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German Pages [221] Year 2023
Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt Hymnologische Kommentare zu den Liedern im Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch
Vandenhoeck & Ruprecht
Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 3 Ergänzungsheft
Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt Hymnologische Kommentare zu den Liedern im Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch Jan Janssen zum 60. Geburtstag Herausgegeben von Ilsabe Alpermann, Beate Besser, Martin Evang, Harald Schroeter-Wittke
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-50034-3
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Die 32 neuen Lieder der Woche bzw. des Tages – eine hymnologische Einführung. Zum Hintergrund des Ergänzungsheftes zum Evangelischen Gesangbuch (EG.E) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 von Stephan Goldschmidt
Kirchenjahr Stern über Bethlehem (EG.E 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 von Ilse Junkermann / Harald Schroeter-Wittke Menschen gehen zu Gott (EG.E 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 von Ellen Ueberschär Wir gehn hinauf nach Jerusalem (EG.E 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 von Andreas Marti In einer fernen Zeit (EG.E 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 von Julia Helmke Wir stehen im Morgen (EG.E 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 von Tatjana K. Schnütgen Wir feiern deine Himmelfahrt (EG.E 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 von Martin Evang Atme in uns, Heiliger Geist (EG.E 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 von Christina Aus der Au Es kommt die Zeit (EG.E 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 von Matthias Schneider
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Inhalt
Gottesdienst Unser Vater – Bist zu uns wie ein Vater (EG.E 9) . . . . . . . . . . . . . . . 63 von Christoph Anders Ich sage Ja (EG.E 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 von Günter Ruddat Ich bin das Brot, lade euch ein (EG.E 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 von Anne Gidion Meine engen Grenzen (EG.E 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 von Gabriele Rink / Sigurd Rink In Christus gilt nicht Ost noch West (EG.E 13) . . . . . . . . . . . . . . . . 85 von Alexander Deeg
Psalmen und Lobgesänge Lobe den Herrn, meine Seele (EG.E 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 von Uwe Maibaum Auf, Seele, Gott zu loben (EG.E 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 von Hartmut Handt
Glaube – Liebe – Hoffnung Loben und Danken Gelobt sei deine Treu (EG.E 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 von Ilsabe Alpermann Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt (EG.E 17) . . . . . . . . . 108 von Jochen Arnold Mit dir, Maria, singen wir (EG.E 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 von Inken Christiansen Ich sing dir mein Lied (EG.E 19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 von Gudrun Mawick
Inhalt
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Rechtfertigung und Zuversicht Wir haben Gottes Spuren festgestellt (EG.E 20) . . . . . . . . . . . . . . . . 127 von Harald Schroeter-Wittke Angst und Vertrauen Stimme, die Stein zerbricht (EG.E 21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 von Marit Günther Kreuz, auf das ich schaue (EG.E 22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 von Ilsabe Alpermann Du bist der Weg (EG.E 23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 von Annette Kurschus Da wohnt ein Sehnen tief in uns (EG.E 24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 von Timm Siering Umkehr und Nachfolge Lass uns in deinem Namen, Herr (EG.E 25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 von Bernhard Leube Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten (EG.E 26) . . . . . . . . . . . . . 168 von Wibke Janssen Die Heiligen, uns weit voran (EG.E 27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 von Britta Martini Nächsten- und Feindesliebe Wenn das Brot, das wir teilen (EG.E 28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 von Ulrike Greim Wo Menschen sich vergessen (EG.E 29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 von Ulrike Suhr
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Inhalt
Erhaltung der Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn (EG.E 30) . . . . . . . . . . . . . 199 von Nico Szameitat Damit aus Fremden Freunde werden (EG.E 31) . . . . . . . . . . . . . . . . 205 von Peter Bubmann Die Erde ist des Herrn (EG.E 32) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 von Martin Evang
Alphabetisches Verzeichnis der Liedanfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Vorwort
Bis orat qui cantat – wer singt, betet doppelt. So hat es der Kirchenvater Augustin der Kirche ins Stammbuch geschrieben. In der westlichen Kirche hat sich daraus eine eigenständige Liedtradition entwickelt, auf die Martin Luther zurückgegriffen und die er mit eigenen Lieddichtungen und Melodiekompositionen kräftig weitergeführt hat. Seine und andere deutschsprachige Lieder gehörten neben dem gedruckten Flugblatt und der Bibelübersetzung seines Wittenberger Teams zu den wichtigsten Medien für die Verbreitung der Anliegen der Reformation. An vielen Orten wird der Zeitpunkt, von dem an sich dort Menschen zum Protestantismus bekannten, dadurch festgelegt, dass in Quellen erstmals von deutschen Gesängen im Gottesdienst die Rede ist. 2024 werden die ersten evangelischen Gesangbücher gefeiert, die vor 500 Jahren gedruckt wurden. Danach hat es unzählige weitere Gesangbücher gegeben, in denen sich die vielfältige Frömmigkeitsgeschichte und -praxis spiegelt. Bibel und Gesangbuch gehörten jahrhundertelang zur Grundausstattung eines evangelischen Haushalts. In jüngerer Zeit entstehen Gesangbücher alle 30 bis 50 Jahre neu, weil sich die Frömmigkeit weiterentwickelt, weil der Glaube in neuen Kontexten zu neuen Ausdrucksformen findet, weil das Christentum sich kulturell immer in die je eigene Zeit hineinbegibt, wenn es seinem missionarischen Auftrag gerecht werden will. Das Evangelische Gesangbuch, dessen Stammteil erstmals 1993 eingeführt wurde, ist mittlerweile in die Jahre gekommen. Seit 2019 wird an einem zukünftigen Evangelischen Gesangbuch gearbeitet. Da trifft es sich gut, dass die wissenschaftliche Kommentierung der Lieder im Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs, die „Liederkunde“, nach bald 25 Jahren vor dem Abschluss steht. 2018 wurde die neue „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ eingeführt, bei der jeder Sonntag mit zwei Wochenliedern bedacht wurde, von denen zumeist eines aus jüngerer Zeit stammt. Dabei sind auch 32 Lieder ausgewählt worden, die nicht im bisherigen Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs enthalten sind. Sie sind im Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch („EG.E“) „Lieder und Psalmen für den Gottesdienst“ bei der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig, erschienen. Ihre Kommentierung nimmt sich dieser Ergänzungsband zur Liederkunde des EG vor und verbindet damit einen Gruß an einen Pastor, der in verschiedenen Ämtern kirchenleitend tätig war und ist und dem die Pflege einer weltoffenen evangelischen Frömmigkeit immer ein Herzensanliegen war. Er war u. a. Pastor an der Wilhelmshavener Christus- und Garnisonkirche, dem kirchlichen Ort für das bundesdeutsche Marine-Gedächtnis. Er war Kirchentagspastor, hat die Lebendige Liturgie dort gehegt und gepflegt und den mittlerweile bundesweit gefeierten Kirchentagssonntag eingeführt. Er war Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg. Er war Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Missionswerkes in Deutschland und
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Vorwort
hat, an den unterschiedlichsten Orten der Weltkirche unterwegs, die verschiedenen Klangwelten der Ökumene wachsam wahrgenommen und hoch geschätzt. Er war Pastor der Deutschen Seemannsmission in Rotterdam. Und er ist nun Inselpastor auf seiner geliebten Insel Wangerooge. An all diesen Stationen hat er auch selbst immer wieder neue Lieder gedichtet, am bekanntesten ist vermutlich sein Shanty „Von weitem“ (2008): „Heute mal wieder schwere See“ (freiTöne 2017, Nr. 36). Jan Janssen wird am 23. April 2023 60 Jahre alt. Zu diesem Anlass haben wir Weggefährtinnen und -gefährten gebeten, eines der 32 Wochenlieder außerhalb des EG-Stammteils zu kommentieren. Die meisten dieser Lieder gehören zu der noch jungen Gattung des sog. Neuen Geistlichen Liedes, dessen wissenschaftliche Erforschung in den letzten Jahren langsam Fahrt aufgenommen hat. Gleichwohl konnten die Autorinnen und Autoren nur selten auf die üblichen hymnologischen Quellen zurückgreifen, sondern mussten sich auf die Suche machen nach Spuren, die die Lieder hinterlassen haben. Dazu gehörte auch, dass manche noch lebende Liedschaffende zu der Entstehung ihres Liedes befragt wurden. Das waren beglückende Kontakte und Begegnungen, von denen die jeweiligen Kommentare hier zeugen. Wir danken allen, die zu diesem Projekt beigetragen haben, Charlotte Zöllner für ihr gründliches Korrekturlesen sowie dem im Verlag Brill, Leiden, aufgehobenen Verlag Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen, für die erfreuliche Zusammenarbeit. Wir wünschen uns, dass diese Kommentare die Lieder noch lebendiger machen, so dass sie gern und viel gesungen werden. Und wir wünschen dem Jubilar, dass das Singen niemals verstumme, dass er seine Lebensmelodie auch weiterhin zum Klingen bringt und dass er uns noch manche neuen Lieder schenken möge: „Getrost setze Segel, Gott hält deine Hand.“ Ostern 2023 – Büren / Heiligengrabe / Oldenburg Ilsabe Alpermann / Beate Besser / Martin Evang / Harald Schroeter-Wittke
Die 32 neuen Lieder der Woche bzw. des Tages – eine hymnologische Einführung Zum Hintergrund des Ergänzungsheftes zum Evangelischen Gesangbuch (EG.E)
Die in diesem Band kommentierten 32 Wochenlieder sind Teil des neuen Wochenliedplans1, der parallel zu der neuen Ordnung gottesdienstlicher Texte erarbeitet wurde. Sie erschienen in dem blauen Heft Lieder und Psalmen für den Gottesdienst. Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch2, das den Kirchengemeinden in der EKD ermöglicht, die neue Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder in ihren Gottesdiensten zum Klingen zu bringen. Hier finden sich die Wochenpsalmen, die im Wechsel gesprochen werden können. Und vor allem können nun alle Wochenlieder, auch die 32, die hier kommentiert werden, in den Gottesdiensten gesungen werden. Sie gehören vermutlich zu den am häufigsten gesungenen Wochenliedern der neuen Ordnung. Sie haben sich in den Kirchengemeinden zum Teil seit Jahrzehnten bewährt, weshalb das Adjektiv „neu“ sich eher auf ihre Aufnahme in den Wochenliedplan bezieht als auf ihr Alter. Der Hauptteil der 32 Wochenlieder entstammt schließlich den Regionalteilen des EG. Ihre Texte und Melodien sind also bereits mindestens 40 Jahre alt, manche auch älter. Nur sieben der 32 Lieder sind nach dem Erscheinen des EG im Jahr 1993 entstanden. Und nur drei dieser Lieder sind wirklich neu und stammen aus dem 21. Jahrhundert. Aus hymnologischer Sicht lohnt ein näherer Blick auf den Zusammenhang mit der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder. Bereits im Titel wird deutlich, dass die neue Ordnung nicht nur den gottesdienstlichen Textraum, sondern seinen ganzen Klangraum umfasst, also auch das Singen der Gemeinde. Der Wochenliedplan wird als integraler Teil der neuen Ordnung begriffen. Gab es bisher an manchen Sonn- und Feiertagen ein Wochenlied und an manchen zwei, so werden mit der neuen Ordnung durchgängig zwei Lieder je Proprium vorgeschlagen, die sich in ihrer Entstehungszeit, ihrem Charakter oder ihrem Genre in der Regel unterscheiden. Die neuen Wochenlieder wurden ganz bewusst als musikalische Erweiterung der jeweiligen Proprien ausgewählt. Sie klingen also deutlich mehr als frühere Wochenlieder mit den Texten der jeweiligen Sonn- und Feiertage stimmig zusammen. Die Änderungen gegenüber dem bis 2018 gültigen Wochenliedplan sind weitrei 1 Vgl. Stephan Goldschmidt: Singende Kirche. Die Lieder der neuen Perikopenordnung. Ein Werkstattbericht zum neuen Wochenliedplan, in: JLH 57, Göttingen 2018, 179–201. 2 Lieder und Psalmen für den Gottesdienst. Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Leipzig 2018.
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chend. Bei den 75 Sonn- und Festtagen wurden insgesamt 105 Änderungen vorgenommen. Bei den sonstigen Festen und Gedenktagen wurden bei 50 Liedern 33 Änderungen vorgeschlagen sowie 14 Lieder für die sieben neuen Proprien ausgewählt.
Hymnologisches zu den 32 Wochenliedern3 des EG.E Entstammten die allermeisten Lieder der früheren Wochenliedpläne der Reformationszeit oder der Zeit des Konfessionalismus4, bilden nun die Lieder aus dem 20. Jahrhundert die größte Gruppe. Die in dieser Festschrift kommentierten 32 Lieder stehen nicht im Stammteil des Evangelischen Gesangbuches. Diese Entscheidung wurde auf einer Sitzung der Kirchenkonferenz im Juni 2017 – auch aufgrund eines engagierten Votums von Jan Janssen – mit überwältigender Mehrheit getroffen. In diesem Zusammenhang entstand auch die Idee, die 32 Lieder, die über den Stamm teil des EG hinausgehen, in einer eigenen Veröffentlichung zusammenzustellen. Wer die 32 Lieder des blauen EG.E aus hymnologischer Sicht betrachtet, mag trotz der Mehrzahl an Liedern, die vor 1993 getextet oder komponiert wurden, erstaunt sein über die Vielfalt, die sich hier zeigt. Die Sammlung beginnt mit Stern über Bethlehem von Alfred Hans Zoller, einem Lied, das auch für einen Kinder- oder Familiengottesdienst geeignet erscheint. Dann folgen Lieder, die für eine besondere Kirchenjahreszeit gedichtet und komponiert wurden wie die beiden Passionslieder Wir gehn hinauf nach Jerusalem von Karl-Ludwig Voss und In einer fernen Zeit von Otmar Schulz und Andreas Brunion. Auch das Osterlied Wir stehen im Morgen von Jörg Zink und Hans-Jürgen Hufeisen oder das Himmelfahrtslied Wir feiern deine Himmelfahrt von Detlev Block passen in diese Kategorie. Das Wochenlied für Pfingstsonntag Atme in uns, Heiliger Geist ist dagegen eher als Lied anzusehen, dass einer spirituellen Gemeinschaft entstammt. Es folgen eine ganze Reihe von gern gesungenen Kirchentagsliedern, die sich in vielen Kirchentagsliederbüchern finden. Als Beispiel sei hier das Lied Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt von Hans-Jürgen Netz und Christoph Lehmann genannt. Aber es gibt auch klassische Worship- oder Lobpreislieder wie Unser Vater von Christoph Zehendner und HansWerner Scharnowski oder Du bist der Weg von Christoph Zehendner und Johannes Nitsch. 3 Genauer wäre zu differenzieren zwischen „Liedern der Woche“ und „Liedern des Tages“; wir bleiben hier aber bei der eingeführten Sprachregelung. 4 Hans-Christian Drömann: Der revidierte Wochenliedplan, in: JLH 22, Göttingen 1978, 186–195, hier 193. Nach seiner Berechnung gehörten zum in den 70er Jahren erarbeiteten Wochenliedplan 87 % Lieder aus vorreformatorischer Zeit, Reformation und Konfessionalismus. Durch die Einführung des EG wurden lediglich zehn Lieder ergänzt und an sieben Stellen wurden Lieder ausgetauscht oder aus dem Wochenliedplan gestrichen. Lieder aus dem Bereich des neuen geistlichen Liedgutes wurden kaum aufgenommen.
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Einige der Lieder stehen besonders markant für die stilistische Erweiterung des früheren Wochenliedplans. Für sie sollen hier exemplarisch Gründe genannt werden, die zu ihrer Aufnahme geführt haben. Das Lied Es kommt die Zeit, in der die Träume sich erfüllen von Gerhard Schnath, Otto Wiemer und Peter Janssens mag vielen auf den ersten Blick für den 2. Advent nicht passend erscheinen. Wer es aber im Zusammenhang mit dem Textraum dieses Sonntags betrachtet, erkennt darin die Verheißungen, die mit dem Messianischen Friedensreich verbunden sind, in dem Friede, Freude und Gerechtigkeit für alle Kreatur herrschen werden. Dieses Lied erweist sich in diesem Zusammenhang als wirkliches Adventslied, dem es gelingt, die Hoffnung des Wochenspruchs in Worte zu fassen, schon in der Zeit vor Weihnachten die Häupter zu erheben in der Hoffnung, dass die Erlösung nahe ist. ehendner Das Lied Du bist der Weg und die Wahrheit und das Leben von Christoph Z und Johannes Nitsch (Neujahrstag) gehört zu den Klassikern der Worship-Lieder. In den vergangenen Jahren hatte sich in vielen Kirchengemeinden die Haltung zu Worship- und Lobpreisliedern derartig ins Positive gewandelt, dass in den neuen Wochenliedplan diese Stilrichtung zumindest exemplarisch aufgenommen werden musste. An Neujahr passt Du bist der Weg und die Wahrheit und das Leben mit seiner reichen Symbolik in allen vier Strophen zum Kasus. Der auf Christus bezogene Refrain schließt darüber hinaus an den Spruch des Tages an, aber auch an den Predigttext aus Joh 14. Außerdem fügt sich das Lied auch ansonsten gut in den Textraum des Tages. Die Ich-bin-Worte Jesu, an die Refrain und Strophen anknüpfen, passen auch zum Gedenktag der Beschneidung und Namengebung Jesu, der am gleichen Tag begangen werden kann. Auch das Lied Unser Vater von Christoph Zehendner und Hans-Werner Scharnowski (Rogate) gehört zu den Worship-Klassikern. Es paraphrasiert in den Strophen das Vaterunser, das als Lesung und Predigttext in den Versionen des Lukas und des Matthäus den Textraum des Propriums prägt. Der Refrain rückt die Bitte „Dein Name werde geheiligt“ wiederholt ins Bewusstsein. Am Sonntag Rogate wird beispielhaft deutlich, wie sich im neuen Wochenliedplan zwei unterschiedliche Lieder ergänzen. Unser Vater bildet als modernes Worship-Lied ein Gegenstück zum zweiten Wochenlied Vater unser im Himmelreich (EG 344) von Martin Luther. Ähnlich bilden die beiden Tageslieder am Pfingstsonntag eine große hymnologische Spannbreite ab. Luthers nach dem Hymnus Veni creator spiritus gedichtetes Pfingstlied Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist (EG 126) steht ein modernes Pfingstlied der Gemeinschaft Emmanuel mit dem Titel Atme in uns, Heiliger Geist gegenüber. Nicht nur der gewaltige zeitliche Abstand, sondern auch die theologische Deutung beider Lieder markiert eine interessante Spannung. Während in EG 126 dem Heiligen Geist eine glaubenweckende Kraft zugeschrieben wird, zielt das Lied Atme in uns, Heiliger Geist auf die Wirkung des Heiligen Geistes im Menschen: der Atem Gottes, der erfüllt und belebt und deshalb von den Menschen voller Sehnsucht herbeigerufen wird. Die Stichworte Heiligkeit, Wahrheit und Liebe (Str. 2) schlie-
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ßen außerdem gut an den „Geist der Wahrheit“ aus der Evangelienlesung aus Joh 14 an. Auch die Herkunft aus einer französischen Gemeinschaft und die Aufnahme ins Gotteslob 2013 (GL2 346) unterstreichen die ökumenische Bedeutung des Liedes und damit eine weitere pfingstliche Dimension. Die lebendige Melodie ist leicht zu erlernen. Sie arbeitet sowohl im Refrain als auch in den Strophen mit motivischen Wiederholungen. Abwärtsquart und Synkope des Refrains unterstreichen dabei die Bitte um das Kommen des Geistes.
Arbeitsprozess des Wochenliedplans Die Vielfalt dieser 32 Lieder deutet bereits darauf hin, dass bei der Erarbeitung des gesamten Wochenliedplans ein verändertes Qualitätsverständnis leitend war. Es wurden jeweils zwei Lieder für alle Sonn- und Feiertage ausgewählt, von denen eines über den Stammteil des EG hinausgehen kann. Dieser Neuansatz allein erklärt aber nicht den großen Sprung bei den zum Gottesdienst vorgeschlagenen Liedern. So wurde von der Arbeitsgruppe bei der Auswahl der Wochenlieder besonders auf die Singbarkeit und die Bekanntheit der Lieder geachtet. Beides ist für die Singenden in den Kirchengemeinden und für den Wochenliedplan insgesamt ein besonders wichtiges Kriterium. Denn auf diese Weise wird das Singen in den Gottesdiensten gestärkt. Auf der anderen Seite ergänzt das Kriterium der leichten Singbarkeit die klassischen Bewertungsmaßstäbe wie Wort-Tonverhältnis, Innovation und Komplexität. Außerdem trat bei der Arbeit am Wochenliedplan als besonders wichtiger Maßstab noch die Konsonanz mit den Lese- und Predigttexten hinzu. Und schließlich sollten bei der Auswahl die Ausgewogenheit der Lied- und Musikepochen sowie die ökumenisch abgestimmten Ö-Lieder verstärkt berücksichtigt werden. An manchen Stellen konnten bei der Arbeit am Wochenliedplan die Kriterien und Auswahlrichtlinien durchaus gegeneinander in Stellung gebracht werden. Am Ende aber ermöglichte das erweiterte Verständnis von Qualität, zu dem auch die leichte Singbarkeit zählte, einen spannenden und richtungsweisenden Prozess, der vor allem in den Gemeinden oft und gern gesungene Lieder in den Blick nahm. Die hier geschilderte Erweiterung der Kriterien bei der Erarbeitung des neuen Wochenliedplans lässt bereits ahnen, wie umfangreich die Arbeit der WochenliedArbeitsgruppe5 war. Sie war vom Gottesdienst- und Kirchenmusikreferat der EKD in Absprache mit der Ständigen Konferenz für Kirchenmusik berufen worden. Als sinnvoll erwies sich, dass nicht nur Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen kirchenmusikalischen Stilrichtungen vertreten waren, sondern auch mit dem Chorverband der Evangelischen Kirche in Deutschland (CEK) und der Michaels 5 Zur Besetzung der WL-Arbeitsgruppe siehe: Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte. Entwurf zur Erprobung im Auftrag von EKD, UEK und VELKD, hrsg. von Christine Jahn, Hannover 2014, 33.
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bruderschaft zwei Institutionen berücksichtigt waren, die in der Vergangenheit bei der Erstellung der Wochenliedpläne jeweils eine wichtige Rolle gespielt hatten. Auch die Liturgische Konferenz in der EKD und die Arbeitsgemeinschaft für ökumenisches Liedgut im deutschen Sprachbereich (AÖL) waren beteiligt. Insgesamt fügen sich die 32 kommentierten Lieder stimmig in das gesamte Kirchenjahr ein. Beginnend mit der Adventszeit finden sich zu fast allen Festen und Festzeiten und auch zu besonderen Gedenktagen Lieder. Viele der Lieder sind darüber hinaus multipel einsetzbar wie beispielsweise Stern über Bethlehem, das sehr gut am Heiligen Abend gesungen werden kann. Oder auch Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, das zu mehreren Kirchenjahreszeiten passt. Am Ende bleibt die Hoffnung, dass diese Publikation die Wertschätzung der über den Stammteil des EG hinausgehenden Wochenlieder nochmals erhöht, sodass die meisten von ihnen noch lange zu den Wochenliedern zählen – auch nach der Herausgabe des gerade in Arbeit befindlichen neuen Evangelischen Gesangbuchs. Stephan Goldschmidt
Kirchenjahr
Stern über Bethlehem (EG.E 1)
Text und Melodie: Alfred Hans Zoller (1928–2006) T / M: 1963 Entstehung: Liturgische Einordnung: Epiphanias
Biographische Anmerkungen Alfred Hans Zoller (1928–2006) war an seinem Geburts- und Sterbeort, dem Stadtteil Reutti in Neu-Ulm, ein halbes Jahrhundert ehrenamtlich in der Kirchenmusik tätig. Nach der Kriegsgefangenschaft und einem aus familiären Gründen abgebrochenen Musikstudium in Erlangen übernahm er zunächst das elterliche Fuhrgeschäft. Seit 1953 war er beruflich als Bote, ab 1968 bis zu seinem Ruhestand als Vertriebsleiter der Ulmer Tageszeitung „Südwestpresse“ tätig. 1954–1984 leitet er die 1868 gegründete Chorgemeinschaft Reutti-Jedelhausen. 1956 wird er Organist und 1960 Kantor der Evangelischen Pfarrkirche bzw. -gemeinde St. Margareta in Reutti, deren Kantorei er 1958 gründet. Weil ihm die neue Kirchenmusik in ihrer populären Gestalt am Herzen liegt, gründet er Anfang der 1960er Jahre den Gospelchor „St. Margret Singers“ mit zeitweilig mehr als 30 Sänger*innen, für den er zahlreiche Neue Geistliche Lieder komponiert.1 Als „Kantor und Organist, Komponist und Jazz-Musiker“2 wirkt er weit über Reutti hinaus. In dem Bemühen um eine erneuerte Kirchenmusik in einer ecclesia semper reformanda wird Zoller von Gerhard Meier-Reutti (1933–2006) unterstützt, der seit 1963 Pfarrer in Reutti ist, bevor er 1991 den Ruf auf die erste Professur für Christliche Publizistik in Erlangen annimmt. Zoller und Meier-Reutti veranstalten in den 1960er und 1970er Jahren in Neu-Ulm „zahlreiche Jugendgottesdienste“3, für die auch eigenes Liedgut komponiert, aufgeführt, eingeübt und gesungen wird.
1 Unter https://www.deutscheslied.com/de/search.cgi?cmd=search&srch_Titel=&srch_Melodie= &srch_Text=Alfred+Hans+Zoller&srch_Tonsatz=&srch_Quelle=&Herausgeber=&Zeitalter=&Melo dyYear=&TextYear= (aufgerufen am 19.9.2022) sind weitere Lieder von ihm zu finden. Vgl. auch Karl Christian Thust: Das Kirchen-Lied der Gegenwart. Kritische Bestandsaufnahme, Würdigung und Situationsbestimmung, Göttingen 1976, 865, wo Zoller im Personenregister über 30mal mit verschiedenen Liedern aufgeführt wird. 2 Frank Raberg: Biografisches Lexikon für Ulm und Neu-Ulm 1802–2009, Ulm 2010, 489. 3 Joachim Scherf: Zoller, Alfred Hans, in: Ders.: 200 x nachgefragt – Lebensläufe deutschsprachiger Lyriker, Norderstedt 2021, 105.
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Ilse Junkermann / Harald Schroeter-Wittke
Historische Verortung und Rezeption Zoller gewinnt 1963 mit seinem Lied „Lass uns spüren“ den 3. Preis beim 2. Wettbewerb der Ev. Akademie Tutzing für neue religiöse Lieder, dessen erster Preisträger 1961 „Danke“ war. Stern über Bethlehem entsteht 1963 für das 3. Tutzinger Preisausschreiben4 und wird letztendlich das bekannteste Lied aus der Feder Zollers, das Eingang findet in viele Regionalteile des Evangelischen Gesangbuchs. Lothar Graap (*1933) hat dazu „Thema und sechs Variationen“5 komponiert. Auch in die Katholische Kirche findet es seinen Weg, insbesondere durch die Sternsinger, sowie weit über Deutschland hinaus. „Von den USA über Finnland bis nach Neuseeland wird es bekannt und damit eines der international populärsten neuen kirchlichen Weihnachtslieder.“6 Selbst in der säkularen Popmusik hat Stern über Bethlehem 2004 mit dem Song und dem Video „She“7 der deutschen Hands-up and Dance-Pop-Band „Groove Coverage“ eine bemerkenswerte Cover-Version evoziert.
Zum Text Text und Melodie stammen aus einer Feder und sind daher besonders stimmig aufeinander bezogen. In beiden geht es um Bewegung und um Innehalten, um Aufdem-Weg-Sein und um Staunen, um Auszug und Heimkehr. Der Text mit vierzeiligen Strophen und zweizeiliger Reimform, jeweils mit einem Doppelreim, ist einfach und klar und bedient sich sehr elementarer und volkstümlicher Bilder. Der Stern über Bethlehem beherrscht jede Strophe. Er zeigt den Weg, er bleibt stehen, sobald wir am Ziel sind, und wenn wir zurückkehren, haben wir noch sein Leuchten vor Augen. In jeder Strophe beginnt die erste und die letzte Zeile mit Stern über Bethlehem. Dieser Stern ist der Motor für das Gehen wie für das Verweilen und anschlussfähig für viele Geschichten, Überlegungen und (Welt-) Anschauungen zu Sternen überhaupt. So steht der Stern über Bethlehem im Mittelpunkt und führt und lenkt alles mit fast magischer Kraft. Gleichzeitig begegnet in jeder Strophe ein Wir, die Gemeinschaft derjenigen, die sich von diesem Stern leiten lassen. Es geht nicht um den individuellen Weg zum Stern, sondern darum, sich von ihm als Gemeinschaft auf einen Weg mitnehmen zu lassen, der uns verwandelt wieder nach Hause zurückkehren lässt. Das durchgehende Metrum ist ein Daktylus (betont – unbetont – unbetont), was eine lebhaft-tänzerische Bewegung in Gang setzt. Das Metrum steht für Bewegung – 4 So Martin Rößler: Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte in Lebensbildern, Stuttgart 2001, 986. 5 Lothar Graap: Ausgewählte Werke für Orgel, Band 3: Orgel manualiter, Köln 2020, 86–88. 6 Raberg, Lexikon, 490. 7 https://www.youtube.com/watch?v=XQ1v9ZCcJvg (abgerufen am 6.12.22).
Stern über Bethlehem (EG.E 1)
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und um Bewegung geht es in diesem Lied: sich vom Stern und seinem Leuchten auf den Weg zur Krippe, zum Kind leiten lassen (Str. 1) – und wieder zurück (Str. 4). In den Strophen 2 und 3 steht das Verweilen im Zentrum: nun bleibst du steh’n (Str. 2) – wir sind am Ziel (Str. 3). Insbesondere die männliche Kadenz (betonte letzte Silbe), die letzten Worte der vier Zeilen der 2. Strophe machen dieses Innehalten deutlich: steh’n, seh’n, gedacht, Nacht. Hier geschieht das Wunder, was niemand gedacht (Str. 2), hier ist Armut und Fülle zugleich, denn dieser arme Stall birgt doch so viel (Str. 3). So steht das Wunder in der Mitte zwischen Bewegung und Verweilen als Zielpunkt des Weges, den der Stern führt. Aber es bleibt nicht beim Stehenbleiben und Staunen. Vielmehr setzt das Staunen neu in Bewegung. Die Freude über das Wunder von Bethlehem, über das Kind in der Krippe, führt zum Teilen – weiterhin beschienen vom hellen Schein des Sterns, der nun über den Zurückgekehrten steht. So ist das Ziel von Bewegung gerahmt: dem Hinweg und dem Rückweg zu und von einem Wunder, das innehalten und Freude schöpfen lässt. Auch rhythmisch ist das Zusammenspiel von Text und Melodie bestechend. Der 2. Takt jeder Zeile ist in allen vier Strophen um anderthalb Metrumszeiten kürzer als der jeweilige 1. Takt. Damit ergibt sich bereits im Rhythmus der Sprache eine Synkope, die zudem dadurch bedingt ist, dass auf die vorgezogene (und dadurch unbetonte) letzte Note jeder Zeile durchweg ein akzentuiertes Wort gesetzt ist, das zumeist ein Schlüsselwort darstellt: Str. 1: Weg – steht / sind – Kind Str. 2: stehn – sehn / gedacht – Nacht Str. 3: Ziel – viel / dir – hier Str. 4: zurück – Blick / aus – zu Haus
Ursprünglich gab es noch eine weitere Strophe, die sich unmittelbar an Strophe 1 anschloss: Stern über Bethlehem, bleibe nicht stehn. Du sollst den steilen Pfad vor uns hergehn. Führ uns zum Stall und zu Esel und Rind. Stern über Bethlehem, führ uns zum Kind.
Diese Strophe konnte sich aber nicht durchsetzen, weil sie zum einen das führ uns zum Kind verdoppelt. Zum anderen führt sie mit Esel und Rind unvermittelt jesajanische und nicht matthäische Bilder ein, und dies auch noch verfremdet, weil es ja Ochs und Esel und nicht Esel und Rind sind, die es von Jes 1,3 her an unsere Krippen geschafft haben. Schließlich ist die Vier-Strophen-Fassung auch von ihrer Gesamtbewegung und -dramaturgie her deutlich klarer: eine Strophe Bitte um Führung und Hinführung, zwei Strophen Innehalten am wunderbaren Heilsort und wiederum eine Strophe Rückkehr mit dem Zielpunkt zu Haus (Str. 4). Das Lied reizt zu weiteren Strophen für diejenigen, die wieder zu Hause angekommen sind. So existieren z. B. drei Anschlussstrophen der Journalistin und Direk-
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Ilse Junkermann / Harald Schroeter-Wittke
torin der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen, Dr. Angela T. M. Reinders (*1965): 5. Stern über Bethlehem, wir sind zu Haus. Du scheinst zu uns herein, sendest uns aus. Wir hörn des Engels Wort, sagen es gern: Vom großen Gott im Kind kündest du, Stern. 6. Stern über Bethlehem, der kleinen Stadt, die nach Prophetenwort Größe jetzt hat. Seit Jesus Christ gebor’n, ist jeder Ort, klein auch und unscheinbar, der Liebe Hort. 7. Stern über Bethlehem, schein uns ins Herz, mach auch das Leben hell denen im Schmerz, denen, die heimatlos, traurig, allein: Lass uns ein Strahlenstrahl für andre sein.8
Zur Melodie Der Rhythmus des Liedes erwächst aus dem Rhythmus der Sprache. Die Synkope am Ende jedes zweiten Taktes wird überhaupt nicht als solche wahrgenommen, weil sie sich durch das betonte Wort von selbst ergibt. Sie ist aber musikalisch entscheidend für die Atmosphäre dieses Liedes, für das Tänzerische, die Aufbruchsstimmung, den zuversichtlichen Blick himmelwärts. Als Melodiematerial hat Zoller die pentatonische Tonleiter ausgewählt, die aufgrund ihrer elementaren Kraft in Kinderliedern und in den Volksmusiken weltweit verwendet wird, aber auch für Blues und Jazz grundlegend ist. Ihr Kennzeichen ist das Fehlen von Halbtönen, was einen schwebenden und offenen Charakter ergibt und das Tänzerische verstärkt. Stern über Bethlehem eignet sich musikalisch besonders gut für generationenübergreifendes Singen. Das melodische Material wird äußerst ökonomisch eingesetzt. Von der Melodie der 1. Zeile wird in der 2. Zeile nur der letzte Ton geändert. In der 4. und letzten Zeile bilden die veränderten Schlusstöne eine einfache Kadenz. Die 3. Zeile mit ihrer abwärts gehenden Tonleiter sorgt in der aa’ba’’-Strophenform für den notwendigen Kontrast, der das Lied in Bewegung hält. So nehmen die Zeilen 1, 2 und 4 jeweils denselben Anlauf und be- und vertonen damit Gemeinschaft. Gleichzeitig führen sie aber jeweils zu einem überraschenden Zeilenende auf einem jeweils anderen Schlusston, wobei der Grundton erst in der 4. Zeile erreicht wird. Die anderen bleiben in der Schwebe (2. und 5. Stufe). So stehen die Zeilen 1, 2 und 8 Abgedruckt in mehreren Gemeindepfarrbriefen (abgerufen am 7.12.2022): https://bistummainz. de/export/sites/bistum/pfarrgruppe/reinheim/.galleries/downloads/Januar-2021.pdf; oder http://kirche- boetzow.de/wp-content/uploads/Gemeindebrief-Dez21-Jan-Febr22.pdf.
Stern über Bethlehem (EG.E 1)
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4 für die drei Magier, die jeweils ihren eigenen individuellen Abgesang finden. Auch musikalisch zeigt sich: Der Stern über Bethlehem ist der Leit-Stern für eine Gemeinschaft, die sich unter diesem Stern zusammenfindet und einen gemeinsamen Weg geht, die aber nicht uniformiert durch die Welt marschiert, sondern die individuellen Töne ihrer Mitglieder zum Klingen bringt.
Zur liturgischen Situation Das Lied bezieht sich ausschließlich auf die matthäische Weihnachtsgeschichte und ist daher bestens für das Epiphaniasfest geeignet, bei dem die Magier aus dem Osten mit ihren Stern- und Weg-Erfahrungen im Zentrum stehen. Auch wenn das Lied zu Haus endet, besingt es doch zuallererst den weihnachtlichen Aufbruch hinaus an diesen anderen, fremden Ort der Krippe (Str. 1), an den Ort des Wunders der Weihnacht (Str. 2), an den Ort der Fülle in der Armut (Str. 3), an den Ort des hellen Scheins in unserm Blick (Str. 4), der uns befähigt zu teilen. Es ist diese Bewegung hinaus und dann wieder nach Haus, der das Lied für die Segen bringende Tradition des Sternsingens prädestiniert. Am Ende der Weihnachtszeit, wie sie heute erlebt wird, vollzieht dieses Epiphanias-Lied exemplarisch, was nun wieder ansteht: Aufbrechen in ein Neues Jahr, zu einem Gottesdienst im Alltag der Welt. Ilse Junkermann / Harald Schroeter-Wittke
Menschen gehen zu Gott (EG.E 2)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) Dieter Schnebel (1930–2018) T: 1944 M: 1993 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar)
Mit einem Bleistift auf Papier geworfene, schwer lesbare deutsche Schrift, voller Streichungen und Ersetzungen, besonders in der 2. Strophe – so zeigt sich das erhaltene Entwurfsskript vom Juli 1944.1 Als das Gedicht Christen und Heiden entsteht, wird sein Autor seit mehr als einem Jahr in der Haftanstalt Tegel gefangen gehalten. Die Überschrift fand Bonhoeffer selbst. Das Lied greift die 1. Zeile Menschen gehen zu Gott als Titel auf. Christen und Heiden ist eines von zehn Gedichten, die aus dieser Zeit der endgültigen Freiheitsberaubung stammen. Sie nehmen theologische und persönliche Gedanken in poetischer Form auf, deren Glaubensstärke und Tiefe, deren Verletzlichkeit und kunstvolle Schlichtheit uns heute noch berühren. Bonhoeffers letztes Lebensjahr verdichtet seine theologischen Gedanken, künstlerischen Begabun gen und seinen tief verwurzelten Glauben. Im Wissen um seinen Tod, wiederum ein knappes Jahr später, am 9. April 1945, erscheinen die Dichtungen als sprechende Zeugnisse einer theologisch neu durchdachten Menschlichkeit inmitten einer Epoche barbarischer Unmenschlichkeit. Es liegt nahe, eine Vertonung genau dieses Gedichtes für den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus vorzusehen. In der unübersehbaren Fülle der Rezeptionsliteratur und Biografien2 von Dietrich Bonhoeffer spielen die Gefängnisgedichte eine zwar nicht vollständig übersehene, aber doch untergeordnete Rolle. Als wären sie schmückende Beigaben, die der mehrfach Hochbegabte zusätzlich einzusetzen weiß. Das steht erstens im Widerspruch zu seinen eigenen Zeugnissen, aber auch zur Rezeptionsgeschichte seiner Theologie. Die erste Publikation, die Bonhoeffer im Nachkriegsdeutschland bekannt machte, war ein schmaler Band unter dem Titel: „Auf dem Weg zur Freiheit. Gedichte aus
1 Vgl. Abdruck des Faksimiles bei Jürgen Henkys: Dietrich Bonhoeffers Gefängnisgedichte. Beiträge zu ihrer Interpretation, München 1986, 65 f. Die Reinschrift Bonhoeffers ist auf dem Buchcover abgebildet. 2 Vgl. zuletzt Wolfgang Huber: Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Porträt, München 2019.
