in seiner kitschigen, das heißt nicht-katastrophischen Ausprägung in diesem Koordinatensystem verorten: Wie gezeigt, erscheint Williams Haus für Anna als idyllischer Zufluchtsort, wo die Liebesbeziehung zwischen den beiden als eine partnerschaftliche möglich ist – bis 366

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‚Idyllisch verwandt‘ mit Grenouilles Höhle ist der havarierte Bus, der Chris McCandless – Protagonist im Film INTO THE WILD – als Behausung in der Wildnis dient. Dort erlebt er kurzzeitig die Idylle einer von der Zivilisation unabhängigen Existenz, bis diese für ihn durch eine Katastrophe zunichtegemacht wird – und zwar für immer: Nach dem Verzehr giftiger Pflanzen stirbt Chris einsam in der Einöde. Gamper, Michael: „Die Natur ist republikanisch“. Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (zugl. Zürich, Univ., Diss., 1997), S. 201.

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Anna von der Presse ausfindig gemacht wird und sich die beiden erneut trennen müssen. Ähnlich ist es um Grenouilles höhlenartigen Stollen im Berg bestellt: Durch seinen Albtraum wird dieser locus amoenus für ihn zu einem locus terribilis. Die Merkmale ‚katastrophisch‘ und ‚kitschig‘ sind als Gegensatzpaar zu verstehen: Während ‚kitschig‘ den Zustand einer idyllisch-friedlichen Harmonie meint, steht ‚katastrophisch‘ für die Aufhebung dieses Zustands durch seine potenzielle oder aber tatsächliche Gefährdung in Form eines Ereignisses, sodass ein locus amoenus nicht länger als idyllischer Sehnsuchtsoder Zufluchtsort fortbestehen kann. Dieses hier entworfene neue Koordinatensystem zur Bestimmung der Strukturen innerhalb des semiotopischen Feldes veranschaulicht als Schema den – mit Gulbransson gesprochen – ‚inneren Zusammenhang‘ zwischen Kitsch und Katastrophe als den beiden Polen der Idylle. Deren Verhältnis zur konstitutiven Polarität von Natur und Kultur, wie sie dem Koordinatensystem der Idylle zugrunde liegt, lässt sich in Analogie zu den beiden von Friedrich Nietzsche als „Kunstwelten“ begriffenen Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen beschreiben, mit denen er – zunächst in „Die dionysische Weltanschauung“ von 1870 und dann in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von 1872 – die Genealogie der attischen Tragödie im Besonderen sowie „die Fortentwicklung der Kunst“ im Allgemeinen untersucht.368 Wie Christian Schüle erläutert, „stellen das Apollinische und das Dionysische“ in Nietzsches Philosophie „zwei Kunsttriebe dar, die in der Natur herrschen und sich in den Werken der Kunst offenbaren“.369 Den beiden Prinzipien bzw. ‚Trieben‘ entsprechen „bestimmte ästhetische Ausdrucksformen“ und zugleich „äußern sich beide [...] als Rausch und Gemeinschaft (dionysisch) einerseits, als Distanz und Individuation (apollinisch) andererseits“.370 Als die gegenständliche „Kunst des Bildners“ identifiziert Nietzsche das Apollinische mit dem Traum, während das mit dem Rausch identifizierte Dionysische für die „unbildliche Kunst“ steht (WKG III/1, 21), denn „[d]as rein Dionysische ist die überfließende Schaffenskraft, die schiere Kreativität, ein formloses Chaos ohne eine Struktur von Ordnung, Form und Harmonie“, das das „Orgiastische“ erzeugt und für Nietzsche insbesondere „in der Musik seinen Ausdruck“ findet.371 Diametral davon unterschieden ist das Apollinische, das gemeinhin für „das Klassische im Sinne Goethes“ und somit für „formale Disziplin“ und „Einfachheit“ steht, weil es „der jene Visionen hervorrufende Kunsttrieb ist, welche sich zur schönen Kunst, zur bildenden Kunst und Poesie ausformen“.372 368

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Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe III/1, S. 21f. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote mit der Sigle ‚WKG‘ gefolgt von der Bandnummer sowie der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt. Schüle, Christian: Stichwort ‚Apollinisch-dionysisch‘, in: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 187–190, hier: S. 187. Schüle: Stichwort ‚Apollinisch-dionysisch‘, in: Nietzsche-Handbuch, S. 187. Schüle: Stichwort ‚Apollinisch-dionysisch‘, in: Nietzsche-Handbuch, S. 188. Schüle: Stichwort ‚Apollinisch-dionysisch‘, in: Nietzsche-Handbuch, S. 187.

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Als „Gott aller bildnerischen Kräfte“ ist Apollo laut Nietzsche für „den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt“ zuständig (WKG III/1, 23), sodass das apollinische Prinzip als „Voraussetzung aller bildenden Kunst“ anzusehen ist (WKG III/1, 22). Damit Apollos ‚Schein-Kunst‘, die Nietzsche ihrer Wirkung nach mit dem „Traumbild“ vergleicht, nicht „als plumpe Wirklichkeit“ erscheint, ist sie durch eine „maassvolle Begrenzung“ gekennzeichnet, die befreit ist „von den wilderen Regungen“, die der dionysische Rausch hervorruft (WKG III/1, 24). Dass Nietzsche hier von ‚plumper Wirklichkeit‘ spricht, hat zwei Gründe: Erstens erkennt er damit der (hier noch gänzlich apollinisch verstandenen) Kunst einen Eigenwert als Kunst zu, was zweitens die Bedingung für seine folgenden Betrachtungen darstellt – schließlich grenzt er die attische Tragödie als Kunst(form) gegenüber dem kultischen Ritus ab. Zu diesem gehören in der Antike insbesondere die Dionysien als rauschhaft-orgiastisches Fest „einer überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit“ zu Ehren des aus dem Schenkel seines Vaters Zeus geborenen Gottes des Weins und der Vegetation (WKG III/1, 28). Gemäß den Vorstellungen des Altertums ist dessen Kult aus dem kleinasiatischen Raum etwa im achten Jahrhundert vor Christus nach Griechenland gekommen und dort zu einem der populärsten in der antiken Welt geworden.373 Die sich im Rausch manifestierenden „dionysischen Regungen“, die sich laut Nietzsche gerade „bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings“ einstellen, führen dazu, dass „das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit“ gerate (WKG III/1, 25). Dabei kommt nach Nietzsches Darstellung dem dionysischen Kult eine spezifische Vermittlungsfunktion zu, wie sie auch die Idylle kennzeichnet: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder neu zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“ (WKG III/1, 25) Man möchte meinen, dass der dionysische Rausch für Nietzsche eine Art Rückkehr in den ursprünglichen ‚Naturzustand‘ darstellt – das aber nicht als regressiver ‚retour‘, sondern eben als „Versöhnungsfest“, das als kultisches Ritual selbst institutionalisierter Bestandteil der Kultur ist. Die Dionysien zelebrieren symbolisch die Ankunft des Rausch-Gottes aus dem fernen Osten und das als eine Rückkehr zur Natur als Idylle, zumal der „Zauber des Dionysischen“ indirekt jenem des Goldenen Zeitalters zu gleichen scheint: Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und Wüsten. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. [...] Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ‚freche Mode‘ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, 373

Vgl. Stichwort ‚Dionysos‘, in: Holzapfel, Otto: Lexikon der abendländischen Mythologie, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1993, S. 106f.

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Paradigmen der Idylle versöhnt, verschmolzen, sondern eins [...]. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinschaft: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Luft emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. [...] Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur [...] offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. (WKG III/1, 25f)

Die Wirkung des dionysischen Rauschs macht den Menschen zum Kunstwerk – und darin liegt tatsächlich eine spezifische ‚Rückkehr‘ zur Natur, die insofern idyllisch zu nennen ist, als der „vom Künstler Dionysos geformte Mensch [...] sich zur Natur [verhält], wie die Statue zum apollinischen Künstler“.374 In „Die dionysische Weltanschauung“, einer unveröffentlichten Abhandlung, die von der Nietzschephilologie als Vorstufe zu Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik angesehen wird,375 erläutert Nietzsche das Kunstwerk-Werden des Menschen, weil dieser der „Kunstgewalt der Natur“, die „nicht mehr die eines Menschen“ ist, zum Material gereicht: „ein edlerer Thon, ein kostbarer Marmor wird hier geknetet und behaun: der Mensch“ (WKG III/2, 47). Insofern der dionysische Rausch „das Spiel der Natur mit dem Menschen ist“ (WKG III/2, 47) – und zwar als ein „Versöhnungsfest“ zwischen Natur und Mensch (WKG III/1, 25), wie es in Die Geburt der Tragödie heißt –, wird durch Nietzsches Auffassung einer natura naturans, also einer schaffenden Natur, „aus der die natura naturata, die geschaffene Natur hervorgeht“,376 das Verhältnis zwischen Natur und Kultur ablesbar: Das, was die po(i)etisch tätige Natur letztlich schafft, ist Kultur, die Nietzsche bestimmt „als Natur, die uns im Spannungsfeld des Dionysischen und Apollinischen unter Dominanz des Dionysischen angeht“.377 Die Opposition einer dergestalt „natürlich gebildet[en] Kultur“, die Nietzsche laut Volker Caysa von einer gewissermaßen „natürlich[en] Natur“ abgrenzt,378 entspricht damit strukturell jener spezifischen Chrono-Logik, mit der zuvor das Verhältnis dieser für die Idylle konstitutiven Polarität bestimmt worden ist (vgl. Kapitel 4.1.3). Angesichts des Ursprungs im Kult und der po(i)etischen Wirkung versteht Nietzsche unter dem Dionysischen und damit auch unter dessen Gegensatz, dem Apollinischen, zwei „künstlerische Mächte [...], die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen

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Nietzsche: „Die dionysische Weltanschauung“, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe III/2, S. 47. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote mit der Sigle ‚WKG‘ gefolgt von der Bandnummer sowie der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt. Vgl. Ugolini, Gherardo: Stichwort ‚Philogica‘ [übersetzt von Renate Müller-Buck], in: NietzscheHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 157–168, hier: S. 162. Stichwort ‚natura naturans‘, in: Philosophisches Wörterbuch II, S. 761, Hervorhebung i.O. Caysa, Volker: Stichwort ‚Natur, das Natürliche‘, in: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 289–293, hier: S. 290. Caysa: Stichwort ‚Natur, das Natürliche‘, in: Nietzsche-Handbuch, S. 290.

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Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst auf directem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, [...] andererseits als rauschvolle Wirklichkeit“ (WKG III/1, 26, Hervorhebungen i.O.).379 Indem er das Apollinische und das Dionysische als zwei „unmittelbar[e] Kunstzuständ[e] der Natur“ bestimmt, wird für Nietzsche die Frage nach ihrer Wirkung durch Vermittlung des menschlichen Künstlers relevant, denn gegenüber diesen beiden ‚natürlichen Kunstmächten‘ „ist jeder Künstler ‚Nachahmer‘, und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder endlich – wie beispielsweise in der griechischen Tragödie – zugleich Rausch- und Traumkünstler“ (WKG III/1, 26). Als ein solcher darf Grenouille in Das Parfum gelten. Nietzsches Überlegungen zielen also darauf, die beiden ‚unmittelbaren Kunstzustände‘ als mittelbare und damit in Bezug auf ihr (Zusammen-)Wirken zu bestimmen, wenn sie zum Antrieb po(i)etischer Tätigkeit avancieren: „Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenüberstellungen “, erläutert Nietzsche zu Beginn der Überleitung zur Mimesis-Frage, nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem aristotelischen Ausdrucke, ‚die Nachahmung der Natur‘ tiefer zu verstehn und zu würdigen. (WKG III/1, 27, Hervorhebungen i.O.)

Durch das Stellen der Mimesis-Frage knüpft Nietzsche in seinen Ausführungen zu den beiden ‚natürlichen‘ Kunsttrieben an Schillers Abhandlung „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ an, denn der „vollkommene Sieg der apollinischen Illusion“ entspricht der Kategorie des Naiven in Schillers Dichtungstypologie (WKG III/1, 33). Dabei greift Nietzsche indirekt Schillers Bestimmung des Naiven als einer Nachahmung der Natur, bei der kein Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Ideal besteht,380 auf und relativiert Schillers Kritik daran insofern, als für ihn das Naive nicht unweigerlich als endgültig verloren, sondern bloß als selten erreichbar erscheint: Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort ‚naiv‘ in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der Pforte der Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau’s sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Emil gefunden zu haben wähnte. Wo uns das ‚Naive‘ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen [...]. Aber wie selten wird

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Die durch Sperrung hervorgehobenen Passagen im Original werden hier wie nachfolgend durch Kursivierung wiedergegeben. Vgl. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 466.

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Paradigmen der Idylle das Naive, jenes völlige Verschlungensein in der Schönheit des Scheins, erreicht! (WKG III/1, 33, Hervorhebung i.O.)

Mit der Einheit von Menschen und Natur ist hier nicht der dionysische Rausch gemeint, denn dieser gestaltet sich schließlich als ein „Versöhnungsfest“ (KWG III/1, 25) und versöhnt werden kann nur, was (bereits) entzweit ist. Die ursprüngliche – oder mit Schiller: naive – Einheit von Mensch und Natur erscheint für Nietzsche nicht als dionysisch, sondern als „die höchste Wirkung der apollinischen Cultur“. Symbolisch restituiert die kultische Dionysosfeier genau das, denn der dionysische Rausch bestätigt letztlich den apollinischen Schein ex negativo, indem er durch den Exzess und das Chaos indirekt darauf verweist, was das Apollinische kennzeichnet: die maßvolle Begrenzung und die Ordnung. „Der Bildnerdienst der apollinischen Kultur“, erläutert Nietzsche in „Die dionysische Weltanschauung“, „hatte ihr Ziel in der ethischen Forderung des Maaßes, welche der aesthetischen Forderung der Schönheit parallel läuft.“ (WKG III/2, 56, Hervorhebungen i.O.) Diese Forderung sei aber nur „dann möglich, wo das Maaß, die Grenze als erkennbar gilt“, und diese Grenze, „die der Grieche innezuhalten hatte, war die des schönen Scheins“ (WKG III/2, 56, Hervorhebung i.O.). Die Dionysosfeier macht den schönen Scheins Apollos als diese Grenze sichtbar, denn [i]n eine derartig aufgebaute und künstlich geschützte Welt drang nun der ekstatische Ton der Dionysosfeier, in dem das ganze Übermaß der Natur in Lust und Leid und Erkenntniß zugleich sich offenbarte. Alles was bis jetzt als Grenze, als Maaßbestimmung galt, erwies sich hier als ein künstlicher Schein: das ‚Übermaß‘ enthüllte die Wahrheit. (WKG III/2, 57, Hervorhebung i.O.)

Dieser Zusammenhang zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen macht Friedrich Kittlers Behauptung nachvollziehbar, der zufolge Apollo letztlich „selbst nur eine Maske des Dionysos“ sei.381 Es ist diese Maske, die „die neueren Menschen“ in ihrer Sehnsucht nach der harmonischen Einheit von Mensch und Natur den Hirten der neuzeitlichen Idyllen aufsetzen (WKG III/1, 33), denn „[d]er Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neuen Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht“ (WKG III/1, 53f). Nietzsche kann sich hier nur auf den Typus des Gessner’schen Hirten beziehen, denn wie Schiller, der in diesem „weder ganz Natur noch ganz Ideal“ erkennt,382 stellt er eine Differenz zwischen den antiken Vor- und den modernen Nach-Bildern der idyllischen Hirten fest: „[A]ber mit welchem unerschrockenen Griffe fasste der Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden weichgearteten Hirten!“ (WKG III/1, 54)

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Kittler, Friedrich A.: Musik und Mathematik, Bd. I: Hellas, Teil 1: Aphrodite, München: Fink 2006, S. 137. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 471.

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Die Sehnsucht, von der Nietzsche spricht (vgl. WKG III/1, 33), kommt dem Rousseau’schen (nicht dem rousseauistischen, also idyllisch überlagerten) Naturzustand gleich, denn sie ist auf „eine Urzeit des Menschen“ gerichtet, „in der er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft, erreicht hatte“ (WKG III/1, 120). Die Terminologie für seine Ausführungen entlehnt Nietzsche bei Schiller, dessen Typologie sentimentalischer Dichtung er vorangehend kurz zusammenfasst: „Entweder, sagt dieser [d.i. Schiller, N.J.], ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung.“ (WKG III/1, 120) Nietzsches Bezug auf Schiller zeigt, wie wirkmächtig dessen theoretische Fassung der Idylle noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist: Der Basler Professor und Dichter der Idyllen von Messina nutzt die Schiller’sche Bestimmung sentimentalischer Dichtung dazu, um das Nachwirken des Apollinischen und des Dionysischen in einer „Kunstgattung“ aufzuzeigen, der er „ein mächtiges Bedürfniss [...] unaesthetischer Art“ bescheinigt: „die Sehnsucht zum Idyll“, worunter Nietzsche den Glauben „an eine urvorzeitliche Existenz des künstlerischen und guten Menschen“ versteht (WKG III/1, 118, Hervorhebungen N.J.). Wie Schiller erkennt Nietzsche diese ‚urvorzeitliche Existenz‘ als ein Ideal an, das nicht verloren, sondern unter bestimmten Umständen als erreichbar vorgestellt werden kann, denn der Mensch könnte als „getreues Ebenbild“ dieses „vollkommnen Urmenschen“ erscheinen – „nur müssten wir Einiges von uns werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu erkennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von überflüssiger Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur“ (WKG III/1, 120). Das Ergebnis wäre eine „idyllisch[e] Wirklichkeit“, die durch den „Zusammenklang von Natur und Ideal“ gekennzeichnet ist (WKG III/1, 120). In genealogischer Perspektive ruft Nietzsche das künstlerische Echo dieses Klangs auf, der erstmalig in der attischen Tragödie ertönt und dessen Nachhall sich im dramatischen Dithyrambus fortsetzt (vgl. WKG III/1, 38), um schließlich bis zur Oper zu reichen: „Der Bildungsmensch der Renaissance liess sich durch seine opernhafte Imitation der griechischen Tragödie zu einem solchen Zusammenklang von Natur und Ideal, zu einer idyllischen Wirklichkeit zurückgleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Dante den Virgil benutzt, um bis an die Pforten des Paradieses geführt zu werden“ (WKG III/1, 120f). Dieses Zusammenklingen von Natur und Ideal, dessen Echo bis in Nietzsches künstlerische Gegenwart der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reicht, erscheint als jener „Doppelquell“ der antiken griechischen Kultur, von der er in „Die dionysische Weltanschauung“ spricht und damit das Zusammenwirken der beiden „Stilgegensätze“ des Apollinischen und des Dionysischen meint, „die fast immer im Kampf mit einander neben einander einhergehen“ und schließlich „zu dem Kunstwerk der attischen Tragödie verschmolzen“ sind (WKG III/2, 45).

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Die Idylle würde demnach komplementär zu jener „Mittelwelt zwischen Schönheit und Wahrheit“ stehen, von der Nietzsche mit Bezug auf das Lächerliche und das Erhabene spricht: Beide resultieren insofern aus dem Zusammenwirken des Apollinischen und des Dionysischen, als „das Erhabene als künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Lächerliche als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden“ aufgefasst werden kann (WKG III/2, 59, Hervorhebungen i.O.). Die Idylle erscheint in diesem Zusammenhang deshalb als eine komplementäre ‚Mittelwelt‘, weil sie nicht für „eine Verneinung von Dionysos und Apollo“ steht, sondern für deren Vereinigung (WKG III/2, 59, Hervorhebung N.J.). Diese besteht im Bereich der rituellen Praxis in der Aufteilung „der Jahresherrschaft in der delphischen Kultordnung unter Apollo und Dionysos“ und im Bereich der po(i)etischen Praxis der Kunst in der „Versöhnung“ zwischen den beiden Kunsttrieben, „indem der apollinische Künstler mit bedachtsamer Mäßigung aus der revolutionären Kunst der Bacchusdienste lernte“ (WKG III/2, 48). Auch in Die Geburt der Tragödie spricht Nietzsche von einer „Versöhnung“ zwischen Apollo und Dionysos, die er den „wichtigst[en] Moment in der Geschichte des griechischen Cultus“ nennt (WKG III/1, 28), weil die „triebhaft[e] Selbstentäusserung“ des dionysischen Rauschs durch die „formal[e] Gestaltung“ des apollinischen Scheins gebändigt wird, wie es Aby Warburg mit Bezug auf Nietzsches Begrifflichkeiten in der Einleitung zu seinem Mnemosyne-Atlas formuliert.383 Da laut Nietzsche die Tragödie in dieser Versöhnung ihren genealogischen Ursprung hat, verwundert es nicht, dass es eine Tragödie ist, die von dieser apollinischen „Vergeistigung der Dionysosfeier“ ein anschauliches Bild liefert – und zwar in Form einer Idylle, die Nietzsche in Euripides’ Bakchen findet und in „Die dionysische Weltanschauung“ ausführlich wiedergibt: Ein Bote erzählt, daß er er in der Mittagshitze mit den Herden auf die Bergspitzen hinaufgezogen sei: es ist der rechte Moment und der rechte Ort, um Ungesehenes zu sehen; jetzt schläft Pan, jetzt ist der Himmel der unbewegte Hintergrund einer Glorie, jetzt blüht der Tag. Auf einer Alpentrift bemerkt der Bote drei Frauenchöre, über den Boden hin zerstreut liegend und in sittsamer Haltung; viele Frauen haben sich an Tannenstämme gelehnt: alles schlummert. Plötzlich beginnt die Mutter des Pentheus zu jubeln, der Schlaf ist verscheucht, alle springen auf, ein Muster edler Sitten; die jungen Mädchen und die Frauen lassen die Locken herab auf die Schultern fallen, das Rehfell wird in Ordnung gebracht, wenn im Schlafe die Bänder und Schleifen sich gelöst haben. Man umgürtet sich mit Schlangen, die vertraut auf die Wangen lecken, einige Frauen nehmen junge Wölfe und Rehe auf den Arm und säugen sie. Alles schmückt sich mit Epheukränzen und Winden, ein Schlag mit dem Thyrsos an den Felsen und Wasser sprudelt hervor: ein Stoß mit dem Stab auf den Grund, und ein Weinquell steigt empor. Süßer Honig träufelt von den Zweigen, 383

Warburg, Aby Moritz: Mnemosyne Einleitung [1929], in: ders.: Werke in einem Band. Auf Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, hrsg. und kommentiert von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 629–639, hier: S. 634.

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wenn jemand den Boden nur mit den Fingerspitzen rührt, so springt schneeweiße Milch heraus. (WKG III/2, 51, Hervorhebung i.O.)

Nietzsche verweist auf diese Tragödie des Euripides, weil sie die Gründungsszene der abendländischen Kunst präsentiert – und das in Form des Einzugs des Dionysos und seines Kults in Griechenland. Den Bericht davon erhält Pentheus, der König von Theben, durch einen Boten: „Ich bin gekommen von den Höhen des Kithairon, / wo nie bisher der helle Glanz des Schnees erlosch. / [...] Die Bakchen sah ich, die verehrungswürdigen, / die nackten Fußes rasend von hier fortgestürmt, / und möchte dir, mein König, und der Stadt berichten / von ihrem Tun, das unerhört ist, mehr als Wunder!“384 Das, was der Bote dem Pentheus beschreibt, nennt Nietzsche „eine ganz verzauberte Welt“, denn „die Natur feiert ihr Versöhnungsfest mit dem Menschen“ (WKG III/2, 51), weshalb jenes „Wunder“ (V. 667), bei dem nach Aussage des Boten „ein Gott im Spiel [war]“ (V. 764), für Nietzsche eindeutig „das Bild der griechischen Dionysosfeier“ (WKG III/2, 50) bietet – und zwar noch vor ihrer ‚Vergeistigung‘ durch Apollo. Diese besteht hier also nicht in dem, was Euripides darstellt, sondern darin, wie er es darstellt – nämlich als Tragödie, deren Ursprung Nietzsche im Zusammenwirken des Apollinischen mit dem Dionysischen ausmacht. In Euripides’ Tragödie ist der Bericht, den Pentheus über das dionysische Treiben der Bakchen erhält, als partielle Idylle eingelagert – ein Phänomen, das Renate Böschenstein in Bezug auf die Idylle als charakteristisch für das 19. Jahrhundert beschreibt.385 Der materiale Topos suspendiert aber offensichtlich bereits in der Antike die nachträgliche Bestimmung der Idylle als Gattung – zumal diese ‚heiligen Kühe‘ in der Herde literaturwissenschaftlicher Kategorien eben keine ‚Naturformen‘ sind, wie noch Goethe behauptet, sondern als – keinesfalls überzeitlich gültige – Setzungen heuristische Hilfsmittel zur Systematisierung von Literatur darstellen. Der Bericht an Pentheus kann einmal deshalb als Idylle angesehen werden, weil er ihn durch einen Hirten erhält, der durch die knappe Beschreibung seiner bukolischen Tätigkeit den Schauplatz der von ihm beobachteten Kulthandlung topothetisch hinstellt: „Ich trieb die Rinderherde gerade auf die Alm / empor, zu jener Tageszeit, in der die Sonne / schon ihre Strahlen sendet und die Flur erwärmt.“ (V. 677ff) Auch wenn der Boten-Hirte weder singt noch zu instrumentaler Begleitung spricht, liest sich sein nachfolgender Bericht über das Treiben der Dionysos-Dienerinnen, auf den sich Nietzsche in seiner Wiedergabe bezieht, wie eine Idylle Theokrits – zumal die Wechselgesänge seiner Hirten nichts anderes sind als Botenberichte, weil in ihnen das dargestellt wird, 384

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Euripides: Die Bakchen [V.661ff], in: ders.: Tragödien, Bd. VI: Iphigenie in Aulis/Die Bakchen/Der Kyklop, griechisch und deutsch von Dietrich Ebener, Berlin [DDR]: Akademie-Verlag 21980, S. 116–189, hier: S. 151. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote durch Angabe der Versnummer in Klammern direkt im Text belegt. Vgl. Böschenstein: Stichwort ‚Idyllisch/Idylle‘, S. 131.

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was die Hirten nach eigener Aussage selbst erlebt haben (wie etwa Daphnis’ Begegnung mit dem Mädchen, wovon dieser in Theokrits Idylle „Die Wettsänger“ singend berichtet).386 Von einem ‚Wechselgesang‘ berichtet auch der Bote bei Euripides:387 „Wir trafen uns, wir Rinderhirten und wir Schäfer, / uns miteinander auszutauschen über das / ganz unerhörte, wunderbare Tun der Frauen.“ (V. 714ff) Das gesamte ‚idyllische Potenzial‘ des Botenberichts liegt aber vor allem darin, dass die beschriebenen Ereignisse den für die Idylle spezifischen Zusammenhang von Kitsch und Katastrophe darstellen: So harmonisch sich das Dasein der Bakchen in der Natur gestaltet, ist es durch die Anwesenheit der Hirten gestört. Diese planen „einen Hinterhalt“ (V. 723), um „aus dem Schwarm der Bakchen“ Agaue, die Mutter des Pentheus, zu „entführen und damit des Königs Dank [zu] gewinnen“ (V.720f). Doch unter dem Schutz des Dionysos können sich die Frauen des Überfalls erwehren, indem sie sich in wilder Raserei auf ihre Angreifer stürzen, die sie nicht zu fassen kriegen und sich stattdessen auf deren Tiere stürzen. Davon berichtet der Bote: „Nur Flucht ersparte uns das Schicksal, von den Bakchen / zerfleischt zu werden. Dafür stürzten sie sich auf / das Weidevieh, mit ihren waffenlosen Händen! / Und manche sah man eine Kuh mit vollem Euter, / die kläglich brüllte, kraftvoll auseinanderspreizen, / und wieder andre rissen Färsen wild in Stücken.“ (V. 736ff) Der Botenbericht über die Bakchen, der sich in Euripides Tragödie als Idylle lesen lässt, zeigt letztlich, dass für diese genau das gilt, was der Chor am Ende der Tragödie zusammenfasst: „In vielen Gestalten zeigt sich das Göttliche“ (V. 1387) – und das trifft eben auch auf den materialen Topos der Idylle in seinen vielgestaltigen Konkretionen zu. Zudem belegt der idyllische Botenbericht das, was Gulbransson über den „inner[en]Zusammenhang“ der Idylle schreibt: man sieht „in besondern Fällen / [...] eines aus dem andern quellen“.388 Wie gezeigt, sind das eine und das andere die beiden Pole der Idylle. Der besondere Fall, von dem Gulbransson spricht, ist in dem hier dargelegten Kontext das Zusammenwirken des Apollinischen mit dem Dionysischen, das sich laut

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Vgl. Theokrit: „Die Wettsänger“ [V. 73ff], in: Theokritos, Bion und Moschos. Deutsch im Versmaß der Urschrift, hrsg. von Eduard Mörike und Friedrich Notter, Stuttgart: Hoffmann’sche VerlagsBuchhandlung 1855, S. 60–64. Für Nietzsche stellt die attische Tragödie das künstlerische ‚Musterbeispiel‘ für das Zusammenwirken von Apollo und Dionysos dar, denn während die Wechselrede das apollinische Element der Tragödie bildet (vgl. WKG III/1, 60), ist der Chor als „das Symbol der gesammten [...] erregten Masse“ deren dionysisches Element (WKG III/1, 58). Auch die klassisch-antike Idylle weist diese beiden Elemente auf: Neben dem Gesangswettstreit der Hirten, der apollinischdialogisch gestaltet ist, können die dazwischengeschalteten Kommentare der Erzählinstanz, durch die das musikalische Geschehen zusammengefasst und erläutert wird, in den Chor-Passagen in der Tragödie als das dionysische Element der Idylle aufgefasst werden. Gulbransson: „Prolog“ [V. 19ff], in: ders.: Idyllen und Katastrophen, S. 6.

Das Koordinatensystem der Idylle

429

Nietzsche stets als wechselseitiges „Nebeneinander“ von „Besonnenheit und Rausch“ darstellt (WKG III/2, 48). Für die hier unternommene Differenzierung des semiotopischen Feldes der Idylle fungieren das Apollinische und das Dionysische weniger als „Kunstwelten“ bzw. -triebe (WKG III/1, 22), wie Nietzsche sie bestimmt,389 sondern als eine Möglichkeit, um die einzelnen Elemente des Feldes in ihrer jeweils entweder kitschigen oder katastrophischen Ausprägung in Bezug auf die für die Idylle konstitutive Polarität von Natur und Kultur genauer zu bestimmen: Jeweils als halbe Sphäre gedacht, kennzeichnet das Dionysische den Bereich der Natur genauer und komplementär dazu das Apollinische den der Kultur. Die Polarität von Natur und Kultur, auf die Fiskes Kultursemiotik des Strandes gründet, konnte durch eine Präzisierung mit Hilfe der von Schüttpelz vorgenommenen Erklärung der Natur als dem Nicht-Willkürlichen in Abgrenzung zur Kultur genauer bestimmt und auf die Idylle bezogen werden: Sie vermittelt insofern zwischen diesen beiden Polen, also sie eine chrono-logische Beziehung etabliert, der zufolge die Natur als das Ursprüngliche gedacht wird, aus dem die Kultur hervorgeht. Wenn Schüttpelz die Beziehung zwischen Natur und Kultur auf die seit der Antike geläufige Polarität von physis und nomos zurückführt,390 lässt sich dies als das Ergebnis des Zusammenwirkens des Apollinischen und des Dionysischen im Sinn von Nietzsches begreifen. Auch seiner Darstellung der po(i)etischen Kollaboration von Apollo und Dionysos, des Zusammenwirkens von Schein und Rausch, zielt auf eine Bestimmung der Relation von Natur und Kultur: Letztere begreift er nämlich als Natur, die „im Spannungsfeld des Dionysischen und Apollinischen“ steht.391 Die beiden Kategorien stellen somit eine der seitens der Kultur gesetzten ‚natürlichen Logiken‘ dar, mit denen sich das Verhältnis von Natur und Kultur bestimmen lässt (vgl. Kapitel 4.1.3). In Bezug auf das semiotopische Feld sind die jeweiligen ‚Einflussbereiche‘ des olympischen Bruderpaares als Halb-Sphären zu begreifen, wodurch es möglich wird, den Bereich ihrer Überlagerung im Schema als den des Zusammenwirkens des Apollinischen und Dionysischen zu bestimmen und zwar als jener Bereich, durch den die „Fortentwicklung der Kunst“ sowie der Kultur vorangetrieben wird (WKG III/2, 45). Dieser Bereich wäre das, was man mit Adler als Gnoseotop verstehen kann – allerdings in der zuvor vorgeschlagenen Erweiterung dieses Konzepts zu verschiedenen Gnoseotopoi, zu denen Kunst und Literatur genauso zählen wie der Mythos oder die Wissenschaften. Für die vorliegende Betrachtung steht die Idylle im Zentrum dieses Bereichs, sodass sich 389

390 391

Wie Lycas’ (imaginäre) Garten-Idylle bei Gessner durch den topothetischen Gebrauch der ihm zur Verfügung stehenden landschaftlichen Versatzstücke gekennzeichnet ist, so sind auch Nietzsches ‚Kunstwelten‘ insofern idyllisch gemacht, als er sie nicht ‚erfindet‘, sondern vielmehr von der frühen Romantik als etabliert vorfindet: Allen voran hat Friedrich Schlegel „die griechische Poesie mit Dionysos verbunden und vom Dionysischen eine Erweckung romantischer Mythologie erhofft“ (Schüle: Stichwort ‚Apollinisch-dionysisch‘, in: Nietzsche-Handbuch, S. 188). Vgl. Schüttpelz: „Unter die Haut der Globalisierung“, S. 53. Caysa: Stichwort ‚Natur, das Natürliche‘, in: Nietzsche-Handbuch, S. 290.

