Identitäten im Verlauf des Lebens 9783666453212, 9783525453216

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Identitäten im Verlauf des Lebens
 9783666453212, 9783525453216

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Jçrg Wiesse / Peter Joraschky (Hg.)

Identita¨ten im Verlauf des Lebens Handeln und Behandeln Sterbenskranker

Mit 5 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber abrufbar. ISBN 978-3-525-45321-6 ’ 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages çffentlich zugnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: l Hubert & Co, Gçttingen Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier.

Inhalt

Vorwort von Jçrg Wiesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Identitten in den Phasen des Lebens _________________

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Dieter Brgin: Identitt und frhe Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vera King: Identittssuche und Generationendynamiken in der Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eva Jaeggi: Wohin geht die Reise? Identitt in den mittleren Lebensjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eike Hinze: Identitt im Alter – eine Fata Morgana? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karin Pçhlmann / Peter Joraschky: Berufliche Identitt aus der Sicht der Persçnlichkeitspsychologie und der Psychoanalyse . . . . . . . . .

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Identitt in der Kultur _____________________________ 103 Gnter Gçdde: Freiheit versus Bindung – ein generationelles »Identittsthema« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

6 Ute Marie Metje: Vom kollektiven Bezugssystem zur interaktiven Ressource. Kulturelle Identitt aus Perspektive der Kulturwissenschaft

Inhalt

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Friedhelm Krçll: Identittsspiele. Thomas Mann: »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Jçrg Wiesse: Epilog: Identitt in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Vorwort

»dass, selbst, wenn alle mçglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berhrt wurden« Ludwig Wittgenstein, Traktatus logico-philosophicus (1922)

Die Phasen der Lebenslufe sind uns wohlvertraut, sie gehen weit ber Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexual-Theorie« hinaus, wir sprechen vom Lebenslauf von Eltern-Kind-Beziehungen, vom Lebenslauf von Ehen und Paarbeziehungen, von Institutionen und Theorien, sie alle entwickeln sich von einem Anfang zu einem Ende. Doch wie ist es mit den Identitten des Individuums im Verlauf des Lebens? – gibt es doch eine Sehnsucht in uns, sich immer gleich zu sein, eine sichere lebenslange Identitt zu haben, eine wahre Identitt, wie die Gçtter in den Mythen der Antike. Es ist ein Bedrfnis nach Sicherheit und auch nach Zusammengehçrigkeit, das fr alle Zeit befriedigt sein soll. Die Wahrheit sieht vçllig anders aus, wie immer, wenn Ich-Ideale an den tatschlichen Mçglichkeiten des Ich gemessen werden oder wenn sich Phantasmen der Realitt stellen mssen. Die Vorstellung, dass es in der Identitt eine immerwhrende Einheit mit uns selbst und der uns umgebenden Umwelt gibt, steht ganz im Gegensatz zur Einsicht, dass Selbstverwirklichung und individuelle Weiterentwicklung nur dann mçglich werden, wenn eben diese Sehnsucht nach infantiler Einheit berwunden ist. In immerwhrender Kompromissen und Vernderungen ist

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Vorwort

unsere Einheit, unsere Identitt einem unaufhçrlichen Wandel unterworfen. Identitt stellt, wie Werner Bohleber in »Adoleszenz und Identitt« (1996) schreibt, die Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Erwartungen an den Einzelnen und dessen psychische Einzigartigkeit dar, sie ist das Ergebnis von Vermittlung und Balance zwischen beiden Seiten. Identitt als Begriff zu fassen, ist nicht einfach, leicht verliert er sich zwischen philosophischen, ethnologischen, psychologischen, psychoanalytischen und kulturkritischen Theorien, wohl auch, weil das Gefhl von Identitt die begriffliche Definition so erschwert; auch die zwiespltige Stellung der Identitt zwischen ußerer und innerer Realitt, einer Vermischung des Inneren mit dem ußeren, hnlich dem intermedialen Raum bei Donald W. Winnicott, erschwert die Klrung. So vertraut uns der Begriff der Identitt, verknpft mit dem Gefhl, ist, so nahe, wie wir ihn empfinden, so fern, beinahe beliebig wird er, wenn wir seine Komplexitt verstehen mçchten. Schon vor mehreren Jahren erschien ein von mir herausgegebener Band zum Thema »Identitt und Einsamkeit« (Wiesse, 2000). Er enthlt Arbeiten ber Aspekte der Einsamkeit und der Objektbeziehung, ber Narzissmus, Scham und Depression, ber Sexualitt und geschlechtsspezifische Probleme. Der vorliegende Band enthlt neue psychoanalytische, psychologische, generationelle, kulturtheoretische, literarische und soziologische Erkenntnisse und Perspektiven und trgt dazu bei, die vielfltigen Facetten des Identittsbegriffs umfassender zu verstehen. In seinem Beitrag »Identitt und frhe Kindheit« meint Dieter Brgin, dass Suglinge sich dadurch wahrnehmen, dass sie vom Erwachsenen mit einer ausgebildeten Identitt wahrgenommen wrden. Sie blicken – innen und außen ist noch nicht getrennt – in das Gesicht der Betreuenden, die sich als Individuen mit eigener Historie und als Mitglieder einer speziellen Kultur und sozialen Schicht begreifen. So entstehen im Kind Vertrauen in sich selbst, die Kristallisation der Identitt und das allmhliche Wissen, wer es ist. Whrend Brgin einen Rckblick auf das eigene Gewordensein des Lesers bietet, so fhren Vera Kings berlegungen in »Identi-

Vorwort

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ttssuche und Generationendynamiken« nher zur Geschichte des erwachsenen Lesers und seiner eigenen Adoleszenz, wenn sie ber die Trennung als Entwicklungsaufgabe und Infragestellung des Bestehenden im Generationenverhltnis schreibt und der Dialektik von Generativitt und Individuation nachgeht. In unserer Zeit werden adoleszente Mçglichkeitsrume von Erwachsenen besetzt, die Mhe haben, den Jugendlichen fr die Identittsarbeit zur Verfgung zu stehen. Mit Eva Jaeggis Bemhungen um die »Identitt in den mittleren Lebensjahren« rckt das Thema, beunruhigend und beruhigend zugleich, in das Leben des Lesers. Sie meint, dass es den durchschnittlichen Erwachsenenlebenslauf nicht mehr gebe und die alte Zuordnung fr den Einzelnen zu ungewiss sei und viele Menschen sich wunderten, schon so alt zu sein. Identitt sei nichts Gewachsenes, sondern ein Prozessgeschehen, bestimmt durch signifikante Andere. Viele Lebensthemen, so meint Jaeggi, sind unsicher geworden in gebrochenen und vernderten Lebenslufen. Kritisch greift sie Begriffe wie Dezentralisierung von Identitt und immerwhrende Pubertt auf. Mit der Identitt im Alter befasst sich Eike Hinze und damit mit dem ngstigenden Thema, wie man diesen letzten Lebensabschnitt bewltigen wird, biologisch und psychisch, welche Identitten hilfreich sein kçnnen und wie das Ende sein wird. Es klingt verstndlich, wenn ltere sich um zehn Jahre jnger fhlen. Hinze schreibt ber Weisheit, Sehnsucht und die Verleugnung alterstypischer Krnkungen und er meint, das Idealbild des an Weisheit und Erfahrung zunehmenden Alters sei eine Fata Morgana. Hoffnungsvoll fr die Psychotherapie kçnne die Wiederbelebung der Adoleszenz bei lteren Patienten sein. Mit der beruflichen Identitt setzen sich Karin Pçhlmann und Peter Joraschky auseinander. Fr den Leser erçffnet sich in ihren berlegungen die Mçglichkeit, der Bedeutung des Berufs in der eigenen individuellen Biographie nachzugehen – war beziehungsweise ist der Beruf eher Job oder Berufung oder Karriere, sind berufliche Identittsideale erfllt oder enttuscht worden? Bei der Identitt von Psychotherapeuten und Psychoanalytikern finden sich in der Kindheit nicht selten Parentifizierungen, lteste oder

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Vorwort

jngste Geschwisterposition und das berwinden von Belastungen und Traumata, die das Interesse an anderen, Fhigkeit zur Empathie und Wiedergutmachungswnsche verstndlich erscheinen lassen. Eine eher reflektierende Position, gleichsam die des Dritten, in der Betrachtung des Themas ermçglichen die Arbeiten von Gnter Gçdde, Ute Marie Metje und Friedhelm Krçll. Gnter Gçdde stellt in seiner Arbeit »Freiheit versus Bindung« die Frage nach der generationellen Identitt. So greift er das Thema der Freiheit in der Jugendbewegung (1900 bis 1920er Jahre, das Bindungs- und Hingabebedrfnis der politischen Jugend (1920er bis Ende der NS-Zeit), die ideologisch-politische Abwehrhaltung der so genannten skeptischen Generation (nach 1945), die Politisierung und Ideologisierung der Studentenbewegung und die alternative Kultur der 1980er-Generation auf und kommt zum Schluss, Polaritt von Freiheit und Bindung sei ein kollektives Identittsproblem in allen Generationen. Freiheit der Entscheidung im Werk von Alfred Andersch wird fr Gnter Gçdde zum wichtigen Hintergrund fr das Verstndnis der Identittsthemen der 68er. Ute Marie Metje geht der kulturellen Identitt aus der Perspektive der Kulturwissenschaft nach. Unter dem Aspekt des symbolischen Interaktionismus und der Performancetherorie beschftigt sie sich mit der kulturellen Identitt in der matrilinearen-islamischen Gesellschaft der Minangkabau in West-Sumatra. Sie kommt zu dem Schluss, dass Nation, Ethnizitt, Religion und Geschlecht identittstiftende Ressourcen sind. Ergebnis von Metjes Untersuchung ist, dass kulturelle Identitt ein Konglomerat sozialer Identitten ist und Kultur und Identitt immer wieder verhandelt, geformt und prsentiert werden. Die Literatur, selbst wichtige Quelle der Identitt fr den sogenannten »Gebildeten«, wer auch immer sich dieser Schicht zugehçrig fhlen mag, ist Verstndnisagens in Friedhelm Krçlls berlegungen ber »Identittsspiele« anhand Thomas Manns Roman »Bekenntnisse des Hochstaplers Felilx Krull«. Eingehend befasst sich Krçll mit dem Identischen im Nichtidentischen, wenn sich der Protagonist vom charmanten Kellner zum inspirierten Mar-

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quis wandelt oder wenn in Freuds Traumdeutung das Verschlingen und Vertauschen, das Identische des Nichtidentischen von Wçrtern und Namen so faszinierend beschrieben ist. Krçll kommt im Studium von Thomas Manns Roman zu dem Schluss: Die reifste Identitt ist die, die nicht Opfer ihrer selbst wird und die Fhigkeit zu distanzierender Empathie und spielerischer Selbstironie behlt. Jçrg Wiesse

Literatur Bohleber, W. (1996). Adoleszenz und Identitt. Stuttgart: Klett-Cotta. Mann, T. (1954). Bekenntnisse des Hochstaplers Felilx Krull. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Wiesse, J. (2000). Identitt und Einsamkeit. Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Identita¨ten in den Phasen des Lebens

Dieter Brgin

Identitt und frhe Kindheit

Anmerkungen zur Identita¨t Als Identittsgefhl wird ein subjektives Gefhl einer bekrftigenden Gleichheit und Kontinuitt bezeichnet (Erikson, 1959). Sigmund Freud (1921) verwandte den Begriff der Identitt kaum, sprach aber von einem »Einheitlichkeitsstreben« des Ich. »Im Forschritt der Entwicklung vom Kind zum reifen Erwachsenen kommt es berhaupt zu einer immer weiter greifenden Integration der Persçnlichkeit, zu einer Zusammenfassung der einzelnen, unabhngig von einander in ihr gewachsenen Triebregungen und Zielstrebungen« (S. 85). »Das Ich ist eine Organisation, ausgezeichnet durch ein sehr merkwrdiges Streben nach Vereinheitlichung, nach Synthese« (Freud, 1926, S. 223). Erik H. Erikson verwendete den Begriff der Identitt speziell zur Beschreibung der Einbindung des Menschen in seine jeweilige kulturelle Umgebung, das heißt der unlçsbaren Verbundenheit von intrapsychisch-persçnlicher und interpersonell-sozialer Entwicklung. Das Gefhl, innerlich auf der Zeitachse mit sich selbst gleich zu sein, also ber eine Eigenkontinuitt zu verfgen, und die Erfahrung, dass andere diese Gleichheit und Kontinuitt auch wahrnehmen, werden – als zwei beinahe gegenlufige Wahrnehmungen – vom Begriff der persçnlichen Identitt umfasst. Identittsbildung als Zusammenfhrung und grçßtmçgliche Integration aller bisherigen Identifizierungen erfolgt durch die synthetischen Funktionen des Ich. Bereits 1934 wies Mead darauf hin, dass die Persçnlichkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen reift und dass Identitt auf

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Identitten in den Phasen des Lebens

der reflexiven Fhigkeit des Subjekts, das heisst auf dem Vermçgen beruht, fr sich selbst zum Objekt zu werden (Mentalisierung umfasst im weitesten Sinne auch diesen selbstreflexiven Vorgang) und das I, die Instanz fr Spontaneitt, mit dem ME, der Summe ußerer Erwartungen, zu verknpfen. Als Identifizierung oder Identifikation wird ein Vorgang umschrieben, durch den das Subjekt einen Aspekt, eine Eigenschaft oder ein Attribut eines anderen assimiliert und sich vollstndig oder teilweise nach dem Vorbild des anderen umwandelt. Das Subjekt konstituiert sich auf diese Weise. Es handelt sich um eine Aneignung auf Grund hnlicher Ansprche, drckt ein »gleich wie« aus und bezieht sich auf ein im Un- beziehungsweise Vorbewussten verankertes, phantasmatisches Gemeinsames. Die Identifizierung beschreibt somit den Akt, durch den ein Individuum mit einem anderen identisch wird, sie vollzieht sich an Personen oder Zgen einer Person und kann vollstndig oder partiell sein. Die primre Identifizierung ist eine primitive Form der Subjektbildung, nmlich diese, sich dem Vorbild eines anderen im Modus der oralen Einverleibung anzugleichen. Es handelt sich um die ursprnglichste Form der Gefhlsbindung an ein Objekt. Whrend der prgenitalen Entwicklungszeit stellt die Identifizierung eine Form der affektiven Bindung an das Objekt dar. Spter wird sie zum regressiven Substitut einer aufgegebenen Objektwahl. Introjektion, Identifizierung und Identittsbildung kçnnen als Stufen verstanden werden, mittels welcher das Ich in ein immer reiferes Wechselspiel mit den ihm in der Außenwelt zur Verfgung stehenden Modellen hineingert. Die Identittsbildung fngt dort an, wo die Brauchbarkeit der Identifizierungen aufhçrt. Der Terminus Identifizierung mit dem Angreifer beschreibt einen unbewusst ablaufenden Abwehrmechanismus (A. Freud, 1936). Das Subjekt imitiert die Person des Angreifers physisch oder moralisch, verhlt sich wie diese oder eignet sich bestimmte Machtsymbole an, die den Angreifer kennzeichnen. Es kommt zur Rollenvertauschung: Der Angegriffene macht sich zum Aggressor, der introjiziert wird, wahrend die angegriffene Person nach außen projiziert wird. Erst in einem zweiten Schritt wird die ganze Bezie-

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hung verinnerlicht und dann auch die Aggression nach innen gewendet. Identittsbildung erfolgt auf allen Ebenen des seelischen Funktionierens. Der Einzelne beurteilt sich im Lichte dessen, wie er glaubt wahrzunehmen, dass andere ihn im Vergleich zu sich selbst wahrnehmen. Sie erfolgt weitgehend unbewusst, unterliegt einer zunehmenden Differenzierung und tritt als eine sich entfaltende Gestaltung in Erscheinung, die konstitutionelle Gegebenheiten, persçnliche Grundbedrfnisse, bevorzugte Fhigkeiten, ausgebildete Phantasieszenarien, wichtige Identifizierungen, erfolgreiche Abwehrmechanismen, wirksame Sublimierungen und die bernahme zentraler Rollen zu integrieren versucht. Persçnliches Wachstum kann somit nicht vom Wandel der Gemeinschaft getrennt werden. Der komplexe Begriff der Identitt umschreibt ein konstantes Wechselspiel zwischen dem Psychologischen, dem Sozialen, dem Entwicklungsmßigen und dem Historischen. Umfasst die Ich-Identitt die Integration verschiedener Selbstreprsentanzen in eine einheitliche Selbstreprsentanz (Kernberg, 1976), so entspricht diese einem Prozess und nicht einem einmaligen Ereignis und setzt eine klare Trennung von Selbst- und Objektreprsentanzen voraus. Damit diese zustande kommen kann bedarf es einer gewissen Aggressivitt und Rivalitt (Jacobson, 1964). Gerade die Ich-Identitt erleichtert es dem Ich, die Andersartigkeit der Außenwelt und die der verschiedenen Objekte auszuhalten (Modell, 1968, 1975). Innere Einheit und Kontinuitt kann aber nur aufrechterhalten werden, wenn diese auch in den Augen der bedeutungsvollen Anderen bestehen bleiben. Die eigene Identitt als ein Beziehungsgleichgewicht muss deshalb als ein nie abgeschlossenes psychisches Konstrukt betrachtet werden, das in einem kontinuierlichen und anhaltenden Abgleich innerer Ablufe mit ußeren Prozessen besteht. Geht man von einem kleinianischen Konzept (Hinshelwood, 1997) aus, in dem Selbstanteile, aufgrund des Mechanismus der projektiven Identifikation, als ber die Grenzen der Selbstreprsentanz verstreut konzipiert werden und damit gleichsam in anderen Menschen stecken, so gestaltet – nach der Ausformung einer inneren Fhigkeit, als lebendes Behltnis zu funktionieren – deren

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Containment und Holding die Identitt des Subjekts mit. Eine durchschnittlich gute Identitt entspricht damit einer weitgehend offenen selbstreflexiven Haltung, die ihre Anflligkeit fr Projektionen und Spaltungen mit einbezieht. Jede bedeutungsvolle soziale Gruppe ist durch ein kollektives Identittsgefhl charakterisiert. In Zeiten der Vernderung unterscheidet sich eine Generation so sehr von der andern, dass zuvor Stabilitt und Orientierung vermittelnde Traditionen oft zu Stçrungen werden. Sowohl die Eltern als auch die Kinder werden immer wieder verwirrt und verunsichert. Identitt ist eine der Arten, wie eine Gesellschaftsform die Struktur der Innenwelt eines Individuums und seiner Familie mitbestimmt. Die Kindererziehung, welche die Identittsbildung mit beeinflusst, wird durch die individuelle und die Gruppenidentitt der Eltern mitgestaltet. Angemessene Erziehung hat zum Ziel, zu einer »Ich-Identitt, die Kraft aus den sich verndernden historischen Bedingungen bezieht«, zu fhren (Erikson, 1959/1976, S. 71). Die dauerhafte Neigung, trotz allen Widrigkeiten, Abhngigkeiten und Unvernderlichkeiten, an die Erfllung der eigenen Bedrfnisse zu glauben – ein Zustand, der auch mit dem Terminus Hoffnung verbunden wird –, kennzeichnet die Fhigkeit zu knftigem Identittszuwachs. Der rasche gesellschaftliche Wandel und die Bewegung von einer Gesellschaftsform in die andere werden schnell als Bedrohung der eigenen wie auch der kulturellen Identitt empfunden. Beim heutigen Gefhl eines globalen Zusammenfließens stellt sich auch die Frage, ob sich eine alles umspannende, universale Identitt (und damit Ethik) ausbilden wird. Sozialwissenschaftlich gesehen wird Identitt zu einem lebenslangen Unternehmen, das große situative Unterschiede erkennen lsst. Bieten die jeweiligen gesellschaftlichen Konstellationen nur Unverbindlichkeit, Indifferenz und dabei keine Zukunftsperspektiven mehr an, dann kann eine gewisse Identittsdiffusion, insbesondere bei Jugendlichen, einem kulturell angepassten Zustand entsprechen (Keupp u. Hçfer, 1998). Allerdings besteht hierbei die Gefahr einer protrahierten Adoleszenz, die als Dauerzustand

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nur noch die Identitt offen hlt und keine Festlegung mehr zulsst. Flexibilitt ist dann wichtiger geworden als Identifizierung und Identitt. Flexibilitt, das heißt die Fhigkeit, sich an andere Interaktionsformen oder Kontexte anzupassen, ohne die eigene Identitt zu verleugnen oder zu verlieren, sowie Empathie und Neugierde fr das Andere, Fremde, sind in heißen, das heißt sich schnell wandelnden technologischen Gesellschaften, unabdingbare und notwendige Voraussetzungen fr das berleben geworden (Brgin, 2002). Identitt ist also nie etwas Statisches, Unvernderliches. Viele Identittskonflikte und mehr oder weniger maligne Identittsverwirrungen sind unbewusst. Identittsbildung ist auch ein Generationenproblem. Gewisse Identittsbildungen verlaufen rebellisch, provokativ und werden aktiv in der Auseinandersetzung gesucht. Eine alterspezifische ethische Fhigkeit drfte eines der zentralen Kriterien der Identitt sein. Identitt vermittelt eine Verankerung im Hier und Jetzt. Das Gefhl einer inneren Identitt entspricht einer Ganzheitserfahrung mit fortschreitender Kontinuitt zwischen dem, was war, und dem, was werden wird, das heißt zwischen Vergangenheit und antizipierter Zukunft. Als individuelle Identitt kçnnen wir die Summe aller aufeinander folgenden Identifikationen aus der frhen Kindheit bezeichnen, aus der Zeit also, in der das Kind sich nichts dringender wnschte, als so zu werden und zu sein, wie die großen Personen, von denen es abhngig gewesen ist. Die persçnliche Identitt fußt auf der Wahrnehmung der Selbstgleichheit und der Kontinuitt der eigenen Existenz in Zeit und Raum sowie auf der Tatsache, dass andere diese Gleichheit und Kontinuitt anerkennen kçnnen. Ich-Identitt ermçglicht dem Ich, sich in einer sozialen Wirklichkeit zu entwickeln, befhigt es, erfolgreiche Schritte in Richtung einer kollektiven Zukunft zu tun. Sie beruht auf einem Stil der eigenen Individualitt und darauf, dass dieser Stil mit der Gleichheit und Kontinuitt, welche eigene Bedeutungen fr signifikante Andere in der unmittelbaren Gemeinschaft haben, bereinstimmt.

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Identitt enthlt eine theory of mind, die von einer Gleichheit der Innenwelt von Subjekt und Objekt ausgeht und damit Phantasien darber enthlt, wie die andere Person »funktioniert«, welcher Art die gemeinsame Beziehung ist beziehungsweise ob diese etwa die gleiche Bedeutung fr beide Protagonisten hat. Dies ist verhltnismßig einfach, wenn es sich um Grundbedrfnisse handelt wie Essen oder Schlafen, wird aber enorm kompliziert, wenn es um differenzierte Beziehungsaspekte geht. Gesellschaftliche Formen erleichtern das Zusammenleben und werden in Teilen der Kultur zusammengefasst. Die Form, in der solche (Grund-)Bedrfnisse befriedigt werden, unterliegt ethnisch geregelten Formen, deren bertretung heikle Folgen nach sich zieht, wenn nicht die Unsicherheit ber den verbindenden Kontext geregelt ist. Deklariert man sich beispielsweise im Ausland als Fremder, wird einem vieles verziehen, was berhaupt nicht der Fall wre, wenn man als zugehçriger Staatsbrger gelten wrde. Oft ist man blind fr die eigene Identitt, sei dies die historische, die persçnliche, die gesellschaftliche oder die ethnisch-kulturelle Identitt. Die intensive Nhe zu Personen, etwa Patienten, anderer kultureller Identitt nçtigt zur Reflexion ber die eigenen Wertesysteme und Identitten. Jede Entwicklungsphase erneuert die Suche nach einem frischen Gefhl von Kontinuitt und Gleichheit der Person. Das im frhen Kindheitsstadium entwickelte Bedrfnis nach Vertrauen in sich selbst und in andere sowie das nach emotionalem Austausch im zwischenmenschlichen Dialog liegt der weiterhin anhaltenden Bewegung auf Menschen und Ideen hin, an die man glauben kann, zugrunde. »Whrend der ganzen Kindheit finden versuchsweise Kristallisationen der Identitt statt, die dem Individuum das Gefhl und der Glauben verleihen (um mit dem bewussten Aspekt der Sache zu beginnen), als beginne es allmhlich zu wissen, wer es ist – nur um zu entdecken, dass diese Selbstgewissheit immer wieder Diskontinuitten der Entwicklung zum Opfer fllt« (Erikson, 1959/1976, S. 164). »Derartige Diskontinuitten kçnnen jederzeit zu einer Krise ausarten und eine entscheidende und strategische Neuprgung des Handelns erfordern« (S. 165). Es gibt normative Identittskrisen wie die Adoleszenz. Migration

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bewirkt eine artifizielle Identittskrise. Das Erleben schwerer psychischer Traumata (z. B. durch Entwurzelung, Krieg, Misshandlung etc.) hat zumeist einen akuten Identittsverlust zur Folge. Es ist in solchen Fllen durch die klinische Untersuchung zu ermitteln, wie groß die Kraft eines Individuums noch ist fr die Suche nach einer neuen, zuverlssigeren Identitt. Eine beginnende Identittsdiffusion erzeugt Angst vor Identittsverlust, vor dem Zerfall zu einem widerspruchsvollen Bndel von Identittsfragmenten. Identitt als ein bergangs- oder Zwischengebiet, das den Kern einer Person mit wesentlichen sozialen Merkmalen seiner Umwelt verbindet, ist ein Grenzbegriff, der intrapsychische mit interpersonellen Aspekten verknpft.

Die Janus-Perspektive Janus war ein rçmischer Gott. Nach einer Legende soll er zuerst ein Sterblicher aus Thessalien gewesen sein, der nach Latium kam, dort Kçnig wurde und dessen eines der Kinder Tiberinus, der Gott des Flusses Tiber war. Er soll Saturn auf dessen Flucht vor Jupiter aufgenommen und dem Land Frieden, Wohlstand und Ehrlichkeit gebracht haben. Janus habe mit Umsicht und Weisheit regiert. Spter soll er mit der Quellnymphe Iuturna einen Sohn namens Fontus oder Fons, den Gott der Quellen, gezeugt haben. Janus soll viel Kulturelles etabliert haben. Der Hgel Janiculus in Trastevere (einem Stadtteil von Rom) ist nach ihm benannt, da er ihn selbst aufgeworfen und dort geherrscht haben soll. Janus soll verhindert haben, dass Rom, nach dem Raub der Sabinerinnen, den angreifenden Sabinern anheim fiel. Denn bei der angegriffenen Porta Januaria des Janustempels, der eigentlich nur aus einem berwçlbten Durchgang mit Eingangs- und Ausgangtr bestand, durch den das Heer marschierte, wenn es in den Kampf zog, sollen damals plçtzlich heiße Schwefelquellen hervorgebrochen sein. Zur Erinnerung an diese Errettung mussten die Pforten des Janustempels, der nur aus einem Doppeltor zum Forum Romanum bestand, in Kriegszeiten stets offen stehen, damit Janus vom Volk unmittelbar um Hilfe angerufen werden konnte. Der Januskopf,

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den wir auf vielen rçmischen Mnzen finden, stellt einen zweigesichtigen Mann dar, Janus geminus oder bifrons, Sinnbild des Ja und des Nein zugleich (Abb. 1).

Abbildung 1: Mnze mit Januskopf

Die Bewegungen, fr die Janus steht, verlaufen von der Innenwelt in die Außenwelt der Innenwelt (Peter Handke) und wieder zurck in die Innenwelt der Außenwelt. Entsprechend war Janus der Gott allen Anfangs und des Endes, der Zukunft und der Vergangenheit, des Ursprungs der Dinge, der Ein- und Ausgnge, der Durchgnge, der Haustren, der Urgott schlechthin. Er galt als der Wchter der Himmelspforten und der Bewegung des Weltalls, ein Sinnbild des ffners und Verschließers des Himmels, der Beherrscher der Wolken, des Landes, der Schiffe und des Meeres. Nachdem ihm bereits der Tages- und der Jahresbeginn zugefallen waren, kamen dann auch das Licht und die Sonne unter seinen Schutz. So war er die entscheidende Figur bei allem Zweischneidigen im Leben und reprsentierte den bergang vom Primitiven zum Zivilisierten. Schließlich wurde er zum Gott allen Ursprungs,

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allen Anfangs, zum Beschtzer aller Quellen und sogar der Gçtter berhaupt. Janus bildet somit mit seiner Zweigesichtigkeit, dem einen Gesicht, das nach innen, und dem andern, das nach außen gewendet ist, die personifizierte Darstellung einer Schwellenperspektive. Die Identittsbildung mit ihrer doppelgesichtigen Bezugnahme, einerseits der Bedeutung der Entwicklung einer eigenen Innenweltlichkeit und andererseits der Unabweisbarkeit ußerer Einflsse, die zu Anpassungsvorgngen Anlass gibt, positioniert den Einzelnen auf der Schwelle zum Kollektiv, nçtigt ihn zu anhaltenden Schlaufenbewegungen zwischen diesen beiden Polen und zwingt ihn zur Einnahme multipler Perspektiven. Sie macht das Individuum, wie Janus, zu einem Quellen- und Stromwesen zugleich, das anhaltend in einem dialogischen Metabolismus steht.

Eine Fallvignette Es handelt sich um das Erstinterview eines 10-jhrigen Knaben, das auf Video aufgenommen und von einer Gruppe hinter dem Einwegspiegel mitverfolgt wurde. Er leidet an einem genetischen Defekt, der an seiner Schdelform deutlich erkennbar ist und den er mit der Mutter teilt. Wie sie wurde er in der Schule deswegen vielfach verlacht und gehnselt. Seine Entwicklung ist gekennzeichnet durch eine Verzçgerung, passagere Ernhrungsprobleme, Verhaltensstçrungen (schrilles Schreien, sich zu Boden Fallenlassen), massive Rechenprobleme bei gut durchschnittlicher Intelligenz, extreme Verletzlichkeit mit schneller, ungezielter Verweigerungshaltung, zerfahrene beraktivitt und motorische Koordinationsstçrungen. Diagnostisch wird er folgendermaßen zugeordnet: Mittelschwere Retardierung. Stçrungen des Sozialverhaltens, der Impulskontrolle, der Affekte. Ungengende Ich-Steuerung. Multiple Traumatisierungen. Angststçrungen. Der Neuropdiater diagnostiziert ein ADHS. Die Interaktion mit den Eltern, die aus dem Ausland kommen und erst seit drei Jahren in der Schweiz leben, ist schwer beein-

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trchtigt. Anhaltend kommt es beidseitig zu massiven bergriffen emotionaler Art. Der Knabe zeigt zu Beginn eine absolut wildes, hypermotorisches Verhalten. Dann lsst er sich zu Boden fallen und krabbelt umher wie ein Kind im ersten Lebensjahr. Schließlich aber lsst er sich dazu gewinnen, wieder an den Tisch zurckzukehren, und ist bereit, sich auf ein Zeichnungskritzelspiel (Squiggles nach Winnicott) einzulassen, bei dem er ruhig ber 45 Minuten am Tisch verharrt, vçllig aufs Gegenber bezogen ist und emotional tief in den Dialog eintaucht. Er zeichnet nach dem ersten Kritzel, den ich zu einem menschlichen Gesicht gestalte, das er als Monster bezeichnet, alle Zeichnungen allein. In einer großen Serie tauchen Dinosaurier auf, die gegeneinander kmpfen, denen andere Dinos als Eierdiebe die Brut stehlen. Dann folgen Vulkane und Meteoriten, die fast alles Leben auslçschen, aber die Sugetiere bekommen Platz, bis nchste Meteoriten auftreten und alles Leben von Null an wieder anfngt. In einer nchsten Serie stellt mir der Patient Rtsel, die ich lçsen soll. Ich gelange, wenn ich erfolgreich bin, in die Lçsewelt, danach in die Hilfewelt. Dort aber stoße ich auf einen Computer, den ich als elektronischen Berater mit der ffnung des geheimen Tores auch gleichzeitig zerstçre. Welche Identitten stehen bei diesem Knaben wohl im Vordergrund? Er ist der verhçhnte Behinderte, das Monster, geht den Weg anhaltenden Aufbaus und Zerstçrung, ist auf der Suche nach Lçsungen, macht Fortschritte, aber ist von roboterhafter Erstarrung bedroht. Auch fhlt er sich mçglicherweise als hirngeschdigtes Kind (mit der Diagnose ADHS). Flchtet er sich in Regressionen, in frhkindliche Zustnde, in denen die Welt noch in Ordnung schien? Er wirkt wie der Einsame, der allein vor den Rtseln der Welt steht. Wie sieht in dieser prpubertren Zeit wohl seine sexuelle Identitt aus? Kommt man nur zu Nachwuchs, indem man Eier (Kinder) stiehlt? Fhlt er sich als ein Wesen, das andere nur mit grotesken Besonderheiten auf sich aufmerksam machen kann?

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Identitt und frhe Kindheit Welche Anstze von Identittsbildung sind zu einer Zeit erkennbar, in der noch keine definitive Identitt ausgebildet worden ist? Welche Wahl von welchen Signalsystemen wird vom Kind getroffen, um sich kundzutun?

Prnatale Zeit »Das prnatal Erlebte scheint anfangs gleichsam unorganisiert und ohne przisen Inhalt zu sein, wird aber in der Folge ins Ich integriert und nachtrglich gewissermaßen interpretiert, um hochbesetzte primitive Phantasien entstehen zu lassen, die berufen sind, seine ursprnglichen Mçglichkeiten auszudrcken. Mit dieser Ausstattung kommt der Mensch auf die Welt, um sofort mit den Konsequenzen seiner Geburt konfrontiert zu werden, d. h. mit der Frustration des prnatalen Zustands« (Grunberger, 1988, Bd. II, S. 109).

Zur Ich-Entwicklung im ersten Lebensjahr Die Illusion (Winnicott), mittels der eigenen Wnsche auch gleich deren Erfllung herbeizaubern zu kçnnen, entspricht der zeitweilig trçstlichen Versicherung der Wiederherstellung von Phantasmen ber Erlebniszustnde von Omnipotenz und der Kreation von bergngen zwischen den verschiedenen existentiellen Funktionsweisen. Liebevolle Erziehung und analytische Behandlung erleichtern das Wechseln zwischen solchen Zustnden und das Aufnehmen von sorgfltigen Desillusionierungsschritten. Sie fçrdern damit auch solche bergangsbereiche. Prnatal bereits als Skizze vorhanden, bilden sich postnatal im Ich Strukturen einer Zweieinheit aus, die von einer Art Hlle umgeben sind. Das spiegelhaft verdoppelte Andere ist vor allem mit dem Sugling, bei ihm, eine Prsenz. Diese Gestaltkapsel, die eine anobjektale, stabile Bezogenheitsstruktur enthlt und aus Inhalt

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und Behltnis besteht, birgt in sich ein grçßeres Sortiment von Ausfllungen in Form von bi- und tripolaren Nhemodellen zu solchen Duplikaten und hat bei jedem Individuum eine eigene Geschichte und eine spezifische Entwicklung. Der Sugling ist ein Wesen, das auf eine Innenweltteilung hin angelegt ist. Es handelt sich um das »Zusammensein von Etwas mit Etwas« (Sloterdjik, 1998, S. 552). Bei dieser Intimitt geht es um ein Weitergabeverhltnis, um ein sich gegenseitig ergnzendes Resonanzspiel zwischen einem Mit und einem Auch. Diese sphrisch-monadische Konstellation bildet die Basis der spteren bertragungsbeziehung, wird durch die Trieblichkeit geçffnet, da die Triebimpulse nach außen drngen, und wird in der narzisstischen, auf sich selbst zurckfhrenden Regression wiederhergestellt. Denn zum reinen Narzissmus gehçren das Phantasma einer Freiheit von Triebspannung, ein Streben nach einer stçrungsfreien, in sich ruhenden Homçostase sowie die Nicht-Anerkennung von Anderssein. Beim Individuum, das seine Schutzmembran permeabilisiert, bildet sich so etwas wie ein symbolischer psychischer Nabel, ein »umbilikales Feld« mit »Erinnerungsspuren aus der formativen Phase der Supplementierung« (Sloterdijk, S. 402). Dieses Beziehungsfeld mit seinen frisch erworbenen Unterscheidungsgrçßen von Innen und Außen, von eigenem Kçrper und Umgebung, von me und not me oder von Selbst- und Objektreprsentanzen, bedarf fr seine Entfaltung, unter den jetzt auftauchenden Bedingungen der Triebablufe, intimer Bezogenheiten zu realen ußeren Personen. Die Trieb- und Affektbesetzungen bemchtigen sich der zunehmend integrierteren Wahrnehmungen aus der Außenwelt, das Mit und das Auch erhalten allmhlich die Gestalt eines Gegenbers, mit dem das Subjekt in vielfltigstem Austausch steht. Parallel dazu bildet sich ein allmhliches Gewahrwerden der primren und vollstndigen Abhngigkeit des Subjekts von den Objekten – ein anhaltender Stimulus zu affektiver und beziehungsgestaltender Entwicklung und Differenzierung. Triebaktivitten bewirken somit eine Auflçsung der reinen, primren, sphrisch-monadischen, narzisstischen Bezogenheit und haben eine rasch ansteigende Durchlssigkeit der virtuellen Mem-

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bran zur Folge. Im Rahmen der frhesten Bezogenheit bildet sich auch der intrasubjektive bergangsraum zwischen den Reprsentanzen des Subjekts und denen der Objekte aus. Dort entscheidet sich, ob dieser virtuelle Raum sich zu einem vom Subjekt und den Objekten brauchbaren Spielraum oder zu einem Raum entwickelt, der nur von narzisstisch besetzten Objekten bevçlkert wird, ob es also zu einem lebendigen Austausch der beteiligten Protagonisten mit einer Sphre von Ko-Subjektivitt und von Ko-Existenz oder zum Bezwingen des einen durch den anderen kommt. Das Mit, wie dieses frheste Gegenber vielleicht bezeichnet werden kann, bestimmt fr das werdende Individuum somit den Ort des ersten Besetzens und Loslassens. Es kann sich entfernen oder annhern, ist verlierbar und, unter geeigneten Bedingungen, auch ersetzbar, manifestiert sich als ein Ergnzungs-Etwas, das zur Triebbesetzung, zum Austausch und damit zum Leben verfhrt, an die Membrangrenzen lockt und die Hlle durch seine zumeist außermembranliche Position gegenber der Außenwelt zu erçffnen hilft. Seine Nachfolger sind personifizierte »Seelenraumteiler« wie Doppelgnger, Zwillinge oder imaginre Begleiter. Das Geschenk eines solchen Mit, eines so gestalteten, zunehmend personifizierten, lebenspendenden Nhefelds, das belebt und motiviert (und zum Beispiel in der Depression verloren geht), ist die Schaffung eines bergangsraums, in dem Ersetzungen mçglich sind. In den bergangsrumen bestehen Fließverhltnisse, die sich gegenseitig enthalten und zugleich auch ausgrenzen. Durch die vielfltigen Austauschablufe werden sie zu pluripolaren, innig verfugten, gemeinsamen Erlebnis- und Erfahrungsrumen. Dieses primre existentielle Bezogenheitsfeld, das durch archaische Selbstreprsentanzen und die Reprsentanzenen eines das plazentare Etwas ersetzenden, urbegleitenden Gegenbers gekennzeichnet ist, verfgt ber eine eigenartige, stndig wechselnde Durchlssigkeit und spezifische Membrancharakteristik und ist minimal triadisch, aber oft in regressiver Bewegung dyadisch ausgestaltet. Diese primren Membranen, ihre Qualitten und die entstehenden Permeabilitten, legen die schtzend-durchlssigen Eigenschaften des sphrisch-monadischen Feldes fest. Der megalomane Versuch des Subjekts, die ußere Welt umfassend in den Primr-

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raum hineinzunehmen und damit dem Wechselhaften der bergangsrume zu entgehen, fhrt zu gefhrlichen Formatierungsfehlern und nachfolgenden Starrheiten. Der Sugling fhlt sich wahrgenommen, wenn er sich in der Besetzung der primren Pflegeperson als eigenstndiges Wesen findet. Er begegnet sich erstmals in der spezifisch auf ihn selbst bezogenen Emotionalitt des relevanten Gegenbers. Ich bin, wie ich von dir wahrgenommen werde. Identitt ist somit in der Intersubjektivitt begrndet (Bohleber, 2000). Dieses Wahrgenommenund Anerkannt-Werden bildet die Basis fr eine Internalisierung und nachfolgend einen identifikatorischen Prozess.

Wichtige weitere Entwicklungsschritte Suglinge und Kleinkinder vermitteln uns keine sprachlichen Informationen ber ihre Innenwelt. Ihre Psyche ist gekennzeichnet durch nur zeitweise offene Verhaltensfenster. So sind wir darauf angewiesen, aus der spontanen oder forschungsmßigen Interaktionsbeobachtung, der Entwicklung von Psychopathologie oder dem analytisch-therapeutischen Prozess heraus die inneren Vorgnge zu erschließen. Die Ich-Entwicklung und damit die Qualitt der frhkindlichen Beziehungen drften fr das Integrationsvermçgen, die Identifizierungen und die Identittsbildung entscheidend sein.

Erste Lebenswochen Erste prnatale Integrationen drften sich wahrscheinlich auf der Ebene der Differenzierung vegetativer Steuerungsfunktionen abspielen. Sofort postnatal erfolgen einfachste (supramodale) Integrationen verschiedenster lust- und unlustvoller Erfahrungen, die gruppiert und zu ersten Erlebnis- beziehungsweise Erfahrungsprototypen integriert werden. Bereits von den ersten Lebenswochen an aber kçnnen Suglinge den Gesichtsausdruck (und damit wahrscheinlich die dazugehçri-

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gen Gefhle) von Erwachsenen imitieren und nachempfinden. Sie werden sicher ber Wochen gespeichert und dienen auch der Identifizierung eines spezifischen Gegenbers und damit der Wiedererkennung eines anderen (Meltzoff, 1994). Das Abrufen von Information beim Anderen in Situationen der Unsicherheit (social referencing, Emde, 1988) mittels Blicken oder Vokalisierungen stellt eine konstante Orientierungshilfe dar und basiert, in Zusammenhang mit dem Bild einer immer eindeutiger werdenden bestimmten Person, auf der Integration eines zunehmenden Vertrauenszuwachses. Die gegenseitige affektive Feinabstimmung (affect attunement, Stern, 1992) mit den hauptschlichsten Beziehungspersonen sttzt sich in jeder neuen Interaktionsschleife auf bisherige, mehr oder weniger integrierte Erfahrungen mit dieser Person und bewirkt gleichzeitig auch den Aufbau frischer Kristallisationskerne fr neue Integrationsschritte. In den intrasubjektiven bergangsrumen findet, wie eine Art Zwischenraumsubstanz, eine Internalisierung historischer, kultureller, sozialer und familialer Verhaltenstechniken und Informationen statt, die ein zunehmend komplexer werdendes, dreidimensionales Netzwerk integrierter Erfahrungswerte zum Ausdruck bringt.

Erstes Lebensjahr Eine Kompetenz fr triadische Beziehungsformen entwickelt sich bereits sehr frh (von Klitzing, Simoni, Brgin, 1999). Vom 3. Lebensmonat an dokumentiert das den Blick erwidernde Lcheln eine zunehmende Kompetenz fr eine soziale Kontoaktaufnahme und damit die Bereitschaft fr einen Beziehungsaustausch (Spitz, 1969). Im Laufe des Aufbaus der Reprsentanzenwelt (Selbst-, Objekt- und Beziehungs-Reprsentanzen) kann um den 8./9. Lebensmonat herum eine zunehmende Integration von Selbstanteilen und Teilobjekten zu ganzen Einheiten (Acht-Monats-Angst ) und damit eine zunehmende Selbst- und Objekt-Permanenz festgestellt werden. Verschiedenste Funktionen haben sich rhythmisiert (z. B. der Schlaf oder das Essen). Es erfolgt nun eine konstante, spiralfçrmige Integration von Intentionalitt, Antrieb, Trieb- und Af-

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fektregulation, Neugierde, Interesse, Durchhaltevermçgen, Frustrationstoleranz, Regressionsneigung und Progressionsvermçgen. bergangsobjekte werden fr die Trennungsvorgnge immer bedeutsamer. Am Ende des ersten Lebensjahrs bildet das Zeigen und Hinweisen, das heißt die Wendung der Aufmerksamkeit auf ein gemeinsam Wahrgenommenes in der Außenwelt, eine erste integrierte Basisform der vorsprachlichen Kommunikation.

Zweites Lebensjahr Im zweiten Lebensjahr entwickelt sich der aufrechte Gang, der nicht nur neuartige Integrationen bisheriger motorischer Aktivitten umfasst, sondern auch selbst – durch die vçllig neuen Perspektiven der Wahrnehmung und des Handelns – auch wieder eine frische Basis fr neue Integrationen produziert. Die vorsprachlichen Erfahrungen werden allmhlich in sprachliche Reprsentanzen und Erinnerungen umformatiert. Das Nein-Sagen um etwa den 18. Monat und spter das Trotzen weisen auf Abgrenzungsvorgnge hin. Die zur gleichen Zeit beobachtbare Fhigkeit zum AlsOb-Spiel macht deutlich, dass das Kind neben der blichen Realittsebene eine zweite Ebene, nmlich die des Phantasiespiels, mit seinen Interaktionspartnern teilen kann. Wnsche werden durch zunehmende Triebenergie beflgelt, was ihnen einerseits mehr Kraft vermittelt, andererseits aber auch eine Voraussetzung fr weitere Differenzierung darstellt. Das Erkennen des Geschlechtsunterschieds und das aufkeimende Gewahrwerden der Zugehçrigkeit zum einen oder anderen Geschlecht bilden eine Art Knospenstadium der spteren sexuellen Identitt (Brgin, 1995). Die Fhigkeit zum Einhalten wechselnder Aktivitt im Dialog und im Trilog (turn taking ) manifestiert das Respektieren grundstzlicher dialogischer Prinzipien.

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Drittes Lebensjahr Auch im dritten Lebensjahr finden viele Entwicklungsschritte statt, die Neuintegrationen in der Innenwelt des Individuums zur Folge haben und nicht unwesentlich zur Identittsbildung beitragen. Die Narrativierung der Erlebnisablufe, das heißt die Versprachlichung der Kommunikation, luft mit einer weitgehenden Um-Schreibung der vorsprachlichen Strukturen parallel, erçffnet aber viel przisere Mitteilungen in den semantischen Systemen der entsprechenden Umwelt. Es kommt zur Entwicklung »vom Schreien zum sprachlichen Bitten« (Bruner, 1997). Die Mentalisierung, das heißt das reflexive Denken, bei dem das Selbst zum Objekt wird, ermçglicht eine Situierung der eigenen Person im gegebenen Umfeld. Parallel dazu bildet sich das Kind eine »theory of mind« ber sich und die anderen Menschen, die ihm eine eigentliche »Beseelung« des Gegenbers erlaubt. Ein strkeres Rivalisieren um Besitz taucht auf. Und die moralische Entwicklung durchluft eine vormoralische Stufe, bei der noch keine eigentliche Unterscheidung von Gut und Bçse nachzuweisen ist. Was Spaß macht und spannend ist, ist gut. Was mit Schmerz oder Angst verbunden ist, ist bçse. In der nachfolgenden vorkonventionellen Phase nimmt das Kind die Regeln seiner kulturellen Umwelt ebenso auf wie die Etikettierungen von gut, bçse, richtig und falsch. Es orientiert sich erst an Bestrafung und Gehorsam, dann daran, ob die eigenen Bedrfnisse, manchmal auch die der anderen, befriedigt werden (Kohlberg, 1995).

Viertes, fnftes und sechstes Lebensjahr Im vierten, fnften und sechsten Lebensjahr ist die Ausweitung des extrafamilialen Raumes und des Interesses zu beobachten. Eine klare Persçnlichkeitsstruktur mit persçnlicher, sexueller und familialer Identitt (Zugehçrigkeitsgefhl) tritt in Erscheinung. Die çdipale Triade gewinnt zunehmend an Bedeutung, das heißt, es zeigen sich starke, meist ausschließende Liebesgefhle, zumeist fr den gegengeschlechtlichen Elternteil, und eine massive Rivali-

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tt um Liebe tritt im Verhalten in Erscheinung oder lçst vielfache Abwehren aus, da gleichsam eine vordefinitive Skizze ber die Lçsungsformen triangulrer Probleme entworfen wird.

Schlussbemerkungen Wahrscheinlich nehmen Suglinge sich erstmals dadurch selbst wahr, dass sie von Erwachsenen, deren Identitt weitgehend ausgebildet ist, wahrgenommen werden. Sie blicken aus einem Zustand heraus, in dem das Außen und das Innen noch nicht sehr klar getrennt sind, ins Gesicht der Betreuenden, die sich sowohl als Individuen mit eigener Historizitt als auch als Mitglieder einer spezifischen Kultur und sozialen Schicht begreifen. Sie finden deren Augen und kçnnen sich dabei verlieren, indem sie gleichsam, statt in ein Innen, in ein Außen fallen, statt eine Person wahrnehmen, die sie wahrnimmt, in eine Unendlichkeit des Seins eintauchen, die kaum Halt vermittelt. Als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten versuchen wir andauernd, einen Blick von außen ins Innere unserer Patienten zu erhalten, uns ein Bild von ihrer Innenwelt zu machen. Dasselbe machen unsere Patienten mit uns. Dabei bemhen sich beide Protagonisten, nicht ins Leere fallen.

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Vera King

Identittssuche und Generationendynamiken in der Adoleszenz

Identittsbildung in der Adoleszenz wird in der Regel als ein individueller Prozess betrachtet wie auch die so genannten Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz hufig nur als Anforderungen an die Heranwachsenden diskutiert werden. Die folgenden berlegungen wollen demgegenber darauf aufmerksam machen, dass und in welchen Hinsichten adoleszente Entwicklungen systematisch als intergenerationale Prozesse gefasst werden mssen. Welche Bedeutungen haben Generationendynamiken in der Adoleszenz? Welche Rolle spielen Generationenbeziehungen und intergenerationale Transmission bei der Herausbildung von Identittsthemen in der Adoleszenz? Zur Beantwortung dieser Fragen werden Identittssuche und Identittsbildung als dynamische und entwicklungsoffene Prozesse beschrieben, die in der Adoleszenz auf spezifische Weise Bestandteil einer intersubjektiven Auseinandersetzung sind. Die verschiedenen Facetten des Ringens um adoleszente Individuation – Trennung, Umgestaltung und Neuschçpfung – beinhalten stets zugleich Vernderungen in Generationenbeziehungen, die von beiden Seiten des Generationenverhltnisses, innerhalb der Familie von Heranwachsenden und ihren Eltern, bewltigt werden mssen, um Neues in der Adoleszenz zu ermçglichen. Die Entstehung des Neuen stellt Anforderungen an beide Seiten des Generationenverhltnisses: das Durchstehen eines Anerkennungsvakuums auf Seiten der Adoleszenten, generative Haltungen auf Seiten der Erwachsenen. Anhand von Fallbeispielen werden die noch genauer zu beschreibende Dialektik von Individuation und Generativitt und die damit verbundenen Konflikt- und Kri-

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senpotentiale in familialen Generationenbeziehungen der Adoleszenz veranschaulicht.