Menschen gehen zu Gott (EG.E 2)
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Tegel“ und erschien 1946.3 Von den Gedichten und ihren Vertonungen aus erschlossen sich die Gedanken und theologischen Neuverortungen des Geistlichen und Widerständlers einem breiten Publikum. Zweitens spricht aus den eigenen Zeugnissen Bonhoeffers, den parallel entstandenen Briefen und kurzen Texten aus der Haftanstalt Tegel die Gleichwertigkeit von Dichtung und Reflexion: „Im übrigen schreibe und dichte ich, soweit die Kräfte reichen“, lässt er im Sommer 1944 wissen.4 Die Grenzen zwischen Schreiben und Dichten verschwimmen zusehends, das Dichten ist dem Schreiben zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar eine höhere Stufe im Prozess der Neudefinition des christlichen Glaubens. Das Verstehen und Interpretieren der Dichtungen gelingt nur in der synchronen Lektüre mit den Briefen. Aus dem Gefängnis geschmuggelt, sind sie an Familie und Freunde gerichtet. Im schriftlichen Austausch mit Eberhard Bethge (1909–2000), dem engsten Wegbegleiter Bonhoeffers und ersten Biografen, wird die Verwobenheit von Theologie und Poesie sichtbar und nachvollziehbar. Bonhoeffers Umgang mit Kirchenliedern war intensiv. Wir können sicher sein, dass er insbesondere die Lieder von Paul Gerhardt weitgehend auswendig kannte und dass sie unbedingter Teil seiner praxis pietatis waren. In jüngeren Jahren urteilte er scharf über den Verfall des Kirchenliedes, das sich besonders im 19. Jahrhundert zu frommer Poesie entwickelt hatte, wo doch die Reformationslieder „gepredigtes Wort“ seien. Das hinderte ihn nicht, bei der Ausbildung der Vikare in Finkenwalde auch hin und wieder auf Liedgut zurückzugreifen, das eindeutig in die Schublade frommer Poesie gehörte und im brandenburgisch-pommerschen Gesangbuch unter den „Geistlichen Volksliedern“ zu finden war. Die Gedichte aus der Haft sind ausdrücklich keine Kirchenlieder. Sie erschließen vielmehr poetisch das theologische Neuland des religionskritischen Christentums. Aber ihre Texte und Vertonungen fügen der Klang- und Sprachwelt des Gesangbuchs einen neuen Akzent hinzu, der sich vor allem der Kategorie frommer Poesie entzieht. Die württembergische Gesangbuchkommission beauftragte Dieter Schnebel mit einer Komposition zum Gedicht „Christen und Heiden“, die 1993 entstand. Schnebel fängt den theologischen Bogen vollständig ein, den Bonhoeffer mit diesem Bekenntnislied spannt. Der 1930 geborene und 2018 verstorbene Theologe und Musikwissenschaftler Schnebel lehrte mehrere Jahrzehnte Experimentelle Musik an der Hochschule der Künste Berlin. Zur Zeit der Beauftragung für die Bonhoeffer-Vertonung lag bereits
3 Dietrich Bonhoeffer: Auf dem Weg zur Freiheit. Gedichte aus Tegel, hg. von Eberhard Bethge, Berlin 1946. 4 Zitat aus „Widerstand und Ergebung“, hier zit. nach Jürgen Henkys, Gefängnisgedichte (Anm. 1), 29.
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eine Reihe kirchenmusikalischer Werke vor, wie die Dahlemer Messe, das Magnificat oder die Missa Brevis, aber auch Bearbeitungen von Bach-Chorälen und Orgelwerken.5 Reflexionen Schnebels über sein Dasein als Theologe und experimenteller Komponist weisen interessante Berührungspunkte zu Dietrich Bonhoeffers theologischen Grenzüberschreitungen auf, etwa wenn er schreibt, „dass eine Abgrenzung des Sakralen vom Profanen theologisch nicht begründet werden könne“, und er dagegen „einen universalen Begriff des Heiligen (vertritt), der die Grenze zum Profanen gerade aufhebt und das alltägliche Leben durchdringt“6. In einer solchen Grenzaufhebung spiegelt sich die theologische Erkenntnis, die Bonhoeffer im Umfeld des Gedichtes Christen und Heiden erarbeitet. Glauben gelingt nur in der „vollen Diesseitigkeit“, im radikalen Loslassen aller frommen Poesie und naiven Gottesvorstellung. Nur „in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten“ entsteht ein Glauben, der „das Leiden Gottes in der Welt ernst nimmt“ und „mit Christus in Gethsemane wacht“, wie es im so eindringlichen wie einschlägigen Brief an Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944, einen Tag nach dem missglückten Attentat auf Hitler, heißt. Und weiter: „Wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Mißerfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet?“7 Erst von diesen Briefzeilen aus erschließt sich der volle Sinn des ganzen Textes von Christen und Heiden. Schnebels Melodie traut der singenden Gemeinde einiges zu, denn sie muss variabel bleiben. Das Metrum ist über die drei Strophen des Gedichtes hinweg nicht symmetrisch. Wer dieses Lied singen möchte, sollte wach sein – und so ist es wohl auch gemeint. Die Moll-Melodie8 folgt den vier Zeilen jeder Strophe. Mit jeder Zeile steigt sie weiter auf und erweitert den Ambitus von der Quarte über den Tritonus bis zur Quinte, um in der 3. Zeile mit der None den Höhepunkt zu erreichen. Die 4. Zeile durchschreitet nach und nach den Oktavraum abwärts zum Grundton. Der Rhythmus ist einfach und auf zwei Notenwerte beschränkt, wechselt aber in den Strophen. So entsteht eher eine Deklamation als ein klassisches Strophenlied. Jede Strophe weitet die Möglichkeiten etwas weiter aus, wobei gerade die Abweichungen den inhaltlichen Fortgang durch Noten- und Rhythmusänderungen bzw. eingefügte Pausen markieren. Die 3. Strophe endet mit immer längeren Ligaturen – ihnen beiden. Ein
5 Dieter Schnebel: Verzeichnis der veröffentlichten Werke. Catalogue of Published Works, Mainz 2011. 6 Johannes Picht, Dieter Schnebel und die Psychoanalyse, in: Musik & Ästhetik 62 (2012), 5–17, zit. nach https://dpg-psa.de/laudatio-fuer-dieter-schnebel.html (abgerufen am 1.10.2022). 7 Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, München 141990, 195. 8 Dieser Absatz wurde von Beate Besser verfasst.
Menschen gehen zu Gott (EG.E 2)
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Hauch Avantgarde schimmert durch den Text hindurch. So entsteht eine musikalisch adäquate Umsetzung des Gedichtes.9 Die drei Strophen zu vier Zeilen gestalten dichterisch – und von Schnebel auch harmonisch umgesetzt –, was theologisch nachzuvollziehen ist: Differenz und Aufhebung der Differenz zwischen Christen und Heiden im Kreuzestod Jesu Christi. Der Begriff des Heiden fällt auf und ist heute interpretationsbedürftig. Für Bonhoeffer ging es weniger um Atheisten und Kirchenferne, sondern um alle, denen der Glauben eine schickliche Übung, eine bürgerliche Tugend ist, eine schlichte ‚Religion‘. Der Christusglaube hingegen hebt sich ab von diesem Religionsverständnis. Die beiden Anfangszeilen der 1. und 2. Strophe zeigen in kongenialer Schlichtheit genau jene Unterscheidung des Christusglaubens von einer oberflächlichen Religiosität: Menschen gehen zu Gott in ihrer Not. Menschen gehen zu Gott in seiner Not.
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not. Nichts Besonderes also, Stoßgebete werden zum Himmel geschickt gemäß der Volksweisheit, dass die Not das Beten lehrt. Wenn es auch nicht hilft, so schadet es auch nicht – so heißt es landläufig. Ist das Religion? Glauben ist es jedenfalls nicht. Alle Menschen, unterschiedslos, machen sich ihre Bilder von Gott. Das doppelte alle, alle in der letzten Zeile der 1. Strophe ist metrisch nicht nötig. Es verstärkt aber den Gedanken einer diffusen Sehnsucht nach Rettung aus schweren Nöten. Menschen gehen zu Gott in seiner Not. Das nun ist die ernste Umkehr. Der Glauben an Christus in einer gottesfernen Welt kann nur darin bestehen, sich der Passion Gottes ganz zuzuwenden. Dort, und nur dort, ist der Glauben bei sich selbst, sind die Glaubenden bei Christus. Die letzte Zeile Christen (!) stehen bei Gott in seinem Leiden greift auf biblische Kernaussagen zurück. Das Stehen unter dem Kreuz aus der Passionsgeschichte griff Paul Gerhardt in der 6. Strophe des Passionsliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“ auf, dessen Text durch die Einfügung in die Bach’sche Matthäus-Passion bis heute geläufig ist. „Ich will hier bei dir stehen, / verachte mich doch nicht; / von dir will ich nicht gehen, / wenn dir dein Herze bricht.“ Das Bonhoeffersche Stehen bei Gott in seinem Leiden ist das unmittelbare Stehen unter dem Kreuz, das Bleiben, das Hinsehen, das Mitleiden an den Leiden Gottes in einer Welt, in der Gott faktisch nicht mehr vorhanden ist. Was im Brief vom 21. Juli 1944 in einem langen Satz mitgeteilt wird, fokussiert hier ein einziger Vers. Wer in einer Welt, die Gott weder braucht noch vermisst, bei Gott bleibt, mit Gott unter der Gottesferne leidet, ist – ein Mensch, ein Christ, eine Christin.
9 Vgl. Johannes Picht: „Fortschritt der Tradition“, in https://dpg-psa.de/laudatio-fuer-dieterschnebel.html (abgerufen am 1.10.2022).
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Ellen Ueberschär
Die 2. Strophe vertieft den Graben zwischen den an Christus Glaubenden und denen, die einer diffusen Religiosität zuneigen. Die 3. Strophe hingegen verändert diese Bewegung. Das Erlösungshandeln Christi – stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod – kommt unterschiedslos beiden zugute. In einer früheren Fassung hatte Bonhoeffer auch so formuliert: „stirbt Christen und Heiden zugut den Kreuzestod“.10 Und vergibt ihnen beiden. Wie ein Schlussstein fügt das letzte Wort beiden das Gedicht zusammen. Die Überschrift ergibt sich wie von selbst. Es geht nicht um Christen oder Heiden oder Christen gegen Heiden, sondern es geht um Christen und Heiden. Es geht um beide. Beide sind verbunden durch Gottes Bewegung in die Welt hinein, unterschiedslos Adressaten göttlicher Gnade. Die Gottabgewandtheit der Welt und die Weltzugewandtheit Gottes bilden eine unauflösliche Spannung in der Moderne. Die Bonhoeffer’sche Degradierung von Religion als einer Art gedankenloser Gewohnheit erscheint uns heute etwas befremdlich. Aber die Spannung, in der sich Christsein auch im 21. Jahrhundert vollzieht, ist scharf beschrieben. Jede einzelne Christin, jeder Fromme und die Kirche selbst dürfen sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gott für viele Mitmenschen lediglich eine „Arbeitshypothese“11 ist. Was Christinnen und Christen aus Glauben tun, ist für andere Ausdruck schlichter Humanität. Ja, Christen und Heiden ist ein Passionslied, aber in Bonhoeffers theologischem Denken ist immer Passionszeit. Gottes Leiden in der Welt ist nicht zu Ende, es ist allgegenwärtig, es hört nicht auf, es braucht den Beistand von Menschen, die nicht weggehen, sondern hinsehen, die sich „Gott in die Arme werfen“12 und „dem Rad in die Speichen“13 greifen. Gott im Antlitz jedes Menschen zu erkennen, der unter Folter, Krieg, Klimakrise, seelischer und körperlicher Not leidet, ist eine theologische Kunst und eine ethische Herausforderung. Wenn das jedoch unterbleibt, wenn die christliche Gemeinde sich selbst genug ist, wenn sie Gott zum Unterhaltungsgegenstand und zu einem nice-to-have macht, dann bleibt das Leiden Gottes unbemerkt. Dann ist der Garten in Gethsemane eine Schlafstatt, dann steht niemand Gott bei in seinem Leiden. Das ist die Radikalität der Bonhoeffer’schen Theologie für eine mündige Welt, die Gott nicht braucht, wohl aber tiefe Christlichkeit und schlichte Menschlichkeit. Ellen Ueberschär
10 Vgl. Jürgen Henkys, Gefängnisgedichte (Anm. 1), 62. 11 Vgl. Brief vom 16.7.1944, in: Widerstand und Ergebung (Anm. 7), 191. 12 Vgl. Brief vom 21.7.1944, in: Widerstand und Ergebung (Anm. 7), 195. 13 Dietrich Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage, in: Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW 12): Berlin 1932–1933, Gütersloh 1997, 349–358.
Wir gehn hinauf nach Jerusalem (EG.E 3)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Karl-Ludwig Voss (1940–2018) Nordische Volksweise aus dem 17. Jh. T / M: 1970 Se, vi går upp till Jerusalem (1906) T: Paul Nilsson (1866–1951) Estomihi
Zum Text Dieses Passionslied setzt mit einem biblischen Zitat ein, der dritten Leidensankündigung Jesu (Mt 20,18 / Lk 18,31). Jesus fordert die Jünger auf, mit ihm zum Ort seines Leidens zu ziehen. Das „Wir“ bildet das Scharnier zwischen der Passionserzählung und der Gegenwart der Singenden, die sich so in das Geschehen hineinversetzen, vergleichbar vielleicht mit der meditierenden Betrachtung eines Altarbildes, auf dem verschiedene Szenen der Passionserzählungen abgebildet sind. Die vergangene Geschichte findet Ort und Raum im Heute, wird aktuelle und wirksame Gegenwart. Durch alle Strophen hindurch ziehen sich denn auch Begriffe, die mit Örtlichkeit zu tun haben: gehen, Platz, bleiben, treiben, stehen, Stätte, da. Die vier Strophen sind zu einer Reihe verbunden durch das eröffnende Zitat, das am Anfang jeder Strophe steht. Zu dieser leitenden biblischen Assoziation treten weitere: Die Wendung wie einer für alle stirbt (Str. 1) zitiert den Ausspruch des Hohenpriesters Kajafas (Joh 18,14), der damit ungewollt die heilsgeschichtliche Deutung des Todes Jesu geliefert hat. Aus den johanneischen Abschiedsreden stammt der Schluss der 1. Strophe: einen Platz zu bereiten ist Jesu Ankündigung zu Beginn dieser Reden (Joh 14,2.3). Auf die Gethsemane-Szene verweist die 2. Strophe: Die Wörter bleiben und Kelch lassen die letzte Nacht Jesu gegenwärtig werden. Schließlich ist unter dem Kreuz (Str. 3) ein Hinweis auf die Kreuzigungsszene im Johannesevangelium, wo der Jünger Johannes und die Mutter Jesu unter dem Kreuz stehen. Interessant ist die Wendung in der letzten Strophe. Mit der 2. Zeile, zur Stätte der ew’gen Klarheit, ist Jerusalem auf einmal nicht mehr Schauplatz des Leidens und Sterbens Jesu, sondern die ewige Stadt, der strahlende Sehnsuchtsort der Endzeitvorstellungen in der Johannes-Offenbarung. Die Strophe wendet sich dann aber zurück zu Leiden und Ohmacht. Christus ist uns in den Leidenden, in den Armen und Geringen gegenwärtig, wie es das Gleichnis vom Weltgericht beschreibt (Mt 25,45).
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Andreas Marti
Der Liedtext ist eine Übertragung aus dem Schwedischen, wo er mit „Se, vi går upp till Jerusalem“ beginnt. Diese Vorlage stammt vom schwedischen Pfarrer Paul Nilsson (1866–1951), gedichtet 1906, die Übertragung von Karl-Ludwig Voss (1940–2018). Dieser absolvierte einen Teil seines Theologiestudiums in Lund (Schweden) und versah seine erste Pfarrstelle im südschwedischen Helsingborg. Der Text entstand 1970 und wurde in den hessischen Regionalteil des Evangelischen Gesangbuchs aufgenommen (1994). Der Vergleich von Vorlage und Übertragung zeigt einige bemerkenswerte Befunde, inhaltlich und formal. So fehlt die erwähnte Rückwendung der letzten Strophe zur Passion im schwedischen Original, dafür ist dort klar, wie das Opfer zu verstehen ist, nämlich als Opfer für die Schuld der Welt, während das Opfer der Welt im deutschen Text eigentlich unverständlich bleibt – eine Ungeschicklichkeit von der Art, wie sie bei Übertragungen aus einer anderen Sprache leider immer wieder vorkommen. Formal ist, was den Aufbau des ganzen Gedichts betrifft, der deutsche Text konsequenter als seine Vorlage. Die Akzent- und Silbenordnung geht nämlich von der Anzahl der Akzente pro Zeile aus: 4 – 3 – 4 – 3. Dazwischen stehen manchmal eine, manchmal zwei unbetonte Silben, so dass sich die Silbenordnung 9 – 8 – 10 – 9 ergibt. Diese Verteilung ist in allen deutschen Strophen gleich, während sie im schwedischen Text in den Strophen teilweise unterschiedlich ist und einige Bindungen von Melodietönen verursacht. Eine zweite Stärkung der Form liegt in der Ordnung der Sprachklänge. Gereimt sind in beiden Fassungen nur die 2. und 4. Zeile. Während die 1. und 3. Zeile im schwedischen Text keine klangliche Beziehung haben, stimmen sie im deutschen Text in den Strophen 2 bis 4 im letzten Vokal „e“ überein, in der 1. sind es mit „e“ und „i“ immerhin zwei helle Vokale. Eine formale Unebenheit erzeugt die deutsche Fassung zu Beginn. Der schwedische Text beginnt mit einer klaren Betonung: „Se, vi går upp…“ und damit einer daktylischen Silbenordnung. Die Melodie ist demnach konsequent im 6/4-Takt zu verstehen, auf einer betonten Note einsetzend. Der deutsche Text tendiert dagegen zur Akzentuierung der zweiten Silbe: Wir gehn hinauf … Damit hätten wir eine ähnliche Situation wie beispielweise bei Wer nur den lieben Gott lässt walten, wo ein Wechsel zwischen 3/2- und 6/4-Takt den Melodierhythmus bestimmt. Dieser Wechsel ist in der Fortsetzung unserer Melodie jedoch nicht vorhanden, sodass der Anfang in der Überlagerung von Text und Melodie rhythmisch uneindeutig wird. Die erste wirkliche Betonung fällt auf die vierte Silbe hin-auf, während der schwedische Text gleich mit einem starken Akzent auf der ersten Silbe einsetzt, der Aufforderung „Se“ – „Siehe“. Diesen Appellcharakter hat der deutsche Text abgelegt, er wirkt beschreibend, betrachtend, distanzierter.
Wir gehn hinauf nach Jerusalem (EG.E 3)
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Zur Melodie Über die Herkunft der Melodie ist wenig bekannt. Sie wird als „Volksweise“ bezeichnet, was allerdings nicht viel weiterhilft – so oder so hat sie einmal jemand komponiert, dessen Namen und Lebensumstände wir nicht kennen. Laut den Angaben im schwedischen Gesangbuch1 findet sich die Melodie in einem Psalter des frühen 17. Jahrhunderts, 1627 gemäß Angaben im Gesangbuch, 1623 laut dem Eintrag im norwegischen Lexikon.2 Auf das Volkslied als Gattung im weitesten Sinne verweist der kleine Tonumfang. Nur gerade mit dem Beginn der 1. und mit dem Schluss der 3. Zeile wird die Quinte unterschritten, welche die (Moll-) Tonart definiert. Auch die offensichtlichen und dichten inneren Korrespondenzen weisen in diese Richtung: Auffallend ist die Parallelität der Zeilenenden 1 und 3 sowie 2 und 4, die eine Art musikalischen Kreuzreim ergibt. In beiden Zeilenpaaren schließt die jeweils zweite Zeile einen Ton tiefer als die erste. Häufig kommen Tonwiederholungen vor, identisch in den Zeilen 2 und 3 zu Beginn, nach unten versetzt in Zeile 4, weiter hinten im Verlauf in Zeile 1. Tonwiederholungen stehen an allen Zeilenschlüssen – dritt- und zweitletzter Ton in den Zeilen 1 und 3, die letzten beiden Töne in den Zeilen 2 und 4. Volksliedmäßig mutet auch das Pendeln zwischen Grund- und Quinttonart an, wenn man eine möglichst schlichte Harmonisierung zugrunde legt und nicht die etwas erzwungen farbige im EG. E. Zeile 1 kehrt in die Grundtonart zurück, Zeile 2 geht zur Quinttonart. Eine Sonderstellung hat Zeile 3: Nimmt man den Melodieton am Schluss zugleich als Grundton, kommt man auf die Quinttonart der Dur-Parallele – eine nicht ganz alltägliche Wendung, die aber dadurch vorbereitet ist, dass der mittlere Takt der Zeile (a-fis-g) im Grunde einen Akkordwechsel verlangt und damit sowohl den gleichmäßigen Ablauf der Harmonik als auch die Korrespondenz mit der vorhergehenden Zeile bricht. Die Abfolge der Zeilenschlüsse ist nicht völlig außergewöhnlich, schafft auch bei entsprechend klarer Begleitung kein Hindernis beim Erlernen der Melodie, verschafft ihr aber ein individuelles Gesicht jenseits von platten Entsprechungen. Die liturgische Einordnung des Liedes vor der eigentlichen Passionszeit entspricht der assoziierten biblischen Szene, in welcher der Weg auf die Passion hin beginnt. Die Deutung der Passion selbst, bekanntlich eine theologische Crux schon seit den frühesten Zeiten, wird in verschiedenen Stichworten mehr angedeutet als ausgeführt. So bleibt das Lied offen und öffnet das liturgische Jahr auf die kommende Zeit hin. Andreas Marti
1 Den Svenska Psalmboken, Stockholm 1986, Nr. 135. 2 Art. Anders Christenssen Arrebo, in: Store Norsk Lexikon. https://snl.no/Anders_Christenss% C3 %B8n_Arrebo (abgerufen 17.9.2022).
In einer fernen Zeit (EG.E 4)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Otmar Schulz (*1938) Andreas Brunion (*1961) T / M: 2010 Karfreitag
Biographische Bemerkungen zu Lieddichter und Komponist Ein herausragendes Passionslied ist dieses scheinbar so unprätentiöse In einer fernen Zeit. Herausragend in Text und Melodie. Für beide ist es eine Herausforderung, ein neues Passionslied zu schreiben, für Otmar Schulz, den Lieddichter, und für Andreas Brunion, den Komponisten. Otmar Schulz ist Jahrgang 1938. Er ist eine Dreifachbegabung. Er arbeitet als Pastor, Publizist und ist kontinuierlich kirchenmusikalisch aktiv. Bereits als Jugendlicher beginnt er zu komponieren, legt mit 18 Jahren eine Chorleiterprüfung ab und schreibt und übersetzt seitdem Liedtexte. Wie Andreas Brunion stammt auch er aus dem freikirchlichen Kontext und wird erst später Mitglied einer Landeskirche.1 1970–1979 wirkt Schulz als Studienleiter an der Evangelischen Akademie Arnoldshain im Taunus, wird später Direktor des Evangelischen Informationszentrums und Hörfunk- und Fernsehbeauftragter in Kassel. Er ist Vorstandsmitglied des epd, arbeitet als gelernter Journalist für Hörfunk und Print und ab 1995 für die Evangelischlutherische Landeskirche Hannovers, in der er zum Beauftragten für publizistische Aus- und Fortbildung berufen wird. Publizistik wird und ist seine Lebensaufgabe. 2002 promoviert Schulz mit einer Arbeit über Robert Geisendörfer und die Entwicklung der evangelischen Publizistik seit dem 2. Weltkrieg an der Universität Erlangen zum Doktor der Theologie. Schulz lebt in Papenhorst (Nienhagen) bei Celle. Einige seiner Lieder sind im Evangelischen Gesangbuch vertreten. So entsteht 1967 die erste Fassung des Liedes „Herr, du hast darum gebetet“, 1971 die Neufassung des Textes (EG 267). 1972 übersetzt er zusammen mit Sabine Leonhardt das englische Kirchenlied „Christus, das Licht der Welt“ (EG 410) nach einer Vorlage von Frederick Pratt Green (1903–2000). Noch bekannter sind die beiden Lieder „Du hast mich, Herr, zu dir gerufen“ aus den Jahren 1974/1978 (EG 210) und die
1 Diese Informationen verdanke ich zum einen direkten Telefonaten mit O. Schulz und A. Brunion als auch einem mir zur Verfügung gestellten Lebenslauf bzw. dem wikipedia-Artikel zu O. Schulz.
In einer fernen Zeit (EG.E 4)
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Übersetzung von „O komm, o komm, du Morgenstern (EG 19) aus dem Jahr 1975 nach einer englischen Vorlage von John Mason Neale (1816–1866). Für Chorhefte zum Evangelischen Gesangbuch, die der Verband Evangelischer Kirchenchöre Deutschlands herausgibt, schreibt Schulz Sätze zu eigenen Melodien, 1994 erscheinen eigene Kompositionen unter dem Titel „Psalmen und liturgische Gesänge“. Bis 2010 hat er noch kein Passionslied verfasst. In einer fernen Zeit wird sein einziges bleiben. Andreas Brunion (*1961) wirkt seit über 25 Jahren als Kantor in der Stadtkirchengemeinde in Neustadt / Holstein. Er schreibt bevorzugt für Trompeten (z. B. „12 Fanfaren“, als digitales Album 2021 im Balticum Verlag erschienen), kom poniert jedoch auch zahlreiche Lieder oder auch Musicals. Seit dem Beginn der Corona-Pandemie musiziert er als Turmbläser vom Turm der Stadtkirche, verbindet oft karitative Projekte mit seinen musikalischen Aufführungen. Ein Schwerpunkt liegt für ihn auch bei jüdischer Musik, sein jüngstes Werk „Mose – ein Mann Gottes“ für sieben Blechbläser und Pauken wurde im November 2022 in der Carlebach-Synagoge in Lübeck uraufgeführt.
Historische Verortungen der Entstehungssituationen Auslöser ist der Wettbewerb „Neue Passionslieder“, den die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck zusammen mit der Karl-Bernhard-Ritter-Stiftung, einer Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes, 2010 als zweigeteilten Gottesdienst-Sonderpreis für Text und Melodie zeitgenössischer Passionslieder ausschreibt. Bis zum Einsendeschluss Ende März 2010 werden 298 Texte eingereicht. Eine Jury veröffentlicht daraus sieben Texte anonymisiert über die Homepage2, für die bis Mitte August 2010 passende Melodien gesucht werden. 180 Komponist*innen reichen insgesamt 596 Melodien ein. In einer fernen Zeit ist der siebte (und letzte) der vorgestellten Texte und einer der kürzesten. Er wird mehrfach vertont. Brunions Melodie erringt den 1. Preis. Die Melodie des Braunschweiger Propsteikantors Dieter Kroeker (1932–2016) erhält, geteilt mit zwei weiteren Liedern, einen zweiten Preis und wird ebenfalls im EG+ veröffentlicht. Otmar Schulz reizen die Kriterien: Es geht (1) um einen theologisch verantworteten Umgang mit dem Thema Passion, (2) um die Berücksichtigung der besonderen Themen und Texte zumindest eines der Passionssonntage, (3) um die sprachliche und musikalische Qualität und besondere Eignung für den Gemeindegesang, (4) um das Wort-Ton-Verhältnis und (5) um die Begleitbarkeit.3 Ihm liegt am Herzen, dass mit diesem Lied die Passion „mitgehbar und nachvollziehbar“ und damit 2 www.gottesdienststiftung.de. 3 https://kirchenmusik-ekkw.de/passionsliederwettbewerb-2013.html. Die Zahl 2013 verwirrt hier. Der Wettbewerb ist 2010 ausgelobt worden.
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als wichtiger Teil des (Glaubens-) Lebens verstehbar wird. Viele traditionelle Passionslieder empfindet er theologisch als nicht mehr zeitgemäß. Gerade der (Sühn-) Opfergedanke ist ihm fremd. Er weiß zugleich um den hohen Anspruch, dem er auch selbst entsprechen will. Für Andreas Brunion ist ein Wettbewerb um Passionslieder fast ein ‚Sakrileg‘. Passionslieder entstehen für ihn aus einem Glaubensimpuls, einer existenziellen Not-, auch Glaubensnotsituation, das passe nicht zur Idee eines Wettbewerbs. Er lässt sich herausfordern und entscheidet sich intuitiv für den Text von Otmar Schulz. Dieser ist anonymisiert einer der sieben Texte, die aus 189 Einsendungen ausgewählt worden sind.4 In einer fernen Zeit spricht ihn in seiner Schlichtheit und Glaubenstiefe an. Kein Wort zu viel, die Botschaft von Kreuz und Auferstehung, das Geheimnis von Leiden und Mitleiden steht im Mittelpunkt. Passion ist für ihn spröde, das spricht ihn bei dem Liedtext an, zugleich gefällt ihm dessen Dichte und der durchgehende Spannungsbogen. Die Melodie entsteht dann, ähnlich wie es Otmar Schulz für den Text schildert, in sehr kurzer Zeit und wird auch nicht mehr verändert. Dichter und Komponist lernen sich bei der Preisverleihung und auch später nicht kennen. Für Otmar Schulz ist der Melodiefluss von Andreas Brunion kongenial, eine eigene Komposition zu seinem Text zieht er zurück. Im kompositorischen Werk von Andreas Brunion behält dieses Passionslied ebenfalls eine singuläre Stellung. Als Gewinner des Wettbewerbs wird In einer fernen Zeit aufgenommen in das EG+ 10 (2011f ) sowie in die Liederbücher „Singt Jubilate“ 17 (2014) und „Kommt, atmet auf“ 146 (2011/2017).
Zu Form und Inhalt des Liedtextes sowie zur Melodie Raum und Zeit: Präsenz von Passion In einer fernen Zeit. So beginnen Märchen – fast. Statt „Es war einmal“ wird der Blick nach vorn bzw. in die Ferne geworfen. In einer fernen Zeit gehst Du nach Golgatha. Eine Paradoxie, so wie Passion und besonders der Karfreitag tiefste Paradoxie bedeutet. Unglaublich und wahr. Der Text beginnt als Erzähllied, in der Ort und Zeit zugleich benannt sind. Der Rahmen wird abgesteckt und erweitert, das Vertraute durchkreuzt. Das Vage der Zeitangabe in der 1. Strophe kann in der Vergangenheit, aber auch in der Zukunft liegen. Das folgende Verb gehst im Präsens bringt keine Klarheit, sondern verstärkt den Eindruck von Zeitlosigkeit. Wenige Zeilen später offenbart es sich: Es ist die epochenübergreifende Präsenz des leidenden Christus, die in diesem Text gleichzeitig reine Gegenwart bedeutet. Wer dieses Lied mitsingt,
4 Vgl. https://www.gottesdienststiftung.de/fileadmin/media_gottesdienststiftung/downloads/gottes dienst_sonderpreis_2010_texte_teil1.pdf.
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geht den Passionsweg Christi mit, erkennt das Leiden anderer und öffnet sich für das eigene Leid. Das relativ kurze Lied markiert unterschiedliche äußere und innere Orte. Neben Golgatha (Str. 1) ist es das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit (Str. 3). Draußen vor dem Tor und mitten in der Welt (Str. 4) sind die Orte, wo der Tod stattfindet. Der Wunsch, Leiden und Tod nicht zu sehen, draußen vor dem Tor zu externalisieren, erfüllt sich nicht, der Tod nimmt sich den Raum mitten in der Welt. Dies alles wird von Jesus Christus wie von denen, die diesen Weg mitgehen, nicht nur passiv erduldet, sondern aktiv gestaltet: Du sagst selbst zum Sterben ja (Str. 1), bringst du dein Leben dar (Str. 3), lebst du vor, was wirklich trägt und hält (Str. 4). Du – Christus als nahes Gegenüber, Weggefährte und Mit-Leidender Die fünf Strophen reden ein Du an, dessen Leiden in den ersten vier Strophen aufgezählt und vorsichtig gedeutet werden. Wer ist dieses Du? Da ist kein Name. Nur durch die Nennung von Golgatha und Kreuzestod wird der Bezug zu Jesus Christus deutlich.5 Die enge Beziehung zwischen Jesu Passion und dem lyrischen Ich wird durch die Anrede Du in allen Strophen zum Ausdruck gebracht. Passion ist Anklage gegen Unrecht, gegen den Mangel solidarischer Gemeinschaft. Draußen vor dem Tor, mitten in der Welt und mitten in mir stirbt der Mensch, stirbt Gott, stirbt das Du. Die Wahrheit der Passion, die Paradoxie, dass das Kreuz ein Lebenszeichen ist, dass Leben und Leid nicht voneinander zu trennen sind und durch das Leid Leben wirklich wird, beschreibt Schulz mit den offenen Worten was wirklich trägt und hält. Leid und Tod haben nicht das letzte Wort. Was trägt und hält, sind Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Liebe. Daraus entwickelt sich die Bitte zum Neuwerden. Die fünfte Strophe benennt eine neue Raum- und Zeitrechnung: in mir und jeden Tag / immer. Auferstehung meint Transformation, Verbindung und Begleitung im Alltag. Ostern ist in diesem Passionslied in seiner Schlussstrophe bereits enthalten, in einer zurückhaltenden Sprache, entschlackt von traditionellen Passionsbildern und im Verzicht auf dogmatische Spitzensätze. Der textliche Spannungsbogen wird in der Melodie aufgenommen, wobei die textliche Ordnung (Kreuzreimschema, jeweils sechs Silben pro Zeile) beibehalten wird. Die Notation6 ist in den einzelnen Veröffentlichungen unterschiedlich, entweder mit oder ohne Wiederholungszeichen am Ende der Strophen. Dies bedeutet aber nicht die Wiederholung jeder Strophe, sondern ist ein Hinweis, dass das „Amen“ erst nach der 5. Strophe zu singen ist. 5 Vgl. dazu Henning Porrmann: Leben mitten im Leiden, EGPlus Impuls, 2018, hg. vom Landeskirchenamt der EKKW (ohne Seitenangabe) ([email protected])/ und https:// kirchenmusik-ekkw.de/files/ekkwcontent/kirchenmusik/bilder/egplus/EG+Impuls/EG%20Plus%20 Impuls%20010 %20(In%20einer%20fernen%20Zeit)_Henning%20Porrmann.pdf. 6 Die folgenden Ausführungen zur Melodie wurden von Beate Besser verfasst.
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Die Melodie hat einen großen Tonumfang. Sie ist der Strophenform mit vier gleich langen Textzeilen zu je sechs Silben im jambischen Versmaß angepasst. Die ersten beiden Zeilen sind rhythmisch identisch mit der halben Note am Ende, einschließlich nachfolgender Viertelpause. Beide beginnen mit dem Quintaufschwung, unterscheiden sich dann aber. Die 1. Zeile pendelt um die Quinte, die 2. Zeile steigt zur Septime auf. Dann ändert sich dieses System. Die Zeilen 3 und 4 folgen ohne längere Schlussnote und Pause direkt aufeinander. Dabei steigt die 3. Zeile sofort zur Oberoktave auf und bringt das einzige Melisma über drei Viertel. Dagegen steigt die 4. Zeile bis zur Unterquinte ab – ein Gesamtambitus von elf Tönen! Das abschließende dreimalige Amen bringt noch eine neue Form. Die jeweils erste, übergebundene Note wird auf die Zählzeit 4 des vorherigen Taktes vorgezogen und erzeugt so eine vorgezogene Betonung. Verstärkt wird dies durch den Vorhalt, der durch die vorgegebene Harmonie auf der 1. Zählzeit entsteht. Die rhythmische und harmonische Auflösung erfolgt jeweils auf der 2. Zählzeit, wobei das dritte Amen noch melismatisch ausgeführt wird. So hat die Moll-Melodie eine große Stärke und wirkt rhythmisch interessant, obwohl sie sich nur zweier Zählzeiten bedient. Synchrone und diachrone Aspekte: das Passionslied als Gebet Stephan Goldschmidt schreibt hierzu: „Wer dieses Lied mitsingt, wird zum Beter, der den Weg Jesu ans Kreuz von Golgatha meditierend mitgeht und damit ganz und gar vergegenwärtigt. Die Form des Gebetes scheint eine geeignete Weise für ein zeitgenössisches Passionslied zu sein. (…) In Vers eins wird auf die Leidensankündigungen Jesu in den synoptischen Evangelien angespielt. In Vers zwei findet sich ein Anklang an die Gottesknechtslieder des Jesaja, die zugleich christologisch gedeutet werden: ‚Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre‘ (Jes 53,4). Jesus scheint in dem vorliegenden Lied auf seinem Weg hinauf nach Golgatha der Gottesknecht zu sein, der um das Leiden und die Schmerzen weiß und diese dennoch zu tragen bereit ist. In Vers drei wird die Verlassenheit Jesu thematisiert, die im Garten Gethsemane besonders deutlich wird, wo nicht einmal die engsten Freunde erkennen, in welcher Situation sich Jesus befindet. Bemerkenswert ist, wie im zweiten Teil des dritten Verses der Kreuzestod Jesu als eine aktive Handlung beschrieben wird: bringst du dein Leben dar. Hier ist Jesus alles andere als das Opferlamm, das von einem anderen zur Schlachtbank geführt wird.“7 Die Strophe 4 nimmt wieder Bezug auf die synoptischen Evangelien. Mitten in der Welt verweist sowohl auf die weltweite Ökumene und die Eine Welt als auch paradox auf die Verheißung des Miteinanders in Lk 17,21. Strophe 5 ist wiederum biblisch 7 Stephan Goldschmidt: Eine bewusst zurückhaltende Sprache. Das Leiden Jesu im Spiegel neuer Passionslieder, in: Grüße aus dem Kirchenjahr. Kirchliche Feiertage als kultureller Reichtum, Magazin zum Themenjahr 2018 der EKD, Hannover 2017, 38 f.
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geprägt von der Auferstehungshoffnung in 1. Kor 15. Literarische Anklänge sind zu finden bei draußen vor dem Tor mit „Draußen vor der Tür“8 von Wolfgang Borchert (1921–1947) und in der Bitte um Auferstehung in das (Alltags-) Leben hinein mit den ersten Versen von Marie Luise Kaschnitzs (1901–1974) Ostergedicht „Auferstehung“ (1962)9 sowie Angelus Silesius’ (1624–1677) „der Himmel ist in Dir“.10 Bisher ist dieses Passionslied noch nicht ökumenisch breit rezipiert worden, es spricht jedoch viel dafür und nichts dagegen. Es ist ein Karfreitags-Lied. Kein Wort zu viel. Es braucht kein Drama in Wort und Klang, der Inhalt ist dramatisch genug. Wenn wir das Lied in der Passionszeit und am Karfreitag singen, laut oder inwendig beten, ist alles bereits vergangen in einer fernen Zeit und kann doch nur verstanden werden, wenn es aktiv und im Jetzt mit- und durcherlebt wird. Dazu gehört das dreifache Amen am Ende und dazu gehört, dass alles aufgehoben ist im Kreuzreim bis auf die Mitte des Liedes (Str. 3): Gott reimt sich nicht auf den Tod. Das trägt durch den Karfreitag, das trägt bis Ostern und bleibt die Verheißung, was immer kommen mag. Julia Helmke
8 Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür, Hamburg / Stuttgart 1947. 9 Marie Luise Kaschnitz: Seid nicht so sicher. Geschichten, Gedichte, Gedanken, Gütersloh 1979, 73 f. 10 „Halt an, wo läufst Du hin, der Himmel ist in Dir. / Suchst du Gott anderswo, fehlst Du ihn für und für.“ Oder auch: „Das Kreuz auf Golgatha kann dich nicht von dem Bösen, / wo es nicht auch in dir wird aufgericht, erlösen.“ Beides aus: Der Cherubinische Wandersmann, 1675 (Reclam, Kritische Ausgabe, 1986).
Wir stehen im Morgen (EG.E 5)
Text: Melodie: Entstehung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Jörg Zink (1922–2016) Hans-Jürgen Hufeisen (*1954) T / M: 1991 Lord of the Dance (1963) T: Sydney Bertram Carter (1915–2004) M: Shaker-Melodie 19. Jh. (USA) Ostersonntag
Biographische Bemerkungen Jörg Zink wurde 1922 in Schlüchtern (Hessen) geboren und starb 2016 in Stuttgart. Er war Theologe, Pfarrer, Publizist und Autor und gilt als eine der Leitfiguren der Friedens- und Ökologiebewegung. Seine Texte, die Leitmotive der Bibel kontextualisieren, und seine Sachbücher zu spirituellen Themen erreichten durch ihre zugängliche Sprache ein großes Publikum. Bei den Deutschen Evangelischen Kirchentagen engagierte er sich seit 1952.1 Ab den 1970er Jahren hielt er dort gutbesuchte Bibelarbeiten. Die Bibelarbeit 1981 zum Thema „Friede auf Erden“ mit dem Flötisten Hans-Jürgen Hufeisen – Zink legte die Worte des Verkündigungs-Engels (Lk 2) aus, Hufeisen improvisierte die „Friedenstaube“ – war Initialzündung für die weitere Zusammenarbeit. Gemeinsam schufen sie Lieder, die 1992 im Verlag Edizione Dolce Musica Zürich bzw. im Kreuzverlag verlegt und seither in verschiedenen Liedersammlungen veröffentlicht wurden. Zinks Liedtexte erwachsen aus seiner „Arbeit an der christlichen Sprache“2, die sich mit Bibeltexten und dem Gebet beschäftigt. Die Veröffentlichung der Texte ist aus der Überzeugung motiviert, dass Laien „auch Priester“3 sind und mit den Vorlagen selbstständig umgehen können. Die Liedtexte zielen auf eine Relecture der Tradition für Menschen von heute, die aus der erfahrungsgesättigten und alltagsnahen Spiritualität der Mystik schöpft.4 Hans-Jürgen Hufeisen, 1954 im niederrheinischen Anrath geboren, ist Flötist und Komponist.5 Seine Lieder und Musikstücke erreichen durch internationale 1 Vgl. Matthias Morgenroth: Jörg Zink. Eine Biographie, Gütersloh 2013, 192. 2 Jörg Zink / Hans-Jürgen Hufeisen: Wie wir feiern können, Stuttgart 1992, 13. 3 Ebd., 12. 4 Vgl. Morgenroth, Zink, 69. 5 Vgl. Uwe Birnstein: Das unglaubliche Leben des Flötenspielers Hans-Jürgen Hufeisen, Freiburg / Br. 2014.