430

Paradigmen der Idylle

die Differenzierung des semiotopischen Feldes mit Schema 4 veranschaulichen lässt. Darin sind die einzelnen Feld-Elemente auf der x-Achse entlang der für die Idylle konstitutiven Polarität von Natur und Kultur verteilt; die y-Achse gibt ihre Zuordnung zu den möglichen Polen der Idylle als entweder kitschig oder katastrophisch an: kitschig (nicht-katastrophisch)

dionysische Sphäre

apollinische Sphäre Schiff > Das Traumschiff > Titanic

Strand > Korfu-Romane > Das Traumschiff

Insel > Korfu-Romane > Das Traumschiff Lichtung > Twilight

Hö Höhle > Das Parfüm

Gnoseotopoi: Mythos, Kunst, Literatur, Wissenschaften

............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. .................................... ............................................................. .................................... ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ............................................................. ....................

Dorf > Stars Hollow (Gilmore Girls) > Story Brooke (Once Upon A Time) > Wahlheim Stadt > Notting Hill

Küche > Gilmore Girls

Haus/Dachterrasse > Notting Hill

Idylle y

Idylle

Natur Lichtung > Twilight

> Eden

Lake

Haus/Dachterrasse Kultur > Notting Hill > „Andrea S.” Küche > True Blood

Strand > Eden Lake

Meer > Titanic

katastrophisch

Schema 4: Das semiotopische Feld – Pole der Idylle (Quelle: eigene Darstellung)

Grenouilles Höhle im Stollen des Berges im französischen Zentralmassiv steht am Pol der Natur und sie lässt sich zunächst der nicht-katastrophischen Ausprägung der Idylle zuordnen. Wie gezeigt, bricht aber auch in diesen potenziellen locus amoenus die Katastrophe ein: durch Grenouilles Traum und seine Einsicht, dass er keinen Eigengeruch besitzt. Auf der gegenüberliegenden Seite, im Einflussbereich der apollinischen Sphäre, ist die Dachterrasse zu verorten, die einmal den Ort des idyllisch-harmonischen Zusammenseins darstellen kann, wie im Fall von Anna und William in NOTTING HILL. Die Dachterrasse seines Hauses in London wäre genauso wie dieses auf der y-Achse der kitschigen Ausprägung der Idylle zuzuordnen.392 Anders die Dachterrasse, auf der sich 392

Als Stadt erweist sich London in NOTTING HILL insofern als ein ambivalentes Element innerhalb der apollinischen Sphäre der Kultur, als sie einmal den Ort der kitschigen Liebesbegegnung darstellt, dann aber zugleich den Ort, an dem Anna von der Boulevardpresse ausfindig gemacht wird. Nachdem Anna nach dem idyllischen Tag mit William sein Haus verlässt, werden die beiden Figuren dort zwar nicht mehr zusammen gezeigt; es ist aber anzunehmen, dass das Haus nach ihrer Hochzeit den gemeinsamen Wohnsitz bildet, sodass es hinsichtlich seiner Verortung

Das Koordinatensystem der Idylle

431

die Beziehungskatastrophe idyllischer Verwicklungen zwischen Andrea und Joachim ereignet, von denen die erste Erzählung in Marlene Streeruwitz’ Band Das wird mir alles nicht passieren... Wie bleibe ich FeministIn. berichtet (vgl. Kapitel 2.1.3).393 Während die Insel und der Strand, die zuvor als Konkretionen des materialen Topos anhand der Korfu-Romane untersucht wurden, zu den kitschig zu nennenden Elementen innerhalb des semiotopischen Feldes gehören, weist das Schiff als potenzieller locus ameonus eine ähnliche Ambivalenz auf wie die Dachterrasse bzw. Williams Haus: In der TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF avanciert es zum kitschigen Ort der Liebesbegegnung für Paare, die fortan ihre Leben miteinander verbringen wollen – und dasselbe gilt für Jack Dawson und Rose Dewitt Bukater, die beiden Protagonisten in James Camerons Film TITANIC (USA 1997): Die beiden begegnen sich an Bord des angeblichen unsinkbaren Schiffs, doch die bekannte Katastrophe in Form des Zusammenstoßes mit einem Eisberg macht dem Glück der beiden durch den Untergang der Titanic einen Strich durch die idyllische Rechnung. Aus diesem Grund ist die Titanic – anders als das Traumschiff – innerhalb der apollinischen Sphäre der Kultur beiden Polen der Idylle zuzuordnen. Ihr durch die Kollision mit einem Eisberg bedingter Untergang lässt sie schließlich zugleich zu einem Element der dionysischen Sphäre werden. Der kitschige Katastrophen-Film TITANIC wird – zusammen mit den im Schema bereits aufgeführten, aber noch nicht weiter erläuterten Elementen aus anderen literarischen, filmischen und televisiven Texten – im Folgenden genauer untersucht, wenn es darum geht, aus den hier dargelegten Betrachtungen zum Koordinatensystem der Idylle und deren semiotopischem Feld das arkadische, das heterotopische und das elysische Paradigma zu entwickeln, mit denen sich die verschiedenen medialen Konkretionen des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen genauer bestimmen und analysieren lassen. 

393

im Schema weiterhin ein Element bleibt, das dem kitschigen Pol der Idylle zuzuordnen ist. Dies zeigt der ‚rückläufige‘ Pfeil an. Die Lichtung ist ein Element aus dem Bereich der Natur und damit der dionysischen Sphäre zugehörig, die im Vampir-Roman Twilight als kitschige wie auch katastrophische Idylle dargestellt wird: Einmal ist sie der Ort, an dem Edward gegenüber Bella seine vampirische Existenz offenbart, indem er seiner Geliebten zeigt, dass er im Sonnenlicht nicht zu Staub zerfällt, sondern zu glitzern anfängt. Zudem wird die Waldlichtung aber auch zum Ort des Kampfes von Edwards Familie gegen die ‚wilden‘ Vampire, die nach Bellas Blut und Leben trachten. Im zweiten Roman der Serie wird die Lichtung zum Ort einer zunächst kitschigen und dann katastrophischen Erkenntnis für Bella: Im Traum sieht sie an diesem Ort in einem Spiegel, dass sie einerseits bis ins hohe Alter mit Edward ein Paar bleiben wird, was andererseits die Katastrophe der Vergänglichkeit ihrer mit der Zeit zusehends asymmetrischer werdenden Beziehung impliziert: Während Bella als Mensch nämlich altert und irgendwann sterben wird, erfreut sich der untote Edward einer zwar blassen, aber dafür ewig währenden Jugend.

432

Paradigmen der Idylle

 Arkadisch – Heterotopisch – Elysisch Das genealogische Kunstkonzept, das Friedrich Nietzsche für die attische Tragödie anhand des Zusammenspiels der „Stilgegensätze“ (WKG III/2, 45) des Dionysischen und Apollinischen konstruiert, zeitigt Konsequenzen, die über die „idyllisch[e] Tendenz der Oper“ (WKG III/1, 120) hinausgehen und bis in die televisive Gegenwart reichen, denn die geradezu dystopischen Nachwirkungen des olympischen Bruderbunds zeigen sich auch in der populären (Fernseh-)Kultur: So scheinen sogar die Borg, die kybernetischen Antipoden der Menschen im STAR-TREK-Universum der Post-Kirk-Ära, diesem antagonistischen Paradigma zu unterstehen, schließlich ist es ihr Bestreben, eine – nachgerade apollinische – Ordnung ins – dionysisch scheinende – Chaos des Kosmos zu bringen.394 Dabei gehen sie mit wenig ästhetischem Feingefühl vor, auch wenn sie einem aus Johann Wolfgang Goethes Ballade „Erlkönig“ entliehenen Motto folgen, denn ihr zwanghaftes Ordnungsstreben setzen die Borg mit all ihrer technologischen Überlegenheit durch – und dabei gilt: „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“395 Einen möglichen Widerstand gegen ihre galaktischen Kolonialisierungspläne schließen die Borg von vornherein als zwecklos aus: „Resistance is futile“, lautet der Funkspruch, den sie vor jeder Assimilierung (so der in STAR TREK gebräuchliche Fachterminus für die ‚Zwangsintegration‘ ins Borg-Kollektiv) standardmäßig aussenden. Angesichts ihrer apollinischen Persistenz erscheinen die Borg nachgerade idyllisch, denn auf sie trifft zu, was Hans Adler feststellt: „Wir entkommen der Idylle nicht.“396 Die Borg treten erstmalig in der Fernsehserie STAR TREK: THE NEXT GENERATION (USA 1987– 1994) in Erscheinung, dem Sequel der Sciencefiction-Serie STAR TREK (USA 1966– 1969) von Gene Roddenberry, die von den Abenteuern der Crew des Raumschiffs Enterprise unter dem Kommando von Captain James Tiberius Kirk erzählt. Zusammen

394

395

396

Auch wenn die Borg die televisive Figuration einer posthumanistischen Dystopie darstellen, erscheint ihr Ordnungsstreben durchaus menschlich, da ihm eine indirekt religiöse Motivation zugesprochen wird. In der VOYAGER-Episode „The Omega Directive“ entdeckt die Crew ein Molekül von enormem Zerstörungspotenzial, das – aufgrund seiner harmonischen Atomstruktur – für die Borg das Paradigma einer natürlichen Perfektion darstellt und deshalb nachgerade als ‚göttlich‘ verehrt wird (vgl. STAR TREK: VOYAGER, S04/E21: „The Omega Directive“, Regie: Victor Lobl, USA 1997). Die von Andrea zur Nieden aufgestellte Behauptung, dass die Darstellung des Borg-Kollektivs in STAR TREK das „Phantasma einer totalen Technokratie“ sei, die entweder „‚kommunistisch‘ oder faschistisch gedacht“ werde, wäre angesichts einer solch naturwissenschaftlichen Religiosität der Borg zu relativieren (Nieden, Andrea zur: GeBorgte Identität. Star Trek als kulturindustrielle Selbstversicherung des technisierten Subjekts, Freiburg: ça ira 2003, S. 147). Goethe, Johann Wolfgang: „Erlkönig“ [V. 26], in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. I: Gedichte und Epen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 154f, hier: S. 155. Adler: „Die Idylle als Gnoseotop“, S. 40.

Arkadisch – Heterotopisch – Elysisch

433

mit der nächsten Generation der Enterprise-Crew schaffen die Borg den medialen ‚Sprung‘ vom Fernsehen auf die Kinoleinwand – und zwar im achten der inzwischen dreizehn Filme der STAR-TREK-Reihe (STAR TREK: FIRST CONTACT, Regie: Jonathan Frakes, USA 1996): Durch einen Zeitsprung in die Vergangenheit gelingt den kybernetischen Assimilatoren die Kolonialisierung der Erde, noch bevor die Menschen durch einen Warp-Flug den – für diesen Film titelgebenden – ‚ersten Kontakt‘ mit einer außerirdischen Lebensform aufnehmen können (in Kapitel 5.1 wird nochmals ausführlicher auf diesen Film Bezug genommen). Captain Jean-Luc Picard und seine Crew verhindern diesen Verlauf der Geschichte ihrerseits durch eine Zeitreise und vereiteln so das Vordringen der Borg in den AlphaQuadranten, wo die Erde in der interstellaren Kartographie des STAR-TREK-Universums verortet ist. Etwa zur selben Zeit treffen im Delta-Quadranten, also am buchstäblich anderen Ende des Weltraums, wohin es das Raumschiff Voyager in der gleichnamigen TV-Serie (USA 1995–2001) verschlägt, Captain Kathryn Janeway und ihre Mannschaft ebenfalls auf die Borg. Während ihrer voraussichtlich über 70 Jahre dauernden Reise zurück zur Erde gewinnt die Voyager eine aus den Fängen des Kollektivs befreite Borg-Drohne als neues Besatzungsmitglied: Seven of Nine, so die Borg-Bezeichnung von Annika Hanson, wurde als Kind assimiliert und erhält nach der Entfernung ihrer kybernetischen Implantate auf der Voyager die Möglichkeit, ihr Leben als menschliches Individuum fortzusetzen.397 397

Vgl. STAR TREK: VOYAGER, S04/E03: „The Gift“, Regie: Anson Williams, USA 1997. Seven of Nine wird zu einer neuen Figur innerhalb der Stammbesatzung der Voyager und tritt an die Stelle von Kes, die nach der Havarie des Raumschiffs im Delta-Quadranten an Bord den holografischen Doktor bei seiner Arbeit in der Krankenstation unterstützt. Der Austausch der Figuren kann auf zwei Ebenen gelesen werden, denn einmal bedeutet das Ausscheiden einer etablierten Figur und deren Ersetzung durch eine andere einen gravierenden Eingriff in der für (Fernseh-)Serien typischen ‚Wiederkehr des Immergleichen‘. Zu erklären wäre eine solche Veränderung als Versuch, um die Einschaltquote zu erhalten. Auch ohne empirische Daten dazu liegt diese Annahme aus strukturellen Gründen nahe: Seven of Nine, die als blonde Mittzwanzigerin in einem hautengen Anzug auftritt, erscheint angesichts dieser „extrem[en] Sexualisierung“ als Verkörperung einer heterosexuellen Männerphantastie (Nieden: GeBorgte Identität, S. 134). Damit steht sie komplementär zur dominierenden weiblichen Figur der Serie: Captain Kathryn Janeway. Als Kommandatin des Schiffs, die die Verantwortung für jene Entscheidung trägt, die zur Havarie der Voyager führt (vgl. STAR TREK: VOYAGER, S01/E01: „Caretaker“, Regie: Winrich Kolbe, USA 1995), hat sie qua ihrer Funktion sowie innerhalb der figuralen Konfiguration der Serie eine nachgerade ‚mütterlich‘ wirkende Rolle inne. Dies zeigt sich zudem daran, dass ihr das Ausleben ihrer Sexualität nicht gestattet wird – es gibt zwar Anbahnungen einiger romantischer Beziehungen, jedoch sind diese alle nicht von Dauer (vgl. u.a. STAR TREK: VOYAGER, S05/E10: „Counterpoint“, Regie: Les Landau, USA 1998). Ihre mütterliche Fürsorge zeigt Janeway insbesondere in den Beziehungen zu den – deutlich jüngeren und vom Rang her niederen – Besatzungsmitgliedern Harry Kim oder Kes (als deren elterlicher Ersatz Janeway zusammen mit dem Schiffsarzt bei Kes’ Vorbereitung eines Paarungsrituals fungiert, vgl. STAR

434

Paradigmen der Idylle

Die Voyager-Crew muss sich im Delta-Quadranten bei vielen Gelegenheiten gegen die Borg zur Wehr setzen. Einer dieser Kämpfe, den Captain Janeway als „resistance movement“ bezeichnet,398 besteht in der Unterstützung einer Revolution innerhalb der kollektiven Drohnen-Gesellschaft der Borg. Bezeichnenderweise ereignet sich diese Revolution in einer (imaginären) Idylle: Unimatrix Zero ist eine Bewusstseinsebene, zu der einige, ihres prä-kybernetischen Individualbewusstseins wieder habhaft gewordene Drohnen dank einer genetischen ‚Fehlfunktion‘ Zugang haben.399 Dort können sie zeitweise, d.h. während ihrer dem menschlichen Schlaf analogen Regenerationsphase, in ihrer vormaligen körperlichen und geistigen Existenz als Individuen virtuell außerhalb des Borg-Kollektivs existieren. Unimatrix Zero wird so zum Schauplatz einer wichtigen Schlacht im Kampf der Menschheit des 24. Jahrhunderts gegen die Humanoid-Maschine-Hybriden der Borg und ihre Königin. Filmisch als Doppelfolge der Episodenserie umgesetzt, bilden die beiden Teile von „Unimatrix Zero“ den Übergang von Staffel sechs zu Staffel sieben von STAR TREK: VOYAGER. Die beiden Unimatrix-Episoden präsentieren eine televisive Konkretion des materialen Topos, denn die Bewusstseinsebene der genmutierten Borg-Drohnen erscheint als idyllischer locus amoenus. Dieser Eindruck ergibt sich zunächst auf der visuellen Ebene, denn bei ihrem ersten Besuch erblickt Seven of Nine Unimatrix Zero als

398

399

TREK: VOYAGER, S02/E04: „Elogium“, Regie: Winrich Kolbe, USA 1995). Die Integration von Seven of Nine in die Voyager-Crew zeigt, dass die Beziehung zwischen dem Captain und der ehemaligen Borg-Drohne der zwischen Mutter und Tochter gleicht. Insofern der ersten das Ausleben ihrer Sexualität nicht gestattet ist, kann die zweite diese als einen Teil ihrer Menschlichkeit erforschen und ausprobieren: So hegt Seven of Nine ein sexuell-partnerschaftliches Begehren gegenüber Commander Chakotey, dem ersten Offizier der Voyager (vgl. STAR TREK: VOYAGER, S07/E18: „Human Error“, Regie: Allan Kroeker, USA 2001). Es wäre also schlicht falsch zu behaupten, dass Seven of Nine als ideale Verkörperung einer patriarchalischen Weiblichkeits-Phantasie als „Barbie“ erscheine, „die Gender ohne sexuelles Geschlecht performiert“ (Nieden: GeBorgte Identität, S. 134). Der Austausch von Kes durch Seven of Nine hat in der Serie aber noch eine andere Funktion: Sie regelt die territoriale Ordnung im kosmischen Chaos, indem jene Grenzen restituiert werden, die sowohl die Borg durch ihre interstellaren Kolonialisierungsbestrebungen als auch die Voyager durch ihr Stranden in dem von den Menschen bislang unerforschten Delta-Quadranten verletzen. Als ‚Eingeborene‘ dieses Teils der Galaxis verbleibt Kes dort – und dasselbe gilt für den mit ihr an Bord gekommenen Neelix, der die Voyager kurz vor deren Rückkehr zur Erde verlässt (vgl. STAR TREK: VOYAGER, S07/E23: „Homestead“, Regie: LeVar Burton, USA 2001). Seven of Nine hat als Mensch, der gegen seinen Willen ins Borg-Kollektiv assimiliert und ans andere Ende des Weltalls gebracht wurde, hingegen das strukturelle Recht, diesen Ort wieder zu verlassen und zur Erde zurückzukehren. STAR TREK: VOYAGER, S06/E26: „Unimatrix Zero, Part I“, Regie: Alan Kroeker, USA 2000, hier: 00:21:53. Bei dieser Fehlfunktion handelt es sich um eine „mutation“, die von den Borg als „disease“ bzw. „sickness“ angesehen wird und deshalb einer „cure“ bedarf (VOYAGER 06/26, 00:01:36– 00:01:50). Dagegen erkennt die Crew der Voyager, wie es Commander Chakotey zusammenfasst, in diesem Genfehler den „turning point in our battle against in the Borg“ (ebd., 00:25:40).

Arkadisch – Heterotopisch – Elysisch

435

Panorama eines Flusstals, das geschützt zwischen dicht bewaldeten Hängen gelegen ist. Die ZuschauerInnen bekommen diesen Anblick durch eine Totale präsentiert – und die Rückansicht, aus der Seven of Nine und ihr Begleiter Axum im Bildvordergrund zu sehen sind, verweist ikonographisch offenkundig auf romantische Landschaftsdarstellungen (Abb. 48). Es ist aber weniger diese topographische Lage, durch die Unimatrix Zero als Idylle erscheint – genauso wenig wie der Umstand, dass es sich bei diesem Ort nicht um einen „real place“, sondern um „some kind of virtual construct“ handelt.400 Zur Idylle wird Unimatrix Zero durch den für sie konstitutiven ‚inneren Zusammenhang‘ zwischen Kitsch und Katastrophe: Seven of Nine trifft in Unimatrix Zero ihre vergessene alte Liebe wieder, mit der sie über die Jahre ihrer Borg-Existenz hinweg in dieser imaginären Idylle eine Beziehung geführt hat. Jedoch währt die Freude des Wiedersehens mit Axum nicht lange, denn das Kollektiv dringt in Unimatrix Zero ein, um die abtrünnigen Individualisten zu reassimilieren. Diese Katastrophe kann nur durch eine noch größere abgewendet werden: Die Zerstörung von Unimatrix Zero, damit die einmal befreiten Drohnen – wenn auch idyllisch beschränkt – weiterhin ihre Freiheit behalten und die Revolution gegen die Borg von innen her weiterführen können.401 Durch diesen Einbruch der Katastrophe zeichnet die VOYAGER-Doppelepisode die geschichtliche Entwicklung der Idylle insofern nach, als der „traditionelle Ort der Idylle [....] von einem Schauplatz der Harmonie zu dem des Konflikts“ gerät, wie Jean Starobinski erläutert.402 Für die wiederentdeckte Beziehung von Seven of Nine zu Axum, der zum Anführer des Widerstandskampfes der Ex-Drohnen avanciert, bedeutet die Katastrophe der Zerstörung von Unimatrix Zero jedoch nicht das Ende ihrer gemeinsamen Idylle: Auch wenn der Ort ihrer Liebesbegegnung verloren ist, bleibt die Erinnerung daran für beide erhalten. Gegenüber Seven of Nine bringt Axum das mit einem indirekten intertextuellen Bezug auf einen der bekanntesten Sätze der Filmgeschichte zum Ausdruck: „We still 400 401

402

VOYAGER 06/26, 00:11:39. Der Plan gelingt, denn mit Hilfe der Voyager-Crew, die ein Borg-Schiff infiltriert, kann ein sog. Nanovirus im Kollektiv freigesetzt werden, durch den die Unimatrix-Drohnen vom ‚hive mind‘, dem kollektiv geteilten Bewusstsein der Borg, dauerhaft getrennt werden und so als Individuen weiterexistieren können (vgl. VOYAGER 06/26, 00:12:44ff). Als dramaturgisches Verfahren ist eine derartige Zerstörung der Idylle auch in anderen Fernsehserien zu finden. So beispielsweise als Cliffhanger am Ende der dritten Staffel von WEEDS (USA 2005–2012): Um nach dem Tod ihres Ehemannes das gutbürgerliche Leben ihrer Familie zu finanzieren, beginnt Nancy Botwin in dem fiktiven Vorort Majestic mit Marihuana zu dealen. Als ihr das Drogengeschäft aufgrund von Konflikten mit der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA sowie rivalisierenden Dealern und deren Gangs zu heikel wird, nutzt Nancy einen Waldbrand, der die Vorstadtidylle bedroht, um ihr Haus anzuzünden und so alle Beweise ihrer kriminellen Machenschaften zu vernichten (vgl. WEEDS, S03/E15: „Go“, Regie: Craig Zisk, USA 2007). Starobinski, Jean: Die Erfindung der Freiheit. 1700–1789, übersetzt von Hans Staub, Genf: Skira 1964, S. 160.

436

Paradigmen der Idylle

have Unimatrix Zero.“403 Dass Seven of Nine und Axum nicht das Schicksal von Rick Blaine und Ilsa Lund aus CASABLANCA (Regie: Michael Curtiz, USA 1942) teilen müssen, vermittelt das Abschiedsgespräch zwischen den beiden, bevor sie Unimatrix Zero für immer verlassen: Axum: You shouldn’t be here. Seven of Nine: Neither should you. I’ve wasted our time together. A: No, you didn’t. You gave us a chance to fall in love again. S: We’ve lost our only way to be together. A: No, I’ll find you. S: Axum... A: I’ll find you.404

Auch in der größten aller möglichen Katastrophen bietet also der Kitsch noch eine idyllische Aussicht. Neben diesem ‚inneren Zusammenhang‘ der Idylle verweist die hier kurz besprochene Doppelepisode der Serie auf die im Folgenden genauer zu untersuchenden Paradigmen der Idylle: Unimatrix Zero ermöglicht insofern einen arkadischen Blick in die verloren geglaubte Vergangenheit, als die Borg-Drohnen dort in ihrer ehemaligen humanoiden Existenz auftreten und – zumindest zeitweise, d.h. während ihres Regenarationszyklus – als Individuen leben können. Heterotopisch erscheint Unimatrix Zero, weil es eine imaginäre Abweichungsheterotopie ist, zu der eben nur diejenigen Drohnen Zugang haben, die die rezessive Genmanipulation aufweisen. Zugleich steht dieser idyllische Ort in Verbindung sowie im Gegensatz zu allen anderen Orten der Galaxis – und das ganz buchstäblich, denn die Drohnen, die sich dort zusammenfinden, sind de facto über den gesamten Weltraum verstreut. Aus diesem Grund kann von hier aus die innere Revolution gegen das Borg-Kollektiv ihren Anfang nehmen. Schließlich erscheint Unimatrix Zero zudem als elysisch, weil es die Möglichkeit auf ein Leben außerhalb des Kollektivs sowie die Rückgewinnung der Individualität in Aussicht stellt. Diese avanciert zum Antrieb der in Unimatrix Zero beginnenden revolutionären Umwälzungen. Das arkadische, das heterotopische und das elysische Paradigma der Idylle lassen sich aus dem zuvor dargestellten Koordinatensystem der Idylle ableiten. Auch wenn in der nachfolgenden Übersicht die drei Paradigmen unterhalb der drei Kategorien stehen, die das Koordinatensystem der Idylle strukturieren, sind sie nicht deckungsgleich mit ihnen. Die einzelnen Elemente im Koordinatensystem, die entsprechend den Kategorien Natur, Natürliches und Kultur im semiotopischen Feld verteilt sind, konstituieren ihrerseits idyllische Orte, die dann mittels eines der Paradigmen konkreter zu bestimmen sind. Dabei muss deren heuristische Funktion beachtet werden: Die Übergänge zwischen den Paradigmen sind fließend, weshalb konkrete Idyllen an allen drei Paradigmen partizi403

404

STAR TREK: VOYAGER, S07/E01: „Unimatrix Zero, Part II“, Regie: Mike Vejar, USA 2000, hier: 00:27:43. VOYAGER 07/01, 00:38:22ff.

437

Arkadisch – Heterotopisch – Elysisch

ieren können. Unimatrix Zero aus der VOYAGER-Episode wäre ein Beispiel für einen solch idyllischen Ort, der als arkadisch, heterotopisch und elysisch beschrieben werden kann. Dies ist durch den nach rechts und links laufenden Richtungspfeil in der nachfolgenden Darstellung angezeigt, um den generativen Zusammenhang zwischen den hier entwickelten Schemata herauszustellen: NATUR

NATÜRLICHES

KULTUR

Wildnis

semiotopisches Feld  (potenzielle) loci amoeni

Zivilisation

Idylle (idealer locus amoenus)

(Kultur) ltur) r

( (Natürliches (Natürliches) )

(Natur)

zeitliche Achse

Paradigmen der Idylle arkadisch

heterotopisch

elysisch

Schema 5: Paradigmen der Idylle (Quelle: eigene Darstellung)

Die Parameter, die der folgenden Beschreibung der drei Paradigmen zugrunde liegen, sind die Realisierungsformen der jeweiligen Idylle gemäß ihrer kitschigen bzw. katastrophischen Ausprägung. Hinzu kommt der Zeitbezug des idyllischen Ortes, wie er sich aus der x-Achse des Koordinatensystems der Idylle ableiten lässt: Es kann ein dominanter Bezug auf die Vergangenheit bzw. Vor-Gegenwart (arkadisch), die Gegenwart (heterotopisch) oder die Zukunft bzw. Nach-Gegenwart (elysisch) vorliegen. Angesichts dieser Ausrichtung sind das erste und das dritte Paradigma von ihrer Bezeichnung her an Friedrich Schillers theoretischer Auseinandersetzung mit der Idylle orientiert, während sich das zweite Paradigma, das mit dem von Michel Foucault geprägten Begriff der Heterotopie bezeichnet ist, an dem von Jean Paul eingeführten Kriterium der Beschränkung ausrichtet und es für eine Untersuchung der verschiedenen Konkretionen des materialen Topos in literarischen, filmischen und televisiven Texten produktiv macht. Die drei Paradigmen ermöglichen daher ein (analytisches) Sprechen über die Idylle – ausgehend, aber zugleich emanzipiert von ihrer eng gefassten Gattungsbestimmung bzw. dem vagen Konzept des Idyllischen.

438

Paradigmen der Idylle

4.3.1Das arkadische Paradigma der Idylle (Gessner – ONCE UPON A TIME – Der Park) Unter das arkadische als dem ersten der drei möglichen Paradigmen der Idylle fällt, was Michail Bachtin als idyllischen Chronotopos bestimmt und darunter „den idyllischen Typ der Wiederherstellung des vorzeitlichen Komplexes und der Folklorezeit“ versteht.405 In dieser Definition des Chronotopos ist damit genau das erfasst, was Friedrich Schiller in seiner sentimentalischen Theorie der Idylle als den vermeintlichen „Zweck“ ihrer ‚klassisch-traditionellen‘ Ausprägung à la Gessner kritisiert: einen „Zustand der Harmonie und des Friedens“ darzustellen, der im „Anfange der Kultur“ gesehen und daher analog dem Goldenen Zeitalter als verloren angenommen wird.406 Literatur- und kulturhistorisch betrachtet, avanciert eine solcherart arkadische Idylle zum – mit Goethes „Prometheus“ gesprochen – ‚Knabenmorgenblütentraum‘ des Kitsches,407 wenn man ihn, wie Hermann Broch, als eine „Flucht ins Historisch-Idyllische“ begreift.408 Gemäß den zuvor dargelegten Parametern lässt sich das – idealtypische – arkadische Paradigma der Idylle nach den folgenden Merkmalen schematisieren: Paradigma

arkadisch

Merkmal

Arkadien

Realisierungsform katastrophisch

(literarischer) Archetypus zeitlicher Bezug auf eine idyllische Gegenwart Beispiele

kitschig/nicht-katastrophisch

Apokalypse

Kosmogonie (Genesis, Messiade) verloren/vergangen

- B. Strauß: Der Park - Once Upon A Time - …

-

Theokrit: Idyllen Vergil: Eklogen Gessner: Idyllen …

Schema 6: Arkadisches Paradigma (Quelle: eigene Darstellung)

Die jeweilige Realisierungsform entspricht den beiden zuvor dargelegten Ausprägungen der Idylle, nach denen sich das semiotopische Feld genauer differenzieren lässt. Der jeweiligen Realisierungsform liegt ein literarischer ‚Archetypus‘ zugrunde, der seinerseits 405 406 407

408

Bachtin: Chronotopos, S. 160. Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 467. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: „Prometheus“ [V. 50f], in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. I: Gedichte und Epen I, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S. 44f, hier: S. 46. Broch, Hermann: „Kitsch und Tendenzkunst“ [1933], in: Dorfles, Gillo: Der Kitsch [1968], übersetzt von Birgid Mayr, Gütersloh: Prisma 1977, S. 67–76, hier: S. 72. Der in Dorfles’ Anthologie aufgenommene Titel entspricht Brochs Essay „Das Böse im Wertsystem der Kunst“, der 1933 im achten Heft des 34. Jahrgangs von Die Neue Rundschau (S. 157–191) erschienen ist.