Identitt und Krise »In ihrer Suche nach einem neuen Gefhl der Kontinuitt und Gleichheit, das jetzt auch die sexuelle Reife mit umfassen muß, haben manche Jugendliche sich noch einmal mit den Krisen frherer Jahre auseinanderzusetzen [. . .] Sie bedrfen vor allem eines Moratoriums fr die Integration der Identittselemente [. . .] [der Kindheit, die Verf.]: nur daß jetzt eine grçßere Einheit, undeutlich in ihren Umrissen und doch unmittelbar in ihren Forderungen, an die Stelle des Kindheitsmilieus tritt – ›die Gesellschaft‹ « (Erikson 1968/1998, S. 131). Mit diesen Worten hat Erikson in seinem Stufenmodell des Lebenslaufs die krisenhafte Suche nach Identitt als zentrales Thema der Adoleszenz beschrieben. Identittsbildung in der Adoleszenz kann in diesem Modell im gnstigen Fall die vorausgehenden Krisen der Kindheit neuen Lçsungen zufhren, in »spteren Stadien des Lebenszyklus« kann es zu einer »Rckkehr von Identittskrisen« kommen (Erikson, S. 91). Gerade dieser Begriff der Krise der Identitt hat in Eriksons Ansatz herausragende und schillernde Bedeutung. Denn das in jeder Lebensphase Krisenhafte, zu Bewltigende ist sowohl das potentiell berfordernde als auch das Stimulierende und potentiell Vorantreibende. Unter anderem in dieser Ambiguitt des Krisenbegriffs liegt Eriksons Aktualitt fr eine zeitgençssische Diskussion des Lebenslaufs der Identitt: Krisen der Identitt sind im Verlauf der Biographie unumgnglich, entwicklungsoffen und zugleich Quelle von Vitalitt und Kreativitt, so kçnnten wir Eriksons in diesem Sinne produktiven Ansatz umschreiben. Die Bearbeitung von Identittskrisen in der Adoleszenz hat zudem eine biographisch spezifische und Weichen stellende Bedeutung. Doch ist die adoleszente Krise mit der von Erikson so genannten »Suche nach Kontinuitt und Gleichheit« treffend beschrieben? Vergegenwrtigen wir uns dazu, dass Erikson in den 1960er-Jahren zwangslufig nur bedingt antizipieren konnte, in welchem Maße die fortschreitende Moderni-

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sierung und Individualisierung von Gesellschaften Traditionen und soziale Bindungen auflçsen, Ungewissheit, Unbersichtlichkeit und Risiken in den Lebenslagen der Individuen erzeugen wrden. Modernisierung – und darin liegt die besondere Herausforderung moderner Biographien – hat auf der einen Seite erhçhte Anforderungen an die Subjekte geschaffen, eigenverantwortlich ihre Wege durch Ungewissheit zu finden, auf der anderen Seite die Bedingungen erschwert, unter denen innere Sicherheit gewonnen werden kann. Gerade die Suchbewegungen selbst, Identittssuche im Sinne eines Ringens um die Bewltigung zentraler biographischer Themen, kçnnen in zunehmendem Maße als Merkmale von Entwicklungsprozessen in modernisierten Gesellschaften angesehen werden. Doch wie kçnnen wir uns den Gegenstand dieses Ringens, wie kçnnen wir uns Identittssuche genauer vorstellen? Einige Stichworte der Sozialwissenschaften wie Bastelbiographie oder Patchworkidentitten suggerieren gleichsam beliebige Wahlmçglichkeiten, so als kçnnte eine Identitt nach eigenem Gutdnken zusammengesetzt und verndert werden. Demgegenber lehrt uns die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Psychischen, dass das Verhltnis von Festgelegtheit oder Determiniertheit einerseits und von der Mçglichkeit der Neuschçpfung anderseits komplexer ist. Anders formuliert: In jeder Biographie schlt sich heraus, welche zentralen Themen jemand auf seinen Weg mitnimmt, welche offenen Fragen, Brden oder Rtsel, hinter denen sich oft familial Unbewltigtes und mitunter Traumatisierungen verbergen.1 Diese zentralen Themen kçnnen wir auch als »Identittsthemen« bezeichnen. Doch entscheidender noch als die Themen selbst sind oft die Ressourcen, ber die jemand verfgt, um biographische Themen produktiv gestalten zu kçnnen. Erst ein solches psychisches Arbeiten, das immer auch eine explizite oder implizite Auseinandersetzung mit eigenem Ursprung und eigener Geschichte

1 Zu den Folgen familial unbewltigter Konflikte und Traumata fr unterschiedliche Stçrungspotentiale im Kindes- und Jugendalter vgl. die Beispiele in Brgin (1993), Buchholz (1995), Wiesse (1990).

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beinhaltet, schafft innere Beweglichkeit, Umwandlung und grçßere Freiheit – whrend umgekehrt die Negation, Verdrngung oder Ausblendung von Geschichte und Gewordensein die Fesselung an den eigenen Ursprung verstrken. Lebensgeschichtliches Paradigma der Auseinandersetzung mit Ursprung und Geschichte ist die Adoleszenz, in der die berhmte mythische Identittsfrage Wer bin ich? immer auch heißt Woher komme ich? Wohin gehe ich? . In der Adoleszenz steht Identittsarbeit in besonderer Weise im Zentrum, auch wenn dieses psychische Arbeiten in spteren Lebensphasen erneut aufgegriffen oder fortgesetzt werden kann. In der Adoleszenz verdichten sich die Anforderungen des Abschieds aus der kindlichen Welt, die zugleich auf kçrperlicher Ebene, in der sexuellen Reife, eine leibliche Materialisierung und damit auch eine Qualitt des Unausweichlichen erlangen. Adoleszenz stellt jedoch nicht nur eine Anforderung dar, sondern sie ist auch selbst Ressource und bringt neue Mçglichkeiten psychischen Arbeitens hervor. Woher kommen diese neuen Ressourcen und Mçglichkeiten? In der Adoleszenz setzen sich Heranwachsende aufgrund vernderter kçrperlicher und kognitiver, mentaler, psychischer und sozialer Voraussetzungen mit der Welt der Kindheit, mit ihrer Familie, mit den bisherigen selbstverstndlichen Lebensbedingungen auf eine andere Weise als bisher auseinander. Aufgrund der spezifischen Einheit von emotionalen, psychosexuellen und kognitiven Vernderungen dezentriert sich der Welt- und Selbstbezug im Lauf der Adoleszenz. Bisher Gelebtes kann auf andere Weise gesehen und erlebt werden. Altes, bisher Selbstverstndliches wird teils verworfen, teils neu kombiniert – weil und indem neue Denkund Erfahrungsweisen hinzukommen. Adoleszente ringen um eigene Sichtweisen und Lebensentwrfe, wobei sie sich zugleich mit den Bedingungen ihres Gewordenseins auseinandersetzen mssen. Heranwachsende kçnnen sich in der Adoleszenz, indem ein neuer Blick auf das Selbst und den Bezug zum Anderen mçglich wird, auf neue Weise reflexiv zu ihrer Geschichte ins Verhltnis setzen und sich diese, potentiell, kritisch aneignen. Die eigene Bildungsgeschichte und die familialen Erfahrungen zu bearbeiten, ist damit verbunden, neue Perspektiven auf bisher Selbstverstndliches zu

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entwickeln, wobei Perspektivwechsel auch aus Erfahrungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Rumen (z. B. Familie, Schule, Peers) gewonnen werden. Die neu verknpften und verarbeiteten Erfahrungen aus verschiedenen Lebensbereichen bilden gleichsam den Stoff, die mçglichen Ressourcen, aber auch die potentiellen Hindernisse beim Hervorbringen neuer Entwrfe. Insofern es um Potentiale geht und nicht um etwas Gewhrleistetes, stellt Adoleszenz einen Mçglichkeitsraum dar, aus dem Neues hervorgehen kann. Ob und wie diese transformativen Potentiale der Adoleszenz genutzt werden kçnnen, hngt insbesondere auch von den intergenerationalen Bedingungen ab, die diesen Mçglichkeitsraum konstituieren, denn Entwicklungssprozesse der Adoleszenz sind spezifische Vernderungen in Generationenbeziehungen. Was heißt das genauer, zunchst auf die Adoleszenten selbst bezogen?

Adoleszenz als Generationenverhltnis Entwicklungsprozesse in der Adoleszenz kçnnen wir psychodynamisch als einen Dreischritt von Trennung, Umgestaltung und Neuschçpfung beschreiben. Die psychische Arbeit, die dabei jeweils geleistet werden muss, liegt erstens in Abschied und Trauer, zum zweiten in der Fhigkeit, Bestehendes zu attackieren und die damit verbundenen ngste und Schuldgefhle auszuhalten, und schließlich darin, aus den vorhandenen Ressourcen Vergangenes und Gegenwrtiges zu einem neuen Lebensentwurf zu verknpfen. An diesem Dreischritt kçnnen wir auch eine allgemeine Analogie zwischen adoleszenter Entwicklung und kreativen Prozessen erkennen, wenn etwa die Pubertt als eine besonders schçpferische Phase erachtet wird. Trotz dieser Analogie gibt es, und das ist hier besonders wichtig, eine bedeutende Differenz, insofern es sich bei der adoleszenten Entwicklung – anders als bei kreativen Prozessen der Erwachsenen – auch in der ußeren Realitt um einen intersubjektiven Prozess handelt: Denn an Adoleszenz sind eben zwei Generationen beteiligt. Adoleszente sind selbst noch im Werden begriffen, sie sind auch im Trennungs- und Verselbstndigungsprozess noch auf Erwachsene angewiesen, auch wenn sie selbst oft

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anders erscheinen wollen. Sie sind in ihrer Subjektwerdung stçrbar und verletzlich. Zugleich aber mssen sie, um selbstndig werden zu kçnnen, im psychodynamischen Sinne die Erwachsenen von ihren angestammten Pltzen schieben und diese innerlich attackieren. Darin liegt eine besondere Herausforderung fr beide Teile des adoleszenten Generationenverhltnisses.

Trennung als Entwicklungsaufgabe beider Seiten im Generationenverhltnis der Adoleszenz Wir kçnnen uns die Generationendynamiken der Adoleszenz anhand der genannten Komponenten der adoleszenten Umwandlung noch genauer verdeutlichen. Beginnen wir mit der Notwendigkeit der Trennung: Nicht nur Adoleszente mssen sich verabschieden von der Welt der Kindheit, sondern auch die Erwachsenen, im Besonderen die Eltern. Diese beeinflussen durch die Qualitt ihrer eigenen Verarbeitung den Trennungsprozess der Adoleszenten mit.2 Dazu ein Fallbeispiel, bei dem Vater und Sohn interviewt wurden3: In einer aus der Trkei eingewanderten Familie hegte der Vater intensive Wnsche im Hinblick auf die Bildungskarrieren seiner Tçchter und Sçhne. Keines der Kinder hatte jedoch das erreicht, was der Vater sich gewnscht hatte, einige trotz Abiturs und begonnenen Studiums. Der jngste Sohn Murat (21 Jahre) hatte die Schule auf dem Weg zum Abitur abgebrochen. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitete Murat wie seine Geschwister mit im elterlichen Gemseladen. In der Kontrastierung der beiden Interviews mit dem Vater und dem Sohn fiel auf, dass der Vater die Enttuschung seines Wunsches betonte, der Sohn mçge einen angesehenen Bildungstitel mit nach Hause bringen, whrend die ußerungen des Sohns strker um seine unerfllten Wnsche und

2 Die Art der Verarbeitung manifestiert sich u. a. im Kommunikationsverhalten, vgl. dazu Kreppner (1996). 3 Vgl. King (2005).

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Sehnschte kreisten, dem Vater, der immer hart arbeiten musste, emotional nahe zu sein. Murat: Also, wenn wir auch durch den Laden meiner Eltern, auch mein Vater viel gearbeitet hat . . . Aber er (mein Vater) hatte schon einen großen Einfluss auf mich, auch wenn er wenig da war. Also mein Bruder hat mir viel erzhlt von meinem Vater . . . . . . (die Familie) ist fr mich das Wichtigste, da wird auch keiner dran kratzen kçnnen, keine Freundin oder wer auch immer. Also, als Kind war mein Papa ganz oben, »Papa – Papa«, das is’ ja norma . . .Und ich weiß, aber das Wichtigste ist eben die Familie und kein Mensch wird da dazwischen kommen kçnnen, also niemals, egal was passiert und so . . . . . . Also ich werde bestimmt zu meinen Kindern anders sein als mein Vater zu mir. Das hoffe ich . . . Ich werd’ versuchen mit meinen Kindern sehr viel Zeit zu verbringen, was ich mit meinem Vater lnger schon nicht mehr gemacht habe . . . Eben vielleicht ein bisschen inniger.

Whrend fr Murat das Wichtigste die Familie ist und »kein Mensch« dazwischen kommen wird, war fr den Vater, so erzhlt er an anderer Stelle, das Wichtigste, dass er Abitur machen sollte: . . . als ich zur Schule ging, war meinem Vater immer das Wichtigste, ich soll Schule zu Ende machen, dann soll ich studieren . . . Das war meinem Vater mal das Wichtigste, dass ich eben vielleicht mal ’nen Titel vor meinem Namen hat . . . Murats Vater: . . . [die Kinder] machen im Laden mit, mit meiner Familie – wir sind immer zusammen. Kann ich mal sagen: mit dem Kleinen hab’ ich ein bisschen Problem gehabt, also wegen der Schule. Ich hab’ ihm gesagt, er muss erst mal zur Schule gehen und dann kannst du hier arbeiten, aber er hat die Gymnasium, h Schule jetzt kaputtgemacht. Er hat die Schule nicht weiter gemacht, deswegen haben wir ein bisschen Probleme, und er jetzt wieder . . . , aber er will nix, da kann ich jetz’ auch nix machen, ne. Jetzt arbeitet er hier bei mir, mit uns zusammen . . .

Die Interviews kreisen auf verschiedene Weise um die Themen Zusammensein der Familie, Nhe, gemeinsame Zeit auf der einen Seite und Schule, Abitur, Studieren auf der anderen. Beides scheint in kontradiktorischer Spannung zu stehen. Murats Lçsung liegt im Abbruch der Schule und im Beibehalten der Nhe zum Vater in der Arbeitssituation, anstatt die Schule fortzusetzen und damit grçßere Brche im Verhltnis zur Familie zu riskieren. Die Spannung zwischen Vater und Sohn – die wechselseitig unerfllten Wnsche und Enttuschungen – bleiben in dieser im Konkreten beibehaltenen Nhe allerdings unaufgehoben. Komplementr deutet

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das Interview mit dem Vater darauf hin, dass dieser sich mit der Kehrseite seiner Wnsche nach bildungserfolgreichen Kindern kaum auseinandergesetzt hat und die damit notwendig einhergehenden Trennungen ausgeblendet ließ. In dieser Konstellation zeigt sich eine typische Variante familialer Konstellationen bei versuchten Bildungsaufstiegen in der Adoleszenz (und zwar mit und ohne Migrationshintergrund). Worin liegt das Typische? Vereinfacht liegt das Typische darin, dass Eltern aufgrund ihrer eigenen Lebenssituation zwar ein Ziel formulieren »so sollst du sein« (also: Du sollst erfolgreich sein und einen hçheren Status haben als wir), jedoch keinen Weg angeben kçnnen im Sinne von »auf diesem Weg, mit diesen Mitteln kannst du es erreichen«. Adoleszenzpsychologisch formuliert: Die Eltern setzen sich gerade nicht damit auseinander, dass der Bildungsaufstieg des Adoleszenten auch bedeutet, dass sie sich selbst vom Kind auf neue Weise trennen lernen mssten (womit, nebenbei bemerkt, der Modus der Delegation aufgesprengt wrde, der ja gerade auf der Ungetrenntheit basiert, also auf dem »Du sollst fr mich erfolgreich sein, mir mit deinem Erfolg nahe bleiben, sodass es mein Erfolg ist«). Indem die Eltern Trennung verleugnen, tragen sie mit dazu bei, dass sich fr die Adoleszenten die Tr nach draußen oder (im Sinne des Aufstiegs) nach oben schließt. Die Notwendigkeit und zugleich die Schwierigkeit der Auseinandersetzung mit dem Thema Trennung werden durch Migration im brigen vervielfltigt, insofern ja Migration selbst schon eine Trennungserfahrung bedeutet. Fr sich genommen ist die beschriebene Konstellation der Hemmung oder Verhinderung adoleszenter Bildungsprozesse durch intergenerationale Trennungsprobleme jedoch nicht migrationssepzifisch.4

4 Vg. zu den psychischen Bedingungen und Folgen sozialen Aufstiegs z. B. Sennett u. Cobb (1972), Streeck (1981).

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Infragestellung des Bestehenden im Generationenverhltnis – das Anerkennungsvakuum als notwendiges Durchgangsstadium adoleszenter Individuation Kommen wir zu weiteren Aspekten der adoleszenten Umgestaltung und Neuschçpfung, die diese Trennungen noch komplizierter machen: Sich zu trennen und dabei etwas Neues zu schaffen, impliziert immer auch, bewusst oder unbewusst, manifest oder latent, eine Attacke auf das Bestehende. Denn das Neue stellt Altes infrage und schiebt es in gewissem Sinne beiseite. Man kçnnte hier von einer sich unausweichlich aneignenden Aggressivitt sprechen. Denn adoleszente Prozesse kçnnen erst dort zum Abschluss kommen, wo die Portalsfiguren des Lebens, wie es Peter Weiss in seinem Roman »Abschied von den Eltern« (1964) genannt hat, von ihrem mchtigen Platz geschoben werden. Man kçnnte auch sagen: Die elterlichen Vorrechte, wie sie sich aus der Sicht der Kinder darstellen, die erwachsene Zeugungskraft und Wirkmchtigkeit mssen im Verlauf der Adoleszenz selbst angeeignet werden. Adoleszente Entwicklung ist daher immer eingespannt in die erwhnte, unausweichliche Ambivalenz zwischen den Generationen. Auf die Familie bezogen heißt dies: So sehr Eltern einerseits die Autonomisierungsprozesse und kreativen Potenzen der Kinder begrßen mçgen, sind sie doch anderseits durch die adoleszente Individuation, durch die wachsende Autonomie und Kreativitt der Kinder immer auch auf schmerzliche Weise berhrt. Schmerzlich sind eben nicht nur die Trennungen. Schmerzlich ist auch, dass Erwachsene auf ihre eigene Begrenztheit, auf das lterwerden, auf unerfllte Wnsche, auf die teilweise Infragestellung ihrer eigenen Lebensentwrfe gestoßen werden. Das heißt auch: Indem Erwachsene adoleszente Entwicklungen zulassen oder gar befçrdern, befçrdern sie damit immer auch die Relativierung ihrer eigenen Weltsicht oder Lebensform. Aus dieser Sicht bekommt der Begriff der Ablçsung in der Adoleszenz eine doppelsinnige Bedeutung: Ablçsung von den Eltern oder der erwachsenen Generation luft in verschiedener Hinsicht auch auf eine Ablçsung der erwachsenen Generation hinaus.

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Dazu ein weiteres Fallbeispiell5: Marion, eine Studentin Anfang Dreißig und alleinerziehende Mutter, berichtet von einem sehr konflikthaften Adoleszenz- und Bildungsverlauf. Gegen heftigen Widerstand der Eltern, die beide kein Abitur gemacht haben, gelingt es ihr nur mit massiver Untersttzung anderer, von ihren Eltern nicht an ihrem Weg zum Abitur gehindert zu werden und spter ein Studium zu beginnen. Ihr Bildungsaufstieg ist entsprechend von Verzçgerungen sowie von Berg- und Talfahrten gekennzeichnet, whrend ihre vier Jahre ltere Schwester von den Eltern sehr untersttzt wird. Marion berichtet, dass eine Lehrerin versuchte, ihre Eltern umzustimmen, die sie nicht auf das Gymnasium gehen lassen wollten. Marion: In der Familie hat das zu einem sehr starken Konflikt gefhrt (.) Meine Eltern (.) haben das dann zwar gemacht (.) haben sich diesem externen Druck gebeugt (..) Haben mir allerdings smtliche Untersttzung entzogen. Das heißt, wenn ich das machen will, dann soll ich das machen, aber es ist (betont:) mein Weg – was fr mich ganz, ganz schlimm war – weil meine Schwester ganz viel Untersttzung zu Hause bekam (..) und ich berhaupt nicht. (..) So war dann eigentlich der Weg vorgezeichnet (.) ich (.) fing an krank zu werden, war, denke ich, fast ein halbes Jahr fast nicht in der Schule ehm und hab dann die Schule gewechselt – gegen den Rat der Klassenlehrerin – ehm ich selber wollte dann auf die Gesamtschule gehen, weil ich mir irgendwie immer noch die Option (.) des Abiturs (.) noch erhalten wollte – und meine Eltern waren dann der Meinung, dass es doch zu schwierig fr mich wre, dass ich auch aus dem Grund krank geworden wre – und haben mich dann runtergenommen von der Schule und auf die Realschule geschickt. Das hab ich dann bis zur zehnten Klasse gemacht, und daraufhin hab ich mein Abitur nachgemacht – wieder gegen den Willen meiner Eltern, aber da war es einfach so, dass ich einfach schon alt genug war, mich dem zu widersetzen (lngere Pause).

Wie sich im Interview herausstellt, hat die Mutter eine analoge Konstellation erlebt: Interviewer: Kannst du dir irgendwie erklren, womit diese starke Abwehr deiner Eltern begrndet ist?

5 Studie im Rahmen eines Projekts zu »Bildung und soziale Ungleichheiten«, bei dem biographische Interviews mit mnnlichen und weiblichen Bildungsaufsteigern mit und ohne Migrationshintergrund analysiert und verglichen werden (King, 2005, 2006). Das Projekt wird finanziell untersttzt von der Max-Trger-Stiftung, Frankfurt a. M.

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Marion: (..) Ehm (.) das ist ganz, ganz schwierig. (..) Ehm (.) Meine Eltern hatten beide einen ziemlich schwierigen Weg, die konnten eigentlich beide nicht das, das was sie selber machen wollten – meine Mutter wollte eigentlich Lehrerin werden und mein Vater htte auch gern was anderes gemacht, aber das war nicht mçglich. Interessant bei meiner Mutter ist, dass ihre ltere Schwester das Gymnasium besucht hat, spter, in der NS-Zeit, das Gymnasium dann verlassen musste, es dann finanziell nicht mehr mçglich war, aber sie immer erzhlte, dass es fr sie selber niemals zur Disposition gestanden htte. Also, das war auch wieder dieser Weg: Nur fr die ltere . . . ... Interviewer: Sind deine Eltern jetzt stolz auf dich, dass du jetzt fertig bist, es geschafft hast, alles unter einen Hut zu bringen – du deine Tochter großgezogen hast, erwerbsttig bist und trotzdem jetzt deinen Abschluss machst? Marion: Nein, berhaupt nicht. (..) Auf der einen Seite wahrscheinlich schon ein bisschen – auf der anderen Seite (lachend) sagen sie immer noch, dass ich eine Umschulung machen soll. Interviewer: Hast du irgendwann bei deinen Eltern mal das Gefhl gehabt, dass sie dich untersttzen? Marion: Ja, interessanterweise ja. Denn meine Eltern haben eigentlich nie daran gezweifelt, dass ich meinen Weg gehen kçnnte. (..) Es, es war immer sehr spannend: sie wollten es nie, aber sie haben eigentlich auch nie daran gezweifelt, dass ich es schaffen kçnnte.

Das Einzige, was die Eltern ihr auf den Weg mitgeben konnten, so kristallisiert sich im Interview heraus, war eine Art verkehrter Untersttzung: Indem sie ihr massive Hindernisse in den Weg legten, haben sie paradoxerweise zugleich bei der Tochter das Gefhl erzeugt, dass sie es schaffen kçnnte – sonst msste sie ja nicht gehindert werden. Was die Eltern der Tochter jedoch nicht geben konnten, ist das, was Peter Blos (1985) in seiner Studie ber die Vater-Sohn-Beziehung, den »Segen« nannte: die begleitende Zustimmung auf einem Weg, der von den Eltern wegfhrt und auf dem diese auch bertroffen werden. Wie es scheint, werden die Eltern, im Besonderen die Mutter, durch massive, unbewltigte Neidgefhle im Verhltnis zur eigenen Schwester, durch das Gefhl »was ich nicht haben konnte, soll sie auch nicht bekommen« daran gehindert, die Tochter zu untersttzen. Allerdings hat dies bei Marion nicht zur Kapitulation gefhrt, sondern zur verstrkten Anstrengung, ihre eigenen Wnsche weiter zu verfolgen. In der Familie stellt sich am Ende eine interessante Konstellation von Wiederholung und Wunscherfllung her. Whrend auf einer Ebe-

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ne die alte Schwesternsituation wiederholt wird (die lteste bekommt jede Untersttzung, die Jngere keine), dreht sich im Ergebnis die Erfolgssituation um. Marion berichtet an anderer Stelle, dass die ltere Schwester ihr Studium zwar abgeschlossen hat, ein ihrem Abschluss gemßes Stellenangebot jedoch ausgeschlagen hat und jetzt wieder im kaufmnnischen Bereich arbeitet, whrend die Jngere die ltere zumindest insofern berholt, als sie auf dem Weg zur Promotion ist. Um den Weg gehen zu kçnnen, den sie gehen wollte, hatte Marion allerdings Durststrecken der Einsamkeit, der Verzweiflung und der unerfllten Sehnsucht nach Anerkennung zu erleiden und durchzustehen. Damit sind wir wieder bei den allgemeinen Herausforderungen der adoleszenten Entwicklung angelangt. Denn an diesem Beispiel wird besonders deutlich, was in mancher Hinsicht auch unter gnstigeren Bedingungen unvermeidlich ist, dass es nmlich auch fr die Adoleszenten selbst schmerzlich ist, im Prozess der unausweichlichen inneren Attacke gegen die Eltern die ngste, Schuldgefhle, Trauer und insbesondere die dadurch bedingten Einsamkeitsempfindungen zu ertragen und zu durchlaufen. Denn indem Adoleszente ihre eigene Welt erschaffen, mssen sie – zumindest phasenweise – auf die Zustimmung und Anerkennung der Eltern verzichten. Man kçnnte sagen: Adoleszente treten notwendigerweise – und hier werden die Gleichaltrigen besonders wichtig – im Verhltnis zur Erwachsenengeneration in eine Art Anerkennungsvakuum ein. Wird dies vermieden, verbleiben sie latent oder manifest in Infantilitt und Konvention, mitunter auch auf unmerkliche, unauffllig und »normal« erscheinende Weise (das heißt in psychodynamischer Betrachtung: in einer psychischen Position, die darauf ausgerichtet ist, es den Eltern recht zu machen und die adoleszente Attacke zu vermeiden, ohne die weder Individuation noch Kreativitt mçglich sind). Wo die Risiken der Individuation eingegangen werden kçnnen, ist am Ende der Adoleszenz Neues, in diesem Sinne ein erwachsenes Selbst, hervorgebracht worden.

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Dialektik von Generativitt und Individuation Mit diesen berlegungen stellt sich die nchste Frage: Wodurch wird die adoleszente Individuation im Verhltnis zu Erwachsenen ermçglicht? Welche Bedingungen mssen Erwachsene auf psychosozialer Ebene bereitstellen? Fr diese Bedingungen bietet sich in Anknpfung, aber auch Erweiterung eines Konzepts aus Eriksons Schema des Lebenslaufs der Begriff der Generativitt an. Mit Generativitt ist dabei keinesfalls Fortpflanzungsfhigkeit im konkreten Sinne gemeint. Eher kann man von Elternschaft im psychischen und psychosozialen Sinne sprechen, wenn etwa die Verantwortung und Sorge fr etwas zu Hervorbringendes und zu Fçrderndes bernommen werden. Bezogen auf die Adoleszenz bezeichnet Generativitt die fr das Gelingen adoleszenter Entwicklungen notwendigen elterlichen Haltungen und bereitgestellten Rahmenbedingungen. Generativitt bezeichnet den Beitrag der Eltern oder anderer bedeutsamer Bezugspersonen zur Mçglichkeit der Individuation, wie er in einem gleichermaßen frsorgebereiten wie zurckhaltenden Begleiten der Adoleszenten zum Ausdruck kommen kann. Wagen wir hier einen kurzen Abstecher von der psychologischen zur soziologischen Betrachtung, so kçnnen wir uns an diesem Punkt die eingangs erwhnten gesellschaftlichen Vernderungen der Adoleszenz nochmals verdeutlichen – wenn wir, auf die Generationenverhltnisse bezogen, vor- und frhmoderne mit modernisierten Gesellschaften vergleichen. Schematisch vereinfacht kçnnte man sagen: In vor- und frhmodernen Gesellschaften werden bergnge, Verluste und Trennungen durch Rituale und festgefgtere soziale Konventionen teils erzwungen, teils erleichtert. Dies wird insbesondere deutlich an Initiationsritualen vormoderner Gesellschaften, die ja auch fr die je Erwachsenen die bergnge und die Verarbeitung von Ambivalenzen erleichtern, indem zum Beispiel aggressive Impulse, Verlustgefhle, Neid und Rivalitt gegenber den herangewachsenen Initianden in Ritualen untergebracht werden kçnnen. In modernisierten Gesellschaften, in denen es mehr Spielrume gibt, obliegen die notwendigen Verzichtsleistungen und Tren-

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nungsbewltigungen zunehmend der individuellen psychosozialen Kompetenz. Modernisierte Gesellschaften verlangen der erwachsenen Generation virtuell andere psychische Leistungen ab. Generative Haltungen erfordern, den Adoleszenten zum einen gengend Freiraum zu lassen, zum zweiten aber auch zur »Verwendung« durch die adoleszenten Kinder zur Verfgung zu stehen und gleichsam einen sicheren Hafen zu bieten, der den Gang hinaus in die Welt ermçglicht. Es bedeutet zum dritten, den Entwicklungsraum nicht fr sich selbst zu okkupieren oder die Adoleszenz fr sich benutzen zu wollen. Mangelnde Fhigkeit zur Generativitt ußert sich etwa im bedrngenden Ehrgeiz derjenigen Eltern, die die Jugend des Kindes dem eigenen Bedrfnis nach Besonderheit unterordnen. Hier zeigt sich, dass Generativitt immer auch auf einem Verzicht beruht, wie er mit der Anerkennung von Differenz prinzipiell verbunden ist: mit der Einsicht, nicht alles und nicht fr immer sein zu kçnnen und sich auch nicht auf narzisstische und ausbeuterische Weise im eigenen Kind vervollkommnen oder verewigen zu kçnnen. Traditionale/frhmoderne Gesellschaften Generationsverhltnisse und soziale bergnge sind ritualisiert: Außensteuerung von Verzichts- und Trennungsleistungen Modernisierte Gesellschaften Generationale Verhltnisse sind offener, Verzicht und Trennung mssen individuell geleistet werden. Generativitt im Verhltnis zu Adoleszenten bedeutet: – Freiraum lassen – Zur psychischen »Verwendung« zur Verfgung stehen – Den adoleszenten Mçglichkeitsraum nicht selbst okkupieren

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Generativitt der Adoleszenten Vervollstndigen wir unsere Betrachtung des Generationenverhltnisses der Adoleszenz, indem wir nun wieder die Adoleszenten selbst in den Blick nehmen. Wir sehen dann, dass das Erlangen der Fhigkeit zur Generativitt auch das Ende des adoleszenten Prozesses markiert. Adoleszente werden schrittweise generativ, indem sie nachhaltig neue Bedeutungen und Praktiken hervorbringen. Sie werden generativ, indem sie Verantwortung – also psychisch und psychosozial eine Elternposition – im Verhltnis zu etwas (und zu anderen) bernehmen. Generativitt kann sich auf die unterschiedlichsten Bereiche und Aktivitten beziehen (d. h. auch auf den Bereich der Elternschaft im blichen Sinne) und sie muss wiederum im generationellen Wechsel in mancher Hinsicht immer auch der erwachsenen Generation abgerungen werden. Junge Mnner und Frauen entwickeln im Lauf der Adoleszenz eigene Wirkmchtigkeit und Zeugungskraft im bertragenen Sinne und nehmen damit psychisch oder psychosozial zunehmend auch jene Positionen ein, die eben die Portalsfiguren der Kindheit einst fr sie als Kinder innehatten. Generativitt seitens der Erwachsenengeneration: Produktivitt und verantwortungsvolle Sorge fr nachwachsende Generation: soziale Gewhrleistung, dass adoleszente Individuation im Rahmen eines Moratoriums befçrdert und nicht gestçrt wird. Individuation der Adoleszenten: – Ablçsung von den Eltern – Eintritt in ein Anerkennungsvakuum – Voraussetzung fr eigene Generativitt Generativitt der Adoleszenten: – Ablçsung der Eltern(generation) – Produktivitt, Fhigkeit zur Sorge fr andere

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Individuation und Generativitt der Adoleszenten werden in dem Maße ermçglicht, wie Erwachsene zumindest nicht verhindernd oder destruktiv in adoleszente Prozesse eingreifen – wie dies vielleicht unmerklich und ohne dies zu beabsichtigen geschehen kann. Einige Konstellationen der Verhinderung wurden in den Fallbeispielen bereits illustriert: Verdrngte Trennungs- und Verlustngste, Neid und Rivalitt, die Abwehr der eigenen Begrenztheit und Endlichkeit kçnnen auf Seiten der Erwachsenen die Umgestaltungen der Adoleszenten hemmen.

Potentiale der Verhinderung in adoleszenten Generationenverhltnissen Wie lassen sich Potentiale der Verhinderung in adoleszenten Generationendynamiken aus soziologisch-sozialpsychologischer Sicht beschreiben? Zunchst einmal spielen dabei auch die Geschlechterverhltnisse eine wichtige Rolle. Wenn etwa Tçchter und Sçhne aufbrechen und mehr Spielrume fr autonome Lebensgestaltung einfordern, so kann dies dazu fhren, dass bis dahin verhllte Ungleichheiten und damit verbundene Konflikte zwischen den Eltern als Mann und Frau aufbrechen. Es kann sich zeigen, dass zwischen Vater und Mutter die Spielrume ungleich verteilt sind. Auch das Aufflammen der adoleszenten Sexualitt kann neue Wnsche wecken und die Paarbeziehung der Eltern auf eine Probe stellen. Dies kann etwa dazu fhren, dass Eltern von den durch die Adoleszenz der Kinder ausgelçsten Erschtterungen ihrer eigenen Lebensthemen absorbiert sind. Es kann dazu fhren, dass der Raum der Adoleszenz von den Eltern gleichsam besetzt wird, beispielsweise durch eigene forcierte Aufbrche und Trennungen oder durch heftige Konflikte in den Paarbeziehungen. Die Adoleszenz der eigenen Kinder kann mit solcher Macht uneingelçste Lebensthemen und Autonomisierungswnsche aktualisieren, dass die Eltern der Individuation ihrer Kinder gleichsam zuvorkommen: Noch bevor die Adoleszenten das Nest verlassen kçnnen, sind ihnen die Eltern schon vorausgeeilt, wie es zum Bei-

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spiel in dem internationalen Bestseller »Das Bltenstaubzimmer« von Zo Jenny ausgemalt ist, bei dem diese Konstellation ein Leitmotiv darstellt. Man kçnnte sagen, in diesem Roman sucht die Tochter auch als Adoleszente immer weiter nach dem Nest, whrend die zudem getrennten Eltern stets im Aufbruch sind. Das Nest ist immer schon leer, bevor die Tochter gehen kann. Dieser poetisch eindringliche Roman »Das Bltenstaubzimmer«, bei dem sicher auch aufgrund der aktuellen und bedrngenden Thematik die Auflage in krzester Zeit hochschnellte und der in ber 20 Sprachen bersetzt wurde, bebildert insofern eine typische Konstellation zeitgençssischer adoleszenter Generationendynamiken: Der Roman schildert, dass und wie sich in modernisierten Gesellschaften die Spannung zwischen den Generationen in verschiedenen Varianten des Besetzens der adoleszenten Mçglichkeitsrume durch die je Erwachsenen verdichten kann. Das viel zitierte jugendliche Gebaren der lteren oder die Aneignung jugendkultureller Symboliken durch die Erwachsenengeneration stellen dabei nur die aufflligsten Erscheinungsformen dar. Dass dem so ist, hngt nicht einfach damit zusammen, dass Erwachsene in modernisierten Gesellschaften besonders selbstschtig oder entwicklungsbedrftig wren – auch wenn dies im einzelnen Fall so sein mag. Es kann mit den erwhnten Ungleichzeitigkeiten in den Geschlechterbeziehungen zu tun haben. Es hngt wesentlich aber auch damit zusammen, dass in modernisierten Gesellschaften ein erhçhter Druck besteht, sich immer neu zu bewhren, flexibel zu sein oder Wandlungsbereitschaft auf Dauer zu stellen. Gerade darin liegt vielleicht eine der grçßten Herausforderungen an Generationenbeziehungen der Adoleszenz in modernisierten Gesellschaften: Unter gesellschaftlichen Bedingungen, in denen auch Erwachsene verschrften Anforderungen an Flexibilitt, Mobilitt und fortgesetzten Varianten der Identittssuche ausgesetzt sind, gleichwohl die Heranwachsenden ihrer adoleszenten Mçglichkeitsrume nicht zu enteignen und als generational Andere fr die Identittsarbeit der Adoleszenten zur Verfgung zu stehen.

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Eva Jaeggi

Wohin geht die Reise? Identitt in den mittleren Lebensjahren

In diesem Beitrag werden sich immer wieder mehrere Strnge der Diskussion verflechten: Das ist zum einen die allgemeine Debatte zur modernen Identitt und zum anderen die Probleme der Identitt in den mittleren Jahren des Erwachsenseins. Offensichtlich gibt es dort spezifische Probleme, die denen in der Pubertt in nichts nachstehen. Ich mçchte aber auch – und das wre die dritte Diskussionslinie – nach Lçsungen suchen, wie man in der Moderne mit diesen Problemen umgehen kann, ohne in einem kulturpessimistischen Achselzucken stecken zu bleiben. Die psychischen Stçrungen, die mit Begriffen wie »Identittsdiffusion«, »Identittsschwche«, »Identittsstçrung« und hnlichem gekennzeichnet werden, sind nicht auf Jugendliche beschrnkt. Ob diese Stçrungen (so genannte »frhe Stçrungen«) wirklich in den letzten Jahren so rapide zugenommen haben, wie oft behauptet, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Dass aber die Diagnosen, auch die Selbstdiagnosen, im Hinblick auf solche Stçrungen zugenommen haben, scheint evident. Die Anforderungen an den Menschen auch und gerade in den mittleren Jahren sind in unserer Zeit, wo Rollenvorgaben nur mehr sehr drftig funktionieren, besonders groß. Aber welche Anforderungen sind es, die so vielen Menschen zu schaffen machen? Ist es die Anforderung an die »lebenslange Entwicklung«? Sind es die ußeren Umstnde? Ist es die Verschiebung der Altersgrenzen? Offenbar sind alle diese Themen miteinander verflochten. Und: Was genau ist darunter zu verstehen? Lassen Sie mich mit der »lebenslangen Entwicklung« beginnen. Diesen Begriff hat es in dieser Form nicht immer gegeben. Unter

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dem Einfluss der Psychoanalyse war bis in die 1950er Jahre hinein eher die Vorstellung dominierend, dass mit der frhen Kindheit die wichtigsten Weichen gestellt waren; spter kamen Pubertt und Adoleszenz als »die zweite Chance« ins Blickfeld und begrndeten unter anderem mit Eißler (1978), A. Freud (1958) und Blos (1962) eine Erweiterung des mçglichen Entfaltungsraumes der Person. Dass Pubertt etwas mit Identittsfindung zu tun habe, war klar. Dass es aber ber diesen Abschnitt der Pubertt hinaus auch noch »Identittsarbeit« (Keupp u. Hçfer, 1998) zu leisten gilt – das ist nicht immer so klar gesehen worden. »Arbeit« hat natrlich den Beiklang von Mhe und auch von Scheitern. Die »lebenslange Entwicklung« ist auch von Erikson (1959) als eine Aufgabe angesehen worden, der man sich unterziehen muss und die eben auch scheitern kann und in die Stagnation fhrt. Es ist also eine Verpflichtung entstanden, sich zu entwickeln, und gleichzeitig ist auch ein neuer Freiheitsraum geschaffen worden – der wiederum neue Probleme schafft. In der Freudschen Psychoanalyse gab es den Begriff der Identitt so gut wie nie, aber Freud hatte durchaus eine Vorstellung vom »Einheitsbestreben« der Psyche, in spteren Schriften wurde diese Aufgabe dem »Ich« zugeteilt. Aber die große Wichtigkeit der frhen Kindheit verdeckte ein ausgefeilteres Konzept davon, dass ber die Pubertt/Adoleszenz hinaus sich im psychischen System noch Relevantes verndern kçnne. Identitt als »Schnittstelle zwischen Person-Kern [. . .] den Selbst-Objektreprsentanzen und der bernahme sozialer Rollen, Verhaltensweisen und berzeugungen« (Bohleber, 2000) kann zwar als etwas Statisches gesehen werden. Demgegenber – wiederum nach Bohleber – kann man diese Schnittstelle aber auch als etwas dauernd Vernderliches ansehen, als einen dauernden Prozess, der die ganze Lebensspanne umfasst. Identitt ist fr Bohleber, einen Experten psychoanalytischer Identittsproblematik, nur denkbar als ein selbstreflexives und daher auch prozessuales Geschehen. Identitt wird außerdem nicht unvermittelt erfahren, sondern immer auch in der Spiegelung eines bedeutungsvollen Anderen. Diese Grundberlegungen beruhen auf der alten Unterscheidung von G. H. Mead (1934): Das »Me« stellt die Summe der Er-

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wartungen der anderen dar, das »I« bezeichnet die Instanz im Subjekt, die sich als spontan und eigenstndig erlebt. Beide zusammen erst ergeben das »Selbst«, das man auch mit dem Begriff »Identitt« kennzeichnen kçnnte und das – so Bohleber – eben in der Reflexionsbeziehung des Selbst grndet. Ich werde mich im Folgenden vor allem auf diese interdisziplinren Befunde aus Soziologie, Sozialpsychologie und Sozialphilosophie sttzen. Es ist selbstverstndlich Erikson, dem wir an dieser Stelle die ersten konkreten berlegungen ber die Identitt, bezogen auf bestimmte Lebensalter, verdanken. Sein Entwicklungsmodell sieht fr das Erwachsenenalter, das zwischen dem frhen Erwachsenenalter und dem Alter liegt, als das wichtigste Kernthema die Erlangung von Frsorge-Qualitten an. Generativitt zu erlangen (vs. Stagnation, wenn das Ziel nicht erreicht wird) ist wichtigstes Ziel dieser mittleren Jahre. Den Begriff »Generativitt« will Erikson weiter gefasst wissen als den Begriff »Fortpflanzung«. Er meint damit alle Strebungen, die daraufhin ausgerichtet sind, an kommende Generationen zu denken, ihren Lebensraum und ihr Fortkommen zu schtzen, ihr Aufwachsen zu berwachen und sich darin auch zu spiegeln. berdauernde Aufgabe aller Lebensalter ist die mit den jeweiligen Spezialaufgaben verbundene Etablierung einer kohrenten Identitt. Diese Kennzeichnungen des Erwachsenenalters setzen eine eher konstante Umwelt und damit Lebenslufe voraus, die man als »durchschnittlich« bezeichnen kann. Dazu gehçrt auch eine einigermaßen ubiquitr anerkannte Wertewelt, speziell in Bezug auf die Lebensformen. Wie aber sieht das Erwachsenenalter heute aus? Ich mçchte anhand von sechs Fallvignetten aus verschiedenen Zeiten zeigen, welch bedeutende Wandlungselemente wir heute vor uns haben. 1. Die erste Vignette stammt aus den Kriegsjahren, als traditionelle Lebensformen noch weit verbreitet waren, im Zuge der Kriegsereignisse allerdings kurzfristig aufgebrochen wurden: Die 92-jhrige Mutter einer Freundin erzhlt, dass sie 1945, 32-jhrig mit 4 Kindern (das Jngste ein Sugling) aus dem brennenden Berlin fliehen musste. Sie

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stahl Getreide von den Feldern, musste eine Zeit lang im Schweinestall eines Bauern bernachten und wusste im brigen nicht, ob ihr Mann noch lebte.1947 kam ihr letztes Kind zur Welt und war in solchem Maße unterernhrt, dass man lange Zeit nicht wusste, ob es berleben wrde. Ihre kurze Berufslaufbahn als Kinderschwester war vom ersten Kind an beendet, was sie als ganz selbstverstndlich empfand. Ihr weiteres Leben drehte sich um die Familie, spter um die erweiterte Familie, sie erfllte viele soziale Aufgaben und war damit reichlich beschftigt, bis Alter und Krankheit sie zwangen, sich von der Familie pflegen zu lassen. Dass sie auch als Greisin noch das anerkannte »Zentrum« der Familie war, erfllte sie mit Stolz. 2. Eine Vignette aus den Sechzigerjahren – einer Umbruchszeit fr Lebensformen: Die nunmehr 70-jhrige rztin bekam mit 32 Jahren in den 1960er Jahren ihr erstes Kind und galt damit als »Sptgebrerin«. Sie kmpfte einen sehr heftigen Kampf um ihren Beruf, machte viele Abstriche und wtete sich in eine Opposition gegen ihren typisch traditionell denkenden Ehemann hinein, was die Ehe schließlich zerbrechen ließ. Aus diesem Grund wollte sie auch kein zweites Kind. Sie begngte sich schließlich mit einer Position, die unter ihrem ursprnglichen Berufsziel stand, und wurde Vertrauensrztin bei einer Behçrde. Sie ist zwar nicht ganz unzufrieden mit ihrem Lebenslauf, htte sich aber, wie sie meint, mehr zugetraut. 3. Und nun aus der Gegenwart: Meine nunmehr 31-jhrige Patientin, die in einem sozialen Beruf arbeitet, klagt ber ihre schwierigen Beziehungen beziehungsweise Beziehungsabbrche, sie fragt sich explizit immer wieder, »wer ich denn eigentlich bin«, und schwankt hin und her zwischen einem Selbstbild als »sexy Girl«, »Dame« und »sportlicher Berufsttiger«. Mtterliches Vorbild, gute Freundinnen und Berufskollegen bestimmen ihr jeweiliges Ideal. Vom ußeren her kçnnte sie auch gut als Abiturientin durchgehen. Sie berlegt einen Berufswechsel. 4. Ebenfalls aus der Gegenwart: Die 50-jhrige alleinerziehende Mutter eines 8-Jhrigen hat beruflich im Wirtschaftsleben ungewçhnlich viel erreicht, ist jugendlich und begehrenswert, hat in ihrem Leben sehr viele Liebhaber gehabt, aber zu einer lnger dauernden Partnerschaft kam es nie. Sie qult sich seit einigen Jahren mit der Frage, »ob ich beziehungsunfhig bin?«, denn an Mnnern, die mit ihr leben wollten, hat es nie gefehlt. Das Kind hat sie trotz ungewollter Schwangerschaft sehr bewusst bekommen und hat dem Vater nie von seinem Vorhandensein erzhlt. Sie ist eine sehr frsorgliche und berlegte Mutter, fragt sich aber, was sie dem Kind vorenthalten haben kçnnte durch das Verschweigen ihrer Schwangerschaft. Sie stellt ihr frheres Lebenskonzept – glanzvolle Konferenzen in aller Welt, Verehrer in vielen Lndern und anderes mehr – sehr stark in Frage, ihre Suche nach »Mnnern von Welt« betrachtet sie als Irrtum, ohne dass ihr aber andere Mnner wirklich zusagen. Aber »eigentlich« mçchte sie nichts als eine traditionelle gemtliche Familie – meint sie. 5. Ebenfalls aus der Gegenwart: Die 39-jhrige Sozialarbeiterin hat nach 8 Jahren ihren Ehemann verlassen, um mit einer Frau zu leben, in die sie sich verliebt hat. Es ist ihre erste Frauenbezie-

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hung und sie besteht darauf, dass sie »nicht lesbisch« sei. Sie verliebte sich nach dem Scheitern einer In-vitro-Fertilisation, hat aber jetzt den Wunsch nach einem Kind aufgegeben. 6. Gegenwart: Mein Finanzberater, ein adrett gekleideter Mann von vielleicht 40 Jahren, erschien eines Tages mit langen Jesus-Haaren und dichtem Vollbart. Er werde demnchst seinen Job aufgeben, weil er in einem Selbsterfahrungsworkshop entdeckt habe, dass er »heilende Hnde« habe. Das materialistische Denken sei ihm schon seit langem zuwider, es gebe im Leben Hçheres. Etwa 5 Jahre spter traf ich ihn bei einem teuren Innenstadt-Friseur wieder: flott-sportlich gekleidet, ohne Bart, mit gutem Haarschnitt. Er habe jetzt die Geschftsfhrung in einem Kosmetik-Institut nach Rudolf Steiner, es floriere sehr gut.

Alle diese Lebenslufe zeigen immer wieder von neuem auf, dass es den durchschnittlichen erwachsenen Lebenslauf nicht mehr gibt. Viele Menschen fallen daraus heraus, ohne dass sie dadurch in besonderer Weise auffllig sind oder individuelle Abnormitten aufweisen. All dies sind Menschen »in den mittleren Jahren«, wobei sich natrlich sofort fragen lsst, an welches Alter dabei zu denken ist. Noch zu Eriksons Zeit war das »frhe Erwachsenenalter« schon mit Mitte bis Ende Zwanzig beendet, alle unsere Beispiele fallen damit hinein in die Spanne der mittleren Jahre. Seit einigen Jahren wird es aber immer schwieriger, diese Spanne der »mittleren Jahre« wirklich zu begrenzen. Man rechnet im Allgemeinen bei Mittelstandsangehçrigen mit einem spteren Beginn, vielleicht sogar ab Mitte Dreißig, lsst dann entsprechend das Alter spter beginnen: Die »Jungen Alten« werden ab 60 Jahren so bezeichnet, die richtig alten Menschen seit neuestem oft erst ab 75 Jahren. Aber all dies kann sich auch schnell ndern, ist sehr stark berufs- und karriereabhngig. Arbeitslose Lehrer oder Sozialarbeiter kçnnen mit 35 noch wie Jugendliche wirken, 25-jhrige Banker hingegen gelten eher als erwachsene Mnner. Mit dieser Ungewissheit der Alterszuordnung ist ein erstes Identittsproblem gegeben. Viele Menschen dieser Jahre »wundern« sich, dass sie schon so alt sind, weil sie sich gar nicht so fhlen. Sie sehen brigens auch meist – zumindest in der Mittelschicht – recht jugendlich aus, was mit gesundem Leben und wenig kçrperlicher Arbeit zu tun hat.