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Konzerttätigkeit, Veranstaltungen auf den Deutschen Evangelischen Kirchentagen, durch Liedersammlungen und CD-Veröffentlichungen ein breites Publikum. Darüber hinaus ist er auch Tänzer und Tanzvermittler. 1972–1977 studierte er Blockflöte, Musikpädagogik und Komposition an der Essener Folkwang-Hochschule, an der er 1975–1977 auch als Dozent wirkte. Außerdem absolvierte er eine Fortbildung in Tanz an der Bundesakademie in Remscheid. Seit dem Konzertexamen 1981 konzertierte er in zunehmendem Umfang und ist seit 1989 freischaffender Komponist, Produzent und Musiker. Musik dient ihm als Brücke zu anderen Kulturen und Religionen. Spirituell steht er der Mystik nahe. Aus der Zusammenarbeit mit Jörg Zink sind etwa 80 geistliche Lieder hervorgegangen. Wir stehen im Morgen entsteht im April 1991 im Rahmen der gemeinsamen Arbeit an dem Lieder- und Liturgiebuch „Wie wir feiern können“. Darin vertreten die Autoren eine ganzheitliche Auffassung von Liturgie, die Menschen als Einheit von Geist und Körper anspricht, was sich auch in Liedern äußert. „Lieder sind Melodien, die im Tanz ergehen.“6 Damit sind Zink und Hufeisen Teil der Bewegung für Kirchentanz.7
Zum Text Die Initiative zum Text ging von Hufeisen aus, der anhand der Vorlage des Liedes „Lord of the Dance“8 von Sydney B. Carter einen eigenen Text schrieb. In der Zusammenarbeit mit Jörg Zink entstehen dann Text und Musik Hand in Hand ebenso wie die Idee zur Bewegung. Auch der Refrain gehört von Anfang an zum Text. Fünf Strophen mit jeweils drei Zeilen werden mit einem Refrain aus zwei Zeilen kombiniert. Die Überschrift ist gleichzeitig die 1. Halbzeile der 1. Strophe. Der hymnische Text verkündigt das Ostergeschehen aus der Perspektive eines Wir. Im Zusammenhang der Feier am Ostermorgen sind die drei Frauen am Grab als Sprecherinnen ebenso wie die singende Gemeinde denkbar. Im Unterschied zu narrativen Versen anderer Osterlieder im EG (103,4–15; 105,2–3; 116,2–4) deutet Zink Ostern in ausdrucksvollen Bildern, die eng mit der Tradition von Chorälen verknüpft und gleichzeitig unverbraucht frisch sind. In Strophe 1 steht die singende Gemeinde mit den Frauen am Ostermorgen am Grab. Ein Weihnachtsmotiv (aus Gott ein Schein), das Licht, das die göttliche Er 6 Jörg Zink / Hans-Jürgen Hufeisen: Feier der Schöpfung. Vier Liturgien für die Erde, Stuttgart 1993, 9. 7 1997 wurde die Christliche Arbeitsgemeinschaft Tanz in Liturgie und Spiritualität e. V. gegründet; vgl. dazu Tatjana K. Schnütgen: Tanz zwischen Ästhetik und Spiritualität. Theoretische und empirische Annäherungen, Göttingen 2019. 8 Das Lied findet sich u. a. in FreiTöne. Liederbuch zum Reformationssommer 2017, Kassel 2017, Nr. 110.
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scheinung anzeigt, Symbol für Christus und ein Ostermotiv, der Schein der Sonne am Morgen, gehen eine Verbindung ein und dringen in die Welt des Todes ein (durchblitzt alle Gräber). Die Aussage es bricht ein Stein steht gegen die menschliche Welterfahrung mit physischen Eigenschaften von Steinen. Sie schleifen sich ab, brechen aber nicht, außer bei einer Sprengung mit hohem Energieaufwand. Das Brechen unterscheidet sich vom traditionell verbreiteten Bild vom Stein vor dem Grab, der weggerollt wird. Die Symbolsprache eines brechenden Steines weckt zeitgeschichtliche Assoziationen an die Mauer, die 1989 zu Fall gebracht wurde. In der Strophe ist der Grund von Gotteserscheinung und Aufbruch allerdings die Auferstehung Christi, ein Bild für Aufbruch schlechthin. Die Folge der Auferstehung ist, dass ein Tanz beginnt. Das Motiv der Fröhlichkeit anderer Osterlieder im EG (99, 100, 101 u. a.) wird in der Strophe und im Refrain explizit zum Bild des Tanzes ausgestaltet und kann als Aufforderung zum Tanz verstanden werden. Der Refrain beginnt mit dem dreimaligen Halleluja. Der Hallelujaruf ist fester Bestandteil jeder Osterliturgie und bildet hier zusammen mit dem Motiv vom brechenden Stein und dem Tanz, der einsetzt, den Inhalt des Refrains. Im Mittelpunkt von Strophe 2 stehen energiegeladene Tanzbilder. Der Tanz Christi wird beschrieben als kosmischer Tanz um Erde und Sonne. Seine Eigenschaften sind Kraft, ein physikalischer Begriff, der auch Energie bedeutet. Dazu tritt der Geist, der als Heiliger Geist biblisch auch dynamis genannt und im Symbol des Feuers dargestellt wird. Der dritte Satz nennt den Tod, dem die Tanzenden entrissen werden. So entsteht das Bild von zwei Tanzkreisen, des Tanzes Christi und des Tanzes des Todes, die sich an der Stelle treffen, wo Christus die Menschen dem Tod entreißt. Strophe 3 verkündet die Überwindung des Todes. Zu hören ist die Stimme der Gemeinde. Der Tod selbst steht vor dem Weltgericht. Christen können ihn, statt sich von dessen Angstgesicht bedroht zu fühlen, anlachen. Szenen des gewaltlosen Widerstands in der Friedensbewegung, der sich im Anlachen der Sicherheitskräfte zeigt, stehen im Hintergrund.9 Strophe 4 zeichnet das Bild von Christus, der den Tanz anführt, wie in der Vorlage des „Lord of the Dance“. Das Bild ist jedoch erweitert, da Christus nicht nur vorangeht, sondern auch mitgeht (der mit uns zieht). Die Gemeinde folgt Christus, indem sie aufsteht, im Sinne einer Erhebung gegenüber dem, was Tod bringt. Die Orte, an denen der Tod und sein Werk geschieht, wurden in der Friedens- und Ökologiebewegung benannt und dürften hier mitschwingen. Während des Aufstands wird gesungen. Oder ist der Aufstand ein Osterlied ganz eigener Art?
9 Nach Aussage von Hans-Jürgen Hufeisen im Gespräch mit der Autorin am 17.05.2022. Die folgenden Informationen entstammen diesem Gespräch, die Zitate einem unveröffentlichten Manuskript Hufeisens von 2022.
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In Strophe 5 proklamiert die Gemeinde den Grund, warum sie bereit ist, sich ohne Angst auf den Tanz jenseits der Grenze des Todes einzulassen: Christus begleitet sie zum Fest. Dies verweist auf den Tanz in Strophe 2, dessen Ziel der Tanz mit dem kosmischen Christus ist, in der Sphäre, wo der Tod keine Macht mehr hat.
Zur Musik Das Lied ist aus insgesamt 14 Takten im Sechsachtel-Takt aufgebaut. Es beginnt mit einer Achtel als Auftakt und endet entsprechend im Refrain mit einem Takt mit fünf Achteln. Einem Tanz im 6/8-Takt entsprechend hat die Strophe eine sechstaktige Struktur. Der Refrain dagegen hat die in Liedern oft anzutreffenden acht Takte. Der Sechsachteltakt deutet ein schnelles fröhliches Lied an. Das schwingende Metrum entspricht den Hebungen im Text. Es finden sich folgende Muster: 1) Zeile 1 und 3: Ein Melodiebogen aus sechs Achteln, gefolgt von einem Melodiebogen aus einer Viertel, einer Achtel und einer Viertel (am Ende der Zeile 3 punktiert). 2) Zeile 2: Achtel, punktierte Achtel, Sechzehntel, sechs Achtel, ein Viertel. Im Refrain wiederholt sich in Zeile 1 und 2 eine Folge von drei Achtel, punktierte Achtel, Sechzehntel, Achtel. Im Hintergrund steht die Galliarde, ein höfischer Tanz des 15.–17. Jahrhunderts, der lebhaft, mit Sprüngen auf fast jedem Achtel getanzt wird. Typisch ist die Galliardepunktierung im Refrain, wie ein Hüpfen vor Freude und „zugleich auch ein Osterlachen, ein Osterfeuer“. Das Metrum erinnert auch an einen schnellen Walzer. Der Ambitus der Melodie umspannt eine Oktave, von d’ bis d’’. Der erste Ton des Liedes ist der tiefste Ton, eine Quart unter dem Grundton g’. Der Refrain setzt mit g’ ein. Mit der großen Sexte von d’ zu h’ markiert die Melodie einen emotionalen Aufschwung, der sich bis zum Grundton leicht abwärts bewegt, wie um die Satzaussage zu bestätigen, um von a’ in Takt 3 absteigend das e’ zu erreichen und damit die Tonalität der Subdominante. Von dort bewegt sich die Melodie in Sekunden nach oben bis zum letzten Wort der 2. Zeile. In dieser Zeile findet sich auch die einzige melismatische Bindung auf eine Silbe, jeweils auf bricht, Kraft, Angst, Werk, Tanz. Es folgt eine weitere gefühlsbetonte Sexte zwischen e’ und c’’, bevor die Melodie sich in Schritten auf das a’ mit der Tonalität der Dominante D-Dur hinbewegt. Eine Oktave d’ zu d’’ setzt einen energischen Akzent und ist „eine Power-Stelle“ für den letzten Takt der Strophe: „Hier beginnt die Änderung, der Aufruf, der Aufstand.“. Auf dem höchsten Ton stehen in den Strophen folgende Worte bzw. Wortteile: 1) Tanz, 2) Tod, 3) (be-) drohst, 4) O-(sterlied), 5) Fest(-geleit). Die Melodie des Refrains ist eine Umsetzung des Bildes des Feuers. In drei aufeinanderfolgenden Takten schraubt sich eine Figur aus drei Tonschritten, beginnend mit g’ in die Höhe: drei Hallelujas erklingen vor der Aussage im 4. Takt es bricht ein Stein. Die Zeile 2 des Refrains wiederholt das „Lodern“ nach oben mit drei Hallelujas und endet mit ein Tanz setzt ein
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auf dem Grundton. Beim Singen entsteht zudem durch das Halleluja-ha-ha gleichsam ein Osterlachen.
Praktische Verwendungszusammenhänge Das Lied folgt in der Osternachtliturgie als Tanzlied auf das Anzünden der Kerzen. Die Akkordbezeichnungen stammen von Hufeisen. Tempoangaben fehlen. Allerdings schlägt Hufeisen den sog. „Tanz der Zeit“10 als Liedgestaltung vor – ein Tanz, der das menschliche Sein in der Gegenwart, im Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft meditiert. Die Schritte können im Reigen mit anderen ausgeführt werden, mit dem Blick zur Mitte des Kreises. Der rechte Fuß beginnt mit einem Seitschritt, der linke Fuß kreuzt hinter dem rechten Fuß (Vergangenheit); der rechte Fuß geht zur Seite, der linke Fuß kreuzt nun vor dem rechten (Zukunft). Von hier aus wird das Gewicht viermal zwischen rechts und links verlagert, mit einem Hin- und Herwiegen (Gegenwart). Für den Refrain liegt kein Modell vor. Hier sind m. E. hüpfende Schritte und nach oben öffnende Bewegungen, wie züngelndes Feuer, passend. Die Schritte orientieren sich nicht an der Galliarde, sondern haben einen meditativen Charakter. Sie sind gut für die Strophe geeignet.11 Im Chorbuch für den Kirchentag 2008 steht das Lied in der Rubrik Glauben. Hier findet sich auch einmalig die Tempoangabe „Fröhlich – wie eine Gigue“12. Die Rubrik Erzählen, in der das Lied in FreiTöne abgedruckt ist, scheint für das kaum narrative Lied unpassend. Nur dort erscheint eine Tempoangabe: fröhlich, punktierte Viertel = 56,13 was tatsächlich für ein hüpfend getanztes Osterlied zu langsam erscheint, für eine ruhigere Tanzmeditation aber reicht. Insgesamt kann das Lied durch den spezifischen Text, die tänzerische Rhythmik und bewegte Melodie dazu motivieren, das Osterthema zu tanzen. Gegenüber dem bloßen Singen bietet das Tanzen eine Erfahrung, die in der Kombination von Musik, Text und Bewegung auch die Wahrnehmung des eigenen lebendig-präsenten Körpers, der Gemeinschaft und des Raumes ermöglicht. Tatjana K. Schnütgen
10 Zink / Hufeisen Feier der Schöpfung (1993), 192. 11 Über den Verein Christliche Arbeitsgemeinschaft Tanz in Liturgie und Spiritualität e. V. kann eine Choreografie für das Tanzen mit Ungeübten angefordert werden: [email protected]. Homepage: https://www.christliche-ag-tanz.org/ (abgerufen am 31.8.2022). Zur Methodik vgl. HildaMaria Lander / Maria-Regina Zohner: Meditatives Tanzen, Stuttgart 1987. Das Buch bietet eine Einführung in die Möglichkeiten meditativen Tanzens und wird von Hufeisen empfohlen. 12 … wenn alles singt. Chorbuch (nicht nur) für Kirchentage, München 2008, Nr. 76. Die Gigue ist allerdings ein Missverständnis, handelt es sich doch um eine Galliarde. 13 FreiTöne, Nr. 95.
Wir feiern deine Himmelfahrt (EG.E 6)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Liturgische Einordnung:
Detlev Block (1934–2022) Johann Crüger (1598–1662) nach Guilleaume Franc (um 1515–1570) und Loys Bourgeois (um 1510–nach 1561) T: 1978 Christi Himmelfahrt
Wir feiern deine Himmelfahrt erschien erstmals in Detlev Blocks Sammlung geistlicher Lieder „In deinen Schutz genommen“, die zwischen 1978 und 2001 in der Reihe „Dienst am Wort“ in vier jeweils erweiterten Auflagen erschien.1 1994 wurde das Lied ohne die ursprüngliche 5. Strophe mit der Melodie „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ von Johann Crüger (EG 326) in die Regionalausgabe des EG Bayern / Thüringen aufgenommen (Nr. 561). In dieser gekürzten Version steht es auch im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche (2002; Nr. 245), hier aber mit einer Melodie (1951) und einem Satz (1968) von Johannes Petzold, im Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine (2007; Nr. 343), in „Singt von Hoffnung“ der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens (2008; Nr. 018), im Fuldaer Eigenteil des katholischen Gotteslob (22013; Nr. 788), im Anhang zum Gesangbuch der südwestdeutschen Landeskirchen sowie der Union Protestantischer Kirchen von Elsass und Lothringen „Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder plus“ (2018; Nr. 216) und jetzt in EG.E (2018; Nr. 6). Das Evangelisch-Lutherische Kirchengesangbuch der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (22021; Nr. 474) lässt statt der ursprünglichen 5. Strophe die 3. aus und weist dem Lied die Melodie „Wach auf, mein Herz, die Nacht ist hin“ (1949) von Hermann Schulz zu.
Biographische Notizen zum Verfasser Detlev Block wurde am 15. Mai 1934 in Hannover geboren und starb am 26. Januar 2022 in Bad Pyrmont. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie in Göttingen wirkte er als Pfarrer in St. Andreasberg im Harz, in Hameln und mehr als drei Jahrzehnte lang in Bad Pyrmont. Zeit seines Lebens betätigte sich Block als Dichter und
1 Detlev Block: In deinen Schutz genommen. Geistliche Lieder (Dienst am Wort 34), Göttingen 11978, 51–53; 21980, 90–92; 31984, 90–92; 42001, 64–66.
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Martin Evang
Schriftsteller und erhielt zahlreiche Preise für sein lyrisches Werk. Auch als Astronom trat er hervor. Zu seinem 80. Geburtstag erschien eine Festschrift, die umfassend über sein Leben und Werk informiert.2 Ihr Titel „Abendstern und Morgenstern sind ein und derselbe“, der einem kleinen Gedicht Blocks entnommen ist, bekundet glücklich die Verbindung, die Poetotheologie und Sternkunde in Person und Werk Detlev Blocks eingegangen sind.
Zum Text Was begeht eine Gemeinde, indem sie am Fest „Christi Himmelfahrt“ Gottesdienst feiert? Diese festtagshermeneutische Frage, deren Behandlung man eher in einer katechetischen Himmelfahrtspredigt, also in einer Gattung der Zueignung, erwarten würde, beantwortet Wir feiern deine Himmelfahrt in der Form eines Liedes, die primär eine Gattung der Aneignung ist: Indem die Gemeinde singt, tritt sie sich zugleich als Predigerin gegenüber – in diesem Lied so, dass sie deutet, was sie im Himmelfahrtsgottesdienst eigentlich feiert. Die gut reformatorische Gattungstradition, dass eine singende Gemeinde das Evangelium zugleich verkündet und empfängt, nimmt in Wir feiern deine Himmelfahrt insofern eine besonders komplexe Gestalt an, als sie dies in der Form eines an Jesus Christus gerichteten Gebets tut (vgl. Lk 24,51 f.: „Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. Sie aber beteten ihn an)“. Dies bildet zwar den genuinen Zusammenhang von Gebet und Glaube (lex orandi – lex credendi) sowie die Einsicht ab, dass das zweipolige Grundgeschehen des Gottesdienstes, „dass unser lieber Herr mit uns redet durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“3, sich nicht säuberlich auf verschiedene gottesdienstliche Stücke verteilen lässt, sondern in jedem liturgischen Element das eine mit dem anderen verbunden ist. Dennoch entsteht, ähnlich wie bei Fürbittengebeten, in denen sich die Predigt fortsetzt, ein gewisses Störgefühl, wenn Einsichten des Glaubens und ihre katechetische Vermittlung zum Gegenstand von Gebetsbitten werden, besonders krass in der 2. Strophe: Präg du uns ein, Herr Jesu Christ: / Gott ist nicht, wo der Himmel ist, / wo Gott ist, da ist Himmel. Ersichtlich erwächst die Frage, was die Christenheit an Christi Himmelfahrt feiert, aus dem mythologischen Charakter der biblischen Himmelfahrtserzählung. „Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches. […] Dem mythischen Weltbild entspricht die Darstellung des Heilsgeschehens, das den eigentlichen Inhalt der neutestamentlichen Verkündigung bildet. In mythologischer Sprache redet
2 Siegward Kunath (Hg.), Abendstern und Morgenstern sind ein und derselbe. Festschrift zum 80. Geburtstag von Detlev Block, München 2014; vgl. auch die autobiographische Skizze Blocks in: Dietrich Meyer (Hg.), Das neue Lied im Evangelischen Gesangbuch, Düsseldorf 21997, 75–77. 3 Martin Luther in der Torgauer Predigt am 5.10.1544, WA 49, 588.
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die neutestamentliche Verkündigung: […] Der Auferstandene ist zum Himmel erhöht worden zur Rechten Gottes (Act. 1,6 ff.; 2,33; Rm. 8,34 usw.) […] Sofern es nun mythologische Rede ist, ist es für den Menschen von heute unglaubhaft, weil für ihn das mythische Weltbild vergangen ist. […] Welchen Sinn hat es, heute zu bekennen: ‚niedergefahren zur Hölle‘ oder ‚aufgefahren in den Himmel‘, wenn der Bekennende das diesen Formulierungen zugrunde liegende mythische Weltbild von den drei Stockwerken nicht teilt? Ehrlich bekannt werden können solche Sätze nur, wenn es möglich ist, ihre Wahrheit von der mythologischen Vorstellung, in die sie gefasst sind, zu entkleiden, – falls es eine solche Wahrheit gibt. Denn das eben ist theologisch zu fragen. Kein erwachsener Mensch stellt sich Gott als ein oben im Himmel vorhandenes Wesen vor; ja, den ‚Himmel‘ im alten Sinne gibt es für uns gar nicht mehr. Und ebensowenig gibt es die Hölle, die mythische Unterwelt unterhalb des Bodens, auf dem unsere Füße stehen. Erledigt sind damit die Geschichten von der Himmel- und Höllenfahrt Christi […].“4 So hatte – hier auf das Himmelfahrtsproblem fokussiert – Rudolf Bultmann 1941 in seinem programmatischen Entmythologisierungsvortrag das Problem der neutestamentlichen Mythologie skizziert. In seinem Himmelfahrtslied unternimmt es Detlev Block, die „Wahrheit“ der Himmelfahrtserzählung „von der mythologischen Vorstellung, in die sie gefasst [ist], zu entkleiden“, um es in Bultmanns Worten auszudrücken. Auf dessen Linie, wonach die mythologische Rede von Jesus Christus „einfach den Sinn hat, die Bedeutsamkeit der historischen Gestalt Jesu und seiner Geschichte, nämlich ihre Bedeutung als Heilsgestalt und Heilsgeschehen zum Ausdruck zu bringen“, und speziell auf der Linie, die mythologische „Rede von der Auferstehung“ (die bei Bultmann die Himmelfahrtserzählung einschließt) als den „Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes“5 zu verstehen, bezeichnet Block als den Kern des Himmelfahrtsglaubens: Gott hat sich machtvoll offenbart, / das Kreuz zum Sieg erhoben. In dieser Formulierung klingt erstmals das Macht-Sieg-Paradigma an, das nach Matthäus 28,18 „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (vgl. auch Eph 1,20–23 u. a.) das ganze Lied durchzieht und mit der paradoxen Kombination von Kreuz (als dem Inbegriff von Scheitern und Niederlage) und Sieg in einer breiten geistlichen Sprachtradition steht. Es verbindet sich mit dem Zuspruch Matthäus 28,20 „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“: Nun bist du immer für uns da, / entgrenzt von Raum und Stunde. In den Negationen der 2. Strophe hallt Bultmanns „Erledigt“ nach: Das Reich, in das du wiederkehrst, / ist keine ferne Höhe, und: Gott ist nicht, wo der Himmel ist. Dem entsprechen positiv diese Bestimmungen: Der Himmel, dem du zugehörst, / ist Herrschaft und ist Nähe, sowie: Wo Gott ist, da ist Himmel. Diese Strophe ist ganz 4 Rudolf Bultmann: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung hg. v. Eberhard Jüngel (BEvTh 96), München 1985, 12–15. 5 A. a. O., 53.58.
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nach Überlegungen gebildet, in denen Gerhard Ebeling in seiner „Dogmatik des christlichen Glaubens“ jenen Nuancen der biblischen Aussagen über Christi Himmelfahrt nachspürt, die neben den Aussagen über seine Auferstehung Beachtung verdienen.6 Unter der Überschrift „Nicht Ferne, sondern Nähe“ führt Ebeling aus: „Insofern liegt in der Himmelfahrtsvorstellung beides: einerseits in der Tat die alles übersteigende Höhe, die alle Distanzen übertreffende Ferne, anderseits die alles bestimmende Präsenz, die alles durchdringende Nähe. […] die Art der Ortsbestimmung kehrt sich geradezu um: Nicht da, wo der Himmel ist, ist Gott, sondern da, wo Gott ist, ist der Himmel.“7 Diesen Gedanken gibt die 2. Strophe in fast wörtlicher Übereinstimmung wieder. Bemerkenswert ist, dass in der Negation statisch vom Reich die Rede ist, in der Position (dort, wo Ebeling „Präsenz“ sagt) dynamisch von Herrschaft – hier spiegelt sich die Übersetzungskorrektur, die der Leitbegriff der eschatologischen Verkündigung Jesu, basileía, in deutscher Wiedergabe mittlerweile durchweg erfährt. Außerdem ist hinzuweisen auf analoge Ansätze in der neueren geistlichen Lyrik, die Bedeutung von „Himmel“ neu zu erschließen, besonders eindrücklich in Kurt Martis „Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel, der kommt“ (1971; EG 153) und besonders populär in Wilhelm Willms’ „Weißt du, wo der Himmel ist“ (1976; EG-Hessen 622): Himmel ist ein räumlicher Ausdruck für die Wirklichkeit und Wirksamkeit Gottes in der Welt und somit eine bestimmte Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsdimension menschlichen Daseins. Dass die Singenden ihr Leben in dieser Dimension wahrnehmen und gestalten können, darum bitten sie in der 3. Strophe: Nimm uns in deinen Machtbereich. Tat und Leiden umschreibt die Bereitschaft, den lebensdienlichen Willen Gottes aktiv zu erkunden und umzusetzen und sich durch die dabei begegnenden, womöglich dadurch erst hervorgerufenen Gegenkräfte nicht beirren und abbringen zu lassen – eine Herausforderung, die Jesus in der Bergpredigt („Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstehen sollt dem Bösen“, Mt 5,39) und der Apostel Paulus besonders in Röm 6 und 8 thematisiert. Für Mach uns deinem Wesen gleich / im Wollen und Entscheiden kommen als biblische Impulse etwa in Betracht: Mt 5,48 („darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“), Röm 6,11 („So [nämlich wie Christus] auch ihr: Haltet euch für Menschen, die der Sünde gestorben sind und für Gott leben in Christus Jesus“) und Röm 8,29 („Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern“); speziell für das Mitleiden mit Christus ist auf Röm 8,17 zu verweisen. Womöglich haben die Formulierung deinem Wesen gleich und die damit assoziierte trinitätstheologische Bestimmung der Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater (nizänisches Glaubensbekenntnis: „eines Wesens mit dem Vater“) die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche
6 Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens II, Tübingen 1979, 319–325. 7 A. a. O., 322 f.
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dazu veranlasst, diese Strophe des Liedes nicht in ihr Gesangbuch zu übernehmen. – Die 3. und die (original: beiden) Folgestrophe(n) klingen aus mit Wir-Aussagen, die das Initium Wir feiern deine Himmelfahrt / mit Danken und mit Loben variieren: Wir freuen uns / danken dir / (preisen dich), Herr Jesu Christ – hier zunächst: dass da auch ein Stück Himmel ist, / wo wir dein Wort bezeugen. Gedacht ist an den universalen ‚Lehr-Auftrag‘ nach Matthäus 28,18–20, aber auch an die Bezeugung (griechisch: martyría) in Tat und Leiden. Wir danken dir, Herr Jesu Christ, dass dir die Macht gegeben ist / im Himmel und auf Erden, ist die Facette der Feier des Himmelfahrtsgottesdienstes in der 4. Strophe. Das Echo von Matthäus 28,18b ist dominant, und aus dem Gloria in excelsis der Messe klingt mit: „Wir loben, preisn, anbeten dich; für deine Ehr wir danken“ (EG 179,2). Die erste Hälfte der Strophe speist sich aus weiteren biblischen Motiven: Du hast die Angst der Macht beraubt antwortet auf den Zuspruch Jesu aus den johanneischen Abschiedsreden: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16,33b). Hinter Die wahre Macht hat nur, wer glaubt / und aus dem Glauben handelt, steht der Gedanke, dass der Glaube an Gottes Macht partizipiert, und stehen die biblischen Ermutigungsbilder vom Glauben, der, klein wie ein Senfkorn, doch Berge zu versetzen vermag (vgl. z. B. Mt 17,20; 1. Kor 13,2). Indem die Gemeinde dies singt, singt sie sich Mut an – den Mut des Vertrauens. Die originale 5. Strophe des Liedes lässt das EG (und ihm folgend auch die meisten anderen Liedsammlungen, die das Lied enthalten) aus, mutmaßlich deshalb, weil die Metaphern-Kombination in Zeile 1 (das letzte Wort) und 2 (am Steuer der Geschichte) als unglücklich empfunden wurde: Du hast allein das letzte Wort am Steuer der Geschichte. Zu jeder Zeit, an jedem Ort stehn wir in deinem Lichte. Wir preisen dich, Herr Jesu Christ, dass du die große Zukunft bist für uns und alle Menschen.
Noch einmal Gerhard Ebeling zum Überschuss der Himmelfahrts- gegenüber den Auferstehungsaussagen: „Anstatt […] zum Ausdruck zu bringen, daß Jesus mit der Welt fortan nichts mehr zu tun hat, wird mit den denkbar stärksten Tönen behauptet, daß er von nun an mit der Welt als ganzer beschäftigt ist, nicht von ihr abgewandt, sondern ihr aufs intensivste zugewandt. Er ist nicht ausgeschieden, sondern derjenige, mit dem die Welt künftig unbedingt rechnen muß.“8 Der Horizont des Bekenntnisses Du hast allein das letzte Wort ist die zu jeder Zeit, an jedem Ort zu machende Erfahrung, dass andere, diesseitige und allenfalls vorletzte Worte letzte Gültig- und
8 Ebeling: Dogmatik II, 321.
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Verbindlichkeit beanspruchen. Dieser Anspruch wird von denen, die in deinen Machtbereich versetzt sind (Str. 2) und sich in deinem Lichte verstehen, bestritten, vor allem so, dass sie als gottesdienstliche Gemeinde ihren Herrn preisen: Wir preisen dich, Herr Jesu Christ, / dass du die große Zukunft bist / für uns und alle Menschen. Den unauflöslichen Zusammenhang von Exousie (Vollmacht) und Parousie (Präsenz) Jesu Christi hat Gustav Heinemann in seiner Schlussansprache auf dem 2. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 27. August 1950 in Essen so formuliert: „Laßt mich noch ein Letztes sagen: Aus der Verlorenheit führt Jesus Christus uns schon hier und heute in die Geborgenheit seiner göttlichen Allmacht. Wo wir aufhören, herrenlos zu sein, hören wir auch auf, schutzlos zu sein. […] Laßt uns der Welt antworten, wenn sie uns furchtsam machen will: Eure Herren gehen, unser Herr aber kommt!“9 Wie die 4. und die im EG ausgelassene (original 5.) Strophe setzt die 5. Strophe mit einem Bekenntnis ein: Du trittst beim Vater für uns ein. Die christliche Gemeinde ist, wie die Stichworte Leiden (Str. 2) und Angst (Str. 4) bereits signalisiert haben, angefochtene Gemeinde. In real erfahrenen Widrigkeiten – Widerspruch und Augenschein – tröstet sie sich mit Paulus, der rhetorisch fragt: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ und auf Christus verweist, „der gestorben ist, ja, mehr noch, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und für uns eintritt“ (Röm 8,34; vgl. 1. Joh 2,1; Hebr 7,25). Mit auch wenn wir es nicht sehen tritt der Jünger Thomas auf den Plan, der so beschieden wird: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29b; vgl. 1. Petr 1,8 f.). Dazu passt die Schlussbitte der Strophe: Hilf uns darauf vertrauen. Schon bei Paul Fleming war die geistliche Dichtung bzw. der fromme Gesang ein Medium, dieses Vertrauen zu fassen und zu stärken: „Es kann mir nichts geschehen, / als was er hat ersehen / und was mir selig ist“ (EG 368,3). Detlev Block variiert das für die durch Widerspruch und Augenschein angefochtene Gemeinde: kann uns doch nichts geschehen, / was deinem Wort, Herr Jesu Christ, / und deinem Sieg entgegen ist. Die Kühnheit solcher Aussagen speist sich biblisch auch aus dem Vergleich Jesu zwischen den Sperlingen – es „fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater“ – und denen, die zu ihm gehören: „Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt“ (Mt 10,28 f.; vgl. Lk 12,6 f.). Hatte die im EG ausgelassene originale 5. Strophe die eschatologische, d. h. von der Zukunft Christi bestimmte gegenwärtige Existenz der christlichen Gemeinde thematisiert, so nimmt die Schlussstrophe – sprachlich an Matthäus 28,20 anknüpfend – das zeitliche Ende in den Blick, wobei die Formulierung wenn diese Welt zu Ende geht keine scharfe Grenze zwischen dem individuellen Sterben und Tod von Menschen und dem kosmischen Ende, dem Untergang der Welt, intendiert. Mit bewahre und errette, / was deinem Namen untersteht, erbittet die Christenheit als die Gemeinschaft der auf den Namen Jesu Christi Getauften das ‚Heil‘, das Zeit und
9 Gustav W. Heinemann: Glaubensfreiheit – Bürgerfreiheit. Reden und Aufsätze Kirche – Staat – Gesellschaft 1945–1975, hg. v. Dieter Koch, München 21990, 67 f.
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Raum transzendiert. Indem sich die christliche Gemeinde aber bereits in der original 5. Strophe mit der Menschheitsfamilie zusammengeschlossen hatte (für uns und alle Menschen), erbittet sie dies zugleich in einer durch Philipper 2,10 f. begründeten universalen Heilserwartung: „dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“. Im Folgenden wechselt das Gebet in die johanneische Bildwelt: „Wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass auch ihr seid, wo ich bin“ (Joh 14,3). Das ist im Johannesevangelium von „meines Vaters Hause“ gesagt, in dem „viele Wohnungen“ sind (V. 1); darauf bezieht sich „heimgehen“ als eine Vorstellung des Glaubens, die dem totalen Ortsverlust, den das Sterben bedeutet, Rechnung trägt. Hol uns heim, dichtet Block. – Dahin, wo du der König bist weitet die Vorstellung von der himmlischen Heimat der Menschen wieder zum göttlichen Machtbereich aus; hier klingt die weitgehende Motividentität zwischen dem Fest Christi Himmelfahrt und dem katholischen, am letzten Sonntag des Kirchenjahres gefeierten Christkönigsfest ausdrücklich an. In den drei ersten Auflagen der Liedsammlung „In deinen Schutz genommen“ lauteten die beiden Schlusszeilen: dahin, wo du der König bist / der Freude ohne Ende. Block ist der augenscheinlich bei der Übernahme des Liedes ins EG-Bayern / Thüringen erfolgten Verschiebung vom Motiv der (durch Christus gewährten) Freude ohne Ende, also der Verewigung des gottesdienstlichen Wir freuen uns (Str. 3; vgl. Jes 35,10), zum Motiv des „ewigen Friedens“ in der vierten Auflage gefolgt; zwingend erscheint das aber nicht.
Mögliche Melodien Die Strophenform des Himmelfahrtsliedes ist die sog. „Lutherstrophe“ (siebenzeilig, jambisch, Silbenschema 8.7.8.7.8.8.7, Reimschema ab ab cc d). Das Lied kann also auf eine Vielzahl bekannter Melodien gesungen werden, auch im Wechsel verschiedener Melodien. Detlev Block selbst hat seinem Text die Luthermelodie zugewiesen, die ursprünglich eine der Weisen zu „Nun freut euch, lieben Christen gmein“ (EG 341) war, heute mit „Es ist gewisslich an der Zeit“ (EG 149) verbunden ist und deshalb Assoziationen an das Ende des Kirchenjahres und das Jüngste Gericht mitklingen lässt. Das Feiern-Loben-Danken-Freuen-Preisen-Paradigma des Liedtextes hat deshalb mehr die Melodie zu „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ (EG 326) nahegelegt, die im EG Bayern / Thüringen (Nr. 561) und, ihm folgend, in weiteren Liedsammlungen ausgewählt wurde.10 Sehr gut passend erscheint in dieser Hinsicht auch die Melodie 10 Im Inhalts- und Melodienverzeichnis der 4. Auflage 2001 von „In deinen Schutz genommen“, 155, hat auch Detlev Block diese Melodie als erste Option angegeben, die Melodieempfehlung EG 149 aber nicht getilgt.
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des Glorialiedes von Nikolaus Decius „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (EG 179); man könnte mit Wir feiern deine Himmelfahrt (oder Strophen daraus) auch das „Ehre sei Gott in der Höhe“ in einem nach Grundform I (Messform) gefeierten Himmelfahrtsgottesdienst ausführen. In einem Gottesdienst, in dem zu diesem Lied gepredigt wird (und ein Chor die singende Gemeinde unterstützt), wären auch mehrere Melodiezuweisungen möglich, z. B. zu den Strophen 1–2 die Melodie zu „Nun freut euch, lieben Christen gmein“ (EG 341) oder zu „Es ist das Heil uns kommen her“ (EG 342), zu den Strophen 3–5, in denen die Bedrängnis anklingt (Leiden, Angst, Widerspruch) eine der affektverwandten Melodien zu „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (EG 299 I und II) oder „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ (EG 273), zu Strophe 6 die von Detlev Block empfohlene Melodie zu „Es ist gewisslich an der Zeit“ (EG 149). Der Möglichkeiten sind viele …
Liturgischer Kontext Wir feiern deine Himmelfahrt passt, als ‚normales‘ gottesdienstliches Gemeinde- oder Chorlied gesungen, unmittelbar nur an Christi Himmelfahrt selbst, für das es eines der beiden „Lieder des Tages“ ist. Es interpretiert die biblischen Festerzählungen, die in der Langfassung die Epistel (Apg 1,3–11) und in der Kurzfassung das Evangelium (Lk 24,[44–49]50–53) bilden. Natürlich kann das Lied in den Gemeinden, in denen an Christi Himmelfahrt kein Gottesdienst stattfindet, auch am Sonntag Exaudi gesungen werden, mit dem Christi Himmelfahrt ausdrücklich durch den Spruch des Tages bzw. der Woche verbunden ist: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32). Sowohl für Christi Himmelfahrt als auch für Exaudi bietet es sich an, zum Text des Liedes (unter Einbezug der möglichen Melodien) zu predigen.11 Das andere Wochenlied, „Jesus Christus herrscht als König“ von Philipp Friedrich Hiller (EG 123), streicht stärker als Wir feiern deine Himmelfahrt die mit der Erhöhung Jesu Christi zur Rechten Gottes verbundene Unterwerfung der Mächte und Gewalten heraus und steht damit sowohl dem ‚Himmelfahrtspsalm‘ Ps 47 („Gott ist König über die ganze Erde“, V. 8a) als auch dem Predigttext Epheser 1,(15–20a)20b–23 nahe. Die alttestamentliche Lesung, 1. Könige 8,22–28, die Eröffnung des sog. Tempelweihgebets Salomos, und die beiden anderen Predigttexte, Johannes 17,20–26 und Daniel 7,1–3(4–8)9–14, haben je ihren eigenen Duktus und Skopus; in jedem Fall lassen sich belangvolle intertextuelle Beziehungen zu Wir feiern deine Himmelfahrt entdecken und benennen. Martin Evang 11 Der Text einer am 1. Mai 2008 im Evangeliumsrundfunk übertragenen Liedpredigt von Reinhold Weber findet sich in: Kunath, Abendstern (2014), 38–44. Weitere Liedpredigten können im www aufgefunden werden.
Atme in uns, Heiliger Geist (EG.E 7)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Thomas Csanády (*1962) / Roger Ibounigg (*1960) Pierre Mugnier / Viviane Mugnier T / M (deutsch): 1985 Esprit de Dieu, souffle de vie (Emmanuel Songs 1982) T: Jean-Marc Morin Pfingsten
Der Geist Gottes und die Musik – was könnte ein kongenialeres Verhältnis sein?! Töne sind präsent und können doch nicht festgehalten werden, Stimmen sind einzeln und klingen doch zusammen, eine Melodie ist ganz und gar gewaltfrei und überwältigt doch die Herzen. Sie verführt zum tiefen Atemholen, und dann kann man nicht anders als einstimmen und mitsingen. Das gilt insbesondere auch für unser Lied hier, das den Heiligen Geist nicht nur besingt, sondern anspricht und einlädt. Und damit performativ dasjenige realisiert, was es aussagt: Komm, du Geist, durchdringe uns.
Historische Verortung1 Im Februar 1967 versammelte sich eine Gruppe katholischer Studierender an der Duquesne-University in Pittsburgh (USA) in Gebetsgruppen und zum Austausch über eine gemeinsame Spiritualität. Daraus entstand ein katholischer Pentekostalismus, der erst andere US-Universitäten erfasste, dann auch Südamerika und Europa. Im Zuge dieser Bewegung kamen Anfang der 1970er Jahre auch in Paris ein paar junge Menschen zu einem Gebetskreis zusammen. Immer mehr Menschen kamen hinzu, und so teilten sie sich in verschiedene Gruppen. Um dennoch die gemeinsame Identität festzuhalten, gaben sie sich den Namen „Communauté Emmanuel“, Gemeinschaft Emmanuel. Zentral ist ihnen ihr Gründungserlebnis: die Ausgießung des Heiligen Geistes mit seinen Früchten Freude, Lobpreis, Gebet, Liebe zum Wort Gottes und dem Wunsch, seine Liebe bis an die Enden der Erde zu erfahren. Darin wurzeln eine gemeinsame 1 Zum Folgenden vgl. https://www.lavie.fr/christianisme/eglise/debout-resplendis-linspiration-un- don-de-lesprit-saint-74481.php (31.8.2022); https://emmanuel.info/chants-de-lemmanuel-repertoire- vivant-iev348/ (31.8.2022); https://www.pfarrbriefservice.de/file/ein-inspirierender-gesang-fur-wichtige- ereignisse (31.8.2022); https://www.erzbistumberlin.de/fileadmin/user_mount/PDF-Dateien/Glaube/ Neues_Gotteslob/346AtmeinunsHeiligerGeistLiedportrait.pdf.