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nicht mit einer konkreten Idylle (im Sinn ihrer engen Gattungsbestimmung) zu verwechseln ist: Die Archetypen veranschaulichen die entweder katastrophische oder kitschige bzw. nicht-katastrophische Ausprägung der Idylle, die im ersten Fall durch eine Katastrophe gefährdet ist bzw. hinsichtlich des im zweiten Fall in und mit ihr angestrebten ‚harmonischen Friedenszustands‘ zu scheitern droht. Zentral für die Archetypen wie auch die Realisierungsformen ist letztlich die das Paradigma konstituierende Zeitlichkeit in ihrem Bezug auf die vor- bzw. dargestellte idyllische Gegenwart. Diese wird beim arkadischen Paradigma als eine vergangene und daher zumeist auch verlorene begriffen, wie etwa im Fall des antiken Goldenen Zeitalters oder des rousseauistischen Naturzustands. So wie die (meisten) antiken Idyllen fällt auch Gessners Lycas-Idylle unter das arkadische Paradigma, weil die vom lyrischen Ich beschriebene imaginäre Einrichtung des Gartens durch den Hirten Lycas für seine Geliebte Chloe den Zweck hat, an ihre in der Vergangenheit liegende Begegnung zu erinnern. Als idyllische Kosmogonie im Kleinen erweist sich Gessners Idylle von der Erfindung des Saitenspiels und des Gesangs, weil in ihr die mediale ‚Ur-Szene‘ der idyllischen Medien und ihrer Musik dargestellt wird. Das arkadisches Paradigma der Idylle steht analog zu jenem Phänomen, das Fredric Jameson in seinem Aufsatz „Postmodernism and Consumer Society“ als eine spezifische „practice of pastiche“ untersucht: den sog. ‚nostalgia film‘.409 Unter ‚pastiche‘ versteht Jameson eine spezifisch postmoderne Form der Parodie: „the imitation of a particular or unique style, the wearing of a stylistic mask, speech in a dead language: but it is a neutra practice of such mimicry, without parody’s ulterior motive, without a satirical impulse, without laughter, without that still latent feeling that there exists something normal compared to which what is being imitated is rather comic.“410 Ohne weiter auf die komiktheoretischen Implikationen des Pastiche-Konzepts einzugehen, die einen Zugang zur oftmals unfreiwilligen Komik des Kitsches liefern würden, soll das von Jameson dem Pastiche zugeordnete Phänomen des ‚nostalgia film‘ hier insofern kurz betrachtet werden, als er darunter „films about the past and about specific general moments of the past“ fasst, sie aber nicht mit dem „more traditional genre known as the historical film“ gleichsetzt.411 Filme, die zum ‚nostalgia‘-Genre gehören, bedienen laut Jameson ein „nostalgic desire“ und als Beispiele nennt er Chinatown, die ersten drei STAR-WARS-Filme sowie die INDIANA-JONES-Reihe.412 Diese Filme zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine spezifische ‚Erfahrung‘ („experience“) aktualisieren („reinvent[]“) und das beispielsweise – wie im Fall von STAR WARS – in Form einer 409

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Jameson, Fredric: „Postmodernism and Consumer Society“, in: Kaplan, E. Ann (Hg.): Postmodernism and its Discontents, London/New York: Verso 1988, S. 13–29, hier: S. 18. Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 16, Hervorhebung i.O. Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 18. Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 19.

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narrativen Struktur.413 Jameson verweist hierfür auf die US-amerikanischen Samstagnachmittags-Fernsehserien der 1930er bis 1950er Jahre mit „alien villains, true American heroes, heroines in distress, the death ray or the doomsday box, and the cliffhanger at the end whose miraculous resolution was to be witnessed next Saturday afternoon“.414 Star Wars stellt für Jameson insofern ein Pastiche dar, als die Filme sich auf das von ihm beschriebene Narrationsmuster beziehen und es aktualisieren, ohne dabei parodistisch über den Schematismus dieser Abenteuererzählungen zu reflektieren. Während naive LeserInnen, wie man mit Umberto Eco sagen kann,415 diese Filme auf der Objektebene als Abenteuerfilme rezipieren („[they] can take the adventures straight“), können kritische LeserInnen durch diese Filme ihr „nostalgic desire“ befriedigen, das in einer Art ‚retour‘ in ihre televisive Vergangenheit liegt: „to return to that older period and to live its strange old aesthetic artifacts through once again“.416 Das sehnsüchtige Begehren, das die nostalgia films ansprechen und befriedigen, ist auf eine zeitweilige Restitution einer „indefinable nostalgic past“ gerichtet und in dieser Perspektive ganz und gar arkadisch,417 denn diese undefinierbare nostalgische Vergangenheit entspricht derjenigen des Goldenen Zeitalters oder dem, was Schiller den „verlassenen Stand der Natur“ nennt, wie ihn die ‚klassische‘ Idylle „als ihr letztes Ziel beabsichtet“.418 Eine dergestalt nostalgische oder eben arkadische Perspektivierung kann der materiale Topos der Idylle auch in anderen Konkretionen einnehmen: So beispielsweise als Kleinstadt Story Brooke in der Fernsehserie ONCE UPON A TIME (bislang 7 Staffeln, USA 2011–2018), die aufgrund des komplexen Erzählens mittels flashbacks und Wechseln zwischen diegetischen Welten zum Bereich des sog. quality TV zu zählen ist. In ONCE UPON A TIME wird das arkadisch-nostalgische Begehren zum Erzählanlass der ersten Staffel, denn in Story Brooke leben die bekannten Figuren aus den Grimm’schen Märchen eine menschliche Existenz – aber ohne sich ihrer eigentlichen Provenienz bewusst zu sein. Der Grund dafür ist ein Fluch der Evil Queen, die sich an Prince Charming und Snow White rächen will, indem sie ihnen ein für alle Mal ihr Happy End verwehrt. Dies geschieht durch einen Wechsel in einen anderen realm, also eine der verschiedenen Welten innerhalb der televisiven Diegese, in dem es keine Magie gibt. Dies ist die Welt der Menschen. Während die ehemalige Böse Königin aus dem Enchated Forrest in Story Brooke als Bürgermeisterin Regina Mills ‚herrscht‘ und als Urheberin des Fluchs Erinnerung an ihre Vergangenheit besitzt, leiden die übrigen Bewohner der US-amerikanischen Klein413

Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 19. Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 19. 415 Zum Unterschied zwischen den Konzepten vom kritischen und naiven bzw. semantischen Leser vgl. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation [1990], übersetzt von Günter Memmert, München/Wien: Hanser 1992, S. 43ff. 416 Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 19. 417 Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 20. 418 Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 467f. 414

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stadt, die durch einen Zauber von der Außenwelt abgegrenzt und von Menschen nicht betreten werden kann, unter einer kollektiven Amnesie. Einzig Reginas Adoptivsohn Henry erkennt durch die Lektüre eines Märchenbuchs den ‚faulen Zauber‘ und versucht deshalb, den Bann zu brechen und den KleinstädterInnen ihre echten Erinnerungen wiederzubringen. Henry muss dazu seine birthmother ausfindig machen, denn sie ist der prophezeite savior, der den Fluch brechen kann. Aus diesem Grund wurde Emma, die Tochter von Prince Charming und Snow White, als Neugeborenes in die Menschenwelt gebracht, um so Reginas curse zu entgehen. Die Aufgabe von Henry und Emma – als den Helden der ersten Staffel der Serie – besteht darin, durch das Brechen des Fluchs den Bewohnerinnen und Bewohnern von Story Brooke nicht bloß ihre Erinnerungen zurückzubringen, sondern dadurch ihre verlorene Märchenexistenz wiederherzustellen. In ONCE UPON A TIME kommt der Märchenwelt jener Zustand einer „indefinable nostalgic past“ zu, von der Jameson spricht.419 Inszenatorisch umgesetzt wird dies durch verschiedene Rückblenden, durch die die Vergangenheit der einzelnen Figuren, die die ZuschauerInnen zunächst in ihrer amnestisch-menschlichen Existenz präsentiert bekommen, erzählt wird. Für die kritischen LeserInnen liegt der Genuss der Serie einmal im Rätselraten über die Korrespondenz zwischen den klassischen Märchenfiguren und den menschlichen Bewohnern von Story Brooke. Dabei erscheint die Serie durch den Bezug auf das Märchen ganz im Sinn von Jamesons Pastiche keinesfalls als Parodie. Vielmehr handelt es sich um eine televisive Aktualisierung, denn die Serie verkoppelt die literarische Gattung mit dem TV-Genre der soap opera, indem von den zwischenmenschlichen Irrungen und Wirrungen zwischen den Figuren erzählt wird, die sich erst zu den aus dem Märchen bekannten ursprünglichen Konfigurationen und Konstellationen (wieder) zusammenfinden müssen. Das eindrücklichste Beispiel sind Prince Charming und Snow White, die sich in der Märchenwelt wechselseitig jenes Versprechen gegeben haben, das auch Axum in Unimatrix Zero gegenüber Seven of Nine äußert: „I’ll always find you“, heißt der von Prince Charming und Snow White beständig wiederholte Satz, der in der ersten Staffel darauf verweist, dass die beiden auch in ihrer menschlichen Existenz als David Nolan und Mary-Margaret Blanchet zueinanderfinden werden.420 419 420

Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 20. Zwischen den beiden Erzählebenen, die den jeweiligen diegetischen Welten des Märchens und der Menschenwelt entsprechen, besteht auch eine narrative Korrespondenz, weil die ehemaligen Märchenfiguren in Story Brooke genau jene Schwierigkeiten überwinden müssen, denen sie auch im Märchen ausgesetzt sind: Im Fall von David und Mary-Margaret bzw. Prince Charming und Snow White besteht dies in ihrer Liebe auf den ersten Blick, die ihre kitschige Ausprägung dadurch erfährt, dass die beiden nicht unmittelbar zusammen sein können, weil einer der beiden bereits anderweitig liiert ist. In der Märchenwelt ist Prince Charming der Tochter von König Midas versprochen – die Serie hat ihre Interexte nicht nur bei den Grimms, sondern auch im Mythos oder dem Disney-Universum – und in der Menschenwelt ist Prinzessin Abigail seine

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Analog zu der von Jameson als Beispiel für ‚nostalgia films‘ genannten STAR-WARSReihe erweist sich die TV-Serie ONCE UPON A TIME als das, was Eco eine Saga nennt, die ihrerseits immer eine „maskierte Serie“ ist, weil sie sich als „Abfolge scheinbar immer neuer Ereignisse“ erweist, die „den ‚historischen‘ Werdegang einer Person oder besser noch einer Personenfamilie betreffen“.421 So erzählt ONCE UPON A TIME letztlich die Familiengeschichte um Snow White und Prince Charming, ihrer Tochter Emma sowie deren Sohn Henry. Die übrigen Figuren dieser Serie sind durch verwandtschaftliche Beziehungen, die sich im Laufe der ersten drei Staffeln der Episode sukzessive enthüllen, in diese familiären Zusammenhänge eingebunden. Als dem arkadischen Paradigma zugehörig erweist sich die Kleinstadtidylle von Story Brooke aufgrund der Suche ihrer BewohnerInnen nach ihrer märchenhaften Vergangenheit – und damit spiegelt sie die Situation der ZuschauerInnen, denen die televisive Aktualisierung der literarischen Gattung des Märchens jenes „nostalgic desire“ vermittelt, das Jameson darstellt.422 Einen möglichen Grund für dieses Phänomen erkennt er in der zunehmend fragmentarisiert(er) erscheinenden (westlichen) Gesellschaft, die sich als „incapable of dealing with time and history“ erweist.423 Deshalb sieht er die postmoderne Gesellschaft dazu verdammt, „to seek the historical past through our own pop images and stereotypes about the past, which itself remains forever out of reach“.424 Das dadurch bedingte Nostalgie-Begehren ist nun aber keinesfalls ein Phänomen, das auf die Postmoderne beschränkt ist. Im Gegenteil: Die sog. ‚pop images and stereotypes‘ in Literatur, Film und Fernsehen des 20. und 21. Jahrhunderts erweisen sich in der hier dargelegten Perspektive des arkadischen Paradigmas der Idylle als literarische, filmische und televisive Konkretionen des materialen Topos. Der Versuch zur Restitution einer als verloren vorgestellten Vergangenheit, die daher, wie Jameson sagt, als ‚forever out of reach‘ begriffen wird, ist auch der Gegenstand in Botho Strauß’ Drama Der Park, das gemäß seiner ‚vorwortlichen‘ Einführung durch einen paratextuellen Kommentar explizit als Intertext zur Shakespeare-Komödie Ein Sommernachtstraum ausgewiesen wird.425 Bereits der titelgebende Park als Schauplatz des

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Verlobte Kathryn (vgl. ONCE UPON A TIME, S01/E06: „The Shepherd“, Regie: Victor Nelli, USA 2011). Eco, Umberto: „Die Innovation im Seriellen“ [1983], in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, übersetzt von Burkhart Kroeber, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 72002, S. 155–180, hier: S. 161f. Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 19. Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 20 Jameson: „Postmodernism and Consumer Society“, S. 20. Vgl. Strauß, Botho: Der Park. Schauspiel [1983], in: ders.: Theaterstücke, 3 Bd.e, Bd. II, München/Wien: Hanser 1991, S. 73–170, hier: S. 75. Nachfolgend werden Zitate aus Der Park unter Angabe von Akt und Szene, gefolgt von der Seitenzahl in Klammern ohne weitere Fußnote direkt im Text belegt. Diese Zitationsweise wird gewählt, weil die zugrundeliegende Textausgabe

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Dramas zeugt wie das „schrebergärtchen in der hölle“ aus Gerhard Rühms Gedicht von idyllischer Ambivalenz, denn er ist Durchgangsgelände, Treffpunkt, Kreuzung von Wegen, Gelegenheitsaufenthalt, Zwischenbereich. Zudem ist der Park Natur und zerstörte Natur in einem, frisierte Landschaft und vernachlässigter Garten. Er hält die zivilisatorische Schwebe zwischen (verlorener) Wildnis und den Wohnsilos der Stadt, zwischen paradiesischem Chaos und irdischer Müllhalde. Und er ist ein bißchen von allem: Spaziergebiet, auf dem die Menschen ihren sonstigen Bestimmungen entgleiten können, künstlich angelegt und dann und wann ein wenig unheimlich, Spielplatz und erotischer Treff. Der Park liegt auch im Niemandsland zwischen Theater und Wirklichkeit, beides findet in ihm zusammen.426

Den Versuch einer arkadisch zu nennenden Restitution unternehmen Oberon und Titania, das königliche Elfenpaar des ‚Sommernachtstraums‘, dessen Zauberei zu allerlei Verwechslungen zwischen den menschlichen Paaren führt, die um der Liebe Willen in einen Wald nahe Athen geflohen sind, um dort ihren arrangierten Ehen zu entgehen. In Der Park erscheint das Wirken der Elfen nicht als heiterer Zeitvertreib zur eigenen Unterhaltung, sondern ist göttliche Mission: Den Menschen fehlt „Geschlechtlichkeit“ genauso wie „Lustempfinden“ (I/3, 82) und beides wollen Titania und Oberon wieder in ihnen wecken. Dies geschieht allerdings nicht uneigennützig, denn wie Titania gesteht, braucht sie wie Oberon „diesen menschlich-schwachen Widerschein“ ihrer Verehrung „zur eigenen Stärkung“ (I/3, 82). Statt weiterhin „als Gruselpaar / im Busch, ’ne frierende Erscheinung“ (I/3, 83) zu geben, wollen die beiden wieder in ihr altes Amt versetzt werden. Diesen Plan einer nachgerade dionysischen Berauschung einer von der „Sinnenfreude“ entfremdeten Gesellschaft fasst Oberon zusammen: Ich weiß, ich spür’s, bald sind sie reif für uns. / So gründlich hat Bewußtsein und Geschäfte / ihren Trieb verdorben, daß mancher /schon sich hilfeflehend an die alten Götter wendet. / Und wir – wir wollen doch die ersten sein, / die hier die tiefbegrabnen Wünsche wecken / und überfrorene Nüchternheit zerschmelzen. / Denn wenn es glückt und wir erreichen sie, solang sie sich noch regen, / dann werden wir am Ende hoch verehrt / und tragen schöneren Lohn davon als andere, / die dann gewiß bald nach uns kommen. (I/3, 82f)

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keine Versmarkierungen aufweist und die Dialoge sowohl in gebundener Rede als auch Prosa gehalten sind. Schütze, Peter: „Heruntergekommene Wildnis. Das Schauspiel ‚Der Park‘ von Botho Strauß“, in: Freund, Winfried (Hg.): Deutsche Komödien. Vom Barock bis zur Gegenwart, München: Fink 1988, S. 282–294, hier: S. 286.

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Als zwei „Götter im Exil“ treibt Oberon und Titania also ein arkadisches Begehren um.427 Die eigene Erlösung ist dabei an die Sorge um das „Seelenheil“ der Menschen geknüpft – das allerding nicht „im religiösen, sondern im erotischen Sinn“, weil sie „die Wiedergeburt des Triebes zu geschlechtlicher Lust“ befördern wollen.428 Dabei ist für Titania das, was Oberon ihre „Mission“ nennt, mit der Rückkehr in jenen ursprünglichen Zustand verbunden, „[w]o sich alles löst und wir verständigt sind“ (I/3, 86). Dieser ‚retour‘ erweist sich als eine ersehnte Heimkehr, die Titania in ihrer Kritik an Oberons egozentrischem Plan nachgerade idyllisch beschreibt: „Du! Du willst nur Ruhm, Altare von den Menschen. / Sperrst mich in dies Gerippe ein und läßt mich leiden. Ich will / nach Haus. Ich will in meine freien Flure heim!“ (I/3, 85) Auch Oberon hegt den Wunsch nach einer solchen Heimkehr, die derjenigen in die Märchenwelt entspricht, wie sie sich nach dem Brechen des Fluchs in ONCE UPON A TIME – kurzzeitig – ereignet.429 Doch sieht Oberon die Möglichkeit ihrer Heimkehr an den Erfolg ihrer Mission zur ‚Lustbekehrung‘ der Menschen gebunden: Hör mir gut zu, Titania! / Wir kehren heim, nicht wann wir selbst / es wollen, jedoch sobald sich Augen öffnen, / müde Menschensinne, erfüllt von unserem Bild, / erwachen und erst wenn ihre Lust gerettet ist, / dann sind auch wir entbunden von dieser lästigen / Verkörperung (dann freilich wird es hier nicht enger / sein als drüben in den Feen- und Geistergründen, / und du gebietest über ein noch weiteres Reich...) (I/3, 86, Hervorhebung N.J.)

Anders als in ONCE UPON A TIME, wo sich – zumindest innerhalb des Erzählzusammenhangs einer einzelnen Staffel – märchenhaft alles zum Guten wendet, scheitert in Der Park Oberons Plan, weshalb das Drama der katastrophischen Realisierungsform des arkadischen Paradigmas der Idylle zuzuordnen ist. Das Scheitern ist bedingt durch die Mittel, die Oberon zur Umsetzung seines Vorhabens gebraucht: Er verpflichtet Cyprian, den gealterten Künstler, der „Masken“ baut und „Figuren“ (I/3, 83), auf sein „Meisterstück“ (I/3, 88). Dieses besteht in kleinen Idolen, durch deren Zauberwirkung der dionysische Rausch in den Menschen wachgerufen werden soll. Von dieser Aufgabe ist Cyprian alles andere als begeistert: Mach was, sagt er, mach was, Cyp. Ich / geb dir die Puste, ich geb dir das Augenmaß und du hältst dich / ran. Ganz kleine Leute, verstehen Sie? Lauter Butzen und / Wichtel, die den Katholen Löcher in die Präservative bohren / und den Mädchen Pfeffer unter den Bürostuhl streun. [...] Ich hab ja früher diese Riesenpapiermachés

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Pikulik, Lothar: „Botho Strauß: Der Park. Traumspiel – Experiment – Zeitbild“, in: Pikulik, Lothar/Kurzenberger, Hajo/Guntermann, Georg (Hgg.): Deutsche Gegenwartsdramatik II, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 86–118, hier: S. 92. Pikulik: „Botho Strauß: Der Park“, S. 93. Vgl. ONCE UPON A TIME, S03/E12: „New York City Serenade“, Regie: Billy Gierhart, USA 2014.

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gemacht. / Riesengroß, Riesendinger. Jetzt sagt er: mach mal was Klitze- / kleines, woll’n mal sehen, ob das den Leuten nicht besser ge- / fällt. (II/1, 95f)

Cyprians unter Menschen wie Elfen gebrachte Kunst-Stückchen führen dazu, dass die im Park Versammelten nachgerade mythisch beseelt und dadurch verwandelt werden: Titania glaubt, sie sei Pasiphaë, die Mutter des Minotaurus (vgl. III/10, 127), und Helen, die Trapezkünstlerin aus dem Zirkus, wird von den um sie buhlenden Männern für Helena von Troja gehalten (vgl. III/11, 130), während Helma, ihre Konkurrentin um die Gunst von Wolf und Georg, „von der Hüfte abwärts mit einem Baum verwachsen“ ist und daher analog der Nymphe Daphne aus Ovids Metamorphosen erscheint (III/11, 127). All das ist aber keinesfalls in Oberons Sinn, der die Katastrophe auf den Punkt bringt und die Verantwortung dafür bei Cyprian sucht: „Es ist dir rundum alles schiefgegangen! / Die reine Auseinandertreibung, sieh! / Die Blüte echter Liebe wurde schwarz / und faul; wer früher sich nicht leiden / konnte, drängt jetzt mit falschem Eifer zueinander.“ (III/12, 134) Cyprian erfüllt letztlich nur das ihm von seinem ‚Vorgänger‘ Puk bzw. Droll aus Ein Sommernachtstraum vorgegebene intertextuelle Programm. Gerade deshalb ließe er sich als „tragische Figur“ lesen,430 deren Konflikt zwischen Pflicht und Neigung sich einerseits aus der Hörigkeit gegenüber seinem Herrn und Meister ergibt – „Ich diene Oberon“, beteuert Cyprian gegenüber Titania, die ihn für ihre eigenen Zwecke einspannen will (III/10, 126) – und andererseits aus seiner Selbstbestimmung als Künstler. Diese ist wiederum ganz und gar dem Dionysischen verpflichtet, da triebgesteuert. Cyprian begehrt nämlich Titanias jungen Diener und lässt sich auf einen Handel mit ihr ein: Er fertigt der Verzauberten, die sich schließlich für Pasiphaë hält, einen Kuhleib, damit sie sich von einem Stier begatten lassen und so – gemäß dem Mythos – den Minotaurus empfangen und gebären kann. Im Gegenzug soll Cyprian ihren Diener erhalten (vgl. III/10). Um sich der Zuneigung des begehrten Jungen zu versichern, will Cyprian diesen ebenfalls mit einem der für Oberon angefertigten Idole verzaubern – mit tödlichem Ausgang, denn Titanias Diener verschmäht den alten Mann und tötet ihn (vgl. IV/3). Durch seine künstlerische Selbstermächtigung in Form der Vervielfältigung der Idole missbraucht Cyprian die ihm von Oberon durch dessen Beauftragung verliehene Gabe, die einer nachgerade prometheischen Zweckentfremdung gleichkommt und letztlich zum Scheitern der göttlichen Mission führt, wie Oberon erklärt: „Cyprian! Was hast du angestellt? / Wer hieß dich denn, das ganz geheime Mittel / an mündigen Menschen zu erproben und es / in alle Welt hinauszustreuen? / Für einen einzigen Auftrag lieh ich / dir die auserwählte Gabe und tat dir / ein Geheimnis kund; du hast es unerlaubt benutzt / und münzt Naturgeist um / in Massenware.“ (III/12, 134)

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Pikulik: „Botho Strauß: Der Park“, S. 97.

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Oberons Anklage gegen Cyprian verdeutlich, dass Der Park als eine ebensolche ‚inventive Idylle‘ erscheint wie die Gessner’schen Texte von der Erfindung der Gärten sowie der des Saitenspiels und des Gesangs: Die von Cyprian produzierte Massenware erscheint als die Erfindung des Kitsches, der die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so sorgsam eng gesetzten Grenzen der sog. ‚echten‘ bzw. ‚ernsten‘ Kunst und Literatur suspendiert. Dies verdeutlicht das Streitgespräch zwischen Wolf und Georg über das zuvor bei Cyprian gekaufte Hochzeitsgeschenk für Helen: Beide fragen sich nämlich, ob es sich bei der als Präsent angedachten „Mikro-Miniatur“ nun um „ein modernes Kunstwerk“ oder eben doch nur um „ein Kitschsouvenir“ handelt (II/3, 100). In Der Park wird letztlich also das ‚auf die Bühne gebracht‘, was Hartmut Böhme mit Verweis auf Theodor W. Adorno als das – nachgerade katastrophisch erscheinende – Doppel-Schicksal der Natur bezeichnet: „Kitsch und Idylle“.431

4.3.2Das heterotopische Paradigma der Idylle (Die Leiden des jungen Werther – GILMORE GIRLS – TITANIC) Mit seiner dominanten Ausrichtung auf eine – zumeist als verloren und mithin unwiederbringlich vorgestellte – Vergangenheit bzw. Vor-Gegenwart und deren Restitution, die – zeitweise – gelingen oder eben katastrophisch scheitern kann, ist das arkadische Paradigma dasjenige der klassischen Idylle im Sinn ihrer Bestimmung als literarischer Gattung, wie sie seit dem 18. Jahrhundert etabliert ist.432 Die ‚nostalgische Quintessenz‘ dieses Paradigmas fasst Viktor Burger, der ehemalige Steward und aktuelle Kapitän des Traumschiffs zusammen: „Es war ein kurzer, schöner Traum, der ein bisschen an die Vergangenheit angeknüpft hat.“433 Im Gespräch mit Chefhostess Beatrice auf der Brücke der MS Amadea resümiert der Kapitän hier das Wiedersehen mit seiner alten Liebe, die mit dem Traumschiff nach Uruguay gefahren ist, um sich dort mit ihrer erwachsenen Tochter auszusöhnen. Die unerwartete Begegnung zwischen ihr und dem Kapitän ist ein schicksalhafter Zufall, denn Carolin und Viktor können ein klärendes Gespräch über

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Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 495. Wie erwähnt, können einzelne Idyllen auch an verschiedenen Paradigmen partizipieren: So weist beispielsweise Vergils erste Ekloge, die im Einleitungsteil der Arbeit in Bezug auf das Politische der Idylle untersucht wurde, insofern eine gemäß der hier vorgeschlagenen Systematisierung elysisch zu nennende Perspektivierung auf, weil sich das Dargestellte auf den zeithistorischen Kontext beziehen lässt: Der in der Ekloge von Tityrus gepriesene ‚Retter‘ lässt sich als eine idyllische Anspielung auf Oktavian/Augustus deuten, dessen Herrschaftszeit – ganz im Sinn des arkadischen Paradigmas – als Restitution des Goldenen Zeitalters gewertet werden kann (vgl. Faber, Richard: Politische Idyllik. Zur sozialen Mythologie Arkadiens, Stuttgart: Klett 1976, S. 36). DAS TRAUMSCHIFF, Episode 79: „Uruguay“, Regie: Stefan Bartmann, Erstausstrahlung: 26.12.2017, ZDF, hier: 01:17:59.

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ihre plötzliche Trennung vor vielen Jahren führen, die durch unterschiedliche Lebensentwürfe bedingt gewesen ist: Während der damals noch als Steward tätige Viktor bereit gewesen ist, seine Karriere auf See für die bürgerliche Idylle einer Kleinfamilie aufzugeben, wollte Carolin die Welt sehen – eine gemeinsame Zukunft war dergestalt ausgeschlossen. Das Wiedersehen ermöglicht es den beiden beim mehrtägigen Landgang in Uruguay nun wenigstens zeitweise das zu erleben, was für Charlotte und Eduard in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften „das früh so sehnlich gewünschte, endlich spät erlangte Glück“ darstellt.434 Einer dauerhaften Restitution ihrer Liebesbeziehung stehen allerdings zwei Dinge im Wege: Carolin ist todkrank und in Uruguay möchte sie „die Zeit, die ihr noch bleibt, [...] gerne mit ihrer Tochter verbringen“, wie es der Kapitän gegenüber Beatrice erklärt.435 Da Viktor inzwischen nicht mehr Steward ist, macht ihm seine Position als Kapitän zudem eine dauerhafte Beziehung strukturell unmöglich, denn diese ist verknüpft mit einer spezifischen Funktion der Fürsorge und Verantwortung. Diese ist idyllisch bzw. mit Michel Foucault ‚pastoral‘ zu nennen, weil sie zu jenen Machttechniken gehört, die einerseits „auf die Individuen ausgerichtet sind und den Zweck haben, sie kontinuierlich und permanent zu leiten“,436 und andererseits die Funktion hat, „denen, über die man wacht, Gutes zu tun“.437 Als ‚guter Hirte‘ trägt der Kapitän nämlich Sorge für das Wohl seiner Crew und Passagiere und hat deshalb eine nachgerade gottgleiche Aufgabe, die ihm letztlich alles ‚Menschlich-Allzumenschliche‘ verbietet.438 Das weiß auch die ‚gute Hirtin‘ Janeway auf dem Raumschiff Voyager, die 434 435 436

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Goethe: Die Wahlverwandtschaften, HA: VI, S. 246. DAS TRAUMSCHIFF, E79, 01:18:32. Foucault, Michel: „‚Omnes et singulatim‘: zu einer Kritik der politischen Vernunft“ [Vortrag 1979, Erstveröffentlichung 1981], übersetzt von Jürgen Schröder, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, 4 Bd.e, Bd. IV: 1980–1988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 165–198, hier: S. 167. Foucault, Michel: „Sexualität und Macht“ [1978], übersetzt von Jürgen Schröder, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, 4 Bd.e, Bd. III: 1976–1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 695–718, hier: S. 707. Zur weiteren diskursgeschichtlichen Entwicklung der Pastoralmacht vgl. Foucault, Michel: „Die analytische Philosophie der Politik“ [1978], übersetzt von Hermann Kocyba, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, 4 Bd.e, Bd. III: 1976–1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 675–695. Aus diesem Grund erscheint es der christlichen Ideologie auch als Sakrileg, in Maria Magdalena die (Lebens-) Partnerin Jesu zu sehen. Charismatischen Figuren wie dem ‚Sohn Gottes‘ ist romantische Liebe nicht gestattet – und genau diesen inneren Konflikt trägt auch eine andere göttliche Gesandte aus: In Friedrich Schillers ‚romantischer Tragödie‘ werden Johanna ihre Gefühle für Lionel zum Verhängnis, weil sie durch das neu entdeckte Begehren ihre heilige Mission infrage stellt: „Weh mir, wenn ich das Racheschwert meines Gottes / In Händen führte, und im eitlen Herzen / Die Neigung trüge zu dem ird’schen Mann! Mir wäre besser, ich wär nie geboren!“ (Schiller, Friedrich: Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie [V. 2257–2260],

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sich eine romantische „fraternisation“, wie es ihr erster Offizier nach der Begegnung mit einem sich küssenden Paar von Besatzungsmitgliedern gegenüber seiner Vorgesetzten umschreibt,439 versagt: „As captain, that’s a luxury I don’t have.“440 Hätte Goethes Werther sich Captain Janeway als moralische Lotsin zum Vorbild für sein Fraternisieren mit Lotte nehmen können, dann wäre ihm vielleicht einiges an Leid erspart geblieben, obschon allein der konventionalisierte gesellschaftliche Anstand des 18. Jahrhunderts ihm seine amourösen Ambitionen gegenüber einer anderweitig versprochenen Frau hätte verbieten müssen. Werthers Seelenleben, das er in seinen Briefen an Wilhelm weitläufigst ausbreitet, erhält idyllische Anschaulichkeit in seiner Beziehung zur Natur. Sie befriedigt seine nostalgische Sehnsucht, wenn er beispielsweise durch den Anblick der Wasser holenden Mädchen an jenem Brunnen, der am Fuß eines kleinen Hügels gelegen und von hohen Bäumen beschattet ist, „die patriarchalische Idee“ zu erleben glaubt.441 Dass Werther sich in diesem Moment wie „alle die Altväter“ fühlt (10), lässt die Brunnen-Idylle als eine arkadische erscheinen, denn sie restituiert für ihn eine längst verlorene Vergangenheit – zumindest imaginär als „warme himmlische Phantasie“ (9), von der er Wilhelm in seinem Brief vom 12. Mai 1771 berichtet. Neben dem Brunnen avanciert ein anderer Ort für Werther zu einer weiteren arkadischen Idylle. Diese stellt sein persönliches ‚Schrebergärtchen in der Hölle‘ dar, denn Werthers dortige Einrichtung entspricht derjenigen, die das lyrische Ich aus Rühms „idyll“ durch Abschottung von der Außenwelt betreibt: „Du kennst“, schreibt Werther am 26. Mai 1771 brieflich an Wilhelm, „von alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend an einem vertraulichen Orte ein Hüttchen aufzuschlagen und da mit aller Einschränkung zu herbergen.“ (14) Dieses besondere „Plätzchen“, das Werther „angezogen hat“, erscheint sowohl durch die landschaftliche Topographie als auch durch seine – zeitlich bemessene – räumliche Entfernung zur urbanen Zivilisation als locus amoenus: „Ungefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim nennen. Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man auf einmal das ganze Tal.“ (14) Wie Alexander von Warsberg in der Idylle des Strandes auf Korfu, so widmet sich auch Werther in Wahlheim seiner Homer-Lektüre (vgl. 15; 19). Sie versetzt den Erbsen Schälenden in die Zeit des „patriarchalischen Lebens“ (29), sodass er sich jenen Freiern gleich glaubt, die um die vermeintlich verwitwete Frau eines angeblich Verschollenen buhlen – die Odyssee wird

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in: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. IX, Neue Ausgabe, 2. Teil: Die Jungfrau von Orleans, hrsg. von Winfried Woesler, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 2012, S. 100.) VOYAGER 02/04: 00:02:57. VOYAGER 02/04, 00:03:36. Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA: VI, S. 10. Nachfolgend werden Zitate ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt.