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Marcia (1980) fand in seiner Identittsuntersuchung bei Jugendlichen, dass sich innerhalb zweier Jahrzehnte der Anteil derjenigen Jugendlichen, denen man eine »Identittsdiffusion« zuschreiben kçnne, von 20 auf 40 Prozent erhçht hat. Er erklrt zu diesem berraschenden Ergebnis, dass sich offensichtlich nicht die Pathologie in solchem Ausmaß erhçht habe, sondern dass die kulturellen Anforderungen gestiegen seien, die dazu fhrten, dass es schwieriger sei, Optionen durchzuhalten und sich selbst als etwas »Gleichbleibendes« zu empfinden. Er nennt dies »kulturell adaptive Diffusion«. Wir haben keine gleichartige Untersuchung fr Erwachsene in den mittleren Jahren, aber ich glaube, dass man mit hnlichen Ergebnissen rechnen kçnnte. Sehr oft hçrt man von End-Zwanzigern oder Mitte-Dreißigern, dass sie sich noch sehr jung fhlten, noch immer nicht wssten, was es heiße, erwachsen zu sein. Wenn wir den modernen Identittstheorien von Keupp und Hçfer (1998), Bauman und Vecchi (2004), Gergen (1996), Taylor (1991) Giddens (1990) und Bohleber (2000) (und vielen anderen) folgen, dann wird von allen Autoren betont, dass Identitt nicht nur ein »innerlich Gewachsenes« ist, auch nichts, was – wie auch immer entstanden – statisch gesehen werden kann; es ist vielmehr ein im Dauerdiskurs entstehendes Prozessgeschehen, ein Identittsgefhl, das sehr stark mitbestimmt wird vom signifikanten Anderen und sich – so die Psychoanalytiker – von der Primrerfahrung zwischen Mutter und Kind herleitet. Aber – und hier sind die Sozialpsychologen- und philosophen sehr bestimmt – auch diese erste Spiegelung durch die Mutter ist nicht vollstndig zustndig fr das Identittsgefhl. Andere Lebensalter spielen jeweils kulturspezifisch in wichtigen Lebenspartnern mit. Dieser Weg der Identittsbildung ber den Prozess der Spiegelung durch die anderen, der mit der Spiegelung durch die Primrpersonen beginnt, bedeutet fr den Menschen der mittleren Jahre, dass sich die Suche nach Identitt nunmehr nicht, wie noch bei Erikson vermutet, als eine Konsolidierungsarbeit darstellt, die ber die Adoleszenz hinaus weist. Dies mag bei einer Reihe von Menschen in den mittleren Jahren durchaus so sein – die typisch moderne Realitt des Menschen in den mittleren Jahren spiegelt

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es nicht. Es bedeutet vielmehr, dass gerade in den mittleren Jahren, wo sich die ußeren Mçglichkeiten der Lebensgestaltung eben nicht vereinheitlichen, sondern oft ganz drastisch ausweiten, ganz andere und jeweils variable Identittskonzepte am Horizont des Einzelnen auftauchen. Wenn wir zurckgehen zu den Lebensaufgaben in den mittleren Jahren – die Sorge fr die Nachkommen (Generativitt – Erikson), das Schaffen von Werten ber das eigene Leben hinaus (C. G. Jung, 1931), die berufliche Konsolidierung und die Festigung der intimen Partnerschaft (Olbrich, 1997) –, dann wird klar, wie prinzipiell anders sich in der heutigen Zeit dies alles fr Menschen der mittleren Jahre darstellt, wenn man es noch mit denen der Nachkriegszeit vergleicht. Ich zhle ein paar der altbekannten Fakten auf, die hier hineinspielen: 1. Die rumliche Mobilitt: neue Berufe; große Firmen verlangen Flexibilitt, nicht nur im Denken, sondern auch ganz konkret in Bezug auf den Wohnort und die Kompetenzen. Was in den USA schon sehr viel lnger Usus ist, wird auch bei uns blich. Junge Familienvter und -mtter ziehen drei- bis viermal whrend der Kindheit ihrer Kinder um, das aber heißt: neue Nachbarn, neue Freunde, neue Eltern im Kindergarten und in der Schule, neue Berufskollegen. 2. Neue Partnerschaftsmodelle: Unter dem Einfluss von divergierenden Entwicklungsstrngen der Geschlechter, von Langlebigkeit und dem Wegfall kirchlicher und staatlicher Sanktionen bei Trennungen/Scheidungen sowie unter der Akzeptanz unterschiedlicher Lebensformen gerade im Erwachsenenalter, werden Partnerschaften, wenn sie unter Druck geraten, leicht aufgelçst. Neue Beziehungen stellen sich ein; zwei-, dreimal verheiratet zu sein ist kein Makel. Ein vorsichtige Austarieren innerhalb neu gegrndeter Beziehungen und Familien wird nçtig. Natrlich fllt in diesen Problemkomplex auch die Toleranz fr verschiedenartige sexuelle Orientierungen. 3. Freundschaften: Alle Untersuchungen deuten darauf hin, dass Freundschaften nicht nur in der Mittelschicht – vermutlich gerade unter dem Druck labiler intimer Beziehungen – einen gro-

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ßen Wert darstellen. Allerdings haben diese Freundschaften ein hnliches Schicksal wie die Partnerschaften: Sie klingen bei Wohnortwechsel leicht aus, werden blass und durch neue ersetzt. Zeitmangel verhindert es, sich in weit entfernten Orten zu besuchen, die Muße zum Briefesschreiben fehlt oft. Bei manchen Menschen wird eine neue Form der Beziehung durch E-Mails konzipiert. 4. Familie: Erstaunlich oft halten die ursprnglichen Familienbande – trotz weiter Distanzen. Allerdings ergeben sich auch da oft Missverstndnisse, die der Alltag nicht sofort ausbgeln kann; Zuschreibungen verfestigen sich, werden abgewehrt und bleiben als konflikthafter Bestandteil des Seelenlebens bestehen. Familientreffen scheinen wieder Konjunktur zu haben, werden aber auch recht zwiespltig erlebt. 5. Berufsrealitt: Fr viele Menschen ist heutzutage schwierig, sich kontinuierlich in ihren Berufen zu halten. Auch wenn sie innerhalb des von ihnen gewhlten Feldes bleiben: Es werden neue Qualifikationen verlangt, Umlernen ist gefragt, das Aufsteigen ist fr viele ein Ziel. Viele bleiben nicht einmal in der Nhe des Ursprungsberufs. Von einer Konsolidierung kann keine Rede sein – ganz abgesehen von der derzeitigen Situation der vielen Arbeitslosen. Auch die Schwierigkeit, die »mittleren Jahre« altersmßig einzugrenzen, ist mit diesen unsicheren Lebensthemen verbunden. Eine 40-jhrige Frau, die gerade ihr erstes Kind bekommt – ein unter Akademikerinnen hufige Tatsache –, ist in ihrem MutterSein und in ihrer Berufsttigkeit sicher ganz anders ausgerichtet als eine 25-Jhrige in derselben Situation. Ob »alte Mtter« besser oder schlechter sind, ist in diesem Kontext nicht von Belang. Sicherlich sind sie »anders«. Die erstaunliche Jugendlichkeit mancher 40-jhrigen Mutter, manches 45-jhrigen Vaters eines Babys – das alles wirkt sich aus auf das Gefhl fr die eigene Identitt und fr die Zuschreibungen durch die anderen. Besorgte Stimmen (»Unverantwortlich, wenn das Kind zu studieren beginnt, gehen die in Pension« wechseln mit Begeisterung: »Wunderbar, die haben Mut«.)

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Alle diese Felder sind – und dies ist fr das Identittsthema natrlich besonders wichtig – besetzt mit Kontakten mehr oder weniger intimer Form. berall gibt es neue Beziehungen, neuartige Menschen werden kennen gelernt (die 40- bis 45-jhrige Mutter sitzt mit Mitte-Zwanzig-Jhrigen im gleichen Stillkurs oder auf der Parkbank) und mit Erstaunen muss man feststellen, dass man in einen immer wieder neuen Sog von Zuschreibungen und Selbstbeschreibungen gert. Auch die Instabilitt des Berufslebens wirkt in dieser Richtung: Schon vor und vor allem nach dem Abitur verdiente ein mir bekannter junger Mann jahrelang gar nicht schlecht sein Geld als »Zauberer«; er hatte alle in diesem Kreis offiziellen Lehren durchgemacht. Dann grndete eine Band, mit der er ebenfalls Geld verdiente. Ein Universittsstudium zog er daneben hin, ohne je zum Abschluss zu kommen. Als seine Freundin, die Sngerin in der Band, unerwartet schwanger wurde, war er 32, freute sich sehr ber das Kind, ging nun mit Riesenschritten durch das Studium und wurde Lehrer. Das Kind hatte ihn ganz schnell vom Jugendlichen zum Erwachsenen gemacht und er fing an, ber eine Ausbildungsversicherung fr seinen Sohn nachzudenken. Die verschiedenen Milieus, in denen er gelebt hatte, hatten ihm, wie er sagte, großen Spaß gemacht. Ein fast gegenstzliches Schicksal ereilte den 50-jhrigen Rockmusiker, der mit 25 Jahren große Erfolge gefeiert hatte und in unaufhaltsamem Abstieg begriffen in einer Musikalienhandlung Gitarren verkaufte. Er wurde dort bald gekndigt, weil er sich Kunden gegenber nicht zurckhalten konnte und etwas Pçbelhaftes an sich hatte. Sein Chef bezeichnete ihn als »jungenhaften Rowdy«.

Erst durch diese Situation der dauernd gebrochenen und vernderten Lebenslufe ist die Theorie von den sozial konstruierten Identitten in solch hohem Maß plausibel geworden. Wenn wir mit Bohleber Identitt als die Schnittstelle zwischen innerer und ußerer Identitt ansehen, und dies als einen Prozess begreifen, dann wird klar, warum der Sozialpsychologe Gergen sein Buch zu dieser Thematik »Das bersttigte Selbst« nennt. Einen »Chor von Stimmen« in jedem Einzelnen propagiert er – kein Wunder, wenn dieser Chor auch çfters misstçnig erlebt wird. Das kohrente Selbst ist dabei nicht mehr so leicht zu erkennen. Um im Bild zu bleiben: Die Ursprungsmelodie, das berdauernde Thema, kann sehr, sehr leise werden. Dies nennt man eine »Dezentralisierung von Identitt«. Ob diese dezentralisierte Identitt vom Subjekt noch zu kontrollieren ist? So fragt auch Keupp. Erikson konnte

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noch einen hohen Grad von individueller Kontrolle ber die eigene Lebenssituation unterstellen; wenn die Kontrolle entgleiste, dann konnte man das als bedauerliche Pathologie ansehen. Ist aber diese dauernde Neuorientierung, diese immer wieder neue Einstellung zur eigenen Person (hervorgerufen durch die wechselnden anderen) nicht eine recht »gesunde« Reaktion, eben das, was Marcia eine »kulturelle Adaptation« nennt? Immerwhrende Pubertt also als der Normalfall? Und dadurch eine Verpflichtung zur Dauer-Entwicklung? Diesem Bild der dauernd wechselnden Identitten kann man aber auch mit relativierender Skepsis begegnen. Man kann sich fragen, ob: 1. sie nicht berzeichnet ist und 2. ob diese modernen Identitten nicht auch Chancen haben. Dass die Vorstellung von der dauernd wechselnden Identitt (brigens hatten wir in den 1950er Jahren bei David Riesman [1954] schon Vorlufer davon im »Radarmenschen«) Energien freisetzen kann, deutete schon vor einem Jahrzehnt auch Keupp an. Wenden wir uns nochmals der psychoanalytischen Definition von Bohleber zu. Es sind eben nicht nur die ußeren Einflsse, sondern es ist auch – und vielleicht wesentlicher? – die Verbindung zwischen dem »Person-Kern mit seinen Strukturen Ich/Es/berIch« und (neben den sozialen Rollen) den Selbst-und Objektreprsentanzen. Diese »Bestandteile« der Identitt sollten es zulassen, nach alter psychoanalytischer Tradition zu fragen, ob denn hier nicht sehr grundstzliche und recht frh zugrunde gelegte Mechanismen dafr sorgen, dass eine wichtige Instanz der Identittsbildung erhalten bleibt (ob zum Guten oder zum Schlechten, ist sehr verschieden! aber auch der Snder hat eine festgefgte Identitt). Dass also dem »Chor der Stimmen« eben doch eine wichtige Leitmelodie erhalten bleibt. Jeder praktizierende Therapeut ist daran gewçhnt, diese Grundmelodie herauszuhçren und seinem Patienten als »Zentralen Beziehungskonflikt« oder »Narzissmus« oder »Konflikt-Abwehr-Geschehen« deutlich zu machen. Damit aber verdeutlicht er eine zentrale Identittsfacette, die sich nicht so leicht verndert.

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Ein Person-Kern bleibt, auch durch Psychotherapien hindurch, eben doch erhalten und sorgt dafr, dass sowohl im Selbstgefhl als auch in den Augen der anderen eine gewisse Kontinuitt erhalten bleibt. Trotzdem: Es gibt viele sozusagen frei schwebende Identittsbestandteile, die aufgegriffen werden kçnnen, und die Frage, ob dies nicht auch eine Bereicherung darstellt, scheint nicht ganz unsinnig. Das heißt, soziale Rollen werden durchlssig, berzeugungen und Verhaltensweisen ndern sich oft radikal. Und damit ist natrlich auch das Identittsgefhl sehr stark tangiert. Vergleichen wir das Rollenverstndnis traditioneller Zeiten – wir mssen nur ins 19. Jahrhundert hineinschauen –, dann fllt die Einengung durch ein festes Rollenverstndnis sehr stark ins Auge; die Belletristik ist voll von diesen Problemen. Theodor Fontane sticht dabei mit vielen Figuren in seinen Werken hervor. Kçnnen wir also optimistisch sagen: Dies haben wir berwunden, jeder von uns ist offen fr immer wieder neue Erfahrungen – man macht sie notgedrungen und kann sie immer wieder neu einordnen? Eine gewisse Weltlufigkeit ist die Folge. Wir kennen nicht nur sehr unterschiedliche Lebensformen, wir probieren sie selbst aus und versuchen, sie gleichsam von innen her zu beurteilen. Wie fhlt man sich als »Heiler«, wenn man auch das Finanzwesen mit seinen Zwngen von innen her kennt? Wie denkt man ber gleichgeschlechtliche Beziehungen, wenn man mit beiden Geschlechtern Erfahrungen hat? So kann man immer weiter fragen. Aber wissen wir dann noch, wer wir sind? Ist diese Art der konstatierten Identittskonfusion nicht schmerzhaft, fhrt sie irgendwann nicht doch ins Pathologische oder schlimmstenfalls ins sektenhaft gebundene Sicherheitsbestreben? Auch dies ist eine Gefahr – nicht nur fr Jugendliche. Plçtzliche starre Positionen ehemaliger Linker als Nationalisten oder sogar Rechtsextremisten (Beispiele sind Horst Mahler, Bernd Rabehl u. a. m.) sind eben auch fr Menschen der mittleren Jahre mçglich. Ebenso sind Sektenanhnger durchaus in den mittleren Jahrgngen vertreten. Man hat oft das Gefhl, dass hier Flexibilitt zugunsten einer neuen Starrheit aufgegeben wurde, die mit der alten Identitt nur wenig zu tun hat.

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Die neue Chance der Weltlufigkeit wird damit verspielt. Aber: Die Weltlufigkeit ist prinzipiell gegeben und prinzipiell sowohl kreativ als auch pathologisch zu nutzen. Sie ist allerdings als eine Aufgabe gegeben, die bewltigt werden muss. Die Konsistenz des Person-Kerns kann man zwar intellektuell verleugnen und es gibt sicher kein ganz und gar wasserfestes Alibi dafr. Aber wir spren dieses von G. H. Mead so genannte »Ich«. Das Ich, das sich als eine Instanz fhlt, die fr Kreativitt und Spontaneitt steht. Das Ich, das auch, nach Charles Taylor, die Quelle eines nicht nher zu begrndenden Gefhl von Authentizitt angesehen werden kann. Es gibt kaum Anthropologien, in denen eine solche Instanz nicht angenommen wird. Ich erwhne hier nur zum Beispiel die Gestalttherapie, die mit dem komplizierten Konstrukt des »Selbst an der Erfahrungsgrenze« ebenfalls eine solche innere Instanz angenommen hat. Dieses Konstrukt ist deshalb interessant, weil es sehr bewusst schon sehr frh die Prozessqualitt betont hat. Das Selbst ndert sich mit jeder neuen Erfahrung und bleibt doch konstant. Das modernere Konzept der Authentizitt aber ist es, das sozusagen als Kontrapunkt der flexiblen Identittskonstrukte angesehen werden kann. Gestatten Sie mir einen kleinen Exkurs hin zu diesem Konzept, das in der Humanistischen Psychologie eine große Rolle spielt und ganz explizit von dem Sozialphilosophen Charles Taylor auf einer philosophisch-historischen Ebene reflektiert und przisiert wurde. Authentizitt wird von ihm vor allem als Prfstein fr die Moralitt des Handelns angesehen in einer Welt unsicherer ußerer Kriterien fr Moral. Dieses Gefhl der Authentizitt, also das, was »von innen« kommt, ist nichts Selbstverstndliches. Zwar waren es seit Augustinus’ »Confessiones« immer wieder einmal außergewçhnlich sensible Denker (z. B. Montaigne), die sich auf ihre »innere Stimme« berufen haben und das ganz Besondere und Individuelle zu ihrem Thema machten (im Gegensatz zu Descartes und vielen anderen Philosophen, denen das Erforschen des »Allgemeinen« am Herzen lag). Aber zum allgemein wichtigen Thema (Trilling,

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1989) wurde das »Authentische« erst Ende des 18. Jahrhunderts – also zu einer Zeit, als die ersten Rollenaufweichungen zu spren waren. Trilling zeigt es fr die Literatur auf: Bis ins 17. Jahrhundert hinein lebte die Literatur von Verwechslungsspielen. Man tuschte einander, spielte viele Verkleidungsspiele, die Frage der Aufrichtigkeit oder Unaufrichtigkeit der Person stand im Mittelpunkt. Spter aber war dieses Thema nicht mehr von Belang. Wichtig wurde das Thema der Selbsttuschung oder Ehrlichkeit sich selbst gegenber, und damit der Zwang, nach innen zu schauen und auf dieses »innere Gefhl« zu achten. Auch die Calvinisten haben dieses »nach-innen-schauen« verlangt, da man sich immer wieder von neuem vergewissern musste, ob man auch ein gottwohlgeflliges Leben fhrte – ein Leben, das nicht mehr den ußeren Prfsteinen des Beichtspiegels gengen musste, sondern von einem inneren Gefhl her bestimmt war. Mit dieser Forderung nach Innenschau entsteht die moderne Reflexivitt, die der Sozialphilosoph Giddens als ein das handlungsbegleitende bliche menschliche Reflektieren bersteigendes Denken beschreibt. Es ist die immer wieder neue Erarbeitung des Gegenstands und nicht die reflektierende Korrektur, die nach alten Vorlagen arbeitet und daran nicht viel ndert. Es ist sozusagen ein »Maßschneidern« der neuen Lebensformen fr jeden Einzelnen gefragt – und natrlich auch ein Maßschneidern der Beziehungen. Das aber heißt fr das Thema der Identitt auch: ein Maßschneidern der eigenen Identitt. Dass Dauerreflexion bei hufig wechselnden Lebensumstnden auch Dauerreflexion der eigenen Identitt bedeutet, scheint logisch. Die von Keupp so genannte Patch-work-Identitt fgt immer wieder einen neuen Flicken ein in dieses Identittsmuster, nimmt aber auch immer wieder einmal alte Flicken heraus. Wenn wir die »Lebensaufgaben« des mittleren Erwachsenenalters im Lichte dieser berlegungen ansehen, dann wird ein wenig klarer, wie diese Aufgaben zu erfllen wren. Es ginge dann darum, die verschiedenen Identittsangebote, die uns von unseren wechselnden Erfahrungen gemacht werden, in einer distanzierenden Form zu relativieren und immer wieder neu zu berprfen, welche Spiegelung wir mit einem »gefhlten« und »authentischen

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Kern« in bereinstimmung bringen kçnnen. Auch dies ist, wie oben dargelegt, kein endgltiges und zu Ende bringendes Unterfangen. Eine abgeschlossene Identitt gibt es fr moderne Menschen nicht. Es gibt aber die in der Moderne immer wieder erforderliche Reflexion der Gegebenheiten, die zweite Reflexionsebene, die uns heraustrgt aus den unmittelbar gegebenen Angeboten. Diese Identittsarbeit wird nie zu einem klaren Ende kommen. Sie ist aber auch nicht in der immer gleichen Form verwoben in das Dickicht unserer jeweiligen Neu-Erfahrungen und jeweils wechselnden Beziehungen mit ihren neuen Konstruktionen fr unsere Identitt. Die so genannte Midlife-Krise ist sozusagen eingebaut in dieses moderne Leben. »War das alles?« ist die Frage derjenigen, die nicht den Ausweg in die Transzendenz haben – und das haben heutzutage im Sinne naiver Religionen nur wenige Menschen. Der Ausweg aber in eine innerweltliche transzendente Bewegung, die das jeweils Gegebene bersteigt – das haben moderne Menschen allemal. Sie haben es in sehr persçnlicher Weise, jeder muss sich sein eigens Identittspotential erkmpfen, sei es mit Hilfe einer intimen Partnerschaft, sei es mit Hilfe einer Psychotherapie oder was es sonst noch an modernen Lebenshilfen gibt. Sie alle – Lektre, Meditation, Therapie oder Poesie – kçnnen diese Aufgabe erleichtern. Den Schritt hinaus ber die Frage »wer ich denn bin« muss jeder selbst machen. Der gegenwrtige erwachsene Mensch befindet sich gleichsam in der Position des Spitzentnzers: Ruhend auf einem mehr oder weniger sicheren Gefhl fr das innere Gleichgewicht dreht er seine Pirouetten, wechselt das Gesichtsfeld und zeigt dem Betrachter eine jeweils andere Seite. Ob er das Gleichgewicht halten kann? Das ist fr jeden Einzelnen unterschiedlich zu beantworten.

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Literatur Bauman, Z., Vecchi, B. (2004). Identity. Conversations with Benedetto Vecchi. Cambridge, UK/ Malden, MA: Polity Press Blackwell Pub. Blos, P. (1962). Adoleszenz. Eine psychoanalytische Interpretation. Stuttgart: Klett. Bohleber, W. (2000). Identitt. In W. Mertens (Hrsg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart u. a.: Kohlhammer. Eißler, K. (1978). Creativity and adolescence. The effect of trauma in Freuds adolescence. In: The Psychoanalytic study of the child, Vol. 33, p. 461–517. Erikson, E. (1959/1975). Identitt und Lebenszyklus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, A. (1958). Probleme der Pubertt. In: Die Schriften der Anna Freud, Bd.VI. Mnchen: Kindler. Gergen, K. J. (1996). Das bersttigte Selbst. Identittsprobleme im heutigen Leben. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Giddens, A. (1990/1995). Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Jung, C. G. (1931). Die Lebenswende. Zrich: Rascher. Keupp, H., Hçfer, R. (Hrsg.) (1998). Identittsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identittsforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcia, J. E. (1980). Identity in adolescence In J. Adelson (ed.), Handbook of adolescent psychology. New York: Wiley. Mead, G. H. (1934/1973). Geist, Identitt und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Olbrich, E. (1997). Erwachsenenalter. In J. Straub (Hrsg.), Psychologie. Eine Einfhrung Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Mnchen: dtv. Riesman, D. (1954). Individualism reconsidered. New York: Free Press. Taylor, Ch. (1991). The ethics of authenticity. Cambridge Mass.: Harvard Press. Trilling, L. (1989). Das Ende der Aufrichtigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer.

Eike Hinze

Identitt im Alter – eine Fata Morgana?

Auf den Begriff der Identitt wird in den anderen Beitrgen dieses Bandes nher eingegangen, so dass hier eine differenzierte, explizite Diskussion des Begriffs und seiner Geschichte unterbleibt. Diskutiert werden aber die Problematik und die Widersprche, in die man sich im Umgang mit der Identitt verwickelt. Kurz mçchte ich jedoch bei der Fata Morgana verweilen. Eine Fata Morgana ist ein Trugbild, eine Luftspiegelung. Entweder man sieht etwas gar nicht Existierendes oder man sieht etwas an einem anderen Ort. Erikson (1958) erwhnte die Fata Morgana selbst einmal im Zusammenhang mit dem Identittsthema. In »Der junge Mann Luther« schreibt er kritisch, dass in der damals vorherrschenden generellen Auffassung der Psychoanalyse sptere Lebensstufen der Kindheit untergeordnet wrden und demzufolge Zukunftsvorstellungen lediglich die Fata Morgana einer verfehlten Vergangenheit spiegelten. Diese, wie er es nannte, Kosmologie der Psychoanalyse hat auch die Beschftigung von Psychoanalytikern mit spteren Lebensstadien und Entwicklungen, insbesondere auch mit dem Alter, erschwert. Die im Titel dieses Beitrags mit Hilfe der Fata Morgana formulierte Frage kann man auch folgendermaßen ausdrcken: Beschreibt man vielleicht mit Identitt Phnomene, die in anderen Bereichen der Psychologie ihren angestammten Platz haben? Oder verspricht Identitt eine Kohrenz, die sich bei genauerer Betrachtung als illusorisch erweist? Kann es sein, dass man auf der Suche nach der Identitt – oder den Identitten – im Alter leicht Trugbildern anheimfllt, die auf tief verwurzelten Wnschen und Phantasien beruhen, aber sich weitgehend von der Realitt entfernt haben?

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Vor einer Annherung an die mit der Identitt verbundenen Fragen sei aber zunchst eine grndliche Beschftigung mit dem Alter vorangestellt. Ab wann ist man denn eigentlich alt? Man hçrt oft die Bemerkung, man sei so alt, wie man sich fhle. Jeder, der in die Jahre kommt, weiß, wie sehr das aktuelle Alterserleben von vielfltigen Faktoren und Befindlichkeiten abhngt. Oft erweckt bereits die Beschftigung mit dem Alter heftige Affekte. Alter lsst an chronisches Siechtum, Hilflosigkeit und Tod denken. Ein Fotolaborant, der Dias von knstlerischen Darstellungen des Alters angefertigt hatte, ußerte mit sichtlichem Affekt: »Das ist ja alles faszinierend. Aber gleichzeitig ist es auch nicht zum Aushalten!« Kann das chronologische Alter als Kriterium dienen? Meist denkt man bei der Altersgrenze an den Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Berufsleben. Ist es das 65. Lebensjahr als offizieller Ruhestandsbeginn oder das 55., an dem bereits viele Menschen ihr Erwerbsleben beenden? Bismarck hatte brigens die Altersgrenze auf 70 Jahre festgesetzt. Die heutigen lteren sind meist vitaler und gesnder, als es in frheren Jahrzehnten der Fall zu sein pflegte. Im Folgenden sollen ganz pragmatisch unter den Alten beziehungsweise den lteren die 65-Jhrigen und lteren verstanden werden, wobei aber die Problematik einer solchen fixen Grenze deutlich werden wird.

Das Alter Soziobiologische beziehungsweise evolutionspsychologische Modelle als Erklrungsmuster fr menschliche Verhaltensrepertoires erleben in letzter Zeit eine Hochkonjunktur. Trotz mancher unkritischer bertreibungen bieten diese Anstze dennoch oft eine wertvolle Ergnzung zu entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Theorien, um menschliches Erleben und Verhalten zu verstehen und zu erklren. Entscheidend bei solchen berlegungen ist der Beitrag, den genetisch bedingte Verhaltensdispositionen zur so genannten genetischen Fitness leisten. Ein derartiger direkter Einfluss kann im Alter nicht mehr ohne weiteres angenommen werden. Denn die Evolution, vereinfacht gespro-

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chen, interessiert sich nicht fr Verhalten jenseits des Fortpflanzungsalters. Es gibt keinen Selektionsdruck fr Alterseigenschaften, also auch nicht fr Langlebigkeit. Einen Beitrag der lteren zur genetischen Fitness einer Menschengruppe kçnnen allerdings deren Erfahrung und die soziale Kompetenz von Großeltern liefern, hier insbesondere der Großmtter. Ein solches Modell kçnnte auch einen, zunchst noch recht spekulativen Hinweis auf die Grnde fr die konstant hçhere Lebenserwartung von Frauen liefern (Spitzer, 2001). Solche berlegungen gelten jedoch eher fr einen frher blichen geringeren Anteil der Alten in einer Gesellschaft und auch nicht fr die Zunahme der Uralten, die wir heute beobachten kçnnen. Wenn von den auf Neuseeland lebenden Maori gesagt wurde, dass bei Expeditionen zur Erschließung neuer Lebensrume das entsprechende Boot mit sechs jungen starken Mnnern, zwçlf jungen dicken Frauen und einem alten Mann besetzt sein solle, wird damit zwar der Wert der lteren zur berlieferung von Erfahrungswissen gewrdigt, aber eben auch von eher wenigen, kçrperlich noch leistungsfhigen Alten. Unter den Lebensbedingungen der Jger und Sammler konnten zu viele Alte das berleben der Gruppe gefhrden. Deswegen war unter den frheren Nomadenvçlkern der Gerontozid nicht unbekannt. Auch in unserem Kulturkreis war die Rolle der lteren frher nicht idyllisch, obwohl wir dazu neigen, in dieser Hinsicht die Vergangenheit zu idealisieren. Allerdings gab es festere Rollenbilder. Der ltere Mensch wurde noch gebraucht, Erfahrung galt noch etwas. Ein afrikanisches Sprichwort lautet dementsprechend: »Wenn ein alter Mensch stirbt, dann ist es, wie wenn eine ganze Bibliothek verbrennt.« Heute jedoch ist das Wissen von Generationen auf elektronischen Datentrgern gespeichert. Hinzu kommt eine zunehmende Funktionslosigkeit (Lehr, 1993) des Alters infolge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Frher gab es noch keine zahlenmßig relevante Altersfrage. Die durchschnittliche Lebenserwartung war so gering, dass der Anteil der Alten in einer Gesellschaft relativ klein war. Das hat sich im Laufe des letzten Jahrhunderts dramatisch verndert, so dass wir fast von einem demographischen Beben sprechen kçnnen. Diese Zunahme der lteren Menschen ist im brigen eine globale Entwick-

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lung, von der auch Lnder wie China und Indien betroffen sind oder bald betroffen sein werden. Wie sieht nun die Lage der lteren heute aus? Man muss sich vergegenwrtigen, dass wir teilweise mit einem Verhaltensrepertoire in diese Lebensphase eintreten, das sich nicht im Laufe der Evolution an deren Besonderheiten angepasst hat. So mag zum Beispiel konkurrierende Aggressivitt im Erwerbsleben manchmal von Vorteil sein. Im Alter hingegen treten eher deren gesundheitsschdigenden Wirkungen in den Vordergrund. Darber hinaus ist der ltere heute mit Situationen konfrontiert, fr die vorangegangene Generationen kein Vorbild sein kçnnen. Die gesamte Altersphase dauert lnger, genauso wie die postfiliale Phase in Partnerbeziehungen. »Großeltern heutzutage entsprechen keinesfalls dem Bild, das man immer noch in Schullesebchern findet« (Lehr, 1993). Viele ltere, die bereits Großeltern sind, sorgen noch fr ihre eigenen Eltern (sandwich generation ). Auch ein langes Single-Dasein im Alter wird immer hufiger. Eine Umfrage unter lteren ergab, dass sie sich meist zehn Jahre jnger fhlen, als ihrem chronologischen Alter entspricht. Dieser Befund spiegelt den gesundheitlichen und sozialen Wandel der letzten Jahrzehnte wider. Die Menschen, an die man sich als alt erinnert, die eigenen Eltern zum Beispiel, wirkten eben bereits viel lter als ihre heute lebenden chronologisch Gleichaltrigen. Obwohl sich die lteren heute einer besseren Gesundheit erfreuen als frher, haben sie aber Mhe, sinnvolle Aufgaben in der Gesellschaft zu finden und zu bernehmen. Es ist erstaunlich, dass sich in einer derart schnell verndernden Zeit herkçmmliche Altersstereotype hartnckig halten wie das des Alters als Defizit und Abbau, das des Altersstarrsinns oder das der sanften, harmlosen Großmutter. Jeder, der sich mit dem Alter theoretisch oder in praxisbezogenen Zusammenhngen beschftigt, setzt sich dabei gleichzeitig immer mit dem eigenen Altern auseinander. Und auch fr den Fachmann oder Wissenschaftler ist die Versuchung groß, eigene, sehr ideosynkratische Phantasien in sein Altersbild mit hineinzumischen. Deshalb sind die Ergebnisse groß angelegter Untersuchungen wie der Berliner Altersstudie besonders wichtig, um ein objektives Bild vom Altern zu gewinnen.

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Die Berliner Altersstudie In der in den 1990er Jahren durchgefhrten Berliner Altersstudie (BASE) (Mayer u. Baltes, 1996) wurden ber 500 70- bis 100-jhrige Berliner im Rahmen einer Querschnittuntersuchung einer intensiven multidisziplinren Befragung und Untersuchung unterzogen. Diese Studie belegt einmal mehr, dass es »das Alter« nicht gibt. Zum einen finden sich in diesem Sammeltopf unterschiedliche Lebensalter, die sich in vielfltigen Aspekten unterscheiden. Zum anderen ist die intersubjektive Variabilitt im Alternsprozess sehr groß. Menschen altern sehr unterschiedlich. Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten und Trends. Der Anteil psychischer Erkrankungen ist entgegen hufig geußerten Annahmen mit 24 Prozent der 70-jhrigen und lteren nicht erkennbar hçher als in jngeren Jahren. Die hufigsten Krankheitsgruppen sind Demenzen und Depressionen. Dabei nimmt die Demenzprvalenz mit dem Alter exponentiell zu. Unter den 70-Jhrigen leiden weniger als 5 Prozent daran. Bei den 80-Jhrigen sind es schon 10 bis 15 Prozent und ab 90 fast 50 Prozent. Dem entspricht ein mit dem Alter zunehmender Leistungsverlust ber alle Facetten der Intelligenz, wenn auch etwas geringer ausgeprgt bei der strker durch kulturelle Faktoren beeinflussten kristallin-pragmatischen als bei der fluiden Intelligenz. Bei diesem altersgebundenen Verlust der geistigen Leistungsfhigkeit handelt es sich vor allem um die Wirkung neurobiologischer Prozesse. Die geistige Regsamkeit und Bildung im bisherigen Leben beeinflussen in diesem Prozess lediglich den Ausgangswert, aber kaum wesentlich den jeweiligen Leistungsabfall. Diese Entwicklung der Prvalenz von Demenzen unter lteren zeigt auf der einen Seite etwas ngstigendes: Man muss nur alt genug werden, um mit großer Wahrscheinlichkeit dement zu werden. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch, dass im »jngeren« Alter diese Wahrscheinlichkeit noch sehr gering ist. Trotz einiger Einbußen bleibt man lernfhig, ist aber nicht mehr ganz so schnell und leistungsfhig wie frher. Es ist auffallend, dass die meisten lteren keine Probleme haben, ber ihre kçrperlichen Altersbeschwerden, etwa ihre Gelenkschmerzen, zu klagen, aber von einer mçglichen Einbuße ihrer

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geistigen Leistungsfhigkeit nicht so gern reden. Die Angst vor der damit verbundenen Beschmung und eventuell spter drohenden Hilfsbedrftigkeit ist zu groß. Nicht nur im geistigen, auch im kçrperlichen Bereich findet sich ein hnlicher Befund. Bis zum 80. Lebensjahr kann man im Allgemeinen bei entsprechender Lebensfhrung und guter genetischer Ausstattung ein Leben ohne grçßere Einbußen fhren. Entsprechend der exponentiellen Demenzkurve entwickeln sich aber im neunten Lebensjahrzehnt meist grçßere Leistungseinbußen bis hin zu Hinflligkeit und Hilfsbedrftigkeit. Ein wichtiges Ergebnis der BASE ist daher, dass man im Alter die so genannte dritte Lebensphase von etwa dem 60. bis zum 80. Lebensjahr vom vierten Lebensalter danach differenzieren muss. Gesndere Lebensfhrung und moderne Medizin haben es mçglich gemacht, dass das junge Alter noch eine erfllte Zeit mit großer Lebenszufriedenheit sein kann. Die frher dem gesamten Alter zugeschriebene Altersnot ist aber nicht verschwunden. Sie hat sich nur verschoben. Im 4. Lebensalter lsst die Lernfhigkeit rasch nach. Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und soziale Einbettung schwinden. Der Lebensweg im hohen Alter gert oft zum Leidensweg. In einem Artikel der »Zeit« ber Altersforschung ist dieser Sachverhalt in der prgnanten Formulierung zusammengefasst: »Die kulturelle Evolution, der Fortschritt von Medizin, Bildung und Wirtschaft hat uns zwar das dritte Alter beschert. Aber sie straft uns mit dem vierten« (Etzold, 2003). Die Alterswissenschaft und auch die Alterspsychotherapie sind anfnglich mit einer großen Euphorie an ihre Aufgabe herangetreten. Es galt, die verleugneten und verschtteten Potentiale im Alter zu entdecken, zu erforschen und therapeutisch zu nutzen. Inzwischen ist aber eine gewisse Ernchterung eingetreten, als man die Grenzen, die durch das vierte Lebensalter gesetzt werden, besser kennenlernte. Das dritte Lebensalter kann ein sehr eigenes Lebensgefhl hervorrufen. Man kann sich noch fast in der Blte stehend fhlen und ist doch bereits stndig von Krankheit und Tod bedroht. Ein Schlaganfall, ein Herzinfarkt oder eine Krebsdiagnose kçnnen das Lebensgefhl schlagartig verndern. Beginnt das vierte Lebensalter, dann lebt die Hlfte der eigenen Alterskohorte

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nicht mehr. Die jetzt ltere Generation, deren Kindheit noch in der Kriegszeit wurzelt, findet dafr oft den Ausdruck: »Die Einschlge kommen nher.« Es ist eine Zeit, die verlangt, eine persçnliche Balance zwischen Depression und manischer Verleugnung zu finden. Das sind nun schon Beobachtungen und Gedanken, die zum Thema der Identitt weiterleiten. Zuvor mçchte ich aber noch auf einen hierfr relevanten Befund der BASE sowie auf weiterfhrende Forschungsergebnisse eingehen. Zwei Drittel der Alten fhlen sich gesnder als ihre Altersgenossen, fast ein Fnftel ebenso gesund wie Gleichaltrige. Solche positiven Vergleichsurteile nehmen mit dem Alter sogar noch zu. Je lter Menschen sind, desto gesnder fhlen sie sich im Vergleich zu ihren Altersgenossen. Es ist offensichtlich, dass solche positiven Selbsteinschtzungen nur mit einer erheblichen Verleugnung der Realitt zustande kommen kçnnen. Dieser Befund wird uns spter noch beschftigen. Zunchst stellt sich das Alter – nach dem bisher Gesagten – als ein Prozess des Abbaus und Niedergangs dar, der zwar anfangs noch in Schach gehalten werden kann, aber spter umso gnadenloser den Alternden ereilt. Um im Bild der Fata Morgana zu bleiben: Die Landschaft wird immer trockener und wstenhnlicher. Ist da eine Oase in Sicht, die sich nicht als Luftspiegelung erweist? Wem fllt da nicht das Stichwort der Altersweisheit ein, die oft als etwas beschrieben wird, das man erst im Laufe eines langen Lebens erwirbt. Der Initiator der BASE Paul Baltes hat sich mit der wissenschaftlichen Erforschung dieses Begriffs beschftigt. Probanden wurden komplexere soziale, konflikthafte Situationen geschildert, die es zu erkennen und zu handhaben galt. Dabei zeigte sich, dass ltere diese Aufgaben oft besser lçsten als Jngere. Fnf Komponenten von Weisheit beziehungsweise Altersweisheit, konnten dabei als Hypothesen formuliert werden: Faktenwissen in grundlegenden Fragen des Lebens, Strategiewissen, Wissen um die Kontexte des gesellschaftlichen Wandels, Wissen um die Ungewissheit des Lebens, Wissen um die Relativitt von Werten und Lebenszielen. Baltes arbeitete auch heraus, dass zum Weisheitswissen die Fhigkeit gehçrt, kreativ mit Altersverlusten umzugehen. Er prgte dabei die Abkrzung SOK: S wie Selektion, O wie Organisation, K wie Kompensation.

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Baltes illustriert dies Prinzip am Pianisten Arthur Rubinstein. »Der 80-jhrige Arthur Rubinstein ist in verschiedenen Interviews gefragt worden, wie er immer noch ein so guter Konzertpianist sein kçnne. Aus seinen Antworten lsst sich das SOK-Prinzip herauslesen: Er habe sein Repertoire verringert, also eine Wahl getroffen. Außerdem be er diese Stcke mehr als frher. Das ist die Optimierung. Und weil er die ausgewhlten Stcke nicht mehr so schnell wie frher spielen konnte, hat er noch einen Kunstgriff angewendet. Vor besonders schnellen Passagen verlangsamte er sein Tempo; im Kontrast erschienen diese Passagen dann wieder ausreichend schnell. Das ist eine Form der Kompensation. Ich glaube, diese Strategie, sich auf wenige Ziele zu beschrnken, diese aber sehr energisch zu verfolgen und dabei nach geeigneten inneren und ußeren Ressourcen der Kompensation zu suchen, das ist die Kunst des guten lterwerdens« (Baltes, 2002). Baltes und seine Mitarbeiter gehen noch einen Schritt weiter, um das subjektive Erleben im Alter zu ergrnden. Mit dem Konzept Sehnsucht untersuchen sie Strategien lterer, mit der eigenen Vergangenheit und deren Versumnissen umzugehen (Baltes u. Freund, 2004). Aus diesem Ansatz sei ein interessanter Befund herausgegriffen. Als Forschungsinstrument wurde die Selbstauskunft verwandt. Diese Ausknfte nderten sich zum Teil drastisch, wenn sie unter Bedingungen grçßerer Anonymitt gegeben wurden. 35 Prozent der Teilnehmer berichteten dann zustzliche Sehnschte, die weniger erstrebenswerte Charakteristika offenbarten, als die blicherweise genannten, wie zum Beispiel Untreue und Rache. Dieses Ergebnis wirft Fragen auf. Wenn sich allein unter grçßerer Anonymitt schon solch neue Dimensionen erçffnen, wie wrde sich dann das Bild ndern, wenn man gar die unbewusste Dimension in das Untersuchungsdesign mit einbezçge und die psychoanalytische Methode verwendete? Begriffe wie Weisheit und Sehnsucht zielen darauf ab, das affektive Erleben und damit auch die Identitt lterer Menschen besser zu erfassen. Sie zeigen auch, dass dabei die unbewusste Dimension immer wichtiger und interessanter wird.

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Identitt (1) Erikson hat 1946 den Begriff der Identitt in die Psychoanalyse eingefhrt. Er beschrieb phasenspezifische Identittsthemen beziehungsweise -konflikte, die den Menschen whrend seines gesamten Lebenslaufs begleiten. Fr das reife Erwachsenenalter postulierte er die Polaritt zwischen Integritt und Lebensekel. Gebhrt ihm das Verdienst, das psychoanalytische Entwicklungskonzept auf die ganze Lebensspanne auszudehnen, so zeigten sich doch auch bald Probleme mit dem Begriff. Die Beziehung der Identitt zum bewussten und unbewussten Seelenleben ist nicht klar. Oft wird nur das bewusste Erleben gemeint, weswegen ber Identitt auch mehr in soziologischen Arbeiten geschrieben wird als in psychoanalytischen. Bezieht man die unbewusste Dimension mit ein, wird die Abgrenzung gegenber Ich, Selbst, Subjekt, Person, Persçnlichkeit unscharf. Andererseits liegt der Reiz des Begriffs darin, die komplexe Beziehung zwischen Anlage und Umwelt, auch der außerfamilialen und kulturellen, im ganzen Lebenslauf zu erfassen. Um der unbewussten Dimension nherzukommen, sei noch einmal an die beschriebenen Forschungsanstze der BASE sowie an die Weisheits- und Sehnsuchtsforschung erinnert. Zum einen tauchte dabei das Problem des bewussten Verheimlichens auf, wenn es um anstçßige affektive Inhalte ging. Zum anderen zeigte sich in der Einschtzung des eigenen Gesundheitszustands eine Neigung zur Verleugnung. Die Verleugnung stellt nun sicher eine weit verbreitete Abwehr in allen Altersstufen dar, aber im Zusammenhang mit den alterstypischen Krnkungen kçnnte sie eine besonders wichtige Rolle im Alter spielen.

dipus auf Kolonos Als Fortsetzung seines dipus-Dramas schrieb Sophokles sein Alterswerk »dipus auf Kolonos«. Der alte dipus gelangt nach Kolonos und wird unter die Schutzgçtter Attikas im Hain der Eumeniden aufgenommen. Vor dieser gçttlichen berhçhung kommt

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es zu dramatischen Begegnungen mit seinen beiden Sçhnen Eteokles und Polyneikes und Konflikten mit seinen Tçchtern Antigone und Ismene. In einer sehr subtilen Arbeit zeigt der britische Psychoanalytiker John Steiner (1990), wie der greise dipus in einer grandiosen Selbstberhçhung Zuflucht nimmt zu einer massiven Verleugnung der inneren Realitt und seiner Gefhle von Schuld, Krnkung und Verlust. Die maßlose Selbstidealisierung berdeckt dabei nur schlecht eine ungeheure Aggression gegen seine eigenen Kinder. Sicher ist das nur eine der vielen mçglichen Deutungen des Stcks. Aber es ist eindrucksvoll, das Drama als eine Entwicklung hin zur manisch-omnipotenten Verleugnung der inneren Realitt zu verstehen, die bereits im »Kçnig dipus« begann. Es ist das Stck eines alten Mannes ber einen Greis. Und ich kann mich noch gut an ein Symposium ber Sophokles erinnern, in dem zwei grand old men des zeitgençssischen Kulturlebens sich einig waren in ihrer Bewunderung fr dieses Sptwerk. Dabei war nicht ganz klar, ob diese Bewunderung nur dem alten Dramatiker Sophokles galt oder auch der Figur des greisen dipus. Verleugnung, Rckzug von der Realitt und Omnipotenz sind prinzipiell altersinvariant. Aber alte Menschen greifen oft darauf zurck, wenn es um die Bewltigung der sich im Alter hufenden Erlebnisse von Krnkung, Verlust und Schuld geht. Ein winziges Alltagsbeispiel hierfr geben manche ltere, die beim berqueren einer verkehrsreichen Straße trotzig zur anderen Seite schauen, als kçnnten sie ihre Unsicherheit und Hinflligkeit durch Nichtbeachten der realen Gefahr verleugnen. Wobei sich in Psychotherapien mit lteren oft nicht nur Schuldgefhle manifestieren, sondern reale Schuld mit Schdigung anderer, die sich im Lebenslauf akkumuliert haben mag und Anlass zu eher massiven und archaischen Abwehrmançvern gibt. In dem, was als Altersweisheit erscheint, taucht oft eine Gratwanderung auf zwischen echter Altersreife und omnipotenter Anmaßung. Nachlassende intellektuelle Schrfe und Ungenauigkeit des Denkens kçnnen leicht als große Entwrfe und Sicht der Weisheit verkauft werden, sich selbst und anderen gegenber. Sehnsucht und Weisheit sind Begriffe, die etwas Gutes, Bewahrendes suggerieren. Aber Aggressionen und Am-

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bivalenzkonflikte entfalten ihre Dynamik auch im Alter. Sie nehmen manchmal eine andere Form an. So mag man unter Geschwistern nicht mehr nur um Erfolg und Ansehen konkurrieren, sondern die Frage gewinnt an Bedeutung, wer zuerst stirbt, das heißt, wer wen berlebt. Oder man denke auch an den Neid der lteren auf die Jungen, der sich meist allerdings nur verstellt Ausdruck verschafft: Bedauern, dass die es heutzutage so schwer haben, Eingreifen in deren Lebensbedingungen.

Identitt (2) Im bisher Dargestellten habe ich ein Bild des Alterns in Umrissen entworfen als eines viele Jahrzehnte umfassenden Prozesses, mit zahlreichen ußeren und inneren Vernderungen, an die man sich anpassen muss. Große gesellschaftliche Umwlzungen sind zu bewltigen. Alte ungelçste Konflikte beeinflussen weiterhin das Seelenleben. All das geschieht mit einer großen intersubjektiven Variabilitt. Leistungsminderungen und Verluste und die damit verbundenen Krnkungen mssen verarbeitet werden und kçnnen in dem vierten Lebensalter zur schweren Last werden. Der alternde Mensch kann aber auch neue Kompetenzen wie Erfahrungswissen und Weisheit entwickeln. Dabei darf man nicht vergessen, dass Verluste und auch Leistungsminderungen uns von Jugend an begleiten. Eines wird bei dieser kurzen Zwischenbilanz sicher deutlich: Das Idealbild des an Weisheit und Erfahrung zunehmenden Alten, der in sich ruht und endlich am Abend seines Lebens innere Ruhe und Gelassenheit gefunden hat, ist eine Fata Morgana, ein Trugbild. Dieses Bild wird auch geschaffen von den Jngeren, die ihre Vorstellung von mchtigen, Sicherheit gewhrleistenden Eltern nicht aufgeben wollen, und von den lteren selbst, die gern Leistungsminderungen und Einschrnkungen verleugnen. Kann man nun berhaupt von der oder einer Identitt im Alter sprechen oder muss man nicht eher von vielen mçglichen, sich vielleicht abwechselnden Identitten im Alterungsprozess sprechen? Der amerikanische Psychoanalytiker H. S. Sullivan (1964) ging zum Beispiel davon aus, dass ein Mensch so viele Identitten

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besitze, wie er Beziehungen zu anderen Menschen erlebt habe. Man denke nur an die zahlreichen Entwicklungen, Brche und Verwerfungen, denen sich ein alternder Mensch ausgesetzt sieht, innerer und ußerer Natur und oft ohne Rollenvorbilder bei der Elterngeneration. Was verndert sich, wenn man im eigenen Alter die sehr alten Eltern pflegt? Welche Auswirkungen auf die Identitt lterer hat der massenhafte Verbrauch des Potenzmittels Sildenafil (Viagra) gehabt, fr die alten Mnner, aber auch fr ihre alten Partnerinnen? Soziologen und mehr geisteswissenschaftlich ausgerichtete Wissenschaftler mçgen diese Variabilitt strker gewichten und dabei die zugrunde liegende Biologie mit ihren konservativen Tendenzen vernachlssigen. Das Faszinierende in Psychotherapien mit lteren Patienten ist hingegen die Persistenz von Konflikt-, Verarbeitungs- und Beziehungsmustern, die ihre Kraft unverndert ber den gesamten Lebenslauf entfalten. Auch die synaptischen Verschaltungen unserer Hirne sind sehr bestndig und konservativ. Die Wahrheit ist in der Mitte zwischen den zwei extremen Positionen zu suchen. Auf der einen Seite der in sich ruhende, in einer festen Identitt nicht mehr wandelbare alte Mensch. Und auf der anderen Seite ein Mensch, der auch im Alter noch in einer »kommunikativen Verflssigung« (Honneth, 1998) seines Innenlebens die Wahl zwischen einer grenzenlosen Vielfalt von Identittsentwrfen hat. Im Seelenleben eines jeden Menschen gibt es untergrndige, kaum wandelbare Strukturen, besonders im affektiven und Beziehungsbereich. Dass es auch hier zu Vernderungen kommen kann, zeigen die Wirkungen langdauernder Psychoanalysen. Auf diesen basalen psychischen Grundstrçmungen hat sich im Laufe des Lebens eine Vielfalt von Strukturen etabliert, die vernderbar sind, und dies teilweise in einem Ausmaß, dass man zu Recht von einem Wandel der Identitt sprechen kann. Dass dies auch im Alter noch mçglich ist, sollen die noch folgenden Fallvignetten veranschaulichen. In ihrer bahnbrechenden Arbeit ber die Psychoanalyse mit lteren weist Pearl King (1980) auf die Parallelen zwischen Altern und Adoleszenz hin. In beiden Phasen des Lebenszyklus ist man biologischen und sexuellen Vernderungen ausgesetzt. Die Ver-

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nderungen der gesellschaftlichen Rollen kçnnen gleichermaßen ngste hervorrufen und Konflikte um Autonomie und Abhngigkeit aktivieren. In beiden Perioden wechselt man im Allgemeinen von einem Mehrgenerationen-Haushalt in einen EingenerationenHaushalt und sieht sich vor die Aufgabe gestellt, neue Beziehungen einzugehen. Vernderungen im Selbstbild, narzisstische Belastungen und Identittskrisen treten auf. Diese Parallele weist auf eine mçgliche Gefhrdung im Alternsprozess durch narzisstische Krisen hin. Sie deutet aber auch die Mçglichkeit an, im Altern wieder Zugang zu dem kreativen Potential der Adoleszenz zu gewinnen. In Psychoanalysen lterer Patienten kommt es hufiger zu einer Wiederbelebung ungelçster Adoleszenzkonflikte mit der Mçglichkeit, sie zu bearbeiten. Gleichzeitig kann dieser regressive Zugang zur Adoleszenz auch Entwicklungen im Alter ermçglichen. Dieses Wiederaufleben der Adoleszenz in Psychoanalysen darf nicht verwechselt werden mit einer lebenslangen Fixierung in ihrer Adoleszenz von manchen narzisstischen Persçnlichkeiten. Die Fhigkeit zu ich-gerechten Regressionen ist auch im Alter ein wichtiger Baustein fr seelische Gesundheit. Verschiedene Autoren haben dies, jeweils auf ihre Weise und nicht spezifisch fr das hçhere Alter, ausgedrckt. Erikson betont in »Der junge Mann Luther« dessen Fhigkeit, in einen Zustand »passiver Identitt« zu gelangen. Fr Loewald (1951) ist es wichtig, dass so genannte unreifere Entwicklungsstufen des Ich zugnglich bleiben mssen. Und auch Honneth beschreibt die Wichtigkeit, periodisch in den ursprnglichen Zustand der Symbiose zu regredieren. Bions Desiderat eines freien Verkehrs zwischen der depressiven und der paranoid-schizoiden Position ist auch in diesem Kontext zu verstehen. Auch im Alter, und vielleicht gerade in dieser Lebensphase, ist es fr die seelische Gesundheit wichtig, innerhalb eines stabilen Identittsrahmens doch soviel regressive Beweglichkeit zu bewahren, um zu Vernderungen fhig zu sein und nicht in einem zu festen Identittskorsett zu erstarren. Die folgenden Fallvignetten kçnnen zeigen, dass die dort gemachten Beobachtungen nicht nur fr den psychopathologischen Bereich relevant sind.