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religiöse Praxis und ein Gebetsleben, das im Alltag wirksam wird. Musik und Lieder spielten dabei von Anfang an eine große Rolle, und die jungen Leute suchten nach Liedern, mit denen sie Lobpreis, Glauben, Danksagung und Gebet jenseits der liturgischen Traditionen ausdrücken konnten. Für ihr erstes Liederbuch übernahmen sie Lieder aus der charismatischen Bewegung in Pittsburgh, aus dem Pfarrrepertoire der damaligen Zeit, aus der orthodoxen Tradition und von Pfingstgruppen. Ab 1975 hatte die Gemeinschaft ihr geistliches Zentrum in Paray-le-Monial, 350 km südlich von Paris. 1981 entstanden erste Statuten, und es wurden erste Diözesanpriester geweiht. Die junge, wilde Gemeinschaft Emmanuel wurde erwachsen, und aus der Gemeinschaft des Gebetes und der Meditation des Wortes Gottes heraus entstanden ihre eigenen Lieder. Sie wurden zunächst kritisiert, weil sie nicht unbedingt die Kriterien respektierten, die von der Liturgie gefordert wurden. So passten die Lieder nicht zum Ritus, den sie begleiten sollten. Aber genau diese Einschränkungen wollten die neuen Lieder ja sprengen. Auch waren einige Verse länger als andere, es gab eine Mischung aus ein- und zweisilbigen Reimen oder das Zusammentreffen von Vokalen bei zwei aufeinanderfolgenden Worten. Aber die Lieder waren fröhlich, und sie transportierten noch immer den Geist der Anfangszeit. Und so wurden sie gesungen, nicht nur in den Gebetskreisen der Gemeinschaft, sondern auf Hochzeiten und bald auch in anderen Ländern. Eines dieser Lieder ist Atme in uns, Heiliger Geist. Im Original heisst es: Esprit de Dieu, souffle de vie (Geist Gottes, Atem des Lebens). Refrain: Esprit de Dieu, souffle de vie, Esprit de Dieu, souffle de feu, Esprit de Dieu, consolateur, Tu nous sanctifies! 1. Viens, Esprit, viens en nos cœurs. Viens, Esprit, nous visiter. Viens, Esprit, nous vivifier, Viens, nous t’attendons. 2. Viens, Esprit de sainteté. Viens, Esprit de vérité. Viens, Esprit de charité, Viens, nous t’attendons. 3. Viens, Esprit, nous rassembler. Viens, Esprit, nous embraser. Viens, Esprit, nous recréer, Viens, nous t’attendons.
Geschrieben hat den Text Jean-Marc Morin, ein junger Ingenieur und Mitglied der ersten Stunde in der Communauté Emmanuel. Er hatte, wie er selber sagt, „ein Cha-
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risma der Lieder“ erhalten und empfing seine Lieder im Gebet oder auch gelegentlich beim Autofahren. Viele seiner Lieder wurden weit über die Grenzen der Gemeinschaft hinaus bekannt, so auch „Debout Resplendis“ (dt. „Jerusalem“). Morin vertonte seine Lieder meist selber, aber die Melodie von „Atme in uns“ wurde von Pierre und Viviane Mugnier komponiert. Auch sie waren Mitglieder in der Gemeinschaft Emmanuel, und sie schrieben die Melodie wohl in unmittelbarer Nähe zu Text und Texter im selben Jahr. Die Gemeinschaft Emmanuel hat allerdings in den folgenden Jahrzehnten ihre politische Unschuld verloren. So demonstrierte sie im Jahr 2013 in Paris zusammen mit Vertretern der extremen Rechten gegen die „Ehe für alle“, und die Bundeszentrale für politische Bildung bemerkt unter dem Titel „Vorboten eines neuen Rechtsrucks?“, die Gemeinschaft Emmanuel habe sich einem „’internationalen Katholizismus’ verschrieben (…) und teilweise Verbindungen zu US-amerikanischen ultrakonservativen Organisationen unterhalten“2.
Zu Form und Inhalt des Liedes Dieses Lied grenzt allerdings nicht aus, sondern schließt alle ein. Der Text nimmt den Pfingsthymnus aus dem 9. Jahrhundert auf: Veni Creator Spiritus – komm, Schöpfergeist! Dieser soll, so der Sprachwissenschaftler Heinrich Lausberg in seiner Analyse des Hymnus, auf das Konzil in Aachen 809 hin verfasst worden sein, um die Aufnahme des Filioque in das Glaubensbekenntnis zu unterstützen.3 Dabei ging es um die Frage, ob der Heilige Geist nur aus dem Vater hervorgeht oder auch aus dem Sohn – bis heute ein theologischer Streitpunkt zwischen den lateinischen Kirchen, welche die Einheit der Trinität betonen (ja!), und den orthodoxen Kirchen, welche die unterschiedlichen Dimensionen der trinitarischen Entitäten betonen (nein!). 1985 übersetzten Thomas Csanády, Theologe und Liturgiewissenschaftler an der Universität Graz, und Roger Ibounigg4, Priester aus der Steiermark, das Lied ins Deutsche. Dabei wurden aus den französischen Substantiven im Refrain: Atem des Lebens, Atem des Feuers, Tröster – eher untypisch – deutsche Verben. Die Strophen bleiben hingegen nahe am Original, nur aus dem attendons (erwarten) wird ein stärkeres ersehnen. Und so beginnt der Refrain im Deutschen nicht mit der Anrufung des Heiligen Geistes, sondern mit einer dreifachen Aufforderung, die sich rhythmisch und in der Melodie wiederholt: Atme, Brenne, Wirke! Zusammen mit der Synkope im 1. Takt 2 https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/166905/die-proteste-gegen-die-ehe-fuer-alleanzeichen-eines-neuen-konservatismus-in-frankreich/#footnote-target-3 (31.8.2022). 3 Vgl. Heinrich Lausberg: Der Hymnus „Veni Creator Spiritus“, Opladen 1979. 4 Letzterer steht ebenfalls dem konservativen Flügel sehr nahe (ein „konservativer Hardliner“, https://www.krone.at/2633984).
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bringt das Lied nicht nur den Geist in Bewegung, sondern auch die Sänger und Sängerinnen. Sie lassen nicht passiv die Einwohnung des Geistes über sich ergehen, sondern öffnen sich beim Singen aktiv dafür. Diesem Zusammenwirken von Gottesund Menschengeist in der Melodie des Refrains steht die vollständige Ausrichtung auf den Geist Gottes im Text entgegen. Nicht wir, sondern Du, Heiliger Geist. Dies allerdings gar nicht so fröhlich, sondern im seltenen fis-Moll, das in der Literatur als eher melancholisch, wenn nicht gar tragisch bezeichnet wird. Passender ist hier vielleicht die Charakterisierung von Schubart, der schreibt: „Es scheint ihm ordentlich in seiner Lage nicht wohl zu seyn; daher schmachtet er immer nach der Ruhe von A dur, oder nach der triumphierenden Seligkeit von D dur hin.“5 Wir kommen zwar nicht nach A-Dur oder D-Dur, aber das Schmachten nach Ruhe und Seligkeit, das Ersehnen ist jedenfalls das Thema der Verse. Dreimal pro Strophe wird das Kommen des Geistes erfleht, dies in drei Strophen mit jeweils drei Akkorden – die Systematikerin kann nicht anders, als dies trinitarisch zu verstehen: der Schöpfergeist, der durchdringt und lebendig macht, der Geist Christi, der Wahrheit und Liebe ist, und der Heilige Geist, der uns eins macht in der Gemeinde. Während der Refrain mit seinem synkopischen 4/4-Rhythmus und der Betonung auf Schlag 1 und 3 aktiviert und in Bewegung setzt – und vielleicht sogar Gefahr läuft, etwas militaristisch gesungen zu werden –, öffnen die weiten Bögen der Strophen sowohl textlich als auch melodisch das Herz. Beide Teile sind gleich lang und die Harmonien wechseln in identischer Folge. So können Refrain und Strophe auch gleichzeitig gesungen werden, wobei es jeweils auf der ersten Silbe von „Heiliger“ zu einer kurzen und interessanten Dissonanz kommt.6 Dreimal werden die Tore geöffnet; und dem deutschen einsilbigen Geist (frz. esprit) geschuldet kommt hier die direkte und vertraute Du-Anrede mit hinein: Komm, Du Geist! Aber der da singt, ist nicht der Einzelne, sondern es ist die gesamte Gemeinschaft der Heiligen, die singt und betet: In uns atme, brenne, wirke, uns durchdringe und belebe! Und die Schweizer Theologin wittert hier entzückt Spuren eines reformierten Abendmahlsverständnisses: Christus ist real gegenwärtig, nicht in den Substanzen Brot und Wein, sondern in seiner Geistkraft in der lebendigen, feiernden Gemeinde. Vor diesem Horizont stellt sich die 1. Strophe als Epiklese dar, die den Geist auf die Teilnehmenden herabruft, damit Gott hier und jetzt gegenwärtig sei. Die 2. Strophe benennt dann diesen Geist als den Geist der Heiligkeit, der Wahrheit und der Liebe, so wie ihn Jesus in seinen Abschiedsreden verheißen hat (Joh 16) – Christus selber, der nicht nach seiner menschlichen Natur, aber nach seiner Gottheit, Majestät,
5 Christian Friedrich Daniel Schubart’s Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806 (entstanden 1785/1786), zit. nach: https://www.koelnklavier.de/quellen/tonarten/moll.html#fismoll (31.8.2022). 6 Dieser Absatz wurde von Beate Besser verfasst.
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Gnade und Geist nimmer von uns weicht.7 Das ist Christus, wie er immerfort die ganze Welt erfüllt, auch vor und jenseits seiner Menschwerdung, sagt Calvin (Institutio II 13,4). Dieses so genannte Extra Calvinisticum ist allerdings weder spezifisch calvinistisch noch speziell reformiert, sondern wurde schon im 12. Jahrhundert. von Petrus Lombardus in seinen Sentenzen so formuliert.8 Die 3. Strophe schließlich öffnet die eschatologische Dimension. Mach uns eins, auf dass die Welt Christus erkenne (Joh 17,23), und schaff uns neu, nämlich als neue Geschöpfe in Christus (2. Kor 5,17). Das Lied ist damit natürlich ein Pfingstlied, aber auch ein Abendmahlslied, ein Lied zum Anfang des Gottesdienstes und des Zusammenkommens und ebenso ein Lied zu Taufe, Konfirmation und Firmung, weil doch die Taufe das Sakrament des Neuanfangs ist. Der Atem Gottes, der uns seit unserem Lebensanfang lebendig macht und den wir ersehnen, das „schon jetzt und noch nicht“ des Reiches Gottes, all das ist ungeachtet seiner katholisch-konservativen Wurzeln in diesem wunderschönen, einfachen kleinen Lied in ökumenischer Weite umschlossen. Christina Aus der Au
7 Heidelberger Katechismus, Frage 47, in: Hans Steubing (Hg.): Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten, Wuppertal 1985, 141. 8 Vgl. Christina Aus der Au: Das Extra Calvinisticum – mehr als ein reformiertes Extra? In: Theologische Zeitschrift 64 (2008), 358–369.
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Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
(Str. 1+4): Gerhard Schnath (1926–1988) (Str. 2+3): Rudolf Otto Wiemer (1905–1998) Peter Janssens (1934–1998) T: Str. 1 = 4 (1975), Str. 2+3 (1989) M: 1975 2. Advent
Die Vision einer anderen, einer besseren Zeit ist das Thema des Liedes. Ihre Ankunft sehnen wir herbei, eine Zeit, in der sich all das erfüllt, was jetzt noch unvollkommen ist: Friede, Freude und Gerechtigkeit sollen die Kreatur erlösen, und dann werden Gott und die Menschen Hand in Hand gehen. Die 1. Strophe1 stammt von Gerhard Schnath (1926–1988)2, der 1962–1976 Kirchentagspastor war.3 Sein Engagement galt Gottesdiensten in neuer Gestalt, wozu er im Rahmen der vielfältigen Bemühungen des Kirchentags um Kirchenreform auch mehrere Veröffentlichungen vorlegte.4 Die beiden folgenden Strophen wurden von Rudolf Otto Wiemer (1905–1998) gedichtet. Wiemer entwickelte bereits in jungen Jahren eine Affinität zu Literatur, Musik und dem Theaterspiel. Er arbeitete als Lehrer in Sondershausen, wandte sich aber im Laufe seines Lebens immer stärker der schriftstellerischen Tätigkeit zu; daraus sind neben Theaterstücken und Puppenspielen zahlreiche Lieder erhalten. Wiemers ergänzende zwei Strophen sollen noch vor dem Mauerfall 1989 entstanden sein.5 1 Das Lied mit der einen Strophe von Gerhard Schnath wurde erstmals im Peter Janssens Musik Verlag, Telgte 1975, auf der LP „Leben wird es geben“ publiziert. Diese einstrophige Version findet sich auch in „Mein Liederbuch für heute und morgen“, Düsseldorf o. J. (1982), B 74. 2 Harald Schroeter: Kirchentag als vor-läufige Kirche. Der Kirchentag als eine besondere Gestalt des Christseins zwischen Kirche und Welt, Praktische Theologie heute 13, Stuttgart u. a. 1993, 168 Anm. 2. 3 Katharina Herrmann: Gesungene Katechese. Kommunikation durch Popularisierung. Kulturelle Repräsentationen eines engagierten protestantischen Christentums im Neuen Geistlichen Lied, Religion in der Bundesrepublik Deutschland 11, Tübingen 2021, 38. Zu Recht weist Herrmann darauf hin, dass es zu Schnath kaum biografisches Material gibt, was bedauerlicherweise auf alle Kirchentagspastoren des 20. Jahrhundert zutrifft. 4 Gerhard Schnath (Hg. i. A. des DEKT): Fantasie für Gott. Gottesdienste in neuer Gestalt, Stuttgart / Berlin 1965; ders. (Hg. i. A. des DEKT): Fantasie für die Welt. Gemeinden in neuer Gestalt, Stuttgart / Berlin 1967; ders. (Hg. i. V. mit dem Volksmissionarischen Amt der EKiR): Werkbuch Gottesdienst. Texte – Modelle – Berichte, Wuppertal 1967. 5 Christian Hartberg, in: https://www.kirche-im-swr.de/beitraege/?id=32023 (abgerufen am 29.10.2022).
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Das paradiesische Bild, das Schnath in der 1. Strophe zeichnet, führt Wiemer in seinen Strophen weiter aus. Strophe 2 handelt vom Frieden: Völker versöhnen sich, alle sind befreit und stehen zusammen im einen Haus der Welt. Die 3. Strophe fokussiert die Schöpfung, die Wiemer in Form der Elemente aufruft: Auf die Erde (da wird der Erdkreis neu ergrünen) folgen Wasser, Luft und Feuer – sie tragen gemeinsam dazu bei, wenn der Menschen Geist des Schöpfers Plan bewahrt. Im Originaldruck des Peter-Janssens-Musik-Verlags6 ist eine alternative Strophe 2 von Gottfried Mohr7 abgedruckt, die Motive aus neutestamentlichen Heilungsgeschichten aufnimmt: Es kommt die Zeit, in der die Blinden wieder sehen, wenn Kranken und Armen und Gefangenen die frohe Botschaft gilt. Dann gehen Gott und die Menschen Hand in Hand, dann gehen Gott und die Menschen Hand in Hand.8
Bei künftigen Lieddrucken könnte es sinnvoll sein, Mohrs und Wiemers Strophen 2 nacheinander abzudrucken, so dass das Lied um eine Strophe erweitert wird und damit die auf den Menschen bezogene Heilsdimension des Glaubens als Voraussetzung für die eschatologische bzw. adventliche Hoffnung wahrnimmt. Strophe 4 schließt den Kreis, indem Schnaths Strophe 1 wiederholt wird – ein ähnliches Stilmittel wie bei Dieter Trautweins (1928–2002) Segenslied „Komm, Herr, segne uns“. Der sehnsuchtsvolle Blick auf die Schöpfung ist uns Heutigen im Angesicht der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen allgegenwärtig; vor nahezu 50 Jahren waren es nur wenige, die einen so direkten Zusammenhang zwischen den Visionen des Propheten Jesaja und aus der Offenbarung mit der Bewahrung der Schöpfung herstellten: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz“ (Offb 21,4). – „Es wird kein 6 Peter Janssens: Meine Lieder, Telgte 1992, 214. 7 Gottfried Mohr wurde 1950 in Kiel geboren und zog mit sieben Jahren nach Tübingen, als sein Vater Wolfgang Mohr (1907–1991) dort einen Ruf auf die Professur für ältere deutsche Sprache und Literatur annahm. Gottfried Mohr, u. a. 1991–2002 württembergischer Landespfarrer für Kindergottesdienst, beschäftigt sich besonders mit Fragen des Erzählens. Neben manchen Publikationen für Kinder findet sich auch Autobiographisches: Gottfried Mohr: Unser Tierland. Erinnerungen an eine Kindheit in Tübingen, Tierländische Nachrichten, BoD 2022. 8 In dieser Fassung wurde das Lied auch im Entwurf zur neuen Perikopenordnung vorgelegt: Entwurf zur Erprobung im Auftrag von EKD, UEK Und VELKD. Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte, hg. i.A. der Kirchenämter von EKD, UEK und VELKD von der Geschäftsführung Perikopenrevision (EKD – UEK – VELKD) OKRin Christine Jahn, Hannover 2014, 602. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, warum diese Strophe 2 auf dem Weg vom Perikopenordnungsentwurf zum EG-Ergänzungsheft ausgewechselt wurde. – Eine Beschlussvorlage oder Diskussion unter den Mitgliedern des zuständigen Ausschusses lässt sich nicht nachweisen.
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Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Jes 2,4). Die andere Sehnsucht, die hinter dem Text steht, ist eine sozialkritische. Die Losung des Kirchentags 1975 in Frankfurt / Main, zu dem das Lied entstanden ist, lautete: „In Ängsten – und siehe, wir leben“, entnommen dem 2. Korintherbrief (vgl. 6,4.9). Peter Janssens verarbeitete dies gemeinsam mit Günter Hildebrandt (*1931) zu einer Kyrie-Litanei (‚Leise‘) und verdichtete das Motto zu einer sozialkritischen Aussage, indem er den wohlhabenden Teil der Menschheit und diejenigen, die unter Mangel zu leiden haben, direkt miteinander konfrontierte: „In Ängsten die Einen, und die andern leben (…) und sie leben nicht schlecht (…) – Kyrie eleison“. Dieser sozialkritische Grundton schwingt auch in unserem Lied mit – Janssens hat ihn in seine musikalische Gestaltung eingewebt. Die fünfzeilige Melodie ist zweiteilig angelegt: Nach zwei Langzeilen und einer Kurzzeile, die den Text der jeweiligen Strophe vertonen, folgt die Refrainzeile zweimal – einmal mit Halb- und ein weiteres Mal mit Ganzschluss. Janssens hat sie auf den Text der 1. Strophe bezogen – die anderen wurden ja erst wesentlich später hinzugefügt. Die Melodie atmet den Geist der Kirchentage der 1970er Jahre: schnörkellos, dicht am Text komponiert (der in diesem Fall weder klares Versmaß noch Reimschema erkennen lässt) und in einem lockeren Dreiertakt, der gleichwohl einmal – bei dem Wort Gerechtigkeit – schroff durch einen 2/4-Takt unterbrochen wird. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der Dreiertakt nicht unbekümmertschwungvoll zu interpretieren ist, sondern gehalten und mit deutlichen Akzenten. Dafür sorgen in der Harmonisierung auch die drei Akkorde zu Beginn der Strophe, mit der die drei auftaktigen Noten begleitet werden, sowie nochmals zu Beginn des Refrains. Allerdings ist in manchen Liederbüchern das Akkordschema vereinfacht worden, was dazu verleitet, die ursprüngliche Intention zu verlassen und das Lied zu schnell zu singen. Die Aufnahme, die Peter Janssens 1975 mit seinem ‚Gesangsorchester‘ eingespielt hat, lässt den Dreiertakt beinahe zu einem Marsch werden, bei dem jede Viertel Gewicht erhält; die Viertel werden jeweils leicht gekürzt, die Pausen streng beachtet, jede Note mit einem Trommelschlag akzentuiert. Erst beim Refrain löst sich der starre Rhythmus etwas auf, und mit der Flöte und ihrer freien Oberstimme tritt ein weiteres, jazzartiges Element hinzu, als wollte er sagen: Erst wenn wir das Tal der Tränen durchschritten haben, werden Gott und die Menschen Hand in Hand gehen. Der Ambitus der Melodie ist recht groß: die meisten Zeilen umfassen eine Septime. Eine wichtige Rolle spielt die Sexte, die mal ‚mit Anlauf‘ (zu Beginn), mal in direktem Sprung (in der 2. Zeile) erreicht wird. Sie unterstreicht die große Expressivität der Melodie. Kleine Entsprechungen verdichten sie weiter: So wird das rhythmisch-melodische Glied zum Text und Gerechtigkeit gleich anschließend zum Text Kreatur erlöst wiederholt, abgesehen von den beiden Achteln um eine Terz höher. Das schafft nicht nur Zusammenhang, sondern bindet auch den Taktwechsel ein, indem dieselbe rhythmische Formulierung einmal im 2/4-Takt, ein anderes Mal
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im 3/4-Takt erscheint. Am Ende des Refrains (und damit des ganzen Liedes) hat Janssens übrigens einen weiteren Takt eingefügt (der freilich im Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch weggelassen wurde). Auch dies führt dazu, den gleichmäßig-periodischen Ablauf, der im Refrain erreicht wurde, wieder aus dem Tritt zu bringen, als sollte das heißen: Noch ist die Balance der Schöpfung gestört, bis die Zeit herbeigekommen ist, in der wir erlöst sein werden. Peter Janssens hat mit dieser Melodie und der in seiner Einspielung dokumentierten Aufführungspraxis dem visionären Text die sozialkritische Facette hinzugefügt: Frieden und Gerechtigkeit sind nicht zum Nulltarif zu haben, vielmehr steht am Beginn der Kampf für mehr Gerechtigkeit und für eine Bewahrung der Schöpfung – dies könnte heute kaum aktueller zum Ausdruck gebracht werden. Peter „Piet“ Janssens (1934–1998)9 gehört seit der legendären Liturgischen Nacht auf dem Düsseldorfer Kirchentag 1973 zu den Begründern des Kirchentags-Sounds der 1970er und 1980er Jahre. Mit seinem Gesangsorchester, einer Gruppe von Musikerinnen und Musikern, die verschiedene Instrumente spielten und zugleich sangen, gelang es dem charismatischen Musiker, bereits nach wenigen Takten eine ganze Messehalle zum Singen zu bringen. Seine Lieder begründeten den Sacro-Pop, und über viele Jahre bestimmte sein Ensemble den musikalischen Grundton von Kirchen- und Katholikentagen. Anders als die eher an Schlager und Unterhaltungsmusik angelehnten Lieder des „Liederfrühlings“ zu Beginn der 1960er Jahre, für den paradigmatisch etwa Martin Gotthard Schneiders „Danke“-Lied in der Interpretation durch den Botho-Lucas-Chor angesehen werden kann, stellte Janssens mit klarer Diktion und einem Rhythmus, der zum Mitsingen einlädt, Anklänge an die Tradition alter Kirchenlieder oder andere musikalische Themen her und markierte eine klare politische Haltung. Janssens lebte seit seiner Geburt im münsterländischen Telgte, studierte nach der Schulzeit zunächst an der Universität Münster Soziologie, Geschichte und Musikwissenschaft sowie später Musik an der Musikhochschule in Köln. Als Theatermusiker (in Buenos Aires, Münster, Bad Hersfeld) sammelte er vielfältige Erfahrungen, bevor er sich in den 1970er Jahren der Komposition Neuer Geistlicher Lieder zuwandte. Bald komponierte er auch Beatmessen und Musicals, aber auch Kinderlieder und -musicals, und arbeitete mit Texten von Ernesto Cardenal (1925–2020), Friedrich Karl Barth (*1938), Wilhelm Wilms (1930–2002), Rolf Krenzer (1936–2007) und anderen. Seine Lieder finden sich über Konfessionsgrenzen hinweg in zahlreichen Gesangbüchern. Matthias Schneider
9 Vgl. das „Gespräch mit Peter Janssens“ (1996), in: Peter Hahnen: Das „Neue Geistliche Lied“ als zeitgenössische Komponente christlicher Spiritualität, Theologie und Praxis 3, Münster u. a. 1998, 422–443.
Gottesdienst
Unser Vater – Bist zu uns wie ein Vater (EG.E 9)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Christoph Zehendner (*1961) Hans Werner Scharnowski (*1954) T / M: 1994 T: Mt 6,9–13 Rogate
Zum Charakter des Sonntags Rogate1 Am fünften Sonntag nach Ostern, Rogate, steht das Beten im Mittelpunkt des gottesdienstlichen Geschehens. Diese Grundgeste des christlichen Glaubens verbindet nicht nur Christen und Christinnen weltweit, sondern bildet darüber hinaus eine Brücke zur Spiritualität anderer Religionen. Die biblischen Lesungen des Sonntags zeigen, wie Menschen sich im Gebet auf unterschiedliche Weise mit Gott in Beziehung setzen: Dank und Lobpreis der Schöpfung (Ps 95), das letztlich erfolgreiche Ringen mit Gott (Ex 32) sowie die Aufforderung zur Fürbitte, auch für Verantwortliche in Politik und Gesellschaft (1. Tim 2). Weitere vorgeschlagene Texte sind: Joh 16,23b–28(29–32)33; Sir 35,16–22a; Dan 9,4–5.16–19. Dankbares Gotteslob klingt auch im Wochenspruch (Ps 66,20) an. Das Vaterunser als Zentralgebet der Christenheit taucht in beiden neutestamentlich überlieferten Fassungen auf: Lukas 11,2–4 – allerdings nur als optionaler Teil des Evangeliums (Lk 11,[1–4]5–13) – und Matthäus 6,9–13, eingebettet in den Zusammenhang von Matthäus 6,5–15, letzterer unter der Rubrik „Weitere Predigttexte“. In diesen und weiteren vorgeschlagenen Texten wird deutlich, dass es sich beim Beten um eine emotionale Aktivität handelt, weil Ängste und Hoffnungen, Freude und Trauer vor Gott gebracht werden. Dies geschieht vor allem in Lob und Klage, Dank und Bitte. Solches Beten hat in der gottesdienstlichen Gemeinschaft einen herausgehobenen Ort. Es erfährt Bewährungsproben besonders in den Ängsten und Nöten des Alltags, wenn der oder die Einzelne mit der Anrufung Gottes – wie im Vaterunser – auch die Bitten um das Not-Wendige, um Geduld und Kraft zum Ertragen schwieriger Situationen verbindet.
1 Vgl. Manfred Josuttis: Erleuchte uns mit deinem Licht. Gedanken und Gebete zu den Gottesdiensten des Kirchenjahres, Gütersloh 2009.
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Die Wochenlieder des Sonntags Als traditionelles Wochenlied dieses Sonntags ist Martin Luthers Liedfassung des Vaterunser von 1538 beibehalten: „Vater unser im Himmelreich“ (EG 344). Es gehört in die Reihe seiner Katechismuslieder, die das Ziel verfolgen, zentrale Inhalte des Glaubens auch Menschen ohne Zugang zu umfassenderer Bildung nahezubringen. Das Singen soll dabei die Glaubensinhalte tiefer einprägen und emotional verankern. Luther behält in diesem Lied die Gebetsform bei und bearbeitet den Text mit dem Ziel leichter Merkbarkeit. Dabei orientiert er sich inhaltlich weitgehend an den Linien der Vaterunser-Auslegung im Kleinen und Großen Katechismus. Der Liedtext ist gegenüber der biblischen Vorlage deutlich geweitet. Für unseren Zusammenhang ist bedeutsam, dass Luther durch seine Formulierungen den tröstenden und stärkenden Charakter dieses Gebetes unterstreicht (vgl. v. a. Str. 6–9). Das zweite Wochenlied ist die Vaterunser-Fassung von Zehendner / Scharnowski. Es ließ sich bislang nicht abschließend rekonstruieren, welche Motive die seinerzeit mit dem Wochenliedplan befasste Kommission dazu bewogen, aus verschiedenen anderen Optionen gerade dieses Lied auszuwählen. Deutlich wird jedenfalls die Absicht, das musikalische Spektrum der Wochenlieder zu weiten. Denn hier wird der Luther-Fassung ein modernes Lied zur Seite gestellt, das sich rasch in landes- und freikirchlichen Gemeinden verbreitet hatte und auch in der „Worship“-Szene rezipiert war.
Entstehung, Verbreitung und Übersetzungen des Liedes2 Nicht erst seit den 1990er Jahren arbeitete der Autor des Textes, Christoph Zehendner, an sog. „Konzeptalben“, in denen größere biblische Textkomplexe sprachlich bearbeitet und durch verschiedene kooperierende Komponisten in aufeinander bezogenen Liedern vertont wurden. Er verfolgte das Ziel, den Menschen unserer Zeit Bibeltexte näherzubringen, vor allem durch eingängige Sprache und Musik, die berührt. Eine frühere Beschäftigung mit der Bergpredigt hatte 1983 zu dem Album „Fundamentales“ geführt. In den Jahren 1992/93 widmete Zehendner sich erneut diesem Textkomplex. Ausgewählte Kernaussagen werden in einem modernen Sprachgewand präsentiert, das Treue zum Text mit schlichten Aktualisierungen verbindet. Dies soll – etwa 450 Jahre nach Luther – das Verstehen erleichtern, emotionale Berührung bewirken und so den heutigen Alltagsbezug der Texte ausloten. Im Jahr 1994 entstand in enger Zusammenarbeit mit Johannes Nitsch, Hans-Werner Scharnowski
2 Besonders hilfreich waren ausführliche Telefonate mit Hans-Werner Scharnowski (5.10.2022) und Christoph Zehendner (8.10.2022). Die dabei erhaltenen Informationen sind in Absprache mit ihnen in den Text eingegangen, ohne ausdrücklich jeweils als Zitate kenntlich gemacht zu werden.
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und Manfred Staiger das Album „Felsenfest“. Es erschien im – im selben Jahr gegründeten – „Felsenfest-Musikverlag“ in Zusammenarbeit mit Gerth-Medien. Die Datierung der Textabfassung auf 1995 im EG.E (wie schon in den freiTönen) ist demnach zu korrigieren. Das Album trug den programmatischen Untertitel: „Musikalische Fenster zur Bergpredigt“. Durch diese musikalischen Fenster soll hindurchgeblickt werden, um zu vertiefter Auseinandersetzung mit den biblischen Texten zu gelangen und dabei Neues zu entdecken. Der Titel des Albums bezieht sich auf den Schlussvers des letzten der 17 Lieder, das seinerseits den Schluss der Bergpredigt (Mt 7,24–27) aufnimmt. Das einprägsame Cover zeigt ein eher kleines Haus mit beleuchtetem Fenster. Es steht auf der Spitze eines Felsens, der von Wasser und Wellen umspült wird. Der von Zehendner erarbeitete Text wurde Scharnowski (via Fax) mit der Bitte um Vertonung zugeleitet. Dieser machte sich alsbald an die Arbeit, und die erste „in einem Flow“ gefundene Melodie fand umgehend allseitige Zustimmung. Sie ist nicht mehr verändert worden. Scharnowski berichtet, dass er mit einem Projektchor in der Stephanuskirche im Wanne-Eickeler Stadtteil Holsterhausen während einer Veranstaltungsreihe im April 1994 das Lied erstmals einer begrenzten Öffentlichkeit vorgestellt habe, noch bevor das Album erschien. Zur raschen Ausbreitung des Liedes trug entscheidend die „Felsenfest-Tournee“ in den Jahren 1994–1996 bei. Mindestens 60 Konzerte und Veranstaltungen wurden in der gesamten Bundesrepublik durchgeführt. Professionelle Musiker und Autoren (Nitsch, Staiger, Zehendner u. a.) brachten Technik und Band an die Veranstaltungsorte. Dort trafen sie auf lokale Chöre, die zuvor die Lieder des Albums eingeübt hatten, um auch dem Publikum das Mitsingen zu ermöglichen. Für das Vaterunser-Lied war zudem frühzeitig ein vierstimmiger Satz entstanden, der zur Rezeption besonders beitrug. Von diesen Konzerten und Veranstaltungen wurde das Lied in andere Kreise, Gruppen und Gemeinden weitergetragen. Es fand rasch positive Aufnahme, sowohl in landes- und freikirchlich geprägten Gemeinden als auch im hiesigen charismatisch geprägten Praise-and-Worship-Spektrum. Auch Sprachgrenzen überschreitende Resonanzen sind zu notieren: Aus verschiedenen Ländern wurden im Lauf der Jahre Anfragen nach der Erlaubnis einer Übersetzung des Liedtextes gestellt. Insgesamt gibt es nach Zehendners Auskunft derzeit wohl acht mit verschiedenen Beteiligten abgesprochene und von Autor und Verlag zum Abdruck genehmigte Fassungen. Eine von einer südafrikanischen Gemeinde angefragte englische Version wurde von Manfred Siebald vorgelegt3. Weitere Initiativen erfolgten u. a. für Spanisch, Französisch, Italienisch und Niederländisch. In jüngster Zeit kam eine entsprechende Bitte aus der Ukraine.
3 Vgl. https://www.gerth.de/father-our-father-unser-vater.html.
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Architektur und Akzente der Text- und Melodiegestaltung In der textlichen Ausgestaltung wird das bereits skizzierte Grundanliegen des A utors deutlich erkennbar. Ausgangspunkt der Textkomposition ist der Eingangssatz Bist zu uns wie ein Vater. Das dabei gefundene Versmaß ist prägend für die anderen Zeilen der Strophen. Der unbetonte doppelte Auftakt bist zu uns und die spezifische Kombination von betonten und nicht betonten Silben erzeugen einen fließenden Rhythmus, der bei der musikalischen Umsetzung eine folgerichtige Entsprechung im wiegenden 3/4-Takt mit dem Wechsel von Achtel- und Viertelnoten findet. Die Melodie sowohl der Strophen als auch des Refrains ist je zweiteilig gebaut. Die Strophen bestehen aus zweimal vier Takten, die jeweils gleich beginnen, aber etwas anders enden. Das gleiche Prinzip findet sich auch im Refrain, hier jedoch mit zweimal acht Takten und mit mehr langen Noten. Dadurch ist der Refrain doppelt so lang wie die Strophen. Deshalb wird in verschiedenen Publikationen empfohlen, den Refrain nur nach jeder zweiten Strophe zu singen. Einige Veröffentlichungen raten zudem, die Achtel ternär, also swingend, zu singen. Durch die formale und melodische Gestaltung ist die Melodie leicht zu lernen.4 Das Reimschema der Strophen ist ABCB. Der Refrain nimmt den fließenden Sprachrhythmus auf, verändert allerdings das Verhältnis von betonten und unbetonten Silben: Er beginnt mit einer betonten Silbe Vater. Das Reimschema ist hier ABAB. Gleichlautende Vokale verbinden die Abschnitte der beiden Zeilen. Die Kürze der Zeilen, klare Sprache und eindrückliche Bilder führen dazu, dass sich der Text leicht einprägt. Der Refrain stellt den Vater-Aspekt zentral. Umso mehr, wenn er nach jeder oder jeder zweiten Strophe gesungen wird. Die differenzierte Anrede Vater, unser Vater wird direkt verbunden mit der ersten Bitte, in der alle Ehre die Heiligung des Namens umschreibt. Zugleich wird mit der zweiten Ergänzung eine signifikante Brücke zum Ende des Gebets geschlagen: Der Ewigkeitsbezug der Schlussdoxologie bis ans Ende der Zeiten und das abschließende bekräftigende Amen klingen hier an. Ein Hinweis auf den Himmel findet sich bei der Vater-Anrede nicht. Die Strophen sind durchgängig als Gottes-Anrede gestaltet. Dieser Anrede korrespondiert entweder ein wir / uns oder ein alle (Str. 2): die betend singende Gemeinschaft bzw. die ganze Schöpfung. Sie darf sich als unmittelbar einbezogen erfahren. Die 1. Strophe umschreibt die Anrede. Sie versucht, eine Distanz zu überwinden, die grundsätzlich, aber auch konkret durch die ehrerbietenden Formulierungen des Refrains mit dem Vater-Sein Gottes oft verbunden sein dürfte. Hier kommt der Vater nahe: durch die vergleichende Rede des wie, die biblisch bezeugt ist (vgl. Ps 103,13). Der / die Betende wird in die Gemeinschaft hineingeholt: für uns. In der Aussage über Gott, der sein Kind nie vergisst, klingt erneut biblische Gebetssprache
4 Dieser Absatz wurde von Beate Besser verfasst.
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an (vgl. Jes 49,15f ). Die Verknüpfung von Gottes Größe mit seiner dennoch immer gegebenen Ansprechbarkeit im Gebet ermutigt die Singenden, dies auch vertrauensvoll zu tun. Die 2. Strophe fasst die zweite und dritte Bitte zusammen. Der Übersetzungsbegriff „Reich“ wird durch den biblisch angemesseneren dynamischen, gleichwohl stärker hierarchisierenden Begriff Herrschaft ersetzt – ein Akzent, der sich auch später noch einmal findet. Die Formulierung auf der Erde, im Himmel sollen alle es sehn hebt auf die Erkennbarkeit des Willens Gottes für alle Welt ab. Die sprachliche Gleichsetzung der Sphären von Himmel und Erde lässt die Vorstellung in den Hintergrund treten, wonach Himmel und Erde, gerade was das Geschehen von Gottes Willen und dessen Erkennbarkeit betrifft, als noch voneinander unterschiedene Bereiche zu denken sind. Die Brotbitte wird in der ersten Hälfte der 3. Strophe aufgenommen und im Einklang mit einem weit verbreiteten Verständnis erklärt als das, was wir brauchen.5 Es geht um all das, was zur Bewältigung des Lebens in seinen unterschiedlichen Bezügen notwendig ist. Auf eine weitere Explikation dieser Bitte wird verzichtet, stattdessen der 1. Teil der Vergebungsbitte direkt angeschlossen. Der vieldimensionale Begriff „Schuld“ wird pointiert und einprägsam gefasst als Aufstand gegen dich und dein Gebot. Dieser Begriff unterstreicht das aktive, gezielte, womöglich gemeinschaftlich Geplante des Fehlverhaltens gegen Gott. In den Blick kommt die Aufkündigung der Gotteskindschaft, das Sein-Wollen-wie-Gott des Menschen (vgl. Gen 3;11). Auch hier bekennen sich die Singenden direkt als solche Rebellen. Die Unordnung, die solches aufständische Verhalten bewirkt, wird in der teilweisen Auflösung des Versmaßes hörbar. Im 1. Teil der 4. Strophe wird der 2. Teil der Vergebungsbitte aufgenommen und prägnant verändert. Zunächst wird als weitere Bitte formuliert: Lehre uns zu vergeben, um dann mit so wie du uns vergibst fortzufahren. Was in der vorigen Strophe erbeten wurde, ist hier indikativisch gesetzt: Gottes Vergebung (vgl. Kol 3,13). Ihr sollen wir in unserem Verhalten entsprechen, und diese Praxis wird als Lernprozess beschrieben, für den wir von Gott Unterstützung erbitten. Im 2. Teil der 4. Strophe wird eine weitere Entsprechung formuliert: Lass uns treu zu dir stehen, so, wie du immer liebst. Beide Sätze haben keine unmittelbare Grundlage im Gebetstext, knüpfen aber, indem nun solidarische Treue erbeten wird, antithetisch an die Deutung der Schuld als Aufstand in der vorigen Strophe an. Dies kann als Ergebnis eines erfolgreichen Erlernens der Vergebungspraxis gelesen werden. So, wie du immer liebst – dieser Satz ist parallel formuliert zu dem vorangehenden der Vergebung (vgl. Röm 15,7). Immer wurde im Blick auf Gott schon in der 1. Strophe aufgenommen. Eine weitere Verknüpfung mit der vorherigen Strophe zeigt sich: Gottes Gebot und seine Vergebungsbereitschaft werden aus seiner Liebe gespeist.