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damit zur mythischen Präfiguration von Werthers Beziehung zu Lotte und die Wahlheim-Idylle zu einer arkadischen. Allerdings aktualisiert Wahlheim nicht nur dieses Paradigma der Idylle – es kann als Prototyp für das zweite Paradigma genommen werden, denn der liebliche Ort ist angesichts seiner nostalgischen Gestimmtheit nicht bloß auf die Restitution einer verlorenen Vergangenheit gerichtet. Vielmehr ist das idyllische Tempus dieses Ortes das einer absoluten Gegenwart, in der Werther „so glückliche Tage [lebt], wie sie Gott seinen Heiligen aufspart“ (29). Heterotopisch erscheint auch die Lage, denn als realer Ort steht Wahlheim in Verbindung mit allen anderen Orten, die für Werther relevant sind: „Du kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig etabliert, von da habe ich nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl’ ich mich selbst und alles Glück, das dem Menschen gegeben ist.“ (28) Doch steht Wahlheim nicht nur in Verbindung zu anderen realen Orten, denn metaphorisch bildet es Werthers Paradies auf Erden, schließlich ist es durch die Nähe zu Lotte „so nahe am Himmel“ gelegen (28). Die heterotopische Verbundenheit zur Außenwelt, von der Wahlheim exkludiert ist, ergibt sich aber auch durch Werthers Begegnungen mit anderen Menschen. Diese dringen zeitweise in Werthers Refugium ein und werden dort zu symbolischen Präfigurationen für das vorgezeichnete Scheitern von Werthers Beziehung zu Lotte: So die einsame Mutter mit ihren Söhnen, die Werther zeichnet (vgl. 16f). Die wohl situierte Zukunft, die dieser kleinen Familie durch eine Erbschaft in Aussicht steht, erweist sich als falsche Hoffnung, denn der zur Regelung der verwandtschaftlichen Nachlassangelegenheit losgezogene Ehemann der Frau kehrt ohne Geld zurück und der plötzliche Tod des jüngsten Sohnes der Familie vergrößert deren Leid noch mehr (vgl. 76). Die Wahlheimer Idylle gerät für Werther somit zum „Ort des traurigen Andenkens“, den er nur noch verlassen will (76). Auch das traurige Schicksal jenes Bauernburschen, den die Liebe in den Wahnsinn getrieben hat (vgl. 77), erweist sich als bedeutungsvolles Omen für Werthers manische Vernarrtheit in Lotte, durch die er letztlich in den – zunächst missglückenden – Selbstmord getrieben wird (vgl. 123f). Wahlheim stellt Werthers ‚natürlichen Seelenspiegel‘ dar und erscheint damit als Ort der beiden Ausprägungen der Idylle im heterotopischen Paradigma, denn die friedvolle Harmonie der Natur, die Werther zum ersten Mal genießt, als er sich buchstäblich in sie versenkt (vgl. 9), kehrt sich für ihn um: Wenige Tage nach dem Streitgesprächs mit Lottes Verlobtem Albert über das Für und Wider des Selbstmords erscheint ihm die Natur wie verwandelt, denn er erkennt in ihr „nichts als ein ewig verschlingendes, ewig widerkäuendes Ungeheuer“ (53). Diese ungeheuerliche Seite der Natur zeigt sich auch in Wahlheim, als der Ort durch eine Katastrophe zerstört wird. Davon berichtet Werther in seinem Brief vom 12. Dezember 1772 mit aller drastischen Anschaulichkeit: Gestern abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen, ich hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen und von Wahlheim herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach eilfe rannte ich hinaus. Ein

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Paradigmen der Idylle fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und Wiesen und Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich herrlichen Widerschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! (98f, Hervorhebung i.O.)

Das Sehnen, das Werther beim Anblick der zerstörerischen Fluten ergreift, ist das des „Eingekerkerten“, als der er sich empfindet und der sein „Menschsein drum gegeben [hätte], mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen“ (99). Die Metapher verweist auf Werthers bevorstehenden Freitod – genauso wie die genannte Uhrzeit des Aufbruchs zu diesem ‚fürchterlichen Schauspiel‘ der Natur, denn Werthers letztliche schriftliche Nachricht datiert ebenfalls auf „[n]ach eilfe“ (122). Das von Werther hier gebrauchte Bild des Eingekerkerten korrespondiert mit jenem Passus zum Abschluss seines Briefes vom 22. Mai 1771, mit dem er nicht nur das reale und das imaginäre Idylle-Machen als einen nachgerade Jean Paul’schen Weg zum Glück empfiehlt, sondern – wie in Antizipation seines eigenen Schicksals – implizit auch auf das katastrophische Potenzial idyllischer poiesis hinweist: Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinausläuft, wer da sieht, wie artig jeder Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortkeucht, und alle gleich interessiert sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn – ja, der ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst und ist auch glücklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will. (14)

In Wahlheim verbinden sich für Werther beide Arten des Idylle-Machens, denn er richtet sich an diesem Ort so real wie imaginär ein.442 Aus diesem Grund erscheint dieser 442

Werthers Unterscheidung zwischen einem realen Idylle-Machen, wie es der brave Bürger betreibt, indem er seinen Garten zum Paradiese zurecht stutzt, und einem imaginären, bei dem man, wie Werther darstellt, sich – qua Einbildungskraft – eine Welt aus sich selbst heraus erschafft, entsprechen zwei Arten der Flucht, die der junge Leidende konsequent praktiziert: Die erste besteht in einer tatsächlichen Ortsveränderung und Werther unternimmt davon einige: Als die Komplikationen seiner Beziehung zu Lotte immer größer werden, nimmt er eine Stelle bei einem Gesandten an – doch auch dort hält es ihn nicht lange; nach einer Reise zu seinem Geburtsort und seinem Aufenthalt beim Fürsten kehrt er schließlich wieder zu Lotte zurück. Diesen realen Fluchten stehen imaginäre gegenüber, die maßgeblich durch Werthers idyllische Wahrnehmung bedingt sind und sich als Stilisierung und Idealisierung seiner selbst so wie Lottes konkretisieren. Dazu gehören beispielsweise seine durch die Homer-Lektüre evozierten patriarchalischen Fantasien genauso wie die Verklärung seiner Geliebten, in der er nicht nur die Verkörperung einer fürsorglichen Mutter erkennt, sondern sie in Gedanken mithin zu seiner Seelenverwandten und ehelichen Partnerin macht, weil für ihn „[sein] Herz und Lottens in einem zusammentreffen“ (75, Hervorhebung i.O).

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locus amoenus als einer jener „Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen“.443 Wahlheim ist für Werther dabei sowohl Abweichungs- als auch Krisenheterotopie. Unter der letztgenannten versteht Foucault „privilegierte, heilige oder verbotene Orte, die solchen Menschen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zur Gesellschaft oder dem Milieu, in denen sie leben, in einem Krisenzustand befinden“.444 Von Beginn an, als Werther erstmalig brieflich in Erscheinung tritt, lässt sich sein Zustand als der einer Krise begreifen: Amouröse Anwandlungen und nicht die Klärung offener Erbschaftssachen haben ihn dazu veranlasst, seine Mutter und Wilhelm zu verlassen: „Konnt ich dafür“, fragt Werther rhetorisch, als er Wilhelm von der „arm[en] Leonore“ berichtet, „dass, während die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, dass eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete!“ (7) Krisenheterotopien sind letztlich Zufluchtsorte – und so wie Williams Londoner Haus für Anna in NOTTING HILL zu einem idyllischen Refugium wird, so auch Wahlheim für Werther. Innerhalb des heterotopischen Paradigmas verräumlichen Krisenheterotopien den kitschigen Pol der Idylle, weil sie insofern nicht-katastrophisch erscheinen, als ihr Zweck in einer integrierenden Ausgrenzung besteht: Den dort Befindlichen soll eine Rückkehr an die übrigen, nicht heterotopischen Orte einer Gesellschaft ermöglicht werden. Krisenheterotopien sind also Aufenthaltsorte für eine begrenzte Zeit und aus diesem Grund erweist sich auch das Traumschiff für die UrlauberInnen als eine Krisenheterotopie. Wahlheim ist, wie gezeigt, zugleich aber auch der Ort einer Katastrophe und im Zusammenhang des heterotopischen Paradigmas der Idylle deshalb gleichsam eine Abweichungsheterotopie. Darunter versteht Foucault „Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht“.445 Dazu seien insbesondere Sanatorien, psychiatrische Anstalten, Gefängnisse oder Altersheime zu zählen, wobei letzte sich „an der Grenze zwischen Krisen- und Abweichungsheterotopien“ bewegen.446 Als Zweck solcher Abweichungsheterotopien lässt sich daher ein ausgrenzendes Integrieren bestimmen, das letztlich nicht auf eine Rückkehr an die übrigen Orte der Gesellschaft zielt. Inwieweit Werther vom durchschnittlichen Verhalten sowie von den etablierten Normen abweicht, zeigt sich allenthalben in seinen Briefen und insbesondere demjenigen, in dem er seine Diskussion mit Albert über den Freitod wiedergibt. Das idyllische Refugium von Wahlheim erscheint für Werther auch deshalb als Abweichungsheterotopie, weil es sein bevorzugter Aufenthaltsort ist, um Lotte nahe zu sein, obwohl er nicht bei ihr sein kann: „ich gehe nach Wahlheim, und wenn ich nun da 443 444 445 446

Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 935. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 936. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 937. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 937.

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bin, ist’s nur noch eine halbe Stunde zu ihr!“ (41) Ähnlich paradox erscheinen die po(i)etischen Implikationen dieses Orts: Hier kann Werther sich als Künstler fühlen, ohne künstlerisch tätig zu sein: „Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur [...] voller und inniger, und doch – Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, [...] dass ich keinen Umriss packen kann“ (40f). Werther – der sich selbst mit dem „unruhigst[en] Vagabund[en]“ (29) vergleicht und über sich sagt: „wenn ich nur wüsste wohin? ich ginge wohl.“ (44) – findet als Ortloser seinen passenden Ort in Wahlheim, weil es die heterotopische Eigenheit besitzt, „mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen“.447 Aus diesem Grund wird es auch zum Ort, der durch seine katastrophische Zerstörung die Umkehr von Werthers ehemals innigem Verhältnis zur Natur veranschaulicht: Mußte denn das sein, daß das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elendes würde? Das volle, warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur, das mich mit so vieler Wonne überströmte, das rings umher die Welt mir zu einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unerträglichen Peiniger, zu einem quälenden Geist, der mich auf allen Wegen verfolgt. (51)

Setzt man, wie hier vorgeschlagen, Wahlheim als die prototypische Realisierungsform des heterotopischen Paradigmas der Idylle mit ihrer entweder kitschigen oder aber katastrophischen Ausprägung, dann lässt sich das bislang Dargelegte in folgendem Schema zusammenfassend abstrahieren: Paradigma

heterotopisch

Merkmal

Wahlheim

Realisierungsform katastrophisch

(literarischer) Archetypus zeitlicher Bezug auf eine idyllische Gegenwart Beispiele

kitschig/nicht-katastrophisch

Abweichungsheterotopie

Krisenheterotopie präsentisch (absolute Gegenwart)

- Goethe: Die Leiden des jungen Werther - Titanic - …

- Goethe: Die Leiden des jun Werther - Gilmore Girls - …

Schema 7: Heterotopisches Paradigma (Quelle: eigene Darstellung)

Die Idyllen in Literatur, Film und Fernsehen sind voller Wahlheime – und das ganz buchstäblich wie etwa im Fall der fiktiven US-amerikanischen Kleinstand Stars Hollow 447

Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 938.

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im Bundesstaat Connecticut, die den zentralen Schauplatz in der Fernsehserie GILMORE GIRLS (USA 2001–2007) bildet.448 Erzählt wird darin die Geschichte von Lorelai Gilmore und ihrer Tochter Rory. Die insgesamt sieben Staffeln der Serie decken einen Zeitraum von knapp sieben Jahren ab, in denen Rory die High School abschließt, aufs College geht und nach dem Bachelor-Abschluss beginnt, als Journalistin zu arbeiten, die über den Wahlkampf von US-Senator Barack Obama berichtet.449 Nachdem die minderjährige Lorelai ihre Tochter zur Welt gebracht und mit ihren wohl situierten Eltern gebrochen hat, gelangt sie nach Star Hollow, wo sie als Zimmermädchen in einem Hotel zu arbeiten beginnt. Die Kleinstadtidylle ist seither die selbstgewählte Heimat der beiden Gilmore Girls, wo Lorelai als inzwischen Anfang Dreißigjährige das Hotel leitet, in dem sie nach ihrer Flucht von den Eltern eine erste provisorische Bleibe in einer kleinen Scheune gefunden hat.450 Für Lorelai ist Stars Hollow als Krisenheterotopie ein wahlheimischer Zufluchtsort, der für sie zu ihrem dauerhaften Lebensmittelpunkt wird. Während die Serie in Bezug auf ihre erwachsene Protagonistin davon erzählt, wie diese dort ihr Glück findet (das letztlich darin besteht, dass Lorelai in dem ortsansässigen Cafébesitzer endlich den verlässlichen Lebenspartner findet, nachdem sie sich als Besitzerin ihres eigenen Hotels eine von ihren wohlhabenden Eltern unabhängige finanzielle Existenz aufgebaut hat), geht das Glücksstreben der heranwachsenden Protagonistin in eine andere Richtung: Die Serie erzählt in Bezug auf Rory von den Herausforderungen, denen diese sich außerhalb der geschützten Kleinstadtidylle zu stellen hat. Dies beginnt damit, dass sie durch die finanzielle Unterstützung ihrer Großeltern auf eine Privatschule wechselt, wo sie auf den Besuch eines College der elitären Ivy League vorbereitet wird. Angesichts dieser narrativen Doppelfokussierung auf Mutter und Tochter stellt die Serie zwei komplementäre Lebensentwürfe der elitären weißen US-amerikanischen ‚Oberschicht‘ dar: Während Lorelai sich gegen dieses privilegierte Leben entschieden hat – jedoch Dank der weiterhin bestehenden, zumeist monetären Fürsorge ihrer Eltern nie wirklich einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist –, steht Rory diese Möglichkeit offen. Dabei bewegt sie sich beständig zwischen den beiden Welten, entlang deren Polarität die Serie strukturiert ist: der idyllischen Kleinstadt auf der einen Seite und der ‚großen weiten Welt‘ auf der anderen. Den Zugang zu dieser Welt erhält Rory, die als strebsame ‚Musterschülerin‘ zwar von Natur aus einige günstige Anlagen mitbringt, ins448

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Die Serie erfährt 2016 eine Fortsetzung durch die vier Episoden umfassende Mini-Serie GILMORE GIRLS: A YEAR IN THE LIFE, die vom Video-Portal Netflix unter der Leitung der beiden ursprünglichen Entwickler der Serie, Amy Sherman-Palladino und Daiel Palladino, produziert wurde. Die Handlung ist zehn Jahre nach der der letzten Staffel der ursprünglichen Serie angesiedelt und aufgrund der Zyklik der einzelnen Episode, die jeweils einer Jahreszeit zugeordnet sind, nachgerade idyllisch strukturiert. Vgl. GILMORE GIRLS, S07/E22: „Bon Voyage“, Regie: Lee Shallat Chemel, USA 2007. Vgl. GILMORE GIRLS, S01/E19: „Emily in Wonderland“, Regie: Perry Lang, USA 2001.

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besondere durch das Geld sowie die Kontakte ihrer Großeltern. Die Serie stellt somit letztlich eine Bestätigung der sozial als ungerecht beschreibbaren kapitalistisch-neoliberalen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten dar: Race und class werden unterschwellig als die Erfolg versprechenden ‚Eigenschaften‘ herausgestellt – das zeigt sich ex negativo an Lane, Rorys bester Freundin in Stars Hollow, die als Kind koreanischer Einwanderer nicht denselben gesellschaftlichen Status wie Rory besitzt und daher den Mikrokosmos der Kleinstadt auch nicht verlassen kann.451 Entsprechend den beiden idyllischen Lebensentwürfen, die figuriert durch Lorelai und Rory als zwei komplementäre im Sinn eines jeweils persönlichen pursiut of happiness präsentiert werden, ist die televisive Erzählweise der Serie streng linear – abgesehen von einigen wenigen Rückblenden, die fragmentarisch Lorelais Vergangenheit und damit den Weg in ihr ‚Wahlheim‘ darstellen.452 So gradlinig wie die Erzählung soll auch Rorys schulische und universitäre Karriere verlaufen – in diesem Punkt besteht Einigkeit zwischen Lorelai und ihren Eltern Emily und Richard. Jedoch zeigen sich in den Mitteln, um diesen Erfolg zu erreichen, fundamentale Differenzen. Diese entsprechen einem der zentralen Themen der Serie, das wiederum in Bezug steht auf deren Strukturierung entlang der Polarität von idyllischer Kleinstadt und weiter Welt: Bildung. Diese kann auf zwei Weisen erworben werden, was zwei Arten von Wissen entspricht. Ihre schulische und universitäre Ausbildung vermittelt Rory jene Bildung, für die Emily und Richard stehen: kanonisches Wissen, das inszenatorisch durch Bücher repräsentiert wird. Aus diesem Grund sieht man Rory ständig als verbissene Leserin in ein Buch vertieft und aus demselben Grund bekommt sie bei den wöchentlichen Treffen mit ihren Großeltern von diesen immer wieder Bücher geschenkt.453 Geradezu 451

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Als heimliche Rockmusikerin gelingen Lane zwar immer wieder ‚Ausbrüche‘ aus der behüteten Welt der Kleinstadt, in der ihre religiös-fanatische Mutter sie beispielsweise durch diverse Arrangements mit ideologisch ‚kompatiblen‘ potenziellen Ehepartnern festzuhalten versucht, jedoch gehört auch Lane zu den Figuren der Serie, die Stars Hollow nicht dauerhaft verlassen können. Während Rory das College besucht, findet Lane in ihrem Bandkollegen Zack den Partner fürs Leben – zumindest bleiben sie ein Paar und in Stars Hollow, weil Lane schwanger wird. Auch wenn sich Lane – gerade auch durch die Unterstützung von Lorelai und Rory – von den Zwängen ihrer Mutter emanzipieren kann und der Konflikt zwischen den beiden in der Serie humorig vermittelt wird, stellt Lanes Lebensentwurf die negative Folie für denjenigen von Rory dar. Vgl. GILMORE GIRLS, S03/E13: „Dear Emily and Richard“, Regie: Gail Mancuso, USA 2003. Bereits der Serienvorspann deutet dies an, wenn er die Beziehung der beiden Protagonistinnen der Serie zunächst zueinander und dann zu den übrigen Figuren der Serie darstellt. Dies geschieht durch die Montage einiger kurzer Einstellungen aus den Episoden der Serie. Zunächst wird das Verhältnis von Mutter und Tochter als ein so enges wie inniges präsentiert, indem mehrere Einstellungen zu sehen sind, in denen Lorelai und Rory miteinander interagieren. Daran schließt die Präsentation der wichtigsten Nebenfiguren der Serie an, die entweder in den für sie typischen Situationen gezeigt werden – wie im Fall von Sookie Saint James, Lorelais bester Freundin und Köchin in ihrem Hotel, in der Hotelküche – oder in der Interaktion mit Lorelai

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selbstreflexiv thematisiert wird das, als Emily ein Porträt von Rory in Auftrag gibt, auf dem sie als Lesende dargestellt werden soll.454 Für den anderen Bereich von Bildung steht Lorelai. Ihr spezifisches Wissen ist kein intellektuell kanonisches, sondern vielmehr ein populärkulturelles Alltagswissen, das sich insbesondere auf Film, Fernsehen und populäre Musik bezieht.455 Lorelai bringt dieses sie auszeichnende Wissen beständig durch intertextuelle Anspielungen oder Bezugnahmen in Gespräche ein. Für kritische LeserInnen liegt in dem dadurch erzeugten Wortwitz ein spezifischer Unterhaltungswert der Serie auf der Metaebene, der damit unabhängig ist von den mitunter dramatischen story-Ereignissen. Diese Form intertextueller Komik der Serie findet ihre Fortsetzung in den Titeln der einzelnen Episoden: So spielt der Titel „Nick & Nora/Sid & Nancy“ intertextuell sowohl auf die Protagonisten in Dashinell Hammets Roman The Thin Man von 1934 bzw. dessen erste Verfilmung aus dem gleichen Jahr an als auch auf Alex Cox’ Film SID AND NANCY von 1986. In beiden Fällen bezeichnen die Vornamen Liebespaare, sodass der Titel mit Bezug auf die Episode einerseits auf die Beziehung zwischen Lorelai und dem Cafébesitzer Luke und andererseits zwischen Rory und Lukes Neffen Jess verweist – wobei Nick and Nora für das erwachsene und Sid und Nancy für das jugendliche Paar stehen. Sid und Nancy, die im Titel der fünften Episode der zweiten Staffel von GILMORE GIRLS genannt werden, bilden das intertextuelle Omen für Rory und Jess, deren kurzzeitige Liebesbeziehung ähnlich destruktiv verläuft wie diejenige von Sid Vicious und

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oder Rory: So sieht man Richard, Rorys Großvater, wie er neben seiner Enkelin Zeitung lesend auf einem Sofa sitzt und ihr einen Teil seiner Zeitung reicht. Im Verlauf der einzelnen Staffeln ändert sich der Serienvorspann insofern, als alte durch neue Einstellungen aus der Serie ersetzt werden, um einerseits die zeitliche Progression der Narration anzuzeigen und andererseits neu hinzugekommene Figuren einzuführen. Um eine ästhetische Kohärenz der für den Vorspann aus dem Filmmaterial der einzelnen Episoden entnommenen Einstellungen zu gewährleisten, sind diese mit einem Warmfilter nachbearbeitet und farblich ‚gleichgemacht‘. Die Wahl dieses Filters korrespondiert dabei mit der Farbigkeit der ersten beiden Einstellungen des Vorspanns, die zunächst durch eine Totale eine von dichtem Wald umgebene Kleinstadt aus der Vogelperspektive zeigen und dann ein Close-up der rötlich und gelb gefärbten Blätter eines Baumes. Die Dominanz dieser als angenehm warm konnotierten Farben im Vorspann vermittelt eine nachgerade heimelige Stimmung, die der idyllisch-ländlichen von Stars Hollow als harmonisch-friedvoller Kleinstadt entspricht. Vgl. GILMORE GIRLS, S02/E08: „The Ins & Outs of Inns“, Regie: Michael Katleman, USA 2001. Damit zeigt GILMORE GIRLS dieselbe epistemische Opposition, die auch die Sitcom THE NANNY kennzeichnet, wo das intellektuell-konische Wissen des kultivierten Broadway-Produzenten Maxwell Sheffield für den Bereich der Hochkultur steht und die beständig von seinem Kindermädchen Fran Fine eingebrachte popkulturelle Expertise auf den Bereich der ‚seichten‘ Unterhaltung durch Film und Fernsehen verweist. Dass diese intertextuellen wie medienmetonymischen Bezugnahmen innerhalb von TV-Serien gebracht werden, lässt das Fernsehen als einen ebensolchen Interdiskurs erscheinen wie die Literatur.

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Nancy Spungen, von der Cox’ Spielfilm erzählt. Jess ist der schwer erziehbare Sohn von Lukes jüngerer Schwester, den er zeitweise bei sich aufnimmt, um ihm in der idyllischen Kleinstadt ein stabiles Leben und einen Schulabschluss zu ermöglichen.456 Für Jess erscheint Star Hollow also als regelrechte Abweichungsheterotopie und inszenatorisch wird dies in einer Sequenz aus der fünften Episode der zweiten Staffel durch seine subjektive Perspektive vermittelt: Zunächst ist Jess aus der Totalen zu sehen, wie er aus der Tür des Cafés seines Onkels tritt und in der Bewegung verharrt. Die nächste Einstellung suggeriert, dass das durch einen langen Schwenk in der Totalen vermittelte Panorama des geschäftigen Kleinstadttreibens seine Wahrnehmung dieser Idylle ist, die für Jess alles andere als einen harmonisch-friedvollen Ort darstellt. Dies lässt sich aus der Musik schließen, mit der diese Einstellung sowie die beiden folgenden, in denen die Kamera Jess wieder ins Bild bringt, unterlegt ist. Man hört den Refrain von Elvis Costellos „This Is Hell“: „This is hell, this is hell / I am sorry to tell you / It never gets better or worse / But you’ll get used to it after a spell / For heaven is hell in reverse.“457 Jener Zauber, von dem Costello singt, ist für Jess die Begegnung mit Rory, für die sich die entwickelnde Liebesbeziehung zu Jess wiederum als der besungene Himmel erweist, der lediglich die Hölle unter anderen Vorzeichen darstellt. Die Beziehung bzw. genauer: der tragische Verlauf der Beziehung zwischen Jess und Rory, der mit der Trennung der beiden endet, veranschaulicht die potenzielle Gefährdung der heterotopischen Idylle: Diese ist nämlich beständig von außen bedroht. Vermittelt wird diese katastrophische Seite der Idylle in GILMORE GIRLS durch die diversen boyfriends von Lorelai und Rory. Bereits Dean, Rorys erste Liebe, ist kein indigener Idylliker, sondern ein mit seiner Familie aus der Metropole Chicago in die idyllische Pampa Hinzugezogener.458 Seit ihrem ersten zufälligen Zusammentreffen in der Schule macht Dean Rory Avancen – doch das Glück der großen Liebe hält nur bis zur Begegnung mit der nächsten: Auf Dean folgt Jess und auf Jess schließlich Logan, den Rory am College in Yale kennenund lieben lernt.459 Als Spross reicher Eltern erscheint Logan aus der Sicht von Emily und Richard als ‚gute Partie‘ für ihre Enkelin. Da ihr Lebensentwurf sie jedoch beständig von der Idylle entfernt, schlägt Rory Logans Heiratsantrag aus und entscheidet sich für die Karriere statt für die Liebe.460 Ähnlich ‚erfolgreich‘ gestalten sich Lorelais Beziehungen mit Männern, die allesamt nicht aus Star Hollow stammen. Da sie dort ihren Lebensmittelpunkt hat und die Stadt auch nicht verlassen will, kann die begehrte dauerhafte Partnerschaft nur mit einem Bewohner der Idylle möglich sein. Ihr Glück findet Lorelai schließlich mit Luke, wodurch sich die Serie ihr Happy End als Kitscherzählung 456

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Vgl. GILMORE GIRLS, S02/E05: „Nick & Nora/Sid & Nancy“, Regie: Michael Katleman, USA 2001. GILMORE GIRLS 02/05, hier: 0:11:36–00:12:06. Vgl. GILMORE GIRLS, S01/E01: „Pilot“, Regie: Leslie Linker Glatter, USA 2000. Vgl. GILMORE GIRLS, S05/E03: „Written in the Stars“, Regie: Kenneth Ortega, USA 2004. Vgl. GILMORE GIRLS, S07/E21: „Unto the Beach“, Regie: Lee Shallat Chemel, USA 2007.

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erhält, denn von Beginn an werden Lorelai und Luke als das füreinander bestimmte Paar präsentiert. Genauso schicksalhaft wie die Begegnung von Luke und Lorelai ist auch diejenige von Jack Dawson und Rose Dewitt Bukater auf der Titanic im gleichnamigen Film von James Cameron aus dem Jahr 1997. Und genauso wie zwischen der aus einer der angesehensten Familien der Ostküste stammenden Lorelai und dem einfachen Ladenbesitzer Luke bestehen auch zwischen Rose und Jack die größtmöglichen Standesunterschiede, die eine dauerhafte Beziehung zwischen der europäischen Adeligen und dem US-amerikanischen Lebenskünstler verbieten. TITANIC ist einer der wohl bekanntesten „Schmachtfetzen“ des Hollywood-Kinos der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sogar Physikprofessoren als Vorwand dient, um sich in populärwissenschaftlichen Exzessen zu ergehen.461 Dabei lässt sich die Frage „Warum stirbt Jack eigentlich am Ende und nicht auch Rose?“ doch einzig durch die physikalischen Gesetze der Idylle und ihres ‚inneren Zusammenhangs‘ zwischen Kitsch und Katastrophe sinnvoll beantworten.462 In Camerons Film bildet die kitschige Geschichte der kurzen, aber dafür intensiven Liebesbeziehung von Rose und Jack die Binnenerzählung, die in die Suche nach einem wertvollen Schmuckstück, das aus dem Wrack der Titanic geborgen werden soll, eingebettet ist. Bereits diese narrative Anlage des Films verdeutlicht dessen medienreflexive Dimension, denn auf der Metaebene ist das Erzählen in unterschiedlichen medialen Konstellationen der Gegenstand von TITANIC. Dies veranschaulicht die etwa 20-minütige Anfangssequenz des Films, die die Rahmenerzählung mitsamt ihrer narrativen Situation etabliert. So beginnt der Film mit Unterwasseraufnahmen des gesunkenen Schiffs, die durch die Diegese motiviert werden, als man Brock Lovett, den Leiter der Bergungskampagne in einem U-Boot sieht, wie er sich mit einer kleinen Handkamera selbst filmt und dabei in pathetischem Tonfall vom Untergang der Titanic erzählt. Den ZuschauerInnen wird er dabei durch sein mobiles Aufzeichnungsgerät gezeigt (was durch Farbigkeit sowie Körnung des Bildes und das oben rechts sichtbare ‚Rec‘-Zeichen erkennbar ist): „Seeing her coming out of the darkness like a ghost ship still gets me every time. To see the sad ruin of the great ship sitting here where she lands at 2:30 in the morning of April 15, 1912 after her long fall from the world above.“463 Bei dieser selbstgemachten Aufnahme handelt es sich weniger um die für Forschungsunternehmungen konstitutiven ambulatorischen Aufzeichnungen, als vielmehr um die Vorbereitung einer medienwirksamen Dokumentation dieser Schatzsuche, die nach der Hebung eines Tresors aus der ersten Klasse der Titanic sogar per Live-Schaltung auf das Expeditionsschiff im Fernsehen übertragen wird. Dies stellt der Kommentar eines Crew-Mitglieds heraus, das nach Beendigung der Aufnahme zu Lovett gewandt 461 462 463

Tolan, Metin: Titanic. Mit Physik in den Untergang, München/Zürich: Piper 2001, S. 13. Tolan: Titanic, S. 203. TITANIC, Regie: James Cameron, USA 1997, hier: 00:03:04–00:03:24.