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Fallvignetten In der langjhrigen analytischen Psychotherapie der ber 70-jhrigen Frau A. stellte sich langsam, und fr die Patientin oft schmerzhaft, heraus, dass hinter ihrer beraus freundlichen und zugewandten Art eine andere Identitt verborgen war. Von der sehr jungen Mutter fr ihre Brustentzndung und eine andere Erkrankung im Wochenbett verantwortlich gemacht, wre sie fast an der Mutterbrust verhungert, weil die Mutter ihre Unterernhrung nicht bemerkte. In ihrer Kindheit gelang es ihr dann, die Zuwendung der Mutter zu erlangen, indem sie tchtig und hilfsbereit wurde, die jngere, von der Mutter geliebte Schwester fast wie eine Kinderschwester versorgte und der Mutter ihre Wnsche fast von den Lippen ablas. Diese Haltung bertrug sie auf ihre anderen Beziehungen. Andere Menschen suchen ihre Gegenwart und Hilfe und idealisieren sie als großherzig und zugewandt. Die andere Identitt, die dahinter zum Vorschein kam, war die eines traurigen und verlassenen Kindes, voller Zorn und Erbitterung gegenber der Welt, aber auch voller Schuldgefhle, das die Annherungen der anderen oft als lstig empfand.

Diese beiden Persçnlichkeitsanteile waren so kohrent voneinander abgegrenzt, dass man durchaus von zwei verschiedenen Identitten sprechen kçnnte, die eine bewusst und anfangs ichsynton, die andere unbewusst und abgewehrt. Hier wird gleichzeitig die Problematik des Begriffs Identitt deutlich. Welche der beiden Identitten war denn ihre eigentliche? Was mich in der Behandlung immer wieder beeindruckte, war die erhalten gebliebene Lebendigkeit von Frau A., wozu auch die Fhigkeit gehçrte, adoleszente Positionen wieder einzunehmen und Vernderungen zuzulassen. Die etwas ltere Frau B. hatte ich anfangs auch prognostisch gnstig beurteilt. Ihre intellektuellen und knstlerischen Fhigkeiten hatte sie frh in ihrem Leben zugunsten der Brder und ihrer hilfsbedrftigen Mutter zurckgestellt. In der analytischen Psychotherapie schien es zunchst, dass sie wieder Zugang zu ihrem kreativen Potential gewinnen kçnnte. Aber bald zeigte sich die Macht eines archaischen ber-Ich, das jegliche Idee von Selbstverwirklichung als Abwendung von der Mutter ahndete. Die Therapie wurde nach einem vielversprechenden Beginn unergiebiger, weniger aufdeckend als haltend. Sie dauerte viele Jahre, whrend derer langsam ein Abbau an kçrperlicher und geistiger Vitalitt zu beobachten war.

Das vierte Lebensalter hatte seinen Einzug gehalten. Die ber 60-jhrige Frau C. begann in ihrer Therapie langsam Zugang zu ihrer chronischen Wut (auf die Mutter, den Vater, die Schwester, die Welt) zu bekom-

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men. Eines Tages bemerkte sie nachdenklich: »Und da muss ich so alt werden, damit ich das spre!«

Wieder kann man sich zwei Identitten im Widerstreit vorstellen. Die ber 70-jhrige Frau D. hatte in ihrer langjhrigen Analyse Zugang zum Leid ihrer frhen Kindheit gewonnen und auch zu vielfltigen traumatischen Phasen in ihrem Leben. Sie hat sicher keine neue Identitt entwickelt. Aber in ihrem abschließenden Kommentar drckte sie doch ihr Empfinden einer großen Vernderung aus: »Es ist besser, Schmerz zu fhlen, als berhaupt nichts zu empfinden.«

Diese Vernderungen im therapeutischen Prozess waren wohl nur mçglich gewesen, weil sie mit ihren Kindern und Enkelkindern reale, wiedergutmachende Erfahrungen machen konnte.

Schlussbemerkung Identitt ist ein schillernder und in der psychoanalytischen Theorie und Praxis nicht unproblematischer Begriff. Aber er erscheint geeignet, die auch im Alter zu beobachtende Dialektik zwischen notwendiger psychischer Stabilitt und mçglicher Flexibilitt zu beschreiben. Ein fließendes Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen ist angesichts der Belastungen, die der Alterungsprozess mit sich bringt, fr dessen Bewltigung unerlsslich.

Literatur Baltes, P. (2002). Interview / Lebenswege. GEO (8). Baltes, P., Freund, A. M. (2004). Research Project 7 : Toward a Psychological and Developmental Theory of Lifespan-Longing (Sehnsucht). Center for Lifespan Psychology. Zugriff am 5.11.2006 unter http://www.mpib-berlin.mpg.de/en/forschung/lip/pdfs/research_project_7.pdf. Erikson, E. H. (1946/1976). Identitt und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Erikson, E. H. (1958/1970). Der junge Mann Luther. Reinbek: Rowohlt. Etzold, S. (2003). Der Rat der Greise. Die Zeit (33). Honneth, A. (1998). Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identitt. ber das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse. Arbeitstagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, Nov. 1998.

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King, P. (1980). The life cycle as indicated by the nature of the transference in the psychoanalysis of the middle-aged and elderly. Int. J. Psycho-Anal. 61, 153–160. Lehr, U. (1993). Der ltere Mensch in seiner Zeit. In G. Biegel (Hrgs.), Geschichte des Alters. Verçffentlichungen des Braunschweigischen Landesmuseums, 72. Loewald, H. W. (1951). Ego and reality. Int. J. Psycho-Anal. 32, 10–18. Mayer, K. U., Baltes, P. (Hrsg.) (1996). Die Berliner Altersstudie. Berlin: AkademieVerlag. Spitzer, M. (2001). Die Weisheit des Alters. Editorial. Nervenheilkunde 6, 302–305. Steiner, J. (1990). The retreat from truth to omnipotence in Sophocles’ Oedipus at Colonus. Int. R. Psycho-Anal. 17, 227–237. Sullivan, H. F. (1964). The illusion of personal identity. New York: Norton.

Karin Pçhlmann / Peter Joraschky

Berufliche Identitt aus der Sicht der Persçnlichkeitspsychologie und der Psychoanalyse

Der Beruf ist neben Partnerschaft und Familie einer der wesentlichen normativen Entwicklungsbereiche des Erwachsenenalters und stellt in der Regel eine zentrale Komponente der individuellen Identitt dar. In diesem Beitrag wird ein berblick ber Identitt und Identittsentwicklung gegeben, wie sie von Roy Baumeister (1986) konzipiert wurde. Anschließend wird differenziert, welche Bedeutung der Beruf im Leben des Einzelnen haben kann und wie grundlegende Bedrfnisse nach Selbstwert, Wirksamkeit, Sinnhaftigkeit und Erfllung oder Wertorientierungen erfllt werden, je nachdem ob der Beruf als Job, als Berufung oder als Karriere verstanden wird. Aus der Perspektive der sozial-kognitiven Theorie der Berufslaufbahnentwicklung (Lent, Brown u. Hackett, 1996) wird beschrieben, wie sich berufliche und Karriereinteressen entwickeln und laufbahnrelevante Anliegen aufrechterhalten und weiter verfolgt werden. Die zentralen Konzepte, die diesen Entwicklungsprozess steuern, sind die Selbstwirksamkeitsberzeugung der Person, ihre Ergebniserwartungen und ihre persçnlichen Ziele. Langfristige Ziele, die den beruflichen Weg bestimmen, sind berufliche Identittsideale, die ideale Selbstentwrfe darstellen, denen sich die Person anzunhern versucht. Im letzten Abschnitt wird die berufliche Entwicklung von Psychoanalytikern und Psychotherapeuten aus der Perspektive der dargestellten Konzepte betrachtet.

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Identitt und Berufliche Identitt Identitt und Identittsentwicklung sind nach Baumeister (1986) ein lebenslanger und kultur- und zeitspezifischer Prozess. Er veranschaulicht den Einfluss der Kultur am Beispiel des historischen Wandels, den das Konzept Identitt durchgemacht hat. Außerdem differenziert Baumeister verschiedene Selbstdefinitionsprozesse, durch die Identittskomponenten erworben werden, und erweitert damit die Beschreibung der psychosozialen Konfliktkonstellation von Eriksons Identittsansatz. Baumeister hebt die aktive Rolle des Individuums besonders hervor. Identitt entsteht seiner Ansicht nach heute mehr als frher durch Wahlen des Individuums, durch Entscheidungen zwischen mçglichen Optionen und Alternativen und durch das Eingehen von Bindungen an Ziele. Erik Erikson (1956–57, 1981a, 1981b) versteht unter Identitt die Fhigkeit, sich trotz stndiger Vernderungen ber verschiedene Situationen und ber die Zeit in bereinstimmung mit dem frheren Selbst und in bereinstimmung mit dem Bild zu erleben, das sich die anderen von einem machen. Identitt besteht aus allen Antworten auf die Frage »Wer bin ich?«. Sie setzt sich damit aus einer praktisch unbegrenzten Menge von Elementen zusammen. Identittskomponenten mssen zwei Definitionskriterien erfllen: Kontinuitt und Differenzierung. Kontinuitt ist die Einheit der Person ber Situationen und ber die Zeit und bedeutet, heute derselbe Mensch zu sein, der man gestern oder letztes Jahr war und der man auch morgen und nchstes Jahr noch sein wird. Das zweite Identittskriterium Differenzierung beinhaltet den Aspekt der Individualitt und Einzigartigkeit. Dieses Kriterium erfllen Identittselemente, die einen von anderen Menschen unterscheiden. Diese Unterscheidungsmerkmale kçnnen generell oder breit sein, wie das Merkmal »Geschlecht«, oder sehr spezifisch wie die Rentenversicherungsnummer, durch die man eindeutig zu identifizieren ist. Trotzdem ist Frau- oder Mannsein aufgrund sozialer Erwartungen und Konsequenzen wesentlicher fr die Identitt als die Rentenversicherungsnummer. Menschen unterscheiden sich darin, wie viele Komponenten ihre Identitt beinhaltet. Und was

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fr eine Person ein wichtiges Element der Selbstdefinition ist, kann fr eine andere vçllig unwichtig sein.

Selbstdefinitionsprozesse Identittskomponenten werden durch Selbstdefinitionsprozesse erworben. Baumeister (1986) unterscheidet fnf Selbstdefinitionsprozesse, nmlich: Zuweisungen, einzelne Transformationen, hierarchische Kriterien, optionale und notwendige Wahlen. Sie erfordern zunehmend mehr Aktivitt von der Person und sind zunehmend schwieriger. Am einfachsten sind Identittskomponenten durch Zuweisungen zu erwerben. Geschlecht und Familienzugehçrigkeit sind Beispiele fr zugewiesene Elemente. Selbstdefinition auf der Basis solcher Komponenten ist passiv, stabil und unproblematisch. Unproblematisch bezieht sich dabei allerdings nur auf den Erwerb des Merkmals. Es ist einfach, eine Frau zu werden, weil man einfach so geboren wird, das bedeutet aber nicht, dass es aufgrund sozialer Konsequenzen und Erwartungen nicht schwierig ist, eine Frau zu sein. Identittskomponenten, die durch einzelne Transformationen erworben werden, sind ebenfalls stabil und unproblematisch. Der ritualisierte bergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter durch Initiationsriten stellt eine solche Transformation dar. Auch Mutter oder Vater werden ist ein Beispiel fr eine einfache Transformation. Die Identittskomponente »Mutter sein« oder »Vater sein« wird durch ein einzelnes Ereignis, die Geburt eines Kindes, erworben. Die dritte Art von Selbstdefinitionen basiert auf einer Hierarchie von Kriterien. Reichtum ist ein Beispiel fr eine derartige Identittskomponente. Fr solche Identittskomponenten gibt es keine Kriterien, die definieren, wann man sie erreicht hat. Jemand, der 500.000 Euro besitzt, ist reicher als jemand, der nur 25.000 Euro besitzt. Aber andererseits ist man noch reicher, wenn man Millionr oder sogar Milliardr ist. Kriterien und Prozeduren fr das Reichwerden sind relativ unproblematisch: Die Kriterien sind quantitativ, Wege sind zum Beispiel harte Arbeit, Lotto spielen

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oder eine Erbschaft machen. Auch der berufliche Erfolg ist ein hierarchisch organisierter Selbstdefinitionsprozess. Kriterien wie Titel, Befçrderungen, Gehaltserhçhungen, Bonusse und andere Statusmerkmale dokumentieren die Karriere des Einzelnen. Auch hier sind die Wege zum Erwerb der Identittskomponente klar vorgegeben, wie zum Beispiel Schulabschluss, Ausbildung, Weiterbildung oder berstunden. Allerdings ist der Prozess des Erwerbs von Identittskomponenten auf der Basis von hierarchischen Kriterien nie abgeschlossen und muss immer neu definiert werden. Selbstdefinitionen dieses Typs bringen außerdem den Vergleichsund Wettbewerbsaspekt in die Identitt ein. Weil es relativ klar definierte, in diesem Fall quantitative, Standards gibt, kann man sich mit anderen vergleichen und von ihnen abgrenzen. Die letzten beiden Prozesse beinhalten Selbstdefinition durch optionale oder notwendige Wahlen, die das Individuum trifft. Wahlen sind notwendig, wenn es fr einen Identittsbereich mehrere Sets von Kriterien gibt, die inkompatibel sind. Optional sind Wahlen zwischen Komponenten, die man nicht unbedingt treffen muss. Beispiele fr solche Identittsbestandteile sind Religionszugehçrigkeit oder Parteizugehçrigkeit. Derartige Wahlen werden im Kontext eines bergeordneten Wertesystems getroffen, und wer seine Religionszugehçrigkeit oder seine Parteizugehçrigkeit ndert, tut dies aus einem persçnlich wichtigen, triftigen Grund. Auch im Beruf kann die Person eine Reihe von Entscheidungen treffen, die als optionale Wahlen zu verstehen sind: die Stelle wechseln, eine Weiterbildung absolvieren, ein Sabbatical nehmen oder fr ein Jahr ins Ausland gehen. Derartige Entscheidungen sind nicht normativ vorgegeben, sondern die Person trifft sie, weil sie sich davon erstrebenswerte Konsequenzen verspricht: ein interessanteres Ttigkeitsfeld, mehr Freizeit, bessere Aufstiegschancen oder eine Weiterentwicklung ihrer Fhigkeiten und Kompetenzen. Der schwierigste Selbstdefinitionsprozess sind notwendige Wahlen. Beispiele dafr sind die Berufswahl oder die Partnerwahl. Beides sind wichtige Bereiche der Identitt. Fr beide Bereiche gibt es viele Optionen, zwischen denen man sich entscheiden muss. Jeder Beruf hat potentielle Vorteile und Nachteile, und die Entscheidung fr einen davon kann nur auf der Grundlage individueller

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Maßstbe getroffen werden, weil es keine generellen Richtlinien gibt. Das Fehlen solcher Leitlinien macht diese Art der Selbstdefinition besonders problematisch. Baumeister argumentiert, dass Identitt heute krisenhafter als frher ist, weil sie zu einem grçßeren Teil durch hierarchische Kriterien sowie durch optionale und notwendige Wahlen erworben wird. Er unterscheidet zwei Arten von Identittskrisen: Identittsdefizite und Identittskonflikte. Identittsdefizite sind gekennzeichnet durch ein Fehlen von Zielbindungen beziehungsweise Identittskomponenten. Identittsdefizite kennzeichnen die Situation des Jugendlichen in der Adoleszenz. Er muss eigene Wertvorstellungen und langfristige Ziele erst noch entwickeln. Identittskonflikte sind Konflikte zwischen unvereinbaren Identittskomponenten. Typisch dafr ist die Situation der Frau, die sich zwischen »erfolgreich im Beruf« und »fr die Familie da sein« entscheiden muss. Funktionen der Identitt Eine stabile und dynamische Identitt erlaubt es der Person, Wahlen zu treffen, ihre sozialen Beziehungen und Rollen befriedigend zu gestalten und ihre Potentiale zu verwirklichen. Der Prozess der Selbstdefinition beinhaltet die Bildung eines individuellen Systems von Werten und Prioritten, die bestimmen, wie man sich verhlt und was man erreichen will. Ein System von Werten und Prioritten ermçglicht es dem Individuum zu whlen und sein Leben aktiv und zielgerichtet zu gestalten. Auf der Basis von Wertorientierungen kann man entscheiden, wie man seine Freizeit verbringen will, welchen Beruf man ausben will und mit wem man zusammenleben mçchte. Beziehungen zu anderen Menschen sind ohne eine stabile Identitt nicht mçglich, denn wenn ich nicht weiß, wer ich bin, wissen andere es auch nicht. Dass dies so ist, kann man daran erkennen, dass Beziehungen zu Freunden oder auch zum Partner schwierig werden, wenn man sich in einer »Krise« befindet. Die soziale Identitt oder die »persona« (C. G. Jung) beinhaltet auch, wie Menschen ihre sozialen Rollen individuell gestalten und ausfllen.

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Ein dritter funktionaler Aspekt von Identitt ist das Ausschçpfen der eigenen Potentiale: Dazu gehçrt, sich realistische Ziele zu setzen und das Selbstvertrauen zu haben, dass man sie erreichen kann. Die Sicherheit der eigenen Identitt verleiht Strke und Widerstandsfhigkeit. Dadurch kann man Rckschlge leichter verkraften und resigniert nicht, wenn Hindernisse auftreten, sondern findet andere Ziele oder andere Wege. Das Ausschçpfen der eigenen Potentiale ist eng verbunden mit dem Erleben persçnlicher Erfllung. Potentialitt beinhaltet nicht nur, dass man eine Vorstellung davon hat, was man tun kçnnte, sondern dass man es tut, weil man berzeugt ist, dadurch persçnliche Erfllung zu finden. Damit umfasst der Aspekt der Potentialitt mehr als die vorhandenen und mçglichen Ziele einer Person. Historischer Wandel der Bedeutung von Identittskomponenten Identitt ist nach Baumeister nicht nur krisenhafter und problematischer geworden, weil sie durch komplexere Prozesse erworben wird, sondern auch weil traditionelle Bestandteile der Selbstdefinition entweder destabilisiert oder trivialisiert worden sind. Destabilisierung bedeutet, dass Komponenten das Kriterium der Kontinuitt nicht mehr erfllen. Trivialisierung bedeutet, dass Identittskomponenten die Differenzierungsfunktion nicht mehr erfllen. Identittskomponenten wie geographische oder familire Herkunft oder auch Tugend und Moral, durch die Menschen sich frher definiert haben, sind heute praktisch bedeutungslos fr die Selbstdefinition geworden. Andere, wie sozialer Status, Ehe oder Beruf, haben teilweise an Bedeutung verloren oder sind instabil geworden. Man kann heute seinen sozialen Status durch eigene Leistungen verndern, im Laufe seines Lebens mehrere Berufe ausben und mehr als einmal heiraten. Heute beruht Identitt wesentlich mehr als in frheren Zeiten auf instabilen Merkmalen wie Alter und kçrperlichen Charakteristika oder auf selbstbezogenen Komponenten, die der Einzelne fr sich erarbeiten muss. Moderne Quellen von Identitt sind die Persçnlichkeit des Einzelnen, seine persçnlichen Leistungen, sein erworbener Besitz und das Netz seiner Aktivitten, das ihn von anderen unterscheidet.

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Die Bedeutung des Berufs in der individuellen Biographie Der Beruf als Quelle von Sinn Nach Baumeister (1991) betrachten Menschen ihr Leben als sinnvoll, wenn es ihnen gelingt, vier Arten von Bedrfnissen zu erfllen: (1) das Bedrfnis, ihr Leben als zielgerichtet und sinnvoll ansehen zu kçnnen, (2) das Bedrfnis nach Wirksamkeit, (3) das Bedrfnis nach Wertorientierungen und (4) das Bedrfnis nach Selbstwert. Der Beruf kann diese Bedrfnisse in unterschiedlicher Art und Weise erfllen, je nachdem ob er von der Person als Job, als Berufung oder als Karriere verstanden wird (Baumeister, 1991). (1) Zielgerichtetheit und Sinn Menschliches Verhalten ist zielgerichtet und Menschen interpretieren ihr eigenes Verhalten und das von anderen in Bezug auf Ziele. Diese Art von Sinnhaftigkeit kann external oder internal erfahrbar sein: internal durch seltene, kurze schwer erreichbare Erfllungserlebnisse, external durch das Realisieren persçnlich bedeutsamer Ziele. (2) Wirksamkeit Das Bedrfnis nach Wirksamkeit wird befriedigt, wenn die Person Erfahrungen macht, die ihr zeigen, dass sie etwas bewirken und aktiv verndern kann. Es wird gestrkt, indem Herausforderungen gemeistert und anspruchsvolle Ziele erreicht werden. Die Person ist dann sicher, dass sie ihr Leben gestalten kann und Kontrolle ber Anforderungen und Ereignisse ausben kann, mit denen sie konfrontiert wird, auch wenn dieses Gefhl der Kontrolle in vielen Fllen nur subjektiv ist. (3) Werte Ein weiteres Bedrfnis besteht darin, die eigenen Handlungen in Relation zu einem Wertsystem zu setzen und sie so als gut und richtig und moralisch gerechtfertigt betrachten zu kçnnen. Werte

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legitimieren unser Handeln. Sie sind nach Baumeister (1991) heute nicht mehr generell gltig und durch bergeordnete Institutionen begrndet, wie es zum Beispiel Verhaltensregeln sind, die von Religionen formuliert werden. Heute haben viele Werte ihren Ursprung in der Person. Ich tue etwas nicht mehr, weil es im moralischen Sinne gut und richtig ist, sondern weil es fr mich gut und fr meine Selbstentfaltung nçtig ist. (4) Selbstwert Das vierte Bedrfnis ist, sich selbst als gut und wertvoll wahrzunehmen. Dieses Streben nach Selbstwert motiviert Menschen dazu, sich gut darzustellen und auf andere sympathisch zu wirken, so dass sie anerkannt und geschtzt werden. Der Selbstwert kann sich auf gemeinschaftliche Quellen sttzen, wie zum Beispiel die Zugehçrigkeit zu einer anerkannten Berufsgruppe, oder auf individuelle Quellen, zum Beispiel die Erfahrung, besondere Fhigkeiten zu haben und anderen berlegen zu sein. Der Beruf als Job, Berufung oder Karriere Der Beruf kann nach Baumeister (1991) im Leben des Menschen einen unterschiedlichen Stellenwert einnehmen und diese Sinnbedrfnisse in unterschiedlicher Art und Weise erfllen: Er kann als Job verstanden werden, als Berufung und als Karriere. Der Beruf als Job Wenn der Beruf als Job betrachtet wird, ist die berufliche Ttigkeit eine rein instrumentelle Ttigkeit, die dem Erlangen anderer Dinge und Konsequenzen dient, die die Person erstrebenswert findet. Das kçnnen materielle Dinge sein wie Urlaub, ein Haus, ein zweites Auto. Ein Job kann aber auch dabei helfen, das Bedrfnis nach Unabhngigkeit oder Sicherheit zu erfllen oder der Untersttzung der Familie dienen. Die Sicht des Berufs als Job ist besonders hufig bei Arbeitern oder anderen beruflich wenig qualifizierten Personen zu finden, da die ausgefhrten Ttigkeiten an sich wenig Anreiz bieten. Derartige Ttigkeiten erfordern in der Regel keine besonderen Fhigkeiten und befriedigen das Bedrfnis nach Wirk-

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samkeit nicht. Rubin (1976) fand zum Beispiel, dass Arbeiter deshalb hufig anspruchsvolle Hobbys haben, wie zum Beispiel Renovieren, Autos reparieren oder Grtnern und Tauben zchten, die Fhigkeiten und Kompetenz erfordern und Erfolgserlebnisse vermitteln. Auch hier kann der Beruf aber eine wesentliche Quelle von Selbstwert sein. Allein die Tatsache, eine Arbeit zu haben, kann ein Faktum sein, aus dem jemand viel Wert fr sich selbst ableitet, eine Besttigung des eigenen Wertes kann auch sein, eine Arbeit ber lngere Zeit zu behalten. Auch die Tatsache, dass man »ein richtiger Mann« ist, der seine Familie ernhren kann, ist eine wesentliche Quelle fr die Identitt und den Selbstwert, selbst wenn die ausgebte Ttigkeit an sich fr die Person keinen inhrenten Wert hat. Der Beruf als Berufung Einen Beruf als Berufung zu sehen, bedeutet, sich fr eine bestimmte Art von Ttigkeit bestimmt zu fhlen. Berufungen kçnnen ihren Ursprung in externalen oder in internalen Quellen haben. Priester, Missionare oder Nonnen fhlen sich zum Beispiel von Gott berufen, das Priesteramt auszuben, eine Gemeinde in einer abgelegenen Gegend zu betreuen oder in ein Kloster einzutreten. Berufungen kçnnen aber auch von der Gesellschaft ausgehen. In Kriegszeiten fhlen sich viele Mnner verpflichtet, ihr Land zu verteidigen, die nie Berufssoldat werden wrden. Auch Hausfrau und Mutter zu sein, wurde frher als Berufung der Frau verstanden. Die Ttigkeit der Hausfrau und Mutter beinhaltet Wirksamkeitserlebnisse, die darauf begrndet sind, dass man sein eigener Chef ist, Entscheidungen fr die Familie trifft und fr andere sorgen kann (Lopata, 1971). Die ideale Hausfrau und Mutter zu sein, war fr Frauen eine zentrale Komponente des Selbstwerts. Obwohl viele Frauen in der Untersuchung von Lopata mit ihrer Rolle als Hausfrau unzufrieden waren, berichteten sie auch Erfllungserfahrungen wie zum Beispiel, »die Kinder aufwachsen sehen«. Berufungen, die die Person in sich selbst sprt, sind eng mit der Selbstverwirklichung verknpft. In der Romantik und im Vikto-

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rianischen Zeitalter galt die innere Bestimmung als wesentliches Element einer knstlerischen Laufbahn. Hier bestand der innere Auftrag darin, ein individuelles Talent auszuleben und weiterzuentwickeln. Die Berufung diente damit der Selbstentwicklung und erfllte die Identittsfunktion der Erfllung der eigenen Potentiale. Hier ist arbeiten rein intrinsisch motiviert. Die eigene Berufung zu verwirklichen, verspricht Erfllungserlebnisse. Der Beruf als Karriere Wenn der Beruf als Karriere betrachtet wird, liegt der Schwerpunkt auf Leistung, Erfolg und Status. Wesentliches Element ist dabei nicht die Arbeit an sich, sondern die Rckmeldung ber das Selbst, die eine Reaktion auf die getane Arbeit ist. Fr den Karriereorientierten ist Arbeit ein Mittel, um sein Selbst zu schaffen, zu verwirklichen, auszudrcken, zu beweisen und zu glorifizieren. Dies kann durch Indikatoren wie Befçrderungen oder Gehaltserhçhungen geschehen, durch herausragende Leistungen oder Preise und Ehrungen. Karriereorientierte zeigen oft ein hohes Anstrengungsniveau. Sie bringen Opfer an Freizeit, Urlaub und Familienleben und anderen sozialen Aktivitten, um beruflich vorwrtszukommen. Diese berstunden und Einschrnkungen sind allerdings nicht Ausdruck davon, dass man die Arbeit an sich liebt und sich dem, was man produziert oder als Dienstleistung anbietet, verpflichtet fhlt. Natrlich bevorzugt auch der Karrieremacher eine Arbeit, die interessant und abwechslungsreich und angenehm ist, aber diese Anreize sind fr ihn sekundr. Die Anstrengungen und Opfer werden erbracht, um das kompetitive Bedrfnis zu befriedigen, erfolgreich zu sein, als fhig, effektiv und wertvoll anerkannt zu werden und Status und Prestige zu erreichen, die zeigen, dass man Karriere gemacht hat. »Karriere machen« kann alle vier Arten von den oben genannten Sinnbedrfnissen erfllen: Es beinhaltet sowohl kurzfristige als auch langfristige Zielsetzungen. Solche langfristigen Ziele bestehen hufig in Ambitionen, bestimmte Dinge zu erreichen, die durch die Statusstruktur der Organisation, in der man arbeitet, vorgege-

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ben werden. Karrieren mssen nicht unbedingt Erfllungserlebnisse beinhalten, weil das Bedrfnis nach Sinn und einem Zweck durch die differenzierte Zielstruktur befriedigt wird. Beruflicher Erfolg kann allerdings auch Erfllungserlebnisse bieten, die auf Ruhm, Anerkennung von anderen und dem Wissen um die eigene berlegenheit beruhen (Braudy, 1986). Der Erfolg befriedigt das Bedrfnis nach Wirksamkeit. Das Wirksamkeitsbedrfnis wird zudem auch durch die Anwendung und die Fçrderung von Fhigkeiten und Kompetenzen befriedigt, die die Voraussetzung dafr sind, erfolgreich zu sein. Zentraler Fokus der Karriere ist der Selbstwert. Karrieren beinhalten eine ganze Reihe von klaren Indikatoren wie Titel, Befçrderungen, Gehaltserhçhungen, anhand derer die Person ihren Wert ziemlich przise definieren kann. Das Selbst stellt heute eine wesentliche Quelle fr Werte und fr Erfllungserlebnisse dar. Die Karriere ist ein Weg der Selbstentfaltung und der Selbstwertgenerierung. Damit wird Karriere machen zu einem erstrebenswerten Wert. Beruflich erfolgreich zu sein kann auch dann zu einer legitimierten, »guten« Ttigkeit werden, wenn damit andere wesentliche Werte erreicht werden kçnnen. Beruflicher Ehrgeiz und Erfolg sind dann ein Weg, um seine Pflicht gegenber der Familie zu erfllen. Eine Reihe von Berufen verbinden Elemente von Berufung und Karriere. Das sind zum Beispiel Berufe wie Sportler oder Musiker, aber auch Arzt und Forscher, bei denen die Person ein besonderes Talent verwirklicht und Ruhm, Status oder Anerkennung erfhrt. Derartige Berufe vereinbaren Sinnquellen von Berufung und Karriere, sie bieten sowohl Erfllung, Wirksamkeit und Selbstentfaltung als auch Selbstwert durch Status und Erfolg. Die sozial-kognitive Berufslaufbahntheorie Die sozial-kognitive Theorie der Berufslaufbahnentwicklung (Lent et al., 1996) beschreibt den Prozess, durch den (a) ich berufliche und Karriere Interessen entwickeln, (b) auf der Basis von Interessen und anderen Faktoren laufbahnrelevante Wahlen getroffen werden und

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(c) Menschen verschiedene Leistungen erzielen und ihre laufbahnrelevanten Anliegen aufrechterhalten und weiter verfolgen. Die Theorie basiert auf dem Modell des triadisch reziproken Kausalittsmodells von Albert Bandura (1986), das davon ausgeht, dass Merkmale der Person, Merkmale der Umwelt und das Verhalten der Person Konstellationen sind, die sich gegenseitig beeinflussen. Wesentliche Merkmale der Person, die die Entwicklung der beruflichen Laufbahn bestimmen, sind: Selbstwirksamkeitsberzeugungen, Ergebniserwartungen und persçnliche Ziele.

Der Einfluss von Selbstwirksamkeitsberzeugungen, Ergebniserwartungen und persçnlichen Zielen auf die Entwicklung der beruflichen Laufbahn Der Begriff Selbstwirksamkeit beschreibt die berzeugung einer Person, aufgrund ihrer eigenen Fhigkeiten und durch ihr eigenes Handeln bestimmte Ziele oder Standards erreichen zu kçnnen (Bandura, 1986, 1989a). Selbstwirksamkeit ist beeinflusst von den Fhigkeiten der Person und ihren frheren Erfahrungen, das heißt Erfolgen und Fehlschlgen, sowie Einstellungen zum Lernen. Selbstwirksamkeit beeinflusst die Auswahl von Aktivitten, den Anstrengungseinsatz und die Ausdauer bei einer Aufgabe. Die Selbstwirksamkeitsberzeugung ist keine generelle und stabile Eigenschaft, sondern dynamisch und kontext- und aktivittsspezifisch. Selbstwirksamkeitsberzeugungen entwickeln sich ber vier Arten von Informationsquellen: (a) individuelle Leistungen und erzielte Ergebnisse, (b) stellvertretendes Lernen, (c) soziale Beeinflussung und (d) physiologische Zustnde und Reaktionen. Vereinfacht ausgedrckt steigen Selbstwirksamkeitsberzeugungen durch Erfolge und werden durch Fehlschlge geringer. Ergebniserwartungen sind berzeugungen ber die Konsequenzen und Ergebnisse bestimmter Handlungen. Ergebniserwartungen

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entstehen durch direktes Lernen und durch Modelllernen. Sie sttzen sich auf Erfahrungen ber die Ergebnisse, die man selbst in der Vergangenheit erzielt hat, und auf Informationen von anderen. Sowohl Selbstwirksamkeitsberzeugungen als auch Ergebniserwartungen steuern das Handeln der Person. Bandura (1989a) geht allerdings davon aus, dass die Selbstwirksamkeitsberzeugung der wichtigere Faktor ist, weil Personen auch dann nicht handeln, wenn die mçglichen Konsequenzen positiv sind oder wenn sie nicht glauben, dass sie die nçtigen Fhigkeiten und Kompetenzen besitzen, um erfolgreich zu sein. Der dritte Personfaktor, der die berufliche Entwicklung bestimmt, sind die Ziele, die die Person verfolgt. Persçnliche Ziele kçnnen kurzfristig und trivial sein, aber auch wesentliche Lebensorientierungen der Person ausdrcken. Sie umfassen das gesamte Spektrum von trivialen Anliegen, wie »heute Mittag einen Brief einwerfen«, bis hin zu bergreifenden Lebensthemen und idealisierten Zukunftsvorstellungen (Little, 1983). Persçnliche Ziele sind Dinge, Zustnde oder Ergebnisse, die Menschen in der Zukunft erreichen oder vermeiden wollen. Persçnliche Ziele sind transaktionale Konstrukte, sie bilden ab, was eine bestimmte Person in ihrer spezifischen Lebenssituation anstrebt. Sie sind in ein Zielsystem integriert, das hierarchisch organisiert ist, und bestehen aus kognitiven, affektiven und conativen Komponenten (Pervin, 1983). Zur kognitiven Komponente von Zielen gehçrt die mentale Reprsentation des erwnschten Endzustands und der Plne zu seiner Erreichung. Kognitive Aspekte von Zielen sind außerdem Selbstwirksamkeitsbewertungen der Person darber, ob sie in der Lage ist, ein Ziel zu erreichen, sowie Kosten-Nutzen-berlegungen zu alternativen Strategien und Zielen. Diese kognitiven Bewertungen mssen allerdings nicht bewusst ablaufen. Die affektive Komponente besteht aus der Aktivierung von Emotionen, die mit dem Ziel verknpft sind. Conative Bestandteile von Zielen sind Handlungen, die ausgefhrt werden, um ein Ziel zu erreichen. Die verschiedenen Ziele, die ein Mensch kurz- oder langfristig realisieren will, sind hier-

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archisch organisiert (Bandura, 1989b; Carver u. Scheier, 1990). Ober- oder Lebensziele, die langfristig orientiert sind, zeit- und kontextbergreifend wirken und dem Handeln der Person Stabilitt und Konsistenz verleihen, stellen Orientierungspunkte fr die individuelle Lebensplanung einer Person dar (Pervin, 1983). Aus generell formulierten Oberzielen entwickeln sich mittel- und kurzfristige Unterziele, die zielgerichtetes Handeln auslçsen. Die mittlere Ebene des Zielsystems zwischen generellen Lebenszielen und situationsspezifischen Handlungen bilden persçnliche Ziele. Der Begriff persçnliche Ziele bezeichnet Konzepte wie current concerns (Klinger, 1977), personal projects (Little, 1983), personal strivings (Emmons, 1986) oder life tasks (Cantor u. Kihlstrom, 1987), denen gemeinsam ist, dass sie Konkretisierungen von langfristigen, generell formulierten Lebensorientierungen und Lebenszielen darstellen und instrumentell fr die Generierung von konkreten Plnen und situationsspezifischen Handlungen sind. Persçnliche Ziele schlagen damit eine Brcke zwischen dem, was eine Person langfristig anstrebt, und dem, was sie aktuell in ihrem Alltag konkret dafr tut, um es zu erreichen (Little, 1989). Berufliche Identittsideale als spezielle berufliche Ziele Eine besondere Art von beruflichen Zielen sind berufliche Identittsideale. Solche Identittsziele sind Lebensziele in identittsrelevanten Bereichen, anhand derer die Person sich selbst definiert. Das Bestreben, einen Beruf kompetent und erfolgreich auszuben, ist ein typisches Beispiel fr ein solches generelles, selbstdefinierendes Ziel (Lewin, 1926). Die angestrebte Identitt oder Selbstdefinition, wie zum Beispiel ein guter Arzt, Psychologe oder Therapeut zu werden, beinhaltet eine ideale Konzeption der eigenen Person in einem angestrebten, zuknftigen Zustand (Wicklund u. Gollwitzer, 1982; Gollwitzer 1987a, 1987b). Hazel Markus (Markus u. Ruvolo, 1989) spricht von einem »mçglichen Selbst«. Possible selves, also mçgliche Selbste, sind Reprsentationen der Person ber sich selbst in der Zukunft. Possible selves sind die Komponenten des Selbst, die die Ziele der Person, ihre Motive und ngste reprsen-

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tieren und konkret verkçrpern. Es sind Vorstellungen, Bilder und Entwrfe davon, wie sie sein wird, wenn sie bestimmte Ziele erreicht haben wird. Possible selves verbinden Selbstkonzept und Motivation, indem sie einen Anreiz fr zuknftiges Handeln darstellen. Selbstentwrfe kçnnen positiv oder negativ sein, das heißt Dinge enthalten, die die Person erreichen oder vermeiden will. Wenn die Person eine Vorstellung davon hat, was sie erreichen und was sie vermeiden will, das heißt wenn ihre Selbstentwrfe balanciert sind, steigt ihre motivationale Kontrolle und ihre Handlungsregulation wird effektiver. Selbstdefinierende Ziele subsumieren als Soll-Zustnde eine Vielfalt persçnlicher und sozialer Charakteristika, wie Kompetenzen und Rollen der Person, die idealerweise zum Bestandteil der eigenen Identitt werden kçnnen. Um derartige Identittskomponenten entwickeln zu kçnnen, muss eine Person immer wieder zielgerichtete Handlungen ausfhren, die fr diese Selbstdefinition instrumentell sind, und muss Ergebnisse erzielen, die eine Annherung an das angestrebte Identittsideal dokumentieren (z. B. durch Qualifikationsnachweise oder Zusatzausbildungen). Ein Ideal stellt eine Wunschvorstellung dar, der man sich annhern kann, die aber nicht vollstndig realisiert wird. Gollwitzer (1987a) bezeichnet selbstdefinierende Ziele daher als unstillbare Zielintentionen, die immer wieder entsprechende Selbstregulationsprozesse auslçsen und das Streben nach der Realisierung solcher zentraler Selbstdefinitionen aufrechterhalten. Identittsideale allein sind allerdings keine hinreichende Bedingung fr die Motivierung zielgerichteten Handelns. Da Ideale auch unerfllte Selbstanteile enthalten, kann die Auseinandersetzung mit idealisierten zuknftigen Selbstbildern auch negative Konsequenzen haben. Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf ideale Selbstdefinitionen kann nicht nur zielgerichtetes Handeln auslçsen, sondern auch Vermeidungsreaktionen. Durch die Abwendung von Reizen, die Selbstaufmerksamkeit erzeugen, kann die Person vermeiden, sich mit der Diskrepanz zwischen dem aktuellen Status und dem angestrebten Ideal auseinanderzusetzen (Wicklund, 1975). Diskrepanzen zwischen Realselbst und Idealselbst lçsen unter anderem auch Depressivitt aus (Higgins, 1989).

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Die Selbstwirksamkeitserwartung kann ein Faktor sein, der bestimmt, ob die Person auf derartige Ist-Soll-Diskrepanzen mit zielgerichtetem Handeln oder mit Depressivitt oder Vermeidungsverhalten reagiert (Bandura, 1989b, 1990).

Selbstwirksamkeit und Interessen als Determinanten der Berufswahl Berufliche Interessen beinhalten Prferenzen, Abneigungen oder Gleichgltigkeit gegenber bestimmten Ttigkeiten und einzelnen beruflichen Aufgaben. berdauernde Interessen fr eine Ttigkeit entstehen nach Ansicht der sozial-kognitiven Berufslaufbahntheorie dann, wenn die Person sich als kompetent einschtzt, und wenn sie annimmt, dass ihre Aktivitt Ergebnisse erzielt, die sie wertschtzt (Bandura, 1986; Lent, Larkin u. Brown, 1989). Interessen, die berzeugung von der eigenen Wirksamkeit und die Erwartung, dass das eigene Handeln zu den angestrebten positiven Ergebnissen beitragen wird, fhren zur Entwicklung von Zielen, die wiederum Aktivitten in diesem Interessenbereich auslçsen. Die Konsequenzen dieser Aktivitten – Erfolge oder Misserfolge – sind eine Rckmeldung, die die Selbstwirksamkeitsberzeugungen und die zuknftigen Ergebniserwartungen regulieren. Das heißt, berufliche Interessen entwickeln oder erweitern sich nur dann, wenn die Person sicher ist, dass sie die notwendigen Fhigkeiten besitzt, um eine Aufgabe erfolgreich zu bewltigen, und dass es fr sie positive Konsequenzen (Stolz, Status, Geld) haben wird. Eine hohe Selbstwirksamkeitsberzeugung und eine positive Ergebniserwartung fçrdern Interessen; diese Interessen generieren entsprechende berufliche Ziele, die die Person realisiert, indem sie bestimmte Handlungsalternativen auswhlt und umsetzt (z. B. Fortbildungen und Spezialisierungen). Derartige Wahlen, die nach Baumeister als optionale oder notwendige Wahlen verstanden werden kçnnen, werden entscheidend von den Zielen bestimmt, die die Person innerhalb und außerhalb des Berufs verfolgt.

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Die berufliche Identitt von Psychoanalytikern und Psychotherapeuten Im folgenden Abschnitt sollen wesentliche Faktoren fr die Entwicklung der beruflichen Identitt von Psychotherapeuten und speziell Psychoanalytikern beschrieben und aus der Sicht der dargestellten Theorien reflektiert werden.

Biographische Erfahrungen Die Erfahrungen in der Ursprungsfamilie beeinflussen Berufswahl und die Berufspraxis von Psychotherapeuten. Als wesentliche Faktoren fr die Berufswahl von Psychotherapeuten wurden folgende Familienkonstellationen identifiziert (Reich, 2005; von Sydow, 2005): Psychotherapeuten waren hufig »parentifizierte Kinder« oder »caretaker« ihrer Eltern (Murray, 1995). Sie erlebten ihre Eltern hufiger als belastet und fhlten sich im besonderen Maß dafr verantwortlich, elterliche Probleme zu lçsen (Sperling et al., 1980). Sptere Therapeuten nahmen hufig die Rolle des Verantwortlichen und Dominanten ein (Henry et al., 1973) oder definierten ihre Identitt stark durch die Rolle des Vertrauten (Reich, 1984). Sie waren hufig ltere Geschwister oder jngstes Geschwister mit dem Bedrfnis nach ungeteilter Aufmerksamkeit und Wichtigkeit. Auch das berwinden von Belastungen oder Traumata ist eine prgende Erfahrung in der Biographie vieler Psychotherapeuten. Sie haben hufig Erfahrungen mit seelischen Erkrankungen in der Familie gemacht oder wurden Opfer traumatisierender Erfahrungen. Sie berichten zum Beispiel hufig von sexuellen Missbrauchserfahrungen im Kindesalter (39 % der Frauen, 26 % der Mnner, Pope u. Feldman-Summers, 1992). Offensichtlich haben viele Psychotherapeuten in ihrer Kindheit Erfahrungen damit gemacht, wie sie Beziehungskonflikte oder schwierige Entwicklungsaufgaben wie traumatische Erfahrungen positiv bewltigen kçnnen. Im Sinne der sozial-kognitiven Berufslaufbahntheorie lsst sich folgern, dass derartige Selbstwirksam-

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keitserfahrungen die Entwicklung von Interesse fr Ttigkeiten gefçrdert haben, die eine professionelle Auseinandersetzung mit der Gestaltung von interpersonellen Beziehungen und komplexen Lebensfragen beinhalten, wie es in der Psychotherapie der Fall ist. Karriere oder Berufung Auch der Beruf des Psychotherapeuten beinhaltet Merkmale von Berufung und Karriere. Ein Karriereaspekt ist der komplexe Ausbildungsweg, der im Sinne eines Selbstdefinitionsprozesses durch hierarchische Kriterien ber den Ursprungsberuf des Arztes oder Psychologen durch Zusatzausbildungen und Weiterbildungen zum Beruf des Psychotherapeuten fhrt. Ein weiteres Karrieremerkmal sind Statusmerkmale, die mit der Zugehçrigkeit zu einer sowohl am Beginn als auch im Verlauf der Ausbildung streng selektierten Gruppe verbunden sind oder mit dem hohen Ansehen, das der Beruf genießt. Wesentlicher fr die Bedeutung des Berufs sind allerdings wohl Erfllungserlebnisse, die aus der Arbeit mit den Patienten entstehen, indem Entwicklungs- und Wachstumsprozesse angestoßen und begleitet werden. Die Arbeit mit dem Patienten wird sowohl retrospektiv als auch aktuell als zentraler Faktor fr die eigene berufliche Entwicklung beurteilt (Willutzki et al., 2005).

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Identita¨t in der Kultur

Gnter Gçdde

Freiheit versus Bindung – ein generationelles »Identittsthema«1

Im 20. Jahrhundert haben sich bestimmte Generationsgestalten der Jugend herauskristallisiert, wobei man sich zumeist an die folgende Periodisierung hlt: von der Jugendbewegung (Jugendphase von ca. 1900 bis 1925) ausgehend ber die Politische Jugend (von ca. 1925 bis 1945), die Skeptische Generation (von ca. 1946 bis 1960), die 68er-Generation (von ca. 1960 bis 1975), die 80er-Generation (von 1975 bis 1989) und die 89er-Generation (von ca. 1889 bis 2005) bis zur heutigen Jugend.2 Bei den Generationen der 80er- und der 89er-Generation, bei denen auch Begriffe wie »narzisstischer Sozialisationstyp« (Ziehe, 1975), »Generation X« (Coupland, 1991) oder »Generation Golf« (Illies, 2000) oder »Konsumkinder« und »Krisenkinder« (PreussLausitz et al., 1995) ins Spiel gebracht wurden, ist man sich allerdings nicht sicher, ob man hier berhaupt noch von »Generationseinheiten« im Sinne Karl Mannheims (1984) sprechen kann. Die jngeren Generationsgestalten scheinen gegenber den lteren an Kontur und Przision verloren zu haben; oft konzentriert man sich auf Minderheiten oder jedenfalls auf die gebildeteren Schich-

1 Fr eine kritische Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Anregungen danke ich Michael B. Buchholz, Thomas Mller und Jçrg Zirfas. 2 Im Hinblick auf die hier zugrunde gelegte Generationseinteilung sttze ich mich im Wesentlichen auf die Arbeiten von Schelsky (1963); Ziehe (1975); Bude (1987, 1995); Preuss-Lausitz u. a. (1995); Leggewie (1995); Hçrisch (1997); Illies (2000, 2003); Reulecke (2003).

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Identitt in der Kultur

ten; es erscheint schwierig, die Bandbreite der jeweiligen Generation hinreichend zu erfassen. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten mçchte ich in diesem Beitrag von charakteristischen Identifizierungs- und Verstndigungsproblemen zwischen den Generationen ausgehen und sie mit den Identitten der verschiedenen Generationen in Zusammenhang bringen. Generationelle Identitt kann man als Spezialfall kollektiver Identitt betrachten; sie erscheint allerdings im Unterschied zu den sehr viel hufigeren Fllen nationaler und ethnischer Identitt eher als »ein weicher Punkt zeitgemßer ›identity politics‹ « (Niethammer, 2003, S. 2).3 Zur Verdeutlichung solcher intergenerationeller Verstndigungsschwierigkeiten seien zunchst als typische Beispiele zwei Stellungnahmen von Vertretern der lteren Generation angefhrt: Der Pdagoge Eduard Spranger, einer der geistigen Vter der Jugendbewegung, ußerte sich 1953 enttuscht ber die Jugendgeneration nach dem Zweiten Weltkrieg: Er vermisse bei ihr eine »Jugendideologie«, die zu dem gegenwrtigen Zustand der Welt – und das bedeutete fr ihn in erster Linie »Verlust der Heimat, Verlust des einheitlichen Vaterlandes, Zerreißung der Familien, Bedrohung der persçnlichen Freiheit und der Unabhngigkeit des eigenen Staates« – Stellung beziehe. Er kçnne sich nicht vorstellen, dass er diesen Zustand der Welt »in jungen Jahren ertragen htte, ohne in die ußerste Aufwallung zu geraten; meinetwegen: verbunden mit ebenso großer Ratlosigkeit. Aber wenn die Ratlosigkeit und das Leiden nicht produktiv machen, wenn auf diese Herausforderung die Antwort ausbleibt (Toynbee), in welcher Sprache soll dann das Schicksal noch zu uns reden?« (Spranger, 1953, S. 78). Der Soziologe Ludwig von Friedeburg schrieb 1965 ber die

3 In diesem Kontext hat sich Zinnecker (2003, S. 55) dafr ausgesprochen, »die Begrifflichkeit der Generationen und die Abfolge von Generationen-Dynamik konsequent auszudifferenzieren. Die Abfolge von und das Wechselspiel zwischen Generationen sollte als ein Thema fokussiert werden, das auf allen Ebenen des sozialen Lebens, auf der Makro- ebenso wie auf der Meso- und Mikroebene, und in allen institutionellen Handlungsfeldern eine bedeutsame Rolle spielt«.