5 Vgl. auch die 5. Strophe des Luther-Liedes.
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Die 5. Strophe nimmt die beiden letzten Bitten auf. Die Problematik, inwieweit Gott als einer zu denken ist, der Menschen aktiv in Versuchung führen kann, wird hier aufgelöst: Gott wird darum gebeten, aktiv Gedanken des Zweifels und der Anfechtung fortzunehmen. Erlösung vom Bösen wird als Befreiung gefasst, die in reformatorischer Tradition durch dein mächtiges Wort geschieht. Die letzte Strophe gilt der Schlussdoxologie mit signifikanten Akzenten: Die Reihenfolge „Reich – Kraft – Herrlichkeit“ wird verändert: Macht wird vorangestellt. Wurde „Reich“ in Strophe 2 durch Herrschaft ersetzt, so wird der Begriff hier aufgenommen. Herrlicher Herrscher wird – wie in Strophe 1 – durch ein bist Gott als Eigenschaft zugeschrieben; so wird das Macht-Paradigma verstärkt. „Ewigkeit“ wird neben der Aufnahme im Refrain nochmals doppelt umschrieben: hat kein Ende / hört nie auf. Auch in den doxologischen Abschluss wird ein wir eingefügt: Der Macht Gottes, der zu uns wie ein Vater ist, korrespondiert als menschliches Verhalten, wie durch einen Schlüsselbegriff christlicher Existenz zum Ausdruck gebracht wird: Wir vertrauen. Christoph Anders
Ich sage Ja1 (EG.E 10)
Text und Melodie: Erstveröffentlichung: Liturgische Einordnung:
Okko Herlyn (*1946) T / M: 2011 6. Sonntag nach Trinitatis
Zum Autor und Komponisten Okko Herlyn wird 1946 in Göttingen als Sohn eines reformierten Pfarrers und einer Buchhändlerin und Schriftstellerin geboren, wächst in Ostfriesland und am Niederrhein auf, studiert 1966–1972 Evangelische Theologie in Wuppertal, Göttingen, Zürich und Tübingen. Anschließend arbeitet er 1972–1974 als Assistent von Jürgen Fangmeier an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und als Vikar in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Schöller (Wuppertal). 1977 promoviert er bei Eberhard Jüngel in Tübingen.2 1977–1994 ist er Gemeindepfarrer in Duisburg-Wanheim und seit 1991 zugleich Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, wo er 1994 zum Professor für Ethik, Anthropologie und Theologie am Fachbereich Heilpädagogik berufen wird. Nach seiner Habilitation3 ist er ab 1996 zugleich auch Privatdozent für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2011 im Ruhestand, geht er konzentriert Fragen elementarer und orientierender Theologie nach4 und beleuchtet in verständlicher Sprache die zentralen christlichen Glaubenstexte.5 Neben der wissenschaftlichen Laufbahn ist Okko Herlyn seit über 30 Jahren als literarischer Kleinkünstler und Kabarettist im deutschsprachigen Raum unterwegs und seit einem gemeinsamen Auftritt mit dem ebenfalls vom Niederrhein geprägten Kabarettisten Hanns-Dieter Hüsch „auf seinen Spuren“. Zugleich ist er schon vor
1 Der Autor des Liedes legt Wert auf den kurzen Originaltitel „Ich sage Ja“ und nicht, wie in verschiedenen Liederheften und auch im EG.E zu lesen: „Ich sage Ja zu dem, der mich erschuf “. 2 Okko Herlyn: Religion oder Gebet. Karl Barths Bedeutung für ein „religionsloses Christentum“, Neukirchen-Vluyn 1979. 3 Okko Herlyn: Sache der Gemeinde. Studien zu einer Praktischen Theologie des „allgemeinen Priestertums“, Neukirchen-Vluyn 1997. 4 Okko Herlyn: Was ist eigentlich evangelisch? Neukirchen-Vluyn 52021. 5 Okko Herlyn: Das Vaterunser, Neukirchen-Vluyn 2017; ders.: Die Zehn Gebote, NeukirchenVluyn 2019.
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Günter Ruddat
mehr als 40 Jahren als Liedermacher und Komponist etwa mit seinem Lied „Einander brauchen mit Herz und Hand“ im Kinder- und Schulgottesdienst bekannt geworden, das er 2020 wieder eingespielt hat, oder mit dem Lied zu Ps 8 „Erdenkind, das du ins Leben geküsst“. Schon früh hat sich Okko Herlyn – etwa mit seiner Band „Quasimodogeniti“ an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal – auch immer wieder mit dem Phänomen der Neuen Geistlichen Lieder kritisch auseinandergesetzt6 und diese Lieder neben dem nicht zu vernachlässigenden Singen als „notwendige Zwischentöne“ erinnert. 2019 resümiert er: „In dem allgemeinen Schmusesound von so genannten ‚Lobpreisliedern‘“ könnten wir durchaus „die eine oder andere auch theologisch unkorrekte politische Prise der mittlerweile größtenteils in Vergessenheit geratenen neuen geistlichen Lieder der ‚68er‘ wahrhaftig wieder gebrauchen“7 – gerade vor dem Hintergrund, dass er selbst sich um theologisch korrekte, im Sinne von verantwortlicher und verständlicher Sprache bemüht.
Zur Entstehung von Text und Melodie Im „Jahr der Taufe“ 2011 hat die Evangelische Kirche im Rheinland einen Wettbewerb ausgeschrieben für neue Lieder zur Taufe, besonders zur Taufe von Jugendlichen und Erwachsenen.8 Mit dem 2. Preis unter 200 Einsendungen wird Okko Herlyns Tauf- und Glaubens(bekenntnis)lied ausgezeichnet. Es erlebt bei der Preisverleihung in Düsseldorf im November 2011 seine Uraufführung. In der Laudatio von Sylvia Bukowski wird es als „Ohrwurm“ gewürdigt, als „Kampfansage gegen jede müde Resignation“. Weiteren Kreisen wird das Lied durch die Aufnahme in das Liederbuch „freiTöne“9 zum Reformationssommer 2017 und schließlich auch durch den ZDFFernsehgottesdienst „Mut zur Demut“ in Ingelheim am 26. April 2020 bekannt. Wie in seinem Buch zum Glaubensbekenntnis nimmt sein Tauflied die Frage auf: Verstehen wir eigentlich, was wir bekennen – und wozu wir im Glauben Ja sagen?10 Damit greift er den Impuls für neue Lieder zur Taufe von Jugendlichen und Erwachsenen auf – ein verständliches Anliegen angesichts der Entwicklung, dass zum
6 Vgl. Okko Herlyn: „Singen unter den Zweigen“. Erwägungen zu einem theologisch verantworteten Umgang mit neuen und alten geistlichen Liedern, Zürich 1986; ders.: Notwendige Zwischentöne. Zur Geschichte, Eigenart und Funktion des „neuen geistlichen Liedes“, Waltrop 1995. 7 Okko Herlyn: „Das könnte den Herren der Welt ja so passen“. Die „68er“ und das Neue Geistliche Lied, in: Liturgie und Kultur 10 (2019), Heft 3, 60. 8 Vgl. Ulrich Cyganek (Hg.): Neue Tauflieder. Begleitsätze zu 13 neuen Liedern aus dem Tauflieder-Wettbewerb 2011, Düsseldorf 2011. 9 freiTöne 2017,134, vgl. auch EG plus 2017, 50. 10 Okko Herlyn: Das Glaubensbekenntnis, Neukirchen-Vluyn 2021, 226, wo als Abschluss sein Lied abgedruckt ist.
Ich sage Ja (EG.E 10)
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einen die Zahl der Taufen von Jugendlichen, besonders während der Vorbereitung auf die Konfirmation, und von (jungen) Erwachsenen in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat und dass zum anderen für diese Zielgruppe geeignete Tauflieder fehlen, da die klassischen Tauflieder im EG meist von der Säuglings- oder Kindertaufe ausgehen.
Zu Form und Inhalt von Text und Melodie Vor diesem Hintergrund entwickelt Herlyn seine textliche Grundüberlegung: „Was unterscheidet eigentlich eine Erwachsenen- von einer Säuglingstaufe? Antwort: Während bei einer Säuglingstaufe andere stellvertretend für den Täufling ‚Ja‘ sagen, tut das bei einer Erwachsenentaufe der bzw. die Betreffende selbst. So entstand der Leitgedanke Ich sage Ja. Bei der sich anschließenden Frage, wozu ich bei meiner Taufe Ja sage, legte sich der Bezug zum Glaubensbekenntnis nahe, das ja im Zusammenhang einer Taufe gesprochen wird und dann auch in der trinitarischen Taufformel präsent ist. So entstanden die ersten drei Strophen.“11 So orientiert sich das Lied an der trinitarischen Struktur des Glaubensbekenntnisses. Die Aussage Ich sage Ja wird in jeder Strophe einleitend aufgenommen, sozusagen sich wiederholend einprägend, und entsprechend der klassischen Struktur des Glaubensbekenntnisses aufgenommen: Strophe 1 sagt Ja zum Schöpfer dieser Welt, zu ihm als Lebensgrund, der auch mich in seinen Händen hält. Strophe 2 sagt Ja zum Auferstandenen, der uns als Freund und Bruder sendet. Strophe 3 sagt Ja zu Gottes gutem Geist, der zu Liebe, Frieden und Gerechtigkeit anstiftet. Strophe 4 weitet das Ja auf die Sakramente Taufe und Abendmahl aus und bindet das abschließende vierte Ich sage Ja ein in das – gut reformiert – vorauslaufende fünfte Ich sage Ja und Amen auf ein schon längst gesprochenes andres Ja Gottes hin. Dieses Ja behält das letzte Wort, was Herlyn so kommentiert: „Durch die Überbetonung des aktiven ‚Ich‘ drohte das Lied der alten pietistischen Gefahr zu erliegen, wonach es im Glauben vor allem auf mich und meine Frömmigkeit ankommt. Dem widerspricht das reformatorische Verständnis der Taufe als Ausdruck einer ‚zuvorkommenden Gnade‘. Deshalb wurde die 4. Strophe – sozusagen als ‚theologisches Kontergewicht‘ – nötig.“ So spannt sich in den vier Strophen ein gut nachvollziehbarer Bogen vom persönlichen Vertrauen – eingebunden in Gottes Welt und Wort – und einem Selbstverständnis (ich bin gewollt, geliebt, bin Geschenk) über die geschwisterliche Begleitung durch den göttlichen Menschenfreund – auch in den unendlichen Abgründen des Menschseins (Hass, Gewalt und Menschenlist) – weiter zu einem geist- und hoffnungsvollen Handeln, einem Ja zum Leben in einer atemlos gewordenen Welt.
11 Ich zitiere hier und im Folgenden aus einem Brief Okko Herlyns an mich aus dem Sommer 2022.
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Günter Ruddat
Und diese ethische Spitze im „sozusagen 3. Artikel“ dieses Bekenntnisliedes, Zuspruch und Anspruch, werden abschließend theologisch doppelt unterstrichen, einmal durch die sichtbaren Lebenszeichen der Sakramente als Wegzehrung unter allen Umständen (Leben als Aufbruch und Landnahme) und zum anderen durch die trotz alledem „konternde“ Gewissheit, das Vertrauen auf das unerschütterliche Ja Gottes, der sich längst zu mir bekannt hat. Das Ich sage Ja bindet sich zugleich bei Wasser, Kelch und Brot ein in das „Wir“, die Gemeinschaft der (Freunde und) Geschwister Jesu, die den ganzen Horizont des Lebens teilen, im Grunde einer diakonischen „Kirche mit anderen“. Diese intendierte aktive Beteiligung der Gemeinde legt auch die Wiederholung der jeweils letzten Strophen-Zeile nahe. Die Bibeltexte des Sonntags spiegeln sich in diesem Lied, angefangen von den alttestamentlichen Texten: Jes 43,1–7 (der mich erschuf; zu seinem Wort und Ruf ), Ps 139 (V. 5: der auch mich in seinen Händen hält) oder der Gemeindebezug im Halleluja-Vers aus Ps 22,23 bis hin zu den neutestamentlichen Texten, besonders dem Taufbefehl Mt 28,16–20, aber auch der Epistel Röm 6,3–11. Weitere Assoziationen stellen sich ein: Das Ja und Nein in der Bibel, das Ja und Nein in Gesangbuchliedern – und was ist im Glauben und Leben entschieden zu bejahen oder abzulehnen?! Da beginnt ein Gespräch, das neue Perspektiven eröffnet. Die besonders im Kirchenkampf wiederbelebte Einbeziehung des Credo in den Gottesdienst lässt sich mit diesem Lied von Okko Herlyn entfalten. Das Lied kann die Stelle eines Glaubensbekenntnisses nicht nur im Tauf- oder Konfirmationsgottesdienst (etwa als mündiges Konfirmationsbekenntnis), sondern auch als Tauferinnerung oder in einem Schulgottesdienst oder bei einer Trauung einnehmen und ein ritualisiertes Ja ablösen. Kulturelle Auseinandersetzungen können sich anbieten, etwa mit dem inflationären Lebensmittel-JA der REWE-Eigenmarken, dem geflügelten Wort Barack Obamas „Yes, we can“ oder dem Popsong „Ich sage ja“ von Eloy de Jong mit der sich wiederholenden Zeile: „Ich sage ja, wenn wir gemeinsam gehen“12. Danielle Guerrier Koegler hat das Lied unter dem Titel „Je reponds oui“ 2013 ins Französische übertragen.13 Zur Melodie schreibt Herlyn: „Was die Komposition angeht, so waren zwei Gesichtspunkte leitend: Zum einen sollte die Melodie ohne zu langes Üben für die Gemeinde singbar sein. Zum anderen sollte musikalische Banalität vermieden werden. So stellte sich der alte Dauerkonflikt bei der Komposition Neuer Geistlicher Lieder ein: entweder gemeindlich singbar, dann aber oft auch musikalisch platt, oder musikalisch anspruchsvoll, dann aber von der Gemeinde – zumindest ohne fundierte Notenkenntnisse – kaum mitzusingen. In diesem Fall fand ich die „Lösung“ zunächst in der None, die dem ersten Akkord (nach dem Auftakt) zugefügt wurde.
12 Eloy de Jong: CD. Lass das Leben Musik sein, 2022. 13 Veröffentlicht in dem Liederbuch: Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder plus, 2019, 158.
Ich sage Ja (EG.E 10)
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Eher ungewöhnlich, doch – o Wunder – gar nicht so schwer zu singen. Der Rest ergab sich fast von selbst durch die dem Text eigene ‚Textmelodie‘ und Rhythmik. Das Lied sollte im sogenannten ‚Slow-Beat‘, also nicht zu schnell gespielt werden. Man kann es auch als Wechselgesang singen. D. h. die einzelnen Strophen werden von einer Solistin oder einem Solisten14 gesungen, während die Gemeinde nur in die Wiederholung der letzten Zeile einstimmt. Das spart dann auch da, wo kein Liederheft vorhanden ist, den Liedzettel.“ Im Einzelnen15: Die vier (mit der Wiederholung: fünf ) Zeilen haben einen identischen Rhythmus. Den drei Auftakt-Achteln folgt eine punktierte Viertel für die erste Schwerpunktsilbe, gefolgt von weiteren deklamatorischen Achteln. Aber bereits die Auftaktnoten erfordern Aufmerksamkeit, da sie sich zwischen Zeile 1 und 2 leicht unterschieden, in Zeile 3 die höchste Stelle der Melodie erreichen und für die wiederholte letzte Zeile wieder zum Anfang zurückkehren – der Kreis schließt sich. Damit ergeben sich sofort die jeweiligen Fortführungen in den Zeilen. Zu der vorgeschlagenen Form des Wechselgesangs kommt noch eine weitere Möglichkeit hinzu: Während eine Gruppe / eine Einzelperson die Strophen singt, wiederholt eine andere Gruppe gleichzeitig mehrmals die letzte Zeile: auf den jeweiligen Text der Strophe oder auch immer auf den Text der ersten oder letzten Strophe. Dabei entsteht an einer Stelle eine markante Reibung, nämlich in dem Moment, wenn die Strophengruppe die zweite Zeile singt und den ersten Volltakt erreicht. Dann begegnen sich g’ und fis’ – das mag als musikalische, aber auch theologische Spannung und Herausforderung gehört werden. Günter Ruddat
14 Auch ein Chor ist hier gut denkbar. 15 Dieser Abschnitt stammt von Beate Besser.
Ich bin das Brot, lade euch ein (EG.E 11)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Clemens Bittlinger (*1959) David Plüss (*1957) T / M: 1988 Gründonnerstag
Biographische Bemerkungen zu Lieddichter und Komponist Clemens Bittlinger (*1959) ist ein deutscher evangelischer Pfarrer und Liedermacher vieler neuer geistlicher Lieder und Kinderlieder aus Rimbach / Odenwald. Er kommt selbst aus einer Pfarrersfamilie und ist in der Pfalz, in Niedersachsen, in den USA und in Unterfranken aufgewachsen. Mit 14 schrieb er seine ersten Lieder, in Stil und Frömmigkeit inspiriert von Manfred Siebald (*1948), technisch angeregt durch den Ragtime-Gitarristen John Pearse. Es folgen Jahre hoher Produktivität. Mit dem Schweizer Pianisten und Produzenten David Plüss arbeitete er schon bei seiner ersten LP „Mensch, bist Du’s wirklich“ zusammen. Bittlinger studierte Theologie in Mainz und Erlangen und gab schon in dieser Zeit im Schnitt über 100 Konzerte im Jahr. Der bekannte Produzent, Arrangeur und Komponist Dieter Falk produzierte 1987 Bittlingers drittes Album „Schwer zu sagen“, das sich 10.000-mal verkaufte. 1990 folgte Bittlingers Ordination in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. Er bekam einen kirchlichen Sonderauftrag für musikalisch-kulturelle Verkündigung. 2005 wurde er Referent für Mission und Ökumene im evangelischen Dekanat Darmstadt-Land. In den folgenden Jahren entwickelte er unterschiedliche Gottesdienstformate und Bühnenkonzepte, immer auf der Suche nach plausiblen Brückenschlägen zwischen christlicher und säkularer Musikszene. 1998 gründete er sein eigenes Label „Sanna Sound“, in dem er seitdem seine Produktionen veröffentlicht. Seit 2001 ist Bittlinger musikalischer Botschafter der Christoffel Blindenmission. 2004 erhielt er aufgrund zahlreicher Fernseh- und Bühnenauftritte den „Promikon Award“ als „künstlerische Persönlichkeit des Jahres“. Sein Lied „Aufstehn, aufein ander zugehn“ wurde vom Moderator Sven Schuhmacher neu veröffentlicht und kam dadurch in die Charts. 2007 präsentierte er sein Album „Perlen des Glaubens“ auf dem Kölner Kirchentag. Zwischen 2010 und 2013 gestaltete Bittlinger gemeinsam mit Anselm Grün (*1945) zwei ökumenische Fastenkalender. Breit rezipiert ist auch das Liederbuch „Atem des Lebens“ mit 333 neuen geistlichen Liedern, die Bittlinger gemeinsam
Ich bin das Brot, lade euch ein (EG.E 11)
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mit den Autorenkollegen Fabian Vogt und Eugen Eckert zusammengestellt hat. Bittlinger hat über 500 Lieder veröffentlicht. Seit September 2020 ist er Pfarrer der Kirchengemeinde Mörlenbach. David Plüss (*1957) lebt in Zofingen (Schweiz). Dort betreibt er seit 1998 das von ihm gegründete Tonstudio „Creation Music Studio“. Er gehört der örtlichen evangelisch-methodistischen Kirche an. Plüss hat in Zürich Musik studiert. Seine musikalische Bandbreite reicht über Pop und Rock, Lied und Chanson, popklassische Instrumentalmusik für Kinder und Erwachsene, Filmmusik für Multimediashows. Als Pianist und Keyboarder veröffentlichte er eigene rein instrumentale Alben, z. B. die CD-Reihe „Emotions“ (1994–95), und die meditativen Musiksammlungen „Emotions of Peace“, „Jahreszeiten“, „Stille Momente“, „Piano Colors“, „Flügel der Fantasie“ und „Auszeit“ (zwischen 1995 und 2004). Zugleich arbeitete er mit Sängern und Liedermachern wie Clemens Bittlinger, Jonathan Böttcher und Gerhard Schöne. Bekannt sind von ihm auch Arrangements mit Instrumentalisten wie Hans-Jürgen Hufeisen, Bettina Alms und Helmut Kandert. Für die United Methodist Church arrangierte und produzierte er auch internationale Chorprojekte, außerdem Musicalproduktionen mit der freikirchlichen Jugendorganisation Adonia, deren Vorstandspräsident er bis 2011 war. Als überzeugendes Crossover-Projekt gilt „Der Messias – Händel meets Pop“ (arrangiert gemeinsam mit Florian Sitzmann, Helmut Jost und Lothar Kosse). 1999 wirkte Plüss musikalisch verantwortlich mit beim Schlussgottesdienst des Stuttgarter Kirchentags sowie 2001 beim Eröffnungsgottesdienst des Frankfurter Kirchentags. Wie Bittlinger unterstützt er die Christoffel Blindenmission.
Zu Form und Inhalt des Textes und der Melodie Das Lied wird seit seiner Entstehung 1988 vielfach in Abendmahlsgottesdiensten verwendet – in Gemeindegottesdiensten und Open Air, bei Kirchentagen seit 1989. Mit der Zweiteilung von Strophe und Refrain hat das Lied eine einfache musikalische Struktur. Die Zeile So soll es sein kommt in jeder Strophe in zwei unterschiedlichen Phrasierungen vor. Die Strophe ist „periodisch gebaut, die erste Hälfte öffnet sich, die zweite Hälfte ist eine fast wörtliche Wiederholung“1. Die musikalische Form ist einfach und leicht lernbar. Das Synkopische und die unterschiedliche Silbenverteilung verleihen den Strophen jeweils ein eigenes Gepräge. Sie bilden beim ersten Singen eine Hürde, die aber durch das wiederholte gemeinsame So soll es sein abgebaut wird. Gegebenenfalls singt zunächst nur eine
1 Heike Roth / Manuel Braun: Liedporträt GL 800 „Ich bin das Brot“, aus: www.kirchenmusik. bistumlimburg.de.
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Person die Strophen und die Gemeinde antwortet mit So soll es sein und dem Refrain Kyrie eleison. Das sprechende Ich ist Jesus, der biblische Hintergrund sind die Ich-bin-Worte aus dem Johannesevangelium. Die 1. Strophe Ich bin das Brot zitiert direkt Joh 6,48, der Beginn der 2. Strophe Ich bin die Quelle ist nach Joh 4,14 formuliert. Die beiden ersten Strophen sind damit parallel aufgebaut, erst eine Selbstaussage des JesusIch, dann eine Reihe von Aufforderungen an die Angesprochenen: Brot lindert Not, brecht es entzwei (Str. 1), Schöpft aus der Fülle, schenkt allen ein (Str. 2). Die 3. Strophe beginnt mit einer weiteren Aufforderung, formuliert entlang der Einsetzungsworte aus 1. Kor 11,23–25: Nehmt hin das Brot, trinkt von dem Wein. Alle drei Strophen sind Verbindungen von „Zuspruch und Aufgabe“2. In den ersten beiden Strophen liegt in den Ich-bin-Worten die Zusage, verbunden mit den eucharistischen Konkretionen lade Euch ein und schenk mich im Wein. Die 3. Strophe stellt die Aufforderung zum eigenen Konsumieren von Brot und Wein an den Anfang: Nehmt hin das Brot, trinkt von dem Wein. Darauf folgt das Versprechen: Wenn ihr das tut, will ich bei euch sein. Der Refrain ist dem Einstimmen in ein Gebet nachempfunden – auf Zu- und Anspruch antworten die Glaubenden mit Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison. Dies mag überraschen – warum muss der Herr erst noch um Hilfe gebeten werden, wenn das Versprechen von Nahrung und Heil doch schon gegeben ist? Die Kombination von Kyrie und Einsetzung verdichtet das Lied zu einem Gottesdienst im Kleinen. Das Kyrie ist Anrufung und Fürbitt-Ektenie zugleich, die sich so mit dem Abendmahl eng verweben. Das wiederholte So soll es sein verstärkt diese Verdichtung noch – zwischen dem Einsetzungsteil der Strophen und dem Kyrie des Refrains steht so jeweils ein zweifaches „Amen“. Das Lied ruft in der Ausführung nach einem Wechselgesang – mit dem Risiko, dass die leitende liturgische bzw. solistisch singende Person mit dem Jesus-Ich verschmilzt. Vorzuziehen ist deshalb ein Wechselgesang zwischen einer Gruppe und der Gemeinde bzw. doch durchgehender gemeinsamer Gemeindegesang. Durch den gemeinsamen Gesang der ganzen Gemeinde wird deutlich: Sie ist das Brot und der Wein. Und sie wird gesandt, um allen Menschen Brot und Wein zu bringen. Das Lied ist leicht zu erlernen, da es eine klare melodische Struktur hat.3 Die vierzeilige Strophe gliedert sich in zwei Zeilenpaare. Dabei gleichen sich Zeilen 1 und 3 unmittelbar; Zeilen 2 und 4 beginnen mit der vorgezogenen und dadurch verstärkenden Betonung auf dem Wort so, enden aber unterschiedlich, da Zeile 2 (wie auch Zeilen 1 und 3) in der offenhaltenden Dominante endet, während Zeile 4 in die Tonika zurückführt. Der Refrain kann sowohl christologisch als auch trinitarisch aufgefasst werden. Eine gewisse Steigerung und musikalische Zielorientierung wird
2 Roth / Braun, ebd. 3 Der folgende Absatz zur Melodie wurde von Beate Besser verfasst.
Ich bin das Brot, lade euch ein (EG.E 11)
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durch die jeweiligen Schlüsse erreicht: zunächst ein Dominant-Tonika-Schluss mit Schlusston auf der Terz, im 2. Teil die Ausweichung in die Tonika-Parallele und am Schluss schließlich die Auflösung in der Tonika im Grundton, verbunden mit der doppelt langen Dominante im vorletzten Takt. Das Lied ist in zahlreichen landeskirchlichen Beiheften, Regionalteilen, Kirchentagsliederheften und Sammlungen von neuen geistlichen Liedern abgedruckt. Anne Gidion
Meine engen Grenzen (EG.E 12)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Eugen Eckert (*1954) Winfried Heurich (*1940) T / M: 1981 11. Sonntag nach Trinitatis
Der Soldat Mai 2018. Noch ist es verdächtig ruhig am Flughafen in Kabul. Dann und wann hebt eine Maschine ab, nach Istanbul etwa. Helikopter, hier Drehflügler genannt, spielen Taxi, weil sich US-amerikanische oder deutsche Soldaten schon längst nicht mehr mit Autos durch die Stadt wagen würden. Im „Käfig“ sitzen sie, ob in den Hauptquartieren oder hier am Flugfeld. Einmal in der Woche lädt der deutsche Militärpfarrer zum Gottesdienst ein. Am Mittwoch. Dann kommen sie, die Soldaten, vielsprachig. Vorne haben die Amerikaner eine perfekte Bandkulisse aufgebaut. Mit allem, was man braucht. Ein mächtiges Schlagzeug hinter Plexiglas. Die Soldaten kommen zahlreich. Bestenfalls die Hälfte von ihnen, hier im Einsatz eher weniger, sind kirchlich gebunden oder getauft. „Naturbelassen“, wie man hier sagt. Am Eingang der Halle, die nun Kapelle auf Zeit ist, liegen die marineblauen „Lebensrhythmen“, das Gesangbuch der Soldaten. Schön abwaschbar in Kunststoff, falls es mal in den Schlamm fällt. Biegsam, so, dass man es auf der Brust einstecken kann, gleichsam als Schutz gegen Einschüsse. Oder als Talisman gegen die Mächte des Todes. Es gehört zu den heimlichen Bestsellern. Zigtausendfach verteilt an die 180.000 Soldat*innen der Bundeswehr, deren Familien und weit darüber hinaus. Hier ist der Ernstfall von missionarischer Gemeindearbeit. Hier erweist sich, ob ein Lied wirklich singbar ist, leicht einprägsam, bewegend. Das Neue Geistliche Lied ist – neben den klassischen Chorälen – im Liederbuch bestens vertreten. Kein Wunder, wenn man schon froh ist, bei Andachten im Freien eine Gitarre dabei zu haben oder ein altes Keyboard. Oder eine Bose-Box, die Zauberwaffe der Seelsorger. Der Hauptmann aus Jena, ein Kerl wie ein Baum, groß, stämmig, muskelbepackt, tätowiert, nimmt sich ein Buch. Es ist genauso groß wie sein Handteller. Ich komme neben ihm zu sitzen und wir kommen ins Gespräch. Acht Monate ist er weg von zu Hause. Eingesperrt im „Käfig“ des Flughafens. Die „totale Institution“ der Streitkräfte nimmt ihn voll in Beschlag. Nein, mit christlichem Glauben hat er von Haus aus nichts am Hut. War nicht angesagt im Jena seiner Jugend. Und getauft ist er bis heute nicht. Und trotzdem im Gottesdienst?
Meine engen Grenzen (EG.E 12)
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Ja, es sei die einzige Chance mal rauszukommen. Raus aus der elenden bürokratisierten Routine. Weg von den Bildern zerstörter Häuser, die der Drohnenkrieg, ausgeweitet unter Barack Obama, zurücklässt. Endlich einmal auf andere Gedanken kommen. Kerzenduft riechen. Musik hören und, ja, auch singen. Andere Worte hören, kein Militärdeutsch in Abkürzungen. Und dann setzt sie ein, die Musik, ganz unvermittelt. Lebensrhythmen 122. „Sometimes I feel like a motherless child.“ Der Amerikaner, der das intoniert, hat eine Wahnsinnsstimme. Und der Kerl neben mir, der starke Baum mit den Bizeps wie Eichenäste sinkt in sich zusammen. Die Augen werden feucht. „Pipi“ in den Augen, wie die Soldaten halb scherzend, halb abschätzig sagen. Mir schwirrt Woodstock durch den Kopf. Joe Cocker. Diese irre Interpretation des Stückes. Wieso findet sich so etwas eigentlich nicht in einem „normalen“ Evangelischen Gesangbuch, jetzt, wo die Rolling Stones bald achtzig sind und die Menschen bei einer Trauerfeier oft am liebsten „Tears in Heaven“ hören würden? Wenige Worte des Pfarrers, der bei der Armee keinen Namen hat. So wenig wie die Kameraden. Ey, Pfarrer, komm mal rüber! Ein Psalm im Wechsel. „Dann werden wir sein wie die Träumenden.“ Und dann das Kyrie. Gesungen. Nein, nicht griechisch. Nein, nicht altkirchlich. Sondern Lebensrhythmen 126. Das ist ein kleines Lied, das mit den Worten anfängt: Meine engen Grenzen. Da braucht hier kaum einer ein Liederbuch. Das singen sie so oft. Das können sie „by heart“. Auswendig. Drunter steht, wer es geschrieben hat. Ein gewisser Eugen Eckert, 1981. Und wer die Melodie dazu komponiert hat. Ein gewisser Winfried Heurich, auch 1981. Nie gehört den Namen. Den Kerl wie ein Baum, Mario Z. heißt der Hauptmann wohl, interessiert das auch nicht. Der Dichter, der Komponist verschwinden hinter ihrem Lied. Wer hat „Freude schöner Götterfunken“ komponiert? Vielleicht Göthe, oder so. Aber mitsingen kann er. Ist ja auch nicht so schwer. Eingängig das Lied. Einfach. 16 bis 19 Worte pro Strophe. Das wird man wohl noch hinkriegen. 1981. Ach Du liebe Zeit. Was war das denn? Die Gemeinde auf Zeit hier ist im Schnitt vielleicht 25. Alle nach der „Wende“ geboren. Ja, ist so ein bisschen wie: „Vadder erzählt vom Krieg.“ Da gab es noch eine innerdeutsche Mauer, eine Grenze. Da durfte man nicht rüber. Alles mal gehört. In der Schule. Oder im staatsbürgerlichen Unterricht. Und dann gab es da schon eine innerdeutsche Friedensbewegung. „Schwerter zu Pflugscharen.“ Frieden. Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung. Junge Leute mit Zottelmähnen und Wallewalle-Röcken. Na ja, das mit den engen Grenzen passt schon dazu. Für die in der Deutschen Demokratischen Republik, genannt DDR, oder auch „die Zone“, die nicht rübermachen durften, wie für die Wessis. Die hatten sich gerade ein bisschen befreit von den Ewiggestrigen der Nazi-Zeit, 1968 ff. Da gab es dann die engen Grenzen der Spießbürgerlichkeit, des AdenauerDunkeldeutschland, der Nierentischchen und den Käfer auf dem Weg nach Rimini. Der Dichter, dieser Eugen Eckert, soll Wurzeln in Ungarn haben, sagt der Pfarrer. Denn in der kurzen NATO-Pause, wo Gottesdienst ist, nimmt er das Lied für eine
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Gabriele Rink / Sigurd Rink
Liedpredigt und legt es aus. Na, die Ungarn können auch ein Lied singen von „engen Grenzen“ und von ganze Ohnmacht. Wie schlicht schon die 1. Strophe ist: drei, drei, vier, vier, drei Worte. Eigentlich kinderleicht. Dieser Maler, Pablo Picasso, der mit diesen schlichten Strichen, die er dann teuer verkauft hat, soll mal gesagt haben: „Ich habe mein ganzes Leben gebraucht, um so zu malen wie ein Kind.“ So ist das hier auch. Das ist so kurz und schlicht, das könnte doch jedem einfallen, oder? Mmmmh, tut es aber nicht. Das ist die hohe Kunst, sagt der Pfarrer. Nicht verschwurbelt und verkorkst daherreden, Nase nach oben, „hochnäsig“. Sondern die Worte eindampfen wie eine Rinderbrühe mit Ochsenschwanz. Stunden und Stunden. Bis nur noch die reine Substanz übrig bleibt. Da wird dieser EE, dieser Eugen Eckert, viele Stunden gebraucht haben. Der soll auch so ein elender Frühaufsteher sein. 530, wie die Soldaten sagen. „Fünfhundertdreißig“, also um halb sechs, spätestens, springt er aus den Federn und hat dann mal ein, zwei Stunden für sich, zum Dichten. Über 2.000, zweitausend, Gedichte, Lieder soll er jetzt schon gefertigt haben. Und noch eines merke ich mir aus der Ansprache des Pfarrers. Und das ist cool. Dieser EE hat jetzt wohl seine Gemeinde im Waldstadion, sorry: in der „DeutscheBank-Arena“ in Frankfurt (am Main). Bei der Eintracht also. Nicht, dass hier jemand Eintracht-Fan wäre; dann schon eher Dynamo Dresden. Aber dass der da tauft (bisher schon weit über 200 Kinder, Jugendliche und Erwachsene) und dass der da Andachten macht, auch für die Ultras in der Nord-Westkurve, und dass der da in einem Trauergottesdienst an Jürgen Grabowski erinnert, ist schon ganz schön klasse.
Der theologische Blick Szenenwechsel. Zurück in Deutschland. In einer anderen Welt. Sechs Jahre in der Soldatenseelsorge haben mich gelehrt, was radikal säkularisierte Menschen von einer Kirche, einer Pfarrerin erwarten könnten. „Zukunftslabor der Kirche“ hat man die Soldatenseelsorge einmal genannt. Und was ist das? Seltsamerweise eine Art konservative Vision. Die seelsorgerliche Begegnung mit einem offenen Ohr in strikter Vertraulichkeit. Die Begleitung an den Knotenpunkten des Lebens, sowohl denen, die uns vertraut sind, als auch den neuen, etwa dann, wenn eine Partnerschaft zerbricht. Das Bereitstellen eines liturgischen Rahmens, der noch einmal eine ganz neue Farbe ins Leben bringt. „Kerzen für Kameraden“ hieß das dann zum Beispiel. „Sie haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben“, ruft mir ein ehemaliger Leitender Geistlicher zu. Das ist radikaler Neuanfang in der 3. Generation. Die christlichen Wurzeln sind seit 1933 verdampft. Diese radikale Säkularisierung, die im Westen der Republik, etwa in den Speckgürteln von Frankfurt, Stuttgart, München noch ganz gut kaschierbar ist: hier wird sie mit Händen greifbar. Was trägt angesichts dessen? Die christliche Botschaft, die auf einem tiefen jüdischen Fundament aufruht,
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wird kondensiert in den Kern ihres Bestandes. Der Berliner Trümmerpropst Heinrich Grüber sagte einmal, ein Konfirmand müsse sich zwei Dinge fürs Leben merken: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn und das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Hier, in Eugen Eckerts Kyrie-Ruf, geht es um das Erstere. Dass es Eugen Eckert gelingt, die zentrale Botschaft der Bibel so eindrücklich und elementarisiert zu gestalten, ist dabei biographisch kein Zufall. Zuletzt hat dies Karen Allihn auf der Seite „Die Drei“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) in einem ganzseitigen Portrait des Dichters eindrucksvoll nachgezeichnet (13. Februar 2023). Eugen Eckert war immer wieder bereit, das Evangelium in höchst weltlichen Umgebungen weiterzureichen. Ob dies in seiner Gemeinde in Offenbach-Lauterborn war, mitten unter der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens, wo er eine einzigartige Gemeindeentwicklung gestaltete. Ob dies als langjähriger StudierendenSeelsorger an der Universität in Frankfurt am Main war, wo er Menschen in einem radikal säkularen Umfeld gewinnen konnte, auch indem er die Jahrhundertchance des Neubaus eines großen Studierendenwohnheims mitten auf dem neuen Campus ergriff. Ob er nun seit langen Jahren Seelsorger in der größten Sportstätte Frankfurts, früher bekannt als „Waldstadion“, tätig ist und dort keinerlei Berührungsängste zu Menschen hat, die sicherlich nicht aus der Milieuverengung eines akademischbildungsbürgerlichen Johann-Sebastian-Bach-Protestantismus kommen. Er versteht es, die Kerngehalte des christlichen Glaubens in ökumenischer Weite zu kondensieren, und dazu gehört eben auch der Zusammenhang von Schuld und Vergebung. Wenn man so will, atmet ja die ganze Liturgie eines Gottesdienstes die Botschaft von der gnädigen Vergebung Gottes gegenüber Menschen, die wieder und wieder – gewollt oder ungewollt – schuldig werden. Es beginnt mit dem Introitus und führt geradewegs ins Kyrie hinein. Und in der Feier des Heiligen Abendmahls? Führt der Weg über ein Sündenbekenntnis, welches etwa in der römisch-katholischen Liturgie immer den gemeinsam gesprochenen Satz beinhaltet: „Herr, sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ In manchen, zum Beispiel fränkischen Gemeinden gibt es sogar noch einen „Beichtspiegel“, in dem die Gläubigen ihr Leben angesichts der Zehn Gebote reflektieren. Es mutet eigenartig an, dass ausgerechnet diese Elemente liturgischer Gestaltung seit etwa 20 Jahren unter einem enormen Druck stehen. Nicht selten gehört das Sündenbekenntnis nicht mehr zum Abendmahl, und nicht selten wird auf das Kyrie sogar gänzlich verzichtet. Theologinnen und Theologen tun sich schwer mit der Formulierung eines stimmigen, adäquaten Kyrierufs. Oder eines Sündenbekenntnisses. Oft gerät es zu allgemein. Manchmal zu moralisch verengt. Zuweilen gerät es in eine Vorwurfshaltung. Dabei gehören ja Bekenntnis und Gnadenzuspruch unlösbar zusammen. Es ist eben eine „teure Gnade“, die das Christentum anbietet, und keine „billige“ (Dietrich Bonhoeffer). Eugen Eckert gelingt da in vielerlei Weise das Kunststück, einen stimmigen Kyrieruf zu dichten und zu intonieren, der die Fallen moralinsaurer Engführung vermeidet und dennoch wirksam und authentisch ist.