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sagt: „You are so full of shit, boss.“464 Dieser scheint derselben Meinung zu sein, wenn er nach Abschluss einer weiteren Aufnahme mit der Handkamera bemerkt: „All right, enough of that bullshit.“465 Auf der Metaebene gelesen lässt sich dieser despektierliche Kommentar auf die Modalitäten der filmischen Narration beziehen, denn auf der storyEbene kann Camerons Film, der 1997 inzwischen die elfte fiktionale Umsetzung der realhistorischen Ereignisse darstellt, nichts Neues bieten: Großes Passagierschiff rammt Eisberg und sinkt. Genau diese Geschehnisse der verhängnisvollen Aprilnacht im Nordatlantik werden später an Bord des Expeditionsschiffs noch einmal kurz durch eine digitale Animation visualisiert, die eines der Crew-Mitglieder anschaulich erläutert: Ok, here we go. She hits the berg on the starboard side, right? She kind of bumps along punching holes like morse code – dit, dit, dit – along the side below the water line. Then the forward compartments start to flood. Now, as the water level rises, it spills over the waterlight bulkheads, which, unfortunately, don’t go any higher than E deck. So now as the bow goes down the stern rises up, slow at first than faster and faster until finally, she’s got her whole ass sticking up in the air. And that’s a big ass. We’re talking 20, 30,000 tons. Okay? And the hull’s not designed to deal with that pressure. So, what happens? She splits, right down to the keel. And the stern falls back level. Then as the bow sinks it pulls the stern vertical and then finally detaches. Now the stern section just kind of bobs there like a cork for a couple of minutes, floods, and finally goes under about 2:20 AM. Two hours and 40 minutes after the collision.466

So viel zu den realhistorischen Fakten und der Physik des Untergangs. Das, was Physikprofessoren an diesem kitschigen Film, der von dieser Katastrophe erzählt, genauso fesselt wie nicht weitergehend naturwissenschaftlich Interessierte, ist nicht das Was der Ereignisse, sondern das Wie ihres Zustandekommens – und darin verflicht TITANIC eine herzerweichende Liebesgeschichte. In gewisser Weise erscheint Camerons Film daher als auf das Attraktionsbegehren des Hollywood-Kinos heruntergebrochene Adaption der Brecht’schen Theorie des epischen Theaters: Was allenthalben bekannt ist – schließlich ist der Untergang des angeblichen unsinkbaren Schiffs als exemplum für das Scheitern technischen Fortschritts und menschliche Hybris fest ins kollektive Gedächtnis des 20. Jahrhunderts eingegangen –, wird direkt zu Beginn des Films exponiert, um die Aufmerksamkeit auf die Geschichte zu lenken, die im Folgenden erzählt wird. Dabei resultiert deren ganze ‚Tragik‘ einerseits aus dem Untergang der Titanic und andererseits aus dem für die Idylle konstitutiven ‚inneren Zusammenhang‘ zwischen Kitsch und Katastrophe. Rose stößt zur Expedition, nachdem sie bei der televisiven Live-Übertragung der Bergung des Safes eine darin gefundene Zeichnung gesehen hat, die sie als junge Frau

464 465 466

TITANIC, 00:03:26. TITANIC, 00:04:18. TITANIC, 00:17:47–00:18:45.

Arkadisch – Heterotopisch – Elysisch

459

darstellt, die jenes wertvolle Collier trägt, das Brock Lovett und seine Crew suchen. Telefonisch meldet sie sich beim Expeditionsleiter und ihr Wissen um das Schmuckstück macht sie für diesen zu einer wichtigen Zeitzeugin. Von ihr verspricht Lovett sich Informationen über den Verbleib des sog. Heart of the Ocean. Deshalb wird die alte Dame zusammen mit ihrer jungen Enkelin auf das Expeditionsschiff gebracht, wo sie die Geschichte erzählt, wie es während der in einer Katastrophe endenden Atlantiküberquerung zur Anfertigung der Zeichnung gekommen ist. Diese Binnengeschichte ist als Erinnerung von Rose vermittelt, die durch Voice-over-Kommentare als Erzählinstanz fungiert. Wie in DAS TRAUMSCHIFF folgt Roses Erzählung dem Verlauf der Reise und beginnt daher mit dem Boarding. Dass die Titanic gleichsam eine Vorläuferin des TV-Kreuzfahrtschiffs darstellt, betont die Erzählerin Rose, wenn sie sagt: „Titanic was called a ship of dreams. And it was. It really was.“467 Mit diesem Einsatz beginnt die Binnenerzählung, die auch filmisch als Erinnerung präsentiert wird: Die nächste Einstellung zeigt nicht länger die innerdiegetische Erzählerin, sondern die bereits aus der Eröffnungssequenz des Films bekannten Unterwasseraufnahmen der Titanic. Durch ein morphing während des Kameraschwenks um den Bug nach Backbord verwandelt sich das Wrack in das ‚reale‘ Schiff. In der Boarding-Sequenz ist das geschäftige Treiben um die im Hafen ankernde Titanic zunächst aus verschiedenen Einstellungen in der Totalen zu sehen. Die in der fünften Einstellung gezeigten Menschenmassen am Kai werden durch die von einem uniformierten Mann gemachte Appellation als Passagiere der dritten Klasse ausgewiesen, die sich vor dem Betreten des Schiffs in der Schlange für eine Gesundheitsinspektion einreihen müssen. Durch Darstellung dieses Geschehens wird bereits die für die ‚Tragik‘ des Films konstitutive Differenz zwischen Dritter und Erster Klasse konstituiert: Während sich die eine durch die Merkmale ‚unten, überfüllt, eng‘ auszeichnet, kennzeichnen die Merkmale ‚oben, frei, geräumig‘ die buchstäbliche Upper-Class an Bord des Schiffs. Damit entspricht diese Aufteilung der Passagiere der Titanic der räumlichen Gliederung des schwimmenden Gefährts in der Vertikalen, worin sich letztlich die soziale Schichtung der Gesellschaft um 1900 spiegelt: So sind die oberen Decks des Schiffs der ersten Klasse vorbehalten, während sich die Passagiere der beiden unteren Klassen – die zweite Klasse wird im Film nicht weiter thematisiert – nur auf den unteren Decks und im Innern des Schiffs aufhalten dürfen. Entsprechende Privilegien genießen die ‚Erstklässler‘ bereits beim Boarding, denn Roses Tross von insgesamt drei Autos verschafft sich hupend Platz zwischen den Massen der einfachen Passagiere. Von denen sind Rose und die mit ihr Reisenden auch durch ihre farbig auffallende Kleidung unterschieden, die sich von den grau-braun gekleideten Passagieren der Dritten Klasse deutlich absetzt. 467

TITANIC, 00:20:57.

460

Paradigmen der Idylle

Die wenigen Einstellungen zum Auftakt der Binnenerzählung exponieren diesen ‚Klassenunterschied‘ insbesondere deshalb, weil im Film strukturell eine Verbindung zwischen Erster und Dritter Klasse etabliert wird und zwar durch den ‚inneren Zusammenhang‘ der Idylle: Für Rose avanciert ihre vornehme Logis in der von ihrem reichen Verlobten Cledon ‚Cal‘ Hockley gebuchten parlor suite zum idyllischen Ort der Katastrophe. Dies deutet sich bereits beim Betreten des Schiffs über die für die ‚gehobenen‘ Passagiere nach oben führende Gangway an. Die Erzählerin Rose kommentiert dazu mit Referenz auf ihre narrative Einleitung der Binnenerzählung: „It was a ship of dreams to everyone else. To me, it was a slave ship taking me back to America in chains. Outwardly, I was everything a well brought up girl should be. Inside I was screaming.“468 Die Kette, von der Rose spricht, zeigt die anschließende Close-up-Einstellung als Metapher für die geplante Ehe zwischen Rose und Cal, der beim Betreten des Schiffs Rose symbolisch an sich bindet (Abb. 49): Er legt seine linke Hand fest auf diejenige von Rose, mit der sie sich am Arm ihres Verlobten einhakt. Wie man später erfährt, ist diese eheliche Verbindung mit Cal arrangiert durch Roses Mutter, die den guten Namen der Familie gewinnbringend zu verkaufen versucht: Roses verstorbener Vater hat ihr und ihrer Mutter nichts als Schulden hinterlassen und nun soll die Ehe mit dem wohlhabenden Börsenspekulanten Cal die beiden vor dem sozialen Abstieg bewahren. Wie für ihre Mutter ist Rose auch für Cal in diesem Sinn weniger Person als Eigentum. Dies veranschaulicht eine Szene in der Kabine von Cal und Rose, die auf dem Schiff insofern eine in sich abgeschlossene ‚Welt im Kleinen‘ bildet, als sie nicht nur über mehrere Zimmer, sondern auch über einen Wintergarten verfügt, der zugleich als privates Promenadendeck dient. Dieses ist gleichsam als hortus conclusus eingerichtet mit großen Pflanzen, zwischen denen Liegestühle stehen, die durch die großen Fenster dieses überdachten Außenbereichs, der vom Rest des Schiffs abgetrennt ist, einen panoramischen Ausblick auf das Meer ermöglichen. Dieser idyllische Ort wird für Rose zum Schauplatz einer Katastrophe. Beim gemeinsamen Frühstück mit Cal meldet dieser handgreiflich seine Besitzansprüche gegenüber seiner Verlobten an (Abb. 50). Wutentbrannt über ihren Ausflug in die Dritte Klasse am vorangegangenen Abend gibt Cal seinem Missfallen über das deviante Verhalten seiner Verlobten durch das Umstoßen des Tisches Ausdruck. Bedrohlich nah wendet er sich daraufhin Rose zu, von der er den ihm seiner Meinung nach gebührenden Respekt und Gehorsam drohend einfordert: „You will honor me the way a wife is requiered to honor her husband! Because I will not be made a fool of.“469 Worauf Cal hier anspielt, ist der Abend, den Rose zusammen mit Jack in der Dritten Klasse verbracht hat, nachdem dieser zum Dinner in die Erste Klasse geladen war. 468 469

TITANIC, 00:23:28. TITANIC, 01:11:25.

Arkadisch – Heterotopisch – Elysisch

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Dieser kurze Ausflug in die höhere Gesellschaft hat Jack seiner Rettung von Rose zu verdanken: Hoffnungslos unglücklich über die Aussicht ihrer Zwangsheirat mit Cal geht es Rose wie Werther, denn wie dieser sieht auch sie angesichts „dieses Elendes kein Ende als das Grab“.470 Als sie sich von der Reling am Heck des Schiffs stürzen will, kann Jack sie retten. Rose erzählt Cal hingegen, dass sie beim Versuch, die Schiffschrauben anzusehen, ausgerutscht sei – aus dem Selbstmordversuch wird ein Unfall und aus Jack der Retter in der Not. Für dieses Verdienst lädt Cal ihn auf Drängen von Rose zum Abendessen in die Erste Klasse ein. Die Geste der Dankbarkeit erweist sich von Cals Seite als geplante Demütigung des einfachen Jungen ohne Geld und festen Wohnsitz, für den das Tischgespräch zur Schikane wird. Diese nimmt Jack mit Humor, wenn er beispielsweise auf die Frage von Roses Mutter nach den Kommoditäten der Dritten Klasse an Bord der Titanic antwortet: „The best I’ve seen, Ma’am. Hardly any rats.“471 Jacks abendlicher Aufenthalt in der Ersten Klasse erscheint so märchenhaft wie Aschenputtels Besuch beim Ball des Prinzen; dass er wie dieser auch zeitlich begrenzt ist, wird auf der Ebene der Mise en Scène selbstreflexiv durch die große Uhr im prunkvoll vertäfelten Haupttreppenhaus der oberen Decks thematisiert, an der Jack zwei Mal auf Rose wartet: Das erste Mal vor und das zweite Mal nach dem Abendessen (Abb. 51). Im Anschluss daran begleitet Rose Jack in die Dritte Klasse, wo er ihr eine „real party“ verspricht.472 Diese findet unter Deck in einem der größeren Lagerräume des Schiffs statt und wird als eine knapp fünf Minuten dauernde Sequenz präsentiert.473 Angesichts der Diversität ihrer TeilnehmerInnen erweist sich diese ‚echte Party‘ als ein Generationen und letztlich auch Nationen verbindendes Fest, wie es Jean-Jacques Rousseau in seinem Brief an d’Alembert als eine so brav-heitere wie ausgelassen-stimmungsvolle Kurzweil beschreibt. Was sich Rousseau für Genf erhofft, erfüllt sich im Laderaum der Titanic: „Aus vielen Gesellschaften wird eine einzige, alles wird allen gemeinsam [...] und der Anblick des Überflusses macht den der Freiheit, die ihn hervorbringt, noch rührender.“474 Es ist die Freiheit eines idyllischen Überflusses in der Beschränkung, den Jack Rose in der Dritten Klasse zeigt, denn das festive Treiben im Schiffsinnern steht im krassen Gegensatz zu den auf Etikette und Repräsentation von Geld und Status bedachten Zusammenkünften in der Ersten Klasse, die die Erzählerin Rose zuvor kommentiert 470 471 472 473 474

Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA: VI, S. 55. TITANIC, 01:01:21. TITANIC, 01:05:38. Vgl. TITANIC, 01:05:38–01:10:23. Rousseau, Jean-Jacques. „Brief an Herrn d’Alembert. Über seinen Artikel ‚Genf‘ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten“ [1758], in: ders.: Schriften, hrsg. von Henning Ritter, 2 Bd.e, Bd. I, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 333–474, hier: S. 464.

462

Paradigmen der Idylle

hat und damit die Beweggründe für ihren durch Jack vereitelten Selbstmordversuch darlegt: „An endless parade of parties und cotillions [...]. Always the same narrow people, the same mindless chatter. I felt like I was standing at a great precipice with no one to pull me back. No one who cared or even noticed.“475 Im Gegensatz zu dieser so oberflächlichen wie monotonen ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ möchte man das zwanglosfestive Treiben in der Dritten Klasse, bei dem Männer und Frauen zusammen trinken und die unterschiedlichsten folkloristischen Instrumente der verschiedenen musizierenden Passagiere in einer buchstäblich mitreißenden Improvisation einen finalen Ringelrein von Jung und Alt begleiten, mit jenem Chaos und Ordnung verbindenden „Versöhnungsfest“ zwischen Apollo und Dionysos identifizieren,476 das sich mit Friedrich Nietzsche als Ur-Szene der Idylle begreifen lässt (Abb. 52). Wie im Titel von Nietzsches Abhandlung vorgezeichnet, so wird auch auf der Titanic die Tragödie der Beziehung zwischen Rose und Jack aus dem Geiste der Musik geboren, die im Schiffsinnern beim Fest der Dritten Klasse erklingt – und bis zu Cals Ohr vordringt: Dieser erfährt von dem Treiben unter Deck und stellt, wie bereits erwähnt, Rose zur Rede. Doch weder sie noch Jack lassen sich von einander trennen. Die beiden nutzen jede Gelegenheit, um zusammen zu sein. Die nächste ergibt sich bei einem heimlichen Besuch von Jack in Roses Kabine, wo er jenen Akt zeichnet, den die Expeditionscrew Jahre später aus dem Safe bergen wird. Diesen intimen Moment beschreibt die Erzählerin Rose als „the most erotic moment of my life“,477 doch er erweist sich gemäß den erotischen Gesetzmäßigkeiten der Idylle als coitus procrastinatus: Was zunächst durch künstlerische poiesis sublimiert wird, erfüllt sich danach im tatsächlichen körperlichen Zusammensein der beiden: Auf der Flucht vor Cals Angestelltem, der sie beinahe in der Kabine erwischt hat, gelangen Rose und Jack in einen der Laderäume des Schiffs. Dort finden die beiden ihr persönliches ‚Schrebergärtchen in der Hölle‘ in Form eines unabgeschlossenen Automobils, in dem sie miteinander schlafen.478 Diese Vereinigung bringt Rose und Jack nicht nur physisch näher zu einander, denn zurück an Deck erklärt Rose, dass sie nach Ankunft des Schiffs in New York mit Jack von Bord gehen will, um ihr Leben an seiner Seite fortzusetzen.479 Mit diesem Bekenntnis zu ihrer Liebe rückt jene Idylle als Möglichkeit in Aussicht, die die beiden während eines Gesprächs als bloß imaginäre entwerfen. Nachdem Jack 475 476 477 478

479

TITANIC, 00:36:33. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, WKG: III/1, S. 25. TITANIC, 01:28:34. Dieser Schauplatz für das schäferstündliche Zusammensein von Rose und Jack verweist auf der Metaebene auf die medienmetonymische Struktur der Idylle: So wie diese letztlich immer schon weitere Medien der idyllischen poiesis integriert, so integriert auch das Schiff andere Gefährte, indem es zu deren Transportmittel wird. Und so wie die Titanic avanciert auch das sich in ihrem Frachtraum befindliche Automobil – zumindest zeitweise – für Rose und Jack zu einem idyllischen Ort. Vgl. TITANIC, 01:37:28.

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Rose während ihres gemeinsamen Spaziergangs an Deck von seinem Leben und seiner Zeit als Straßenkünstler in Santa Monica berichtet hat, sehnt sich Rose danach, mit ihm zusammen diesen Ort zu besuchen. Dabei zeigt Roses Reflexion, dass sie sich des imaginären Charakters ihres rein sprachlich vermittelten Idylle-Machens wohl bewusst ist. Jack dagegen erkennt diese konstitutive Beschränkung der Modalitäten ihrer idyllischen poiesis nicht an und will das, was Rose als eine begehrliche Fiktion zu akzeptieren bereit ist, in die Tat umsetzen. Dies macht er durch seinen Einspruch deutlich. Letztlich fingiert Jack damit das Fingieren, denn er fängt an, die entworfene imaginäre Idylle eines gemeinsamen Besuchs seiner Heimat konkreter auszuschmücken – ganz so, wie Lycas seinen bloß imaginären Garten in der Gessner-Idylle. Damit bestätigt Jack, dass das Idylle-Machen ein genuin männliches Prärogativ ist: Rose: Why can’t I be like you, Jack? Just head out for the horizon whenever I feel like it. Say we will go there sometime, to that pier, even if we only ever just talk about it? Jack: No, we’ll do it. We’ll drink cheap beer. Ride on the rollercoaster till we throw up. Then we ride horses on the beach, in the surf. But you have to do it like a cowboy. Non of that sidesaddle stuff. R: You mean with one leg on each side? J: Yeah. R: Can you show me? J: Sure, if you like.480

Dem kitschigen Liebesbekenntnis nach dem Sex, das die zuvor als bloß imaginäre Idylle entworfene Idee ihres Zusammenseins außerhalb des heterotopischen Schiffs nicht bloß aktualisiert, sondern nun auch für Rose als in den Bereich des Möglichen gerückt anzeigt, folgt die verhängnisvolle Katastrophe dieser Reise: Die Titanic rammt den Eisberg und alles, was danach passiert, ist dank der einführenden Zusammenfassung in der Eröffnungssequenz des Films auch all jenen ZuschauerInnen bekannt, die bis dahin nichts von der Titanic gehört haben. Die Attraktion der nachfolgenden Narration – und damit der zweiten Hälfte des Films, in dessen Dramaturgie kitschige und katastrophische Klimax genau in die Mitte der Erzählzeit fallen – besteht deshalb einerseits in der Inszenierung des Untergangs als filmtechnisches Spektakel sowie andererseits in der Klärung des Schicksals von Jack, denn von Rose ist bekannt, dass sie überleben wird – schließlich fungiert sie im Film als innerdiegetische Erzählerin. Jacks Fatum ist (das hier einleitend angeführte Zitat aus dem Buch des Dortmunder Physikprofessors hat es bereits verraten) ein fatales: Anders als Rose, mit der zusammen Jack sich vom Schiffsinnern nach draußen durchschlägt, während die Titanic im Begriff ist zu sinken, überlebt er den Untergang nicht. Damit erfüllt sich jene Prophezeiung, die Jack – unwissentlich – gegenüber Rose äußert, als er über die Unmöglichkeit einer Beziehung zu ihr, der er sich nach der Rettung vom 480

TITANIC, 00:53:50.

464

Paradigmen der Idylle

Selbstmord aufs Innigste verbunden fühlt, reflektiert. Die nachfolgende kurze Erwiderung von Rose sowie der anschließende Kommentar Jacks dazu erfassen letztlich seine strukturelle Funktion als Figur in dieser filmischen Kitscherzählung: Jack: I’m not an idiot. I know how the world works. I’ve got ten bucks in my pocket. I have nothing to offer you and I know that. I understand. But I’m too involved now. You jump, I jump, remember? I can’t turn without knowing you’d be alright. That’s all that I want. [But] [t]hey’ve got you trapped, Rose. And you’re gonna die if you don’t break free. Maybe not right away because you’re strong. But sooner or later that fire that I love about you, Rose, that fire is gonna burn out. Rose: It’s not up to you to save me, Jack. J: You’re right. Only you can do that.481

Aus diesem Grund erfriert Jack im eiskalten Wasser des Nordatlantiks. Durch seinen Opfertod überlebt Rose auf einem Stück Treibgut im Ozean. Nach ihrer Rettung gelingt zudem auch die Befreiung von den gesellschaftlichen Fesseln, die ihr bislang jenes Leben in selbstbestimmter Freiheit verwehrt haben, das sie erstmalig beim Fest der Dritten Klasse unter Deck zusammen mit Jack erleben durfte: Nach ihrer Rettung nimmt Rose Jacks Nachnamen an und bricht jeden Kontakt zu ihrer Mutter sowie zu Cal ab, die sie tot glauben. Doch dies ist nicht das Happy End, dem die Kitscherzählung ihre Protagonistin zuführt. Es besteht vielmehr in einer imaginären Idylle, die zugleich das Ende des Films darstellt: Wie zu dessen Beginn eröffnet die letzte Sequenz mit einem Tauchgang der Kamera zum Wrack der Titanic, das sich durch ein morphing in das ‚reale‘ Schiff verwandelt. Die Kamera ‚fliegt‘ nachgerade in dessen Inneres zu jenem Treppenhaus der Ersten Klasse, wo Jack auf Rose wartet und diese bei ihrer Umarmung mit einem leidenschaftlichen Kuss begrüßt, dem die anwesenden Passagiere applaudieren.482 Mit Fug und Recht und Walter Benjamin lässt sich diese Sequenz, die durch eine vorangehende Close-up-Einstellung vom Gesicht der schlafenden Erzählerin Rose eingeleitet wird, als buchstäblicher „Traumkitsch“ bezeichnen, denn dieser erscheint für die alte Frau, die den Untergang der Titanic mit dem Verlust der großen Liebe ihres Lebens bezahlt hat, als „Maske des Banalen, mit der wir“, wie Benjamin in seinem ursprünglich als „Glosse zum Sürrealismus“ betitelten Artikel in der ‚Neuen Rundschau‘ erklärt, „uns im Traum und im Gespräch bekleiden, um die Kraft der ausgestorbenen Dingwelt in uns zu nehmen.“483 Die ‚ausgestorbene Dingwelt‘ symbolisiert im Fall von Rose jenes wertvolle Collier, das die Expedition niemals bergen konnte, weil es sich all

481 482 483

TITANIC, 01:18:10. TITANIC, 03:05:49–03:07:22. Benjamin, Walter: „Traumkitsch“ [1927 unter dem Titel „Glosse zum Sürrealismus“ [in: Die Neue Rundschau], in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schwepphäuser, Bd. II/2: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 620– 622, hier: S. 622.

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die Jahre in Roses Besitz befunden hat und das sie nun bei ihrer Rückkehr zum Ort des (Un-)Glücks dem Meer übergibt.484 Dergestalt von der materiellen Erinnerung an Jack befreit kann diese nun zu einer idyllischen avancieren. Celine Dion, die den Titelsong zu Camerons Film intoniert, fasst das, was hier mit Bezug auf Benjamin darlegt wurde, gänzlich kitschig in dem titelgebenden Vers aus dem Refrain ihres Liedes zusammen. Mit Bezug auf die auch über den Tod hinaus ewig wahrende Liebe heißt es dort: „My heart will go on.“

4.3.3Das elysische Paradigma der Idylle (TRUE BLOOD – Normal – HERBSTROMANZE) Rauschhafte Feste werden nicht nur im Unterdeck der Dritten Klasse auf der Titanic gefeiert. Sie finden auch an anderen Orten statt, wie etwa der US-amerikanischen Kleinstadt Bon Temps in Louisiana. Sie ist der – fiktive – Schauplatz der Vampir-Serie TRUE BLOOD (USA 2008–2014), in deren zweiter Staffel die dörfliche Idylle durch eine Mänade bedroht wird. In menschlicher Gestalt und unter dem Namen Maryann Forrester will dieses Fabelwesen, das im antiken Mythos zu jenen „ekstat[ischen] Frauen“ gehört, „die zus[ammen] mit den männl[ichen] Satyrn das Gefolge des [...] Dionysos“ bilden und auch als „Bakchen oder Bakchantinnen“ bekannt sind,485 kein ‚Versöhnungsfest‘ des Gottes mit seinem Bruder Apollo begehen, sondern dessen Rückkunft auf die Erde als orgiastischen Exzess feiern. Zu diesem Zweck setzt Maryann genau das um, was Titania und Oberon in Botho Strauß’ Der Park so vergeblich versuchen, indem sie die körperliche Lust in den Kleinstadtbewohnern weckt. Die finale Orgie, die die letzte Episode der zweiten Staffel als großes Finale inszeniert, findet jedoch dank Sookie Stackhouse, der Protagonistin der Serie, ein jähes Ende. Mit der Hilfe von Bill, Sookies Vampir-Liebhaber, und Sam, dem Gestaltwandler und Barbetreiber in Bon Temps, kann Maryann überlistet werden: Sam verwandelt sich in einen weißen Stier, in dem die Mänade die Verkörperung ihres Gottes erkennt. In dem Moment als sie sich ihm hingeben will, um in dieser Vereinigung die symbolische Hochzeit als Höhepunkt der dionysischen Festivität zu vollziehen, rammt der Stier ihr eines seiner Hörner durch den Leib und verwandelt sich schließlich zurück in Sam, der der irritierten Sterbenden das Herz aus dem Körper reißt. Erschrocken über die Vereitlung ihres Plans gelangt Maryann kurz vor ihrem Tod zu einer nachgerade Nietzscheanisch anmutenden Erkenntnis: „Was there no god?“486 Statt Göttern wandeln in Bon Temps ganz andere Kreaturen, denn nach der Erfindung synthetischen Bluts durch einen japanischen 484 485 486

Vgl. TITANIC, 03:04:20ff. Stichwort ‚Mainades‘, in: Holzapfel: Lexikon der abendländischen Mythologie, S. 262. TRUE BLOOD, S02/E12: „Beyond Here Lies Nothin’“, Regie: Michael Cuesta, USA 2009, hier: 00:25:36.

466

Paradigmen der Idylle

Wissenschaftler haben sich die seit Jahrtausenden versteckt lebenden Vampire den Menschen offenbart und versuchen nun im Rahmen des von der medial so offensiven wie omnipräsenten Vampir-Lobby als ‚Mainstreaming‘ bezeichneten Vorhabens, ein normales Leben neben den Menschen zu führen. Aus diesem Grund kehrt der knapp 250 Jahre alte Vampir Bill Compton in seine Heimatstadt Bon Temps zurück, wo er sich buchstäblich unsterblich in Sookie Stackhouse verliebt – ihrerseits halb Mensch, halb Fee und Kellnerin in der von Sam Merlotte betriebenen Kleinstadt-Bar. Bon Temps verheißt bereits dem Namen nach eine Idylle und tatsächlich ist der Ort durchzogen von verschiedenen idyllischen Plätzen. Allen voran gehört dazu das Haus, in dem Sookie zusammen mit ihrer Großmutter Adele lebt und dort von Zeit zu Zeit von ihrem Bruder Jason besucht wird. Das alte Holzhaus mit der großen Veranda ist idyllisch gelegen und dient Sookie sowohl als Refugium, wo sie sich beispielsweise sonnenbadend von ihrer nächtlichen Arbeit in der Bar erholen kann (Abb. 53). Auch das Innere des Hauses erscheint als Idylle, wie es vor allem durch die Mise en Scène anschaulich wird: So ist die Küche der stets blumendekorierte und lichtdurchflutete Ort für die gemeinsamen Mahlzeiten der Familie, die sich um den gedeckten Küchentisch in der Raummitte versammelt (Abb. 54). Neben den gesellig-lukullischen Freuden hält die Küche für Sookie aber auch televisive bereit: Eine Einstellung aus der Totalen in der zweiten Episode der ersten Staffel zeigt sie gänzlich allein in dem großem Raum am Küchentisch sitzend, während sie auf den kleinen, vor einer Anrichte stehenden Fernseher blickt (Abb. 55). Die Exponierung der Küche als friedvoll-harmonischer Rückzugsort erfolgt in der ersten Staffel der Serie aus dramaturgischen Gründen, die dem ‚inneren Zusammenhang‘ der Idylle folgen: In der Küche ereignet sich die größte Katastrophe der ersten Staffel, denn Adele Stackhouse wird hier ermordet. Wie sich herausstellt, treibt ein Massenmörder sein Unwesen in Bon Temps, um all jene Menschen zu töten, die offen mit den Vampiren sympathisieren. Die Suche nach diesem Mörder bildet daher die Hauptlinie der Handlung in der ersten Staffel von TRUE BLOOD, weshalb die Serie sich als ein polyhybrider Genremix erweist: horror wird mit romance und crime nachgerade idyllisch kombiniert – schließlich zeichnet sich die Idylle bereits in der Antike insbesondere durch ihre Offenheit aus, wie Ernst Robert Curtius betont.487 Der materiale Topos wird in der Serie dabei vor allem genutzt, um in der ersten Staffel den verschiedenen Liebesgeschichten eine Dynamik zu verleihen, die aus dem Spannungsfeld von Kitsch und Katastrophe resultiert. Besonders anschaulich macht dies eine Einstellung, die zeigt, wie Vampir Bill seiner geliebten Sookie nach einem Überfall das Leben retten will, indem er ihr von seinem stärkenden Vampirblut zu trinken gibt (Abb. 56). Diese Rettung ereignet sich an einem klassischen locus amoenus, der mit einer kleinen Lichtung, Bäumen und einem Wasserlauf all die von Curtius für diesen Topos 487

Vgl. Curtius: Europäische Literatur, S. 195.

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kompilierten Elemente aufweist. Gemäß der Poetizität der Idylle stellt die televisive Inszenierung des lieblichen Ortes ihre eigene Artifizialität deutlich heraus. Während sich das Mondlicht im Wasser spiegelt und es dieses in der nächtlichen Szenerie so überhaupt erst als Wasser kenntlich macht, ist Sookies Gesicht in den nachfolgenden Close-upEinstellungen derart gut ausgeleuchtet, dass es sich deutlich von der dunklen Umgebung abhebt: Eine inszenatorische Notwendigkeit, die aber innerhalb der Diegese nicht durch entsprechende Lichtquellen an diesem nokturnen Plätzchen im Freien mimetisch legitimiert ist. Gänzlich zwischen den beiden Ausprägungen der Idylle vexiert jener imaginäre Ort, an den Sookies Bruder Jason beim Sex mit seiner Junkie-Freundin Amy gelangt. Wie es eine Sequenz in der neunten Episode der ersten Staffel veranschaulicht,488 ist die körperliche Vereinigung der beiden eine regelrecht dionysische, schließlich ist sie wie der göttliche Rausch „durch den Einfluss des narkotischen Getränks“ induziert.489 Nietzsche dürfte dabei wohl an den gegorenen Traubensaft gedacht haben, der dem Dionysos heilig ist – in TRUE BLOOD fungiert Vampirblut als Droge, die die Menschen berauscht und in eine Idylle versetzt.490 Die beiden haben ihr Liebeslager für das schäferstündliche Beisammensein in einem dunklen Kellerraum aufgeschlagen, der von der Idylle buchstäblich geflutet wird: Während die beiden Liebenden in einer Halbtotalen in der Bildmitte der Einstellung zu sehen sind, drängen von der im Hintergrund an eine Wand gelehnten Tür aus grünliche Gebilde in den Raum (Abb. 57). Diese an Blätter von Rankgewächsen erinnernden Tentakel umgeben die beiden gänzlich, bis der gesamte Hintergrund schließlich von einem grün-bräunlich gefärbten Wald mit moosbewachsenen Baumstämmen gebildet wird, der die beiden wie ein Laubengang umschließt (Abb. 58). Als kitschige Ausprägung erscheint diese Idylle insbesondere deshalb, weil sich an die Liebesbegegnung an diesem imaginären Ort die wechselseitige Liebesbekundung zwischen Amy und Jason an einem so idyllischen wie realen Ort anschließt: Während eines gemeinsamen Picknicks auf einer Waldlichtung gestehen sie einander wechselseitig ihre Zuneigung in einem Gespräch über ihren Drogensex: Jason: Amy? Amy: Yeah, baby? J: We still high?