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Angepasstheit und Unengagiertheit der Studenten, die wenige Jahre spter zu den aufgebrachten 68ern werden sollten: »In der modernen Gesellschaft bilden Studenten kaum mehr ein Ferment produktiver Unruhe. Es geht nicht mehr darum, sein Leben oder gar die Welt zu verndern, sondern Angebote bereitwillig aufzunehmen und sich in ihr, so wie sie nun einmal ist, angemessen und distanziert einzurichten« (zit. nach Illies, 2003, S. 220). Beide ußerungen zeugen von der Enttuschung der lteren darber, dass die Jngeren deren idealistischen Wertmaßstben im Sinne eines aktiven moralischen und politischen Stellung-Beziehens nicht gengen. Umgekehrt seien zwei typische ußerungen von Vertretern der jngeren Generation wiedergegeben: Der Politikwissenschaftler Armin Adam forderte 1994 dazu auf, das enge Korsett zu sprengen, das noch die Generation der »Sauertçpfe« sich angelegt hat und der nachfolgenden Generation hat anlegen wollen. Dabei handle es sich um ein »Korsett der Moral und Verantwortlichkeit«, um den »Zwang, jede Handlung universalisierbar zu gestalten, [. . .] mit jeder Handlung das Ganze der Welt zu bedenken. Die Freiheit, von der die Generation der heute 40- bis 50jhrigen immer getrumt hat, hier ist sie verwirklicht. Nicht im Protest, nicht in der Kritik allerdings, sondern im Spiel, im Arrangement« (SZ, 18.1.1994). Fr den Journalisten Florian Illies lief die Devise der im Jahre 2000 von ihm diagnostizierten »Generation Golf« auf ein genervtes »Schluß machen« hinaus: »Schluß mit den Geschichten von 68, Schluß mit der Misstrauenskultur, Schluß mit der Identitt von Lebensgefhl und Politik, Schluß mit dem Muff von zwanzig alternativen Jahren« (Illies, 2000, S. 181). Beide ußerungen lassen erkennen, dass sich die Jngeren hier von den lteren unverstanden fhlen, sich deshalb deren Deutungsmacht zu entziehen suchen und ihre eigenen Wertmaßstbe entwickeln wollen. Als Angehçriger der 68er-Generation habe ich hufig Verstndigungsschwierigkeiten zwischen unserer Generation und der lteren wie der jngeren Generation erlebt. Solche Auseinandersetzungen beziehen sich darauf, dass die einen den Wert sozialer und

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politischer Aktivitt und Verantwortung betonen, whrend die anderen gerade diese Idealforderungen kritisch hinterfragen und ihr Anrecht auf individualistische und private Bestrebungen vertreten. Dieser Identittsaspekt betrifft, allgemeiner formuliert, das Verhltnis zwischen negativer Freiheit von Bindungen und positiver Freiheit, die eine Bindung impliziert (vgl. Wildfeuer, 2002). Im ersteren Fall zielt das Streben auf eine Negation ab: auf Distanzierung, Flucht, Widerstand, Rebellion – auf Freiheit von oder gegen. Freiheit kann aber auch eine positive Strebensrichtung zu und fr etwas symbolisieren; dabei geht es dann um die Faszination oder den Reiz der Freiheit, auf den sich Bedrfnisse, Wnsche, Strebungen, Sehnschte richten. Akte der Befreiung haben mit dem Erleben von Loslçsung, EntBindung, einem Zuwachs an Unabhngigkeit zu tun und finden ihren Ausdruck in Metaphern wie sich aus einer Umklammerung lçsen, Ballast abwerfen, sich von Hypotheken frei machen. Der Prozess der Ablçsung wird selten ohne Schmerzen und Trauer erlebt; wenn er aber gelingt, wird er als Strkung der eigenen Persçnlichkeit sprbar und ist mit einem starken Stimmungsaufschwung bis hin zu ekstatischen Gefhlen verbunden. Man kann wieder frei atmen, hat Fesseln abgeschttelt oder gar Ketten gesprengt. So beglckend die Befreiung von Bindungen erfahren wird, so lsst sie sich doch nicht auf lngere Sicht aufrechterhalten. Das gilt nicht nur fr den Sugling, das Kleinkind oder den Jugendlichen; auch in den mittleren Jahren oder im Alter kçnnen wir uns nur zeitweise auf uns selbst zurckziehen und bleiben auf das Eingehen von Bindungen angewiesen: auf Bindungen an andere Menschen, um »emotional auftanken« (Mahler, 1978) zu kçnnen, aber auch auf Bindungen an Aufgaben und Herausforderungen, um uns als Person entfalten, in Bewegung bleiben und immer wieder die erforderliche Identittsarbeit leisten zu kçnnen. Bindung wird hier nicht im Sinne der Bindungstheorie Bowlbys verstanden, sondern in einem erweiterten Sinne, wobei sich in Anlehnung an psychoanalytische Vorstellungen drei Ebenen der Bindung unterscheiden lassen: Von Es-Bindung (oder affektiver bzw. libidinçser Bindung) kann man sprechen, wenn berwiegend Be-

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drfnisse nach Triebbefriedigung und Abhngigkeit angesprochen werden; von Ich-Bindung, wenn hauptschlich kognitive Prozesse eine Rolle spielen; und von ber-Ich-Bindung (oder Loyalittsbindung), wenn die Loyalittsbereitschaft des Gebundenen ausgenutzt wird (vgl. Simon u. Stierlin, 1984, S. 47 ff.). Im ersten Teil dieses Beitrags wird die Dialektik von Freiheit und Bindung im Wechsel der Jugendgenerationen bis zur Studentenbewegung skizziert. Im zweiten Teil setze ich mich ausfhrlich mit der Freiheits-Bindungs-Thematik in zwei Bchern des Schriftstellers Alfred Andersch (1914–1980) auseinander, mit denen er die generationelle Identittsfindung der spteren 68er mitbeeinflusste. Ich vermute, dass die große Resonanz seiner literarischen und publizistischen Freiheitsbotschaft mit einem generationsspezifischen Identittsthema zu tun hat.4 Im dritten Teil soll es dann um die Frage gehen, inwieweit auch die Nachfolgegenerationen der 80er und der 89er bis hin zur heutigen Jugend im Banne der Dialektik von Freiheit und Bindung geblieben sind.

4 Das Konzept des »Identittsthemas« geht auf Heinz Lichtenstein zurck, der darunter das individuelle, in frher Kindheit geprgte Muster von Abwehrstrategien und Anpassungsmechanismen verstand, das die Einstellung des Subjekts zur ußeren und inneren Realitt und ihren Anforderungen bestimmt. Dieses Identittsthema lsst sich mit einem musikalischen Thema vergleichen, das in verschiedenen Tonarten und in endlosen Variationen gespielt werden kann, dessen Gestalt sich jedoch immer gleich bleibt. Es hat auch mit dem »persçnlichen Mythus« im Sinne der Psychokritik Charles Maurons zu tun. Der amerikanische Literaturpsychologe Norman Holland hat das Konzept des Identittsthemas verwendet, um zu zeigen, dass die Rezeption eines literarischen Werks sehr von der Identittssuche der Leser bestimmt wird, ja hufig in einer Anpassung des literarischen Werkes an das jeweilige Identittsthema besteht. Eigentlich erschaffe jeder Leser im Rahmen seines Identittsthemas das Werk neu (vgl. Schçnau, 1991, S. 45 f.).

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Die Dialektik von Freiheit und Bindung im Wechsel der Generationen Der konservative Soziologe Helmut Schelsky hat in seinem viel beachteten Buch »Die skeptische Generation« (1963) drei typische Generationsgestalten der deutschen Jugend unterschieden und ist dabei auch auf deren unterschiedliche Freiheitswnsche und ihre damit in engem Zusammenhang stehenden Identittskonzepte eingegangen. Das Freiheitsverlangen der Jugendbewegung als Ausgangspunkt Die Periode der Jugendbewegung begann in der Zeit um 1900 und endete in den 1920er Jahren. Diese Generation wollte frei sein »von den tradierten Gruppenbindungen der patriarchalisch-autoritren Familie, der stndehaften Kastenisolierung, der extrem gegenstzlich stilisierten Rolle der Geschlechter, also sozial gesehen von allem, was die brgerliche Wohlanstndigkeit ihrem Nachwuchs als Verhaltensformen ansann«. Ihre Freiheitsforderungen hatten auch ein klares wozu : »zur Einheit, Einfachheit, Wahrheit und Absolutheit der Person, ein Ablehnen von sozialen Bindungen zugunsten neuer Bindungen in Freundschaft und lebendiger Gemeinschaft, eine Hingabe an eine Idealitt des Lebens« (Schelsky, 1963, S. 54). »In eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und innerer Wahrhaftigkeit«, lautete die Formel des berhmten Wandervogeltreffens am Hohen Meißner im Jahre 1913. Die Romantik der Jugendbewegung und ihre Verhaltenssicherheit in einer eigenstndigen Jugendwelt zerfielen dann angesichts der erschreckenden Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und endgltig in den Wirren und Notstnden der Nachkriegszeit. Das Bindungs- und Hingabebedrfnis der politischen Jugend Die politische Jugend als nachfolgende Generationsgestalt bildete sich in den 1920er Jahren heraus und war bis zum Ende der NSZeit vorherrschend. Im Unterschied zu den freien und eher elitren Jugendbnden trugen die politischen Jugendverbnde frh-

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zeitig die Tendenz zu einer Massenorganisation in sich. Die auffllige Politisierung und Ideologisierung dieser Jugendgeneration entsprang nicht der Sehnsucht nach grçßeren Freirumen, sondern umgekehrt einer ausgeprgten »Furcht vor der Freiheit« (Fromm, 1968). Sie wollte die mit individueller Freiheit und Eigenverantwortung verbundene Last abschtteln und drngte als Kollektiv nach Verantwortung fr das Ganze der Gesellschaft. Die NS-Jugend, die nach 1933 zur Hitler-Jugend gleichgeschaltet wurde, war ihrem Selbstverstndnis nach der Vortrupp einer zuknftigen idealen Volksgemeinschaft. Sie glaubte eine Mission fr das deutsche Volk zu erfllen (vgl. Grndel, 1932) und die Bindung an dieses Zukunftsideal setzte bei ihr gewaltige Krfte frei. Daher wre es einseitig anzunehmen, dass die damalige Jugend nur von oben gesteuert worden wre; der von den Nationalsozialisten propagierten Unterwerfung unter Staat, Partei und Fhrer kam von unten, von der Jugend selbst ein hypertrophes Bindungs- und Hingabebedrfnis entgegen. Die Massenpartei mit ihren Jugendverbnden wurde fr sie gleichzeitig zur sozialen Heimat und zur neuen »Kirche«. Hinzu kam, dass gerade die großen politischen Organisationen auf »pseudo-personalen Bindungen seitens ihrer jugendlichen Gefolgsleute« aufgebaut waren. Das offenkundigste Modell dieser Art Sozialbeziehung war die FhrerGefolgschafts-Bindung im Nationalsozialismus, aber auch in der kommunistischen Zellenbildung war dieses Prinzip der PseudoIntimitt wirksam (vgl. Schelsky, 1963, S. 70 f.).

Die ideologisch-politische Abwehrhaltung der skeptischen Generation Die skeptische Generation nach dem Zweiten Weltkrieg hob Schelsky von der romantischen Geisteshaltung der Jugendbewegung und dem ideologischen Denken der politischen Jugend ab. Sie fhrte zu einem Grundverhltnis zur Gesellschaft und zur sozialen Wirklichkeit, die als privatistisch bezeichnet werden kann. In diesem Zusammenhang wird von einer fr sie charakteristischen Organisationsabneigung, einer »Ohne-uns«-Haltung ge-

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sprochen. Man kann darin eine Reaktionsbildung gegen die Aufopferungsbereitschaft der politischen Jugend und den Versuch der mçglichst frhzeitigen Anpassung an die Handlungsnotwendigkeiten der modernen Gesellschaft sehen. Schelsky, der sich zum verstndnisvollen Frsprecher dieser Generation machte, hielt sie fr »misstrauischer, glaubens- oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher«. Sie sei »ohne Pathos, Programme und Parolen«. Diese geistige Ernchterung habe ihr eine fr die Jugend ungewçhnliche »Lebenstchtigkeit« ermçglicht. Man kçnne diese Jugend »die Generation der vorsichtigen, aber erfolgreichen jungen Mnner« nennen (Schelsky, 1963, S. 381). Die Flakhelfer-Generation der zwischen 1926 und 1930 Geborenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als die »letzten Helden des Fhrers« bezeichnet wurden, hat Heinz Bude (1987) genauer untersucht und als Kerngruppe der skeptischen Generation betrachtet. In ihrer jugendlichen Verblendung erlebten sie die Einberufung zum Flakhelferdienst wie eine Erlçsung, da sie damit fr wrdig befunden wurden, »sß und ehrenhaft fr das Vaterland zu sterben«. Nach dem Zusammenbruch ihres »Grandiosittssystems« in den Trmmern des Zweiten Weltkriegs nahmen sie Zuflucht zu einer Haltung der »Indifferenz« oder »Identittslosigkeit«, worunter Klaus Heinrich den verzweifelten Versuch versteht, angesichts bermchtiger Gefahren der Verschlingung sich selbst zu bewahren. Die Flakhelfer-Generation scheute das çffentliche Wort. Sie wollte die Welt nicht verndern, sondern ihr persçnliches und privates Dasein meistern. Diese Sprachlosigkeit reagierte auf die Erfahrung eines »verstrickenden« Schweigens ber das Unfassbare des Faschismus und des Krieges, das die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft beherrschte (Heinrich, 1982, S. 109). Man kann auch von einer tiefen »Identifikationsscheu« sprechen. Nach Budes Deutung war die Flakhelfer-Generation gebunden an die Modelle der Reproduktion des Status quo, Modelle der Transformation konnte sie nicht anbieten. Fr die Zeit des Aufstiegs passten ihre Lebenskonstruktionen, nicht mehr jedoch fr die Zeit eines »Umstiegs« (Bude, 1987, S. 183). Fr die der skeptischen Generation nachfolgende 68er-Generation war dieser Rckzug aus Politik und Weltanschauung nicht

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aufrechtzuerhalten, weil er in ihren Augen eine Verleugnung der Widersprche zwischen der alten und der neuen Gesellschaft bedeutet htte.

Die Politisierung und Ideologisierung in der Studentenbewegung In der Kindheit, die sie noch im Zweiten Weltkrieg oder in den ersten Jahren der Nachkriegszeit erlebte, hatte die sptere 68er-Generation große Freirume: Die Trmmer waren fr sie herrliche Spielpltze voller Gefahren und Abenteuer. Es bildeten sich altersheterogene Gruppen, die sich Banden nannten, whrend die weitere Umgebung der Nachbarschaft feindliches Gebiet war, in dem andere Banden die Macht hatten. Die Kriegs- und Nachkriegskinder konnten sich der elterlichen Kontrolle weitgehend entziehen, weil die Eltern durch Krieg und Wiederaufbau absorbiert waren. In diesem Zusammenhang ist von einem »Kontroll-Loch« die Rede (Fischer-Kowalski, 1995, S. 61 f.). Als der Wohlstand sich ausbreitete und die Mtter wieder mehr Zeit fr ihre Kinder hatten, wurde die Erziehung energischer verfolgt als in den frhen Nachkriegsjahren. Die Erziehungsnormen in der patriarchalischen Kleinfamilie jener Zeit waren noch besonders rigide, da es in allen faschistischen Lndern einen herben Rckschlag in den Erziehungskonzepten gegenber den wesentlich liberaleren 1920er Jahren gegeben hatte. Die nun erhobene Forderung »anstndiger Autorittsverhltnisse« traf die Kinder irgendwann zwischen Schuleintritt und Pubertt und stand in scharfem Kontrast zu den vorherigen Erfahrungen von Freiheit. Nunmehr wurde peinlich darauf geachtet, dass sie abends nicht zu lange ausbleiben, den Sonntag mit der Familie verbringen, die Beziehungen zum anderen Geschlecht kontrolliert werden und so weiter (vgl. Schtze u. Geulen 1989, S. 33 ff.). Eng verknpft waren damit betonte Sparsamkeits- und Fleißappelle. Die »heroische Arbeitsdisziplin und Leistungsmoral [der Vter], gewissermaßen eine zivile Fortsetzung der ehemaligen militrischen Durchhaltemoral«, war eine Voraussetzung fr das Wirtschaftswunder, aber auch eine Ursache fr den Ausbruchsver-

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such der 68er aus ihrer Brgerwelt, da sich diese Generation um die zweckfreie Leichtigkeit und emotionale Entspanntheit ihrer Kindheit »betrogen« fhlte (vgl. Schneider, 1981, S. 40 ff.). In der »bleiernen Zeit« der Adenauer-Regierung wurde die NSVergangenheit gegenber den Kindern noch weitgehend tabuisiert. Wer den Konsens des Schweigens zu brechen suchte, musste damit rechnen, attackiert und als »Nestbeschmutzer« ausgegrenzt zu werden. Die unbewltigte Vergangenheit des Dritten Reiches und die zunehmend abgelehnten Kompromisslçsungen von Restauration, Wiederaufrstung und Kaltem Krieg machten den 68ern aber zunehmend zu schaffen. Dabei hatte jeder Einzelne auch eine familire und persçnliche Hypothek zu tragen, die sich nicht zuletzt in dem spteren Bedrfnis ausdrckte, sich mittels Psychotherapie mit dem eigenen Unbewussten zu konfrontieren und dadurch das Abgewehrte und Abgespaltene zu integrieren (vgl. Gçdde, 1999). Erst Anfang der 1960er Jahre setzte allmhlich eine Liberalisierung des sozialen Klimas ein und fhrte zu einer zunehmenden Infragestellung konventioneller Verhaltensstile, die in eine offene Verweigerung autoritrer Unterwerfung und die Lockerung der Sexualmoral einmndete. Nunmehr wurden Erziehungsziele wie Entfaltung kindlicher Bedrfnisse, Emanzipation und Kritikfhigkeit formuliert und breiteten sich dann rasch in nahezu der gesamten pdagogischen Diskussion und Reformplanung aus. Die 68er-Generation setzte auf eine antiautoritre Erziehung der eigenen Kinder. In seinem Buch »Altern einer Generation« bezeichnet Bude das Jahr 1968 als »eine entscheidende Zsur der Gesellschaftsgeschichte nach dem zweiten Weltkrieg«. Erst 1968 sei die Bundesrepublik »ein westliches und liberales Land« geworden und von diesem Zeitpunkt ab htten sich »die beiden Teile Deutschlands erst richtig auseinanderentwickelt« (Bude, 1995, S. 20 f.). 1977 sei noch von der Studentenbewegung oder von der antiautoritren Bewegung die Rede gewesen. Die »Generation« stand damals noch nicht im Vordergrund. »Die Einfhrung des Generationenbegriffs zur Bezeichnung des kollektiven Akteurs fr die Protestbewegungen am Ende der sechziger Jahre zeugt von einer historisierenden

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Distanz. Ein Grund dafr war sicherlich die Entstehung der sog. ›Neuen sozialen Bewegungen‹ zu Beginn der achtziger Jahre. Der Unterscheidungsbedarf musste seinen Ausdruck finden – zumal mit der ›Hausbesetzerbewegung‹ des Jahres 1981 eine Form des Protests auftrat, der sich in Stil und Stimmung deutlich von den spten sechziger Jahren abhob und dessen Protagonisten mit den etablierten 68ern nichts zu tun haben wollten« (Bude, 1995, S. 40 f.). Die skizzierte Dialektik der Generationen zeigt eine Pendelbewegung zwischen dem Freiheitsverlangen der Jugendbewegung und der hypertrophen Bindung der politischen Jugend an Volk und Vaterland, auf die die skeptische Generation mit einer aufflligen Reaktionsbildung im Sinne einer dezidierten Freiheit von ideologischer Beeinflussung und politischer Parteilichkeit antwortete. Die 68er-Generation trat dann erneut als politisch aktive Generation auf und machte die umfassende Liberalisierung von Gesetzen, Norm- und Wertvorstellungen zu ihrem gesellschaftsverndernden Anliegen.

Freiheit und Bindung als Identittsthema der 68er-Generation Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, ob man von einer besonderen Empfnglichkeit der 68er fr das Identittsthema von Freiheit und Bindung sprechen kann. Angesichts der Vielschichtigkeit des Freiheitsbegriffs erscheint zunchst eine klare Abgrenzung zwischen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit angebracht. Bei einer freien Entscheidung geht es um einen inneren Prozess, der einer befreienden Handlung vorausgeht und in dem ich in der Rolle des Urteilenden auf mich in der Rolle des Wollenden Einfluss nehme. Bei substantiellen Entscheidungen bedarf es oft einer Loslçsung von Bindungen, die mich in meinem Denken und Urteilen eingeengt, verstrickt und in meiner Selbstentfaltung blockiert haben. Da solche Risiken bis hin zur Gefahr des ußeren und inneren Freiheitsverlustes reichen, kann man sich an der Leitmaxime orientieren: »Keine Freiheit ohne Loslçsung«.

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Bei einer freien Handlung wird eine im Inneren getroffene Entscheidung in die ußere Realitt umgesetzt und objektiviert sich in einer konkreten Tat. Damit aus einer bloßen Mçglichkeit Wirklichkeit wird, bedarf es aber des erneuten Eingehens von Bindungen und einer dazu unumgnglichen Festlegung, nach der Devise: »Keine Freiheit ohne neue Bindung, ohne Engagement«. In den Worten von Peter Bieri: »Wenn wir stets alles in der Schwebe hielten, kme es nie dazu, dass unsere Wnsche handlungswirksam werden. Wir blieben ewige Beobachter von uns selbst, die unbeweglich auf einem Hochsitz verharrten. Und das wre kein Zustand von Freiheit« (2001, S. 73).

Freiheit der Entscheidung Alfred Andersch reprsentiert mit Hans-Werner Richter, Heinrich Bçll, Gnter Grass und anderen das literarisch-politische Engagement der »Gruppe 47«. Darber hinaus kann man ihn mit Sartre, Camus, Brecht, Frisch, Drrenmatt, Horkheimer, Adorno und anderen zu den geistigen Lehrmeistern der spteren 68er-Generation rechnen, auch wenn er der Studentenbewegung selbst dann eher distanziert gegenberstand.5 Sein 1952 erschienener autobiographischer Bericht »Die Kirschen der Freiheit« ist – pointiert gesagt – auf das Problem der Entscheidungsfreiheit zentriert. Der erste Teil mit dem Titel »Der unsichtbare Kurs« erstreckt sich auf die Periode zwischen den beiden Weltkriegen: von der November-

5 Andersch hatte nach seiner Rckkehr aus der Kriegsgefangenschaft gegen Ende 1945 eine fhrende Rolle innerhalb des westdeutschen Literaturbetriebes inne. Er war mit Hans-Werner Richter Mitherausgeber der legendren Zeitschrift »Der Ruf« und fçrderte als einflussreicher Kulturredakteur in verschiedenen Rundfunkanstalten junge Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbttel, Arno Schmidt u.v. a. Er leitete die Redaktion der avantgardistischen Zeitschrift »Texte und Zeichen«, nahm als streitbarer Publizist in fhrenden Zeitschriften Stellung und entwickelte sich zu einem kreativen Erzhler und Romancier. Von ihm stammen der autobiographische Bericht »Die Kirschen der Freiheit« (1952) und die vier Romane »Sansibar oder der letzte Grund« (1957), »Die Rote« (1960), »Efraim« (1967) und »Winterspelt« (1974).

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revolution von 1919 bis in die Vorkriegszeit von 1938. In diesen Erinnerungen lassen sich verschiedene Stufen und Grade der Freiheitsrealisierung unterscheiden. Der unsichtbare Kurs Sehr eingeengt ist der Freiheitsspielraum in Anderschs Kindheit. 1914 geboren, fhlt er sich in einem Mnchner Vorort an der »Peripherie« des Lebens. Dumpfe Resignation erfllt ihn, die er selbst auf Stimmungen der »Langeweile«, des »berdrusses« und des Bedrcktseins angesichts des Schicksals seines Vaters zurckfhrt. Der Vater, ein ehemaliger Hauptmann der Reserve, war wegen seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Er hatte aber eine Kriegsverletzung davon getragen, einen ausschwrenden Granatsplitter im Bein, der eine Amputation erforderlich machte. Als »glhender Nationalist« konnte er die Niederlage des Vaterlandes im Ersten Weltkrieg nicht verkraften und suchte Zuflucht in der antisemitischen Thule-Gesellschaft und der NSDAP. Der frhe Beitritt zur Thule-Gesellschaft, die um die Jahreswende 1917/18 aus dem GermanenOrden entstanden war, ist aufschlussreich, da in ihr die »cr me de la cr me« des spteren Nationalsozialismus (Rosenberg, Heß, Hitler u.v. a.) versammelt war. Thule war der vçlkische Name fr Island, eine Sttte hçchster arischer Reinheit, und dieses Ziel der Reinheit wurde von Anfang an durch das Hakenkreuz symbolisiert.6 Der junge Andersch musste das lange whrende Dahinsie-

6 Die NS-Bewegung kann als »politische Religion« (Voegelin, 1996; Brsch, 1998) zur Befriedigung spiritueller Wnsche und Sehnschte verstanden werden. Die Glorifizierung der eigenen Volksgemeinschaft ging Hand in Hand mit der Idee, der arischen Rasse – als biologischer Einheit, vor allem aber als religiçser Auserwhltheit – anzugehçren. In diesem Deutungsrahmen lsst sich der Antisemitismus als Machtstrategie verstehen, die deshalb so »erfolgreich« war, weil sie ein massives Angebot psychischer Aufwertung und Entlastung in sich barg. In den Irrungen und Wirrungen der Moderne konnte »personale und soziale Identitt kaum noch konsistent mittels Vernunft oder mittels Tradition begrndet werden. Mit der Umstellung von Vernunftbegrndung auf rassische Zugehçrigkeit und berlegenheit aber werden fragile psychische Strukturen mchtig stabilisiert; das gleich-

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chen seines Vaters miterleben, der in seinen Augen ein »geschlagener Held« war. Auf das »Pennal«, wo man ihm vorschreiben will, was und wie er zu lernen hat, reagiert er mit heftigem Widerwillen. Ein eindrckliches Zeugnis dafr ist die autobiographische Schulgeschichte »Der Vater eines Mçrders«, in der der Generationenkonflikt offen zum Ausbruch kommt: Der gefrchtete Schuldirektor (»Rex«) erscheint zu einem berraschenden Unterrichtsbesuch in einer Griechischstunde der Untertertia. Er erteilt dem 14-jhrigen Kien-Andersch, der den Griechisch-Unterricht seit Wochen desinteressiert hat ber sich ergehen lassen, eine zutiefst erniedrigende Lektion und ekelt ihn aus dem Gymnasium hinaus.7 Danach beginnt der Pubertierende eine Buchhandelslehre in einem Verlag, wieder eine lstige, da fremdbestimmte Ttigkeit, die ihn bald langweilt. Nach Abschluss der Lehre ist er drei Jahre arbeitslos. Die erzwungene Arbeitslosigkeit verschafft ihm aber die Mçglichkeit, endlich selbst ber seine Zeit zu verfgen. Als Jugendlicher sucht er erstmals Bereiche jenseits der determinierenden Alltagswelt mit ihren Routinen, Pflichten und Zwngen auf, um sich in seiner Individualitt erfahren und ausdrcken zu kçnnen. Eine solche Enklave ist die Kunst, die zum Modell einer selbstbestimmten Gegenwelt wird. In »Die Kirschen der Freiheit« schreibt Andersch: »Ich fand, auf einer Bank im Park von Schleiß-

zeitige Versprechen metaphysischer Gewißheiten sichert massenhafte Gefolgschaft« (Buchholz, 2003, S. 241). 7 In einem inneren Monolog wird deutlich, wie sich alles in dem Jugendlichen gegen das schulische Lernen strubt: »Ich aber kçnnte immerhin, wenn ich wollte. Ich will aber nicht. Alle haben sie es mit dem Wollen. Man muß etwas nur wollen, dann geht es schon. Wenn einer nicht will, ist er ein Faulenzer, und sie haben recht, ich bin faul, ich sitze wie gelhmt vor den Hausaufgaben und schmiere irgendetwas Flchtiges hin, oder ich schiebe sie bis zum Abend auf und laufe auf die Straße. Ich finde die Schule çd, çd, çd!« (Andersch, 1980, S. 94 f.). Der »Rex« fhlt sich offenbar als humanistischer Pdagoge herausgefordert, Anderschs »passiven Widerstand« zu brechen. Wie sich im weiteren herausstellt, ist dieser Schuldirektor nicht irgendjemand, sondern makabrerweise der Vater des spteren NS- Verbrechers Heinrich Himmler (man ahnt die Brchigkeit des vterlichen Humanismus und das damit zusammenhngende Zerwrfnis zwischen Vater und Sohn Himmler).

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heim sitzend, was ich an den Sonntagvormittagen, wenn der Eintritt frei war, auf den Bildern der Pinakothek suchte, im grnen Schmelz der Madonna Grecos, im Grau und Rosa einer Verkndigung Lippis, im klaren Traum-Venedig Canalettos – das Aroma der Kunst.« Dadurch gelingt es ihm zeitweilig, die bedrckende Enge seines Lebens und die Schulmisere zu vergessen und sein eigenes Leben »im Park der Literatur und sthetik« zu fhren (Andersch, 1968, S. 20). Ein anderer Zufluchtsort ist die Weite der Natur. Andersch begibt sich gern ans Meer, ins Gebirge oder in die Wste. Des çfteren taucht das Leitmotiv auf: »Die Freiheit lebt in der Wildnis«. Man fhlt sich an die von Michael Balint (1972) stammende Beschreibung der philobatischen Weltbeziehung erinnert. Im Gegensatz zum Oknophilen, der ein zwanghaftes Bedrfnis nach Anklammerung an die Menschen und Dinge seiner nchsten Umwelt hat, empfindet der Philobat alle ihm nahe kommenden Objekte als bedrngend und bedrohlich. Daher sucht er Nahkontakt und Berhrung zu vermeiden. Am wohlsten fhlt er sich in objektlosen Rumen, die ihm als »freundliche Weiten« erscheinen. Ein halbes Jahr nach dem Tod seines Vaters wendet sich der 17-Jhrige dem Lager des politischen Gegners zu. Im kommunistischen Jugendverband findet seine Sehnsucht nach einer befreienden Aktivitt eine erste Erfllung: »Ich betrat den Boden des Kommunismus mit dem gespannten Entzcken dessen, der zum erstenmal seinen Fuß auf einen jungfrulichen Kontinent setzt. Er bedeutete fr mich das absolut Neue und Andere, und witternd sog ich das wilde Klima von Leben ein, das mir half, mich aus meiner kleinbrgerlichen Umwelt zu befreien. Das Wort Revolution faszinierte mich. Mit der Schnelligkeit jhen Begreifens vollzog ich den bertritt von den nationalsozialistischen Doktrinen meines Vaters zu den Gedanken des Sozialismus, der Menschenliebe, der Befreiung der Unterdrckten« (Andersch, 1968, S. 23). Sein kritischer Geist wird von den sozialrevolutionren Romanen Upton Sinclairs »in das Bad der Utopie« getaucht und von den pazifistischen Schriften Romain Rollands und Henri Barbusses aufgerttelt: »Meine Gymnasiallehrer wren berrascht gewesen, wenn sie gesehen htten, wie ich es mit einem Male vermoch-

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te, mich wissenschaftlicher Methodik hinzugeben. [. . .] Mein Tastsinn war es, der sich spannte; meine Nerven fhlten das faszinierend Unheimliche einer neuen realistischen Scholastik, die sich mit dem Geiste der Revolution verband« (S. 25). Die Phase dieses emotionalen Aufschwungs whrt allerdings nicht lange. Die drohende Niederlage der Kommunisten gegen die Nazis wirft ihre ersten Schatten voraus. Mit Hitlers Machtergreifung endet Anderschs Befreiungsphase abrupt. 1933 wird er zweimal im KZ Dachau interniert. Nach der Entlassung aus der zweiten Haft wendet er sich desillusioniert von der Partei ab. Er spricht von seiner »Emigration aus der Geschichte« und von »totaler Introversion im totalen Staat«: »Damals unterlegte ich meinem Dasein die Stimmungen Rilkes, machte auch Gedichte dieser Art und geriet, umklammert von einer versteckten Verfolgungsneurose, in tiefe Depression. [. . .] Das war im Sinne Kierkegaards die sthetische Existenz, marxistisch verstanden der Rckfall ins Kleinbrgertum, psychoanalysiert eine Krankheit als Folge des traumatischen Schocks, den der faschistische Staat bei mir erzeugt hatte« (S. 46). Die Fahnenflucht Der zweite Teil der »Kirschen der Freiheit« steht unter dem Titel »Die Fahnenflucht«. Darin werden Schritte eines inneren Befreiungsprozesses skizziert, die am Ende in eine fr die eigene Identittsfindung maßgebliche Entscheidung einmnden. Als Andersch 1940 einen Gestellungsbefehl erhlt und in die Realitt des Wehrdienstes versetzt wird, fehlt ihm noch jeglicher kmpferischer Impuls, weil er sich mit dem NS-Regime arrangiert hat. Erst vier Jahre spter, whrend er in Dnemark stationiert ist, taucht bei ihm die Phantasie von einen Ausbruch aus dem sinnlosen Kriegsgeschehen auf: »Es klang romantisch, aber es war eine ganz klare und simple Sache. Mußte weg. Wußte es zum erstenmal ganz sicher, als ich auf der jtischen Heide lag [. . .] bei der Divisionsbung im Mrz 1944. War ein tolles und herrliches Gefhl, wie ich da lag und es mir berlegte. Dnemark war ein gutes Land fr solche Entschlsse. [. . .] wenn ich einen Kiesel am Strande von Hobro auflas und in den Marriagerfjord hinausschleuderte, dann

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pfiff der Stein fr mich die Worte ›Fahnenflucht‹ und ›Freiheit‹ ber die Wellen, ehe er versank« (Andersch, 1968, S. 60 ff.). Jene »anarchistisch« freche und »romantisch« abenteuerlustige Stimmung bringt bei Andersch einen kritischen Reflexionsprozess in Gang. So setzt er sich mit dem Fahneneid auseinander, der von jedem deutschen Soldaten zu leisten war: »Ich schwçre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Fhrer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit fr diesen Eid mein Leben einzusetzen.« Dieser Soldateneid implizierte eine Loyalittsbindung an den »Fhrer«, die von der großen Masse der »Dienenden« niemals hinterfragt wurde. Fr Millionen Deutscher Soldaten gab es nur die Komplementaritt von Befehl und Gehorsam, Befehlshaber und Befehlsempfnger. Sie bewegten sich in diesem Krieg wie »Gebannte« unter der Gewalt eines Hypnotiseurs. Jedes Abweichen von dieser autoritr-hierarchischen Ordnung htte fr sie Chaos, Anarchie, Zerfall bedeutet. Andersch hingegen negiert die Bindung an den Fahneneid, weil diese Bindung fr ihn nur auf Konformismus und Herdeninstinkt beruht. Den Durchbruch zur Entscheidung fr die Desertion erlebt er als eine radikale Enttabuisierung kollektiver Denkschablonen, so dass fr ihn »hinter der glsernen Glocke einer mit Worten beschworenen Heiligkeit die absolute Leere« erkennbar wird (S. 104). Die hier angesprochene Generationendifferenz vergegenwrtigt sich daran, dass Andersch noch von »Heiligkeit der Leere« spricht, wo die postaufklrerische Sprache einer postromantischen Ironie locker von »Kontingenzschock« spricht und damit die Erfahrung meint, dass nichts Bestand hat, alles anders kommen kçnnte oder htte kommen kçnnen (vgl. Safranski, 1994, S. 195). Solche Haltlosigkeit wre fr Andersch Grund gewesen, niedergeschlagen in den depressiven Abgrund weißer Leere zu strzen; er htte das Wort von der Kontingenz als Zynismus verstanden, geboren aus der Untugend bestndiger Beobachtung von Beobachtungen. Wer aber heute vom Kontingenzschock redet, meint abgeklrt meist, hier htten Wahlmçglichkeiten bestanden, und sieht eben deshalb

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große Freiheitschancen. Kaum etwas macht die Generationendifferenz deutlicher. Den weiteren Entscheidungsprozess sieht Andersch durch die Polaritt von Angst und Mut bestimmt. Sie seien zwei Pole eines Spannungsfelds, das der Mensch selber sei. Wer nicht fhig sei, die Erfahrung von Angst in sich festzuhalten, gerate in Gefahr, abzustumpfen, alles ber sich ergehen zu lassen. Aber auch jede einseitige Ausrichtung auf die Angst fhre unweigerlich in die Unfreiheit. Um eine ausgewogene Balance zwischen Angst und Mut zustande zu bringen, muss »der Unbekmmertheit, der Abenteuerlust und der Tapferkeit« gengend Raum gegeben werden (Andersch, 1968, S. 85). Andersch selbst erlebt intensive Angst, als er »in die absurde Blutzone des Krieges« eintreten soll. Aber die Hoffnung auf einen Ausweg habe ihm zugleich »eine Stimmung grandioser Unbekmmertheit« ermçglicht (S. 82). Fr nicht minder bedeutsam hlt er die Pole von Vernunft und Leidenschaft. Die »objektivierende Vernunft« verhelfe dem Einzelnen dazu, im Konflikt zwischen dem individualistischen Wunsch zu leben und der emotionalen Bindung an die Kameraden eine Entscheidung zu treffen. Aus Kameradschaft sollte man »beim Haufen bleiben«? Wre man damit nicht der Kollektivexistenz »verfallen«? Wiederum spielt jenes »wunderbare anarchistische und arrogante Gefhl« das Znglein an der Waage. Mit dessen Hilfe gelingt es dem noch unentschiedenen Deserteur, sich aus der Loyalitt gegenber den Kameraden zu lçsen.8 Die hier wesentliche Passage lautet im Ganzen: »Der Wert des

8 Es war sicher kein Zufall, dass Sartre ausgerechnet an der Fahnenflucht die Verantwortlichkeit des Menschen fr eine von außen an ihn herantretende gesellschaftliche Situation aufgezeigt hatte. In »Das Sein und das Nichts« hatte er geschrieben: »wenn ich in einen Krieg einberufen werde, ist dieser Krieg mein Krieg, weil ich jederzeit mich ihm htte entziehen kçnnen, durch Selbstmord oder Fahnenflucht. [. . .] Da ich mich ihm nicht entzogen habe, habe ich ihn gewhlt ; das kann aus Energiemangel oder aus Feigheit gegenber der çffentlichen Meinung geschehen, weil ich nmlich gewisse Werte hçher schtze als eben den einer Weigerung, in den Krieg zu ziehen [. . .] Wenn ich einmal den Krieg dem Tode oder der Unehre vorgezogen habe, verluft alles so, als trge ich die volle Verantwortung fr diesen Krieg« (Sartre, 1974, S. 697 f.).

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Menschen besteht darin, daß er Mut und Angst, Vernunft und Leidenschaft nicht als feindliche Gegenstze begreift, die er zerstçren muß, sondern als Pole des einen Spannungsfeldes, das er selber ist. Denn wie kann bis zum Mord entschlossene Feindschaft herrschen zwischen Eigenschaften, die so offensichtlich zur menschlichen Natur gehçren, daß, wollte man auch nur eine von ihnen amputieren, die Seele sterben mßte? Wie viele lebende Leichname gibt es, die – mag ihr Fleisch noch so blhen – gestorben sind, weil sie entweder die Angst oder den Mut, die Vernunft oder die Leidenschaft aus sich ausgerottet haben? Die Freiheit ist nur eine Mçglichkeit, und wenn man sie vollziehen kann, so hat man Glck gehabt – worauf es ankommt, ist: sich die Anlage zur Freiheit zu erhalten« (Andersch, 1968, S. 84 f.). Die Wildnis Im abschließenden dritten Teil setzt Andersch seine existentielle Entscheidung in die Tat um. Unter dem Titel »Die Wildnis« schildert er das »Rbergehen« zum Feind. Wieder ist es eine anarchistische Stimmung, die von der italienischen Landschaft ausgeht und im Anblick eines wilden Kirschbaums ihren symbolischen Ausdruck findet: »In der Mulde des jenseitigen Talhangs fand ich einen wilden Kirschbaum, an dem die reifen Frchte glasig und hellrot hingen. Das Gras rings um den Baum war sanft und abendlich grn. Ich griff nach einem Zweig und begann von den Kirschen zu pflcken. Die Mulde war wie ein Zimmer; das Rollen der Panzer klang nur gedmpft herein. Sie sollen warten, dachte ich. Ich habe Zeit. Mir gehçrt die Zeit, solange ich diese Kirschen esse. Ich taufte meine Kirschen: ciliege diserte, die verlassenen Kirschen, die Deserteurskirschen, die wilden Wstenkirschen meiner Freiheit. Ich aß ein paar Hnde voll. Sie schmeckten frisch und herb« (S. 130). Freiheit der Entscheidung als eine Seite des Identittsthemas der 68er In den »Kirschen der Freiheit« kann man erkennen und diese Erkenntnis wird durch das sptere Werk besttigt, dass Freiheitssuche als Selbstvergewisserung ein persçnliches Identittsthema von Alfred Andersch war (vgl. Gçdde, 1985 u. 2004). »Es muss

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doch wohl seine Ursachen haben«, meint Siegfried Lenz, »wenn sich ein Schriftsteller einem Thema dauerhaft verpflichtet, das er zeitlebens ausfragt, indem er es variationsreich gestaltet«. Und als Erklrung dafr formuliert er: »Es ist das Erlebnis der Flucht, der Lossagung, des Ausstiegs aus einem als verfehlt oder unzumutbar erkannten Leben. Und es ist – da Alfred Andersch immer auf der Mçglichkeit der Wahl besteht – der Aufbruch in eine, wenn auch nicht komfortablere, so doch reinere Existenz« (Lenz, 1980, S. 47). Von seinem eigenen Identittsthema aus hat Andersch ein allgemeines Modell von Entscheidungsfreiheit entworfen. In diesem Modell, das in hohem Maße von der Existenzphilosophie Sartres und Camus’ inspiriert war, lassen sich verschiedene Stufen der Freiheit voneinander abgrenzen: Auf einer ersten Stufe des Freiheitsstrebens ist eine charakteristische Abwehrhaltung gegen ußeren Einfluss, Druck, Zwang oder Fesseln aller Art erkennbar. Dabei geht es um eine Negation : das Freisein von Einschrnkungen und Begrenzungen. Auf einer zweiten Stufe wird Freiheit zu einem positiven Wert, dessen Realisierung in bestimmten Freirumen angestrebt wird. In der Hingabe an Natur und Kunst kommt es zu sthetischen Augenblicken, in denen die bisherigen geistigen Grenzen berschritten werden und sich neue Horizonte erçffnen. Die Suche nach Freirumen und symbolische Ausbruchsversuche ermçglichen aber noch kein Freiheitserleben im Sinne eines aktiven Eingreifens in die Realitt. Handlungsfreiheit als dritte Stufe wird erstmals im politischen Engagement erlebt. Der Abschied aus der politischen Arena ist mit einem schmerzlichen Zurcksinken auf die zweite Stufe, in den Freiraum von Natur und Kunst, verbunden. In der »inneren Emigration« treten Krankheitserscheinungen wie »schwere Depression« und »versteckte Verfolgungsneurose« auf. Was bleibt, um eine Vergewisserung des eigenen Identittsgefhls zu erlangen, sind wiederum sthetische Erlebnismçglichkeiten, sei es als freiheitliche Stimmungen oder erste knstlerische Projekte. Die Faszination, welche die Entscheidung fr die Fahnenflucht bedeutet, kann man in der Realisierung individualistischer Selbstbestimmung sehen. Existenziell gesehen hat diese Erfahrung noch

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grçßere Tragweite als das frheres Eingreifen in die Geschichte, da sie es erlaubt, dem eigenen Leben eine Richtung zu geben, einen individuellen Weg zu whlen. ber diese allgemeinen Modellvorstellungen hinaus hat Andersch – und das ist die Pointe, auf die es mir hier ankommt – uns ein spezielles Modell von freier Entscheidung vor Augen gefhrt, das eine wesentliche Seite des Identittsthemas der spteren 68er-Generation berhrt: Die Thematisierung der Fahnenflucht als solcher war in der Adenauer-ra ein Tabubruch par excellence, der ganz im Sinne der antiautoritren und antimilitaristischen Studentenbewegung war. Um zu einer existentiellen Entscheidung wie einer Desertion fhig zu sein, bedarf es der Loslçsung aus vielfltigen libidinçsen und affektiven, kognitiven und ideologischen sowie loyalen Bindungen, in diesem Fall an den »Fhrer«, an politische und militrische Autoritten, an die Volksgemeinschaft und die Kameraden, an den Fahneneid und andere staatliche Bestimmungen. Freiheit der Entscheidung bedeutet in diesem Kontext Kraft und Mut zum Ungehorsam, Widerstand und Einzelgngertum und damit einen Kontrast zur Anpassung, Unterwerfung und Aufopferung der politischen Jugend im Nationalsozialismus. In diesem Ablçsungskonflikt muss man notgedrungen zum »Verrter« werden. In diesem Zusammenhang sei an die von Nietzsche (1978–80/1980, S. 355) aufgeworfene Frage erinnert: »Sind wir verpflichtet, unsern Irrtmern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem hçheren Selbst Schaden stiften?« Seine Antwort lautet: »Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpflichtung der Art, wir mssen Verrter werden, Untreue ben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrates zu machen und auch daran wieder zu leiden.« Indem dem Durchhalten bis zum bitteren Ende, dem Mitlaufen und »Beim-Haufen-Bleiben« eine individualistische Alternative gegenbergestellt wird, gelingt es dem Deserteur, sich »aus dem Massenschicksal« herauszukatapultieren. Hierin kann man den

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entscheidenden Wendepunkt sehen, an dem die Realisierung einer inneren Entscheidung zu einem Identittsthema einer Protestgeneration ausgestaltet werden kann. Obwohl der Vollzug selbst nur einen Augenblick dauert, kann die erlebte Freiheit von bleibender Bedeutung fr das eigene Identittsgefhl sein: »Nicht im Moment der Tat selbst ist der Mensch frei, denn indem er sie vollzieht, stellt er die Spannung wieder her, in deren Strom seine Natur kreist. Aufgehoben wird sie nur in dem einen flchtigen Augenblick zwischen Denken und Vollzug« (Andersch, 1968, S. 84). Wer Freiheit zu seinem Identittsthema macht, nimmt persçnliche Eigenschaften wie Nonkonformismus, Widerstandsfhigkeit, Mut, Gelassenheit, Stoizismus und Integritt in das eigene IchIdeal auf und lsst sie damit zu einem identittsbestimmenden Strebensziel werden. Die bereinstimmung dieses speziellen Modells von Entscheidungsfreiheit mit dem Freiheitsverlangen der 68er-Generation scheint mir in allen wesentlichen Punkten gegeben zu sein.

Freiheit im Handeln Im Weiteren mçchte ich die Frage aufwerfen, ob Andersch auch in puncto Handlungsfreiheit das Identittsthema der 68er tangiert hat. Betrachtet man die Frage nach der Entscheidungsfreiheit in einem grçßeren philosophisch-zeitgeschichtlichen Kontext, so stçßt man auf eine hoch brisante weltanschauliche Kontroverse. Vergleichbare Freiheitsappelle, die darauf abzielten, den geschichtlichen Augenblick entschlossen und mutig zu ergreifen, fanden sich bei einer ganzen Reihe einflussreicher Denker des 20. Jahrhunderts: bei den Sozialisten Ernst Bloch und Paul Tillich, den Konservativen Martin Heidegger, Ernst Jnger und Carl Schmitt sowie den Existentialisten Jean-Paul Sartre und Albert Camus, um nur einige zu nennen.

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Mçglichkeit und Wirklichkeit Bei Heidegger, Jnger und Schmitt hat Christian von Krockow (1958) eine »dezisionistische Denkstruktur« ausgemacht. Im Zentrum ihres konservativ revolutionren Dezisionismus steht von der Wortbedeutung her die Entscheidung, der rein als solcher ein besonderer Nimbus zuerkannt wird. Demgegenber haben die inhaltlichen Bezge auf ein Wofr, Wogegen oder Wozu nur untergeordnete Bedeutung. Schmitt pldierte ausdrcklich fr »Entscheidung«, Jnger fr »Kampf« und Heidegger fr »Entschlossenheit« (von Krockow, 1958, S. 45 ff.). Die Entscheidungsfhigkeit erscheint als Garant menschlicher Wrde und Eigenverantwortung, da sie die notwendige Voraussetzung dafr sei, mutig gegen kollektive Systemzwnge zu revoltieren und in Krisensituationen sogar »alle transzendenten Normierungen berhaupt abzuwerfen, um sich einzig auf sich selbst, das Wagnis und die Wrde seiner je eigenen Entscheidung zu stellen« (von Krockow, S. 4). In Epochen, in denen das Vertrauen auf traditionell vorgegebene Maßstbe und berhaupt auf die »Vernunft« verloren gegangen ist, kçnne nur die normativ aus dem »Nichts« geborene Entscheidung Halt geben. Daher wird der Entscheidungsfhigkeit geradezu identittsstiftende Bedeutung fr den Einzelnen beigemessen. Obwohl er den Wert der Willens-, Entscheidungs- und Tatkraft geradezu heroisiert, sucht der konservative Dezisionist in seiner Programmatik mçglichst unberechenbar zu bleiben. Er gleicht darin dem abenteuernden Romantiker, der vor einer konkreten Festlegung in der Realitt zurckscheut, weil er in einer solchen Festlegung »einer Flle von Bindungen und Bezgen unterliegen [wrde], die seine subjektive Souvernitt aufheben mßten« (von Krockow, S. 84). Mit diesem Offenhalten des Mçglichen geht eine merkwrdige inhaltliche Unbestimmtheit einher. So ist Heideggers »Sein und Zeit« durch den Grundsatz geprgt: »Hçher als die Wirklichkeit steht die Mçglichkeit« (1984, S. 38). Die Kehrseite eines solchen Ausweichens vor der Wirklichkeit ist die Hinwendung zum sthetischen. Man kann von einem »sthetizismus der formalen Entschiedenheit« sprechen, wie ihn Jnger in einer berhmt gewordenen Aussage programmatisch vertreten hat: »Nicht wofr wir kmpfen, ist das Wesentliche, sondern

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wie wir kmpfen« (von Krockow, 1958, S. 6 f.). Die Abwertung der Wirklichkeit zugunsten der offen gehaltenen Mçglichkeiten und die Abwertung des Pragmatischen und Politischen zugunsten des sthetischen mnden in eine Abwertung des ffentlichen zugunsten des Privaten und Existenziellen ein. So hat Heidegger die Sphre der ffentlichkeit einseitig der Uneigentlichkeit zugerechnet. Der Einzelne sei im Miteinandersein mit Anderen stets in Gefahr, sein eigentliches Selbst zu verlieren. Diese drei Denker stimmten aber darin berein, dass sie im Rahmen der »konservativen Revolution in Deutschland« (1918– 1932) leidenschaftlich gegen die erstarrten brgerlichen Lebensformen ankmpften und gerade dadurch maßgeblich zur spteren Machtergreifung des Nationalsozialismus beitrugen (vgl. Mohler, 1989). Auch Sartre nahm in seinem stark an Heidegger orientierten Hauptwerk »Das Sein und das Nichts« eine dezisionistische Position ein, ohne allerdings die Schattenseiten des konservativen Dezisionismus, insbesondere seine Faschismusanflligkeit, zu verkennen. Dass sich seine Position von derjenigen Heideggers grundlegend unterscheidet, lsst sich an seinem legendren Vortrag »Ist der Existentialismus ein Humanismus?« aufzeigen.9 Mit dem berhmten Satz: »Wir sind zur Freiheit verurteilt« konfrontiert Sartre uns damit, dass wir Menschen kein fest umrissenes Wesen haben, sondern uns erst durch existentielle Entscheidung entwerfen mssen. Eine solche Wahl setzt voraus, dass der Einzelne die Mçglichkeit ergreift, das Gegebene zu negieren, um sich seiner Macht zu entziehen. Solange er bloß einem vorgeschriebenen Weg folgt, bleibt er angepasst und unfrei. Fr seinen Selbstentwurf und dessen Realisierung erscheint der Einzelne selbst verantwortlich (Sartre, 1971, S. 9 ff.). Dieser Subjektivismus muss sich jedoch nach Sartre »objektivieren«. Fr ihn gibt es »Wirklichkeit« nur in der Tat. Der Mensch sei »nichts an-

9 Auf diesen Text hat sich Andersch (1979, S. 97) ausdrcklich bezogen und ihm hinsichtlich seiner geistigen Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg große Bedeutung beigemessen.

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deres als die Gesamtheit seiner Handlungen«. Wenn er sich auf vorhandene, aber aus irgendwelchen Motiven letztlich nicht realisierte »Mçglichkeiten« berufe, so sei dies nur Ausdruck mangelnden Muts. Fr den Existentialisten gebe es »keine andere Mçglichkeit der Liebe als die, die sich in einer Liebe kundtut, [. . .] keine andere Genialitt als die, die sich in Kunstwerken ausdrckt« (Sartre, 1971, S. 22 ff.). In dieser Entgegensetzung von Mçglichkeit und Wirklichkeit kann man eine erste Abgrenzung von Heidegger sehen. Die Freiheit des Anderen Im weiteren vollzieht Sartre eine Hinwendung zur Intersubjektivitt, indem er betont, dass die »Entdeckung meines Innersten mir gleichzeitig den anderen, als eine mir gegenbergestellte Freiheit« enthllt. Der andere sei »meiner Existenz unentbehrlich, wie er der Erkenntnis, die ich von mir selber habe, unentbehrlich ist« (Sartre, 1971, S. 26). Wenn Sartre fr das freie Eingehen von Bindungen im Sinne sozialen und politischen Engagements eintritt, so geht er bewusst ber den Rahmen der Heideggerschen Ontologie hinaus. Er entwickelt Anstze einer existentialistischen Ethik, wonach der Einzelne durch die »totale Bindung« an die jeweilige Situation einen doppelten Wirklichkeitsgewinn erreicht: Einerseits kann er sich in die ußere Wirklichkeit einfgen und darin einen Halt finden, andererseits kann er seine eigentlichen Mçglichkeiten realisieren und seine innere Wirklichkeit entfalten. Man hat auch gegen Sartre eingewandt, dass seine ontologischen und ethischen Aussagen inhaltlich unbestimmt bleiben und daher verschiedene Auslegungsmçglichkeiten zulassen. Diesem Einwand hielt Sartre entgegen, dass die Entscheidung des Einzelnen nicht nur privaten Charakter hat, sondern an objektivierbaren Maßstben zu messen ist: »Tatschlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie den Menschen schafft, der wir sein wollen, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, so wie wir meinen, dass er sein soll. Whlen, dies oder jenes zu tun, heißt gleichzeitig, den Wert dessen, was wir whlen, bejahen« (Sartre, 1971, S. 12). Die Handlungen der Menschen, die guten Willens sind, mn-

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den nach Sartre in ein Streben nach Freiheit ein. Dieses individuelle Streben sei jedoch notwendig auch auf die Freiheit der anderen ausgerichtet: »Gewiß hngt die Definition des Menschen nicht vom andern ab, aber sobald ein Sichbinden vorhanden ist, bin ich verpflichtet, gleichzeitig mit meiner Freiheit die der andern zu wollen, und ich kann meine Freiheit nicht zum Ziel nehmen, wenn ich nicht zugleich die Freiheit der andern zum Ziel nehme« (S. 32). Dieses Freiheitsverstndnis bildet das Fundament fr Sartres existentialistischen Humanismus. Nicht durch Rckwendung auf sich selbst kçnne der Mensch seine Humanitt verwirklichen, sondern nur »durch Suche nach einem Ziel außerhalb seiner, welches diese oder jene Befreiung, diese oder jene besondere Verwirklichung ist« (S. 35).10 Wesentlich ist noch ein weiterer Punkt. Nach Sartre sind alle idealistischen Versprechungen, dass Freiheit auf Dauer zu realisieren sei, von vornherein mit Skepsis zu betrachten. Freiheit lasse sich nur in Augenblicken realisieren. Diese Freiheitsauffassung teilt Andersch, wenn er programmatisch formuliert: »Frei sind wir nur in Augenblicken. In Augenblicken, die kostbar sind.« Dementsprechend gibt es fr ihn nur ein stndiges Hin- und Herpendeln zwischen Freiheit und Bindung, eine ›Dialektik‹ der Freiheit. Ein erhellendes Beispiel dafr findet sich in seinem ersten Roman »Sansibar oder der letzte Grund« von 1957. Die Realisierung von Freiheit im Sansibar-Roman Wie in den »Kirschen der Freiheit« wird auch im Sansibar-Roman die Loslçsung aus bestehenden Bindungen thematisiert. Die Handlung spielt im Oktober 1937 in dem deutschen Hafenstdtchen Rerik an der Nordsee. Dort verknpfen sich innerhalb weniger Stunden die Schicksale von fnf Menschen, die alle mit Fluchtgedanken beschftigt sind und schließlich eine spontane

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Zur Diskussion der sartreschen Philosophie vgl. Zurhorst (2005).