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Und dies beginnt zunächst ganz unscheinbar im Medium der Musik. Es macht eben einen Unterschied, ob ich ein Kyrie spreche oder singe. Augustinus wusste schon, warum er so skeptisch in Bezug auf Musik im Gottesdienst war: Sie entfaltet einfach eine enorme, kaum kontrollierbare Wirkung. Und es ist kein Zufall, dass das Gedicht noch im gleichen Jahr kongenial vertont wurde. Wie unterschiedlich dabei Aufführungspraxis und Wirkung sein können, erahnt man schon, wenn man die zahllosen YouTube-Vertonungen und Videos anhört. Vom Mädchenchor im Hildesheimer Dom bis zur scheinbar zufälligen Variante von Eugen Eckert selbst, bildlich gestaltet durch Mathis Eckert. Sodann entfaltet dieses Gedicht seine Wirkung durch die konsequent durchgehaltene „Ich-Form“. Da ist eben nicht von „Du“ und „Dir“ die Rede, auch nicht von „Wir“ oder gar „Ihr“, sondern der Rufende spricht für sich selbst. Dabei wird der in der zeitgemäßen Kommunikationstheorie ganz geläufige Satz Wirklichkeit, dass „Ich-Botschaften“ angezeigt sind. Dies vermeidet Abwehrreaktionen, ein Sich-Verschließen, ein Sich-Angegriffen-Fühlen. Es sind eben meine engen Grenzen, meine kurze Sicht, meine ganze Ohnmacht, meine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit. Und indem sich der Dichter bescheidet, gewinnt er diejenigen, die zuhören oder mitsingen. Denn in dieser Konfession, diesem Bekenntnis, kann sich jeder und jede einfinden. Sie öffnet eben den besungenen Raum der Weite, der Wärme, der Heimat. In seiner radikalen, zu Ende gedachten Subjektivität erinnert mich dieser Ruf seltsamerweise an Herbert Grönemeyers Kunstwerk „Mensch“. Und, darf man der mündlichen Überlieferung trauen, so sind beide Werke aus einer Situation grundstürzender Verunsicherung, ob Trennung oder Tod, entstanden. Dies spürt man diesen Stücken an. Ein Drittes: Das Gedicht, das Lied, der Kyrieruf sind in ihrem Textgehalt und in ihrer Symbolik weit genug, ohne den Fehler einer romantisierenden „KawohlOptik“ zu begehen. Grenzen, kurze Sicht, Weite, Ohnmacht, Zutraun, Ängstlichkeit, Sehnsucht nach Geborgenheit sind konstituierende Merkmale des Menschseins. Jeder kennt sie und jede kann sich in dieses „framing“, diesen Rahmen, eintragen. Der Bedeutungshorizont mag da für den Hauptmann Mario Z. ein ganz anderer sein als für mich: Es bleibt die existentielle Bedeutung, die ich sofort für mich mit einem Bedeutungshorizont umgeben könnte. Schließlich: die scheinbar so schlichten Wortpaare sind mit großem Bedacht gewählt: Enge Grenzen und kurze Sicht münden in Weite. Ohnmacht, Beugung, Lähmung münden in Stärke. Verlorenes Zutrauen und Ängstlichkeit münden in Wärme. Sehnsucht nach Geborgenheit mündet in Heimat.
Wenn man sich im März 2023 einmal die Lage der zwölf Millionen Flüchtlinge innerhalb und außerhalb der Ukraine anschaut, vielleicht aber sogar auch die Lage
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mancher verzweifelter Soldaten der russischen Föderation, die nun – wie man früher sagte – als „Kanonenfutter“ an die Front geworfen werden, dann muss man kein Prophet sein, um zu erkennen, dass in diesem Kyrieruf eine ungeheure Kraft und Stimmigkeit liegt.
Der musikwissenschaftliche Blick Text und Melodie bilden bei einem Lied für die Singenden und Hörenden immer eine Einheit, oft ohne dass man sich dessen bewusst ist: Im 1. Teil werden unsere menschlichen Befindlichkeiten, unser Unvermögen, das, an dem wir uns im Leben abarbeiten, was uns Mensch sein lässt, artikuliert: enge Grenzen, Ohnmacht, verlorenes Zutraun, Sehnsucht. Unsere emotionalen Befindlichkeiten, die uns mal mehr mal weniger begleiten, werden im 2. Teil aufgegriffen in der Bitte an Gott, uns die Lasten abzunehmen. Dafür gibt es im Deutschen das altmodisch gewordene Wort „Wandel“. Der Wandel meint eine Veränderung, die Bestehendes aufgreift und daraus Neues entwickelt, keine Revolution, sondern Entwicklung. Analog ist das Lied zweiteilig komponiert: Der 1. Teil, in dem unsere Befindlichkeiten, die wir vor Gott bringen, aufgeführt werden, ist selbst unterteilt. Er beginnt mit einer ruhigen Dreiklangsbewegung zum Grundton, schreitet die d-Moll Tonart ab und setzt ein klares ruhiges Motiv. Wie eine Art Motto steht dieser Beginn immer wieder am Anfang; schafft Ruhe und Sicherheit in der Einbettung in die Harmonie. Danach wird es bewegter: Achtel und Viertel wechseln sich ab, der Sprechduktus wird ins Musikalische übersetzt. Überbindungen und Synkopen setzen die Taktschwerpunkte außer Kraft, bewegen die Melodie nach vorne. Analog der sprachlichen Gestaltung finden sich hier mehr und schnellere Töne und rhythmische Verschiebungen. Auch satztechnisch erweitert sich der normalerweise viertaktige Bau um einen Takt, indem der 3. Takt auf einer nächsten Stufe sequenzartig noch einmal wiederholt wird. So weist der 1. Teil des Liedes insgesamt fünf Takte auf. Bei so viel Bewegung braucht es eine Konstante, und das ist die Harmonik. Vom Grundton bewegt sich die Linie wieder zurück zur Quinte, von wo aus das Lied auch gestartet war. Nun könnte man wieder in der Grundtonart harmonisieren, aber als Begleitung ist der A-Dur-Septakkord angegeben. Die Dominante der Grundtonart d-Moll bewirkt eine spannungsreiche Hinführung zum 2. Teil. Als musikalische Öffnung wird diese Harmonie empfunden: es folgt jetzt die Bitte an Gott. Der 2. Teil beginnt mit d-Moll, oder aber es wird in der Mediante in B-Dur harmonisiert. Beides ist möglich. Im Gesangbuch für Soldaten ist B-Dur harmonisiert, was eine besondere Farbigkeit, einen Wechsel der Gefühle mit sich bringt. Medianten sind seit der Romantik gebräuchlich, Schubert benutzte sie gerne, um Gefühle harmonisch herauszuarbeiten. Der Text, der von der Befindlichkeit des Menschen hin zur Bitte um Hilfe an Gott wechselt, bringt den Begriff der Wandlung ein. Und genau das tut auch die Musik, sie färbt die Grundtonart d-Moll ein zu B-Dur, zu einer ganz neuen Farbe, zu Dur und zu einer Tonart, die im regu-
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lären Kadenzschema von d-Moll nicht enthalten ist. Man empfindet diese Stelle als wirkliche Weitung. Neben der harmonischen Weitung steigt auch die Melodik in die Oktavlage nach oben, hält sich dort drei Töne, um dann langsam nach unten zum Grundton zurückzuführen. Der Rhythmus greift den Rhythmus der ersten Takte wieder auf und schlägt so den Bogen zurück zum Anfang. Aber durch die veränderte Melodieführung bleibt vor allem der Eindruck der Weite und der Öffnung. Man kann sich kaum ein sinnenfälligeres Bild für unsere menschlichen Bitten denken. Für den Singenden bedeutet dieser 2. Teil, dass er viel Atem nehmen muss, der Brustkorb öffnet sich und auch körperlich wird man hineingenommen in diese Weite. „Hinaus ins Weite“, wie der Leitgedanke der Synode der EKD 2020 hieß.
Schluss In dieser Komposition kommt eine jahrzehntelange Künstlerpartnerschaft von Eugen Eckert als Dichter und Winfried Heurich als Komponist zum Ausdruck. Der bereits 1940 in Neuhof bei Fulda geborene Organist und Komponist Heurich wirkte fast 40 Jahre lang bis zur Jahrtausendwende an einer zentralen römisch-katholischen Innenstadtkirche, der Liebfrauenkirche in Frankfurt am Main. 1978 lernten sich die beiden Künstler beim Sport (!) kennen und entwickelten eine enge musikalische Partnerschaft und Freundschaft. Heurichs Anliegen, „singbare und swingende Lieder“ zu komponieren, fand in dieser Zusammenarbeit vielfältig Ausdruck. Diese ökumenische Weite der beiden Künstler führte dazu, dass die Lieder in der römischkatholischen Welt sich mindestens genauso stark „durchgesungen“ haben wie im Protestantismus, inklusive der freikirchlichen Konfessionen. Dass etwa Meine engen Grenzen sich nun auch im Gotteslob und im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche findet, darf als eine besondere Auszeichnung gelten. Gabriele Rink / Sigurd Rink
In Christus gilt nicht Ost noch West (EG.E 13)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Friedrich Karl Hofmann (1910–1998) William Croft (1678–1727) „St. Anne“ T / M: 1981 In Christ there is no east or west T: John Oxenham (1852–1941) 3. Sonntag nach Epiphanias
Biographische Anmerkungen zu dem Lieddichter, dem Übersetzer und dem Komponisten John Oxenham (12.11.1852–23.1.1941), der Dichter des englischen Originals In Christ there is no east or west, hieß eigentlich William Arthur Dunkerley und war zunächst ein erfolgreicher Lebensmittelgroßhändler. Später widmete er sich mehrheitlich dem Schreiben und wirkte als Diakon und Lehrer an der Ealing Congregational Church in London. 1922 wurde er zum Bürgermeister von Worthing (Sussex) gewählt. Unter dem Namen Julian Ross veröffentlichte er belletristische Fortsetzungsliteratur und journalistische Texte in Zeitungen; unter dem Namen John Oxenham schrieb er zahlreiche Gedichte und Lieder, die in 62 Bänden veröffentlicht wurden und sich teilweise sehr gut verkauften. Der Name John Oxenham stammt aus dem siebten Kapitel des Buches „Westward Ho!“ von Charles Kingsley: „The True and Tragical History of Mister John Oxenham of Plymouth“.1 Übersetzt wurde das Lied 1981 von Friedrich Karl Hofmann (27.11.1910– 13.4.1998). Nach Studien der Theologie und Philosophie in München, Berlin, Erlangen und Tübingen war Hofmann 1947–1960 Pfarrer in Teilitzheim (Unterfranken) und 1960–1970 Dekan in Neumarkt / Oberpfalz. Während des Studiums hatte er Orgelunterricht bei Georg Kempff 2 (1893–1976) und Georg Götsch (1895–1956). Der Theologe und Musiker Hofmann war in zahlreichen kirchenmusikalischen Organisationen in leitender Funktion aktiv (u. a. Verband Bayerischer Kirchenchöre, Verband Evangelischer Kirchenchöre in Deutschland, Deutscher Chorverband). Zu seinem Verständnis des (Gemeinde-) Gesangs bemerkte Ernst Arfken: „Ausgehend von der Singbewegung war ihm im Gegensatz zum kommandierten Gemeinschafts-
1 Greifbar unter: http://www.online-literature.com/charles-kingsley/westward-ho!/7/ (abgerufen am 25.9.2022). 2 Georg Kempff ist der Bruder des noch berühmteren Pianisten Wilhelm Kempff (1895–1991).
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erlebnis des Dritten Reiches das aus dem Atem geborene gemeinsame Singen als verbindendes Erlebnis wichtig.“3 Die Melodie, mit der In Christus gilt nicht Ost noch West im Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch und etwa bereits im Regionalteil Bayern / Thüringen des EG (EG.BT 658) verbunden wurde und die „St. Anne“ genannt wird, stammt von William Croft (30.12.1678–14.8.1727), der als Organist und Chordirektor an der Westminster-Abbey in London wirkte, für Kirche und Theater komponierte und 1724 seine viel rezipierten „Harmonica Sacra“ veröffentlichte.4
Historische Verortungen zur Entstehungssituation des Liedes 1795 wurde die „London Missionary Society“ als älteste Missionsgesellschaft Englands gegründet. Sie organisierte 1908 eine Ausstellung mit dem Titel „The Orient in London“, die bis 1914 auch an weiteren Orten in England und den USA gezeigt wurde und insgesamt mehr als 250.000 Besucher*innen anziehen konnte. Zu dieser Schau hat John Oxenham gemeinsam mit Hugh Moss und Hamish MacCunn das Buch „The Pageant of Darkness and Light“5 geschaffen, in dem In Christ there is no east or west erstmals gedruckt wurde. Das Buch präsentiert in fünf Kapiteln Geschichten erfolgreicher missionarischer Arbeit in unterschiedlichen Teilen der Welt. Jedes der Kapitel kulminiert darin, dass eine indigene Bevölkerung in Ost, West, Süd oder Nord durch die Begegnung mit dem Evangelium ‚erleuchtet‘ und verändert wurde. Aus heutiger Perspektive zeigen sich in dem Buch klar die Muster kolonialen Denkens, zu denen die Darstellung der Überlegenheit westlicher Kultur und christlicher Religion gegenüber den Kulturen der ‚Eingeborenen‘ gehört, die weder mit dem christlichen Gott noch mit westlicher Zivilisation vertraut sind. Umso bemerkenswerter erscheint auf diesem Hintergrund das Lied Oxenhams, in dem es um die Aufhebung aller Unterschiede zwischen Menschen aus allen Himmelsrichtungen und „Rassen“ (races, Str. 3) geht. Die Entstehung des Liedes verortet sich in einer ersten Hoch-Zeit der Ökumenischen Bewegung. Zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung fand 1910 in Edinburgh die Weltmissionskonferenz statt, die als ihre Ziele das gemeinsame missionarische Handeln der Kirchen, die Einheit in der Verkündigung des Evangeliums sowie das gemeinsame diakonische Handeln in der Welt formulierte.
3 Ernst Arfken: Hofmann, Friedrich, in: Wolfgang Herbst (Hg.): Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs. Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch 2, Göttingen 1999, 158. 4 Vgl. Watkins Shaw: Croft, William, in: MGG Personenteil 5 (2001), 120–122. 5 John Oxenham / Hugh Moss / Hamish MacCunn: The Pageant of Darkness and Light (wörtlich übersetzt: „Das Historienspiel der Dunkelheit und des Lichts“), New York 1908.
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1913 wurde Oxenhams Lied in dem Band „Bees in Amber. A Little Book of Thoughtful Verse“ veröffentlicht. 1923 fand das Lied zum ersten Mal Aufnahme in ein US-amerikanisches Gesangbuch (Hymns of the Living Age; Nr. 383; Melodie: St. Peter):6
Abb. 1: Lied Nr. 383 aus „Hymns for the Living Age“, New York 1923.
Die Seite „hymnary.org“ weist das Lied in insgesamt 313 englischsprachigen Gesangbüchern nach und zeigt, dass es eine erste Phase der Popularität in den 1920er Jahren und eine zweite seit den späten 1960er Jahren gab; die zweite Phase hält bis heute an. In der Mehrzahl der Fälle wird es, wie beim ersten Abdruck in einem Gesangbuch 1923, auf die Melodie „St. Peter“ (Alexander R. Reinagle, 1799/1826) gesungen; am zweithäufigsten ist die Melodie „McKee“, die irischen Ursprungs ist und von Sklav*innen in den USA aufgenommen und gesungen wurde. Die Melodie „St. Anne“, die im Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch beigegeben ist und 1708 von William Croft komponiert wurde, wird für das Lied deutlich seltener
6 Abbildung aus: https://hymnary.org/page/fetch/H4LA1923/305/high.
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verwendet, jedoch in Regionalanhängen des EG (Niedersachsen-Bremen, BayernThüringen, Württemberg) und Ergänzungsheften („Himmel, Erde, Luft und Meer“, „Wo wir dich loben plus“) – immer mit dem Satz – genutzt, ist also im deutsch-evangelischen Sprachraum gut rezipiert. Diese Melodie „St. Anne“ bewegt sich – wie diejenige mit dem Titel „St. Peter“ – in gleichmäßigen Vierteln fort. In beiden Fällen überwiegen Sekundschritte und wenige Quartsprünge. Beide Melodien beginnen mit dem Auftakt auf der Quinte. Während die jüngere St.-Peter-Melodie sogleich den Sprung zur Oberoktave bringt und dann in Sekundschritten absteigt, geht die ältere St.-Anne-Melodie zunächst zurück in die Terz, um sich dann in mehreren Quartsprüngen wieder zu erheben. Beide Melodien erreichen nach dem 1. Teil den Dominantschluss. Im 2. Teil bleibt „St. Peter“ bei der Sexte als höchster Note; „St. Anne“ steigert sich noch zur None, kommt am Ende aber ohne das „Amen“ aus.7 Das Lied wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und wird bis heute oft bei ökumenischen Zusammenkünften gesungen.8 Ein Lied, in dem es um die Einheit aller Christenmenschen in Christus geht, wird in Ost und West, Süd und Nord gesungen. Jedoch hat das Lied die innerdeutschen Konfessionsgrenzen in offiziellen Büchern nicht überschritten, so dass es bislang nicht durch die Arbeitsgemeinschaft Ökumenisches Liedgut (AÖL) in den Bestand der „ö-Lieder“ aufgenommen wurde. Kenneth W. Osbeck überliefert eine berührende Erzählung zu In Christ there is no east or west, deren Ursprung und Historizität allerdings nicht überprüft werden kann: Im Zweiten Weltkrieg, so heißt es in seiner Sammlung von „Inspiring True Stories Behind 101 Favorite Hymns“, ankerten zwei Schiffe in einem Hafen nebeneinander, eines mit US-Amerikanern, eines mit Japanern, die in den USA bzw. in Japan als ‚feindliche Ausländer‘ („enemy aliens“) identifiziert worden waren und repatriiert werden sollten. Die Passagiere der Schiffe blickten sich an und einer begann zu singen: In Christ there is no East and West. Darauf stimmte ein Passagier des anderen Schiffes ein – und es entstand ein spontaner Chor von Menschen aus Ländern, die offiziell als ‚Feinde‘ galten, nun aber gemeinsam Gott lobten und davon sangen, dass Christus alle Unterschiede überwindet.9
7 An den Absätzen zur Melodie hat Beate Besser mitgewirkt. 8 Vgl. Keith Clements: We will remember, London 2014, 106. 9 Vgl. Kenneth W. Osbeck: 101 More Hymn Stories: The Inspiring True Stories Behind 101 Favorite Hymns, Grand Rapids (MI) 1982, 119 f.
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Zu Form und Inhalt des Liedes Der vierstrophige englische Text des Liedes wird in geringfügig unterschiedlichen Versionen überliefert. Im Folgenden zitiert ist die Fassung des Drucks 1923; die kleineren Abweichungen in der Fassung des Ergänzungshefts zum Evangelischen Gesangbuch sind in eckigen Klammern angegeben. In Christ there is no East nor [or] West, In him no South nor [or] North; But one great fellowship of love Throughout the whole wide earth. In him [Christ] shall true hearts ev’rywhere Their high communion find; His service is the golden cord Close binding all mankind.10 Join hands, then, brothers [disciples11] of the faith, Whate’er your race may be. Who serves my Father as a son12 Is surely kin to me. In Christ now meet both East and West, In Him meet North and South; All Christly souls [Christ-like souls] are one in him Throughout the whole wide earth.
Die vier Zeilen jeder Strophe haben 8–6–8–6 Silben, wobei sich jeweils die 2. und 4. Zeile aufeinander reimen – in der 2. und 3. Strophe rein („find“/„mankind“; „be“/„me“), in der 1. und 4. Strophe unrein („North“/„earth“; „South“/„earth“). In Christus, so könnte gedeutet werden, spielt auch diese ‚Unreinheit‘ keine Rolle; die Einheit der Verbindung in ihm erweist sich als stärker. Die Silbenzahlen und das Reimschema sind auch in der deutschen Übersetzung beibehalten, wobei die Reime nun auch in der 1. und 4. Strophe rein sind („Nord“/ „Ort“; „Nord“/„Wort“). Versfuß ist ein jambischer Drei- bzw. Vierheber. Auch die deutsche Übersetzung wird mit einigen Variationen überliefert. So lautet der 2. Teil der 1. Strophe in EG.BT 658 „Wo er wirkt, wird Gemeinschaft sein, gehalten durch sein Wort“, wogegen sich in EG.E 13 die Fassung findet: denn Christus macht uns alle eins in jedem Land und Ort.
10 An dieser Stelle findet sich in zahlreichen neueren Versionen des Liedes statt „all mankind“: „humankind“. 11 Häufig wird hier in englischen Versionen auch „peoples“ gelesen. 12 Statt „as a son“ findet sich in zahlreichen englischen Versionen „as his child“.
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Bedeutsam ist vor allem die Textvariation, die sich im Begleitheft zum EG der Nordkirche „Himmel, Erde, Luft und Meer“ (HELM, Nr. 78) findet. Dort lautet die 2. Strophe: Woher wir stammen, fragt er nicht, er lädt zu Brot und Wein. Bringt alle uns an seinen Tisch, lässt uns dort Eines sein.13
Damit werden der Begriff „communion“, der sich im englischen Original findet, und die Rede von dem „Dienst“ Christi explizit auf das Abendmahl als sichtbare Praxis der Einheit bezogen. Generell weisen alle deutschen Übersetzungen im 2. Teil der 3. Strophe einen deutlichen Unterschied zum englischen Original auf. Dort spricht Christus selbst: „Who serves my father as his child / is surely kin to me“, wogegen in der deutschen Übersetzung eine Aussage über die Einheit der Familie Gottes im Dienst an dem (himmlischen) Vater in der ersten Person Plural gemacht wird. Das Lied hat – im englischen Original und in der deutschen Übersetzung – den Ton des überzeugten Bekennens. In der ersten Person Plural wird die Einheit besungen, die Christus als Subjekt stiftet: Er ist es, der das goldne Band / der Liebe um uns schlingt (Str. 2) und alle Unterschiede aufhebt (Str. 3). In der deutschen Übersetzung ist es noch spezifischer die Gründung auf das „Wort“ Christi, das diese Einheit schafft (Str. 4). Die Melodie „St. Anne“, die dem Lied in EG.E beigegeben ist, unterstreicht das Bekennen durch den „hymnisch-gleichmäßige[n] Rhythmus und fanfarenhafte Tonsprünge“ (Andreas Marti)14. Gut hundert Jahre nach der ersten Hoch-Zeit der ökumenischen Bewegung ist es möglich, sich mit EG.E 13 in die zuversichtliche bis euphorische Stimmung hineinzusingen, die diesen Aufbruch prägte und die gerade angesichts vielfältiger Schwierigkeiten in der Ökumene (etwa im Blick auf den Dialog mit den orthodoxen Kirchen oder die Frage der Abendmahlsgemeinschaft) immer wieder verloren zu gehen droht. Gleichzeitig stellen sich zwei Fragen, die bei weltweiten ökumenischen Versammlungen immer wieder akut werden: (1) Droht die behauptete Einheit in Christus die faktischen Unterschiede zu nivellieren und die Machtstrukturen, die vor allem zwischen „Nord“ und „Süd“ existieren, auszublenden? Wie kann EG.E 13 gesungen werden, ohne die Probleme des Kolonialismus im kühnen Bekennen der Einheit zu
13 In dieser Fassung ist auch die 3. Strophe anders. Außerdem werden ganz unterschiedliche Autoren dafür angegeben: HELM: Friedrich Hofmann; EG Niedersachsen-Bremen: Hamburg 1971; Colours of Grace: Otto Brodde. 14 Zitiert nach: https://www.evangeliums.net/lieder/lied_in_christus_gilt_nicht_ost_noch_west.html (abgerufen am 26.9.2022).
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verdrängen? (2) Wie verhält sich die Einheit der Christenmenschen in und durch Christus zu dem Miteinander der Menschen aller Religionen sowie der Religionslosen? Welche Rolle spielt die christliche Familie (Str. 3) in interreligiöser und gesellschaftlicher Perspektive? Eine Antwort auf diese Frage findet sich im Lied nicht explizit, aber doch in den Bibelworten, die in dem Lied angedeutet werden. Wenn Christus die verschiedensten Menschen aus Ost und West, Süd und Nord zu der einen Familie verbindet, dann verbindet er sie zugleich mit dem Gott, der mit seinem Volk Israel einen Bund geschlossen hat und der Schöpfer aller Menschen ist. Diese bibelökumenische Dimension, wie sie sich etwa auch in Apg 17,26 ausdrückt, gilt es im Blick zu behalten, wenn sich die christliche Gemeinde hoffend und zuversichtlich zu ihrer Gemeinschaft bekennt. Sie wird besonders auch in Gal 3,26–28 erkennbar, ein Zusammenhang, der zweifellos hinter dem Lied steht: Durch den Glauben, so schreibt Paulus, „seid ihr alle […] Gottes Kinder in Christus Jesus“, weswegen hier nicht „Jude noch Grieche“, nicht „Sklave noch Freier“, nicht „Mann noch Frau“ ist (Gal 3,26.28; vgl. auch Kol 3,11). In diese Richtung weisen auch die weiteren biblischen Texte, auf die sich In Christus gilt nicht Ost noch West bezieht und die das Lied am 3. Sonntag nach Epiphanias hervorragend verankern. Die 1. und die 4. Strophe nehmen den Wochenspruch Lk 13,29 auf (und die Parallelstelle aus Mt 8,11, die mit dem Verweis auf „Abraham und Isaak“ den Israelbezug stärkt und in der Evangelienlesung begegnet: Mt 8,3–11): „Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes“. Die englische Fassung des Liedes behält die hier angegebene biblische Reihenfolge der Himmelsrichtungen bei; die deutsche Fassung weicht bei „Nord“ und „Süd“ aus Gründen des Reimes davon ab. Interessant ist, dass die als Verheißung formulierte biblische Aussage aus Lk 13,29 in EG.E 13 in die Behauptung bzw. performative Zusage verwandelt wird: In Christus trifft sich Ost und West. Bei allen Zweifeln an der christlichen Ökumene und allem Verzweifeln angesichts der vielen offenen Fragen und Probleme ist es möglich, schon jetzt auf das zu verweisen, was in Christus längst gilt, auch wenn ‚wir‘ dem weit hinterherhinken. Alexander Deeg
Psalmen und Lobgesänge
Lobe den Herrn, meine Seele (EG.E 14)
Text und Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Norbert Kissel (*1960) T / M: 1987 14. Sonntag nach Trinitatis
Die Dankbarkeit ist am 14. Sonntag nach Trinitatis in den Gottesdiensten der Evangelischen Kirche zentrales Thema. Es werden Geschichten erzählt, in denen Menschen von Gott beschenkt wurden. Dem von der Himmelsleiter träumenden Jakob kommt Gott nahe, und er erblickt dabei die Pforte zum Himmel (Gen 28,10–22). Der Zöllner Zachäus erfährt überraschend die Zuwendung von Jesus (Lk 19,1–10). Bei Jesaja 12,1–6 lesen wir von Erlösten, für die sich Gottes Zorn in Trost wandelt. Im Evangelium des Sonntags wird ein aussätziger Samariter von Jesus geheilt, da er glaubt (Lk 17,11–19). Und in Römer 8,14–17 wird dem Menschen zugesprochen, Gottes Kind zu sein. Im Danken kann man Gott finden. Ein dankbarer Mensch verwandelt sich an Leib und Seele1. Es gibt also viel Grund zur Dankbarkeit. Die Wochenlieder zu diesem Sonntag rufen dazu auf. Der Choral „Danket dem Herrn“ (EG 333) impliziert eine singende Gemeinde. Im geistlichen Lied Lobe den Herrn, meine Seele (EG.E 14) ist es der oder die Einzelne, die eigene Seele dankbar zum Lob aufrufend. Lobe den Herrn, meine Seele wurde 1987 von Norbert Kissel gedichtet und komponiert. Kissel (*1960) ist seit 1983 nebenamtlicher Kirchenmusiker an der Michaelskirche Gießen-Wieseck. Im Hauptberuf Lehrer für Musik, Evangelische Religion und Deutsch, war er fast 30 Jahre lang Schulleiter und im Anschluss Ministerialrat am Hessischen Kultusministerium. Heute leitet er das Staatliche Schulamt für den Landkreis Gießen und den Vogelsbergkreis. Er komponiert Lieder, Orgel- und Chorliteratur, insbesondere auch leicht aufführbar und gut für nebenamtliche Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker umsetzbar. Er bearbeitet Kompositionen aus Barock, Klassik und Romantik zu einfach lesbaren Notensätzen, auch mit spieltechnischen Vereinfachungen, und ist als Maler tätig. 1987 entstand zunächst der zweistimmige Kanon, der nun den Refrain des Liedes bildet. Dieser „kam ohne konkreten Anlass am Nachmittag vor einer Chorprobe quasi angeflogen und wurde bereits nach wenigen handwerklichen Veränderungen eine Kopiervorlage für die abendliche Verwendung in Wieseck“, so Kissel. Sofort entwickelte sich der Kanon zum chorinternen Schlager, der dann auch immer mal 1 Texte und Lieder für Sonn- und Feiertage, Didaskalia Heft 47, Kassel 2019, 167.
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im Gottesdienst vorkam. Er verbreitete sich „via geduldeter Raubkopie“2 schnell in Deutschland und darüber hinaus. Wenige Jahre später fügte Kissel die Strophen hinzu. Im Hänssler-Verlag veröffentlicht, schrieb der damalige Leiter der Verlagsnotenabteilung und Musiklektor Gerhardt Ziegler einen achtstimmigen Satz zum Refrain, inzwischen sind auch vierstimmig die Strophen veröffentlicht. Heute ist das Lied in viele Sprachen übersetzt – die letzten Autorisierungen gab es zu sorbischen, rätoromanischen und ukrainischen Fassungen. Das Lied orientiert sich an Psalm 103, aus dem der Wochenspruch (V. 2) und der Hallelujavers (V. 13) des 14. Sonntags nach Trinitatis stammen. Der Refrain und die ersten beiden Zeilen der Strophen 1 und 2 sind umgangssprachliche Umdichtungen der Psalmverse 1–5. Der Psalmbeginn ist individueller Dank und in den Versen 1 und 2 ein ermunternder Aufruf an die eigene Seele. Dieser Aspekt ist im Lied übernommen. In den Versen 6–18 wird Gottes „wunderbares Walten in der Geschichte seines erwählten Volkes“3 hymnisch verherrlicht. Dieser Teil wird in Kissels Lied allerdings nicht verarbeitet. In Strophe 3 löst sich Kissel von Psalm 103, jedoch sind biblische Bezüge z. B. zu Exodus 13,21 oder Jeremia 33,20 erkennbar. Die Strophe 4 scheint zunächst ohne direkten biblischen Bezug zu sein, in den Zeilen 1 und 2 betont Kissel die Zusammengehörigkeit von Himmel und Erde und die Zusage Gottes. Hier kann ein Bezug zu Jeremia 31,33 hergestellt werden: „[…] sondern das soll der Bund sein, […] spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.“4 Alle Strophen enden jeweils dreizeilig mit einer Willensbekundung, die als freie Doxologie zu verstehen ist, von Herzen kommt und zum Refrain überleitet. „Gottes Ja-Wort ist der Grund der Schöpfung“, so Kissel. Gott und seine Schöpfung sind ein Gegenüber der Unvollkommenheit, bei der Gott diese Welt bejaht. Der Glaubende kann dieses Angebot Gottes durch Akzeptanz annehmen. Kissel betont, dass er Gott als diesen Bejahenden und nicht als den Machenden versteht – das findet sich im Lied. Er berichtet, „wie Unterrichtsgespräche seine Übertragung von Auszügen des 103. Psalms, speziell die Wendung von Erde und Himmel unter dem ‚göttlichen Ja-Wort‘ beeinflusst haben: Die Theodizee-Frage lenkt den Blick auch auf das Leid, das der Mensch durch sein Handeln seinem leidens- und sterbensfähigen Gott bereitet. Aspekte der Interpretation der Schöpfungs 2 Kurzeinführungen in die Lieder von „Wo wir dich loben plus“ mit den neuen Wochenliedern von Bernhard Leube: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved =2ahUKEwi15eK-mOn5AhVR4aQKHcqXBXAQFnoECBEQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww. kirchenmusik.elk-wue.de%2Ffileadmin%2Fmediapool%2Feinrichtungen%2FE_amtfuerkirchenmus ik%2FArtikel%2FKurzeinfuehrungen_Wwdl_II_alphabetisch_-_Kopie.pdf&usg=AOvVaw0JPx7PX A7cWifcW5TjzhCt. 3 Hans Joachim Kraus: Psalmen, Biblischer Kommentar Altes Testament XV, Neukirchen 1960, 701. 4 Die Bibel. Lutherübersetzung, Stuttgart 2017
Lobe den Herrn, meine Seele (EG.E 14)
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texte treten hinzu: Hat Gott die Welt in einem einmaligen Schöpfungsakt erschaffen? Gott sagt unter Schmerzen Ja zu seiner Welt.“ Das Lied ist formal ein Strophenlied. Es sollte zweitaktig angelegt werden, sodass Schwerpunkte z. B. im Refrain auf die Worte Seele, Namen, getan hat und Amen fallen. Kissel erzählt, dass das Lied in seinem „persönlichen inneren Klang von Kontrabass und einer französischen Musette begleitet wird“. Mit dieser Vorstellung wird klar, dass über das Tempo und die gesungene Leichtigkeit ein „Schunkellied“ zu vermeiden ist. Der Refrain ist zweiteilig und als Kanon singbar. Beide Refrainteile und der Strophenteil sind jeweils acht Takte lang. Der 6/8-Takt und die syllabische Textverteilung sorgen für ein beschwingtes, sehr bewegtes und damit auch fröhliches Lied, in welchem Glücklichkeit spürbar wird. Prägnant ist der stetige Wechsel zwischen je einem Takt mit sechs Achtelnoten und einem mit zwei punktierten Viertelnoten. Teil 1 und Teil 2 des Refrains sind hierbei rhythmisch komplementär angelegt. Im Strophenteil werden zunächst die punktierten Noten in eine Viertel- und eine Achtelnote unterteilt. In Zeile 3 der Strophe sorgen zwei in Achtelnoten fortschreitende Tonleitern aufwärts für eine rhythmische Tempobeschleunigung mit einer enormen Energie nach vorne. Der auch dadurch entstehende ekstatische Höhepunkt wird in der letzten Strophenzeile durch eine Tonleiter abwärts und zwei punktierte Schlussviertel abgefangen. Formal ergibt sich die Struktur: ABAC DEDF | GHIJKL. Die Melodie besteht vorrangig aus Quartsprüngen und diatonischen Folgen. Zwei Seufzermotive sind am Ende der ersten beiden Strophenzeilen zu finden, die mit dem darunter liegenden Text wie eine Erinnerung wirken können. In Takt 7 und 10 mag man geneigt sein, auf die ersten Achtel ein b’ zu singen. Das ist harmonisch möglich – von Kissel gewollt ist allerdings das notierte c’. Eine besondere Intensität bekommt das Lied durch seinen harmonischen Aufbau. Der Refrain steht in F-Dur, für die Strophen rückt man in die Dominantparallele a-Moll. Dieser Wechsel sorgt einerseits für ein Wort-Ton-Verhältnis, welches Lob und Dank im Refrain und Erinnerung und Wahrnehmung von weltlichem Schmerz und Leid in den Strophen unterstützt. Die Mediante a-Moll führt auch zu einer emotionalen Intensivierung und Verdichtung, die mit dem Refrain in der Grundtonart aufgelöst wird. Das geschieht analog zum rhythmischen Aufbau. Entscheidend für den Übergang zum Refrain sind in der letzten Strophenzeile der Ton b über dem Wort ihm – mit diesem wird die Modulation zum Dominantseptakkord eingeleitet. Dieser führt zwingend in die Grundtonart. Es bestehen verschiedene mehrstimmige Fassungen. Es sind vielseitige Aufführungsformate möglich. Das ist eine weitere besonderen Qualität dieses Liedes, welches beliebt ist, häufig gesungen wird und nun auch zum Wochenlied wurde. Uwe Maibaum
Auf, Seele, Gott zu loben (EG.E 15)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Martha Müller-Zitzke (1899–1972) Johann Steurlein (1546–1613) T: 1947 M: 1575 Erntedank
Der Text dieses Liedes wurde zum ersten Mal 1947 in dem Gedichtband „Ein neuer Tag“ veröffentlicht. Nach der 1. Auflage von 5.000 Exemplaren erschien noch im selben Jahr eine 2. Auflage mit weiteren 3.000 Exemplaren, die, verglichen mit heute, für Lyrik-Ausgaben geradezu astronomisch anmuten. Der Band enthält auf 154 Seiten 137 Gedichte der Autorin Martha MüllerZitzke. Es sind mehrheitlich Naturgedichte und geistliche Lyrik, die sich häufig auf Texte der Bibel beziehen oder sie nachsprechen, darunter nicht weniger als 21 PsalmNachdichtungen. In manchen Texten wird das Kriegsgeschehen thematisiert, in weiteren klingt es an. Einige Psalmennachdichtungen lassen sich auf bekannte Kirchenliedmelodien singen, auch wenn es dazu im Buch keine Hinweise gibt: z. B. „Freut euch des Herrn, ihr Frommen“ (S. 98) auf die Melodie „Ich will, solang ich lebe“ und „Gott, sei mir gnädig, höre mich“ (S. 83) auf die Melodie „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Da solche Verbindungen häufig möglich sind, darf angenommen werden, dass solche Kontrafakturen in der Absicht der Dichterin lagen. Das Gedicht Auf, Seele, Gott zu loben hat sie mit großer Wahrscheinlichkeit in Entsprechung zu Martin Behms Gedicht „Wie lieblich ist der Maien“ und zu Johann Steurleins1 Melodie bewusst gestaltet: Metrum, Verslänge, Verszeilen und Endreime entsprechen sich. Einige Gedichte aus „Ein neuer Tag“ wurden auch neu vertont. Die meisten Neuvertonungen enthielt das Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche von 1969, nämlich vier: von Herbert Beuerle „Reiß uns aus aller Traurigkeit“ (Nr. 481, entstanden 1949), von Frieder Ringeis „Wir sollen deine Zeugen sein“ (Nr. 305, entstanden 1960) sowie von Paul Ernst Ruppel „Singt dem Herrn ein neues Lied“ (Nr. 150, entstanden 1954) und „Wir wollen es klar bekennen“ (Nr. 180, entstanden bereits 1941). Ruppel und Martha Müller-Zitzke waren miteinander befreundet. Die Dichterin „eignete“ ihm das ebenfalls in „Ein neuer Tag“ auf Seite 65 abgedruckte Gedicht Gottes Lob zu. Das zuletzt genannte Gesangbuch enthält sowohl „Wie lieblich ist der Maien“ (Nr. 608) als auch Auf, Seele, Gott zu loben (Nr. 618), während das EKG nur „Wie lieblich ist der Maien“ (Nr. 370) bietet. Das EM von 1 Walther Lührs: Steurlein, Johann, in: Wolfgang Herbst (Hg.): Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuch, Handbuch zum EG 2, Göttingen 1999, 312–313.
Auf, Seele, Gott zu loben (EG.E 15)
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2002 enthält außer Auf, Seele, Gott zu loben als einzigen Text von Martha MüllerZitzke nur noch „Wir sollen deine Zeugen sein“ (Nr. 541). Aktuell bieten von den offiziellen deutschsprachigen Gesangbüchern nur das EG Rheinland / Westfalen / Lippe (Nr. 690), das EM (Nr. 64), „Feiern und loben“ (Nr. 500), das Gesangbuch der Mennoniten (Nr. 80), das Gesangbuch der Herrnhuter Brüdergemeine (Nr. 55) und das Gesangbuch der SELK (Nr. 743/744) Auf, Seele, Gott zu loben. Außerdem findet es sich in freiTöne (Nr. 66) sowie in „Wo wir dich loben plus“ (Nr. 106). Auch die „Gemeindelieder“, das 1978 erschienene Gesangbuch des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, enthält vier Vertonungen von Gedichten Müller-Zitzkes: „Der Herr ist König, sehr geschmückt“ (Nr. 379), entstanden 1949, „Jauchzt dem Herren alle Welt“ (Nr. 4) mit einer Melodie von Ruppel, entstanden 1948, „Wer da bittet, der empfängt“ (Nr. 70), Text von 1949, Melodie Josef Michel 1960, sowie Auf, Seele, Gott zu loben (Nr. 499). „Glauben, Hoffen, Singen“, das 2015 erschienene „Liederbuch der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten“, enthält als einzigen Text von Martha Müller-Zitzke das 1946 entstandene, aber nicht in „Ein neuer Tag“ enthaltene Gedicht „Singe, meine Seele, singe“ (Nr. 608) mit einer Melodie von Otto Abel von 1965/73. 1954/55 erschien der Text von Auf, Seele, Gott zu loben in einer siebenstrophigen Fassung und mit einer Variante2 der Melodie und des Satzes von Steurlein, die sich später allgemein durchsetzten, auf Blatt neun der Reihe „Kommt und singt“ für die Chöre des Christlichen Sängerbundes. Es darf mit Sicherheit angenommen werden, dass dieses die erste Veröffentlichung des Liedes in dieser Form war und auf Paul Ernst Ruppels (1913–2006) Initiative zurückging, der zu jener Zeit Bundessingwart und Kantor des Sängerbundes war. Die Melodie3 ist in einer stärker vereinfachten Variante mit dem Text „Wie lieblich ist der Maien“ (EG 501) verbreitet und in der „Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch“ beschrieben.4 Leider hilft dieser Artikel nicht recht weiter für die Lösung der Frage nach der tatsächlichen Originalgestalt der Melodie. Steurlein hat sie zunächst zu dem weltlichen Text „Von Lieb bin ich umfangen“ geschrieben, veröffentlicht – einschließlich des vierstimmigen Satzes – in „Weltliche Gesenge“ (Johann Steurlein, Erfurt 1575). Die diversen (Chor-) Veröffentlichungen des Satzes berufen sich stets auf Steurlein, obwohl sich die Melodie (und manchmal auch der Satz) unterscheidet. So lässt sich diese Frage nicht abschließend entscheiden. Eine gewisse Sicherheit geben lediglich die neuherausgebrachten Ausgaben, die sich auf „Hain 2 Der Unterschied besteht lediglich im Weglassen der Verzierung in Takt 11/4 und des Achteldurchgangs in Takt 13/4 jeweils in der Melodie. Jedoch findet sich diese vermutlich originale Fassung etwa im Liederbuch „Jahreslob 2“ (1988, Evangelische Verlagsanstalt), das sich auf die Notenblätter des Chordienstes bezieht. 3 Der Abschnitt zu Melodie und Satz des Liedes wurde von Beate Besser verfasst. 4 Joachim Stalmann: „Wie lieblich ist der Maien“, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, HEG 3, Heft 22, Göttingen 2016, 84–86.