488

Vgl. TRUE BLOOD, S01/E09: „Plaisir d’amour“, Regie: Anthony M. Hemingway, USA 2008, hier: 00:12:32–00:14:00. 489 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, WKG: III/1, S. 24. 490 Dieser Übertritt in die Idylle lässt sich im Fall von Amy und Jason als ein Einbruch des Imaginären ins Reale deuten (vgl. hierzu Jablonski, Nils: „Von Das Traumschiff bis True Blood. Idylle als Programm im Unterhaltungsfernsehen“, in: Gerstner, Jan/Riedel, Christian (Hgg.): Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart, Bielefeld: Aisthesis 2018, S. 163–181).

468

Paradigmen der Idylle A: No, baby. J: Because I don’t normally talk like this. Plus, I’m feeling kind of lightheaded, too. A: You’re talking like this because your mind is starting to open up. […] [W]hen I’m with you, what I feel, I’ve never felt that with anybody else ever before. […] I love you. […] I love you Jason Stackhouse, whether you like it or not. I’m not afraid to admit it. J: Know what? You’re right. Fuck it. I love you, too.491

Trotz all ihrer kitschigen Wirkung ist die imaginäre Drogensex-Idylle gleichsam auch ein Ort, an dem sich eine Katastrophe ereignet, die sich – komplementär zur Konstitution dieses locus amoenus – als Einbruch des Realen ins Imaginäre beschreiben lässt: Während eines ihrer nächsten koitalen Ausflüge wird Amy im Bett von dem in Bon Temps umgehenden Mörder erwürgt.492 Durch das Verfahren der Parallelmontage wird dieses Ereignis den ZuschauerInnen der Serie sowohl am imaginären wie am realen Ort vermittelt, indem die Einstellungen in kurzer Frequenz zwischen beiden Schauplätzen wechseln. Während Amy als misshandelter Leichnam in der echten Welt zurückbleibt, ist ihr Tod in der imaginären Idylle symbolisch vermittelt: Jason wirft sie aus einer Umarmung heraus in die Höhe und mit flügelgleich ausgebreiteten Armen entschwindet Amy in den blauen Himmel. Das Geschehen wird aus Jasons Perspektive vermittelt, worauf seine Hände hinweisen, die am unteren Bildrand der Einstellung von Amy in der Totalen aus einer low-angel-Perspektive zu sehen sind (Abb. 59). Die Fernsehserie präsentiert hiermit eine ähnliche Himmelfahrt, wie sie die Protagonistin in Schillers ‚Jungfrau‘ beschreibt und somit ihren eigenen Tod sprachlich veranschaulicht: „Hinauf – hinauf – Die Erde flieht zurück – / Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!“493 Als Darstellung einer der Gegenwart nicht allzu fernen und unähnlichen Welt, in der das Zusammenleben von Vampiren und Menschen als Möglichkeit verhandelt wird, kann TRUE BLOOD dem elysischen Paradigma der Idylle zugeordnet werden: Paradigma

elysisch

Merkmal

Elysium

Realisierungsform katastrophisch

(literarischer) Archetypus zeitlicher Bezug auf eine idyllische Gegenwart Beispiele

kitschig/nicht-katastrophisch

Dystopie

Utopie möglich (gefürchtet/gewünscht)

- True Blood - (Normal) - …

-

(True Blood) Normal Herbstromanze …

Schema 8: Elysisches Paradigma (Quelle: eigene Darstellung) 491 492

493

TRUE BLOOD 01/09, 00:17:15. Vgl. TRUE BLOOD, S01/E11: „To Love Is To Bury“, Regie: Nancy Oliver, USA 2008, hier: 00:36:12–00:39:57. Schiller: Die Jungfrau von Orleans [V/14, V. 3546f], NA: IX, Neue Auflage, 2. Teil, S. 164.

Arkadisch – Heterotopisch – Elysisch

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Die hier gewählten Bezeichnungen für die beiden Realisierungsformen von Idyllen des elysischen Paradigmas sind diejenigen der bekannten Gattungen, die in der hier vorgeschlagenen Systematisierung also als Unterkategorien der Idylle begriffen werden können und somit in ‚genealogischem‘ Zusammenhang mit ihr stehen. Zugleich erweist sich dieser Vorschlag als produktive Weiterführung der in Bezug auf die an Schillers Idyllentheorie von der Forschung herangetragene Verwechslung von Idylle und Utopie: Schiller entwickelt in „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ keinesfalls eine idyllische Theorie der Utopie. Wie gezeigt, weist die elysische Perspektivierung seiner Überlegungen zur sentimentalischen Idylle jedoch durchaus Ansätze auf, die man utopisch nennen kann – und zwar insofern seine Theorie auf einer Kritik am arkadischen Paradigma der Idylle gründet und die literarische Gattung deshalb auf die Zukunft ausrichtet. Daran ist das hier vorgeschlagene elysische Paradigma orientiert. In TRUE BLOOD wird die präsentierte idyllische Gegenwart als eine zukünftig mögliche verhandelt, die sowohl kitschige als auch katastrophische Folgen zeitigt. Eine derartige futurische Implikation von Texten aus dem elysischen Paradigma der Idylle bedeutet allerdings nicht, dass das Dargestellte zeitlich in einer – vom Standpunkt der LeserInnen aus gesehen – möglichen Zukunft angesiedelt ist. Die futuristische Implikation kann auch ein Begehren der Figuren sein: So in der tschechischen Fernsehserie DIE MÄRCHENBRAUT (ARABELLA, CZE 1979), in der Prinzessin Xenia nach einem Besuch in der Menschenwelt darum bemüht ist, die Märchenwelt zu modernisieren – und zwar insbesondere durch jenen zivilisatorisch-technischen Luxus, den sie bei einem Besuch in der Menschenwelt in Form von Autos sowie dem Fernsehen zu schätzen gelernt hat. Dieselbe elysisch zu nennende Motivation treibt Elsa Mars an: Die Protagonistin der vierten Staffel aus der AMERICAN-HORROR-STORY-Reihe (USA 2014) versucht ihre FREAK SHOW in der US-amerikanischen Kleinstadt Jupiter als eine Art Vergnügungspark zu einer Dauereinrichtung zu machen, um ihren Angestellten die Strapazen des nomadischen Umherziehens zu ersparen und die Wiederaufnahme der eigenen Fernsehkarriere in Angriff zu nehmen. Allerdings erweist sich die Idylle im Florida der 1950er Jahre als trügerisch, denn die BewohnerInnen von Jupiter hegen Vorbehalte gegen die Freaks, die sich noch verstärken, als ein Serienmörder den Frieden der Kleinstadt stört.494 494

Als eine elysisch zu nennende Idylle preist auch Frank Underwood seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl an, als er ein geheimes und nachgerade kultisch anmutendes Treffen der US-amerikanischen Wirtschaftseliten in einem abgeschiedenen Wald besucht. Diesen idyllisch wirkenden Schauplatz sowie die Motivation seines Besuchs (und damit die Handlung der vorangehenden Episoden der Serie) beschreibt Frank zu Beginn der achten Episode der fünften Staffel von HOUSE OF CARDS durch das in der Serie dominant eingesetzte Verfahren des Beiseitesprechens ad spectatores, dem laut Manfred Pfister immer „eine deutliche epische Vermittlungsfunktion zu[kommt]“ (Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse [1982], München: Fink 61988, S. 194): „Yeah... look around. Some of the most powerful men in the world are

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Paradigmen der Idylle

Elysisch erscheint auch das Vorhaben von Marcel Oliver, dem Protagonisten in Michael Stauffers Roman Normal. Vereinigung für normales Glück, dessen eintöniges Leben einen entscheidenden Einschnitt erfährt, als er sich eines morgens wie von einem „Stromstoss“ getroffen fühlt: „In der Küche bin ich zusammengeklappt, bin lange auf dem Boden liegen geblieben, habe gezittert und Stimmen gehört. Es ist alles leicht geworden und Teile von mir sind davongeflogen. Sonst kann ich mich an nichts erinnern. Ich bin nach diesem Stromstoss in einem Nebel versunken. Ich schätze, das Ganze hat etwa drei Minuten gedauert.“495 Nach diesen drei Minuten beschließt Marcel Oliver sein altes Leben aufzugeben: Statt wie in den zehn Jahren zuvor jeden Tag zur Arbeit zu gehen, zieht es ihn nun regelmäßig in einen nahegelegenen Park, wo er auf einer Bank sitzt und versucht, seine Umgebung zu beglücken: „Manchmal helfe ich Tieren, manchmal Menschen. Ich rede ihnen zu und schicke ihnen positive Gedanken. Dabei denke ich immer nichts Genaues.“ (12) Auf der Parkbank kommt Marcel auf die Idee, eine pseudo-religiöse Sekte zu gründen, die die Menschen glücklich und ihn wohlhabend machen soll. Der Roman avanciert so zur Parodie eines Erfolgsratgebers, indem nachfolgend die Umsetzung der Gründung jener titelgebenden Vereinigung für normales Glück beschrieben wird. Das, was Marcel Olivers Vereinigung den Menschen verheißt, ist eine ganz und gar „grundlegende Sache[]“ (26), die er als normales Glück bezeichnet. Dieses soll sich durch die gemeinsame körperliche Erleichterung im Regen einstellen: „Im Regen stehen, bis die Blase

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gathered in this clearing. Members of one of our country’s most exclusive clubs. [...] They gather here to seek God between the branches of these magnificent trees. They eat together, they piss next to each other, and they carve up the world like a Sunday roast. This is where the real power is. No women or presidents allowed. The former, I am not, the latter, I will be again, because I have managed to reduce a national election down to one state. And while these men here can’t swing the votes of an entire nation – one measly state? Well, that they can do. And that’s why I’m here. So welcome to Elysian Fields.“ (HOUSE OF CARDS, S05/E08: „Chapter 60“, Regie: Roxann Dawson, USA 2017, hier: 00:01:40.) Unabhängig von dem überaus passenden Zufall, dass der Schauplatz des geheim-konspirativen Treffens, an dem Frank teilnimmt, den Namen Elysium trägt, erscheint dieser in Bezug auf Franks Vorhaben besonders passend: Mit seiner Präsidentschaftskandidatur ist die Zukunft der USA verkoppelt und von dieser ‚abstrakten‘ Zeit gibt er mit seiner Rede vor den Versammelten eine – mit Schiller gesprochen – „sinnliche Bekräftigung“ (Schiller: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, NA: XX, S. 468, Hervorhebung N.J.). Dies gelingt Frank dadurch, dass er – durch das idyllische Verfahren der Beschränkung – diese Zukunft des Landes auf die nächsten vier Jahre seiner möglichen Amtszeit als Präsident reduziert: „[People] want a president they know. And I know them. The only future I’m interested in is the next four years. So, yes, I’m selling tomorrow and the day after that and the day after that. I’m selling a boy who used to live on a peach farm who now lives in the White House. I’m selling a tomorrow that you can see and touch and feel. Now, you take that away, and I don’t know what this country has left.“ (HOUSE OF CARDS, S05/E08, 00:25:02.) Stauffer, Michael: Normal. Vereinigung für normales Glück, [Weil am Rhein:] Edition Urs Engeler 2006, hier: S. 11. Im Folgenden werden Zitate ohne weitere Fußnote durch Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text belegt.

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sich entspannt. Das ist interessant. Jeder braucht Wasser. Wasser lassen ist zentral in jedem Leben! Das ist ein grundlegendes Erlebnis! Das ist religiös! Das ist Religion und Religion ist wichtig!“ (25f) Solch lebensphilosophische Einsichten leitet Marcel aus diversen „Körperwahrnehmungsexperimenten“ (16) ab, die er während seiner zahlreichen Spaziergänge in der Natur durchführt. Bei einem davon kommt es zu einer unerwarteten Begegnung mit einem Schwein: Gegen Ende des Spaziergangs komme ich schliesslich an einem Bauernhof vorbei. Eine Katze streicht ums Haus. Ich sehe ein grosses Schwein in einem Gehege. Ich steige über den Zaun, gehe auf das Schwein zu, schaue es an, setze mich drauf. Ich tätschle dem Schwein mit der flachen Hand das Hinterteil. Dieses Zeichen soll das Schwein dazu bringen, sich in Bewegung zu setzen. Ich streichle das Schwein weiter, verliere das Gleichgewicht, falle in den Dreck, bevor das Schwein sich überhaupt bewegt hat. Das Schwein, von dem ich runtergefallen bin, rennt davon, nähert sich wieder, bleibt stehen. Es bewegt seinen Kopf. Dampf steigt aus seinen Nasenlöchern. Ich sehe meine schmutzigen Finger an und stecke zwei Finger in die Nasenlöcher des Schweins, ziehe die Finger wieder zurück. Die Finger sind warm und sauber. (49f)

Dieses Erlebnis scheint für Marcel jedoch weniger spiritueller als praktischer Natur zu sein, denn er beschließt: „Für meine AG werde ich auf jeden Fall auch ein Schwein anschaffen. Alle Neumitglieder müssen zwei Finger in die Nasenlöcher des Schweins stecken. Ich sehe, wie das Schwein reagiert, und anhand dieser Reaktion, die nur ich deuten kann, nehme ich die Einstufung der Neumitglieder vor.“ (51f) Tatsächlich gelingt es Marcel, eine Schar Interessierte um sich zu versammeln und mit ihnen das Blasenentleerungsritual durchzuführen. Dieses findet in einer Waldlichtung statt und der idyllische Standort ist bewusst gewählt, wie Marcel als Erzähler seiner eigenen Erfolgsgeschichte mit einem ebenfalls idyllisch anmutenden Gleichnis erklärt, das verdächtig an jene Einsichten erinnert, zu denen Hermann Hesse in seinen ‚Stunden im Garten‘ gelangt: Durch das gemeinschaftliche Wasserlassen sollen die Sektenmitglieder das „alte Bewusstsein“ fallen lassen „wie Bäume ihre Blätter im Herbst“ (66). Zugleich sollen die ‚Selbstbewässerer‘ in inniges Verhältnis zu sich selbst und zur Natur versetzt werden: „[I]hr werdet merken, wie ihr euch mit dem Wald eins fühlt, wie ihr merkt, wo in der Natur ihr genau hingehört.“ (77) Das urinale Ritual bildet das Finale des Romans und gestaltet sich aus der Perspektive von Marcel wie folgt: „Ich gehe mit gutem Beispiel voran, lächle in den Kreis und bald zeichnet sich ein schöner dunkel gefärbter Bogen auf meiner Hose ab. Ich schliesse die Augen und warte. Ich blinzle ab und zu und schaue in die Runde. Rundherum beginnen alle Anhänger sich zu entspannen, einige lächeln dazu, andere stöhnen leise, einige haben die Augen weit geöffnet.“ (78) Dass Marcel in seiner Vereinigung für normales Glück eine erfolgreiche „neu[e] Beschäftigung“ gefunden hat (78), obwohl er zeitlebens „unter fehlendem Ehrgeiz“ (18f)

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Paradigmen der Idylle

leidet, zeigt die Zahl seiner Anhänger, die „heute 3500 Mitglieder“ umfasst (78). Doch zufrieden scheint Marcel dadurch nicht zu sein, denn: „[I]ch frage mich, was ich als nächstes tun könnte?“ (78) Drei Möglichkeiten stehen für ihn zur Wahl, von denen die letzte eine wahrhaft elysische darstellt: „Einmal Julia Roberts sein. Sie ist sehr schön, sehr sympathisch. Oder ich wäre gerne Apostel Paulus für einen Tag. Oder ich wäre gerne einfach ein weisser Tiger auf einer Insel, wo ich den ganzen Tag ungestört in der Sonne liegen könnte.“ (78) Keine Frage, welche Insel wohl geeignet ist, um ein derartig idyllisches Begehren zu erfüllen... Ein idyllisches Begehren elysischer Art treibt auch Benno von Calden um. Er ist einer der Protagonisten in Jürgen Enz’ HERBSTROMANZE von 1980 – ein mithin softpornographischer Film, der die wohl verstörendste Idylle in der bundesdeutschen Kinogeschichte darstellt. Das online zugängliche Filmlexikon von Zweitausendeins apostrophiert die in der UFA-Video-Reihe als VHS aufgelegte Isar-Filmproduktion als ‚banalen Heimatfilm‘, „der sich in verlogenen Gefühlen von Heimat- und Naturverbundenheit ergeht und der Realitätsflucht Vorschub leistet“.496 Die Handlung, die das Filmkollektiv Frankfurt anlässlich der Wiedervorführung des Films im Jahr 2011 auf seiner Homepage zusammenfasst, erscheint – eben aufgrund der Banalität dieses Heimatfilms – ganz und gar idyllisch, denn [e]in Kurzurlaub soll die 17jährige, taubstumme Veronika den Tod des geliebten Vaters vergessen lassen, so der Plan ihrer Mutter Christina. Der Ort der Erholung ist hingegen, aus Geldmangel, nicht glücklich gewählt: Gut Vorwald im Sauerland gehört dem reifen Edelmann Benno von Calden, dem sich Christina einst in Jugendtagen versprach, bevor sie ihren [sic!] späteren Mann begegnete und auf Benno verzichtete. Unter dem güldenen Dach herbstlicher Eichenkronen kehren die Gefühle der Vergangenheit zurück, nicht ohne dramatische Konsequenzen.497

Der letzte Satz dieser Beschreibung lässt es so erscheinen, als gehöre HERBSTROMANZE zum arkadischen Paradigma der Idylle. Jedoch sind die gerade in Benno wiedererwachenden Gefühle deutlicher Ausdruck eines elysischen Begehrens, das sich weniger auf seine alte Jugendliebe richtet als vielmehr auf deren Tochter, die ihn an die junge Christina erinnert. Darauf weist er Christina unmittelbar nach ihrer Ankunft auf dem Gut und der ersten Begegnung mit Veronika hin: „Veronika ist dein Ebenbild. Darauf war ich nicht gefasst. Für einen Augenblick stand die Vergangenheit vor mir: Christina wie sie leibt und lebt, vor über 20 Jahren.“498 Christinas Erwiderung macht deutlich, dass sie von der Attraktion, die ihre Tochter auf Benno ausübt, keinesfalls angetan ist: „War es wirklich nur ein Augenblick? Ich hatte etwas Angst vor dieser Begegnung, aber was hätte ich dir sagen sollen? Sie ist meine Tochter, aber sie ist anders als ich.“499 496 497 498 499

https://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/?sucheNach=titel&wert=8357 (14.01.2018). http://www.filmkollektiv-frankfurt.de/archiv/hksondergipfel/herbstromanze (14.012018). HERBSTROMANZE, Regie: Jürgen Enz, BRD 1980, hier: 00:07:44. HERBSTROMANZE, 00:08:00.

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Auch durch die filmische Inszenierung wird sowohl Bennos Begehren als auch Christinas Sorge unterschwellig zum Ausdruck gebracht: So etwa, als Christina bei der Vorstellung von Veronika deren Hand aus der von Benno zurückzieht, nachdem dieser die junge Frau länger begrüßt hat, als es die gesittete Höflichkeit erlaubt. Dass die Beziehung zwischen Benno und Christina aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit eine problematische ist, deutet sich bereits im ersten Dialog zwischen den beiden an, als Christina noch nicht einmal die Kutsche verlassen hat und Benno auf die alte Freundin zueilt. Entgegen der für den klassisch narrativen Film konventionalisierten Verfahren wird das Gespräch zwischen Benno und Christina nicht durch eine Schuss-Gegenschuss-Montage präsentiert: Die erste Einstellung zeigt die beiden in Nahaufnahme (Abb. 60). Christina ist links im Bild aus einer halben Rückansicht und Benno rechts im Bild zu sehen, Gesicht und Oberkörper Christina zugewandt. Ihre Replik auf das herzliche Willkommen des Gutsbesitzers zeigt die nächste Einstellung, in der sie nun aus einer over-theshoulder-Sicht aus Bennos Perspektive en face zu sehen ist. Mit dem ‚Kamerablick‘ über Bennos rechte Schulter wird die durch die vorangehende Einstellung für diesen Dialog etablierte 180-Grad-Achse überschritten, denn gemäß den filmischen Konventionen des klassischen Hollywood-Kinos müsste die linke Schulter des Landadeligen im Bild zu sehen sein. Bereits diese kurze Sequenz stellt die Abweichungsästhetik heraus, die den Film auszeichnet und die er zudem selbstreflexiv thematisiert. So kündigt Benno den gemeinschaftlichen Ausflug zum Erntedankfest im Nachbardorf mit dem Satz an: „Die Attraktionen sind bescheiden, aber wirkungsvoll.“500 Das trifft auch auf die filmischen Verfahren zu, die gerade durch die Montage von Einstellungen unterschiedlicher Größe irritierende räumliche Situationen konstituieren, um so vor allem mit den Relationen von Nähe und Distanz zu spielen. Diese lassen sich wiederum auf die Figurenkonstellation beziehen. So beispielsweise bei besagtem Fest, wo man zunächst Christina und Benno in einer Einstellung aus der Halbnahen gemeinsam an einem Tisch sitzen sieht. In der nächsten Einstellung ist Veronika zusammen mit einer Freundin in derselben Einstellungsgröße zu sehen. Die Montage gibt keinerlei Hinweise auf eine räumliche Nähe, vielmehr suggerieren die beiden Einstellungen eine räumliche Distanz, die mit der durch den establishing shot der Erntedankfest-Sequenz etablierten räumlichen Weite der Festhalle als Schauplatz korrespondiert. Die nächste Einstellung überführt die zunächst erzeugte Distanz in eine nachgerade klaustrophobische Nähe, denn in einer Halbnahen ist ein langer Tisch in Übereckperspektive zu sehen, an dem alle zuvor in den einzelnen Einstellungen gezeigten Figuren zusammensitzen (Abb. 61). Die filmischen Verfahren zur Erzeugung von Nähe und Distanz kennzeichnen auch die Sequenz, die die gemeinsam von Christina und Benno unternommene Landpartie 500

HERBSTROMANZE, 00:48:39.

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zeigt und dadurch zugleich das problematische Verhältnis zwischen den beiden veranschaulicht.501 Ziel des Ausflugs ist, wie es Benno gegenüber Christina ankündigt, ein Ort, „den wir beide gut kennen“.502 Dabei handelt es um eine hölzerne Bank unter einem großen Baum nahe dem Waldrand auf einem Hügel, von wo man den Ausblick auf die umgebende Landschaft als Panorama genießen kann. Die Einstellung aus der Totalen, in der zu sehen ist, wie Christina und Benno zusammen auf der Bank Platz nehmen, etabliert die tatsächlich räumlich bestehende Nähe zwischen den beiden (Abb. 62). Das nachfolgende Gespräch zwischen ihnen, das wieder nicht durch eine SchussGegenschuss-Montage dargestellt wird, sondern durch Close-up-Einstellungen der beiden, erzeugt den Eindruck von unendlicher Distanz, weil die beiden Gesichter jeweils vor einem anderen Hintergrund zu sehen sind: Im Fall von Christina ist das ein dunkelgrüner Waldsaum und im Fall von Benno der blaugraue Himmel. Diese landschaftliche Differenz, durch die der Eindruck entsteht, als befänden sich die beiden an gänzlich verschiedenen Orten, resultiert aus einer unterschiedlichen Kameraperspektive: Während Christina gewissermaßen ‚auf Augenhöhe‘ sitzt (Abb. 63), wird Benno aus einem starken low angle und damit aus der Froschperspektive aufgenommen (Abb. 64). Einzig seine Blickrichtung erinnert weiterhin daran, dass Christina bei diesem Gespräch direkt neben ihm sitzt. Einander nah und doch so fern – das ist die ganze Tragik in der Beziehung zwischen Christina und Benno. Und dasselbe gilt für dessen Begehren nach Veronika, in der er seine alte Jugendliebe wiedererkennt. Dies zeigt der verschämte, aber eindeutige Blickwechsel zwischen den beiden beim Erntedankfest an, der durch die Montage von Closeup-Aufnahmen ihrer Gesichter filmisch vermittelt ist. Was den ZuschauerInnen in dieser Sequenz vor Augen gestellt wird, ist das, womit Christina Benno beim Gespräch während ihres Ausflugs konfrontiert: „Und jetzt hat dich die Vergangenheit eingeholt“, stellt sie fest, um auf Bennos Nachfrage zu erläutern: „Veronika. Ich bin nicht blind. Ich sehe, was mit dir los ist, wie du dich veränderst, wenn sie in deiner Nähe ist. Du siehst in ihr das Mädchen von damals. Das Mädchen, das du geliebt hast.“503 Auf diesen Vorwurf erwidert Benno, dass dieses Mädchen Christina heiße und immer noch so schön wie damals sei. Daraufhin versucht er, seine ehemalige Geliebte zu küssen. Obwohl dieser intime Moment zwischen den beiden durch eine Einstellung aus der Halbnahen in low-angle-Perspektive gezeigt wird, sodass sie im Bild endlich miteinander vereint sind, lehnt Christina dieses Zusammensein insofern ab, als sie Bennos Avancen im Zurückweichen durch ein Kopfschütteln zurückweist (Abb. 65). Eine hoch symbolische Geste, die – mit Viélm Flusser gesprochen – eindeutig Christinas Gestimmtsein

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HERBSTROMANZE, 00:33:52–00:37:38. HERBSTROMANZE, 00:29:56. HERBSTROMANZE, 00:36:15.

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darstellt.504 Man könnte diese hoffnungslose Situation zwischen Christina und Benno, denen keine Restitution ihrer alten Liebe gelingen mag, als eine Anti-Idylle beschreiben, die sich mit Nietzsche über einen der spezifischen „Grade“ von Lust definieren ließe: „Unter Lust haben wir die Befriedigung des einen Willen, unter Unlust seine Nichtbefriedigung zu verstehen.“505 Anders als im Fall von Goethes Werther resultiert die Unlust in HERBSTROMANZE also weniger aus einer üblen Laune, sondern ganz so wie bei Andrea S. in der Erzählung von Marlene Streeruwitz aus der Einsicht in die Unmöglichkeit einer Situationsveränderung. Benno formuliert das so: „Du hast Recht, wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen.“506 Damit verabschiedet er das arkadische Paradigma der Idylle, nur um sich später ganz und gar im elysischen einzurichten. Am letzten Abend vor der Abreise von Christina bietet Benno der verarmten Witwe nicht nur seine finanzielle Unterstützung an, sondern lädt sie auch dazu ein, die nächsten Ferien wieder mit Veronika bei ihm zu verbringen. Diese idyllisch-elysische Aussicht will Benno durch das Öffnen einer Falsche Wein feiern, die er für einen besonderen Anlass aufgehoben hat: „Wir wollen ihn genießen“, ermuntert er Christina, „und auf das Wiedersehen im nächsten Jahr trinken.“507 Sein elysisches Begehren teilt Benno mit Goethes Werther, für den die Sehnsucht allerdings kein Jahr, sondern nur einen Tag zu überdauern hat: „‚Ich werde sie sehen!‘ ruf’ ich morgens aus, wenn ich mich ermuntere und mit aller Heiterkeit der schönen Sonne entgegenblicke; ‚ich werde sie sehen!‘ Und da habe ich für den ganzen Tag keinen Wunsch weiter. Alles, alles verschlingt sich in dieser Aussicht.“508

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Laut Flusser drücken Gesten – im Gegensatz zu Reflexen – das aus, „was sie symbolisch darstellen“, weshalb er unter ‚Gestimmtheit‘ „die symbolische Darstellung von Stimmungen durch Gesten“ versteht (Flusser, Vilém: Gesten, Versuch einer Phänomenologie [1991], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 12). Nietzsche: „Die dionysische Weltanschauung“, WKG: III/2, S. 64, Hervorhebung i.O. HERBSTROMANZE, 00:37:15. HERBSTROMANZE. 01:05:13. Goethe: Die Leiden des jungen Werther, HA: VI, S. 40.

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In der vorliegenden Arbeit wurde der materiale Topos der Idylle hinsichtlich seiner drei konstitutiven Dimensionen der Poetizität, Medialität und Serialität (Kapitel 2) sowie seiner theoretischen Fassungen um 1800 mitsamt ihren bis in die Gegenwart reichenden Nachwirkungen (Kapitel 3) und schließlich in Bezug auf eine systematische Erfassung möglicher Konkretionen der Idylle in literarischen, filmischen und televisiven Texten (Kapitel 4) untersucht. Die Dimensionen der Idylle erfassen die Spezifik ihrer poiesis insbesondere in Bezug auf die genuine Artifizialität des materialen Topos: So zeichnet sich die Poetizität der Idylle (Kapitel 2.1) durch die Konvergenz idyllischer Kunsthaftigkeit und Künstlichkeit aus: Als „artifiziell[es] Arrangement“ kaschiert die Idylle ihre eigene ‚Gemachtheit‘ stets durch einen besonderen Aufwand an po(i)etischem Tun.1 Dieses Idylle-Machen erscheint als Fingieren des Fingierens (Kapitel 2.1.1) und es zeitigt mithin eine spezifische Wollust, die ihrerseits als ‚coitus procrastinatus‘ den idyllischen Text strukturiert (Kapitel 2.1.2). Da sich das Idylle-Machen als ein genuin männliches Prärogativ erweist, ist es darüber hinaus an der po(i)etischen Konstruktion von Gender beteiligt (Kapitel 2.1.3). Die Dimension der Medialität betrifft die Artifizialität der Idylle insofern, als die idyllische poiesis als eine auf sich selbst zurückverweisende Tätigkeit erscheint: Das IdylleMachen ist überhaupt erst und überhaupt nur durch diejenigen Medien möglich, deren Erfindung die idyllischen Texte zu ihrem Gegenstand machen (Kapitel 2.2.1). Dabei erweist sich die idyllische poiesis als hochgradig medienmetonymisch: Die Idylle behandelt nicht nur musikalische, sondern auch optische Medien und macht diese durch ihre mittels Schrift geleistete Integration ins „Universalmedium Einbildungskraft“ dem

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Klussmann, Paul Gerhard: „Ursprung und dichteres Modell der Idylle“, in: Wedewer, Rolf/Jensen, Jens Christian (Hgg.): Die Idylle. Eine Bildform im Wandel. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit. 1750–1930, Köln: DuMont 1986, S. 33–65, hier: S. 40.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Jablonski, Idylle, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04937-7_5

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Idylle-Machen zugänglich (Kapitel 2.2.2).2 Die literarhistorische Entwicklung der Idylle vom 18. über das 19. bis zum 20. Jahrhundert veranschaulicht deshalb insofern eine spezifisch medientechnische „Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift“,3 als die letztgenannte um 1900 ihre vormalige Monopolstellung verliert, sodass neben der so zur Literatur gewordenen Dichtung nun auch neue, nicht (primär) schriftliche Medien wie etwa das Kino ‚idyllische Verheißungen‘ machen können (Kapitel 2.2.3). Die Serialität, die als letzte der drei Dimensionen im zweiten Kapitel der Arbeit untersucht wurde, kann neben der Poetizität und der Medialität ebenfalls als ein genuines Merkmal idyllischer poiesis angesehen werden, das schon die antiken Texte von Theokrit und Vergil kennzeichnet. Im 21. Jahrhundert macht es die Idylle vor allem ‚fernsehtauglich‘, weil sie dort zum Programm avanciert. Das dergestalt idyllischste aller Medien narrativiert die Idylle zudem durch Standardisierungen, die auf der formalen Ebene im Format und auf der inhaltlichen im Schematismus der televisiven Idyllen evident werden. Außerdem konkretisiert sich der materiale Topos im Fernsehen vor allem durch Serien. Hierzu zählt insbesondere die erfolgreichste im bundesdeutschen Fernsehen: Anhand der ZDF-Produktion DAS TRAUMSCHIFF wurde gezeigt, inwiefern die spezifische ‚Außeralltäglichkeit‘ dieser Idylle sie zu einer televisiven Kitscherzählung macht (Kapitel 2.3.1). Aufgrund ihrer narrativen Struktur kennzeichnet die TV-Idylle zudem eine schematische ‚Wiederkehr des Immergleichen‘ (Kapitel 2.3.2), weshalb diese Fernsehserie als eine episodische Unterhaltungsidylle analysiert werden konnte (Kapitel 2.3.3). Die Untersuchung der theoretischen Fassungen der Idylle im dritten Kapitel der Arbeit erfolgte einerseits in Bezug auf die Schriften Jean-Jacques Rousseaus, Friedrich Schillers und Jean Pauls sowie andererseits hinsichtlich dreier idyllischer Verfahren, die jeweils den spezifischen Umgang von Rousseau, Schiller und Jean Paul mit dem materialen Topos kennzeichnen: Während der Genfer Philosoph insbesondere seinen zweiten Discours idyllisch überlagert (Kapitel 3.1.1), was erstens durch seine Rezeption der Gessner’schen Idyllen bedingt ist (Kapitel 3.1.2) und zweitens Auswirkungen auf die dadurch ihrerseits idyllisch überlagerte Rezeption seiner eigenen philosophischen und autobiographischen Schriften hat (Kapitel 3.1.3), bildet gerade das von Rousseau entwickelte Konzept eines sog. ‚Naturzustands‘ die Grundlage für Schillers und Jean Pauls idyllentheoretische Überlegungen. Die Schiller’sche Theorie ist durch das idyllische Verfahren der Idealisierung gekennzeichnet, denn aus einem gattungs- und dichtungstypologisch ausgerichteten Ansatz, der im Kontext des Querelle-Diskurses zu betrachten ist (Kapitel 3.2.1), entwickelt Schiller eine nachgerade sentimentalisch erscheinende Theorie der sentimentalischen Idylle (Kapitel 3.1.2). Deren vermeintliche Aporien avancieren zum ‚Verhängnis‘ der Idyllen-

2 3

Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 · 1900 [1985], München: Fink 42003, S. 301. Kittler, Friedrich A.: Grammophon Film Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 29.