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Widerstandsgruppe gegen die NS-Diktatur bilden: die beiden Kommunisten Gregor und Knudsen, der Pfarrer Helander, die von den Nationalsozialisten verfolgte Jdin Judith und ein Schiffsjunge. Die heimliche Zentralfigur ist die Holzplastik des »lesenden Klosterschlers«, ein Kunstwerk von Ernst Barlach, das als »entartete Kunst« gilt und am nchsten Tag von der Gestapo beschlagnahmt werden soll. Der Kommunist Gregor ist ein an der Lenin-Akademie in Moskau geschulter Parteifunktionr, der politisch resigniert hat. Er mçchte nur noch seine Mission in Rerik erfllen und sich dann der Parteiarbeit entziehen. Was ihn qult, ist die Frage, ob es ein sinnvolles Leben ganz »ohne Bindungen und Auftrge« geben kann. Allein aus sich heraus kçnnte er diese Frage nicht beantworten. Aber die Begegnung mit der Figur des »lesenden Klosterschlers« ermçglicht ihm eine neue Sicht der Dinge. Die Figur stellt einen asketischen jungen Mann in einem langen Mçnchskittel dar, der in einem auf seinen Knien liegenden Buch liest. Seine beiden Arme hngen herab. Sein Mund ist »ohne Anstrengung geschlossen«. Auch die Augenlider hlt er whrend des Lesens fast geschlossen: ein Inbild von Gelassenheit und Konzentration. Gregors Identifikation beginnt mit einem Erstaunen: »Genauso sind wir in der Lenin-Akademie gesessen, und genauso haben wir gelesen, gelesen, gelesen. [. . .] wir haben den Glockenturm Iwan Welicki vor dem Fenster nicht gesehen, ich schwçre es, dachte Gregor, so versunken waren wir. So versunken wie er. Er ist wir. [. . .] Er trgt unser Gesicht, dachte er, das Gesicht unserer Jugend, die ausgewhlt ist, die Texte zu lesen, auf die es ankommt« (Andersch, 1957, S. 46). Aber dann begreift Gregor intuitiv, dass sich die Figur in einem entscheidenden Punkt von seinen Genossen und ihm unterscheidet: »Er war gar nicht versunken. Er war nicht einmal an die Lektre hingegeben. Was tat er eigentlich? Er las ganz einfach. Er las aufmerksam. Er las genau. Er las sogar in hçchster Konzentration. Aber er las kritisch. Er sah aus, als wisse er in jedem Moment, was er da lese. Seine Arme hingen herab, aber sie schienen bereit, jeden Augenblick einen Finger auf den Text zu fhren, der zeigen wrde: das ist nicht wahr. Das glaube ich nicht. Er ist anders, dachte

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Gregor, er ist ganz anders. Er ist leichter, als wir waren, vogelgleicher. Er sieht aus wie einer, der jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun« (S. 46 f.). In seiner Gelassenheit und Unberechenbarkeit ist der Klosterschler ein Symbol subversiver Widerstandskraft und damit eine Gefahr fr jede Ideologie. In der sinnlich-sthetischen Konfrontation mit ihm erkennt Gregor, dass er selbst unfrei war, weil er sich fr die Zwecke der KP einspannen, zum Spielball ihrer Strategien machen ließ. Aber noch in anderer Hinsicht sticht ihm die Andersartigkeit des Klosterbruders ins Auge: »Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt.« Angesichts der Notwendigkeit, fr Judith und den Klosterbruder einen Ausweg aus der bedrohlichen Situation zu finden, fhlt er sich aufgerufen, nicht tatenlos zuzusehen, sondern eine Rettungsaktion »im eigenen Auftrag« anzugehen. Damit vollzieht er eine innere Wandlung vom Funktionr zum selbstverantwortlich Handelnden. Durch die doppelte Rettung der verfolgten Jdin und des bedrohten Kunstwerks erfhrt er eine nie gekannte Freiheit im Handeln, die ihn in seiner persçnlichen Entwicklung vorwrts bringt und ihn zugleich »in die Welt, in den Bereich der anderen, in die Gesellschaft, in das Leben« hineinfhrt. Demokratische und fortschrittliche Politik, so kçnnte die wesentliche Botschaft des Sansibar-Romans lauten, bedarf des »Engagements« freier Menschen, die sich Spontaneitt, Eigenstndigkeit, Verantwortungsgefhl, Phantasie und sthetische Sensibilitt bewahrt haben. Freiheit im Handeln als zweite Seite des Identittsthemas der 68er Vergleicht man die beiden literarischen Texte von Andersch, so kann man deutlich erkennen, dass das Freiheitsstreben auf der Stufe der »Kirschen der Freiheit« ein individualistisches Geschehen bleibt – der Mensch erscheint dort als »solitaire« (Rousseau), der allein in diese Welt geworfen (Heidegger), einsam seinen Weg in die Freiheit geht; in seiner Suche nach der »subjektiven und privaten Wahrheit« kann er als ›Waldgnger‹ im Sinne Ernst Jngers (1980) gesehen werden (vgl. Heidelberger-Leonard 1986, S. 62). Demgegenber zeigt der Sansibar-Roman den Menschen als sozia-

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les Wesen, als zoon politicon, der auf das Zusammenspiel, das Mitgefhl und die Anerkennung anderer angewiesen ist. In diesem Kontext hat das Generationenverhltnis einen hohen Stellenwert, denn in ihm geben die lteren ihre Erfahrungen und Erkenntnisse an die Jngeren weiter. Zugleich werden zwischen beiden Generationen in die Zukunft weisende Erziehungs- und Wertvorstellungen ausgehandelt, wobei es Generationen »nur im Zusammenhang und in Differenz zu anderen Generationen sowie einem Bewusstsein darber [gibt], wie dieser Zusammenhang aussieht« (Zirfas, 2004, S. 131). Wie in den »Kirschen der Freiheit« lsst sich auch im SansibarRoman ein innerer Entscheidungsprozess mitverfolgen, der fr eine Befreiung aus ideologischen und loyalen Bindungen maßgeblich ist. Auch kommt es zu einer Wandlung von einem fremdbestimmten zu einem selbstbestimmten Handeln, jedoch mit dem Unterschied, dass es hier nicht nur um »Selbstsorge« (Foucault), sondern auch und gerade um ein Ttigwerden fr andere geht. Mit der Stufenfolge zwischen Entscheidung und Handlung kommt zudem die Differenzierung zwischen innerer und ußerer Freiheit, Mçglichkeit und Wirklichkeit und damit die Thematik der sozialen Verantwortung viel deutlicher zum Tragen. Bei Sartre und Andersch findet sich ein Modell von freiem Handeln, das – so meine zweite These – ebenfalls eine Seite des Identittsthemas der 68er angesprochen hat: Der Mensch wird als ein Wesen gesehen, das fhig ist, sich einen Entwurf von sich zu machen und diesen Entwurf in die Tat umzusetzen. Wenn Handeln frei machen soll, muss es sich im sozialen Handeln verwirklichen. Identitt-fr-sich-selbst und Identitt-fr-andere gehçren eng zusammen. Der Rckzug in einen geschtzten Bereich innerer Freiheit kann nicht zur Herausbildung eines stabilen »Ich-Identitt« (Erikson) fhren. Zur Wahrung der eigenen Freiheit kommt es darauf an, immer neue Bindungen an andere Menschen einzugehen, neue Auftrge zu bernehmen, sich in der ußeren Realitt zu objektivieren, metaphorisch gesprochen: Fußspuren und Fingerabdrcke des Selbst zu hinterlassen. Jede »junge Generation« bedarf einer »Freiheit

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zu «. Vom ethischen Standpunkt aus gengt es nicht, sich eine Reihe von Mçglichkeiten offen zu halten. Man muss sich fr eine bestimmte Wertrichtung und eine bestimmte Aktion entscheiden. Indem wir die Freiheit der Entscheidung und der Handlung ausben, »arbeiten wir an uns selbst. Wir geben dem Willen ein Profil, das vorher nicht da war. In diesem Sinn ist man nach einer Entscheidung ein anderer als vorher« (Bieri, 2001, S. 382). Eine wichtige Frage ist in diesem Zusammenhang, wie man trotz allen Verstricktseins in die Welt seine Integritt bewahren kann. Die Integritt einer Persçnlichkeit erscheint als Ergebnis eines dialektischen Prozesses der Konfliktbereitschaft und Konfliktlçsung. Dabei mssen die bereits aufgezeigten Stufen des Freiheitsstrebens – Abwehr und Flucht, Suche nach Freirumen in Natur und Kunst, Entscheidungsakt und Handlungsvollzug – immer wieder neu durchlaufen werden. Integritt kann nur gewahrt werden, wenn der einzelne die Fhigkeit erwirbt, zu negieren, Widerstand zu leisten, gegen den Strom zu schwimmen. Auch hinsichtlich dieses Modells von Handlungsfreiheit scheint mir die bereinstimmung mit dem Freiheitsverlangen der 68erGeneration in allen wesentlichen Punkten gegeben zu sein.

Das Freiheits- und Bindungsmotiv bei den Generationen nach der Studentenbewegung Wenn wir uns nunmehr den jngeren Generationen zuwenden, so war die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit bei ihnen sicherlich kein so scharf konturiertes Identittsthema wie bei der 68erGeneration. Aber sehen wir uns das genauer an. 11

Da der christliche und der marxistische Weg als ideologische Bindungen fr Andersch ausschieden, bot sich damals die relativ ideologiefreie Orientierung des Existentialismus als neue Hoffnung an. Andererseits hat sich Andersch ausdrcklich dagegen verwahrt, »den Zusammenbruch aller Werte mit einem neuen Rezept zu beantworten, [. . .]. Wahrscheinlich ist der Existentialismus in seiner gegenwrtigen Form nicht mehr als die Vorstufe einer neuen und umfassenderen Anthropologie, auf die wir warten« (1979, S. 133).

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Die 80er-Generation Die etwa um 1960 geborenen Jugendlichen betraten die Bhne zu einem Zeitpunkt, zu dem die Rekonstruktionsperiode in der Bundesrepublik weitgehend abgeschlossen war. Sie wurden also in eine relativ heile und geordnete Welt hineingeboren. Ihre Eltern vertraten ihnen gegenber zunchst noch brgerliche Wertvorstellungen: die Lockerung der Moral, ja den Zusammenbruch hergebrachter Erziehungsvorstellungen konnten sie dann aber als Jugendliche voll genießen. In der Phase jedoch, in der sie an ihren Platz in der Gesellschaft, an Berufswahl und so weiter zu denken begannen, traten erste Zeichen eines ideologischen (Radikalenerlass 1972) und çkonomischen Umschwungs (lkrise 1973) auf, mehrten sich Berichte ber Umweltskandale und Reaktorunflle. Ende der 1970er Jahre war es dann so weit, dass statt der versprochenen Lebenschancen ein großer Mangel an Ausbildungs-, Studien- und Arbeitspltzen herrschte. In der Gesellschaft war nun fr viele Jugendlichen kein gesicherter Platz mehr vorhanden. Gleichzeitig sahen sie, dass staatliches Handeln in immer mehr Bereiche eindrang, dass Milliarden fr fragwrdige Projekte ausgegeben wurden und dass die Interessen der großen Industrie zu einer zunehmenden Zerstçrung der Umwelt fhrten. Man kann konstatieren, dass die 80erGeneration ihren Standort nicht mehr innerhalb des herrschenden gesellschaftlichen und politischen Systems sah, sondern in einer eigenen ›alternativen‹ Kultur mit eigener Infrastruktur und politischen Motiven wie Umwelt-, Friedens- und Frauenthematik. Bemerkenswert ist, dass die 68er- an der 80er-Generation ob deren Realitts-, Politik-, Gesellschafts- und Theorieferne heftig Kritik bten. Thomas Ziehe trat in den 1970er Jahren fr die Annahme eines »neuen narzisstischen Sozialisationstyps« ein, der von der lteren Generation mit reservierten bis ablehnenden Gefhlen wahrgenommen wurde: Einerseits sei er wesentlich offener, sensibler und kritischer – und damit freiheitsorientierter – als der autoritre Sozialcharakter der vorausgegangenen Generationen. Andererseits neige er in strkerem Maße zum Rckzug von den Eltern und den Konfliktaspekten der sozialen Realitt. Umstritten

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war die Prognose, ob er gengend Kraft zur konstruktiven Auseinandersetzung um soziale und politische Probleme habe oder ob er in politischer Apathie stecken bleibe.12 Eine ambivalente Einschtzung zeigte sich aber auch umgekehrt im Verhltnis der Jngeren zu den lteren. Die 80er hatten erhebliche Schwierigkeiten, sich mit dem politischen Engagement der »APO-Opas« und deren geistigen Mentoren wie etwa der »Gruppe 47« und dem Existentialismus la Sartre zu identifizieren. Die Studentenbewegung war fr die 80er bei weitem nicht von der Bedeutung, wie sie selbst es fr die 68er waren (vgl. Preuss-Lausitz, Zeiher u. Geulen 1995, S. 24 f.; Schtze u. Geulen 1995, S. 42). »Bewundernswert empfinde ich an der 68er-Generation ihren Mut, ihr Freiheitsgefhl, ihre Gelassenheit, ihr großes Selbstvertrauen und Identittsgefhl in ihrer Generation«, schrieb mir eine Psychologin aus der 80er-Generation. Sie sei »ein bisschen neidisch, was diese Generation fr sich erreicht hat und welchen Gewinn sie fr sich daraus gezogen hat. Insbesondere das Identittsgefhl kann ich in meiner Generation nicht finden. rgerlich macht mich jedoch eine gewisse bertreibung; manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Generation sich selbst bewundert und feiert und darin auch Arroganz und Ignoranz zum Ausdruck kommt, dass ein bisschen zu sehr Freiheit und Selbstbewusstsein betont wird und vielleicht damit Defizite zugedeckt werden«. Ihre eigene Generation habe sie berwiegend als »heile Welt« erlebt, zumindest nach außen hin »Friede, Freude, Eierkuchen«. Es sei fr sie eine Selbstverstndlichkeit gewesen, in Wohlstand und

12 Ziehe (1975, S. 242) setzte große Hoffnungen auf ihn: »Die Persçnlichkeitsstrukturen, die diesen Typus vom ›klassischen‹ unterscheiden, brauchen nicht beklagt zu werden; ihre Analyse ergibt vielmehr, daß sich in den erschwerenden psychosozialen Bedingungen gleichzeitig ein Potential der Vernderung von Verkehrsund Reflexionsbedingungen zeigt: daß dieser ›neue‹ Typus sich qualitativ in einer Weise vom ›klassischen‹ unterscheidet, die definitiv positiv bewertet werden kann.« Eher skeptisch zeigte sich dagegen Hans Georg Trescher: Der narzisstische Sozialisationstyp stelle eine »modifizierte Formgebung des autoritren Charakters« dar, weil er eine narzisstische Unterwerfungsbereitschaft, eine Tendenz zu »bedingungslosem Machtglauben und einem kollektivistischen Fhrerideal« besitze, die ihn in hohem Maße fr Zwangsverhltnisse anfllig mache (Trescher, 1979, S. 43 ff.).

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Frieden aufzuwachsen. »Ich kann mir schwer vorstellen, wie man in Kriegszeiten gelebt hat, Wasser vom Brunnen zu holen, Essen zu organisieren, berhaupt Hunger, Bombenalarm, Nchte im Keller zusammengepfercht etc.«. Florian Illies (2000, 2003) hat die 80er-Generation in selbstironischer und berpointierter Weise als gnzlich unpolitische und unengagierte Generation Golf geschildert: Sie kmmere sich allein um die Zukunft der eigenen Arbeitsstelle und die eigene Familienplanung. Sie habe immer eine »Reißleine im Kopf« und begebe sich in eine Beziehung nur so weit hinein, dass sie sicher sei, auch wieder herauszukommen (Illies, 2000, S. 94). Sie sei gleichgltig gegen Theoriegebude jeder Art und insbesondere gegen politische Demonstrationen. Selbst bei der Massendemonstration gegen den Nato-Doppelbeschluss im Jahre 1983 sei mit ihr »kein Staat zu machen« gewesen. »Schon beim Golfkrieg hielten wir uns raus, und auch die Lichterketten waren eher eine Angelegenheit unserer Eltern.« Die Love Parade sei »die einzige Demonstration, zu der unsere narzisstische Generation noch in der Lage ist. Sie ist Hingabe an sich selbst, im Medium der Musik zwar, aber zum Zwecke der Zelebrierung des eigenen Spaßes und der eigenen Kçrperlichkeit« (Illies, 2000, S. 164 f.). Entscheidend fr die eigene Identittsfindung sei gerade die Abgrenzung gegen die 68er mit ihrer »Moralhoheit«, ihrem sorgenvollen Ernst und Sendungsbewusstsein gewesen: »Es war eine Generation, die noch ins Kabarett ging, es bis heute gut findet, dass Dieter Hildebrandt den Finger in die Wunde legt [. . .] Uns war die Dieter-Hildebrandt-Humorschiene von Anfang an zu schwermtig, misanthropisch, zu engagiert ablehnend« (S. 179). Niemand habe so recht bemerkt, »wie nahe wir in der Entideologisierung und Entpolitisierung den Werten der skeptischen Generation der Nachkriegszeit sind« (S. 185). Dementsprechend stehe »das persçnlicher Wohlbefinden im Augenblick [. . .] ber beruflichem Ehrgeiz oder dem Engagement fr kollektive Ziele« (Illies, 2003, S. 213). Illies (2003, S. 217 f.) gelangt am Ende zu einer Gegenberstellung zwischen der:

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Identitt in der Kultur

Selbstsicht der Generation Golf

Deutung der 68er

Selbstbewusstsein

Arroganz, da kçnnte ja jeder kommen

Ironie

Zynismus

E-Mail-Stil

Unhçflichkeit

Freude am Ausprobieren

ziellos, wissen nicht, was sie wollen

gleichzeitiger Umgang mit vielen Dingen und Ebenen

Unkonzentriertheit

Bedrfnis, wahrgenommen zu werden

profilneurotisch, exhibitionistisch, selbstdarstellungsschtig

Anerkennungsbedrfnis

Narzissmus

Arbeiten, um zu leben

Hedonisten, Spaßgesellschaft

Whrend die 68er ber die Unentschiedenheit und Unengagiertheit der »Generation Golf« schwer erschttert waren, waren sie umso erfreuter, als die noch Jngeren auf die Straße gingen, um gegen Amerika zu demonstrieren. Enthusiastisch tauften sie diese Schler »Generation Golfkrieg«. Sie konnten es kaum fassen, dass da vielleicht wieder eine politisch aktive Generation heranwchst und sich mit romantischem Eifer fr die gute und richtige Sache einsetzt (Illies, 2003, S. 231). Die »Golfer« selbst waren hingegen ber dieses politische Engagement eher traurig und bekamen auch ein wenig Angst, »denn der nchste Gegner, den sich die Generation Golfkrieg nach den Amerikanern suchen wird, wird wohl oder bel die Generation Golf sein. Eine unangenehme Zukunft steht uns also bevor: Die lteren werden uns fr unser Pech bedauern und die Jngeren uns fr unsere Tatenlosigkeit attackieren. Das sieht nach einer wenig erstrebenswerten Sandwichposition aus . . .« (S. 232). Hoffnungen auf die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der 89er-Generation? Im Fall der Mauer am 9. November 1989 und deren Folgewirkungen – der politischen Umwlzung in der DDR, dem dominoartigen Fall der çstlichen Diktaturen, dem Riss zwischen Ost- und

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Westdeutschen und dem massenhafter Schlerprotest gegen die Fhrung des Golfkriegs – sieht Claus Leggewie hoffnungsvolle Anstze dafr, dass die neue Generation der 89er13 zu einer politischen Generation heranreifen kçnne: »Ich hoffe, dass junge Leute sich entschiedener zu Wort melden und fr ihre Zukunft wie fr die Zukunft des Gemeinwesens Partei ergreifen. Dazu mssen sie [. . .] das lastende ber-Ich der 68er loswerden«. Trotz aller Verdienste sei es heute »ein Hemmnis fr eine neue und selbstbewusste Artikulation des Eigensinns einer Generation, die ganz andere historische Erfahrungen und neue Problemlagen zu bewltigen hat« (Leggewie, 1995, S. 49). Mit hnlichem Tenor ußert sich Peter Kçnig in seinem Artikel »Wir Voodookinder«: »Versucht nicht uns zu verstehen. [. . .] wir sind anders konstruiert, sozialisiert, domestiziert, angeschmiert. Frher war alles anders, und deshalb kann man uns nicht mit frher vergleichen. Unsere Jugend ist anders, als eure war. Wir sind anders als ihr. Wir sind zu viele, zu verschieden, zu zersplittert, zu schillernd, zu gegenstzlich, zu unlogisch und zu abgeschottet und sektiererisch, als dass es ein großes umfassendes Wir geben kçnnte. Wir benutzen es trotzdem. Wir, das wechselt« (Kçnig, 1993, S. 1). Haben die skeptischen Flakhelfer und die politischen 68er die alte Bundesrepublik geprgt, so sollten die 89er nach dem Pldoyer Leggewies entschieden in die Politik einsteigen. Nur auf den ersten Blick fehle es ihnen an entsprechenden Vorhaben und Visionen, denn es gebe unendlich viel zu tun: »Die europische Konfçderation muß weitergehen, die Demokratie muß sich als politische Lebensform behaupten, der Sozialstaat muß umgebaut werden. [. . .] Ohne politischen Generationenwechsel in Deutschland und Europa wird das nicht gehen« (Leggewie, 1995, S. 304). Dazu mssten die 89er ihre Distanz gegenber dem, was mit Politik zu tun hat, in Frage stellen: »Die 89er werden die ersten Leitfi-

13 Der mittelbare Auslçser der Debatte um die 89er-Generation war der Bocksgesang-Essay von Botho Strauß im »Spiegel« vom 8.2.1993 (vgl. Hçrisch, 1997; Steiner, 1997).

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Identitt in der Kultur

guren der Berliner Republik – oder als Generationsepisode in den Zeitluften vergessen« (Leggewie 1995, S. 301). In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, ob es heute berhaupt noch angebracht ist, von einer »Generationseinheit« zu sprechen. Nicht wenige Jugendforscher neigen zu der Auffassung, dass die 68er die letzte Generationseinheit in Deutschland waren, und bezweifeln sehr, ob es »eine distinkt beschreibbare Generation gibt, die das Prgemal des Wendedatums gut sichtbar auf der Stirn geschrieben trgt« (Steiner, 1997, S. 17).

Abschließende Bemerkungen Am Ende bleiben eine Reihe offener Fragen, zuallererst die, ob es berhaupt legitim und angemessen ist, von einer »Dialektik der Generationen« zu sprechen: Inwieweit ist eine Generationseinheit auf die verdrngte Vorarbeit in der vormaligen Generation verwiesen und produziert, wenn sie sich Geltung verschaffen kann, neue verdrngte Potentiale in ihrer eigenen Kohorte? In jeder Generation lagert, wie Karl Mannheim in seiner grundlegenden Arbeit »Das Problem der Generationen« (1984, S. 550) ausgefhrt hat, »eine schlummernde Potentialitt«, die unter bestimmten historischen Bedingungen aktiv werden kann. Die jeweiligen »inhrierenden Tendenzen«, denen eine sichtbare Generationseinheit Ausdruck verleihe, entwickelten sich antithetisch, polar zu vorangegangenen historischen Tendenzen. Statische Gesellschaften, in denen der historische Wandel sich langsam und kontinuierlich vollziehe, seien Gesellschaften ohne ausgewiesene Generationsgestalten. Je mehr sich die Dynamik des Wandels beschleunige, umso grçßer werde die Chance, dass es zur Ausbildung von distinkten Generationen komme. Nun teilen nur wenige Menschen das Glck oder Schicksal, einer identittsstiftenden »Jahrhundertgeneration« wie den 68ern anzugehçren. Wie ist es dann mit all jenen Jahrgngen, die dazwischenfallen, die einer jener »stillen«, »schweigenden«, »stummen« Generationen angehçren, deren Generation zu den »Zaungsten« der Zeitgeschichte erklrt wird?

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Sehen wir historische Jugendgenerationen heute in erster Linie noch als dynamische Faktoren im gesellschaftlichen, insbesondere kulturellen Wandel, wie Mannheim dies tat? Oder interessiert uns mittlerweile mehr die integrierende Funktion von Generationen, die diesen in einer enttraditionalisierten Moderne zufallen kçnnte: symbolische Heimat fr individualisierte Einzelne zu sein, die ihre angestammten sozialen Orte – Stand, Klasse, Nation, stabile GroßMilieus, Nachbarschaft – verloren haben? Betrachtet man Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Individualisierung als zentrale Kennzeichen postmoderner Entwicklungen, ist dann das Konzept der Generationseinheiten noch aufrechtzuerhalten? Die »Risikogesellschaft« der Postmoderne (Beck, 1986) betrifft ja tendenziell die gesellschaftliche Praxis und das gesellschaftliche Bewusstsein aller Gesellschaftsmitglieder: »Die Risikoerfahrung – auf technologischer, çkologischer, politischer, sozialer, individueller Ebene – ist eben gerade nicht altersspezifisch und damit generationskonstituierend. [. . .] Die Modernisierungsund Modernisierungsfolgenerfahrung bleibt nicht auf spezifische Gruppen der Jngeren beschrnkt« (Liebau, 1988, S. 298). Die vorangegangenen Ausfhrungen haben hoffentlich deutlich gemacht, dass die Dialektik von Freiheit und Bindung in allen Generationsgestalten der Moderne eine mehr oder weniger prgende Rolle gespielt hat. Dabei haben sich teils verwandte, teils kontrre »Identittskonstruktionen« (Keupp, 2002) entwickelt und ganze Generationen in ihren Bann gezogen: angefangen bei der Jugendbewegung ber die politische Jugend und die Flakhelfergeneration bis zur 68er-Generation. Aber auch in der 80er- und 89er-Generation bis zur heutigen Jugend kommt die Polaritt von Freiheit und Bindung als kollektives Identittsproblem zum Tragen. Wir sind damit noch nicht am Ende. Literatur Adam, A. (1994). Wider die Sauertçpfe. Sddeutsche Zeitung, 18.1.1994. Andersch. A. (1957). Sansibar oder der letzte Grund. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Andersch. A. (1968). Die Kirschen der Freiheit. Zrich: Diogenes. Andersch, A. (1979). Das Alfred Andersch Lesebuch, hrsg. v. G. Haffmanns. Zrich: Diogenes.

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Identitt in der Kultur

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Ute Marie Metje

Vom kollektiven Bezugssystem zur interaktiven Ressource Kulturelle Identitt aus Perspektive der Kulturwissenschaft

Vorbemerkungen Die Frage nach der kulturspezifischen Formung des Lebens hat eine lange Forschungstradition in der Ethnologie. Mit kulturspezifischer Formung meine ich normative Erwartungen, Regel- und Statussysteme, die jede Kultur ausbildet und fr sich als gltig und brauchbar befunden hat im Sinne eines Commonsense. Im letzten Jahrhundert war die Entdeckung der kulturellen Varianz menschlicher Lebensgestaltung zentral, so dass auch alle Bereiche der individuellen Identittsbildung als kulturell beeinflusste erkannt wurden. Dabei wurde zunchst von einem eher statischen Kulturbegriff ausgegangen, der auf oberster Ebene von Gesellschaften einen normativen und ordnenden Bezugsrahmen fr das Verhalten ihrer Mitglieder setzte. Immer mehr ist in der Moderne und Postmoderne aber debattiert worden, wie Kultur als kollektives Bezugssystem berhaupt entsteht, und welche Prozesse somit genauer betrachtet werden mssen. Ziel dieser Diskussionen war und ist ein besseres Verstndnis der individuellen Ausbildung von kultureller Identitt. In diesem Beitrag will ich drei Anstze vorstellen, die sich in dieser Hinsicht strker den alltglichen, sozialen Aushandlungsprozessen von Kultur gewidmet haben: erstens der Konstruktion von »Wir« und den »Anderen«, zweitens den symbolischen Interaktionismus und drittens Performanz-Theorien. Mit diesen verschiedenen kulturwissenschaftlichen Zugngen sollen aktuelle De-

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batten eingefhrt werden, die kulturelle Identitt weniger als umfassende Bezugssysteme betrachten, sondern als Sammelbegriff fr komplexe Prozesse der interaktiven Zuordnung und Grenzziehung. Mit Hall (1994) und Baumann (1999) werde ich auf differente Bezugssysteme verweisen, aus denen Individuen ihre kulturellen Zugehçrigkeiten speisen. Das werde ich an Beispielen der eigenen ethnografischen Forschung ber Geschlechterbeziehungen bei den Minangkabau in Indonesien illustrieren. In den vergangenen 30 Jahren hat eine konzeptuelle Verschiebung in den Sozialwissenschaften stattgefunden, die im so genannten cultural turn mndeten. Diesen unter dem Begriff des cultural turn zusammengefassten Vernderungen waren gesellschaftliche Wandlungsprozesse vorausgegangen, die sich unter anderem auf Aspekte der Globalisierung und die weltweite mediale Vernetzung beziehen. Schließlich wurden die gesellschaftlichen Vernderungen von den Sozialwissenschaften aufgegriffen und hatten dort vielfltige theoretische und empirische Transformationen zur Folge. Im Zuge dessen wurden auch die Begriffe Kultur und Identitt hinterfragt und mussten neu definiert werden. Mit welchen Konzepten gegenwrtig in der Kulturwissenschaft gearbeitet wird, werde ich nachfolgend erlutern.

Konstruktion von »Wir« und den »Anderen« Zentraler Gegenstand des Fachs war und ist die Kultur in allen ihren vielfltigen und unterschiedlichen Erscheinungsformen und Wandlungsprozessen. Zur wichtigsten Methode der Ethnologie entwickelte sich die Feldforschung im Sinne Malinowskis (1922): going native, so lautete das Selbstverstndnis zur Erlangung emischer Perspektiven. Dieser fachspezifischen Prmisse kamen zunchst ausschließlich westlich gebildete Akademiker und Akademikerinnen nach, die vorwiegend in außereuropischen Gesellschaften forschten. Damit wurde ein Wissen ber diese Kulturen transportiert, in dem letztlich nur die Sichtweisen der westlichen Wissenschaft reprsentiert waren. Die Frage nach der Objektivitt der auf diese Art und Weise entstandenen Erkenntnisse begleitete

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den gesamten methodischen Diskurs und entzndete sich insbesondere auch an der Polarisierung zwischen »Insider« und »Outsider«, zwischen der Konstruktion von »Wir« und den »Anderen«. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Ethnologie die Grundlagen ihres bis dahin gltigen Selbstverstndnisses. Zum einen wurde deutlich, dass sich die so genannten »primitiven« Vçlker – wenn es sie denn berhaupt gegeben hatte, und sie nicht nur ein Konstrukt der Ethnologie waren – im Zuge der allgemeinen Modernisierungs- und Entwicklungsprozesse auflçsten. In Anbetracht dieses Wandels verlor auch der zentrale Gegenstand des Fachs, und zwar die kleinen relativ geschlossenen und homogenen lokalen Kulturen als Untersuchungseinheit, immer mehr an Bedeutung. Im Zuge dieser Entwicklungen erhielten ethnologische Forschungen jetzt anstelle des Etikettes »primitiv« das Etikett »exotisch«, definiert wurden diese »by its cultural distance from the West« (Aull Davies, 1999, S. 33) und, wenn mçglich, auch in geographischer Distanz zum Westen. Diese Studien blieben der Tendenz zur Exotisierung und Polarisierung zwischen »Wir« und den »Anderen« verhaftet. Darin kommt zum Ausdruck, was wenige Jahre spter innerhalb des Fachs stark kritisiert wurde. Die Zuschreibungen »Wir« oder »Insider« implizieren das Vertraute, Bekannte und Eigene. Die »Anderen« oder »Outsider« dagegen das Fremde und Unbekannte. Diese ethnologische Konstruktion des kulturell Anderen oder, wie Abu-Lughod (1991) es nennt, des »Othering« wird mittlerweile stark angezweifelt. In ihrer Kritik macht Abu-Lughod auf die Gefahren dieser Konstruktion aufmerksam. Einerseits wrden die Unterschiede zwischen den Kulturen zu stark hervorgehoben und andererseits zugleich nivelliert, da von einer homogenen Verteilung der kulturellen Muster ausgegangen werde. Mit diesem Konzept einher geht die Annahme, dass Kulturen klar begrenzte feste Einheiten bilden, die statisch, homogen und autark sind. Dadurch werden aber wiederum die bestehenden Unterschiede zwischen Kulturen, die komplexen Strukturen und Machtverhltnisse negiert. So wurde auch der Kulturbegriff einer Revision unterzogen und inhaltlich neu gefllt. Malinowski (1922), der »Vater der Feldforschung«, erhob erst

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aufgrund seines Konzepts des »Eintauchens in die fremde Kultur« die »Fremdheit« zum methodischen Prinzip. Erst durch das von ihm aufgestellte Paradigma wurde die besondere erkenntnistheoretische Problematik des »Fremd- und Selbstverstehens« schließlich ausgelçst. Unter Fremd- und Selbstverstehen werden diejenigen Erkenntnisse gefasst, die in der ethnologischen Forschung durch das »going native« in den ehemals relativ kleinen und homogenen Lokalkulturen gewonnen wurden. Die teilnehmende Beobachtung, als wesentliches Erkenntnismoment, erfordert eine aktive Teilnahme der Forschenden an den kulturellen Prozessen im Feld. Dadurch wird die Forschung selbst zur kulturellen Ttigkeit. Innerhalb der Ethnologie hat sich somit eine Perspektive entwickelt, die sich spter ebenso in Untersuchungen ber hnliche soziale Phnomene in der eigenen Gesellschaft bewhrt hat. Heutzutage wird davon ausgegangen, dass der Gegenstand der Ethnologie der kulturelle Prozess und die Erzeugung von Differenzen und Gleichheiten ist. Die Hauptaufgabe besteht meines Erachtens in der bersetzung von Kulturen, zunchst basierend auf dem Verstehen. Dieses Verstehen erfolgte bis in die 1960er Jahre aber immer noch im malinowskischen Sinne, das heißt, Kultur wurde als statisches Konzept verstanden. Dementsprechend umfassten Kulturanalysen die gesamten Lebensformen eines Volkes und der Begriff zeigte noch deutlich funktionalistische und materialistische Zge. Der Wandel im Verstndnis von Kulturen als symbolische Ordnungen ist unter anderem auf Clifford Geertz zurck zu fhren: »Der Kulturbegriff ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht« (Geertz, 1987, S. 9). Als nchstes wende ich mich Stuart Hall und seinen Ausfhrungen zur »Krise der Identitt« (1994) zu. Moderne Gesellschaften des spten 20. Jahrhunderts werden, so die Meinung verschiedener Theoretiker, durch einen besonderen Typ des strukturellen Wandels transformiert. Dieser Wandel ist charakterisiert durch die

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Fragmentierung der kulturellen Landschaft von Klasse, Geschlecht, Sexualitt, Ethnizitt, Rasse und Nationalitt. Die ußere durch gesellschaftliche Vernderungen forcierte Fragmentierung wird noch verstrkt durch eine innere, weil Individuen sowohl in Bezug auf ihren Ort in der sozialen und kulturellen Welt als auch in Bezug auf sich selbst Verunsicherungen erfahren. Die doppelte Verschiebung befçrdert nun die vçllige De-zentrierung der Subjekte. In seinem Artikel geht Hall ausfhrlich auf die Vernderung des Subjektkonzepts ein. Ich zeichne sie hier nur in den wichtigsten Zgen nach. Das Subjekt der Aufklrung wurde als zentriertes und vereinheitlichtes Individuum betrachtet, ausgestattet mit Vernunft, Bewusstsein und Handlungsfhigkeit. Sein Zentrum besteht aus einem inneren Kern, der sich nach der Geburt entfaltet und im Wesentlichen whrend der ganzen Existenz des Individuums derselbe bleibt: kontinuierlich oder identisch mit sich selbst. Das essentielle Zentrum des Ich ist diesem Verstndnis nach die Identitt einer Person. Die soziologische Idee dagegen ist geprgt von der Erkenntnis, dass der innere Kern eines Menschen nicht autonom sein kann, sondern sich immer im Verhltnis zu den »bedeutenden Anderen« formt, die dem Subjekt die Werte, Bedeutungen und Symbole vermitteln, die Kultur, in der das Individuum lebt. Dieses Konzept wird als »interaktive Konzeption« der Identitt verstanden, entwickelt wurde sie unter anderem von George Herbert Mead (1975). Identitt in diesem Sinne setzt sich aus der Interaktion zwischen einem Ich und der Gesellschaft zusammen und vermittelt zwischen Innen und Außen, zwischen Privatem und ffentlichem. Subjektive Identitten werden mit den objektiven Verhltnissen in der kulturellen Welt zusammengeschlossen, wodurch beide Welten stabilisiert und vorhersehbar werden. Die Soziologie konstruierte also eine feste Beziehung zwischen zwei verbundenen aber einzelnen Identitten. Das postmoderne Subjektkonzept besteht aus mehreren, sich widersprechenden und ungelçsten Identitten. Laut Hall (1994) haben fnf wichtige gesellschaftliche Entwicklungen zu dieser vçlligen »De-zentrierung« des Subjekts beigetragen. Hall beginnt zunchst mit den Einflssen des Marxismus, dessen Theorie zeigt,

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dass die Menschen nicht Autoren ihrer Geschichte sind, vielmehr mssen sie sich gesellschaftlichen Machtverhltnissen anpassen und unterordnen. Er zieht Freuds Entdeckung des Unbewussten und die Erkenntnis heran, dass auch das Unbewusste unsere Handlungen lenkt. Ebenso zentral wirkten sich de Saussures berlegungen aus, wonach Sprache kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches System ist. Der Mensch, so de Saussure, sei nicht im absoluten Sinn Autor seiner getroffenen Aussagen, da er sich der Sprache nur bedienen kann; ihre Existenz geht uns voraus. Der nchste Aspekt bezieht sich auf Foucaults (1978) Ausfhrungen zur Disziplinarmacht, einem neuen Typ der Macht, der sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Die Disziplinarmacht reguliert, kontrolliert und berwacht den Menschen, den Kçrper und das Individuum. Diese Mchte bestehen in Institutionen wie Betrieben, Kirchen, Kasernen, Schulen, Gefngnissen, Krankenhusern und so weiter. Die Wirkung dieser Institutionen lag darin, dass das Subjekt weiter individualisiert erschien, eigentlich aber kontrolliert war. Als letzte Entwicklung nennt Hall den Feminismus, der als Geburtsstunde der Identittspolitik bezeichnet werden kann. Der Feminismus brach mit allen fest gefgten Kategorien und Grenzen und der bekannte Slogan »Alles Private ist politisch« fhrte die klassische Frage zwischen Innen und Außen, Privatem und ffentlichem endgltig ad absurdum. Alle genannten Entwicklungen trugen zur De-zentrierung der Subjekte bei. Der moderne Mensch, so Hall, sei ohne wesentliche und anhaltende Identitt und eine einheitliche und kohrente Identitt sei eine Illusion (Hall, 1994). Gegenwrtig werden die Begriffe Kultur und Identitt immer hufiger synonym verwendet. Kultur wird nun als »bergang und Entwicklung« (Bachmann-Medick, 1999) betrachtet, Identitt wird eher als sozialer Prozess beschrieben (Hall, 1994).

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Symbolischer Interaktionismus Der symbolische Interaktionismus geht ursprnglich auf Blumer (1969) zurck und wurde spter in abgewandelter Form von Erving Goffman aufgegriffen und fr Sozialwissenschaftler fruchtbar gemacht. In den vergangenen Jahren haben Goffmans Arbeiten wieder an Aktualitt gewonnen. Ausgangspunkt seiner berlegungen ist eine interpretative Kulturtheorie, in der die soziale Welt als Ergebnis der Sinnzuschreibungen und Situationsdefinitionen der Akteure verstanden wird. Als Bezugspunkte legt Goffman die çffentliche gemeinsame soziale Praxis von Interaktionen an. Seine Analysen beruhen auf der Annahme, dass den Akteuren in den Interaktionen gemeinsame Interpretationsschemata zur Verfgung stehen, die sie bewusst oder unbewusst abrufen kçnnen. Die dahinter stehende Frage lautet, wie Menschen sich in bestimmten sozialen Situationen verhalten und wie sie sinn- und identittsstiftend zugleich agieren. Weiterhin stellt sich die Frage, welche Regeln innerhalb solcher Interaktionsrahmen existieren. Rahmen definiert Goffman folgendermaßen: »Ich gehe davon aus, dass wir gemß gewissen Organisationsprinzipien fr Ereignisse – zumindest fr soziale – und fr unsere persçnliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente [. . .] nenne ich Rahmen« (Goffman, 1977, S. 19). Subjekte kçnnen also in bestimmten Situationen ihren Handlungen Sinn verleihen, indem sie diese in einen Rahmen stellen, dessen Interpretationsschemata allen Beteiligten zur Verfgung stehen. Erst durch die Handlungen wird den Ereignissen eine Bedeutung zugeschrieben. Die Handelnden agieren in einem gemeinsamen Bezugsrahmen, der sie sichert, sie strkt und begrenzt zugleich. Indem sie ihre Handlungen in diesen kollektiven Bedeutungsrahmen stellen, sind sie in der Lage, die Situation zu interpretieren und angemessen zu reagieren. Da ihnen jedoch nur diese kollektiven Rahmen bekannt sind, werden keinesfalls Situationen neu geschaffen. Vielmehr greifen Akteure auf diejenigen aktivierten Rahmen zurck, die ihnen zum Verstehen von Situationen zur Verfgung stehen. Weiterhin kontextualisiert Goffman soziale In-

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teraktionen, er identifiziert verschiedene Rahmungen, wie das soziale Ereignis, also die konkrete Interaktion, die in eine soziale Situation eingebettet ist. Damit werden dem Ort beziehungsweise der rumlichen Umgebung des Ereignisses bedeutende Rollen zugeschrieben. Und schließlich ist die soziale Situation wiederum eingebettet in einen sozialen Anlass, der den strukturellen sozialen Kontext der Situation umfasst. Die Interaktionen bei Goffman haben somit zwei Dimensionen, die der Akteure und die des Handlungskontextes. Die Akteure fgen die Ereignisse in den Bedeutungsrahmen ein und tragen damit zur Reproduktion der sozialen Ordnung bei. Allerdings lassen sich Situationen nicht in ein ewig gleiches Muster pressen, da sie nicht vorhersehbar oder gar planbar sind. Aus diesem Grund, so Goffman, betreiben Akteure ein komplexes Situationsmanagement, das so genannte code switching. Entsprechend dem jeweiligen Bedeutungsrahmen aktivieren sie ihr Wissen und bedienen sich eines Potentials an Wissen, das dem spezifischen Ereignis angemessen ist. Doch woher weiß der Akteur, welche Interpretation geeignet ist? Hier fhrt Goffman den Begriff der Zeichen ein, den er im Sinne einer Dekodierungshilfe versteht. Danach senden Menschen Zeichen aus, und zwar hufig in Form von Kçrperzeichen wie beispielsweise durch Gestik, Mimik sowie eine spezifische Kçrperhaltung, oder aber sie setzen symbolische Markierungen. Diese Zeichen stellen dann Interpretationshilfen dar, mittels derer die Akteure spezifische Ereignisse in ihren unterschiedlichen Ausformungen enkodieren und dekodieren kçnnen. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Kçrper als Medium zu, weil er zwischen denjenigen, die Zeichen senden, und denen, die sie interpretieren, vermittelt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Annahme, dass alle Teilnehmer an einer Kultur ber einen gemeinsamen Bezugsrahmen verfgen und diesen angemessen aktivieren kçnnen, auch wenn nicht allen Menschen das gleiche Potential an Rahmenwissen, das heißt an Ausdruckszeichen und Informationshilfen zur Verfgung steht. Wenn also Rahmenwissen als Interpretationsschema zu verstehen ist, dann lassen sich zwei Konstellationstypen unterscheiden: die Situationen, in denen die Zeichen unbeabsichtigt gesen-

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det werden, wie zum Beispiel Beziehungszeichen oder Zeichen ber das Geschlecht, und die Situationen, in denen eine bestimmte Absicht enthalten ist. Weiterhin problematisiert Goffman den Tatbestand, dass Handlungssituationen fr die Akteure durchaus mehrdeutig sein kçnnen, und begrndet damit die Mçglichkeit und Notwendigkeit des code switching. In Hinblick auf sein Verstndnis des Subjekts vollzieht Goffman in Anlehnung an die strukturalistischen Anstze dessen konsequente Dezentrierung, da die Akteure in ihren Handlungen in bersubjektive Sinnsysteme eingebettet bleiben. Nur innerhalb dieses Systems kçnnen sie ihr Selbst darstellen und das anderer interpretieren. Es ist also festzuhalten, dass Goffman den Fokus auf die Rahmenanalyse legt, mit Hilfe derer er unterschiedliche soziale Praktiken der kollektiven Organisation zu rekonstruieren versucht. Als zentrales Referenzsystem setzt Goffman ein gemeinsames kulturelles Potential an Wissen aller Akteure voraus. Erst indem sich die Akteure in diesen normativen Bedeutungsrahmen einbinden und erst indem sie ihr interaktives Handeln çffentlich demonstrieren, kann sich ihr Selbst bilden. Dabei bernimmt der Kçrper eine zentrale Funktion, da er sowohl Sender als auch Empfnger von Informationszeichen ist.

Performanz-Theorien Der in den vergangenen Jahren auffllig hufigen Beschftigung verschiedener Fachdisziplinen mit Performance und Performativitt liegen die zentralen Bedeutungen der beiden Begriffen zugrunde, nmlich Ausfhrung und Auffhrung. Innerhalb der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften wurde daraus ein interdisziplinres Konzept entwickelt, dass sich beginnend in den 1950er Jahren, verstrkt jedoch seit den 1970er und 1980er Jahren mittlerweile zu einem Schlsselbegriff gewandelt hat (Pfister, 2001, S. 496 ff.). Bis heute existiert keine klare einheitliche Definition, Einigkeit besteht aber darin, dass gerade die Vieldeutigkeit und

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Offenheit des Performance-Konzeptes dessen Strke ausmacht (O’Sullivan et al., 1994). Zwei verschiedene Herangehensweisen an Performance und Performativitt sind zu unterscheiden. Zum einen wird Performance als sthetische und symbolische Aktivitt gesehen, in die vor allem Rituale, Theaterauffhrungen und andere spektakulre Ereignisse im Mittelpunkt stehen. Sie alle sind intentional und expressiv im Sinne von erprobten und etablierten lokalen Genres (Schieffelin, 1998, S. 194). In diesem Kontext sind theatralische Performances vorrangig bewusst gestaltete und intentionale Inszenierungen. Die Theoretiker dieser Richtung betrachten Theater und Rituale insbesondere hinsichtlich ihrer gemeinsamen Strukturen (Balme, 1998, S. 25). Zwei wichtige Vertreter dieser Richtung waren Schechner (1973, 1988) und Turner (1989), die mit ihren Arbeiten diese Richtung sehr geprgt haben. Mittlerweile reichen die Perfomance-Studies weit ber das Theater hinaus und es werden ebenso multimediale Reprsentationen in Film, Fernsehen und den neuen Medien beleuchtet: »Performance und performativ in diesem Sinne ist alles, was durch theatralische Zurschaustellung, durch Inszeniertheit geprgt ist, bis hin zu den Inszenierungen der Politik oder des Lifestyle« (Pfister, 2001, S. 497). Hier deutet sich schon die neue Richtung an, die einige Performanz-Theoretiker eingeschlagen haben. Zwar werden nach wie vor besondere, spektakulre Ereignisse thematisiert, diese bleiben jedoch nicht mehr ausschließlich auf Theaterinszenierungen beschrnkt, sondern werden nun ebenso auf die »gesellschaftliche Bhne« bertragen. Das heißt, gesellschaftlich aktuelle Ereignisse wie Wahlkmpfe, die Olympischen Spiele oder große musikalische Konzerte und weitere herausragende Inszenierungen gehçren seither in das Repertoire. Die zweite Herangehensweise an das Performanz-Konzept zielt eher auf soziale und kulturelle Alltagspraxis ab und ist insbesondere mit dem Namen Erving Goffman (1969, 1975, 1981 u. a.) verbunden. Goffman war es, der das Konzept anhand seines symbolischen ethnografischen Interaktionismus auf alltgliche Handlungen und soziale Interaktionen bertrug. Er fragt danach, was

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Individuen im Alltag an Bedeutungsproduktion, Imagepflege und Beziehungsmanagement herstellen. Zugleich steht die Interaktion zwischen allen Beteiligten im Vordergrund. Darstellung respektive Performanz definiert Goffman »als die Gesamtttigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation [. . .], die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen« (1969, S. 18). Gestaltet werden derlei Situationen durch diverse Interaktionen. Unter Interaktion versteht Goffman den wechselseitigen »Einfluss von Individuen untereinander auf ihre Handlungen whrend ihrer unmittelbaren physischen Anwesenheit« (Goffman 1969, S. 18). Vor diesem Hintergrund betrachte ich Performanz und Performativitt als Kommunikationsprozesse, die mittels der Akteure aktiv gestaltet werden. Erwhnenswert ist außerdem die den Interaktionshandlungen zugrunde liegende Darstellung der je eigenen sozialen Identitt. In diesem Ansatz geht es also um die Zentrierung von Fragestellungen, wie Kultur und Identitt hergestellt beziehungsweise immer wieder neu konstruiert werden. Kultur und Identitt werden gegenwrtig als prozesshafte Konzepte verstanden, die von verschiedenen Aspekten getragen und immer wieder neu gebildet werden. Das postmoderne Subjekt setzt sich aus mehreren, sich widersprechenden und ungelçsten Identitten zusammen. Es ist ohne gesicherte, wesentliche und anhaltende Identitt konzipiert. In diesem Sinne ist Identitt »ein bewegliches Fest«; eine einheitliche und kohrente Identitt ist eine Illusion.