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hofers Lautenbücher“ (1603)5 berufen und damit jene (verzierte, s. Fußnote 4) Fassung favorisieren, die den Text „Auf, Seele, Gott zu loben“ trägt. Der Schwung der Melodie (und des vierstimmigen Satzes) ist in dieser (origi nalen) Fassung noch leichter nachvollziehbar. Zudem wird der harmonische Verlauf, den der Komponist vorgesehen hatte, deutlich. Martha Müller-Zitzke gehörte zur Baptistengemeinde im niedersächsischen Bodenfelde an der Weser. Sie wurde 1899 im 1 km südlich davon gelegenen nordhessischen Lippoldsberg / Weser geboren6 und verstarb 1972 in Bodenfelde. Fast alle ihrer Gedichte sind auch Ausdruck ihrer persönlichen Frömmigkeit, die durch die freikirchlich-typische Spiritualität des Pietismus und der Erweckungsbewegung geprägt war. Sie hatte eine besondere Nähe zu den „Rufern“, einer baptistischen Evangelisationsarbeit, in der viele kreative Fähigkeiten vor allem junger Menschen geweckt wurden. Eng verbunden war sie mit der Arbeit des Christlichen Sängerbundes. Viele ihrer Texte sangen dessen Chöre aus den Erstveröffentlichungen, die dort erschienen. Von da aus wurden sie dann Bestandteil der freikirchlichen Gesangbücher in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit. Das teilten ihre Gedichte mit denen der meisten Liederdichter ihrer Generation, von denen sie viele persönlich kannte. In den aktuellen Gesangbüchern finden sich nur noch Spuren davon. In Martha Müller-Zitzkes Haus waren manche Komponisten, aber auch seinerzeit bekannte Dichter wie Rudolf Alexander Schröder (1878–1962), Arno Pötzsch (1900–1956), Karmel Kohler (1915–2007) und andere zu Gast. Da wurde dann oft um exakte Formulierungen und einzelne Wörter ihrer Gedichte miteinander gerungen. Gleichwohl verstand die Dichterin ihre Gedichte als Geschenke, die ihr eingegeben wurden. „Es dichtet“ war dafür ein geflügeltes Wort in ihrem Haus, und diese beiden Wörter stehen bezeichnenderweise am Ende ihres einleitenden achtzeiligen Gedichtes „Der Dichter“ auf Seite 3 von „Ein neuer Tag“. Wie bei allen Psalm-Nachdichtungen Müller-Zitzkes steht auch bei Auf, Seele, Gott zu loben (S. 99) in Klammern der Psalm (Ps 104). Sein Wortlaut (Luther 1912!) diente also als Vorlage für ihren Text. Das Gedicht hat in der Originalversion neun Strophen. Davon bringen die heutigen Gesang- und Liederbücher durchweg nur sieben, und diese in der ursprünglichen Reihenfolge – alles wie in der „Kommt und singt!“-Ausgabe. Nicht aufgenommen werden die Strophen 7 und 8 aus dem Originaltext. Sie haben folgenden Wortlaut:7
5 „Hainhofers Lautenbücher“, 1603, http://www.cpdl.org/wiki/images/b/bf/Mit_Lieb_bin_ich_ umfangen_S-A-T-B.pdf, https://dewiki.de/Lexikon/Wie_lieblich_ist_der_Maien#Melodie (abgerufen am 31.10.2022). 6 So Friedrich Samuel Rothenberg (Hg.): Lob aus der Tiefe. Junge geistliche Dichtung, Göttingen 1946, hier: 19477, 141. Rothenberg bietet ein Inhalts- und Quellenverzeichnis mit Kurzbiogrammen der Dichterinnen und Dichter. 7 Orthografie und Interpunktion wie im Original – aber ohne die Großschreibung am jeweiligen Versbeginn.
Auf, Seele, Gott zu loben (EG.E 15)
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7. Ja, groß ist, was Gott werket, und alles wartet Sein, daß Er mit Speise stärket und schenket voll uns ein. Wer kann ohn Ihn bestehen? Ach, alles Fleisch verdorrt; zu Staub muss es verwehen, nimmt Gott den Odem fort. 8. Er spricht Sein heiliges Werde, da Ihn sein Werk erfreut, daß die Gestalt der Erde sich wunderbar erneut. Der Erde Tiefen beben in Seines Blickes Bann, Rauch steigt und Nebel schweben, rührt Er die Berge an.
Stellt man Psalm- und Gedichttext nebeneinander, so ergibt sich eine fast genaue Kongruenz der Inhalte – meist auch in ihrer Abfolge. Nichts Wesentliches wird weggelassen. Es gibt allerdings zwei sehr bedeutungsvolle Aussagen, die am Anfang und am Schluss des Gedichtes stehen und so besonderes Gewicht bekommen. Da ist zum einen gleich am Beginn die Bezeichnung der Schöpfung als Gottes Haus. Dieses Bild gibt die Möglichkeit, das Folgende fast im Stile reiner Naturlyrik mit vielen entsprechenden Bildern zu gestalten. Gleichzeitig hat dieses Bild etwas Prophetisches. Wir verstehen es heute sehr gut mit all seinen Konsequenzen. Es bestätigt sich, was Kurt Marti so gesagt hat: „Vielleicht hält sich Gott einige Dichter …, damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhandengekommen ist.“8 Die zweite Veränderung betrifft die letzte Strophe. Heißt es im letzten Psalmvers: „Der Sünder müsse ein Ende werden auf Erden, und die Gottlosen nicht mehr sein. Lobe den Herrn, meine Seele! Halleluja!“ (Ps 104,35), so klingt Müller-Zitzkes Gedicht ebenfalls mit dem Gotteslob aus. Es besingt aber nun nicht die Vernichtung der Feinde und Gottlosen, sondern die Gnade Gottes, die dem Sünder gilt. Dies nur kurze Zeit nach dem Ende des 2. Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft so zu denken und formulieren, ist ein starkes Statement ihrer Frömmigkeit. Hartmut Handt
8 So zitiert im Vorwort von Karl-Josef Kuschels Studie mit dem Titel „Vielleicht hält Gott sich einige Dichter …“, Literarisch-theologische Porträts, Mainz 1996, II.
Glaube – Liebe – Hoffnung Loben und Danken
Gelobt sei deine Treu (EG.E 16)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Gerhard Fritzsche (1911–1944) Johannes Petzold (1912–1985) T / M: 1938 16. Sonntag nach Trinitatis
Die biografischen Nachrichten zu Gerhard Fritzsche sind spärlich und zum Teil widersprüchlich. Er wurde 1911 in Dittmannsdorf bei Flöha in Sachsen geboren und arbeitete nach dem Schulbesuch in der väterlichen Weberei (Strumpfwirkerei). 1936 wurde er Jugendwart im Kirchenkreis Kamenz (Sachsen). 1939 wechselte er als Jugendleiter an die Himmelfahrtskirche Leuben in Dresden. Bald darauf wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, ob das 19401 oder schon 19392 war, muss hier offenbleiben. 1944 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft und starb in einem Lager in der Ukraine. Rothenberg berichtet, dass er seit dem Sommer 1944 auf dem Balkan vermisst wurde. Gerhard Fritzsche veröffentliche zwei Liedsammlungen: „Ich glaube. Geistliche Gedichte“ (1938), und „Schwert und Kelle. Geistliche Lieder und Gedichte“ (1939). In den Jahren 1936–1938 schuf er sechs Laienspiele, davon fünf geistliche Spiele. Gerhard Fritzsche war mit Johannes Petzold3 befreundet, der insgesamt 26 seiner Lieder vertonte. Die von Friedrich Samuel Rothenberg 1946 heraus gegebene Sammlung „Lob aus der Tiefe. Junge geistliche Dichtung“ enthält zwölf Texte des Dichters und einen kurzen Abriss seines Lebens. Dabei ist vermerkt, dass Gelobt sei deine Treu, in dieser Sammlung enthalten, 1938 in „Ich glaube“ zum ersten Mal erschienen ist. Bei fünf weiteren Liedern ist vermerkt, dass sie zwischen 1942 und 1944 in Russland entstanden sind. Das vierstrophige Lied ist schon durch seinen Beginn Gelobt sei deine Treu, der fast textgleich am Beginn der 4. Strophe wieder aufgegriffen wird, als Loblied erkennbar. Es ist der normale Lauf eines Tages vom Morgen bis zum Abend (Str. 1), das zum Leben Notwendige wie Kleidung und Brot, Nacht und Tag (Str. 3) sowie Gaben unermessen (Str. 2), die zum Lob anstiften. Auf den ersten Blick erscheint das Lied 1 So Friedrich Scherf: 200 x nachgefragt. Lebensläufe deutschsprachiger Lyriker, Norderstedt 2021, 38. 2 So Friedrich Samuel Rothenberg (Hg.): Lob aus der Tiefe – Junge geistliche Dichtung, Göttingen 1946, 138. 3 Vgl. Konrad Klek: Petzold, Johannes; in: Wolfgang Herbst (Hg.): Komponisten und Lieder dichter des Evangelischen Gesangbuchs, Handbuch zum EG 2, Göttingen 1999, 239–241.
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darin fast simpel. Es entsteht jedoch ein deutlicher Kontrast durch die Signalwörter schwaches Herz (Str. 1) und Ungemach (Str. 3), die auf eine tiefere Bedeutungsebene des Liedes verweisen. In der 2. Strophe zeigt die ausdrückliche Selbstermunterung auch laut vor aller Welt, dass die Sprachgestalt dieses Liedes auch die Umstände seiner Entstehungszeit 1938 reflektiert. Das Lied ist nur vor diesem konkreten historischen Hintergrund angemessen zu verstehen. Allerdings ist es wegen seiner einfachen textlichen und melodischen Sanglichkeit nicht an seinen Entstehungskontext gebunden. Die 1. Strophe setzt mit dem Lob der Treue Gottes ein. Deine Treu, und damit unbedingte Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit, steht hier für Gott selbst. Wird diese Treu gelobt, so wird Gott selbst gelobt. An den eröffnenden kurzen Hauptsatz Gelobt sei deine Treu schließen nacheinander zwei Relativsätze an: die jeden Morgen neu und die jeden Abend wieder. Am Morgen hüllt die Treue uns in den Mantel deiner Liebe. Das Bild erzeugt die Assoziation des Schutzmantels. Die Liebe Gottes wird als wirksamer Schutz in gefahrvoller Zeit erlebt. Am Abend, wenn schwer die Augenlider – ist es nur die Müdigkeit nach der Arbeit des Tages, die hier wirksam ist? Die Formulierung ist durchaus offen für weitere Deutungen von Anfechtung und Beschwernis. Schließlich füllt die Treue, also Gott selbst, das schwache Herz mit Frieden. Worin die Schwäche des Herzens besteht, lässt sich unschwer aus den Zeitumständen erschließen: Verzagtheit, tiefe Beunruhigung, Trauer und Zukunftsängste dürften sie bewirken. Aber „der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus“ (Phil 4,7). Dieser apostolische Gruß mag die Formulierung angeregt haben. Die 2. Strophe erinnert an das Handeln Gottes in der Vergangenheit: Nie hast du uns vergessen und die gegenwärtige Erfahrung: schenkst Gaben unermessen. Die nie endende Treue Gottes zeigt sich darin, dass tagtäglich deine Hand uns hält. Das Gotteslob allerdings ist verhalten. Es braucht erst Ermutigung und Aufforderung: Wir wolln dem Namen dein … lobsingen. Zunächst ist es leise, als ob es sich versteckt: im Herzen still und fein. Lobgesang aber drängt nach außen, will und muss laut werden – in schwerer Zeit geschieht dies dann gewissermaßen im zweiten Anlauf: auch laut vor aller Welt. Die 3. Strophe setzt den Gedankengang fort und konkretisiert die Gaben, die Gott tagtäglich zuwendet, nämlich Kleidung und Brot. Auch die Ruhe der Nacht und die Sonne am Morgen (das Taggestirn, das helle) gehören zu diesen Gaben. Mit Tag und Nacht, Kleidung und Brot ist ein Lebensrahmen beschrieben, der natürliche Gegebenheiten ebenso umfasst wie das soziale Gefüge, in dem arbeitsteilig für Kleidung und Brot und vieles andere mehr gesorgt ist. Doch wie ein dunkler, bedrohlicher Schatten liegt das Ungemach über der Welt. Der Glaube aber sieht, dass Gott seine lichtschaffende Schöpferkraft gegen das Ungemach wirken lässt. Die güldene Welle des Lichts hilft nicht nur gegen Schwermut und Traurigkeit, sie ist eine Hoffnungskraft des Glaubens, die jeden Tag aufs Neue wirksam ist. Sie möge ausnahmslos alle Menschen erreichen: du stellst am Morgen über jedes Dach das Taggestirn. So lässt Gott „seine Sonne aufgehen über Böse und Gute“ (Mt 5,45).
Gelobt sei deine Treu (EG.E 16)
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Zusammenfassend und begründend setzt die 4. Strophe ein Gelobt drum deine Treu. Schutz, Stärkung, Frieden und das Lebensnotwendige – in allem zeigt sich Gottes abgrundtiefe Liebe, jeden Morgen neu. Die einzig angemessene Antwort ist das Lob mit Singen. Überraschend und geradezu herb ist der Schluss des Liedes bis unser Mund im Tode schweigt. Auf einen Ausblick auf die Ewigkeit und das dort niemals endende Gotteslob verzichtet der Dichter. Die je Strophe sechszeilige Dichtung Gelobt sei deine Treu folgt dem Reimschema A-A-B-C-C-B. Beide Hälften des Liedes sind mit je 22 Silben gleich lang, wobei das Silbenschema nicht übereinstimmt: 6.6.10.7.7.8. Die Melodie folgt dem unregelmäßigen Strophenbau durch eine Änderung des Taktes. Während die 1. Liedhälfte im Zwei-Halbe-Takt gesetzt ist, beginnt genau in der Mitte der Strophe ein Wechsel zwischen Zwei-Halbe- und Drei-Halbe-Takt. Der Auftakt der 1. Hälfte ist ein Viertel, in der 2. Hälfte sind es drei Viertel. So nimmt die Melodie das Metrum organisch auf. Die sangliche Melodie in G-Dur schreitet überwiegend in Sekundschritten voran. Die 1. Zeile umspielt der Grundton und endet auf der Terz (h’). Musikalisch4 sind die Textzeilen 2 und 3 zu einer Einheit verbunden mit einem ersten Höhepunkt durch einen Terzsprung auf die Quinte (d’’), die dann sogleich mit einer abfallenden Quinte wieder den Grundton g’ erreicht. Von hier aus bewegt sich die Melodie im 4. Takt zu einem zweiten Höhepunkt mit einer Punktierung, die die Zeilengrenze überspielt. Die Zeilen 4 und 5 sind melodisch sequenzartig gestaltet, jedoch nicht identisch. Sowohl Melodie als auch Rhythmus weichen etwas voneinander ab. Die größte Herausforderung für das Singen ist der Oktavsprung zum hohen d am Beginn der letzten Zeile. Von da aus bewegt sich die Melodie in Sekundschritten zum Schlusston. Im vorletzten Takt ist noch einmal ein Höhepunkt gestaltet mit einer aufwärts führenden Ligatur auf Frieden. Die Melodie ist in EG.E mit einem Originalsatz, ebenfalls von Johannes Petzold, abgedruckt. Ilsabe Alpermann
4 Dieser Absatz wurde von Beate Besser mit verfasst.
Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt (EG.E 17)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Liturgische Einordnung:
Hans-Jürgen Netz (*1954) Christoph Lehmann (*1947) T / M: 1979 3. Sonntag nach Trinitatis
Biographische Bemerkungen zu Lieddichter und Komponist Autor der auf biblische Texte und das Gloria der Messe zurückgehenden Dichtung ist Hans-Jürgen Netz (*1954), der u. a. als Sozialpädagoge in Düsseldorf tätig war und seit fast 50 Jahren dem Deutschen Evangelischen Kirchentag eng verbunden ist. Seit 1972 schreibt er lyrische Texte für Neue Geistliche Lieder und Kinderlieder. Sie fanden Aufnahme u. a. im Ev. Gesangbuch, im Gotteslob und im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche. Er lebt und arbeitet in Oelde / Westfalen. Andere Lieder aus seiner Feder gibt es zahlreiche. Zwei seien exemplarisch genannt: „Wo ein Mensch Vertrauen gibt“ (mit Fritz Baltruweit)1, „Kennt unser Denken“ (mit Wolfgang Teichmann)2. Komponist der Melodie ist Christoph Lehmann. Er wurde 1947 in Peking (China) geboren und studierte nach Stationen in Spiekeroog und Südafrika Kirchenmusik bis zur A-Prüfung in Berlin. Er wirkte lange Jahre als kirchenmusikalischer Grenzgänger (vom Theatermusiker bis zum Cembalisten) zwischen Neuem Geistlichen Lied und sog. Alter Musik.
Historische Verortungen Das Lied ist in der Vorbereitung des Ökumenischen Arbeitskreises Düsseldorf-Altstadt für den Deutschen Ev. Kirchentag in Nürnberg 1979 entstanden3 und war Teil 1 EG Regionalteil Württ. 638 und EG-NB 604. Übrigens steht das Lied hier in der dritten Auflage wohl erstmalig mit dem richtigen Rhythmus am Schluss, nämlich geraden Vierteln, so wie vom Komponisten beabsichtigt und auch immer gesungen. 2 Vgl. Kirchentag Bremen, FundStücke 69; Kirchentag Hamburg, KlangFülle, 58 u. a. 3 Christoph Lehmann, in: Dietrich Meyer (Hg.): Arbeitshilfen des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland (21997), 183.
Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt (EG.E 17)
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einer Beat-Messe. Die Textvorlage von Hans-Jürgen Netz existierte bereits. Beim Kirchentag folgte eine Predigt zum Thema „Aussteigen“.4 Christoph Lehmann schreibt: „Die dreimalige Wiederholung des Ehre sei Gott und den Menschen Frieden, die bereits in der Textvorlage von Hans-Jürgen Netz so enthalten war, hat mir beim Komponieren sogleich gut gefallen. Meine Assoziation war dabei vermutlich das dreifache ‚Sanctus, Sanctus, Sanctus‘ aus der biblischen Thronvision Jesaja 6, dessen ‚Uraufführung‘ Martin Luther so beschreibt: ‚gen ander riefen sie mit großem Geschrei‘.“5
Zu Form und Inhalt des Liedes: poetische und musikalische Struktur Das zu den Ö-Liedern (vgl. GL 383) gehörende Lied ist ein Klassiker des Neuen Geistlichen Liedes, das sowohl in einigen Regionalteilen als auch in zahlreichen Liederheften des Deutschen Ev. Kirchentages in den letzten Jahrzehnten aufgenommen worden ist.6 Inhaltlich verbindet das dreistrophige Refrainlied auf eindrucksvolle Weise die Tiefen und die Höhen des Menschseins vor Gott: Erhörte Klage und hymnisches Lob stehen einander in Strophe und Refrain gleichsam kontrastierend gegenüber, was u. a. durch Tonlage und Ambitus der Melodie (Quintraum in der Strophe vs. Oktavraum im 2. Teil des Refrains) unterstrichen wird. Biblischer Bezugspunkt ist zum einen Ps 30,4 („Herr, du hast mich aus der Tiefe herausgeholt“) und der ebenfalls auf eine Rettungserfahrung zurückblickende Dankpsalm 116, in dem es (in der Lutherübersetzung) heißt: 3 Stricke des Todes hatten mich umfangen, des Totenreichs Schrecken hatten mich getroffen. … 8 (aber) du hast meine Seele vom Tode errettet, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten … 16 Du hast meine Bande zerrissen.7 17 Dir will ich Dankopfer bringen und des HERRN Namen anrufen.
4 Vgl. Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur. Mit besonderer Berücksichtigung ausgewählter Lieder des Erzbistums Köln, Stuttgart 2017, 550. 5 Christoph Lehmann, zit. nach Meinrad Walter: „Ich lobe meinen Gott …“ – 40 Gotteslob-Lieder vorgestellt und erschlossen, Freiburg i.B./Basel / Wien 2015, 15. 6 Vgl. EG Württemberg (611), Singt von Hoffnung (Sächsischer Anhang), 79; Gemeinsam unterwegs, 71; LebensWeisen 42, gemeinsam weitergehen 42; HerzTöne 42, KlangFülle 23; ZeitWeise 53, Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder plus, 166; freiTöne 71; Was für ein Vertrauen 72 u. a. 7 Vgl. dazu auch Ps 124,7b: „Das Netz ist zerrissen, und wir sind frei.“
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Dieser Idee einer rückblickenden Toda (im Tempel) angesichts der Rettung aus Todesnot folgt das ganze Lied: In den Strophen schaut der Dichter in sechs Anläufen immer wieder auf eine konkrete Notsituation, die durch Gottes Eingreifen (Relativsätze) abgewendet wird, um dann beim Refrain in überschwängliches Lob einzustimmen. Der Lobgesang verweist unmissverständlich auf das Gloria in Lk 2,14 („Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden“) und schlägt damit weihnachtliche und liturgische Töne zugleich an. Man könnte das ganze Lied daher auch als Gloria de profundis oder als Danklied nach persönlicher Erhörung begreifen. Damit sind wir bei den unverwechselbaren Besonderheiten des Liedes angekommen. Die Bezugspunkte zur Tradition (Bibel, Liturgie) zum einen und die existenzielle Allgemeingültigkeit zum anderen machen den besonderen Charme aus. Auch die einfache, gut verständliche Sprache ist ein Qualitäts- und Markenzeichen, die unmittelbar zum gesungenen Gebet (Ich-Form) einlädt. Weitere Kennzeichen, die für das Neue Geistliche Lied typisch sind und die Popularität des Liedes begünstigt haben, sind die Verbindung von sprachlicher Klarheit mit musikalischer Prägnanz (bzw. Redundanz) sowie ein lebendiger rhythmischer Schwung. Poetisch verzichtet Netz auf eine Reimbildung, hält aber das jambische Metrum in den Strophen fast konsequent ein, die alle drei jeweils zweimal acht betonte Silben aufweisen und in drei Teile gegliedert sind: A / A’: Ich lobe meinen Gott (je 3 Hebungen und 3 Senkungen) B / B’: der aus der Tiefe mich holt / der mir die Fesseln löst etc. (3 betonte und 3 unbetonte Silben) C / C’: damit ich lebe / damit ich frei bin etc. (2 betonte und 3 unbetonte Silben)
Inhaltlich bewegen sich die sechs Sätze auf einer einheitlich doxologischen Schiene: Textteil A eröffnet mit subjektivem Lobpreis an den persönlichen Gott (meinen Gott). Die Textteile B beschreiben dann – gleichsam objektiv – das Handeln Gottes in der Gegenwart (vgl. ähnlich Ps 103,3–5: „der dir alle deine Sünde vergibt“ etc.). Theologisch liegt der Akzent somit ganz auf der Soteriologie, auf dem rettenden, heilenden, tröstenden und orientierenden Handeln Gottes. Netz fokussiert dabei die durch Gott bewirkte Lebenserneuerung im Hier und Jetzt. Besonders prägnant sind am Ende die kurzen C-Passagen. Sie blicken auf das glaubende Ich und formulieren ein positives Ziel christlicher Existenz: leben und frei sein, handeln und reden, lachen und atmen. Die bejahenden Verben eröffnen dynamische Aspekte eines österlich befreiten Menschseins, ein „Ensemble biblischer Verheißungen“8 leuchtet auf. Aufbau und Inhalt der Dichtung werden durch die musikalische Faktur des Liedes deutlich unterstrichen: Die sechsfach wiederkehrende Wiederholung des Halbverses Ich lobe meinen Gott (Anapher) bekommt durch die ungewöhnlich zahlreichen Tonwiederholungen der Achtel auf d’ eine starke Emphase. Bei genauerer Betrach-
8 Walter (Anm. 5), 18.
Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt (EG.E 17)
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tung zeigt sich allerdings, dass Lehmann auch die Textelemente B und B’ bzw. C und C’ musikalisch exakt wiederholt: B und B’: Achtelnoten auf d’ und e’ C und C’: Achtelnoten auf d’-e’-d’ und Viertelnoten auf fis’ und a’ –
heißt: Die Trias poetisch-theologischer Aussagen wird durch die analoge Musikalisierung noch verstärkt. Eine Besonderheit des Liedes stellen auch die langen Pausen im Strophenteil dar (je ein ganzer Takt), die bald ein Eigenleben in der Aufführungspraxis des Liedes entwickelt haben. In einer echoartigen Wiederholung wird in Gemeinden und Gruppen häufig ein „Halleluja“ (h’ a’ h’ a’) eingefügt, das dem Gestus und Inhalt des Liedes durchaus entspricht, vom Komponisten jedoch an keiner Stelle selbst vorgesehen war. Betrachten wir nun den Refrain, der das weihnachtliche Lob auf die Straßen und Gassen unserer Welt holt. Nicht nur in excelsis bei den Engeln im Himmel soll Gott die Ehre gegeben werden, sondern hier und jetzt unter den Menschen in ihren Häusern. Mit dem Weihnachtsgeschehen wird das Gloria gleichsam im Volk eingepflanzt. Dass dieses Lob dann auch wieder zum Himmel steigt, unterstreicht Lehmann weniger durch eine aufsteigende Melodie als durch eine harmonische Öffnung über E-Dur nach A-Dur in der Mitte des Refrains, um dann freilich in ein weicheres (irdisches?) F-Dur überzuleiten: Ehre sei Gott und den Menschen Frieden. Knapper lässt sich die doppelte Dimension der Weihnachtsbotschaft nicht sagen. Gott gehört die Ehre, und auf der Welt soll Frieden sein. Die Bedeutung dieser kompakten Aussage wird dadurch unterstrichen, dass die beiden Takte nicht nur ein- oder zweimal, sondern stets dreimal gesungen werden.9 Zählt man die Takte des Refrains inklusive der dreifachen Wiederholung, so kommt man auf die klassische Zahl 16, wobei die Melodie aus zweimal acht bzw. achtmal zwei Takten zusammengesetzt ist: Ehre sei Gott auf der Erde (2 Takte) in allen Straßen und Häusern. (2 Takte) Die Menschen sollen singen, (2 Takte) bis das Lied zum Himmel steigt. (2 Takte) Ehre sei Gott und den Menschen Frieden, (3 × 2 Takte) Frieden auf Erden. (1 × 2Takte)
Die gute Singbarkeit des Liedes hängt wie so oft an der rhythmischen Prägnanz eines musikalischen Leitmotivs, das gut memorierbar ist und schnell wiedererkannt wird. Dem Komponisten gelingt dies durch den synkopischen Rhythmus bei Ehre sei Gott, der den Anfang des ersten und den Anfang des zweiten Refrainteils verbindet.
9 Vgl. Lehmanns oben zitierte Assoziation an das Dreimalheilig.
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Bezug zu den biblischen Texten des Sonntags Anknüpfungspunkte zu den Texten des 3. Sonntags nach Trinitatis sind reichlich gegeben. Der Wochenspruch aus Lk 19,10 lautet: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Damit ist die im Lied beschriebene Wende im Leben eines Menschen in den Blick genommen, der von Gott erhört wird. Was im Lied offen daherkommt, ist im Wochenspruch klar soteriologisch und christologisch konnotiert. In ähnlicher Weise lässt sich das Evangelium des Sonntags, das so genannte „Gleichnis vom Verlorenen Sohn“ (Lk 15,11–32), mit dem Lied verbinden. Dass Gott rettet und aus der Tiefe holt, heißt: Gott bewegt das Herz des verlorenen Sohnes, so dass er umkehrt und in die Arme des Vaters läuft, in denen er Vergebung findet. Die festliche Freude, mit der Lk 15,24+32 schließt, entspricht im Übrigen dem fröhlichen Jubel in den Häusern, wie er im Refrain besungen wird. Auch der Wochenpsalm 103 spiegelt in den ersten Versen eine ähnliche Bewegung: Die Seele soll Gott loben, „der Gutes getan hat, Sünden vergibt, alle Gebrechen heilt“. Der Psalm kulminiert in V. 8: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.“ Im Gegensatz zum lobpreisend-konstatierenden Ton des Psalms schlägt die alttestamentliche Lesung den Tonfall des Staunens über Gottes Rettung Israels in Form einer Frage an: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils?“ (Mi 7,18) Eine interessante Brücke zu unserem Lied schlägt auch die Epistel 1. Tim 1,12–17 mit der Eröffnung: „Ich danke unserm Herrn Jesus Christus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat“. Wie im Lied ist damit gesagt: Wo Gott rettet, wird ein Mensch dankbar. Paulus bzw. sein Schüler schaut in einem biographischen Rückblick mit den Worten „Lästerer, Verfolger, Frevler“ auf die Zeit vor dem Damaskuserlebnis und lobt dann in überschwänglichen Worten die Gnade und Barmherzigkeit des rettenden Jesus Christus, der „in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin“. Diese allgemeine soteriologische und zugleich persönliche Ausleuchtung des Rechtfertigungsgeschehens verbindet die Epistel eindrucksvoll mit dem Lied Ich lobe meinen Gott. Der Abschluss 1. Tim 1,17 entfaltet eine hymnische Doxologie an Gott, den Vater, die dem Refrain des Liedes Ehre sei Gott entspricht: „Aber Gott, dem König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit. Amen.“
Überlegungen zur (popular-) musikalischen Ausführung Im Blick auf die musikalische Ausführung des Liedes scheinen mir zwei Möglichkeiten adäquat: Das Lied kann im Swingfeeling (ternäre Achtel) mit durchgehenden Vierteln im Bass („laid-back“-Tempo) gespielt werden. Vielfach hat man es so bei den Kirchen-
Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt (EG.E 17)
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tagen seit den 1990ern gehört. Dann ist das Grundtempo auf Viertel empfunden. Die musikalische Botschaft dahinter: Gott hat schon an uns gehandelt, alles ist gut. Aber auch eine schnellere Version in einem Half-time-Rock-Beat ist denkbar. Dann muss das Tempo deutlich zügiger sein und der Groove auf Halbe gehen. Hier lässt sich sogar ein gesprochener Rap denken, der jeweils zum Refrain wieder in die konkrete Tonalität des D-Dur hineingeht. Die musikalische Botschaft dahinter: Gott handelt hier und jetzt, das macht Lust zum Loben und Danken. Was m. E. musikalisch nicht geht, ist ein ruhiges (Andante-) Tempo (auf Viertel) mit geraden Achteln, womöglich mit einem dicken Orgel- oder Bläsersatz. Jochen Arnold
Mit dir, Maria, singen wir (EG.E 18)
Text: Melodie: Entstehung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Eugen Eckert (*1954) Jean-Claude Gianadda (*1944) T / M: 1992 Chercher avec toi, Marie (Chartres) Mariä Verkündigung (25.3.)
Ein evangelischer Pastor schreibt ein Marienlied, das nicht nur in Kirchentagsgruppen, sondern auch in katholischen Gemeinden zum Hit wird und fast drei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen zu einer tragenden Melodie der Bewegung „Maria 2.0“ avanciert. Was für eine Wirkungsgeschichte!
Biographische Bemerkungen Seine Lieder sind weder von Gottesdiensten und Gemeindefesten noch von Kasualfeiern und Kirchentagen wegzudenken. Eugen Eckert hat in zahlreichen Neuen Geistlichen Liedern ebenso poetische wie spirituell tiefe Texte verfasst und sie mit eingängigen Melodien verbunden. „Bewahre uns, Gott“ oder „Ein neuer Himmel, eine neue Erde“ sind ebenso bekannt und beliebt wie „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“ oder „Halte deine Träume fest“. Lieder als Zusagen, als Glaubensdialog und Mutmacher. Geboren wurde Eugen Eckert 1954 in Frankfurt a. M. als Kind einer evangelischen Mutter und eines katholischen Vaters, die beide aus Ungarn stammten. Seine religiöse Sozialisation bis zu seiner Konfirmation erlebte er in der Evangelisch-Methodistischen Freikirche. Dieser ökumenische Horizont zeigt sich in seinem vielfältigen Werk. Als Pfarrer war er von Anfang an weit über Gemeindegrenzen hinaus engagiert: zum einen mit dem Schwerpunkt Sport und Kirche, z. B. als Stadionpfarrer bei Eintracht Frankfurt, zum anderen musikalisch, nicht nur als Autor, sondern auch durch Engagements in verschiedenen bundesweiten Arbeitskreisen. Seit 1975 hat er seine musikalische Heimat in der von ihm mitgegründeten Gruppe „Habakuk“, die vielen durch Kirchentagsveranstaltungen, u. a. mit Dorothee Sölle (1929–2003) und Luise Schottroff (1934–2015), und durch eigene Studioproduktionen bekannt ist.
Mit dir, Maria, singen wir (EG.E 18)
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Historische Verortungen Bereits 1980 wurde Eugen Eckert von dem katholischen Kirchenmusiker Winfried Heurich (*1940) zur ständigen Mitarbeit im Arbeitskreis „Kirchenmusik und Jugendseelsorge“ angeworben. Der dort vertretenen Gruppe herausragender Musiker fehlten immer wieder aktuelle Texte. Der Arbeitskreis hatte den Auftrag, neue Lieder für lebendige Gottesdienste zu sichten, zu schaffen und zu publizieren. Bis 1992 entstanden zunächst fünf Limburger Medienpakete aus vier Bausteinen: ein Liedheft, eine Arrangementmappe, Orgelsätze und ein Textbuch mit Anregungen für den Einsatz neuer Lieder im Gottesdienst. 1992 entschloss sich der Arbeitskreis, die bis dahin auf das Bistum beschränkte Arbeit bundesweit auszudehnen. Unter dem Titel „Vom Leben singen“ war eine Sammlung von Liedern entstanden, die dem Münchner Verleger Friedemann Strube in Frankfurt / M. vorgestellt wurde. 188 Lieder, viele mehrstimmig, manche auch mit einem Arrangement versehen, wurden für das gleichnamige Chor- und Bandbuch vorgesehen, das 1994 im Strube-Verlag erschien. Unter den Nummern 182.1 und 181.2 ist das Lied Mit dir, Maria, singen wir mit unterschiedlichen Chorsätzen von Roberto Confucio und Peter Reulein zum ersten Mal veröffentlicht worden. Als Vorlage für seinen deutschen Text diente Eugen Eckert das französische Original „Chercher avec toi, Marie“ aus Chartres. Winfried Heurich hatte das Lied in einer Sitzung des Arbeitskreises in handschriftlicher Aufzeichnung mit vier französischen Strophen vorgestellt. Der Name des Komponisten steht nicht auf dem Faksimile. Die Resonanz auf die Musik war groß und der katholische Arbeitskreis beauftragte den damaligen Studenten der evangelischen Theologie Eugen Eckert, auf der Grundlage dieser Vorlage ein Marienlied in deutscher Sprache zu schreiben.
Form, Inhalt und Melodie Mit dir, Maria, singen wir ist ein klassisches Strophenlied. Wesentliche dogmatische Aussagen über Maria – Gottesmutter und Erwählte – klingen zumindest an. Und doch hat das Lied einen neuen, einzigartigen Klang, der es grundlegend von traditionellen Marienliedern abhebt. Maria polarisiert. Mal wird sie als die liebevolle und entsagende Gottesmutter verehrt, mal dient sie als herausragende Heilige, an die sich Singende mit ihren Bitten wenden. Ihr berühmtester Text aber, das „Magnificat“ (Lk 1,39–56), steht diesem eher kontemplativen Bild klar entgegen. Maria tritt hier für die Ausgegrenzten ein, ermuntert Revolutionäre und singt sich selbst Mut zu. Eugen Eckert verbindet diese Marienbilder. Durchgehend wird sie im Liedtext direkt angesprochen. „Aber dann wird sie nicht wie in klassischen Marienliedern um Fürsprache bei Gott gebeten, sondern man singt gemeinsam mit ihr das Lied der
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Inken Christiansen
Hoffnung, das auf die befreiende Macht Gottes vertraut“, schreibt die katholische Journalistin Agathe Lukassek.1 Das Lied beginnt mit dem Kehrvers, der sich, an eine Litanei erinnernd, nach jeder Strophe wiederholt. Mit dir, Maria, singen wir – sofort sind Kontext und Anliegen gesetzt. Die Singenden in der 1. Person Plural sind eine Gemeinschaft, die sich nicht nur an Maria wendet, sondern sie in ihre Mitte nimmt. Bei aller Verehrung schafft dies eine Begegnung auf Augenhöhe. Im Folgenden wird deutlich, wodurch dieser Anspruch legitimiert ist: Der Liedtext überträgt die Haltung und den Glauben Marias in die Zeit der Singenden, also immer in die jeweilige Gegenwart. Wer mitsingt, bleibt nicht zuschauend, reminiszent oder verehrend, sondern eignet sich Marias Haltung der Hoffnung an. Hier mag auch Marias jüdische Herkunft anklingen, wenn in der Exodus-Tradition die Befreiung am Horizont aufscheint. Dass die Melodie des Liedes von Jean-Claude Giannada stammt, hatte der StrubeVerlag vor der Veröffentlichung des Chor- und Bandbuches recherchiert. Der 1944 geborene Franzose hat zahlreiche geistliche Lieder im Chanson-Stil komponiert und getextet. Das 1992 entstandene „Chercher avec toi, Marie“ wird auf die Tradition der Kathedrale von Chartres zurückgeführt. Nach wie vor gibt Giannada Konzerte und komponiert. Der Erfolg des Liedes im deutschsprachigen Raum zeigt die internationale und ökumenische Offenheit gegenüber neuen spirituellen Liedern, die Menschen in aller Welt verbinden können. Die für neue Sakrallieder typische Melodie gliedert sich in zwei je achttaktige Perioden für den Refrain und die Strophen. Beide Teile gliedern sich wiederum in zwei je viertaktige, rhythmisch nahezu identische Elemente. Während der mit einem Auftakt versehene Refrain eher melodiös gestaltet ist, prägt die Strophen, die durchaus solistisch gesungen werden können, ein deklamatorischer Charakter. Das entspricht der Textgestaltung. Die Strophen brauchen diesen intensiven Ton, der den Jubel vor dem Hintergrund von Tränen, Kreuz und Leid in Töne fasst, während der Refrain gleichbleibend die Zuversicht besingt. Das zeigt sich auch darin, dass der Refrain eher den unteren Bereich des Tonumfangs durchschreitet, während die Strophen im oberen Bereich agieren; sie schwingen buchstäblich höher. Die theologischen und in dieser Magnificat-Adaption auch politischen, ja prophetischen Aussagen kommen am Ende des Refrains mit dem tiefen Grundton immer wieder zur Ruhe. Besonders auffällig wird diese Dualität durch den Tonsprung vom Ende des Refrains in die Strophe: eine Dezime! Der für ein Gemeindelied anspruchsvolle Sprung dürfte im gebräuchlichen Liedgut singulär sein und ist eben auch eine musikalischtheologische Ansage. Interessant ist auch die harmonische Gestaltung von Refrain und Strophe. Die Melodie steht in einer Moll-Tonart. Während der Refrain nach einer Quintfallfortsetzung über vier Takte mit der Moll-Kadenz abschließt, führt die 1 Agathe Lukassek: „Mit dir, Maria, singen wir“ – das ökumenische Marienlied. Veröffentlicht unter: https://www.katholisch.de/artikel/17584-mit-dir-maria-singen-wir-das-oekumenische-marienlied (abgerufen am 20.08.2022).