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forschung, weil diese daraus das Konzept des Idyllischen ableitet, ohne es jedoch kritisch auf Schillers implizite Reflexion über das aristotelische Mimesis-Konzept zu beziehen: Seine Idyllentheorie verhandelt nämlich die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollziehende poetologische Verschiebung von der mimetischen Nachahmung zur genialischen Schöpfung (Kapitel 3.1.3). Die Kategorie der Beschränkung, die Jean Paul im Idylle-Paragraphen seiner Vorschule der Ästhetik als Bedingung für das von und in der Idylle dargestellte ‚Vollglück (in) der Beschränkung‘ einführt (Kapitel 3.3.1), erweist sich ihrerseits als ein spezifisch idyllisches Verfahren: Dieses lässt sich mit einer medientechnischen Metapher als ‚idyllische Optik der Beschränkung‘ einerseits genauer erfassen (Kapitel 3.3.2) und andererseits dazu nutzen, um das ästhetische Schicksal der Idylle zu beschreiben, das in deren ‚universeller Verkitschung‘ besteht (Kapitel 3.3.3). Auf theoretischer Ebene wurde im dritten Kapitel der Arbeit damit das vorbereitet, was die Paradigmen der Idylle im vierten Kapitel evident machen: Das aufgrund seiner beiden Pole bestehende ‚Spannungsverhältnis‘ des zwischen Natur und Kultur zu verortenden materialen Topos. Diese strukturellen Zusammenhänge wurden zunächst anhand sog. ‚Strandlektüren‘ einschlägiger Romane aus dem Bereich der kitschigen Unterhaltungsliteratur untersucht (Kapitel 4.1.1), um sie dann mit Bezug auf die theoretischen Modelle von John Fiske und Roland Barthes sowohl kultursemiotisch zu erfassen (Kapitel 4.1.2) als auch hinsichtlich ihrer kulturkonstitutiven Implikationen vor dem Hintergrund einer idyllischen Chrono-Logik zu beschreiben (Kapitel 4.1.3). Die Untersuchungsergebnisse bildeten schließlich die Basis für einen Systematisierungsvorschlag zur Erfassung der verschiedenartigen Konkretionen des materialen Topos in literarischen, filmischen und televisiven Texten. Diese Systematisierung steht in erweiterndem Anschluss an aktuelle(re) theoretische Überlegungen und Konzepte wie Michail Bachtins idyllischen Chronotopos und Hans Adlers epistemisches Gnoseotop. Dazu wurde zunächst eine Präzisierung der in der gegenwärtigen Idyllenforschung aufgekommenen Formel vom ‚idyllischen Denken‘ vorgenommen, die durch eine Untersuchung der auf die Erzeugung von Natürlichkeit gerichteten ‚tendence idyllique‘ geleistet wurde. Das Konzept einer solch ‚idyllischen Tendenz‘ ermöglicht es, gänzlich verschiedene poetologische Positionen zur Idylle – angefangen bei ihren regelpoetischen Fassungen bis zu ihrer genieästhetischen Verinnerlichung – miteinander zu vergleichen und sie auf einen gemeinsamen ‚idyllischen Nenner‘ zu bringen (Kapitel 4.2.1). Im Fall der unterschiedlichen Konkretionen des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen liegt dieser in der spezifischen Materialität literarischer, filmischer und televisiver Texte, die in einem Koordinatensystem der Idylle erfasst wurden (Kapitel 4.2.2). Daraus konnte letztlich die idyllische Polarität von Katastrophe und Kitsch abgeleitet werden (Kapitel 4.2.3), sodass diese beiden Pole zusammen mit den Kategorien von Raum und Zeit die Parameter für die Paradigmen der Idylle bilden. In Form des arkadischen (Kapitel 4.3.1), des heterotopischen (4.3.2) und des elysischen (4.3.3) Paradigmas erlauben diese eine genauere Bestimmung der so zahl-

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reichen wie unterschiedlichen Konkretionen des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen. Dieser im vierten Kapitel der Arbeit vorgestellte Ansatz ermöglichte letztlich eine strukturelle Analyse der Idylle, die einerseits auf ihre gattungstheoretische Bestimmung gründet, deren enge Gefasstheit andererseits aber gleichsam genauso suspendiert wie das vage Konzept des Idyllischen. Hierdurch ließ sich die aus literarischen in filmische und televisive Texte diffundierte Idylle im medienästhetisch ausgerichteten Vergleich untersuchen. Das method(olog)ische Fundament dafür bildete das auf die Arbeiten von Ernst Robert Curtius zurückgehende Konzept einer materialen Topik. Im Anschluss an den einleitenden Problemaufriss – der die Begriffsgeschichte der Idylle einschließlich ihrer wissenschaftlichen Definitionsversuche (Kapitel 1.2.1) genauso darlegt wie eine rhetorische Perspektivierung der Gattungstradition (Kapitel 1.2.2) und die politischen Implikationen der Idylle (Kapitel 1.2.3) – wurde die literaturwissenschaftliche Methode der materialen Topik zunächst einer Aktualisierung unterzogen (Kapitel 1.3.1) und dann in Bezug auf ihre produktiven Möglichkeit für die Idyllenforschung im Besonderen (Kapitel 1.3.2) sowie für die Literatur- und Medienwissenschaft im Allgemeinen (Kapitel 1.3.3) befragt. Das hier Zusammengefasste erlaubt nun abschließend einen Ausblick auf die Möglichkeiten zur erweiternden Fortführung einer medienästhetisch ausgerichteten Idyllenforschung sowie für deren Verkopplung mit der Kitschforschung. 

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 Von der materialen zur kulturellen Topik Aus der in der vorliegenden Arbeit unternommenen Untersuchung der Idylle können produktive Konsequenzen für die materiale Topik gezogen werden, deren mögliche Anwendungsfelder hier abschließend kurz aufgezeigt werden sollen. Das erfolgt mittels einer Erweiterung dieses methodischen Konzepts, die sich aus dem Übergang von einer materialen zur kulturellen Topik ergibt. Um dies anschaulich zu machen, soll zunächst eine Szene aus der Episode zum dreißigjährigen Jubiläum der TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF hinsichtlich ihrer intertextuellen Bezugnahmen betrachtet werden. Das erste Ziel der in dieser Episode präsentierten Reise ist New York – eine Stadt, die wohl wie keine zweite durch ihre literarischen, filmischen und televisiven Darstellungen all denen ‚bekannt‘ ist, die – wie das lyrische Ich in Udo Jürgens’ Schlager – noch niemals dort gewesen sind.4 Diese mediale Vorprägung des Reiseziels ist Thema in einer Sequenz der Jubiläums-Episode von DAS TRAUMSCHIFF und das auf der Handlungsebene sowie auf der Ebene der Inszenierung.5 Bevor es am zweiten Ziel der Reise – einer solchen ‚Ehren-Episode‘ gemäß werden bei dieser besonderen Kreuzfahrt gleich mehrere Orte angesteuert: zunächst New York, dann Savannah und schließlich Salvador de Bahia in Brasilien – zu dem Treffen zwischen den beiden sich während der Reise lieben lernenden Passagieren Tom und Corinna kommt (dessen Arrangement durch Beatrice und den Kapitän bereits untersucht wurde, vgl. Kapitel 2.3), erfolgt die sich für ihre anbahnende Beziehung notwendige Zufallsbegegnung in New York. Da sich um Tom und Corinna die Liebesgeschichte dieser Episode entfaltet, kann deren Begegnung auf dem Rockefeller Center nur ein schicksalhafter Zufall sein, der sich zudem als ein glücklicher erweist, weil er für beide die Liebe auf den ersten Blick bedeutet. Während Corinna sich mit ihrem Besuch der Aussichtsterrasse dem touristischen Pflichtprogramm in New York widmet, führt Tom das verabredete Wiedersehen mit seiner Jugendliebe dorthin (die ihn allerdings versetzt). Die nachgerade kitschige Wahl des speziellen Treffpunkts auf einem Wolkenkratzer in Manhattan thematisiert Toms Reisebegleiter, wenn er feststellt: „Vielleicht habt ihr beide auch einfach nur zu viele kitschige Hollywood-Filme gesehen.“ Mit dieser Aussage wird indirekt der filmische Prätext für die Liebesgeschichte dieser Episode aufgerufen: SLEEPLESS IN SEATTLE.6 Während sich das in der cineastischen Vorlage von Tom Hanks und Meg Ryan gespielte Liebespaar auf dem Empire State Building trifft, begegnen sich Tom und Corinna in der TRAUMSCHIFF-Episode dort 4

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Das gilt auch für Chef-Hostess Beatrice, weshalb der Kapitän ihr zu ihrem 30-jährigen Dienstjubiläum einen gemeinsamen Ausflug nach Manhattan schenkt. Vgl. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 65: „New York, Savannah und Salvador de Bahia“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 5.11.2011, ZDF, hier: 00:24:15–00:25:55. SLEEPLESS IN SEATTLE [SCHLAFLOS IN SEATTLE], Regie: Nora Ephron, USA 1993.

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nicht. Diese Abweichung vom Prätext wird inszenatorisch thematisiert: In den Closeup-Einstellungen, die Tom auf der Besucherterrasse des Rockefeller Center zeigen, ist im Hintergrund das Empire State Building zu sehen (Abb. 66). Ohne die filmische Markierung eines Ortswechsels steht Tom nach einem Kameraschwenk über die Besucherterrasse in der übernächsten Einstellung dort weiterhin unverändert an der Brüstung der Terrasse. Das charakteristische Metallgeländer sorgt in der Mise en Scène für eine räumliche Kohärenz. Allerdings kann man hinter Tom, der in dieser Einstellung nicht länger in einer Halbnahen, sondern einer Halbtotalen gezeigt wird, deutlich den Central Park erkennen (Abb. 67). Während Tom realisiert, dass ihn seine Jugendliebe Amy, die er hier treffen wollte, versetzt zu haben scheint, taucht so plötzlich wie zufällig Corinna auf. In der Einstellung, die das Zusammentreffen der beiden zeigt, ist dabei weiterhin der Central Park im Hintergrund zu sehen (Abb. 68). Der sich anschließende Dialog zwischen den beiden wird in Form einer Schuss-Gegenschuss-Montage präsentiert. Diese Einstellungen suggerieren, dass Tom – aus der Perspektive der ZuschauerInnen – noch immer links steht und Corinna rechts (Abb. 69). Obwohl somit inszenatorisch kein Positionswechsel der beiden Figuren auf der Terrasse angezeigt wurde, ist im Hintergrund derjenigen Einstellungen, die Tom während des Dialogs in Nahaufnahme zeigen, wie schon zuvor weiterhin das Empire State Building sichtbar (Abb. 70). In der außerfilmischen Realität wäre das unmöglich: Wenn man von der Besucherterrasse des Rockefeller Center auf den Central Park blickt, kann man das Empire State Building nicht sehen – es befindet sich nämlich auf der genau entgegengesetzten Seite im Süden Manhattans. Der intradiegetische Raum wird also auch hier gemäß dem idyllischen Verfahren der Topothesie (um-)gestaltet, da die filmischen Versatzstücke ein gänzlich neues, dergestalt nun nachgerade künstliches New York präsentieren.7 Zugleich erweist sich diese po(i)etische Umgestaltung der Stadtlandschaft als funktional, weil sie den dieser Episode zugrunde liegenden intertextuellen Bezug durch den architektonischen Signifikanten des Empire State Building buchstäblich im Bild hält. Der bewusste Verweis auf kitschige Prätexte, wie den Hollywood-Film SLEEPLESS IN SEATTLE in der New York-Episode von DAS TRAUMSCHIFF, erweist sich allerdings nicht als das einzige metareflexive Moment der Serie. Bereits in einer der ersten Episoden der televisiven Kitschserie werden die idyllischen Schauplätze und deren Artifizialität thematisiert: „Nein! Das kann nicht kitschig sein, weil es nicht von Menschen gemacht ist.“ Diese Erwiderung gibt eine junge Frau ihrem Begleiter, als sie zusammen am „weißen Saum“ des Sandstrandes auf einer kleinen Südseeinsel mit Palmenhain die 7

Dieses idyllische Verfahren lässt sich auch in Hollywood-Filmen nachweisen: So ist das fiktive Gotham City in der DARK KNIGHT-Trilogie von Christopher Nolan (USA, 2005–2012) aus filmischen Versatzstücken der Skylines der drei größten US-amerikanischen Städte New York, Los Angeles und Chicago montiert, die sich jeweils an ihren Gebäuden identifizieren lassen.

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einsame Zweisamkeit dieses locus amoenus inmitten des in den „Farben Blau und Türkis“ schimmernden Meeres genießen. Zuvor hat der junge Mann, der dies alles, wie er sagt, auch „zum ersten Mal in Natura“ sieht, seinerseits festgestellt: „Das ist zu kitschig.“ Dieser kurze Dialog aus der dritten Episode der TV-Serie DAS TRAUMSCHIFF, die am 6. Dezember 1981 vom Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde,8 scheint Hartmut Böhmes Einschätzung zu bestätigen, der zufolge das ästhetische Schicksal der Natur sowohl in der Idylle als auch im Kitsch liege,9 denn wie keine andere Sendung im bundesdeutschen Fernsehen beliefert DAS TRAUMSCHIFF seit den frühen achtziger Jahren das TV-Publikum mit nachgerade idyllischem Kitsch, wenn man mit Theodor W. Adorno darunter „unendlich herzerfrischende, pseudokonkrete Natur“ versteht.10 Die Fernsehproduktion DAS TRAUMSCHIFF (re)präsentiert den Kitsch in einer seiner zahlreichen Variationen und dieser erweist sich deshalb als ‚unendlich herzerfrischend‘, weil er sich als „ein Sonderfall des Trivialen“ bestimmen lässt:11 In diesem Sinn wären unter Kitsch im Bereich der erzählenden Literatur vor allem „Liebes-, Heimat- und Familienromane“ zu verstehen,12 die ihr mediales Pendant in entsprechenden Formaten sowohl im Film als auch im Fernsehen finden. Unabhängig von einer solch engen und rein inhaltlichen Bestimmung (die vorangehend bereits um eine strukturelle erweitert wurde, vgl. Kapitel 2.3) lässt sich der Kitsch in einem weiten Sinn semiotisch fassen, sodass es möglich wird, den Begriff ‚Kitsch‘ nicht bloß auf erzählende Literatur oder andere narrative mediale Formate zu beziehen, sondern mit Vilém Flusser als Bezeichnung für ein „allgemeines Kulturphänomen“ zu gebrauchen.13 In einer solchen Perspektive definiert Umberto Eco den Kitsch als das, „was abgenutzt erscheint“.14 Abnutzung bedeutet Verschleiß und ist eine Folge stetigen Ge-

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Vgl. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 3, Regie: Fritz Umgelter, Erstausstrahlung: 6.12.1981, ZDF, hier: 00:26:44–00:27:36. Vgl. Böhme, Hartmut: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel, Bd. IV: Medien–Populär [2002], Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 432–498, hier: S. 495. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [1970], hrsg. aus dem Nachlass von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 101990, S. 465. Vgl. Liessmann, Konrad Paul: Kitsch! oder Warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist, Wien: Verlag Christian Brandstätter 2002, S. 6. Foltin, Hans Friedrich: „Die minderwertige Prosaliteratur. Einteilung und Bezeichnungen“, in: DVjs (2) 1965, S. 288–323, hier: S. 302. Flusser, Vilém: „Gespräch, Gerede, Kitsch. Zum Problem des unvollkommenen Informationskonsums“, in: Pross, Harry (Hg.): Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage, München: List 1985, S. 47–62, hier: S. 60. Eco, Umberto: „Die Struktur des schlechten Geschmacks“, in: ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur [1964/1978], übersetzt von Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 59–115, hier: S. 81.

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brauchs, der auch das „relativ fest[e] Ensemble prototypischer Strukturen“ im Kitsch kennzeichnet,15 die als „einmal gefundene publikumswirksame Muster“ beständig genutzt werden, weshalb die stereotype „Wiederkehr des Immergleichen“ als zentrales Merkmal des Kitsches gelten kann.16 Diese von Peter Nusser geprägte Formel erscheint ihrerseits als Abwandlung dessen, was Adorno in Bezug auf die Kulturindustrie als „Umkleidung eines Immergleichen“ beschreibt, denn das „unablässig Neue“, das die Kulturindustrie produziert, sei bloß oberflächlicher „Fortschritt“,17 schließlich füge sie „Altgewohntes zu einer neuen Qualität zusammen“: „In all ihren Sparten werden Produkte mehr oder minder planvoll hergestellt, die auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind und in weitem Maße diesen Konsum von sich aus bestimmen.“18 Es ist diese „Angleichung an industrielle Organisationformen“ in der Kulturindustrie,19 aus der sich Adornos Beschreibung des Kitsches als ‚Umkleidung des Immergleichen‘ erklärt. Inwiefern erweist sich dieser ‚unendlich herzfrischende‘ Kitsch nun aber als ‚pseudokonkrete Natur‘? Die Aussage der jungen Frau, dass die sie umgebende Natur deshalb nicht kitschig sein könne, weil sie nicht vom Menschen geschaffen ist, gibt über den zweiten Teil von Adornos indirekter Kitsch-Konzeption Aufschluss. Metareflexiv thematisiert die junge Frau genau jene „Verdrängung“ des Naturschönen durch das Kunstschöne,20 das schon Adorno in seiner Reflexion über diese Kantischen Kategorien der Ästhetik beschäftigt und das ihn dazu bringt, den Kitsch als „unendlich herzerfrischende, pseudokonkrete Natur“ aufzufassen: Indem die junge Frau die Natur als das begreift, was „nicht vom Menschen gemacht ist“, und sie so vom Kitschverdacht freispricht, muss im logischen Umkehrschluss all das, was vom Menschen gemacht ist, erstens als das Gegenteil von Natur und zweitens als potenziell kitschig erscheinen. In der Aussage der jungen Frau zeigt sich daher implizit also jene „Verschreibung der Kunst ans Artifizielle als der Nicht-Natur schlechthin“, die – so Böhme – aus der „Emanzipation von der Doktrin von der Naturnachahmung“ im künstlerischen Tun resultiert.21

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Leubner, Martin: Stichwort ‚Trivialliteratur‘, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen [1990], hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moenninghoff, Stuttgart/Weimar: Metzler 32007, S. 782f, hier: S. 782. Nusser, Peter: Unterhaltung und Aufklärung. Studien zur Theorie, Geschichte und Didaktik der populären Lesestoffe, Frankfurt a.M./Berlin u.a.: Lang 2000, S. 17. Adorno, Theodor W.: „Résumé über Kulturindustrie“, in: ders.: Gesammelte Schriften [1977], hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Bd. XX/1: Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 337–345, hier: S. 339. Adorno: „Résumé“, S. 337. Adorno: „Résumé“, S. 340. Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 494. Böhme: Stichwort ‚Natürlich/Natur‘, S. 494.

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Der von Adorno gebrauchte Begriff ‚Natur‘ meint in diesem Sinn also alles Artifizielle, das immer etwas (vom Menschen) Gemachtes ist und sich dergestalt als ‚Produkt‘ literarisch-künstlerischer poiesis erweist. Fasst man die Aussage der jungen Frau mit Adorno also buchstäblich ‚po(i)etisch‘ auf, dann zeigt sich die selbstreflexive Dimension in dem, was die Frau sagt. Ihre Aussage verweist nämlich auf jenen Wettstreit zwischen Natur und Kunst, der seit Plinius’ Überlieferung der Geschichte von Zeuxis und Parrhasius zum Topos des Mimesis-Diskurses geworden ist: Von diesem [d.i. Parrhasius, N.J.] sagt man, er habe sich mit dem Zeuxis in einen Wettstreite eingelassen. Jener habe gemalte Trauben, und die mit so glücklichem Erfolge hervorgebracht, daß die Vögel der Bühne zugeflogen waren: dieser habe einen so natürlich gemalten leinen Vorhang aufgestellet, daß Zeuxis, durch das Urtheil der Vögel stolz gemacht, endlich darauf drang, man möchte den Vorhang wegthun und die Malerey zeigen. So bald er seinen Irrthum eingesehen habe, habe er aus aufrichtiger Scham gewonnen gegeben, er habe, sagte er, nie Vögel betrogen, Parrhasius aber ihn als einen Meister.22

Für Parrhasius’ gemalten Leinenvorhang gilt also das, was schon Ovid in Bezug auf die von Pygmalion angefertigte Statue herausstellt: „Daß es nur Kunst war, verdeckte die Kunst.“23 Aus diesem Grund verliebt sich der einsame Bildhauer in sein Werk und aus demselben Grund avanciert die idyllische Südseeinsel in DAS TRAUMSCHIFF zum Anlass ästhetischer Reflexion über die implizite Artifizialität einer Natur, die die Kitschserie als Kulisse präsentiert. Mit Adorno kann sie deshalb als ‚pseudokonkret‘ (und kitschig) gelten, weil die televisive Inszenierung diese Idylle letztlich als stets vom Menschen gemacht und daher buchstäblich als künstlich ausweist. Hierbei gilt allerdings unter Abwandlung der Ovid’schen Formel: Dass es nur Kunst war, verdeckte die Natur. Den Kitsch mit Adorno als pseudokonkrete Natur zu begreifen, liegt aber auch aus einem anderen Grund nahe: Die in der Fernsehserie als kitschige Kulisse präsentierte Idylle der Südseeinsel ist deshalb ‚pseudokonkrete Natur‘, weil das Urteil, das der junge Mann über diesen Ort fällt, ein ästhetisches Werturteil ist: ‚Kitsch‘ ist nämlich nicht nur ein ästhetischer Grundbegriff – was seine Lemmatisierung in dem gleichnamigen Lexikon überdeutlich belegt24 –, ‚Kitsch‘ ist vor allem ein „[n]egativ wertender“ Begriff, der

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Plinius: Naturgeschichte [XXXV, 10], übersetzt von Johann Daniel Denso, 2 Bd.e, Bd. II, Rostock/Greifswald: Anton Ferdinand Rösens Buchhandlung 1765, S. 744. Ovid: Metamorphosen [XX, V. 252], übersetzt und hrsg. von Hermann Breitenbach, Stuttgart: Reclam 1971, S. 324. Vgl. Kliche, Dieter: Stichwort ‚Kitsch‘, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Bd. III: Harmonie–Material [2001] Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 272–288.

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„meist als Opposition zu ‚Kunst‘ intuitiv verwendet“ wird.25 ‚Kitsch‘ ist daher ein kunstpolitisches Schlag-Wort, dessen Verwendung ein „niederschlagendes, erschlagendes“ ästhetisches Urteil impliziert: „Wer damit auf irgendein Gebilde losschlägt“, stellt Jacob Reisner heraus, „will es zumeist aus dem Bereich der Kunst (wie er sie versteht) hinausschlagen.“26 Die Aussage des jungen Mannes, dass die Idylle der Südseeinsel zu kitschig sei, ist also ein ästhetisches Werturteil, das laut Rainer Schönhammer auf derselben Ebene rangiert wie die Aussage: ‚Zu schön, um wahr zu sein!‘ Damit wird, so Schönhammer in seiner phänomenologischen Untersuchung des Walkmans, im allgemeinen Sprachgebrauch nämlich der „Zweifel an der Tatsächlichkeit glücklicher Umstände“ zum Ausdruck gebracht.27 Zugleich lässt sich dieser „Topos“ ästhetischer Beurteilung „als Kurzformel für die Kritik an ‚Kitsch‘“ verstehen, da mit ihm „die Verlogenheit“ der Darstellung „einer versüßten Welt“ thematisiert wird.28 Die Wertung im Kitschurteil besteht also darin, dass über einen „ästhetischen Genuß“ befunden wird, „in dem der Kritiker ein ‚billiges‘, das heißt nicht geistig sublimiertes, Wohlgefallen an Stimmungen ausmacht“.29 Diese Kritik richtet sich auf das, was Ludwig Giesz eine durch den Kitsch ermöglichte „genüßliche Seinserfahrung“ nennt30 – oder, um es in den Worten des apokalyptischsten aller Kritiker zu sagen: Der „Gefühlsplunder des Kitsches“, so Adorno, „parodiert die Katharsis“, indem er zum Zwecke des Genusses regelrecht mit dem von ihm „hergestellten und verschacherten Gefühl“ hausiert, statt davon zu reinigen.31 Insofern steht der Kitsch also ganz und gar in der Tradition der Idylle, denn das, was Schiller in Bezug auf diese feststellt, scheint – zumindest in Adornos Lesart einer „Verfallsgeschichte“ der Kultur32 – genauso auf den Kitsch zuzutreffen: Dieser wirkt gerade deshalb idyllisch, weil er „bey dem höchsten Gehalt für das Herz, allzuwenig für den Geist“ dar- und anbietet.33

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Friedrich, Hans-Edwin: Stichwort ‚Kitsch‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bd.e, Bd. II: H–O, gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Harald Fricke, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 263–266, hier: S. 263. Reisner, Jacob: Zum Begriff Kitsch, Göttingen, Univ., Diss., 1955, S. 168. Schönhammer, Rainer: Der ‚Walkman‘. Eine phänomenologische Untersuchung, München: P. Kirchheim 1988, S. 57. Schönhammer: Der ‚Walkman‘, S. 57. Schönhammer: Der ‚Walkman‘, S. 58. Giesz: Phänomenologie des Kitsches, S. 52. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 355. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 467. Schiller, Friedrich: „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ [1795], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Bd. XX: Philosophische Schriften. Erster Teil, hrsg. von

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Schillers Differenzierung zwischen Herz und Geist korrespondiert mit Ecos konzeptueller Unterscheidung von zwei Modell-Lesern, die seinen beiden Kategorien der Interpretation entsprechen: Die semantische oder semiosische Interpretation ist Resultat des Prozesses, durch den der Adressat, angesichts der linearen Manifestation des Textes, diesen mit Sinn erfüllt. Die kritische oder semiotische Interpretation hingegen ist diejenige, mittels derer man zu erklären versucht, aufgrund welcher Strukturmerkmale der Text diese (oder andere) semantischen Interpretationen hervorbringen kann.34

Während dem „naiven (semantischen) Modell-Leser“ bei Eco jener Bereich zufällt, den Schiller als ‚Gehalt für das Herz‘ bezeichnet, ist der ‚geistige‘ Gehalt das, was Ecos „kritisch[em] Modell-Leser“ seinerseits das Herz aufgehen lässt.35 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die sog. „intertextuelle Enzyklopädie“ bemüht wird: Darunter versteht Eco „Texte, die andere Texte zitieren“.36 Für kritische LeserInnen bieten derartige Texte insofern einiges an ‚Gehalt für den Geist‘, als „die Kenntnis der zitierten Texte [...] Voraussetzung für den Genuß des zitierenden Textes [ist]“.37 Die intertextuelle Enzyklopädie gründet sich also auf ein spezifisches Prätextwissen, das zwei Bestandteile hat und einerseits aus der „Kenntnis der Texte“ und andererseits aus der „Kenntnis der Welt“ besteht.38 Eine kurze Sequenz aus der TRAUMSCHIFF-Episode, die an Neujahr 2018 im ZDF ausgestrahlt wurde,39 veranschaulicht Ecos Konzept der intertextuellen Enzyklopädie in Bezug auf die beiden Modell-Leser. Auf der Fahrt nach Los Angeles ist ein junger Mann mit an Bord, der in Hollywood eine Karriere als Stuntman beginnen will. Als Vorbereitung darauf hat er schon allerlei waghalsige Aktionen unternommen und diese zum Beweis von Kraft und Geschick per Handykamera aufgezeichnet, um sie auf seiner Homepage zu veröffentlichen. Einen derartigen ‚Stunt‘ will Nico nun auch auf der MS Amadea wagen und dazu betritt er unerlaubter Weise den für die Passagiere nicht zugänglichen Bug des Schiffs. Dort postiert er sich direkt an der Reling und beginnt mit seiner Videoaufnahme, indem er die Arme ausbreitet und sich mit dem an einem sog. Selfiestick befestigen Smartphone selbst filmt (Abb. 71). Während Nico dabei aus der

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Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1972, S. 413–503, hier: S. 469, Hervorhebungen im Original durch Sperrung. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation [1990], übersetzt von Günter Memmert, München/Wien: Hanser 1992, S. 43. Eco: Die Grenzen der Interpretation, S. 43. Eco, Umberto: „Die Innovation im Seriellen“ [1983], in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, übersetzt von Burkhart Kroeber, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 72002, S. 155–180, hier: S. 165. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 165. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 165. Vgl. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 80: „Los Angeles“, Regie: Stefan Bartmann, Erstausstrahlung: 1.1.2018, ZDF, hier: 00:30:02–00:31:13.