Kulturelle Identitt in der matrilinear-islamischen Gesellschaft der Minangkabau Zur bertragung der Frage nach der kulturellen Identitt bei den Minangkabau greife ich auf Baumanns »Multicultural Riddle« (1999) zurck, wonach Kultur und Identitt sich aus fluiden Konzepten speisen, die je nach Kontext und sozialer Situation immer wieder neu verhandelt werden mssen. Baumanns Triangel von Nation, Ethnizitt und Religion habe ich um den Aspekt des Geschlechts erweitert, weil er eine besondere Bedeutung fr die Mi-

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nangkabau hat. Zwar trennt Baumann Aspekte wie Nation oder Ethnizitt, trotzdem sind sie nicht unabhngig voneinander zu denken, vielmehr stehen sie in einer permanenten Wechselwirkung zueinander. Ich verstehe Baumanns Denkmodell in dem Sinn, dass alle genannten Aspekte als »identittsstiftende Ressourcen« fungieren und diese unterschiedlich stark speisen, wobei mal der eine und mal der andere Aspekt in den Vordergrund rckt.

Schulmdchen mit jelbab (Kopftuch)

Nation als identittsstiftende Ressource Die Minangkabau bevçlkern ein Gebiet, das in etwa der Grçße Nordrhein-Westfalens entspricht. Ungefhr drei Millionen Minangkabau leben in West-Sumatra und weitere drei Millionen, so die Schtzungen, leben auf benachbarten Inseln. Dieser hohe Anteil von Migranten erklrt die Tatsache, dass sie weit ber WestSumatras Grenzen hinaus bekannt sind. Innerhalb des Landes

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werden sie geachtet fr ihren Geschftssinn und ihre intellektuellen Leistungen. Nach der Unabhngigkeit Indonesiens 1945 berstieg die nationale Bedeutung der Minangkabau in Politik, Wirtschaft und Kultur jahrelang den prozentualen Anteil von knapp drei Prozent an der Gesamtbevçlkerung. Die ersten vier Kabinette des unabhngigen Landes wurden von Minangkabau gefhrt. Zwischen 1945 und 1957 stellten sie etwa 11 Prozent der Kabinettposten (Kraus, 1984, S. 1), und unter der Prsidentschaft von Sukarno (1957–1965) hatten vier Frauen, davon drei Minangkabau, einen Ministerinnenposten inne. Ebenso federfhrend beeinflussten die Minangkabau die moderne indonesische Literatur – ein Phnomen, das auf nationaler Ebene betrachtet werden muss. So sind sie vorrangig in der stdtischen Mittelschicht reprsentiert und besitzen in Relation zu anderen indonesischen Ethnien eine berdurchschnittliche Bildung. Bis in die Gegenwart haben die Minangkabau innerhalb des Landes eine Sonderstellung inne und ihnen wird – nicht immer offen – Respekt gezollt. Das offizielle Staatsmotto Bhinekka Tunggal Ika (Einheit in der Vielfalt) stellte sich mir in der Forschung hufig andersherum dar: Vielfalt in der Einheit war das, worauf die Minangkabau immer dann sich zurckzogen und pochten, wenn sie die nationale Gesetzgebung nicht akzeptierten. Zwar wird den einzelnen Ethnien die Wahrung kultureller Eigenarten nicht abgesprochen, trotzdem wird die Forderung seitens der Regierung nach einer einheitlichen Sozialstruktur immer lauter. Seit der Unabhngigkeit 1945 und insbesondere nach dem Putschversuch von 1965 oder in jngster Zeit, nach den Ereignissen des 11. September 2001, fordert die Regierung eine Nation. Das Land wird von Java aus zentralistisch verwaltet und regiert. Sie gehçren, neben den Acehnesen im Norden der Insel mit zu den strengglubigsten Muslimen des Landes. Die nationale Identitt spielt insofern eine zentrale Rolle, da ihre starke Position innerhalb des Landes die ethnische Identitt strkt und speist und zu deren Lebendigkeit und Kontinuitt beitrgt. Fr die Minangkabau trifft zu, was Hall (1984) als eine der unerwarteten Folgen der Globalisierung beschrieben hat, und zwar die Strkung ethnischer Identitt als Verteidigungsreaktion, in diesem Fall gegen Auflçsung.

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Ethnizitt als identittsstiftende Ressource Die Minangkabau sind weltweit die grçßte existierende matrilineare Gesellschaft und gleichzeitig glubige Muslime. Sie zeichnen sich durch eine beispielhafte Koexistenz zweier gesellschaftlicher Faktoren aus, die jeweils ein Geschlecht strken, dem adat, das ist die Tradition und dem Islam. Im adat, dem tradierten Rechtsund Normensystem, ist die starke Position von Frauen verankert. Danach verfgen Frauen ber das Familienland, meist in Form von Nassreisfeldern, sie kçnnen autark ber Anbau und Ernte bestimmen und geben diese Verfgungsrechte matrilinear, das heißt an ihre Tçchter weiter. Demgegenber werden politische Titel, wie der des penghulu (Wrdentrger und Oberhaupt einer matrilineage ), an Mnner vererbt. Sie gehen ebenfalls in matrilinearer Folge vom Mutterbruder an die Sçhne seiner Schwestern und nicht an die eigenen Kinder ber. Der weiblichen Autoritt innerhalb des Hauses steht die mnnliche Reprsentation interner Angelegenheiten der matrilineage in der ffentlichkeit gegenber. Seit der Islamisierung West-Sumatras im spten 17. Jahrhundert koexistieren adat und Islam neben- und miteinander, auch wenn das Siedlungsgebiet heutzutage ein extrem heterogenes Bild aufweist. Auf der einen Seite existieren Regionen, in denen noch streng nach den Regeln des adat gelebt wird. Auf der anderen Seite zwingen çkonomische Motive immer mehr Menschen, aus der angestammten Heimat, darek, abzuwandern und ihr Glck auf der Suche nach Arbeit in der Stadt zu versuchen. Damit setzen sie einen Prozess kultureller und sozialer Vernderungen in Gang. Diese Migranten siedeln nicht nur in weiter entfernten Regionen oder auf anderen indonesischen Inseln, sie bevçlkern auch direkt benachbarte Gebiete ihres Stammlandes. Aufgrund dieser Migration haben sich stdtische Zentren und an das Heimatgebiet angrenzende Bezirke gebildet, in denen tradierte Werte und moderne Rechtssprechung nebeneinander existieren. Die Migranten behalten jedoch engen Kontakt zu ihren Familien, der nicht nur aus gegenseitigen Besuchen besteht, sondern vor allem auch in regelmßigen Geldsendungen, die von großer Bedeutung fr die Wirtschaft West-Sumatras sind. Der ernorme Geldtransfer macht es

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mçglich, dass viele der ehemals verfallenen und leerstehenden Großfamilienhuser, rumah adat oder rumah gadang, renoviert und wiederbelebt werden kçnnen. Im Verlaufe der Geschichte waren die Minangkabau immer wieder externen Einflssen unterworfen, die zur Neukonzeption der Ethnizitt beigetragen haben. Die Integration und Adaption ußerer Einflsse stellen somit eine Grundhaltung dar, allerdings, und dies ist zentral, wurden die Einflsse nie nur passiv aufgegriffen, sondern vielmehr aktiv aufgenommen, umgeformt und integriert. Bis in die Gegenwart halten die Minangkabau am Prinzip der gemeinschaftlichen Beratung fest, dem musyarawah, ein Konzept, dass Prinzipien von Mediationen, wie sie in westlichen Lndern durchgefhrt werden, erkennen lsst. Der Sinnspruch »Gleich groß beim Stehen, gleich niedrig im Sitzen« macht dies deutlich. Die zentrale Aussage basiert auf dem Prozess der gemeinschaftlichen Beratung, musyarawah, der besagt, dass alle wichtigen Entscheidungen mit einem konsensualen Entschluss, mufakat, enden mssen (Kraus, 1984). Diese basisdemokratische Entscheidungsfindung hat eine lange Tradition und sie bezieht sich sowohl auf interne Angelegenheiten der matrilineages als auch auf Fragen auf Dorfebene. Hierbei handelt es sich beispielsweise um Entscheidungen ber die Verpachtung von Feldern oder ber den Bau einer Moschee. Whrend der gemeinschaftlichen Beratung wird solange diskutiert, bis alle Parteien mit dem Ergebnis einverstanden sind. Das matrilineare Abstammungssystem der Minangkabau erfolgt in mehreren Abstufungen. Die suku stellt die oberste genealogische Instanz eines matrilinearen Klans dar, deren Interessen von dem gewhlten Oberhaupt, dem penghulu, vertreten werden. Die Mitglieder einer suku leiten sich von einer gemeinsamen Vorfahrin ab. Die untergeordnete genealogische Instanz ist die matrilineage, deren Angehçrige in mehreren Husern dicht beieinander leben. Sie bilden bei anstehenden grçßeren Arbeiten eine çkonomische Einheit. Verantwortliche Autoritt ist hier ebenfalls der zeremoniell eingefhrte penghulu. Er ist seiner matrilineage verpflichtet und darf ohne ihre Zustimmung keine Entscheidungen treffen. Neben den Oberhuptern der matrilineages nehmen auch

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Essenstand auf dem Markt in Bukittinggi

die ltesten Frauen an den Diskussionen teil. Sie sitzen abseits der Mnner im Hintergrund, kçnnen aber von ihrem Kontroll- und Vetorecht Gebrauch machen. Die nchste kleinere Instanz, paruik, besteht aus mehreren Frauen, meistens Schwestern, und ihren Kindern, die gemeinsam in einem Haus leben und wirtschaften. Der Haushalt der paruik bildet das çkonomische Zentrum und soziale Netz, in dem die lteste Frau des Hauses die Autoritt innehat und verantwortlich ist fr die Ernhrung und Bekleidung der Familienmitglieder. Ihre weibliche Autoritt wird ergnzt durch die mnnliche Autoritt des ltesten Mutterbruders. Zwar gehçren die Brder der Frauen ebenfalls zur paruik, sie leben aber im Mnnerhaus, ebenso die Sçhne der Frauen, die ab dem siebten Lebensjahr im Mnnerhaus bernachten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts und verstrkt in den vergangenen dreißig Jahren hat sich diese Tradition immer mehr aufgelçst: Die jngeren Sçhne leben heutzutage im Haus ihrer Mtter; die lteren noch unverheirateten Sçhne bernachten

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zeitweise im Haus ihrer Mtter oder aber bei Verwandten und Freunden, wobei ihr Status dem eines Besuchers entspricht. Die letzte und kleinste genealogische Instanz ist die samandai. Sie besteht aus einer Mutter und ihren Kindern. Diese Prinzipien der gemeinschaftlichen Beratung, die durchaus mehrere Tage dauern kçnnen, sorgten bisher fr ausgewogenen Verhltnisse zwischen den Geschlechtern und Großfamilien, allerdings versuchte die Regierung einige der penghulu fr sich zu gewinnen, um als Beamte ttig zu werden und in ihren Dçrfern Regierungsinteressen durchzusetzen. Diese neuen Bestimmungen befçrderten Konflikte insofern, als die penghulu vor der Frage standen, welche Interessen sie vertreten wollten, die der Dorfbewohner und ihrer eigenen Familien oder die der Regierung? Und nicht immer existiert eine Entscheidungsmçglichkeit. In seinem von mir bereits erwhnten »Spiel der Identitten« spricht Hall nicht nur von der Zerstreuung und Widersprchlichkeit von Identitten, sondern von der Auflçsung der »Identitt der Klasse«, da Identitt wesentlich differenzierter geworden sei. Im Fall der penghulu, die immer hufiger in verschiedene Interessenkonflikte zwischen Nation und Ethnizitt geraten, wird diese Auflçsung deutlich.

Religion als identittsstiftende Ressource In Indonesien werden offizielles Rechtssystem und religiçse Glaubensrichtungen ausdrcklich auseinandergehalten, das heißt, islamische Gesetze finden nur dort Anwendung, wo sie im Einklang mit dem traditionellen adat stehen. Die offene Formulierungsweise einiger Gesetze, wie zum Beispiel im Erbrecht oder im Fall von Polygynie, lsst den Betroffenen die Wahl, sich bei Konflikten fr das islamische Rechtssystem oder die traditionelle Rechtssprechung zu entscheiden. Durch diesen staatlichen Grundkonsens ist ein einheitlicher gesetzlicher Rahmen geschaffen worden, der die verschiedenen ethnischen Gruppen im Sinne einer nationalen Einheit zusammenfgt, zugleich aber spezifische Interpretationen entsprechend der Glaubensrichtung oder dem adat zulsst.

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Ich traf Ibu Idawati auf dem Markt von Bukittinggi. Sie saß hinter dem Ladentisch ihres kleinen Geschftes und strahlte Energie, Zufriedenheit und Harmonie aus. Diese Ausstrahlung war es, die mich beim Betreten ihres Geschftes faszinierte. Wir kamen ins Gesprch und sie erzhlte mir, dass sie gerade aus Mekka vom Haj, der muslimischen Pilgerreise, zurckgekehrt sei. Sie trug ein Stirnband ber dem schwarzen, hochgebundenen Kopftuch, das sie aus Mekka mitgebracht hatte. Dieses Stirnband schmckte ihr einfarbig schwarzes Kopftuch, da das Band, ebenfalls in der Grundfarbe Schwarz, mit Goldfden in islamischen Mustern durchwirkt war. Seit ihrer Rckkehr, so erzhlte Ibu Idawati, band sie das Band jeden Tag um. Bis auf die Tatsache, dass sie ihr Kopftuch hochgebunden hatte, so dass Hals und Nacken sichtbar waren, was nicht der islamischen Vorschrift entspricht, hielt sie sich an die Vorgaben des Koran: Sie war bekleidet mit einem bodenlangen Rock in traditionellen Farben und Mustern. Darber trug Ibu Idawati ein bis ber die Knie reichendes langes Kleid in einem krftigen Blau. Das Kleid war ebenfalls vorschriftsmßig langrmelig und am Hals hoch geschlossen. Ihr Goldschmuck ließ auf eine gute çkonomische Situation schließen: Ibu Idawati hatte sich geschmckt mit Goldketten, Ohrringen, Armbndern und Ringen. Sie hatte sich schçn gemacht und prsentierte sich selbstbewusst und stolz ihren Mitmenschen. Warum erzhle ich von dieser Frau in solcher Ausfhrlichkeit? Bemerkenswert fand ich, dass sie ihren Mann nicht mitgenommen hatte auf diese Pilgerreise, nein, er htte schon selbst sein Geld beisteuern mssen. Das heißt, sie als Frau hat ihrem Mann die Reise – oder die Finanzierung der Reise – nach Mekka verweigert. Weiterhin hatte sie einige der islamischen Kleiderregeln »berschritten«, die zwar nicht real existieren, die aber von Glubigen wie Ibu Idawati aus Respekt selbstverstndlich beachtet werden. Sie ist in dem Alter, in dem sie sich diese individuellen Freiheiten erlauben darf, ohne gegen moralische Werte der Kultur zu verstoßen. Aufgrund ihres Alters und ihrer Familienkonstellation – eng verbunden mit der matrilineage – wird ihr Respekt und Achtung entgegengebracht. Die Pilgerreise nach Mekka, die sie seitdem berechtigt den Titel Haji zu tragen, ist das sichtbare Zeichen ihrer

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Glubigkeit. Frauen wie Ibu Idawati sind zahlreich in West-Sumatra, sie gehçren zur »alten« Generation die auf mich als Außenstehende selbstsicher und selbstbewusst wirkten.

Marktfrauen im Hochland von Bukittinggi

Whrend das adat die Position von Frauen strkt, sollte der Islam Mnner sttzen. In diesem Fall war es anders: Aufgrund der finanziellen Autarkie und aufgrund der guten çkonomischen Situation war es Ibu Idawati mçglich, sich durch die Pilgerreise den Titel der Haji zu erwerben, whrend sie ihrem Mann die Finanzierung der Reise verweigerte. Aus mnnlicher Perspektive haben manche muslimische Regelungen anstelle positiver eher negative Folgen insofern, als das Leben fr Mnner anstrengender wird und sie mehr Verantwortung bernehmen mssen. Islamischen Vorstellungen zufolge sind Mnner die Haupternhrer ihrer Fa-

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milien, sie sind das Familienoberhaupt und mssen verantwortlich fr ihre Frau und die Kinder sorgen. Dem adat zufolge sind sie verantwortlich fr ihre Nichten und Neffen und sollen wahlweise sowohl ihren Mttern als auch den Ehefrauen bei der Feldarbeit helfen. Hufig genug haben sie jedoch die Mçglichkeit, sich zwischen diesen Verantwortlichkeiten hindurch zu lavieren. Religion als identittsstiftende Ressource; wie an meinen Beispielen deutlich wird, ist weder kohrent noch gleich, vielmehr muss sie immer wieder differenziert und auf ihre Auswirkungen und Bedeutungen hin fr beide Geschlechter untersucht werden. Geschlecht als identittsstiftende Ressource »Saya belum dijohdokan!« (»Das Schicksal hat mich noch nicht bedacht!« Oder: Die Ausnahme von der Regel). Ein ganz anderes Leben als Ibu Idawati fhrt Ibu Min, eine 50-jhrige ledige Frau, die ebenfalls in Padang lebt und arbeitet. Ibu Min ist die Leiterin einer Vorschule der Polizeivereinigung. Ich war erstaunt, als ich auf meine Frage, wie viele Kinder sie denn habe, antwortete, sie habe keine. Sie sei auch nicht verheiratet und wortwçrtlich sagte sie: »Saya belum dijodohkan – Das Schicksal hat mich noch nicht bedacht.« Damit stellte Ibu Min eine der wenigen Ausnahmen unverheirateter Frauen dar und sie blieb die einzige, die mir whrend meiner Forschungszeit damals begegnet ist. Wir kamen ins Gesprch, und ich habe mich sehr hufig mit ihr ber Ehe und Kinder unterhalten. Sie erzhlte, dass sie als junges Mdchen einen Freund hatte, in den sie sehr verliebt gewesen sei. Aber sie durfte diesen jungen Mann nicht heiraten, da er ihren Eltern nicht gut genug war; sie stammten aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Aus Trotz habe sie dann zwei potentielle Heiratskandidaten, die ihre Eltern ausgewhlt hatten, abgelehnt. Im brigen htten ihr diese zwei Mnner berhaupt nicht gefallen – nein, die hatte sie nicht haben wollen. Durch ihre Arbeit in der Vorschule sei sie dann zu beschftigt gewesen und spter schließlich zu alt geworden, um noch heiraten zu kçnnen. Da ihre Eltern schon frh gestorben waren, war sie nicht mehr dem familiren Druck ausgesetzt, unbedingt

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heiraten zu mssen. Zwar redeten damals ihre lteren Schwestern immer wieder auf sie ein, sie mçge doch endlich heiraten, aber sie habe warten wollen, bis der Richtige kme. Und der sei bis heute nicht gekommen. Aus diesem Grund sei sie immer noch unverheiratet und wrde dies wahrscheinlich auch bleiben. Als ich sie fragte, mit wem sie zusammenlebt, antwortete sie, »mit zwei meiner Schwestern und deren fnf Kindern«. Beide Schwestern sind geschieden und nach der Scheidung in das Elternhaus zurckgekehrt. Dort leben die drei Frauen zusammen mit den Kindern. Ibu Min berichtete, dass sie dadurch bedingt auch eine große Familie habe und froh sei, ihre Schwestern finanziell untersttzen zu kçnnen. Als Vorschulleiterin mit 25-jhriger Berufserfahrung hat sie ein vergleichsweise gutes Gehalt, und so ist sie in der Lage, ihrer Familie zu helfen. Vor allem ihre Nichten und Neffen bençtigen finanzielle Untersttzung fr eine gute Ausbildung. Neugierig fragte sie mich, ob es denn auch bei uns unverheiratete Frauen in ihrem Alter gebe? Als ich ihr berichte, dass viele Frauen bei uns in Deutschland als Singles leben, antwortete sie: »Das ist Balsam fr meine Seele.« Auf mich wirkte Ibu Min offen und warmherzig, sie ist eine Frau, die viel und gern lacht, die couragiert ist und ganz in ihrem Beruf aufgeht. Trotzdem rief ihr Status als Ledige Unverstndnis hervor, zugleich aber war es mçglich, als solche Ausnahme von der Regel beruflich erfolgreich zu arbeiten und als Leiterin einer privaten Vorschule zu fungieren; eine Position, die den meisten Lehrerinnen verwehrt bleibt. Ibu Min ist eine engagierte Frau, die fr ihren Beruf lebt und die sehr sensibel auf die Kinder eingeht. Auch wenn sie von Seiten der Frauen hinter vorgehaltener Hand verspottet wird (orang gila, orang gemuk ), erfhrt sie durch Schulbehçrden und andere offizielle Stellen Anerkennung, Lob und Akzeptanz. Hat eine Frau es geschafft und bekleidet eine gehobene Position, dann wird sie respektiert und geachtet. Ibu Min strahlte eine Unabhngigkeit und Zufriedenheit aus, die manche Frauen vielleicht auch verunsichert. Nicht zu heiraten oder nicht heiraten zu wollen, ist eine Lebenseinstellung, die als solche nicht existiert. Wie deutlich geworden ist, bedeutet Verheiratung den Eintritt ins Erwachsenenleben und Frauen gelten nur als halbe Persçnlichkeiten, solange sie noch le-

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dig sind. Dies trifft fr Mnner ebenso zu. Nur schwere Krankheit oder Behinderung sind Grnde, nicht zu heiraten. Auch geschiedene Frauen werden gesellschaftlich akzeptiert, denn sie sind in den normalen Lebenszyklus eingetreten. Und auch fr getrennt lebende Frauen, das heißt diejenigen, deren Mnner migriert sind und die nicht offiziell geschieden wurden, ist der erhaltene Status ausschlaggebend: Sie kçnnen Ehemann und Kinder vorweisen und entsprechen dadurch der kulturellen Norm. Die gesellschaftliche Ordnung ist damit wiederhergestellt, in der sich harmonische Beziehungen entwickeln kçnnen. Das Leben von Frauen wird durch einzelne Lebensphasen bestimmt die, je nach sozialer Funktion und dem Status, der diesem Abschnitt zugeordnet wird, sowohl auf die Selbst- als auch auf die Außenwahrnehmung prgend wirkt. Frauen durchleben verschiedene Phasen und das Leben von verheirateten Frauen, Ledigen und Witwen gestaltet sich sehr unterschiedlich im Hinblick auf die Anforderungen und Verhaltensweisen, die die Gesellschaft einfordert. Kinder genießen gleichermaßen Liebe, Zrtlichkeit, Geborgenheit und Wrme, doch fr beide Geschlechter verndert sich die Beziehung zu den Eltern zum Zeitpunkt des Schuleintritts. In der Pubertt erfahren Mdchen dann strkere Einschrnkungen als Jungen. Der Aspekt Ehre gewinnt an Bedeutung und bestimmt von diesem Zeitpunkt an die Verhaltensweisen. Mdchen werden nun durch die Familie bewacht und auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet. Fr Frauen bedeutet Verheiratung ein Gewinn an Akzeptanz und gesellschaftlicher Anerkennung, die sich jedoch erst mit der Geburt eines Kindes vervollstndigt. Als Ehefrauen erhalten sie einige Rechte aus vorpubertrer Zeit zurck. Frauen kçnnen sich wieder freier bewegen und sich außerdem im Umgang mit Mnnern ungezwungener verhalten. Mit diesem Schritt, der ins Erwachsenenleben fhrt, erhalten Frauen Verantwortung. Sie stehen dem Haushalt vor und sind, je nach çkonomischer Situation, finanziell autark. Als Großmtter genießen sie innerhalb wie außerhalb ihrer matrilineage soviel Respekt und Anerkennung wie nie zuvor in ihrem Leben. Erst gegen Ende meiner Zeit in West-Sumatra fiel mir auf, wie deutlich gesellschaftliche Gegenstze und Vernderungen im Auftreten und

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Salak (Frucht)-Verkuferin in Bukittinggi

ußeren Erscheinungsbild der Frauen zu erkennen sind. Alte Frauen, meist noch im traditionellen sarong (Wickelrock), genießen Respekt und Anerkennung. Sie sind in ihre Familien integriert, haben ihren Platz in der Gesellschaft und bernehmen weiterhin unverzichtbare soziale Funktionen wie beispielsweise die Zubereitung und den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte auf dem Markt oder auch die Beaufsichtigung und Erziehung der Enkelkinder. In dieser Lebensphase haben Frauen Schlsselpositionen in der matrilineage inne, denn erst im Alter erhalten sie Macht und Einfluss. Jetzt kçnnen sie bei Entscheidungen, die innerhalb der kampuang oder Dorfgemeinschaft getroffen werden, direkt und indirekt ihre Interessen geltend machen. Alte Frauen werden um Rat gefragt und sind entscheidend bei der Wahl der Schwiegersçhne und -tçchter beteiligt. In dieser Generation wird der

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Einschnitt, der durch Staatspolitik und Fortschritt (kemajuan ) eingesetzt hat, kaum sichtbar, denn das Leben von alten Frauen wurde dadurch wenig berhrt. Sowohl in urbanen Regionen als auch in stdtischen Zentren haben sie nach wie vor anerkannte und starke Positionen in der Matrilineage. Alte Frauen, die als Hndlerinnen auf dem Markt ttig sind, genießen aufgrund ihres Alters Freiheiten, die der jngeren Generation verwehrt sind. Aspekte wie Ehre oder Schande und andere islamische Ge- und Verbote haben fr sie keine Relevanz mehr. Abschließende Bemerkungen Zwar verschiebt sich gegenwrtig die Balance zwischen den Geschlechtern immer mehr zugunsten der Mnner, trotzdem hlt die Kultur noch etwas Besonderes fr Frauen bereit: Von Geburt an werden Mdchen willkommen geheißen, da sie den Fortbestand der weiblichen Großfamilie (matrilineage ) garantieren. Mdchen erhalten eine gute Ausbildung, sie werden respektiert und die Eltern sind stolz auf sie. Des Weiteren sind Frauen bis heute çkonomisch autark. Unabhngig von den Ehemnnern treffen sie Entscheidungen ber ihre Einkommensquellen und kçnnen allein ber die Gewinne verfgen. In Fragen der Kindererziehung und Haushaltsfhrung sind Frauen allein entscheidungsbefugt. Ihre Leistungen werden anerkannt, geachtet und respektiert. Dies trifft auch auf eine relativ neue Gruppe stdtischer Mittelschichtfrauen zu, deren ehrenamtlichen Ttigkeiten anerkannt und nicht negativ bewertet wird. In der Gesellschaft existiert noch keine Werteskala, wie in den westlichen Industrienationen. Abschließend mçchte ich das komplexe Identittsmanagement der Minangkabau anhand eines Sprichworts und dessen Deutung illustrieren: »Wenn ein Teller einmal zerbrochen ist, hat er keinen Nutzen mehr.« Diesen Aphorismus erwhnten mir gegenber zwei Frauen, die sich in unterschiedlichen Lebenssituationen befanden und die ihn entsprechend ihrer Situation zu deuten wussten. Eine 35 Jahre alte, bereits verwitwete Frau interpretierte die Worte so: Mit der Zerbrechlichkeit des Tellers assoziierte sie unverheiratete junge Frauen. Mdchen, die noch ledig sind, mssen wohlbehtet wer-

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den, denn wenn sie zerbrechen, das heißt ihre Jungfrulichkeit verlieren, haben sie keinen Nutzen mehr. Aus der Perspektive dieser Frau, die als Witwe wieder auf ihren guten Ruf achten muss, da sie ihn verlieren kann, wirkt die Deutung des Aphorismus mit der Betonung der Jungfrulichkeit einleuchtend. Eine ltere Frau, die durch ihre matrilineage finanziell abgesichert war, gab den Worten eine ganz andere Deutung. Sie verknpfte damit eine Aufforderung an Mnner mit Frauen vorsichtig und respektvoll umzugehen, da Frauen, wrden sie zerbrechen, ihnen keinen Nutzen bringen, sie fallen als Arbeitskrfte aus. In dieser Deutung wird die Achtung vor Frauen sowie die Anerkennung ihrer Leistungen sichtbar. Whrend die Witwe den gesellschaftlichen Druck, der durch ihren Status auf ihr lastete, in den Vordergrund stellt, hob die ltere Frau infolge ihrer persçnlichen Situation die Achtung der Mnner vor den Frauen hervor. Es sollte deutlich geworden sein, dass kulturelle Identitt in komplexen Gesellschaften weit ber ethnische Identitt hinausgeht und das Ethnizitt nur ein identittsstiftendes Moment darstellt. Weitere Ressourcen halten die Nation, die Religion oder das Geschlechterkonzept bereit. Die Beispiele sollten illustrieren, dass kulturelle Identitt einerseits als Konglomerat sozialer Identitten zu verstehen ist und andererseits die spezifischen Kontexte der Identittsartikulationen in den Mittelpunkt rcken, um die situative Einpassung von kulturellen Identitten begreifen zu kçnnen. Kultur und Identitt werden also immer wieder verhandelt, geformt, umgeformt und neu prsentiert. In diesem Sinne sind Konzepte wie der symbolische Interaktionismus und Aspekte der Performanz-Theorien wichtig zur Analyse und zum Verstndnis der sozialen Praxis.

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Friedhelm Krçll

Identittsspiele Thomas Mann: »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«

Was wre ein Vortrag auf einem Symposion anderes. »Mundus vult decipi, ergo decipiatur!« Sebastian Brant (1494/1989), Autor des »Narrenschiff«, allemal auch lesbar als eine Parodie auf die Arche Noah, ist nicht entgangen, was mit der Heraufkunft der Neuzeit endgltig und im gesamtgesellschaftlichen Maßstab triumphieren wird: Die Kunst der praestigiae, die Kunst des Blendens, Gaukelns, Vorspiegelns. Seit den mythisch-epischen Tagen des Odysseus ist erfolgreiche, das heißt herrschaftliche Selbstbehauptung identisch mit geglckter Identitt und geglckte Identitt identisch mit entfalteter Fhigkeit zu List und Trug gewesen; den Gçttern, Zeus voran, abgelernt. Was einst Privileg des ersten Brgers war, des Helden, des Virtuosen des Betrugs, Odysseus, wird nunmehr, dies ist Shakespeare nicht weniger als Sebastian Brant aufgefallen, im Zuge des Triumphs der brgerlichen Tauschgesellschaft, zum ganz alltglichen, zum normalen, Normalitt garantierenden Konstituens des Subjekts, des everybody. Das semper idem, die Identitt, hat im sicht- nicht weniger messbaren Erfolg seinen gltigen Ausweis. Erfolg ist die carte d’identit ; das semper idem hat in der Tuschungskompetenz seinen wesentlichen Angelpunkt. Ohne Mhe lsst sich Tauschen und Tuschen auf den identischen Nenner bringen. Im Zhler erscheint das Prestige. Darin jedenfalls ist schon die antike Komçdie der Tragçdie berlegen, dass jene die Tuschungskompetenz zum wesentlichen Kriterium des Realittsprinzips setzt. Wenn beim Tausch und Tuschen noch einiger Lustgewinn abfllt, wie beim Knstler und

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Lebensknstler zumal, umso besser. Reckt der tragische Held die Faust gegen das Schicksal, so lacht der Komçdiant sich ins Fustchen, noch die Gçtter dpierend. Als defekt, als krank, als unterdurchschnittlich lebenstauglich oder mehr noch: lebensuntchtig gilt, wem es an Tuschungskompetenz mangelt, sei es, dass der Leib ihm einen Streich spielt oder das Herz oder der Kopf; oder sei es, dass er sich gibt, wie er glaubt, dass er sei. Lebenstchtige Identitt, in okzidentaler Perspektive jedenfalls, beruht auf drei Sulen: erstens auf der Erfahrung, dass man ein anderer, eine andere sein kann; zweitens auf der erworbenen Einsicht, dass man sich nicht los wird; und drittens auf der Wahrnehmung der Spielmçglichkeiten, die sich hieraus ergeben. Davon teilt der lateinische Begriff persona Wesentliches mit: die undurchdringliche Maske, durch die es hindurchtçnt. Die moderne Philosophische Anthropologie (Plessner, 1961) weiß zu berichten: Die Pflanze kann weder sich verbergen noch sich verstellen; das Tier kann sich verbergen, aber nicht sich verstellen; die Menschen jedoch kçnnen sich sowohl verbergen als auch sich verstellen. Zeichen korrespondierender Flexibilitt, Elastizitt und Mobilitt. Die Pointe erscheint im reflexiven Sich, Ausdruck verfgbarer Selbstverdoppelung, fr welche die in die idealistische Subjekt- und Ich-Philosophie gebannte deutsche Sprache keine Ausdrucksform hat; ganz im Unterschied zur franzçsischen und englischen, worin fr die Selbstverdoppelung die Formen je et moi, I and me auf Abruf bereitliegen. Kurz: Genuin menschlich ist, mit seiner Identitt spielen zu kçnnen, im reifsten Fall reflektierte Selbstreferentialitt. Finten erfinden, falsche Fhrten legen. Bekannte Sozialittsmarken reflektierter Selbstreferentialitt: Diskretion, Takt, Diplomatie – Exempla des Spiels mit den Grenzen des Leibes. Lcheln als deren Kçnigsform; Lachen und Weinen als Ausdruck der Grenzen des Identittsspiels; Ausbrche, die die Souvernitt des Subjekts dementieren. Hochstapler, Simulanten, Histrionen sind nur Sonder- oder Extremformen dessen, was der amerikanische Identitts-Soziologe Erving Goffman (1988) lapidar konstatiert hat: »Wir alle spielen Theater.« Im Signum der Postmoderne hat die Moderne, die triumphierende brgerliche Tauschgesellschaft, inzwischen ihren

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Charakter einbekannt: anything goes, because – was Shakespeare im Aufbruch der Neuzeit demonstriert hat – the world is a stage. Franzçsisches bungsfeld: Die Regentschaft Napol ons III., Auftakt zum Zeitalter der Weltausstellungen, Hoch-Zeit der Offenbachschen Operette. Deutsches bungsfeld? Wagner. Wilhelminismus, Paradewelt des Blender- und Schauspielertums, nicht zu vergessen der Heuchelei und Doppelmoral, bis hinauf zum Kaiser. Kleider machen Leute. Operettenwelt, heute beerbt vom OutfitIndividualismus der Kaufhaus- oder Boutiquestange. Whrend dem Histrionen, dem Bhnenschauspieler von Profession die Verstellung nicht nur erlaubt ist, sondern von ihm in optimaler Vorstellung im Tausch gegen Eintrittsgeld erwartet wird, klopfen dem gewerblichen Hochstapler das Gesetz, dem Simulanten Recht und Heilkunde auf die Finger. Dann jedenfalls, wenn der Hochstapler enttarnt beziehungsweise der Simulant durchschaut worden ist oder: Der Experte glaubt, ihm auf die Schliche gekommen zu sein. Geschieht dann den mehr oder minder virtuosen Darstellern des Als-ob im Alltag Recht, wandern sie in die Anstalt, ins Gefngnis, in die Kaserne, versehentlich auch ins Irrenhaus. Zurck bleibt ein erklecklicher Rest an Bewunderung beim Publikum ob der Kunst der Verstellung, ob der Kompetenz, andere an der Nase herumfhren zu kçnnen. Enttuschend ist einzig der Misserfolg, die Tatsache der Enttarnung, empfindliche Relativierung der verstellungsknstlerischen Meisterschaft. Ein Kapitel fr sich im Buch der Identittsspiele: der oder inzwischen auch die Geheimagentin. Inkognito von Staats wegen. Spiele mit dem Decknamen, der Deckziffer verbrgen Millionenerfolge. 007. Im brigen lutet die Detektivgeschichte, Schwester der Photographie, das Zeitalter der Massen ein. Poe (1840), der Magier der Spuren in der Großstadt. Die Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadt lsst sich beschreiben als Rckseite der von den Marktgesetzen erzwungenen Selbstreklame. Das Inkognito als weithin vergeblicher Widerstand gegen die staatliche Identifizierung. Begonnen hatte alles mit Steckbriefen. Verdoppelung der Person im Plakat. Tribut an die neue ffentlichkeit. Seit 1794 steht in Frankreich die nderung des Namens

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unter empfindlicher Strafe. Auftakt zur kontrollierten Identitt. Vor diesem Hintergrund hat Walter Benjamin Brechts Rat »Verwisch die Spuren« gelesen: Krypto-Emigration. Identifiziertwerden als Bedrohung. Brecht, Aus einem Lesebuch fr Stdtebewohner, Passage 1 (Brecht, 1926/1982): Verwisch die Spuren Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknçpfter Jacke Suche dir Quartier, und wenn dein Kamerad anklopft: ffne, oh, çffne die Tr nicht Sondern Verwisch die Spuren! Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten Zeige, oh, zeige dein Gesicht nicht Sondern Verwisch die Spuren! Iß das Fleisch, das da ist! Spare nicht! Gehe in jedes Haus, wenn es regnet, und setze dich auf jeden Stuhl, der da ist Aber bleibe nicht sitzen! Und vergiß deinen Hut nicht! Ich sage dir: Verwisch die Spuren! Was immer du sagst, sag es nicht zweimal Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat Wie soll der zu fassen sein! Verwisch die Spuren! Sorge, wenn du zu sterben gedenkst Daß kein Grabmal steht und verrt, wo du liegst Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt Und dem Jahr deines Todes, das dich berfhrt! Noch einmal: Verwisch die Spuren! (Das wurde mir gelehrt.)

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Vierhundert Jahre nach Brants »Narrenschiff« erscheinen die Memoiren des in Bukarest gebrtigen Hochstaplers Georges Manolescu (1905), eine Art autobiographischer Bericht brgerlicher Identittswerdung, nicht ohne innovative Zge, das heißt ins Kriminelle gewendet. Ein sehr erfolgreiches Buch, erschienen 1905 unter dem Titel »Frst der Diebe«. Zu seinen geneigten Lesern rechnet Thomas Mann, neulich mit den »Buddenbrooks« zum Erfolgsautor avanciert. Der hatte soeben seinen Roman »Kçnigliche Hoheit« fertig, ein Glanzstck poetischer ironischer Psychologie des Wilhelminismus. In einem spteren »Lebensabriß« erinnert Thomas Mann (1930/1994, S. 123 f.): »Nach der Zurcklegung von ›Kçnigliche Hoheit‹ hatte ich die ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹ zu schreiben begonnen – ein sonderbarer Entwurf, auf den, wie viele erraten haben, die Lektre der Memoiren Manolescus mich gebracht hatte. Es handelte sich natrlich um eine neue Wendung des Kunst- und Knstlermotivs, um die Psychologie der unwirklich-illusionren Existenzform. Was mich aber stilistisch bezauberte, war die noch nie gebte autobiographische Direktheit, die mein grobes Muster mir nahelegte, und ein phantastischer geistiger Reiz ging aus von der parodistischen Idee, ein Element geliebter berlieferung, das Goethisch-Selbstbildnerisch-Autobiographische, Aristokratisch-Bekennerische, ins Kriminelle zu bertragen. Wirklich ist diese Idee die Quelle großer Komik, und ich schrieb das ›Buch der Kindheit‹, wie es als Torso des geplanten Ganzen in einer Ausgabe der ›Deutschen Verlagsanstalt‹ vorliegt, mit soviel Lust, daß es mich nicht wunderte, als Kenner das Fragment fr das Glcklichste und Beste erklrten, was ich gemacht htte. Es mag in gewissem Sinn das Persçnlichste sein, denn es gestaltet mein Verhltnis zur Tradition, das zugleich liebevoll und auflçsend ist und meine schriftstellerische ›Sendung‹ bestimmt. Die inneren Gesetze, nach denen spter der ›Bildungsroman‹ des ›Zauberbergs‹ sich herstellte, waren ja verwandter Natur.«

Was hatte Thomas Mann da gelesen, das er als »Quelle großer Komik« ortete? Erschien nicht um die Zeit, als er sich mit dem Hochstapler-Stoff beschftigte, jenes zu Unrecht vergessene Werk des Hallenser Philosophen Hans Vaihinger (1911) mit dem flagranten Titel »Die Philosophie des Als-Ob«? Aus guten Grnden startete damals die amerikanische Soziologie unter der Forschungsmaxime: »real is what seems to be real«. Jedenfalls, die Memoiren – wer kann schon fiction und faction im Ernst unterscheiden? – des Globetrotters und Hochstaplers

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Manolescu hatten es dem Epiker aus Lbeck, der sich frh schon aufs Ironische, Spielerische, Komçdiantische verstand, angetan. In Manolescus Beschreibung seines Lebensverlaufs witterte Thomas Mann die Quelle fr einen Bildungsroman gegen den brgerlichkonformistischen Identitts-Strich. Manolescu, dessen Hochstapler-Memoiren 1905 erschienen, konnte Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (Freud, 1904) von Datum wegen nicht kennen. Thomas Mann kannte sie. Aber seit wann? Gewiss als er nach vier Jahrzehnten, es war 1951, die Arbeit am liegen gebliebenen Krull-Projekt wiederaufnahm. Im Dunkel ist geblieben, ob er schon zu Zeiten der Erstarbeit am »Felix Krull« im Freud geblttert hatte. Sei dem wie ihm sei. Manolescus Spiele mit der Identitt, die Schilderung seiner Hochstapler-Karriere waren faszinierend genug, um den durch Schopenhauer und zumal an Nietzsche, dem vor Freud ranghçchsten Psychologen der Epoche, geschulten und den durch den franzçsischen psychologischen Roman versierten Thomas Mann zu seiner Hochstapler-Komçdie anzuregen. Manolescu, ein begnadeter Mime, zog, so erfahren wir, mit 17 Jahren, 1888, nach Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Dort wurde der Jura-Student ansichtig, wonach er sich zu sehnen begann: Luxus, Feste, Ausschweifungen, Reichtum; Pferde, Gter, Villen, Wagen und Landsitze. Heute als abgesunkenes Traumgut, als Zierrat von mittleren Normalbiographien, als lebenslauftypisches Schrumpfmuster nivelliert: Zweithaus, Zweitauto, Golfkluft, a respectable family mit vorzeigbarer Gattin, Hostess, in geglckten Lebensverlufen Zweitfrau, simultan. Manolescus Lebensentwurf: eine reiche Frau heiraten. Aber fr eine Millionenheirat galt es, eine dem diesbezglichen marriagemarket entsprechende Kulisse aufzubauen, sich mit einem dafr geeigneten Habit zu drapieren. Die Variante des »Das-kann-ich auch« in Gestalt des Easy Credit war noch nicht bekannt, was also blieb ihm, als entschlossen auf einen innovativen Weg zum Glck zu sinnen, einen gefhrlichen Doppelberuf, den des Hochstaplers und Luxus-Diebs, Juwelen, Gold, Edelsteine, zu ergreifen. (Klar drfte sein, dass tiefstapeln nur einer von vielen Kunstgriffen im menschlichen Verkehr des Hochstaplers darstellt.)

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Was ist fr eine Hochstapler-Karriere erforderlich? Wie weiland Odysseus es vermochte, die sich bietende Gelegenheit, und sei die Situation noch so heikel und prekr, beim Schopfe packen. Das vermag nur, so Manolescus autobiographischer Bericht, wer risikofreudig, mimisch und gestisch hochbegabt und zudem bereit ist, vor dem Spiegel, Thomas Mann wird das Narziss-Motiv aufgreifen und abwandeln, Exerzitien im Spielen mit dem ganzen Leib, von Kopf bis Fuß zu treiben: »Fr meinen gefhrlichen Beruf musste ich vor allem die hçchste Schlauheit, Selbstbeherrschung und unbeugsame Willenskraft, eine vçllige Unbeweglichkeit und eiserne Ruhe des Gesichts, dieses Spiegels der menschlichen Seele und der Gefhle, besitzen.« Das Meisterstck der gestischen und mimischen bungen? »Durch lange Monate in der Bewegung, in jedem Zucken meines Gesichtes die Maske des Irrsinns festzuhalten.« Wenn schon das »Charisma« erlern- und trainierbar sein soll, warum nicht auch der Irrsinn? Manolescu ist es gelungen, anderen auch, wie der Fall des großen Erzhlers Oskar Maria Graf zeigt, der 1914 dank erfolgreicher Simulation des Irreseins kriegsuntauglich geschrieben wurde. Imaginiert hatte es Thomas Mann in der berhmten Musterungsszene des Felix Krull, einem parodistischen Meisterstck, an deren Ende der Militrarzt diagnostiziert und dekretiert: »Ausgemustert . . . Die Kaserne ist keine Heilanstalt.« Zurck zu Manolescu, der anschaulich sein Hochstapler-Training schildert. Eine Art methodischer Rationalisierung des Spiels mit der Identitt fr wechselnde Situationen, entlang der Maxime: »Ich mußte mich gnzlich mit meiner Rolle identifizieren und vçllig vergessen, daß ich nur eine Rolle spielte. Denn nur so durfte ich hoffen, auch andere zu berzeugen.« Dennoch, bei aller Geschicklichkeit der Identifizierung, die Besetzung war elastisch genug zu halten, Klebrigkeit zu vermeiden, Geistesgegenwart zu bewahren, Bedingung frs anschlussfhige Umschalten des Repertoires auf wechselnde, mithin unerwartete, berraschende Situationen. Der junge Manolescu, in der Metropole Paris alsbald vertraut mit den modernen Verkehrs- und Beziehungsformen, wusste, auch ohne Schopenhauer gelesen zu haben, worauf es ankommt:

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»Ich beherrschte bereits die hçchste gesellschaftliche Kunst, die vor allen anderen Eigenschaften den Erfolg verbrgt, – ich verstand zu blenden. Whrend der letzten Jahre hatte ich begonnen die Augen zu çffnen und die Welt um mich herum, auf den Rennbahnen, in den Theatern und Salons scharf und nchtern zu betrachten. Immer mehr erkannte ich, daß selbst in dieser Republik, in der doch eigentlich alle sozialen Gegenstze ausgeglichen sein mßten, die Gesellschaft vor Reichtum, Rang und Titeln kriecht und blindlings das anbetet, was glnzt und besticht.«

Manolescus bersetzung jenes bereits von Sebastian Brant im »Narrenschiff« an entscheidender Stelle einzitierten Satzes »Mundus vult decipi« ins Deutsche: »Die Dummen werden nicht alle«. Oder: Identitt hat, wer den Spielraum frs Blenden ausschçpft, wer auf der Klaviatur der Images, Phrasen, Klischees, Stereotype spielen kann. Und der kann am besten spielen, der die Illusionen, mit Freud verstanden als wunschgeleitete Irrtmer, der anderen ins Kalkl zieht. Bevorzugte Sttten der Identittsspiele um 1900 – Modell: die falsche Grfin – sind nicht zufllig das Theaterfoyer, der Opernball, die Spielbank, das Kurhaus und zumal die moderne Karawanserei, das Hotel, nicht das auf Stunden berechnete, sondern auf Suiten ausgelegte. Recht eigentlich ist die Hotelhalle der zeitgençssische bungsraum modernen Menschenverkehrs, nicht nur des Fahrstuhls wegen, in den Tagen der mondnen Welt, den neuen angloamerikanischen Komfort signalisierend, Lift genannt und vom Liftboy gesteuert. Das Hotel: die Grundfiguration von Mobilitt, Provisorium, flchtiger Talk, leutselige Beziehungslosigkeit, Selbstinszenierung, Improvisation, Anonymitt, bestens geeignet frs Inkognito, selbst das der illegitimen Intimitt. Nicht ohne Grund stehen Detektivgeschichte und Hotel in einem genetischen Zusammenhang. Dass die mondne Welt der Luxuskoffer und Hutschachteln, dass die mßiggngerisch-flanierende Eleganz lngst von allerlei ergebnisorientierten, zielfhrend-funktionalen Kçfferchen- und Laptop-Existenzen im Anzug und Hosenanzug weithin verdrngt worden ist, schlenderische Bewegung vom mobilen Sklaventum des Terminkalenders, ist so offenkundig wie der Orient-Express zur Touristenfolklore fr Versicherungsangestellte herabgesunken ist.