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Totalen zu sehen ist und ihn die Einstellung aus einer erhöhten Kameraperspektive zeigt, ist sein begeisterter Ausruf zu hören: „Ich bin der König der Welt!“ Nicos nautisch-akrobatische Allmachtsfantasie wird jäh von Kapitän Burger unterbrochen, der den jungen Mann von der Reling wegzieht und ermahnt: „Lassen Sie den Unfug! Wenn Sie hier ins Meer fallen, dann findet Sie kein Mensch mehr.“ Was für den Kapitän bloßen Unfug darstellt, erweist sich in Ecos Perspektive als ein Beispiel für die intertextuelle Enzyklopädie: Während ein naiver Leser nämlich auf der Objektebene in Nicos Aktion einen Beleg sowohl für die Ambition des jungen Mannes erkennt als auch für seine postpubertäre Bereitschaft, waghalsige Risiken auf sich zu nehmen und dadurch sogar sein Leben aufs Spiel zu setzen, erkennt der kritische Leser auf der Metaebene einen Hinweis auf das Konstruktionsprinzip der Serie. Diese verweist hier nämlich intertextuell auf James Camerons Film TITANIC. Darin findet sich eine Szene, die inhaltlich sowie aufgrund der Einstellungsmodalitäten auch formal den Prätext für die Sequenz in der TRAUMSCHIFF-Episode darstellt:40 Mit seinem Reisegefährten Fabrizio steht Jack Dawson am Bug der Titanic, breitet seine Arme aus und inthronisiert sich genauso wie Nico auf der MS Amadea verbal als imaginärer Weltbeherrscher (Abb. 72). Der Bezug auf den idyllischen Katastrophenfilm, der als Prätext für die Stunt-Szene in der TRAUMSCHIFF-Episode dient, wird in der entsprechenden Sequenz nicht weiter (metareflexiv) thematisiert – dies geschieht kurz in einer Folgesequenz und damit ähnlich indirekt wie der Bezug auf SLEEPLESS IN SEATTLE in der New-York-Episode von DAS TRAUMSCHIFF.41 Die intertextuelle Anlage der hier kurz besprochenen TRAUMSCHIFF-Episoden ließe sich mit Eco als eine spezifische Form des intertextuellen Dialogismus bezeichnen: Demnach läge in beiden Fällen ein sog. ‚Topos-Zitat‘ vor, das laut Eco ein „typisches Verfahren der postmodernen Literatur“ darstellt.42 Um ein solches Zitat zu erkennen „und zu genießen“, muss der „Topos längst in die ‚Enzyklopädie‘ des Zuschauers eingegangen“ und Teil „der kollektiven Bilderwelt“ geworden sein, sodass er überhaupt erst „als solcher zitiert“ werden kann.43 Im Fall der ‚kitschigen HollywoodFilme‘, die in der New-York-Episode thematisiert werden, konkretisiert sich deren topischer Zitat-Charakter nun aber nicht durch den konkreten Bezug auf einen Einzeltext (auch wenn dieser durch die filmische Inszenierung herauszupräparieren ist), sondern als systemreferenzieller Bezug auf das Schema der Kitscherzählung, das eben auch in entsprechenden Hollywood-Filmen ‚immergleich‘ wiederkehrt. Anders gestaltet sich das

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Vgl. TITANIC, Regie: James Cameron, USA 1997, hier: 00:30:52–00:33:30. Gegenüber dem Kapitän verteidigt Nico seine Filmaktion und thematisiert dabei kurz den intertextuellen Bezug in dieser TRAUMSCHIFF-Episode: „Ich wollte nur Fotos für meine Website machen, so in der Art wie im Film TITANIC [...].“ (DAS TRAUMSCHIFF, E80, 00:32:20.) Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 163. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 163.

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in der Los-Angeles-Episode von DAS TRAUMSCHIFF, da es hier einen eindeutig benennbaren filmischen Text gibt, der als Prätext fungiert. Laut Eco sind derartige Topos-Zitate immer „Anspielungen“.44 Das bedeutet, dass ihr intertextueller Bezug nicht notwendigerweise explizit gemacht wird. Dadurch veranschaulichen derartige Anspielungen letztlich die Konstitution jener intertextuellen Enzyklopädie, die sie voraussetzen, denn einerseits beziehen sie sich auf eine „Information, die bereits von anderen Medien transportiert worden ist“, und andererseits tragen die Anspielungen dann selbst zur Weiterverbreitung (bzw. Tradierung) dieser Information bei.45 So festigen sie den topischen Charakter des Zitierten. Im Fall der beiden TRAUMSCHIFF-Episoden kann deren story aber auch genossen werden, ohne dass die jeweiligen Anspielungen als Topos-Zitate erkannt werden. Dies bleibt kritischen Lesern vorbehalten, denn „[w]enn dem Zuschauer das Zitat bewußt geworden ist, fängt er an, ironisch über die Topos-Natur des zitierten Ereignisses nachzudenken und das Spiel, zu dem er eingeladen worden ist, als eine Infragestellung seiner Enzyklopädie zu erkennen“.46 Auf dieser Metaebene einer kritischen Lektüre wird dann die unfreiwillige Komik als eines der charakteristischen Merkmale des Kitsches evident. Die Anspielungen in den beiden TRAUMSCHIFF-Episoden – vor allem aber diejenige in der Los-Angeles-Episode, die später innerdiegetisch im Dialog zwischen Nico und dem Kapitän als intertextueller Bezug auf den Film TITANIC markiert wird – können aber nicht nur von kritischen LeserInnen erkannt werden, sondern ebenfalls von naiven, wenn ihnen die zitierten Topoi bekannt sind oder eben durch eine explizite Thematisierung ‚zugänglich‘ gemacht werden: Die von Eco beschriebenen Topos-Zitate rekurrieren in diesem Sinn dann als ‚Gemeinplätze‘ auf eine besondere Form von Prätextwissen, das sich als eines zweiten Grades begreifen lässt, weil es weniger auf konkrete Textkenntnis und stattdessen auf eine intertextuelle „Kenntnis der Welt“ gründet.47 Mit dem Begriff ‚kultureller Topos‘ lässt sich dieses Phänomen genauer erfassen: Darunter sei hier ein spezifisches Element der intertextuellen Enzyklopädie zu verstehen, zu der neben anderen auch der materiale Topos der Idylle gezählt werden kann. Während sich der materiale Topos, der seinerseits aus verschiedenen Elementen (Topologemen) besteht, die ‚veratzstückartig‘ in literarischen, filmischen oder televisiven Texten gebraucht werden, als ein systemreferenzielles Phänomen beschreiben lässt, stellen kulturelle Topoi eine besondere Form der Einzeltextreferenz dar.48 44 45 46 47 48

Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 163. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 165. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 164. Eco: „Die Innovation im Seriellen“, S. 165. Zur konzeptuellen Unterscheidung vgl. Broich, Ulrich: „Zur Einzeltextreferenz“, in: Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 48–52; sowie Pfister, Manfred: „Zur Systemreferenz“, in: Broich,

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Diese intertextuelle Besonderheit kultureller Topoi lässt sich am achten STAR-TREKKinofilm veranschaulichen: Wie bereits im Zusammenhang mit den Paradigmen der Idylle erläutert (vgl. Kapitel 4.3), bildet die Vereitlung einer Invasion der Erde durch die kybernetischen Borg den erzählerischen Gegenstand von STAR TREK: FIRST CONTACT. Während des Kampfes der Enterprise-Crew gegen die als Kollektiv organisierten Mensch-Maschine-Drohnen wird Captain Jean-Luc Picard mit seinem Hass gegen die Borg konfrontiert, der ihn zu scheinbar irrationalem Handeln verleitet.49 Dies bringt Lily, eine Erdbewohnerin, die nicht zur Enterprise-Crew gehört, zum Ausdruck, nachdem sie Zeugin von Picards Blutrausch geworden ist: Bei der Flucht vor den Borg, die das Raumschiff gekapert haben, gelangt sie mit dem Captain auf das sog. Holodeck der Enterprise, wo Jean-Luc mit einer ‚antiken‘ Schnellfeuerwaffe statt – wie üblich – mit einer Laserpistole einige der kybernetischen Angreifer unschädlich macht. In einem anschließenden Gespräch, das in einer längeren Sequenz durch eine SchussGegenschuss-Montage dargestellt wird, versucht Lily Jean-Luc davon zu überzeugen, das Schiff zu verlassen, statt sein Leben in einem aussichtslosen Kampf zu riskieren – der zudem nur durch einen persönlichen Wunsch nach Rache motiviert sei. Für eine überzeugende Argumentation benutzt Lily einen impliziten Vergleich als Anspielung: Picard: Six years ago, they [the Borg, N.J.] assimilated me into their collective. I had their cybernetic devices implanted throughout my body. I was linked to the hive mind, every trace of individuality erased. […] Lily: I am such an idiot. It’s so simple. The Borg hurt you, and now you’re going to hurt them back. […] I saw the look on your face when you shot those Borg on the Holodeck. You were almost enjoying it. P: How dare you? L: Oh, come on, Captain. You’re not the first man to get a thrill from murdering someone. […] P: Get out! […] I don’t have time for this. L: I’m sorry. I didn’t mean to interrupt your little quest. Captain Ahab has to go hunt his whale. […] P: This is not about revenge. […] The line must be drawn here. This far, no further! I will make them pay for what they’ve done. […] L: See you around, Ahab. P: „And he piled upon the whale’s white hump, the sum of all the rage and hate felt by his whole race. If his chest had been a cannon, he would have shot his heart upon it.“ L: What? P: Moby Dick. L: Actually, I never read it.

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Ulrich/Pfister, Manfred (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 52–58. Vgl. STAR TREK: FIRST CONTACT, Regie: Jonathan Frakes, USA 1996, hier: 01:15:17–01:19:52.

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Lilys Anspielung auf Kapitän Ahab aus Herman Melvilles Moby Dick wird im Dialog mit Jean-Luc von ihm explizit gemacht, indem dieser eine Passage aus dem Roman zitiert. Das soll letztlich seine Einsicht vermitteln, die er durch Lilys Konfrontation erhält und die ihn schließlich dazu bringt, den Kampf gegen die Borg statt mit roher Gewalt auf andere Weise fortzusetzen. Zugleich zeigt das Zitat aber auch die überlegene Intellektualität des Captain gegenüber Lily an, die gesteht, dass sie Moby Dick nie gelesen habe. Dieses ‚Geständnis‘ lässt sich als Metareflexion über kulturelle Topoi lesen, die als die von Eco herausgestellten Anspielungen intertextuelle Bezugnahmen im Modus des refer to darstellen. Damit beschreibt Manfred Pfister die „Skalierung der Intertextualität“,50 indem er das refer to bzw. mention vom use abgrenzt: „So wie man ein Wort oder eine linguistische Struktur entweder nur verwenden oder darauf auch verweisen kann“, erläutert Pfister seinen Gebrauch dieser linguistischen Kategorien, „so kann man sich auch vorgegebener Texte oder Diskurstypen entweder einfach bedienen oder auf sie referieren.“51 Im Fall der kurz besprochenen Sequenz aus STAR TREK: FIRST CONTACT liegen beide intertextuellen Modi vor: Lilys Anspielung auf Ahab erweist sich zunächst als schlichtes refer to, was durch den ‚intentionalen Gebrauch‘ als indirekter Vergleich von Jean-Luc mit dieser Romanfigur und ihrem destruktiv-egoistischen Verhalten gleichsam in den Modus des use übergeht. Der use dieser Anspielung wird hingegen durch Jean-Lucs Zitat der Romanpassage sowie Lilys anschließenden Kommentar über ihr eigenes (‚oberflächliches‘) Prätextwissen nachgerade metareflexiv thematisiert. Für die ZuschauerInnen – seien sie nun naive oder kritische Leser – reicht in jedem Fall jenes ‚beschränkte‘ Prätextwissen aus, das Lily von Melvilles Roman besitzt, um die Anspielung in Bezug auf die Filmhandlung nachzuvollziehen. Natürlich verwundert es nicht, dass eine Anspielung wie die in STAR TREK: FIRST CONTACT sich auf einen kanonischen Klassiker der Weltliteratur beziehen muss, um auch dann ‚wirkungsvoll‘ zu sein, wenn für die ZuschauerInnen das gilt, was Lily sagt: „Actually, I never read it.“ Daran zeigt sich zugleich, dass die metonymische Struktur der Idylle letztlich für alle Medien konstitutiv ist, wie es schon Friedrich Kittler betont, da der Spielfilm in diesem Fall ein Drama zu seinem ‚Inhalt‘ macht.52 Zugleich erweist sich ein Bezug auf einen Text der sog. ‚Hochkultur‘ innerhalb eines Films aus dem Bereich des populären Unterhaltungskinos als kongruent mit der intertextuellen Anlage des Kitsches, der „ostentativ Ausdrucksweisen und Stilformen benutzt, die gemeinhin Werke auszeichnen, die als solche der Kunst anerkannt sind“.53 Gerade aufgrund eben50

51 52 53

Pfister, Manfred: „Konzepte der Intertextualität“, in: Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1–30, hier: S. 25. Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, S. 26. Vgl. Kittler, Friedrich A.: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve 2011. S. 28. Eco: „Die Struktur des schlechten Geschmacks“, S. 64.

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dieser oft als parasitär gewerteten Intertextualität ließe sich der Kitsch als „Imitationssystem“ der Kunst beschreiben.54 Auch wenn hier keine intertextuelle Bestimmung des Kitsches verhandelt werden soll, zeigen sich durch den kurzen Hinweis darauf die produktiven Anschlussmöglichkeiten des hier vorgeschlagenen Konzepts einer kulturellen Topik – denn: Kulturelle Topoi finden sich allerorts in Literatur, Film und Fernsehen. So auch in der bereits im vierten Kapitel der Arbeit besprochenen Familienserie GILMORE GIRLS. In der neunten Episode der zweiten Staffel wird gezeigt, wie Rory zusammen mit einigen MitschülerInnen eine Szene aus William Shakespeares Drama Romeo and Juliet inszeniert. Den topischen Status dieses vielleicht bekanntesten Theaterstücks der Weltliteratur bringt Sookie, die beste Freundin von Rorys Mutter Lorelai, zum Ausdruck, als sie das Wissen darüber aus ihrer intertextuellen Enzyklopädie abruft und kundtut. Dies geschieht während eines Gesprächs mit Lorelai, als diese Sookie zu Rorys Aufführung einlädt: „Oh! I’m so excited. Shakespeare: Romeo and Juliet. It’s so romantic. ‚Oh, Romeo… blah blah blah and the … blah.‘ – That’s all the Shakespeare I know.“55 Anders als die ‚einfache‘ Köchin aus der idyllischen Kleinstadt Stars Hollow hätte der distinguierte Captain des Raumschiffs Enterprise sicherlich weniger Schwierigkeiten gehabt, um sein (Prä-)Textwissen unter Beweis zu stellen. Doch auch wenn Sookie beim Zitieren scheitert, kann sie das Drama zumindest als ‚romantisch‘ kategorisieren (was auf die dargestellte Liebesgeschichte verallgemeinert zutrifft, deren tragischen Ausgang aber durchaus verfehlt) – und das ist nicht nur alles, was sie über Shakespeare weiß, sondern auch alles, was sie über eines seiner bekanntesten Stücke wissen muss, wenn darauf im intertextuellen Modus des refer to verwiesen wird,. Aus diesem Grund hätte sie auch die Anspielung auf die romantisch-tragische Liebesgeschichte um Bella und Edward verstanden, die im zweiten Teil der TWILIGHT-Reihe sowohl auf als auch durch den Bezug auf dieses Shakespeare-Drama gemacht wird. Diese Bezugnahme verleiht dem kitschigen ‚Schmachtfetzen‘ sowie ihrer Verfilmung einen ‚hochkulturellen Anstrich‘. Im Literaturunterricht wird den SchülerInnen eine Verfilmung von Romeo and Juliet gezeigt. Da Edward und Bella in der letzten Reihe in ein Gespräch vertieft sind, fordert der Lehrer den Vampirjungen auf „to repeat the last few lines“, um zu belegen, dass er dem Unterrichtsgeschehen auch wirklich gefolgt ist.56 Als belesener und hochkulturell 54

Broch, Hermann: „Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches“ [1955], in: Dorfles, Gillo (Hg.): Der Kitsch [1968], übersetzt von Birgid Mayr, Gütersloh: Prisma 1977, S. 49–66, hier: S. 62. Die ‚Bemerkungen‘ basieren auf einem Vortrag, den Broch im Winter 1950/51 am Germanistischen Seminar der Yale University gehalten hat und der 1955 im ersten Band der von Hannah Arend herausgegebenen Essays Brochs veröffentlicht wurde. 55 GILMORE GIRLS, S02/E09: „Run Away, Little Boy“, Regie: Danny Leiner, USA 2001, hier: 00:35:11. 56 Vgl. THE TWILIGHT SAGA: NEW MOON, Regie: Chris Weitz, USA 2009, hier: 00:10:14.

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gebildeter Vampir ist Edward selbstverständlich in der Lage, der Aufforderung durch eine fehlerfreie Rezitation der Schlussverse des Dramas nachzukommen. Als Prätext für diesen zweiten Teil der Twilight-Reihe wird Romeo and Juliet bereits zu Anfang des Films präsentiert und zwar in Form einer Buch-Ausgabe, die auf Bellas Nachttisch liegt und neben ihr zu sehen ist, als sie schlafend in Großaufnahme gezeigt wird.57 Dabei verweist die Cover-Abbildung auf die weitere Handlung des Films, da zum einen der sandsteinerne Turm jenes Gebäudes zu sehen ist, das den Schauplatz in der italienischen Stadt markiert, wo Edward Bella vor einer Gruppe feindseliger Vampire retten muss, die ihrerseits genau jene roten Kapuzenmäntel tragen wie die Figuren, die auf dem Buchcover dargestellt sind. Ein derartig intertextuelles Verhältnis zwischen zitierendem und zitierten Text lässt sich strukturell als eines zwischen primärem und sekundärem semiotischen System bestimmen, wie es Roland Barthes in Mythen des Alltags entwickelt, weil spezifische Merkmale, die den zitierten Text kennzeichnen, im zitierenden Text modifizierend aufgegriffen und ergänzt werden.58 Dabei bleibt das Zitierte fragmentarisch erkennbar, während seine nähere Explizierung als Zitiertes keine Notwendigkeit für das Verständnis (bzw. den ‚naiven‘ Genuss) des zitierenden Textes darstellt. Am Beispiel von Edward, dem intertextuellen Enkel von Bram Stokers Romanfigur Dracula, ließe sich das genauso veranschaulichen wie auch der Zusammenhang zwischen materialer und kultureller Topik:59 Während man die Vampir-Figur generell als einen materialen Topos begreifen kann, der in diversen literarischen, filmischen und televisiven Texten konkretisiert wird, erscheint Stokers Dracula aufgrund seiner Bekanntheit, die unabhängig von einer Lektüre des Romans besteht, als ein kultureller Topos, der seinerseits die Folie bildet für die zahlreichen Vampirdarstellungen in Literatur, Film und Fernsehen – doch sind dies Überlegungen, die sich zwar aus der hier vorgelegten medienästhetischen Untersuchung des materialen Topos ergeben, aber jenseits der Idylle liegen.

57

Vgl. THE TWILIGHT SAGA: NEW MOON, 00:03:00. Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags [1957], übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964. 59 Vgl. Jablonski, Nils: „Deconstructing Dracula: The Vampire as Semiotic Body in Stephenie Meyer’s Twilight“, in: Lötscher, Christine u.a. (Hgg.): Transitions and Dissolving Boundaries in the Fantastic, Münster u.a.: Lit 2014, S. 167–178. 58

Quellen

Der nachfolgende Apparat listet die benutzten Quellen mit einer vollständigen bibliographischen Angabe, wie sie jeweils bereits bei der ersten Nennung im Haupttext gemacht wurde. Die weitere Systematik unterscheidet Primär- von Sekundärquellen, wobei die ersten nochmals hinsichtlich literarischer, filmischer, televisiver und sonstiger Texte differenziert sind. Bei mehreren Titeln einer Autorin/eines Autors erfolgt die Auflistung im Bereich der Primärliteratur in alphabethischer, im Bereich der Sekundärliteratur in chronologisch aufsteigender Reihenfolge.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Jablonski, Idylle, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04937-7

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SLEEPLESS IN SEATTLE [SCHLAFLOS IN SEATTLE], Regie: Nora Ephron, USA 1993. STAR TREK: FIRST CONTACT, Regie: Jonathan Frakes, USA 1996. THE ARRIVAL OF A TRAIN AT LA CIATOT, Regie: Louis Lumière, F 1897. THE BEACH, Regie: Danny Boyle, USA/GB 2000. THE DARK KNIGHT, Regie: Christopher Nolan, USA/GB 2008. THE DARK KNIGHT RISES, Regie: Christopher Nolan, USA/GB 2012. THE SHINING, Regie: Stanley Kubrick, USA 1980. THE TWILIGHT SAGA: NEW MOON, Regie: Chris Weitz, USA 2009. TITANIC, Regie: James Cameron, USA 1997.

Fernsehen ADAM SUCHT EVA, 4 Staffeln/27 Episoden, D 2014–, RTL. AMERICAN HORROR STORY, Staffel 4: FREAK SHOW, 13 Episoden, USA 2014. DAS TRAUMHOTEL, 1 Staffel/20 Episoden, D/A 2004–2014, ARD. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 1, Regie: Fritz Umgelter, Erstausstrahlung: 22.11.1981, ZDF.

—, Episode 3, Regie: Fritz Umgelter, Erstausstrahlung: 6.12.1981, ZDF. —, Episode 4, Regie: Fritz Umgelter, Erstausstrahlung: 20.12.1981, ZDF. —, Episode 28: „Singapur“, Regie: Karola Meeder, Erstausstrahlung: 26.12.1996, ZDF. —, Episode 43: „Thailand“, Regie: Michael Steinke, Erstausstrahlung: 26.12.2002, ZDF.

Primärtexte —, Episode 46: „Australien“, Regie: Michael Steinke, Erstausstrahlung: 1.1.2004, ZDF. —, Episode 47: „Sri Lanka“, Regie: Karola Meeder, Erstausstrahlung: 11.1.2004, ZDF. —, Episode 51: „Myanmar“, Regie: Michael Steinke, Erstausstrahlung: 26.12.2005, ZDF. —, Episode 54: „Shanghai“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung; 1.1.2007, ZDF. —, Episode 56: „Rio de Janeiro“, Regie: Stefan Bartmann, Erstausstrahlung: 1.1.2008, ZDF. —, Episode 58: „Vietnam“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 26.12.2008. —, Episode 61: „Vereinigte Arabische Emirate“, Regie: Karola Meeder, Erstausstrahlung: 26.12.2009, ZDF. —, Episode 65: „New York, Savannah und Salvador de Bahia“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 5.11.2011, ZDF. —, Episode 66: „Kambodscha“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 26.12.2011, ZDF. —, Episode 66: „Kambodscha“, Regie: Hans-Jürgen Tögel , Erstausstrahlung: 26.12.2011, ZDF. —, Episode 79: „Uruguay“, Regie: Stefan Bartmann, Erstausstrahlung: 26.12.2017, ZDF. —, Episode 80: „Los Angeles“, Regie: Stefan Bartmann, Erstausstrahlung: 1.1.2018, ZDF. DESPERATE HOUSEWIVES, 8 Staffeln/180 Episoden, USA 2004–2012, Touchstone/ABC. DIE MÄRCHENBRAUT [ARABELLA], 13 Episoden, CZE 1979, dt.e Erstausstrahlung: 1981, ARD. DIE SCHWARZWALDKLINIK, 3 Staffeln/73 Episoden, D 1985–1989, ZDF. GILMORE GIRLS, S01/E01: „Pilot“, Regie: Leslie Linker Glatter, USA 2000. —, S01/E19: „Emily in Wonderland“, Regie: Perry Lang, USA 2001. —, S02/E05: „Nick & Nora/Sid & Nancy“, Regie: Michael Katleman, USA 2001. —, S02/E08: „The Ins & Outs of Inns“, Regie: Michael Katleman, USA 2001. —, S02/E09: „Run Away, Little Boy“, Regie: Danny Leiner, USA 2001. —, S03/E13: „Dear Emily and Richard“, Regie: Gail Mancuso, USA 2003. —, S05/E03: „Written in the Stars“, Regie: Kenneth Ortega, USA 2004. —, S07/E21: „Unto the Beach“, Regie: Lee Shallat Chemel, USA 2007. —, S07/E22: „Bon Voyage“, Regie: Lee Shallat Chemel, USA 2007.

501 —: A YEAR IN THE LIFE, 4 Episoden, USA 2016, Netflix. HANS IM GLÜCK AUS HERNE 2, 7 Episoden, Regie: Roland Gall, D 1983, ZDF HOUSE OF CARDS, S05/E08: „Chapter 60“, Regie: Roxann Dawson, USA 2017. KLINIK UNTER PALMEN, 8 Staffeln/23 Doppelepisoden, D 1996–2003, ARD. KREUZFAHRT INS GLÜCK, Episode 21: „Hochzeitsreise in die Türkei“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 01.01.2015, ZDF. —, Episode 26: „Hochzeitsreise nach Sardinien“, Regie: Christoph Klünker, Erstausstrahlung: 26.12.2017. ONCE UPON A TIME, S01/E06: „The Shepherd“, Regie: Victor Nelli, USA 2011. —, S03/E12: „New York City Serenade“, Regie: Billy Gierhart, USA 2014. STAR TREK: VOYAGER, S01/E01: „Caretaker“, Regie: Winrich Kolbe, USA 1995. —, S02/E04: „Elogium“, Regie: Winrich Kolbe, USA 1995. —, S04/E03: „The Gift“, Regie: Anson Williams, USA 1997. —, S04/E21: „The Omega Directive“, Regie: Victor Lobl, USA 1997. —, S05/E10: „Counterpoint“, Regie: Les Landau, USA 1998. —, S06/E26: „Unimatrix Zero, Part I“, Regie: Alan Kroeker, USA 2000. —, S07/E01: „Unimatrix Zero, Part II“, Regie: Mike Vejar, USA 2000. —, S07/E18: „Human Error“, Regie: Allan Kroeker, USA 2001. —, S07/E23: „Homestead“, Regie: LeVar Burton, USA 2001. STERNE DES SÜDENS, 4 Staffeln/42 Episoden, D 1992–1996, ARD. THE LOVE BOAT, 10 Staffeln/220 Episoden, USA 1977–1987, ABC. THE NANNY, S03/E01: „The Pan Pal“, Regie: Dorothy Lyman, Erstausstrahlung USA: 11. September 1995, CBS/Erstausstrahlung Deutschland: 23. November 1996, RTL. TRUE BLOOD, S01/E01: „Strange Love“, Regie: Alan Ball, USA 2008. —, S01/E02: „The First Taste“, Regie: Scott Winant, USA 2008. —, S01/E09: „Plaisir d’amour“, Regie: Anthony M. Hemingway, USA 2008.

502 —, S01/E11: „To Love Is To Bury“, Regie: Nancy Oliver, USA 2008. —, S02/E12: „Beyond Here Lies Nothin’“, Regie: Michael Cuesta, USA 2009.

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516 —: „Die ambulante Aufzeichnungsszene“, in: zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaft (3) 2010, S. 84–93. —: „Redundanz, Reminiszenz und Rätsel – Bildwiederholungen in Fernsehserien. Breaking Bad und NCSI generativ betrachtet“, in: Parr, Rolf/Wesche, Jörg/Basterst, Bernd/Dauvenvan Kippenberg, Carla (Hgg.): Wiederholen/Wiederholung, Heidelberg: Synchron 2015, S. 195– 215. Tismar, Jens: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, München: Hanser 1973. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur [1970], übersetzt von Karin Kertsen, Senta Metz und Caroline Neubaur, Frankfurt a.M.: Fischer 1992. Tolan, Metin: Titanic. Mit Physik in den Untergang, München/Zürich: Piper 2001. Tschudi, Aegidius: Chronicon Helveticum (Erster Theil), hrsg. von Johann Rudolff Iselin, Basel: Hans Jacob Bischoff 1734. Tucholsky, Kurt: „Was darf die Satire?“ [1919], in: ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden, hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Bd. II: 1919–1920, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 42–44. Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode [1986], Stuttgart/Weimar: Metzler 42005. Ueding, Gert: „Rhetorik des Kitsches“, in: Schulte-Sasse, Jochen (Hg.): Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Theorie, Geschichte und Einzelinterpretationen, Tübingen: Niemeyer 1979, S. 65–88. —: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen: Niemeyer 1971. Ugolini, Gherardo: Stichwort ‚Philogica‘ [übersetzt von Renate Müller-Buck], in: NietzscheHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 157–168. Uz, Johann Peter: Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn, Leipzig: Johann Gottfried Dyck 1760. Veit, Walter: „Zur Toposforschung“ [1963], in: Jehn, Peter (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 74–89. Veyne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft [1983], übersetzt von Markus May, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.

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518 Seewald, Jörg Michael: „Unterhaltungsdampfer gerät in Seenot“, in: faz.net 01.01.2014, (15.07.2017). Spoerr, Kathrin: „Frauenheld geht wieder an Bord. Auf dem Traumschiff hat nun ein Ex-Steward das Kommando: Sascha Hehn.“, in: welt.de 11.10.2012, (15.07.2017). Utfeld, Anja/Hanf, Stefan: Traumurlaub Kreuzfahrt. Sonnendeck mit Schattenseiten, Erstausstrahlung: 01.05.2017, ZDF. V., K.: „Mehr Plätze auf dem Meer“, in: Die Zeit 48 (1982), 26.11.1982, (15.07.2017).

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THE NANNY, S03/E01: „The Pan Pal“, Regie: Dorothy Lyman, USA 1995, 00:02:34. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 1, Regie: Fritz Umgelter, Erstausstrahlung: 22.11.1981, ZDF, 00:00:01. —, 00:00:13. —, 00:00:30. —, 00:00:35. —, 00:00:53. —, 00:00:55 (Ausschnitt). DAS TRAUMSCHIFF, Episode 65: „New York, Savannah und Salvador de Bahia“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 5.11.2011, ZDF, 01:34:54. —, 01:34:56. —, 01:35:04. —, 01:35:10. —, 01:35:11. —, 01:20:50. —, 01:20:54. —, 00:00:03. —, 00:00:10. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 51: „Myanmar“, Regie: Michael Steinke, Erstausstrahlung: 26.12.2005, ZDF, 00:03:56. —, 00:03:57. —, 00:30:53. —, 00:30:54. —, 00:34:08.

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—, 00:34:22. —, 00:34:56. —, 00:49:27. —, 01:24:49. —, 01:25:55. —, 01:26:02. —, 01:26:30. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 4, Regie: Fritz Umgelter, Erstausstrahlung: 20.12.1981, ZDF, 00:35:37. —, 00:35:31. —, 00:35:31. DAS TRAUMSCHIFF, Episode 65: „New York, Savannah und Salvador de Bahia“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 5.11.2011, ZDF, 01:19:06. KREUZFAHRT INS GLÜCK, Episode 21: „Hochzeitsreise in die Türkei“, Regie: HansJürgen Tögel, Erstausstrahlung: 1.1.2015, ZDF, 00:37:18. —, 00:37:19. AMARCORD, Regie: Federico Fellini, IT/F 1973, 00:20:21. NOTTING HILL, Regie: Roger Michell, USA/ GB 1999, 00:47:02. —, 00:48:30. —, 00:49:06. —, 00:49:27. —, 00:49:31.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 N. Jablonski, Idylle, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04937-7

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—, 00:49:42. —, 00:50:08. —, 01:59:50. —, 01:09:43. —, 01:11:35. —, 01:12:45. —, 01:29:22. STAR TREK: VOYAGER, S06/E26: „Unimatrix Zero, Part I“, Regie: Alan Kroeker, USA 2000, 00:12:26. TITANIC, Regie: James Cameron, USA 1997, 00:23:42. —, 01:10:29. —, 01:05:24. —, 01:10:19. TRUE BLOOD, S01/E01: „Strange Love“, Regie: Alan Ball, USA 2008, 00:36:42. —, 00:39:16. TRUE BLOOD, S01/E02: „The First Taste“, Regie: Scott Winant, USA 2008, 00:19:59. —, 00:06:38. TRUE BLOOD, S01/E09: „Plaisir d’amour“, Regie: Anthony M. Hemingway, USA 2008, 00:13:07.

Anhang 58 —, 00:13:11. 59 TRUE BLOOD, S01/E11: „To Love Is To Bury“, Regie: Nancy Oliver, USA 2008, 00:38:04. 60 HERBSTROMANZE, Regie: Jürgen Enz, BRD 1980, 00:05:52. 61 —, 00:52:48. 62 —, 00:34:54. 63 —, 00:34:59. 64 —, 00:34:56. 65 —, 00:37:05. 66 DAS TRAUMSCHIFF, Episode 65: „New York, Savannah und Salvador de Bahia“, Regie: Hans-Jürgen Tögel, Erstausstrahlung: 5.11.2011, ZDF, 00:25:09. 67 —, 00:25:16. 68 —, 00:25:34. 69 —, 00:25:35. 70 —, 00:25:36. 71 DAS TRAUMSCHIFF, Episode 80: „Los Angeles“, Regie: Stefan Bartmann, Erstausstrahlung: 1.1.2018, ZDF, 00:30:58. 72 TITANIC, Regie: James Cameron, USA 1997, 00:32:56.

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