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Handlungsreisende, akademische Tagungsritter, Marketingdamen und allerlei Servicejobs laden kaum mehr ein zu hochstaplerischen Investitionen und Lebensentwrfen. Untrglicher Indikator des Kulturwandels: Das Verschwinden des mondnen Franzçsisch zugunsten des globalen Communication-Englisch. Zudem, im Zeitalter beinahe lckenloser, feedback-gesteuerter berwachung, der Meldezwnge, elektronisch lesbarer Ausweise, der automatisch lesbaren Kreditkarten, der genetischen Fingerabdrcke, der computergesttzten Jederzeit-Identifikation und -kontrolle, kurz: im Zeichen der Videokameras hat der Hochstapler seine klassischen Reviere, darunter eben den Hotelaufenthalt, eingebßt. Mit geschrumpftem Lebensraum, mit der nivellierten Hochstapler- Gesellschaft im Zeichen außengesteuerter Individualisierung verschwindet der Raum fr extravagante Identittsspiele, und mit ihm die Gattung. Der Steckbrief weckt heute eher nostalgische Gefhle. Manolescus Hochstaplerkarriere, motiviert vom Wunsch nach Sorgenfreiheit, Luxus und sanktionsenthobenem Leichtsinn, will sagen: von der Sehnsucht nach Glck ohne fronartigen Bewhrungsdruck und Tabletten, ist dennoch rigide zurckgebunden an die Welt der arbeits- und leistungsethischen Realien. In Brechts »Dreigroschenoper« von 1928 findet sich die Erluterung: Was sei der Bankraub gegen die Grndung einer Bank. Im Hochstapler und Dieb ist das Realittsprinzip anerkannt, freilich auf innovative Weise, wenn Innovation Neuerung auf der Ebene der Mittel und Methoden meint, bei vorproblematischer Akzeptanz dessen, was und wie es ist und zugeht in der Welt. Der Hochstapler ist kein Rebell, wenn er mit diesem auch markante Lebensstationen gemeinsam hat: das Up and Down einer im Fall des Hochstaplers primr imaginren, im Fall des Rebellen fragilen Existenz. Die Stationen des Up and Down im Lebensverlauf des authentischen Manolescu haben Thomas Mann allemal einige Anregungen geliefert fr den fiktiven, nachgerade episodischen Lebensverlauf seines Sonntagshelden Felix Krull: Hinterzimmer eines Luxusjuweliers, Hotelhalle, Spielbank, die angemietete Beletage und dazwischen die Anstalten des jhen Absturzes aus der imaginren Existenz, immer dann, wenn die Polis, die polizeiliche Ordnungsmacht, den Hochstapler zurckholt auf den Boden der Realien,

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wenn, metaphorisch wie buchstblich gesprochen, die HermesBrgschaften aussetzen. Allerdings, Thomas Mann erspart seinem Kind der Fortuna, dem beweglichen Felix Krull, den er in der sptwerklichen Fortsetzung des autobiographischen Mrchens zunehmend im Lichte des Hermes-Mythos deutet, wohingegen er es ursprnglich primr im Paradigma des Narziss konzipiert hat, Thomas Mann erspart seinem Glckskind die bitteren Downs, die Manolescu tatschlich widerfahren sind. Doch vergessen wir nicht: Der Roman, die ferie, die Zauberposse ist Fragment geblieben. Wenig mrchenhaft dagegen die Realbiographie des Manolescu. Die Tiefpunkte: das Zuchthaus, das Gefngnis, die Psychiatrie und zuletzt die Ehe. Zu den anekdotischen Glanzstcken der Manolescu-Memoiren, in Thomas Manns Hochstapler-Mrchen abgewandelt einverwandelt, gehçrt die Einlieferung in eine Berliner geschlossene Anstalt, das »Irrenhaus Herzberge«. berhaupt geben Manolescus Berichte einiges her zur Sozialpsychologie des rztlichen und Wachpersonals der lteren psychiatrischen Anstalten in Europa, gleichsam literarische Seitenstcke zu Klaus Dçrners »Brger und Irre« (Dçrner 1975). Nichts ist so von Ernst und Komik. Zusammen mit seinem Verteidiger hatte der beim Luxusdiebstahl wieder einmal erwischte Manolescu, inzwischen im bergang von der Adoleszenz zum Erwachsenen, es mit Komçdie versucht. Um sich das Zuchthaus zu ersparen, probierte er es fatalerweise mit der Maske der Geisteskrankheit, in der tçrichten Hoffnung, auf dem Wege der Simulierung freigesprochen zu werden wegen Unzurechnungsfhigkeit. Doch der Delinquent mitsamt seinem Verteidiger hatten die Rechnung ohne den leitenden Arzt gemacht, den, wie es in den »Memoiren« heißt, »Chef der gesamten Abteilung fr nervçse Krankheiten«. Dessen Gemeingefhrlichkeitsdiagnose wird zum Schicksalsspruch: »Geistig anormal infolge erblicher [Hervorh. vom Verf.] Belastung«. (Unschwer ließe sich an dieser Stelle ein Ausflug in die fatale Geschichte der Eugenik, des weiteren der Rassehygiene unternehmen, doch der Exkurs zerdehnte meine »Identittsspiele« ber Gebhr.) Es mag gengen zu erwhnen, dass es fr Manolescu ein Entkommen aus dem lebenslangen Schicksal der Anstalt nur gab, in-

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dem er – einmal mehr vertrauend auf die Fhigkeit des odysseischen Ursubjekts, List – und dieses Mal auch, angesichts der Leiblichkeit der Wrterschaft, Kraft, den Ausbruch wagte. Mit Erfolg. Bleibt noch ein Tiefpunkt der Hochstapler-Karriere, die Ehe; auch sie hat Thomas Mann seinem Fortuna-Kind, Felix Krull, wohlweislich erspart. Manolescu gelang es schließlich, eine junge Grfin zu angeln, doch mit dem Wermutstropfen, dass die nicht eine Rente von 500.000 Francs bezog, wie es einst sein Traumziel gewesen war, sondern nur von 6.000 Mark jhrlich. Die Verliebtheit sprang in die Bresche, glich das Manko aus. Manolescu: »Und dennoch war meine Heirat nicht nur die schlechteste, sondern auch die dmmste, unsinnigste Tat meines Lebens. Denn was kommen musste, kam. Die Sorge um die Existenz meiner Familie zwang mich nach elfmonatiger Ehe, wenige Wochen nach der Geburt meines Kindes, meine noch leidende Frau und mein Tçchterchen zu verlassen und in die weite Welt zu gehen . . . Um zu arbeiten, wenn ich Arbeit fand, Um zu stehlen, wenn ich keine Arbeit fand . . . Welche Aussichten, welches Leben, welche Hçlle!«

Anders, die Eheangebots-Lge des Dr. jur. mit jhrlicher Rente von 20.000 Francs in Einheit mit der »Maske des rumnischen Aristokraten«, rissig genug, sollte sich rchen. Zwar: »Ich verstand jeden Zug meines Gesichts so genau zu beherrschen und wusste mich so spielend (Hervorh. vom Verf.) in jede Rolle hineinzuleben und mit ihr zu identifizieren, dass der Gedanke, ich kçnnte mich einmal verraten, berhaupt nicht in mir Platz griff.« Doch: Die Ehe ist kein Hotel. Um diese Zeit, um 1900, ist »Totem und Tabu« (Freud, 1912–13), die Passage ber das Doppelbildnis von Tochter und Mutter, die in Thomas Manns »Felix Krull« eine amsante Rolle spielt, noch nicht geschrieben. Die Gestalt aber, auf die es hinauslief, hatte es schon lange gegeben. Es ist die Schwiegermutter. Manolescus Schwiegermutter nun ist es, die Verdacht schçpft und ihn fr einen »ganz gemeinen Feld-, Wald- und Wiesenhochstapler« ansah. Allemal beschmend fr einen, wie er sich nannte »Selfmade-Frsten«. Was faction, was fiction ist, wer weiß das bei Memoiren eines Hochstaplers exakt zu unterscheiden . . . Thomas

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Mann, der den Stoff aufgriff, wollte seinem Felix Krull nicht nur Zucht- und Irrenhaus, nicht nur die Ehe ersparen. Doch wer weiß: Der Roman ist Fragment geblieben. Im Unterschied zu den rigide zensierten Memoiren des Georges Manolescu hat Thomas Mann den »Liebesaffairen« seines Hochstaplers episches, biographisches Gewicht beigelegt. Eben dank einer einmaligen Liebesaffre, eines einabendlichen erotischen Abenteuers, wie klglich klingt da One-night-stand, eben dank dieser Hotelaffre im Auftakt seiner Hochstapler-Laufbahn mit der ehefrustrierten Gattin eines Kloschssel-Fabrikanten, der Schriftstellerin Madam Houpfl , bleibt Felix Krull die schiefe Bahn eines Dauer-Diebs erspart. Madame Houpfl , nicht ohne Sinn fr prickelnde Ironie des Schicksals, belohnt Felix fr ihren Seitensprung, die »Phantasmagorie des Augenblicks«, reichlich, so dass dieser sich ein Doppelleben, eines als Hotelangestellter und eines als Beau, in passendem Gewande und entsprechender Umgebung, leisten kann. Madame Houpfl ist nicht nur ergriffen von der Gestalt und Bewegungsmelodie des Objekts ihrer Begierde; sie ist geradezu hingerissen, als sie inmitten des Bettabenteuers von Felix erfhrt, dass er sie halb gezielt, halb unwillkrlich bestohlen habe. Der schçne Dieb wird beschenkt, Gnade des Eros. Gewiss, es gibt Gemeinsamkeiten zwischen dem authentischen Manolescu und dem fiktiven Krull: Beide bewegen sich im Stadium des bergangs der Adoleszenz; beide sehnen sich nach einem Leben in Luxus und Leicht-Sinn, frei von den Mhen und Zwngen der protestantischen Arbeitsmoral und des puritanischen Leistungsethos. Doch whrend Manolescus »Memoiren« davon berichten, wie einer mit zielfhrend-ergebnisorientiertem Training sein Proteustalent zur Meisterschaft des Verstellungsknstlers in cold blood hinaufentwickelt, trotzdem aber dem ins Kriminelle gewendeten Arbeitszwang als Dieb nicht entrinnen kann, glckt Thomas Manns Sonntagskind, das im Zeichen Fortunas steht, die Ausbildung seiner Hochstapler-Knste spielerisch. Mit Brecht htte Felix Krull schreiben kçnnen: »Wenn mein Glck aussetzt, bin ich verloren.« Statt rigid-brgerliche Selbstdressur tritt bei Felix Krull eher das spielerisch-knstlerische Experimentieren mit den Mçglichkeiten des mimischen, gestischen, des gesamt-leibli-

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chen Ausdrucks ins Bild. »Hçherer Jux« eben, im brigen Thomas Manns Definition von Kunst. Das Rtsel aller Anthropologie, weiß Plessners Philosophische Anthropologie kluge Zoologie zu interpretieren, lçst sich zuletzt im »Bild von Rollenspieler und Maskentrger« (Plessner, 1961/ 2003, S. 199) auf. Dass der Mensch von Natur aus knstlich ist, davon legen die »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« in eindrcklich-ironischen Episoden Zeugnis ab. Die episodische Glanznummer? Fraglos der Besuch im naturkundlichen Museum zu Lissabon, bei dem nicht nur der fr alles Menschliche konstitutive Zusammenhang von Leib und Kleid demonstriert wird. Dissonanzen zwischen Kleid und Leib bezeichnen freilich nicht nur Irrungen und Wirrungen des Geschmacks; sie bieten vielmehr einen brauchbaren Ansatz fr eine entwickelte Kulturanthropologie nebst Charakteranalyse. Zeichnen wir den Lebensverlauf des Gnstlings des Eros, der sthetik nicht minder, ein wenig nach. Lebensverlauf, nicht Lebenslauf, denn soziodeterministisch vorgezeichnet ist die Lebensstrecke des Felix Krull nicht. Im Fall Krulls fallen prdispositive Begabung, Erscheinungsbild, Konstellation und die Geschenke des Zufalls zusammen. Eine allemal komçdiantische Begabung, die ihren Angelpunkt in der Stegreif-Variabilitt des leiblichen Ausdrucks hat. Felix Krulls semper idem ? Die ironische Selbstdistanz, das Talent zur Ausschçpfung aller Mçglichkeiten exzentrischer Positionalitt: Ich und Du, hier und dort zu sein, im Nicht-mehr und Noch-nicht sich zu bewegen; dazu ein Leib, der nicht zur Kçrpersprache angehalten werden muss, sondern worin Bewegungsmelodie sich ausdrckt. Felix Krulls semper idem ? Das Zentrisch- und Exzentrischsein. Dazu eine fr die fragile, komçdiantische Selbstbehauptung im schnçden Getriebe der Welt erforderliche berdurchschnittliche Portion Selbstverliebtheit, freilich: ironisch gebrochen. Was wre denn komçdiantischer Narzissmus anderes als die Liebe zum Versteckspiel. Allemal ein Motiv der Romantik, das Thomas Mann gegen den weltfesten Sozialisationsernst von Goethes »Wilhelm Meister« ins Feld fhrt. Aus plausiblen Grnden kann der »Felix Krull« als Doppelparodie gelesen werden: einmal

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als Parodie auf den brgerlichen Bildungsroman, von dem, der Goethe-Verehrer Freud wusste es, Sozialisationstheorien aller Couleur bis heute zehren; und zugleich als Parodie auf die pietistischsauertçpfische Autobiographik beziehungsweise auf den depressiven Zustnden entsprungenen konfiterischen Roman. Worin besteht nun der hçchste, sublimste Ausdruck von Identitt in der Optik Thomas Manns, inkorporiert in seinem Felix Krull? Feinste Selbstbeobachtung bei erheblich ermßigtem Gewissensdruck. Eine spielerische Komik bei prismatisch-proteusartig zerlegtem Narzissmus, will sagen: eine zweite Naivitt, die mit dem »Mundus vult decipi«, dem »Die Dummen sterben nicht aus« rechnet, ohne in Zynismus zu verfallen. Eine hochgetriebene, feinsinnig-artifizielle Fhigkeit zur Reziprozitt, will sagen: das gleichsam schwerelose Vermçgen, sich in andere Personen und wechselnde Situationen zu versetzen, ohne allerdings sich zu fixieren und fixieren zu lassen. Verstellungs-, das heißt Lebensknstler darf sich nennen, wer der Klebrigkeit der Libido nur geringen Tribut zollt, wer sich nicht verliert in anderen und an anderes. Kurz: Die reifste Identitt wre demnach diejenige, die nicht Opfer ihrer selbst wird. Fhigkeit zur distanzierten Empathie und spielerischer Selbstironie wre deren Kennzeichen. Eine Art ironisch-distanzierter Empathie. Gesetzt ist damit eine fluide Identitt als doppeltes Spiel. Das Spiel mit dem Bild von der eigenen Identitt sowohl wie mit den exoterischen Identitten, den Bildern vom Nichtidentischen. Gçttlich freilich wre das Spiel mit bertragung und Gegenbertragung. Doch Felix Krull, wenn auch im Zeichen des Hermes sich bewegend, agiert dennoch in den Grenzen seines Leibes. Im Innersten des Narzissmus nistet die Einsamkeit, weshalb der Narziss so sehr der Gefahr der Verlassenheit ausgesetzt ist. Identitt, jedenfalls wie sie im Hochstapler Felix Krull vorgestellt wird, hat ihren Kern in der Distanz, nachgerade zu sich selbst. Auf alles Symbiotische reagiert dieserart Identitt mit Idiosynkrasien. Darin ist Zweite Naivitt, das Komçdiantische, dem Zweifel verwandt. Den Versteck spielenden, hermetischen Narziss trennt von dem dem Rtsel, der Allegorie verfallenen Melancholiker nur eine Haaresbreite. Was anderes wre Verstellungskunst als die Kunst der imagi-

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nr-spielerischen Vertauschung, sei es der Sozial- oder Geschlechterrollen. Worin bestnde denn der Unterschied, so gibt Thomas Mann den Rebus auf, zwischen einem Grand-Hotel-Oberkellner und einer Frackprimadonna, sprich: Stardirigenten . . . Die Beziehung zwischen Mann und Freud? Ein Kapitel fr sich. Doch soviel ist gewiss: In der Poesie des Jngeren und der Analyse des lteren haben sich ein Genius der Vermummung und ein Meister des Erratens gestreift. Stumpfsinniger Identitt, die bis zur steinernen Langeweile immer bei sich ist, die mit beiden Plattfßen auf dem Boden der Realitt vegetiert, Allerweltsleuten also, mag die krullsche Neigung zu Vertauschungskomçdien wenn nicht frivol so doch traumtnzerisch, infantil erscheinen. Allenfalls lsst der Normalidentische derartiges fr ein paar Entspannungsstunden im Theater oder Kino gelten. Eine Gabe muss Gott oder die Natur dem Komçdianten des Alltags, dem Identittsspieler, fr Thomas Mann ist es, darin Nietzsches kritischem Befund folgend, der moderne Artist, der reflektierte Knstler, ausgiebigst mitgegeben haben. Es ist das menschlichste aller Talente: die Fhigkeit zur Imitation. Nur der Mensch kann nachffen, die außerordentlichste aller Gottes- oder Naturgaben. Imitation bedingt feinste Reizbarkeit, dazu eine Schulung der Organe, des Ohrs und namentlich des Auges. Animalische affektive Miterregbarkeit ist das eine, fr eine Hochstaplerkarriere geradezu gefhrlich. Authentische, in Distanz zum fremden und eigenen Gebaren gespielte Imitation das andere, fr eine Hochstaplerkarriere geradezu lebenswichtig, erfolgverbrgend. Was aber ist Imitation, Bedingung alles Komçdiantischen, Essenz alles Menschlichen? Es ist das Pendant zum Sich-verstellen-Kçnnen; zusammen konstitutieren sie das Vermçgen zur doppelgngerischen Identitt. Keine bewegliche Identitt ohne Verdoppelung, kein selbstreferentielles Bei-sich-Sein ohne Selbstdarstellung. Identittsspiele sind demnach Experimente auf der Mçglichkeitsskala der Verkçrperung seiner selbst in der Imitation alles Nichtidentischen. Anders, Identitt, das semper idem gilt Thomas Mann, zunchst an Nietzsche, dann an Freud geschult, als Schauplatz von Verkleidungen seiner selbst in Reziprozitt zur imitatorischen Einverwandlung von Nicht-, von Fremdidentischem. Im Fall der

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dramatischen oder epischen Produktion teilen sich Verkleidung, Verstellung und Imitation dem Ensemble der Kunstfiguren mit. Das verlangt nicht nur ein ausgepichtes Handlungsverstehen des Autors, sondern vor allem ein Hçchstmaß an Ausdrucksverstehen. Fragt Handlungsverstehen: Wo fhrt das Hin?, so Ausdrucksverstehen: Was kann das sein? Letzteres ist fraglos vorgngig, denn erst das Verstehen eines Bewegungsausdrucks als Handlung erçffnet die Frage nach dem Weil, Wozu und Wohin der Handlung. Mit seinem »Felix Krull« schickt Thomas Mann eine Sonde in die Welt des Sichverhaltens von Leibern, meist im Kleid, gelegentlich nackt, die nicht nur erscheinen, sondern Ausdrucksbilder bieten mit Gestalt- und Anmutungswerten. Lsst man die Paradigmen der Humanwissenschaften Revue passieren, so scheint die Kategorie des Leibes nicht im Rang einer Wissenschaft zu stehen. Obgleich die Sprache anmahnt, darber nachzudenken, warum man gemeinhin vom Oberkçrper, aber vom Unterleib spricht. Anders, in der wissenschaftsbetrieblich marginalen Philosophischen Anthropologie des Zoologen und Soziologen Plessner und in der großen Literatur werden die Bewegungsmelodien des Leibes als Schrift nicht nur des Intentionalen, sondern vor allem des Unbewussten zu entziffern versucht. Aufschlussreich, symptomatisch, bedenkenswert fr die abendlndische Denktradition, dass der Teufel seinen Namen als Leibhaftiger hat. Dem kann entnommen werden, dass Identitt im Dekor grndet. Im Felix-Krull-Roman tritt der Teufel als Gelehrter auf, gerufen als Professor Kuckuck. Der Hochstapler jedenfalls, der Verstellungsknstler muss einen geschrften Sinn frs Verstehen von Ausdrucksbewegungen des Leibes besitzen und entwickeln. Noch der Stumpfeste kann dessen nicht entraten, will er berleben. Thomas Mann, dessen Sinn frs Ausdrucksverstehen dank seiner seinen Magen hufig in Mitleidenschaft ziehenden Reizbarkeit aufs ußerste durchgebildet war, hat seinem Krull ebendiesen Sinn frs Verstehen von Bewegungsmelodien des Leibes mitgegeben. Krull erweist sich stets als ein begnadeter Errater von Ausdrucksbildern, was ihm zumeist Situationsvorteile einbringt, da er mit seinen eigenen Ausdrucksbildern spielend antwortet. Diese Seg-

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nung wird im Hochstapler-Fragment in einer Reihe von biographischen Episoden, scherzhaften Einschaltungen von umwerfender Komik veranschaulicht. Wenn die neuere, interkulturell vergleichende Ethnologie den Trickster als eine Grundfigur sozialer Gemeinschaften ortet, dessen Kennzeichen Wissensvorsprung und kommunikative Kompetenz bilden, dann darf der gçttliche Gçtterbote Hermes fglich als Trickster angesprochen werden. Thomas Mann, in rechter Ahnung, worin die Eigenart einer imaginren Existenz wie die des Hochstaplers besteht, hat seinen Krull zu Anfang schon im Zeichen des Hermes prsentiert. Um Krulls bunten Lebensweg als Single gegen diese Eintçnigkeit von Zweisamkeit abzuheben, weiß der Autor von dessen Eltern zu erzhlen, dass sie sich »bis zur Erbitterung miteinander langweilten«. Geboren als Sohn eines lebensbejahend-sinnlichen Schaumweinfabrikanten in der traubenfrohen Gegend des »lustigen Mainz« im Wonnemonat Mai vereinigt Felix Krull charakteristische mythologische Bezge in sich: die schaumentsprungene Aphrodite und Maia, die Mutter des Hermes. Dieser hat mit Aphrodite eine, die Neugierde der Alchimisten auf sich ziehende, seltene Zwillingsbildung, den Hermaphroditen gezeugt. Doppelbilder, in einer oder verteilt auf zwei Personen, ben auf Felix Krull, und in diesem Fall darf man getrost Rckschlsse auf den Autor der Figur ziehen, sowohl in der Hinsicht des Geschlechts als auch der des Lebensalters eine unerhçrte, unwillkrliche Faszination aus. Die phantasmagorische Erscheinung eines Zwillingspaars auf dem nchtlichen Balkon in Paris, die zauberische Verdoppelung der Schçnheit von Tochter und Mutter in einem Lissabonner Caf oder das ber weite rumliche Distanzen hinweg prsente Imaginationsdouble eben dieser Lissabonner Tochter mit einer Pariser Kokotte, fr jene whlt Thomas Mann schelmisch den Namen Zouzou, fr diese Zaza, die Wiederkehr von Ursprungsbildern in einem rumlich und zeitlich Anderen, die Ausdrucksbilder von Identitt im Nichtidentischen, kurz: das Changierende aller identischen Erscheinungen ist es, was in Krull unweigerlich die stheto-erotische Flamme entzndet. Und er selbst, das angelegentliche Objekt der Begierden, ist ihm nicht die Ausdrucksmelodie des Androgynen eigen, so dass nicht nur je-

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ne Madame Houpfl , sondern auch ein Lord Kilmarnoch aus Schottland, ihm, Krull, verfallen?! Vertauschungen, Verschiebungen, Verwirrungen, Verschlingungen: Hat nicht Freud in der »Traumdeutung« von 1900 mit so viel Nachdruck auf das Changierende, die Identitt des Nichtidentischen beziehungsweise das Nichtidentische in der Identitt verwiesen! Dort vor allem mit Blick auf die Doppel- und Mehrfachbedeutung von Wçrtern und Namen?! Sacer etwa meint heilig und verrucht. Ist bei den alten Persern der Inzest das gebotene Privileg der Kaste der Magier, so anderwrts das gleiche Tun verrucht, ein Frevel. Thomas Mann, der mit Freud die Einsicht ins Changierende alles Lebendigen und umgekehrt ins Eindeutige alles Versteinerten, Abgestorbenen teilt, hat in der fr sein Gesamtwerk leitmotivischen Erzhlung »Wlsungenblut« dies poetisch thematisch gemacht. Hermes und Aphrodite als Insignien des Hochstaplers, mit dem ebenso hbschen Vornamen Felix wie schnçden Nachnamen Krull bezeichnet, ist eine stimmige Komposition. Zumal wenn bedacht wird, welche Eigenschaften dem Hermes zugeschrieben werden. Es sind gerade Attribute des Changierenden, wie die neuere Mythologieforschung bekrftigt: Hermes, der Gott der Kommunikation, der Diebschaft, des Tausches. Hermes als Gott des Grenzmals nachgerade der Gott des bergangs, des Zwischen, der Schwelle, der Verwandlung. Und Hermes, der Urheber des sthetischen Rahmenprogramms fr saturnalienartige Hermesfeste. Mit diesen Kostmfesten, bei denen sozialer Statuswechsel gespielt wird, wird ein wichtiger biographischer Statuswechsel gefeiert – der bergang von der Adoleszenz zum Erwachsenendasein. Als Mysteriengott ist er gerade prdestiniert, im Emblem des Felix Krull zu erscheinen. Hermes, der Gott der bergnge, der Mittler zwischen Gçttern und zwischen diesen und den Menschen, in seinem Zeichen stehen die esoterischen Kulte prnuptaler sexueller Einweihungsriten; Puberttsweihen in einer hermetisch abgedichteten Welt. Dass im 5. Jahrhundert die Ikonographie der Vasen Hermes als jugendlichen Typ narzissgleich darstellt, mochte dem belesenen Thomas Mann genug mythologische Fundierung fr seinen Krull sein.

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Nein, nicht ganz. Der Hochstapler legt sich fr sich und andere aus. Er verkçrpert, neumodisch gesprochen: er inszeniert sich. Aber nicht ein fr allemal, sondern im oszillierenden Plural. Der Hochstapler errt die Ausdrucksbilder der anderen, sucht in deren Ausdrucksbildern sich zu verstehen. Ein Spiel mit Auslegungen. Ist Hermes nicht auch der Patron der Dolmetscher?! Hermetik und Hermeneutik, ein wahrhaft diabolisches Spiel, weshalb Thomas Mann im »Felix Krull« eine Episode einschaltet, in der der Leibhaftige, wie gesagt: Er trgt den allemal amsanten Namen Professor Kuckuck, den Jngling in die verwirrende, changierende Welt der Zoologie und Palontologie einweiht. Alle Identitt hat ihre Garantie im Nichtidentischen. Das Spiel mit Pseudonymen mag ein illustrierender Hinweis sein. Immerhin hat Karl Abraham 1925 sich der Figur des Hochstaplers intensiv angenommen. So ganz zufllig um diese Zeit? Wohl kaum. Es ist die Zeit, in der Oskar Maria Graf im »Drei Masken Verlag« publiziert, Kurt Tucholsky »heitere Schizophrenie« mit seiner Aufspaltung in mehrere Pseudonyme zelebriert, 1927 in einer Selbstbeschreibung »Mit 5 PS« (zit. nach Hepp, 2002, S. 31) reflektiert, Walter Serner (o. J.) die Apostel der Echtheit parodiert und eben Brecht sein »Lesebuch fr Stdtebewohner« prsentiert. Weil Schein und Sein unauflçslich ineinander verschlungen sind, erçffnet Felix Krull seine »Bekenntnisse« mit der boshaften Erinnerung an jenes »Mundus vult decipi«: »Kurz, ich gebe dem Publikum, woran es glaubt.« Das ist nicht immer leicht zu erraten. Weder der Knstler noch der Lebenskomçdiant, nicht einmal der Charismatiker kann umhin sich zu bewhren. Mçgen die Bewhrungsproben andere sein als bei der Normalbiographie beziehungsweise der Gang-und-Gbe-Karriere, Prfungen hat auch die Marginal-Biographie, hier die eines Hochstaplers, zu bestehen. Und hufig unterscheiden sich die Leistungsprofile gar nicht so sehr voneinander, jedenfalls was die geschickte Selbstprsentation und das Spiel mit Titeln und Meriten angeht. Anders, auch der Hochstapler und gerade er kann der neuzeitlichen Leitdominante »Bewhrung durch Erfolg« nicht entgehen. Thomas Manns Hochstapler-Roman erscheint in diesem Licht als eine Serie biographischer Episoden, deren Zsuren Prfungen

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bilden. Der Sohn eines liederlichen Schaumweinfabrikanten, wir sind im Rheingau und nicht im Wittenbergisch-Hallensischen, zeigt zunchst mangelnden Willen und Tauglichkeit fr einen ordentlichen Schulabschluss. Als sich herausstellt, dass sein Vater Konkurs anmelden muss, anschließend erschießt er sich, bleibt Felix, der im brigen mit Morpheus auf gutem Fuße steht, nur der Beruf des Selfmademan. Dank seines Paten, des Malers Schimmelpreester, der ihn in verschiedensten Kostmen zum Modell nimmt, und dank hufiger Theaterbesuche verfgt Felix ber Grundkenntnisse der Verwandlungs- und Tuschungskunst. Beste Voraussetzungen, um in der Scheinwelt der Serviceberufe zu bestehen. Bevor er jedoch sein Glck in Paris berhaupt versuchen kann, muss er sein Gesellenstck machen: die Probe vor dem rztlichen Musterungstribunal. Auch hierfr hatte der Narziss whrend der Schulzeit hinreichend Erfahrungen sammeln kçnnen, Mutter und Hausarzt dpierend. Dazu zwei wesentliche Einsichten. Die eine: »Krankheit vorzutuschen, wird dem Vierschrçtigen kaum gelingen.« Und die andere: »Selbstverstndlich macht der rztliche Berufsstand von anderen keine Ausnahme darin, dass seine Angehçrigen ihrer berwiegenden Mehrzahl nach gewçhnliche Hohlkçpfe sind, zu sehen, was nicht da ist, und zu leugnen, was auf der Hand liegt.« Derart vorbereitet glckt Krull seine Verstellungskomçdie. Im brigen stellt diese Episode ein Glanzstck der Weltliteratur dar, vom Autor, der durch sein ganzes Werk und Leben hindurch, nicht nur im »Zauberberg« von 1924 dem Stand der rzte seine intensive Beobachtungskunst gewidmet hat, selbst unbertroffen rezitiert. Thomas Mann wusste um die Eitelkeit und berheblichkeit von Experten. Darauf spekuliert sein Krull, wenn er mit Selbstbild, Statussucht und Titelliebe seines rztlichen Gegenbers eloquent spielt. Simulieren heißt ja nichts anderes, als falsche Fhrten zu legen, dabei aber dem Fahnder nachdrcklich Gelegenheit zur Selbstschmeichelei zu geben. Kurz, Krull besteht diese Lebensprfung, wird wehruntauglich geschrieben, ausgemustert aufgrund eines Diagnosemixes aus Depression und Epilepsie, die sich hinter der »sogenannten Migrne«, die der Kandidat vortusche, in Wahrheit verbrgen. hnlich wie bei jenem authentischen Ma-

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nolescu wird »erbliche Belastung«, im Fall Krulls, »von Seiten des trunkschtigen Vaters«, attestiert; allerdings mit dem Unterschied, dass Krull nicht in der Anstalt landet, sondern in die Freiheit der Zivilitt entlassen wird. Freiheit ist denn auch das letzte Wort dieses grandiosen Kapitels deutschsprachiger Literatur. Deren Definition gewhrt zugleich einen Einblick in den Lebensentwurf des Hochstaplers Felix Krull – und in die biographische Selbstdeutung seines Autors: »Im Gleichnis leben zu drfen, bedeutet eigentlich Freiheit.« Wir alle leben lngst im Zitat. Im Gleichnis leben meint wohl, identifizierender und identifizierbarer Eindeutigkeit sich zu entziehen, Versteck zu spielen, den Interpreten und Hermeneutikern der Mit- und auch Nachwelt immer neue Rtsel aufzugeben. Dass einer vom Fach der Selbstinszenierung, und zwar einer, der es bis zur Meisterschaft bringt wie Felix Krull, ins Problematische der Scharlatanerie, und damit auf der Schwelle zum Kriminellen sich bewegend, bergeht, das hat Thomas Mann, nach Nietzsches schonungsloser Analyse des Sozialcharakters des Knstlers in der »Frçhlichen Wissenschaft« (Nietzsche, 1882), wohl gewusst. Nach intensivem Freud-Studium ist er Ende der zwanziger Jahre in der Lage gewesen, die Erzhlung »Mario und der Zauberer« von 1930 zu schreiben, eine Meistererzhlung ber die faschistische Massensuggestion in Italien, und den heiklen Essay von 1939: »Bruder Hitler«, in welchem Hitler und Freud als die eigentlichen Antipoden der Epoche bestimmt werden. Leben im Gleichnis, das ist Narziss und Hermes in einem. Zum einen verkapselte Selbstreferentialitt, hermetisch abgeschirmt durch das innere Pathos der Distanz. Zwischendurch bekennt Krull seine »natrliche Neigung zur Eingezogenheit und Verschlossenheit, diesem inneren Beharren auf Einsamkeit, Abstand, Reserve [. . .] als einer Grundbedingung meines Lebens.« Zum anderen der vife Trickster, allem Beziehungsmief, jedweder Symbiotik abhold. Es ist als sprche aus Krull Nietzsche: »Ich habe immer Leute verachtet, die da glaubten, Bescheid ber mich zu wissen.« Zuletzt, dank einer Fortuna-Konstellation im zitierten Zeichen des »Planeten Merkur«, erçffnet sich Krull die Chance zum Identittswechsel vom charmanten Kellner zum inspirierten Marquis

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auf Weltreise. So einfach aber ist, bei aller Meisterschaft der Verstellungskunst, der Identittswechsel nicht. So sinniert Krull: »Nein, die Vernderung und Erneuerung meines abgetragenen Ich berhaupt, daß ich den alten Adam hatte ausziehen und in einen anderen hatte schlpfen kçnnen, dies eigentlich war es, was mich erfllte und beglckte. Nur fiel mir auf, daß mit dem Existenzwechsel nicht allein kçstliche Erfrischung, sondern auch eine gewisse Ausgeblasenheit meines Inneren verbunden war, – insofern nmlich, als ich alle Erinnerungen, welche meinem ungltig gewordenen Dasein angehçrten, aus meiner Seele zu verbannen hatte. Wie ich hier saß, hatte ich auf sie kein Anrecht mehr, – was gewiß kein Verlust war. Meine Erinnerungen! Es war ganz und gar kein Verlust, daß sie nicht mehr die meinen zu sein hatten. Nun war es nicht ganz leicht, andere, die mir jetzt zukamen, mit einiger Genauigkeit an ihre Stelle zu setzen. Ein eigentmliches Gefhl von Gedchtnisschwche, ja Gedchtnisleere wollte mich ankommen in meinem luxuriçsen Winkel.«

Was Wunder, dass ihm gelegentlich Fehlleistungen unterlaufen . . . Doch der Narziss und Abkçmmling des Merkur weiß sich Mut zuzusprechen: »Ein Schelm gibt mehr als er hat.«, wenn er weiß, woraus das ominçse »Sein«, die Identitt, gebildet ist: Aus dem »Es werde« und dem »Es vergehe«, dem Noch-nicht und Nichtmehr. Felix Krull? Eine »moderne Seelilie [. . .], die sich vom Stengel gelçst hat und auf Inspektionsfahrt geht.« Narziss markiert den stabilen Kern und Merkur den beweglichen Stern – zusammen konstituieren sie die prozedierende Verschrnkung von Identitt und Nichtidentischem. Der unter falscher Flagge und falschem Namen reisende Zwitter aus Narziss und Hermes, der listige Odysseus redivivus, wo landet Felix Krull am Schluss? Nicht mehr kommt er an in bersee, dem fernen Buenos Aires. Der Aufbruch von Lissabon wird vertagt. Statt die neuen Lfte einzuatmen, versinkt er im »Reich der Wonne«. Wo wre das? Am wogenden Busen der iberischen Mutter, die er wohl recht eigentlich in deren Tochter Zouzou gesucht hat. 1954 schreibt der nahezu 80-jhrige Autor an Karl Ker nyi, den er nicht nur in Sachen »Felix Krull« zu Rate gezogen hat: »An den Bekenntnissen des Krull habe ich mich lngst wieder mde geschrieben. Es ist genug Manuskript da, dass ich erst einmal einen >I. Teil< abstoßen kann.« Fgt dann hinzu, dass man nun »diese Scherze allzu sehr unter meinen Jahren« finden msse (zit. nach: Mann, 1965, S. 243).

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Bekennt an anderer Stelle im gleichen Jahr zum »Krull«: »Fragment immer noch, aber Fragment wird das wunderliche Buch wohl bleiben . . .« (Mann, 1954/1994, S. 485). Sind Lebensverlufe denn mehr als Fragmente, die rckprojektiv zur biographisch strukturierten Entelechie zurechtfrisiert, umgelogen werden? Auch eine performance. Der Fragment gebliebene »Krull« jedenfalls entzaubert den »Dmon der Identitt« (Adorno, 1962/1998, S. 628), der alles was anders sich regt, unter sein realittsprinzipliches Diktat zwingen will.

Literatur Abraham, K. (1925/1971). Geschichte eines Hochstaplers im Lichte psychoanalytischer Erkenntnis. Frankfurt a. M.: Fischer. Adorno, Th. W. (1962/1998). Fortschritt. In Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt a. M.: Fischer. Brant, S. (1494/1989). Das Narrenschiff. Frankfurt a. M.: Rçderberg. Brecht, B. (1926/1982). Aus einem Lesebuch fr Stdtebewohner. Gesammelte Werke in 20 Bnden (7. Aufl.). Bd. 8. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brecht, B. (1928/1982). Dreigroschenoper. Gesammelte Werke in 20 Bnden (7. Aufl.). Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dçrner, K. (1975). Brger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1904/1999). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Gesammelte Werke Bd. V. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Goffman, E. (1988). Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Mnchen: Piper. Hepp, M. (2002). Kurt Tucholsky (2. Aufl.), Reinbek: Rowohlt. Mann, Th. (1930/1994). Lebensabriß. In Th. Mann, ber mich selbst. Autobiographische Schriften, Frankfurt a. M.: Fischer. Mann, Th. (1954/1974). Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt a. M.: Fischer. Mann, Th. (1954/1994). Rckkehr. In Th. Mann, ber mich selbst. Autobiographische Schriften, Frankfurt a. M.: Fischer. Mann, Th. (1965). Thomas Mann. Eine Chronik seines Lebens, zusammengestellt von H. Brgin und H.-O. Mayer. Frankfurt a. M.: Fischer. Manolescu, G. (1905/1984). Der Mann mit dem blauen Gehrock. Memoiren eines Hochstaplers. Mnchen: Renner. Nietzsche, F. (1882/1972). Die frçhliche Wissenschaft. In F. Nietzsche. Werke II. Hrsg. von K. Schlechta. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein.

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Plessner, H. (1961/2003). Die Frage nach der Conditio humana. In H. Plessner, Conditio humana, Gesammelte Schriften VIII. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Poe, E. A. (1840/1966). Der Massenmensch (The Man of the Crowd). Gesammelte Werke in vier Bnden. Bd. 2. Olten: Walter. Serner, W. (o.J.). Hochstapler. 29 Kriminalgeschichten. Berlin: Eulenspiegel. Vaihinger, H. (1911). Die Philosophie des Als-Ob. Berlin: Reuther & Reichard.

Jçrg Wiesse

Epilog: Identitt in der Postmoderne

Da bei einer Reihe von Autoren des Buches die Postmoderne im Hinblick auf Klrungen des jeweiligen Identittsthemas erwhnt wurde, um das Kulturelle, Individuelle, Kollektive, Soziologische und Politische der Gegenwart zu beschreiben, erscheint es mir wichtig, auf die Postmoderne noch einmal einzugehen, bevor das Buch endet. Nach den konservativen Fnfzigern, den kulturrevolutionren Sechzigern und den anarchisch-politischen Siebzigern wird seit gut zwanzig Jahren die Postmoderne ausgerufenen. Sie gilt als eine Epoche des gestaltannehmenden Pluralismus, des Abschttelns festgefgter Bindungen; Verkrustungen vorangehender Epochen sind aufgebrochen, es wird von einem postmodernen Fhlen, Denken und Handeln in Kultur, Politik und Gesellschaft gesprochen. Aber es taucht, nach dem Feiern der neuen Zeit und der Toleranz gegenber allem Vielfltigen, Ambivalenten und Widersprchlichen, auch eine Angst vor dem Zerbrechen individueller und kollektiver Identitt, der Auflçsung des Ich, ja beinahe der Wahrheit auf. Diese Bedrohung scheint sich immer wieder in einer Vielfalt von Lebensformen und Optionen neuer Unabhngigkeit zu verlieren (Sennett, 1991). Strker als in der Moderne wird in der Postmoderne die Auffassung vom multiplen-proteushaften Selbst favorisiert. Diese Einstellung beeinflusst auch die Sicht der Beziehung zwischen individueller und kollektiver Identitt, die beide aufeinander bezogen und nur in ihrer Wechselwirkung existieren. Individuen bençtigten im Laufe ihrer Sozialisation kollektive Identitten, aber kollektive Identitten sind auch auf Leitbilder, auf Modelle fr individu-

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elles Verhalten angewiesen. Was im Mittelalter Helden und Heilige, in der Renaissance die Heroen der Antike, in der frhen Neuzeit die Seefahrer und Entdecker, das waren in der Moderne Wissenschaftler und Erfinder, Knstler und Schriftsteller. Im postmodernen Medienzeitalter nimmt die Zahl mçglicher Identittsleitbilder exponentiell zu und es ist schwierig geworden, sichere spirituelle oder berufliche Leitbilder zu finden. So gibt es eine Vielfalt von Identitten im gleichzeitigen Nebeneinander in unserer sich immer mehr differenzierenden Gesellschaft. Die Mobilitt, die Alternativen, die Wahlmçglichkeiten, aber auch Selbstverantwortung, Selbstentscheidung, Risiko und die Mçglichkeit fr Initiative haben in allen Lebensbereichen im Zeitalter der Postmoderne immens zugenommen. Dies gilt besonders fr ehemals als verhltnismßig konstant geltende Bereiche wie die Religion: Religionsaustritte und -wechsel sind an der Tagesordnung. Das gilt fr Ehescheidungen, die Scheidungsrate ist hçher als je zuvor. Das gilt auch fr den erlernten Beruf, kaum ein Erwachsener, der nicht zumindest einmal den Beruf gewechselt htte. Das gilt auch fr den Wohnort, der sich nach den Erfordernissen des Berufs hufig ndern kann. Es gilt auch fr die Identitt der Frauen, die sich in immer neuen Emanzipationsschben von Leitbildern vergangener Jahrhunderte getrennt haben. Minoritten, die frher im Schatten einer Majorittsgesellschaft ein Leben in Verachtung oder gar Bedrohung fhren mussten, bekennen sich nun zu ihrem Anderssein und ihrer Besonderheit. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Zugehçrigkeit zu einer Nation, mit deren Schicksal man noch frher enger verbunden war, zunehmend lockerer geworden. Das pluralistische Bild wird noch dadurch verstrkt, dass auf jedem Gebiet kollektiver Identitt, ob es sich um Nation, Profession oder Geschlecht handelt, zahlreiche Richtungen, Schulen und Bewegungen miteinander konkurrieren. Der Wettkampf der Leitbilder fhrt schließlich zum stndigen berprfen von Identitten, zu Revisionen, zum Versuch neuer Definitionen und es gibt keinen Mangel an Reflexion ber weibliche und mnnliche, ber homo- und heterosexuelle, ber professionelle und religiçse, ber lokale und kontinentale beziehungsweise globale Identitt, ohne je sicheren Boden zu finden. In der

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Postmoderne werden Thesen, Ideen und Argumente im schnellen Wandel der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konstellationen rasch berholt (Ltzler, 1995). Zugehçrigkeiten zur Identitt einer Nation, Partei, Bewegung, Religion oder Beruf sind einem Pluralismus gewichen, der der Flexibilitt und Vielgestaltigkeit, der Komplexitt und Vernderbarkeit gesellschaftlichen Lebens in der Postmoderne entspricht. Das neben-, mit- und gegeneinander unterschiedlicher Identitten gehçrt wie selbstverstndlich zur psychischen Realitt des Einzelnen. Charakteristisch fr die postmoderne Persçnlichkeit ist das Ertragen eines gewissen Maßes an Widersprchlichkeit und Unvereinbarkeit der individuellen und kollektiven Identitten. Werden die Widersprche zu groß, drohen sie den Einzelnen in unbewltigbare Krisen zu strzen, mssen Prioritten gesetzt werden, was zum Verlassen eines Identittskreises, zu dem man sich zugehçrig fhlt, fhren kann. Erfhrt das einzelne Selbst sich nicht mehr als Kontinuitt, erfordern die Konflikte kollektiver Identitten Brche des Selbst, so ist die Individualitt in Gefahr und der Einzelne ist zu schwierigen Entscheidungen gezwungen. Auch die postmoderne individuelle Identitt ist nicht vor Katastrophen, vor tragischen Situationen geschtzt. Sich als postmoderner Mensch von sich selbst zu befreien, selbstlos zu werden, sein Selbst loszuwerden, kann bedeuten, sich wie in der Adoleszenz von einer verfestigten, fixierten, alten Identitt zu lçsen, aber auch jegliche Identitt zu verlieren. Es ist gefhrlich, diesen Selbstverlust als Lust zu empfinden. Je mehr ein Selbst sich aus verschiedenen Segmenten zusammensetzt, je mehr Rollen es zu bernehmen und zu spielen vermag, desto besser wird es einer Welt gesteigerter Komplexitt gewachsen sein. Es nimmt nicht nur in einfachen und dualen Kategorien wahr, teilt die Welt nicht nur in schwarz und weiß, arm und reich, mnnlich und weiblich ein. Aber die Selbstentfremdung in all diesen verschiedenen Rollen, die dem Selbst abverlangt werden, birgt die Gefahr, sich restlos zu verlieren, aussichtslos sich selbst hinterherzulaufen und sich lediglich ber geborgte Identitten und bergestreifte Vorbilder zu stabilisieren (Frchtl, 2004). Die viel beschriebene, als besonders kreativ geltende multiple

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Persçnlichkeit und ihre vielfltigen Probleme tauchen als typisch postmodern in der Literatur auf. Ihre hnlichkeit mit narzisstischen Stçrungen und Borderline-Stçrungen, mit Schizophrenien und dem weiten Feld der Hysterien ist aber unverkennbar, gleichsam als Opfer der Epoche von Bindungslosigkeit und in Fragmente zerfallenen Identitten. Soziologisch hat als weitere Folge der Postmoderne das Familienmodell seine Bedeutung eingebßt (Richter, 2006). Singledasein, Einelternkonstellationen, Kinderlosigkeit sind vordergrndig erfolgreiche Lebensformen geworden – »Deutschland schrumpft« (»Spiegel«, 15.08.2006), der »Methusalem-Spuk« (»Spiegel«, 25.04. 2005) – mit allen unglcklichen Folgen fr die Identittsentwicklung der noch verbleibenden Kinder. Sicher, die postmoderne Kontinuitt des Selbst ist eine andere als in frheren Epochen. Es geht nicht mehr um das starre Sichbehaupten in historischen Vernderungen und soziokulturellen Kontexten. Das Kontinuierliche der postmodernen Identitt kçnnte der Wandel sein, kçnnte im Integrieren der Pluralitten bestehen, kçnnte sich als Teil von »alles ist im Fluss« verstehen. Eine immer grçßere Rolle spielen berufliche Identitten in der Postmoderne. Dabei geht es vor allem um Arbeit und den Beruf an sich; erst in zweiter Linie um die Identitt, die mit einer bestimmten beruflichen Richtung verbunden ist, etwa des Handwerkers, des Beamten, des Lehrers, des Hochschullehrers oder Arztes. Den Luxus, sich auf die Identitt eines bestimmten Berufs festzulegen, kann sich im Zeitalter von Mobilitt und Flexibilitt kaum noch jemand leisten. Aber die Identifikation mit als sinnvoll empfundener Arbeit, mit beruflicher Ttigkeit, die einem ein menschenwrdiges, das heißt aktives und produktives Dasein ermçglicht, scheint wichtigste Wurzel des Identittsempfindens in unserer westlichen Gesellschaft zu sein. Umso mehr bedeutet Entzug von Arbeit, das Schicksal von Arbeitslosigkeit, beinahe den Ausschluss aus der Gemeinschaft, er ist vergleichbar mit der Verbannung in autoritren Gesellschaften. Das entscheidende soziale Problem in der postmodernen Gesellschaft ist nicht so sehr die Ausbeutung der Arbeitenden, sondern ihre Ausgliederung aus der Produktion, der Verzicht auf den Wert

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ihrer Arbeit. Die Entfremdung resultiert dann nicht mehr aus einem bermaß, sondern eben aus einem Mangel an Arbeit. Die andauernde große Arbeitslosigkeit in Europa, die mit dem Import billigerer Arbeitskrfte, mit der Verlagerung von Produktion in so genannte Billiglohnlnder sowie mit Computerisierung im Zuge der technischen Revolution zusammenhngen, fhrt zu jener Vielzahl von Entwurzelten, als Fremdkçrper empfunden, von ihrer Umwelt eher verachtet, die Bittsteller um soziale Untersttzung sind. Anders als beim Arbeitenden ist die Zahl der Identittskreise, in denen sich der Arbeitslose bewegt, minimal. Das Erlebnis von Freiheit, Entfaltung und Produktivitt, das ein postmodernes Bewegen in unterschiedlichen Identittsbereichen mit sich bringt, ist dem Arbeitslosen verwehrt. Es bleibt ihm nicht viel mehr als eine negativ erfahrene Identitt und das Gefhl, keine Rolle mehr zu spielen. Arbeitslosen fehlt nicht nur gesellschaftlich Anerkennung, »sie sind in ihrer sozialen Identitt stigmatisiert« (Goffman, 1975). Die Arbeitslosen sind durch das Stigma der Nichtanstellung gezeichnet, sie gehçren nicht zu den Diskreditierbaren, sondern sie sind bereits diskreditiert. Welche Krisen, welche Identittsspaltungen und Identittsverluste daraus entstehen, lsst sich kaum ermessen. Es drngen sich Vorstellungen von Heimatlosigkeit, Exil und Diaspora auf, die den sozialen Realitten zu Beginn unseres Jahrhunderts entsprechen. Das Thema Arbeit hat in der Postmoderne viele Gesichter, hier die Arbeitslosen, fremd im eigenen Land und das Heer der Arbeitsmigranten (Flchtlinge, Asylsuchende), fremd im neuen Land, dort der ungeheure Mobilittsschub in der Arbeitswelt durch die vielberufene Globalisierung. Besonders gut bezahlte Arbeitskrfte wie Geschftsleute, Direktoren und Abteilungsleiter und besonders schlecht bezahlte Arbeitskrfte wie Arbeitsmigranten und so genannte Niedriglohnberufe sind unentwegt auf der Suche nach neuen Erwerbsmçglichkeiten, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. So mobil und flexibel wie Kapital kçnnen Menschen nicht sein, so sehr dies auch von ihnen verlangt werden mag. Wandel und Kontinuitt, Eigenes und Anderes bedarf eines menschlich verkraftbaren Gleichgewichts.

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Es ist noch immer vom Spielerischen, vom Karnevalesken, vom Unverbindlichen der Postmoderne die Rede – von der Bedrohung in der Selbstentfremdung durch fehlende Arbeit wird weit seltener gesprochen. Dennoch, die Postmoderne ist auch eine Zeit von Herausforderungen, Fremdes, Multikulturelles zu integrieren, Neues mit dem Alten zu verbinden, Heimat in der Fremde zu suchen. Individuation und Ablçsung von primren Liebesobjekten, so qulend fr viele, sind erleichtert, Individuation ist auf vielfltige Weise mçglich; der Verlust an Bindung ermçglicht die Freiheit fr die balintschen Philobaten und die Lçsung von oknophilen Zwngen. Die Mçglichkeiten, sich aus infantilen Triebkonflikten, mit all ihrer Scham und Schuld, in neuen vielfltigen Beziehungen zu befreien, sind erleichtert und machen womçglich ein Mehr an seelischer Gesundheit erfahrbar. So hat auch die Hysterie neue und unterschiedliche Aktionsmçglichkeiten gefunden und manches leidvolle Symptom hinter sich gelassen. Die Kultur im Zeitalter der Postmoderne ist vor allem eine Medienkultur. Nie zuvor haben die neuen und neuesten Medien von Filmen und Fernsehen bis zum Internet eine solche Vielfalt von Meinungen und Vorstellungen, Nachrichten und Analysen verbreitet wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die mediale Kulturindustrie hat im Hinblick auf Identittsformung Institutionen wie die der Familie, der Kirche und Schule lngst berholt (Kellner, 1995). Die Ereignisse der Medienkultur, die im Wortsinn in die Augen springen, zeigen, welche gesellschaftlichen Gruppen ber Macht verfgen und welche einflusslos sind. Aber welche Macht, welche zentrale Rolle die Medien bei der Formung von Identitten haben, ist wohl lngst noch nicht erkannt und so bleibt hier eher Ohmacht. Wenn die Postmoderne, bedacht auf Globalisierung, Chancenvielfalt, Multikultur, Hybriditt und Emanzipation die Gefahr des Selbstverlustes, die Selbstentfremdung vergisst, wird ihre Identitt, werden ihre Identitten bald zu Diffusion werden und sie wird gefhrdet sein, ihr eigenes Ende einzuluten. Die Autoren dieses Buches haben sich bemht, individuelle und kollektive Identitt aufeinander zu beziehen, sie nicht zu trennen,

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und darauf hinzuweisen, dass sie nur in einer Wechselwirkung existieren. So ist aus dem Buch auch ein individueller und kollektiver Wegweiser zur Identitt in der Postmoderne geworden, um vielleicht der befrchteten Krise von Entfremdung zu entgehen.

Literatur Frchtl, J. (2004). Das unverschmte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Goffman, E. (1975). Stigma. ber Techniken der Bewltigung beschdigter Identitt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kellner, D. (1995). Media cultur. Cultural studies, identity and politics between the modern and the postmodern. London: Routledge. Ltzeler, P. M. (1995). Vom Egozentrismus zur Multikultur. Europische Identitt heute. In M. Kessler u. J. Wertheimer (Hrsg.), Multikulturalitt. Tendenzen – Probleme – Perspektiven. Tbingen: Stauffenberg. Richter, H.-E. (2006). Kindheit in der Postmoderne. Vortragsmanuskript. Sennett, R. (1991). Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt a. M.: S. Fischer.

Die Autorinnen und Autoren

Prof. em. Dr. med. Dieter Brgin, ehem. Chefarzt der kinder- und jugendpsychiatrischen Universittsklinik und Poliklinik Basel-Stadt, em. Ordinarius fr Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitt Basel, ist Ausbildungsanalytiker (SGPsa/IPV) und in eigener Praxis in Basel ttig. Dr. phil. Gnter Gçdde, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, ist Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut an der Berliner Akademie fr Psychotherapie und Mitglied der Akademieleitung. Dr. med. Eike Hinze, Nervenarzt, ist Lehranalytiker am Karl-AbrahamInstitut in Berlin und arbeitet in eigener psychoanalytischer Praxis. Dr. phil. Eva Jaeggi, Psychoanalytikerin, ist em. Universittsprofessorin fr Klinische Psychologie an der Technischen Universitt Berlin. Prof. Dr. med. Peter Joraschky, Facharzt fr Psychotherapeutische Medizin, Nervenarzt, Psychoanalytiker, ist Direktor der Klinik und Poliklinik fr Psychotherapie und Psychosomatik am Universittsklinikum der Technischen Universitt Dresden. Prof. Dr. phil. Dipl.-soc. Vera King ist Professorin fr Erziehungswissenschaft an der Fakultt fr Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universitt Hamburg. Prof. Dr. phil. Friedhelm Krçll M. A. ist wissenschaftlicher Autor und zurzeit Gastprofessor fr Kultur- und Religionssoziologie an der Universitt Wien. Er ist außerdem Dozent am Bildungszentrum Nrnberg.

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Die Autorinnen und Autoren

PD Dr. phil. Ute Marie Metje, Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin, ist selbststndige Evaluatorin und wissenschaftliche Beraterin in Hamburg. PD Dr. phil., Dipl.-Psych. Karin Pçhlmann, Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), leitet den Bereich Gesundheitspsychologie und Interventionsforschung an der Klinik und Poliklinik fr Psychotherapie und Psychosomatik am Universittsklinikum der Technischen Universitt Dresden. Prof. Dr. med. Jçrg Wiesse, Arzt fr Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, ist Chefarzt der Klinik fr Kinder- und Jugendpsychiatrie – Psychotherapie am Klinikum Nrnberg und Professor fr Psychotherapie an der Universitt Erlangen-Nrnberg.