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Strophe bewusst durch parallele Dur-Harmonien, ehe der klassische Moll-Schluss folgt. All diese Beobachtungen legen eine solistische Ausführung der Strophen nahe.2 Ob das originale D-Dur wegen der günstigen Singbarkeit für ein Gemeindelied gewählt wurde oder als Hommage an das „Magnificat D-Dur“ von Johann Sebastian Bach (BWV 243), bleibt offen. Im EG.E wie in einigen anderen Veröffentlichungen ist das Lied einen Ton tiefer gesetzt (a-Moll / C-Dur). Der französische Originaltext entspricht einem klassischen katholischen Marienlied. Maria wird hier als Jungfrau angesprochen, die von Gott begnadet und beschenkt die Menschen trösten und leiten kann. Im Unterschied dazu setzt Eugen Eckert in seinem Text neue Akzente, die, wie erwähnt, durch die Melodieführung und den Tonalitätswechsel zwischen Refrain und Strophen unterstützt werden. Hell strahlt dein Lied durch jede Nacht – so beginnt die 1. Strophe mit der MollTerz, zugleich dem oberen Dur-Grundton als höchstem Ton des Liedes, auf dem die Melodie zunächst nur im Wechsel mit dem Leitton verharrt. Die Sequenz verläuft über die Subdominante F und die Dominante G7 zu C-Dur. Dabei wird das lateinische Initium des Lobgesangs der Maria, Magnificat, direkt zitiert. In der 1. Strophe werden wie in der biblischen Vorlage Gottes Macht und Herrschaft gepriesen (vgl. Lk 1,49). Hell strahlt dein Lied durch jede Nacht – darin konkretisiert sich metaphorisch die im Refrain formulierte Hoffnung. Die Singenden nehmen, indem sie Marias Worte zitieren, ihre Perspektive ein. Dabei wechselt die Harmonik wieder zur Grundtonart a-Moll, die im Lied nicht für Trauer, sondern für die menschliche Sphäre steht, während der Dur-Klang dem Göttlichen vorbehalten bleibt. Maria singt das Magnificat als Jüdin und Eugen Eckert lässt sie diesen Glauben im Rückgriff auf den ersten Satz der Hebräischen Bibel (Gen 1,1) verkünden. Für die Theologin Marie Luise Gürtler wird dies dem Tenor des biblischen Magnificat gerecht. Sie schreibt: „In dem Loblied, das Lukas der jungen Mutter Maria in den Mund legt, bricht sich wilde Freude Bahn. Es ist ein emotionaler Gesang, und mit dem ist sie in ihrer religiösen Tradition nicht alleine. Maria borgt sich die Worte ihres Jubels bei all den Vorfahren, deren Lieder im Alten Testament erklingen – Hanna singt, Mose singt, Deborah, David … Die Lieder sind Antworten auf Gottes rettendes Eingreifen in ihrem Leben. Sie bejubeln, dass Gott das Leben eines Menschen oder eines ganzen Volkes für wichtig nimmt, dass er es auswählt, um es zu erhalten, und dass er Leben einsetzt, dass er unfruchtbaren Frauen ein Kind verheißt, dass er ver-rückte Dinge tut, Dinge, die eigentlich nicht möglich sind, jedenfalls nicht wahrscheinlich – und auf deren Eintreffen Menschen doch bauen.“3 Wenn Gott dies alles möglich macht, dann trägt die Hoffnung als unerschütterliches Fundament.
2 Wesentliche Teile dieses Absatzes wurden von Beate Besser verfasst. 3 Marie Luise Gürtler: Predigt über Lukas 1,46–55, 18.12.2014 in der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, veröffentlicht unter: https://www.predigtpreis.de/predigtdatenbank/ predigt/article/predigt-ueber-lukas-1-46-55.html (abgerufen am 20.08.2022).
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Antithetisch setzt die 2. Strophe, weiter als Anrede an Maria, diese Verheißung fort, indem sie die Tiefen in den Blick nimmt: Maria kennt das Leid der Menschen, doch sie verheißt, indem sie Gott besingt, dessen Überwindung (Lk 1,52–54). Maria wird in ihrer Menschlichkeit mit all ihren Abgründen angesprochen, doch sie ist im Wortsinne beseelt vom Vertrauen, sie glaubt nicht nur an den Sieg des Lebens, sondern weiß um ihn. Die 3. Strophe stellt in dieser Dialektik die Synthese dar: Maria zieht die Singenden aus der Tiefe zu sich. Dein Jubel steckt auch heute an – wieder in Dur-Tonalität wird Ostern in den Blick genommen. Verheißung und Vollendung werden zusammengebracht. Noch ist Maria schwanger, aber Jesu Wirken liegt bereits in der Luft, wird spürbar und auch für die Mitsingenden erfahrbar. So führt der Liedtext von der jüdischen Hoffnung auf Befreiung weiter in den christlichen Glauben an das österliche Geschehen. Maria ist hier die Gottesmutter – ihr Sohn wirkt Großes, auch heute, auch mitten im Leben. In der 4. Strophe schließt sich zunächst der Kreis, wenn der Beginn der 1. Strophe noch einmal aufgenommen wird. Jetzt aber geht es um einen Ausblick, um die Zukunftshoffnung auf den Kommenden, der satt und fröhlich macht: Die Lebensmelodie klingt weiter. Maria polarisiert – und sie verbindet. Eugen Eckerts Lied wurde beim Ökumenischen Kirchentag 2010 gesungen. Im neuen Gotteslob aus dem Jahr 2013 wurde es in mehrere Eigenteile der Bistümer aufgenommen, unter anderem in die von Hildesheim, Hamburg, Osnabrück, Fulda und Freiburg. Außerdem findet sich das Lied in neueren Ergänzungsbüchern zum Evangelischen Gesangbuch („Wo wir dich loben plus“ und „freiTöne“) sowie in weiteren evangelischen Liedsammlungen („Lieder zwischen Himmel und Erde“ und „Durch Hohes und Tiefes“). Gleichzeitig finden sich Gedanken des Liedtextes in den Visionen der Bewegung „Maria 2.0“ wieder. So formuliert deren Münsteraner Mitbegründerin Andrea Voß-Frick: In unserer Kirche, im Morgen, wird das Wort Jesu nicht nur verkündet, sondern auch gelebt. Wird der Mensch, jeder so, wie er ist, geliebt. Wird getanzt und gelacht und gefeiert. Wird das Brot geteilt und das Leid. Wird der Wein geteilt und die Freude. In dieser Kirche, im Morgen, siegen Mut und Liebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl über Angst und Machtgier, Ausgrenzung und Selbstmitleid.4
4 Andrea Voß-Frick: Unsere Vision von einer geschwisterlichen Kirche. Veröffentlicht unter: https://www.mariazweipunktnull.de (abgerufen am 22.08.2022).
Mit dir, Maria, singen wir (EG.E 18)
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So ließ sich vor dreißig Jahren mit Maria singen, so kann es heute klingen, auf Kirchen- und Katholikentagen, in evangelischen und katholischen Gottesdiensten. Das von Eugen Eckert gemeinte Wir grenzt nicht aus, sondern schließt alle ein, die die Lebensmelodie fortpflanzen wollen. Inken Christiansen
Ich sing dir mein Lied (EG.E 19)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Fritz Baltruweit (*1955) / Barbara Hustedt (*1964) aus Brasilien T / M: 1994 Cantai ao Senhor Kantate
Der Text Cantai ao Senhor ist ein in Brasilien mehr als beliebtes Lied, ein richtiger Schlager. Über ökumenische Kontakte verbreitete es sich international. Mindestens vier Übertragungen ins Deutsche sind bekannt, aber auch in weitere Sprachen (englisch, französisch, spanisch). In einigen Regionalteilen zum EG (z. B. Nordelbien Nr. 582) ist die Übertragung von Renate Schiller zu finden. Bei der Textversion von Baltruweit / Hustedt handelt es sich eher um eine Nachdichtung unter teilweiser Verwendung der Motive des portugiesischen Textes. Das Original umfasst ebenfalls fünf Strophen, orientiert sich in den ersten beiden aber an Ps 98,1: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“ und in der dritten an Ps 96,2a: „Singet dem Herrn und lobet seinen Namen.“ Mit der 4. und 5. Strophe wird das Lied zu einem trinitarischen Gesang: mit dem Lob der heiligen Geistkraft und dem finalen Anruf Jesu als Herr. 1. Cantai ao Senhor um cântico novo, cantai ao Senhor um cântico novo, cantai ao Senhor um cântico novo, cantai ao Senhor, cantai ao Senhor! 2. Porque ele fez, ele faz maravilhas, (3×) cantai ao Senhor, cantai ao Senhor! 3. Cantai ao Senhor, bendizei o seu nome, (3×) cantai ao Senhor, cantai ao Senhor! 4. É ele quem dá o Espírito Santo, (3×) cantai ao Senhor, cantai ao Senhor! 5. Jesus é o Senhor! Amém, aleluia! (3×) Cantai ao Senhor, cantai ao Senhor!
Ich sing dir mein Lied (EG.E 19)
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In der Fassung von Baltruweit / Hustedt wird hingegen eine individuelle Perspektive mit persönlicher Beziehung zu Gott eingenommen. Jede Strophe beginnt mit Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben und endet mit Dir sing ich mein Lied. Es geht um mein Lied, mein Leben, meine Gottesbeziehung, um das, was Gott mir gibt. So endet jede zweite Zeile mit hast du mir gegeben. Die musikalischen Motive aus den beiden Psalmen sind hier in jeder Strophe weiterentwickelt. Zu Beginn jeder zweiten Zeile einer Strophe sind individuelle Lebensumstände mit musikalischen Begriffen umschrieben. Dabei bilden die Töne, den Klang in Strophe 1 und 5 die Klammer. Am Anfang jeder dritten Zeile werden die Inhalte der von Gott in musikalischem Fluss geschenkten Lebensgrundlagen bezeichnet. Jede dieser Zeilen endet mit einer dazu passenden Akklamation Gottes, die allesamt mit einem nachgestellten des Lebens zu Gottesnamen werden: Str. 1: von Wachsen und Werden, von Himmel und Erde / du Quelle: Gott ruft ins Leben (Schöpfung). Str. 2: von deiner Geschichte, in die du uns mitnimmst / du Hüter: Gott handelt und bewahrt (individuelle und kollektive Geschichte). Str. 3: von Nähe, die heilmacht, wir können dich finden / du Wunder: Gott ist nah (heilvolle Lebensbegleitung). Str. 4: Du hältst uns zusammen trotz Streit und Verletzung / du Freundin: Gott hält in Konflikten (Frieden). Str. 5: von Zeichen der Hoffnung auf steinigen Wegen / du Zukunft: Gott führt in das Morgen über die diesseitige Zeit hinaus (Zukunft und Ewigkeit).
So werden die musikalischen Kategorien zu Bildern der Lebensbewegung. Der Duktus des Textes markiert eine individuelle Lebensreise von den Anfängen bis in die Ewigkeit, getragen und begleitet von Gott, dabei eingebunden in kollektive Zusammenhänge. So ist in den Mittelstrophen 2–4 das ich mit dem Kollektiv uns / wir verbunden.
Melodiefassungen Der Text ist im Dreivierteltakt in e-Moll Silbe gegen Ton ohne jede Punktierung vertont. Jede der ersten drei Zeilen einer Strophe beginnt mit einem absteigenden gebrochenen Akkord, in den Zeilen 1 und 3 von der Oberquinte der Tonika und in Zeile 2 als Septabgang der Dominante. Anschließend wird die Melodie nach einem Oktavsprung nach oben (in Zeile 2 Septime) in kleinen Intervallschritten (überwiegend Sekunden, nur eine Terz) zum Ende der Zeile geführt. Dadurch enthält jede Zeile in sich einen Gegensatz, der akkordische Schwung wird am Phrasenende aufgefangen und beruhigt. Die 4. Zeile bildet den Abgesang, der in ruhigen Sekundschritten zum Schluss- und Grundton führt. Diese eingängige Dreiviertelversion der Melodie hat die meiste Verbreitung gefunden, sie verhilft wie ein gemäßigter Walzer
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zu einem zuverlässigen Schwingen. Das Lied sollte bewegt, aber wegen der abfallenden Akkorde nicht zu schnell musiziert werden. Es existiert auch eine Sambafassung des Liedes: Pro Takt zwei punktierte Viertel und eines ohne Punktierung, also die Latin-Variante (in Achteln) 3+3+2. So erhält das Lied im Viervierteltakt einen unregelmäßigeren, dynamischeren Charakter. In einigen Publikationen sind beide Vertonungen als Alternativen nebeneinandergestellt. So kann die Lebensbewegung mal gleichmäßiger und mal rhythmisch pointierter besungen werden. Dennoch gibt es Auseinandersetzungen darüber, welche Fassung die „richtige“ sei. Fritz Baltruweit (*1955 Pastor und Liedermacher) musiziert dies Lied oft in Veranstaltungen mit brasilianischen Partner*innen aus der Ökumene gemeinsam. Wenn diese das Lied ohne Vorgaben angestimmt hätten, sei immer der Dreivierteltakt erklungen, berichtet er. Die Sambaversion sei dort wohl kaum verbreitet, sondern stelle eher einen europäischen Versuch dar, das Lied vermeintlich brasilianischer erklingen zu lassen.
Entstehung Baltruweit hat den Text zusammen mit Barbara Hustedt (*1964, Pastorin) verfasst. Sie war seit ihrer Studienzeit in Brasilien gut mit dem Portugiesischen vertraut und hatte in dortigen Gemeinden das Lied kennengelernt. Es wurde auswendig und unbegleitet, im Stehen, tanzend und mit eindrucksvoller Inbrunst gesungen – natürlich im Samba-Rhythmus. Also eine ganz andere Erfahrung als die spätere von Fritz Baltruweit. Das unmittelbare und intensive Gottvertrauen, das hier zum Ausdruck kam, beeindruckte die Studentin. Aufgrund seines Engagements im ÖRK seit der Vollversammlung in Vancouver 1983 bekam Fritz Baltruweit immer wieder Musikcassetten aus verschiedenen Ländern zugesandt. Damals hatte der Brasilianer Pablo Sosa die musikalische Leitung der international zusammengestellten Combo und arbeitete seitdem viel mit Baltruweit zusammen. Wahrscheinlich hat Sosa eine Aufnahme von Cantai ao Senhor an ihn weitergegeben, denn in die internationalen Liederhefte des ÖRK wurde es nicht aufgenommen. Jedenfalls sprach dieses Lied Baltruweit sofort an. Wenig später wurde er Studienleiter am Predigerseminar in Loccum, wo Hustedt als Vikarin an einem der Kurse teilnahm. Es stellte sich heraus, dass sie beide dieses Lied kannten und liebten. Im Rahmen einer Studienreise nach Griechenland entstand das vorliegende Gemeinschaftswerk der Nachdichtung des brasilianischen Liedes. Dabei stand für Autor und Autorin die Texttreue zum Original nicht im Vordergrund. Vielmehr sollte es in deutschen Kontexten unmittelbar berühren und so an die authentischen Erlebnisse in Brasilien anknüpfen. Ein zeit- und ortgemäßes Gottvertrauen für deutsche Verhältnisse sollte darin zum Ausdruck kommen und zu erfahren sein. Dies ist offenbar nachhaltig gelungen. Denn das Lied erfreut sich ungebrochener Beliebtheit, fehlt seit Leipzig 1997 in kaum einem Kirchentagsliederheft und wird bis heute in neu zusammengestellten Liedersammlungen immer weiter veröffentlicht.
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Veröffentlichung Zuerst abgedruckt wurde es in der Liederzeitung für den Kirchentag in Hamburg 1995. Damals verbreiteten sich solche für den Kirchentag publizierten, auf Kirchentagen gesammelten und von Kirchentagen mitgebrachten Lieder viral. Jedes Lied von einem Veranstaltungsliederzettel, das gefiel, wurde weiterkopiert und zu Hause in der Gemeinde gesungen.1 Ich sing dir mein Lied erschien als offizielles Verlagsprodukt erstmalig 1995, zunächst als MC / CD der Studiogruppe Baltruweit. Der gedruckte Text samt Noten wurde dann im 1996 erschienenen Liederbuch „Meine Lieder – Liederbuch“ veröffentlicht. Auch dazu gab es CD und MC. Dabei dürfte die Melodie Teilnehmer*innen des Weltgebetstages bereits bekannt gewesen sein. Denn eine von Renate Schiller besorgte deutsche Übertragung von Cantai ao Senhor erschien in den entsprechenden Materialien zum Weltgebetstag der Frauen 1988, dessen Liturgie aus Brasilien stammte. In die mehrsprachigen Liederbücher für den internationalen Gebrauch (Thuma Mina; Colours of Grace; Mit Herz und Mund) hingegen wurden neben Wiedergaben von Cantai ao Senhor in anderen Sprachen bis in die Gegenwart die texttreueren Übertragungen von Schiller und Dorival Ristoff / Dieter Trautwein aufgenommen. Insgesamt ist im deutschen Sprachraum jedoch Ich sing dir mein Lied die am meisten verbreitete Version von Cantai ao Senhor.
Verwendungen Der Text traf in den 1990er Jahren auf ein gewachsenes Bedürfnis nach alternativen, insbesondere weiblich konnotierten Gottesbildern. Dies gilt ebenso für zeitgemäße individuelle Formulierungen der Gottessehnsucht und des Gotteslobes. So fand das Lied seinen festen Platz in feministisch geprägten kirchlichen Veranstaltungen. Ein Beispiel für eine entsprechende liturgische Einbindung findet sich in „Gottesklang – Das kleine Liederbuch“. Es wurde vom Regionalbüro der württembergischen Kirche für den Stuttgarter Kirchentag 1999 zusammengestellt, mit der Tagungsmappe verschickt, konnte aber auch über den Buchhandel erworben werden. Hier ist das Lied in ein Friedensgebet am Mittag eingebunden, im Wechsel mit dem Gedicht von Dorothee Sölle über den Lobgesang der Maria „Meditation über Lukas 1“. Dabei ist der biblische Text Lk 1,46–54 in vier Abschnitten zitiert. Jedem folgt unter der Überschrift „Heute sagen wir das so“ eine befreiungstheologischaktualisierende Deutung.
1 Jan Janssen und seine Herkunftsfamilie betrieben dies ebenfalls intensiv und die Autorin hat davon sehr profitiert.
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Ich sing dir mein Lied eignet sich als Gloria-Lied für eine Vielzahl von Anlässen, besonders, wenn Musik eine wichtige Rolle spielt. Es als Antwortgesang auf zwei Gruppen – auch in verschiedenen Sprachen – aufzuteilen, ist gut möglich. Der Abgesang jeder Strophe kann dann gemeinsam musiziert werden. Dies ist im Methodistischen Gesangbuch ausgeführt, allerdings mit einer Textalternative.
Das Lied und der Wochenpsalm So erscheint die Zuordnung zum Sonntag Kantate nicht nur wegen der Verbindung zu dessen Wochenpsalm Ps 98 schlüssig. Im Psalm (V. 4–9) werden zahlreiche Musikinstrumente genannt: Harfen, Saiteninstrumente, Trompeten und Posaunen. Doch erst ihr Gebrauch von Menschen durch Singen, Rühmen, Loben und Jauchzen lässt sie Werkzeuge zu Gottes Lob sein. Das erklingt auch in der Schöpfung: Meer und Erdkreis musizieren durch Brausen, Ströme klatschen in die Hände – wie die Fröhlichkeit der Berge klingt, wird leider nicht näher beschrieben. Die musikalischen Textelemente von Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben beschreiben dagegen Elemente, die Singen und Klingen charakterisieren: Töne, Klang, Rhythmus, Schwung, Tonart, Takt, Höhen und Tiefen. All das ist Gottesgabe und kennzeichnet Musik und Gesang. Doch viele der gerühmten Begriffe bezeichnen auch andere Schwingungen des Lebens über die musikalischen hinaus. Die Anrede im Psalm 98 ist die der kollektiven Aufforderung „Singet“. Im Lied hingegen wird schon aktuell gesungen von der Stimme einer bzw. eines Einzelnen. Im Psalm sind die Wunder und das Heil Gottes als Fakten vorangestellt (V. 1–3) und so als Grund für den Lobgesang markiert. Im Lied hingegen ist die liebende Begleitung Gottes in den Wechselfällen des Lebens als Gabe an das Individuum besungen und in jede Strophe eingewoben. Geglaubte und ersehnte Hoffnung nährt sich von Gesang. Manche Zuversicht kann nur im Lied erklingen – ist also Zukunftsmusik der Wunder Gottes. Ich sing dir mein Lied besingt diese Wunder aktuell im Vollzug und im Vorgriff auf die Zukunft. Die in diesem Gesang gepriesenen musikalischen Bilder doppeln in diesem Moment die Hoffnungstöne als gegenwärtige und eschatologische Klänge. So fließen beide Zeiten ineinander, wenn Ich sing dir mein Lied erklingt. Gudrun Mawick
Rechtfertigung und Zuversicht
Wir haben Gottes Spuren festgestellt (EG.E 20)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Diethard Zils (*1935) Jo Akepsimas (*1940) T: 1981 M: 1970 Nous avons vu les pas de notre Dieu (1973) T: Michel Scouarnec (*1934) 12. Sonntag nach Trinitatis
Biographische Anmerkungen Es gibt Begegnungen, die sich bleibend in die Erinnerung eingraben. So ergeht es mir mit meiner einzigen Begegnung mit Diethard Zils Ende der 1980er Jahre, als ich ihm als Assistent der Praktischen Theologie in Bornheim-Walberberg zusammen mit Henning Schröer auf einem Workshop Lebendige Liturgie begegnete. Zils erzählte, dass sein Lied über die Spuren Gottes, das schon damals in aller Munde war, leicht missverständlich sei und dass er sich leider vom tvd-Verlag dazu habe überreden lassen, aus der Frage des französischen Originals eine deutsche Antwort zu machen, die auch noch zu marschmäßig und zu wenig griechisch-tänzerisch gesungen werde. Diethard Zils gehört zu den prägenden Gestalten der von der Befreiungstheologie geprägten kirchenreformerischen Bewegung des deutschen Katholizismus, der Glauben im weltweiten Horizont, aber auch in der gelebten Ökumene vor Ort versteht. Zils wird 1935 in Bottrop geboren und hat zeitlebens eine enge Verbindung zum Ruhrgebiet mit seiner für das 20. Jahrhundert exemplarischen Geschichte. Seine Grundschuljahre verbringt er in Bottrop und als evakuiertes Kind in Doberlug (Niederlausitz). Nach dem 2. Weltkrieg besucht er das Gymnasium in Bottrop und Mönchengladbach. 1955 tritt er in Warburg in den dort seit über 700 Jahren mit Unterbrechungen ansässigen Dominikanerorden ein, dessen Kloster 1993 aufgegeben wird und seit 1996 das syrisch-orthodoxe Kloster St. Jakob in Sarug mit dem Sitz des Erzbischofs von Deutschland beherbergt. 1956–1963 studiert er Philosophie und Theologie und lebt im Dominikanerkloster Walberberg, das 2007 aufgegeben wird. 1962 empfängt er die Priesterweihe. 1965 geht er nach Düsseldorf, wo er 15 Jahre lang als „Referent für Liturgie und Ministranten in der Bischöflichen Hauptstelle für Jugendseelsorge“1 1 Bernhard Schmid: Zils, Diethard, in: Wolfgang Herbst (Hg.): Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs (Handbuch zum EG 2), Göttingen 1999, 357.
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Harald Schroeter-Wittke
sowie als Geistlicher Leiter der Katholischen Studierenden Jugend (KSJ) wirkt. Hier lernt er Uwe Seidel (1937–2007)2 kennen, mit dem er über 40 Jahre hinweg gemeinsame geistliche und liturgische Projekte gestaltet, von Aktionsgottesdiensten über Politische Nachtgebete bis zu Friedensgebeten und Psalmenübertragungen.3 Zils versteht seine liturgischen und hymnologischen Projekte im Gefolge des 2. Vaticanum und wehrt sich vehement gegen konservative Kritiken und Tendenzen.4 1980 wechselt er in seine Geburtsstadt Bottrop, wo Pater Markus Steindl ein Dominikanerkloster in der Tradition der Arbeiterpriester gegründet hatte. Dort bleibt Zils weiterhin Geistlicher Leiter der KSJ und arbeitet in der Friedensbewegung mit, u. a. in der „Initiative Ordensleute für den Frieden“ im Bistum Essen. 1988–1992 ist er für die Erwachsenenbildungsarbeit in Walberberg zuständig, wo ich ihm begegnet bin. 1992–1998 wirkt Zils in Rom als Assistent des Ordensmeisters für Mittel- und Osteuropa. Mit dem Balkan, insbesondere mit Kroatien, ist er tief verbunden. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Mainz arbeitet er in der katholischen Diaspora in Bosnien-Herzegowina in Zenica / Klopče und Sarajevo in der Theologenausbildung. 2001–2008 ist er in Brüssel Mitglied der Internationalen Kommunität der Dominikaner und pastoraler Mitarbeiter in einer flämischen Gemeinde bei Brüssel. Seitdem lebt er in Mainz und arbeitet in der Kroatischen katholischen Gemeinde sowie in der Gemeinschaft katholischer Männer und Frauen (KMF) mit. Eine Dimension des Zilsschen Lebenswerkes lässt sich mit dem Begriff der Übertragung beschreiben, bei dem es ihm um die gegenseitige Übertragung von Gott und Mensch in dieser Welt geht, die weiter geht als Übersetzung, indem sie die jeweils aktuelle Zeit als konstitutive Größe mitdenkt und ihr Sprache schenkt. Das wird z. B. deutlich an seiner Übertragung des Markusevangeliums in dem Wissen, „daß eine Übertragung der Bibel schwer und auch gefährlich ist“5. Auch hat Zils unzählige Lieder aus fremden Sprachen und Ländern übertragen. Eines davon ist 1981 das französische Lied Nous avons vu les pas de notre Dieu, dessen Text von Michel Scouarnec und dessen Melodie von Jo Akepsimas stammt. Michel Scouarnec wurde 1934 geboren. Er ist Priester der katholischen Diözese Quimper (Finistère) in der Bretagne und war Liturgieprofessor und Direktor des dortigen Diözesanradios. Zugleich ist er als Schriftsteller und Komponist tätig und
2 Vgl. Margret Blarr / Hans-Jürgen Netz (Hg.): Uwe Seidel, Düsseldorf 2007. 3 Vgl. Uwe Seidel / Diethard Zils (Hg.): Aktion Gottesdienst, 2 Bände, Wuppertal / Düsseldorf 1970; Dies. (Hg.): Aktion Politisches Nachtgebet, Wuppertal / Düsseldorf 1971; Dies. (Hg.): Psalmen der Hoffnung, Gladbeck 1973; Dies. (Hg.): Gebete zum Frieden, Wuppertal 1982; Dies. (Hg.): Das Brot ist der Himmel, Düsseldorf / Neukirchen-Vluyn 1985; Dies. mit Bildern von HAP Grieshaber: Das kleine Buch vom Kreuzweg der Versöhnung, Düsseldorf 2011. 4 Vgl. Diethard Zils: Trotz und Träume. Zwischen Politik und Liturgie, hg. von Frano Prcela (Dominikanische Quellen und Zeugnisse 19), Leipzig 2015, 100–104. 5 Heinz-Günter Beutler / Uwe Seidel / Stefan Vesper / Diethard Zils: Ökumenische Jugendbibel. Die vier Evangelien, Düsseldorf / Offenbach 1987, 5.
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publizierte mehrere auch für Laien verständliche liturgiedidaktische Bücher zur Liturgiereform des 2. Vatikanum und deren Chancen.6 Jo Akepsimas wurde 1940 in Athen geboren und lebt seit 1958 in Frankreich. Nach seinem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Musik promoviert er über Platon. Seine Musik ist stilistisch geprägt durch ein überzeugendes Crossover von Choral, Jazz, Blues, Chanson, Folklore und klassischer Moderne. Akepsimas ist mit vielen Melodien zu Neuen Geistlichen Liedern in frankophonen Kirchengesangbüchern vertreten. Zahlreiche kirchenmusikalische Werke, darunter mehrere Messen hat er komponiert und eingespielt7 sowie mehrere hundert katechetische Lieder und Kinderlieder.
Historische Verortung Das französische Chanson Nous avons vu les pas de notre Dieu entsteht 1973 in der Zusammenarbeit von Jo Akepsimas und Michel Scouarnec und stellt eine Frucht der Bemühungen um eine zeitgenössische Liturgie und Botschaft des Christentums in Fühlungnahme mit der Popkultur dar. Dabei stammt die Melodie von 1970 und hat vor dem Text vorgelegen. Zils überträgt dieses Lied während seiner Bottroper Zeit 1981 ins Deutsche. Es fällt im Protestantismus bei den Bemühungen um Lebendige Liturgie auf fruchtbaren Boden und verbreitet sich äußerst schnell. 1982 wird es in dem weit verbreiteten „Mein Liederbuch für heute und morgen“ (B 80) abgedruckt und ist schon 1984 im rheinischen EKG-Beiheft (Nr. 719) zu finden, von wo aus es auch die Kirchentagsgemeinde begeistert. Im Kirchentagsliederheft „111 Lieder“ 1991 erscheint es (Nr. 109) leicht verändert mit Wiederholung des Refrains. Bis heute gehört es zu den bekanntesten Neuen Geistlichen Liedern im evangelischen Raum.
Zum Text Sowohl der Text als auch die Melodie sind durch die Übertragung deutlich verändert worden. Aus dem Original mit sechs Strophen wird eine Übertragung mit drei Strophen, die einerseits verdichtet, andererseits damit auf viele biblische Anspielungen verzichtet. In den deutschen Liedfassungen fehlt schließlich durchweg Akepsimas’ Interlude. Zils’ dreistrophige Liedübertragung geht sehr frei mit dem sechsstrophigen französischen Original um, dessen 1. Strophe im EG-West mit abgedruckt ist: 6 Vgl. Michel Scouarnec: Vivre, Croire, Célébrer, Paris 1995; Ders.: Redécouvrir la messe, Paris 2007. 7 Vgl. z. B. Jo Akepsimas: Cantate Domino. Motets et Messes. CD, ADF-Bayard Musique 2021.
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1.
Nous avons vu les pas de notre Dieu croiser les pas des hommes, Nous avons vu brûler comme un grand feu pour la joie de tous les pauvres; Refr.: Reviendrat-il marcher sur nos chemins, changer nos coeurs de pierre? Reviendrat-il semer au creux de mains, l’amour et la lumière? (Wir haben die Schritte Gottes die Schritte der Menschen kreuzen sehen. Wir haben es wie ein großes Feuer zur Freude aller Armen brennen sehen: Wird er wiederkommen, auf unseren Wegen zu gehen, unsere Herzen aus Stein zu verwandeln? Wird er wiederkommen, [uns] in die geöffneten Hände die Liebe und das Licht zu säen?)
Scouarnecs Eröffnung aller Strophen mit Nous avons vu ist sprachlich ganz eng an das Johannesevangelium angelehnt mit seiner Aufforderung: „Kommt und seht!“8 Scouarnec verweist in seinem Liedkommentar explizit auf 1. Joh 1,1–3.9 Bei Zils wird aus dem Sehen ein Feststellen, das im deutschsprachigen Kontext mehrdeutig und dadurch nicht ganz unproblematisch ist. Der johanneische Kontext des Sehens findet bei Zils allerdings im Refrain seine Sprache. Zeichen und Wunder klingen johanneisch, insofern dort Wunder als Zeichen, als semeia, verstanden werden. Die Refrain-Frage nach dem Wiederkommen Gottes, der Parusie Christi, stellt die Zeichen und Wunder in einen eschatologischen Horizont, der schon zum Greifen nahe ist, „comme une évocation des grands signes de salut et de libération posés par le Christ dans l’évangile“ (zit. n. Völker, 229), wie Scouarnec seinen Text kommentiert: wie ein Herbeirufen der großen Zeichen des Heils und der Befreiung, die durch Christus im Evangelium niedergelegt sind.10 Das französische Original bietet drei Varianten zu dem ersten Wort des Refrains „Reviendrat-il“: „a) Il est venu, b) Il reviendra, c) Reviens, Seigneur“. Sie umspielen die glaubende Hoffnung und geben den Singenden die Möglichkeit, selbstständig und flexibel jeweils zu entscheiden, ob sie den Schritten Gottes mit einer Frage, einer Aussage, einem Bekenntnis oder einer Bitte Glauben schenken. Zils’ Refrain macht aus der Frage eine Antwort. Mit dem im Original nicht begegnenden Begriff der Spuren nimmt die deutsche Übertragung allerdings einen zentralen Begriff der Postmoderne-Diskussion auf, wonach die Spur „eine vom Denken nicht einholbare Andersheit“11 darstellt. Spuren verweisen nach Derrida auf andere Spuren, sie sind Leerstellen für die „Evokation des Heils“12, wofür die hoffende Frage glaubwürdiger erscheint als die Feststellung. In seinem Gespräch mit mir schlug Zils eine Variante für den Abgesang seines Refrains vor, die ich für sehr angemessen halte: „Wird Gott auch unsre Wege gehn, / uns durch das Leben tragen?“13 8 Martina Kumlehn: Johannesevangelium; in: Bernhard Dressler / Harald Schroeter-Wittke (Hg.): Religionspädagogischer Kommentar zur Bibel. EVA Leipzig 2012, 470–489, hier: 473. 9 Jo Akepsimas / Michel Scouarnec: Nous avons vu; in: Dies.: Des mots et des notes pour célébrer – Sonate à deux voix, Paris 1982, 13–25, hier: 15. 10 Zit. nach Alexander Völker: Evokation des Heils. Bemerkungen zu einem zeitgenössischen Lied; in: Musik und Kirche 64 (1994), 226–230, hier: 228. 11 Anne Reichold: Art. Spur; in: Metzler Lexikon Philosophie, Stuttgart / Weimar 21999, 567. 12 Völker, Evokation, 226. 13 Diese Variante ist abgedruckt in: Das Liederbuch. Lieder zwischen Himmel und Erde, Düsseldorf 152020, Nr. 230. Insofern hat sich der tvd-Verlag hier deutlich revidiert.
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Die weiteren Strophen des französischen Originals lauten: 2. Nous avons vu fleurir dans nos déserts les fleurs de la tendresse, Nous avons vu briller sur l’univers l’aube d’une paix nouvelle: (Wir haben Blumen der Zärtlichkeit in unseren Wüsten blühen sehen. Wir haben die Morgenröte eines neuen Friedens für das Universum aufscheinen sehen:) 3. Nous avons vu danser les malheureux comme au jour de la fête, Nous avons vu renaître au fond des yeux l’espérance déjà morte: (Wir haben die Unglücklichen wie an einem Festtag tanzen sehen. Wir haben tief in den Augen die schon erstorbene Hoffnung wiederaufleben sehen:) 4. Nous avons vu le riche s’en aller le cœur et les mains vides, Nous avons vu le pauvre se lever le regard plein de lumière: (Wir haben den Reichen weggehen sehen, das Herz und die Hände leer, Wir haben den Armen sich aufrichten sehen mit leuchtendem Blick:) 5. Nous avons vu se rassasier de pain les affamés du monde, Nous avons vu entrer pour le festin les mendiants de notre terre: (Wir haben die Hungrigen der Welt sich mit Brot sättigen sehen. Wir haben die Bettler unserer Erde zum Festmahl eintreten sehen:) 6. Nous avons vu s’ouvrir les bras de Dieu devant le fils prodigue, Nous avons vu jaillir du cœur de Dieu la fontaine de la vie: (Wir haben die Arme Gottes sich für den verlorenen Sohn öffnen sehen. Wir haben aus dem Herzen Gottes die Quelle des Lebens hervorsprudeln sehen:)
Zils’ Übertragung orientiert sich in Strophe 2 am französischen Original und fasst die weiteren Strophen in einer Schlussstrophe zusammen. „Bei diesem Verfahren geht zwar manches vom Spiel biblischer Bilder verloren, doch gewinnt die Übertragung mit Hilfe dieser Konzentration an Geschlossenheit und Aussagekraft.“14 So bleiben einerseits die verwandelten Herzen aus Stein (Ez 11,29; 2. Kor 3,3), die Anspielungen auf die Seligpreisungen und das Magnificat in den Strophen 4 und 5 sowie der verlorene Sohn aus Lukas 15 auf der Strecke. Andererseits klingen viele zentrale biblische Bilder bei Zils verdichtet an: der blühende Baum aus Psalm 1, das Exodusgeschehen mit der Morgenröte in Exodus 14,24, Wunder- und Zeichengeschichten Jesu bis hin zu den toten Fensterhöhlen, die die Auferweckung des Lazarus in Johannes 11 anspielen, Ostern als eine Erfahrung wider den Tod erstrahlen lassen und eine Befreiungsgeschichte erzählen, die unsere Nacht durchbricht. All dies glaubt und singt Zils’ Übertragung wider den Augenschein und zugleich erfahrungsgewiss aus unserer Welt heraus. Der Titel seiner autobiographischen Sammlung von Gedichten, Geschichten und Überlegungen „Trotz und Träume. Zwischen Politik und Liturgie“ gibt diese Spannung als den Grundton auch dieses Liedes an.
14 Völker, Evokation, 228.
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Zur Melodie Akepsimas bezeichnet seine Melodie als elementar, „dans un style folklorique grec“15, „un rhythme de sirtaki“16, dessen Atmosphäre mit Akepsimas’ Kinderlied „Vassilis, l’enfant grec“17 vergleichbar ist. Der Syrtaki ist eine Erfindung des Films Alexis S orbas (1964) und gilt mit seiner tanzenden Zuversicht und seinem Sich-nicht-unterkriegenLassen als typisch griechisch. Strophen und Refrain werden beide durch eine stark aufwärtsstrebende Figur eröffnet. In dieser Aufforderung erklingt beides: das Erfahrene und Erlittene in den Strophen, die in d-Moll geschrieben sind, sowie die hoffende und bisweilen strahlende Zuversicht im Refrain in F-Dur, der die Melodie der Strophen mit Ausnahme der letzten Zeile schlicht in Dur wiederholt. Akepsimas’ Originalmelodie enthält allerdings ein instrumentales „Interlude“:
Das „Interlude gestattet wie ein musikalisch gestaltetes Atemzeichen den Sängerinnen und Sängern Atem und Freiheit für die jeweils nächste, bildbefrachtete Textstrophe. Es ist bedenklich, wenn sämtliche deutschen Versionen dieses nur vier Takte umfassende Interludium – und damit die für jede neu zu wagende Glaubensaussage notwendige ‚schöpferische Pause‘ – überspringen.“18 Das Interlude sollte ebenso wie die Variante der als Frage formulierten letzten Zeile des Refrains zukünftig mit dem Lied zusammen abgedruckt werden. Es würde durch solches Luftholen an evangelischer Weite gewinnen und so leicht schal werdende Selbstgewissheiten hinter sich lassen, die die Welt letztlich nicht zu gewinnen vermögen. Nach meinem Gespräch mit Diethard Zils vor mehr als 30 Jahren scheint mir dies im Sinne des Autors zu sein.
Zur liturgischen Situation Der 12. Sonntag nach Trinitatis liegt am Ende der sommerlichen Reisezeit und kann gemeinsam mit unserem europäischen Wochenlied aus Er-Fahrungen schöpfen, die zum Staunen anregen über Zeichen und Wunder, die in den Predigttexten vielfältig begegnen: Die Hefata-Geschichte Markus 7,31–37 ist das Evangelium dieses Sonntags, die wunderbare Berufung des Paulus Apostelgeschichte 9,1–20 die Epistellesung und Jesaja 29,17–24 mit seinen Verheißungen, dass Taube hören, Blinde sehen und die Ärmsten fröhlich sein werden, die alttestamentliche Lesung, die allesamt reich 15 Zit. nach Völker, Evokation, 230. 16 Akepsimas / Scouarnec, Nous, 20. 17 Jo Akepsimas / Mannick (Marie-Annick Rétif ): Cigales. CD, Arc en Ciel 2003, No. 2. 18 Völker, Evokation, 229.
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lich anklingen in unserem Lied. Auch die Heilung der verkrümmten Frau am Sabbat Lukas 13,10–17 sowie die Heilung des Gelähmten durch Petrus und Johannes Apostelgeschichte 3,1–10(11–12) bieten Resonanzräume. Lediglich 1. Korinther 3,9–15 ist ziemlich abständig zu unserem Lied, das eine indirekte Christologie ver- und betont. Hingegen passt der Aufforderungscharakter der Melodie zur Zuversicht des Wochenspruchs Jesaja 42,6: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Harald Schroeter-Wittke
Angst und Vertrauen
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Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Vorlage: Liturgische Einordnung:
Jürgen Henkys (1929–2015) Trond Hans Farner Kverno (*1945) T: 1990 M: 1968 Röst genom sten och järn (1971) T: Anders Frostenson (1906–2006) 4. Sonntag vor der Passionszeit
Ein Lied, das die Hoffnung besingt und doch nicht jubelt Als der Nebel immer tiefer in den Fjord zog und die Berge rechts und links immer näher zu rücken schienen, wuchs nicht nur die Dichte der Nebelschwaden an, sondern auch mein Gefühl von Verlorenheit und Einsamkeit auf dieser Welt. Die Sonne hatte meinen Mut und meine gute Laune plötzlich mit hinter die Wolken genommen. Klamme Stimmung zog durch die Luft und auf die Seele. Es war, als ob ein Casting für nordische Fabelwesen anstehen würde, und faszinierend schaurig spielten Naturgewalt und Finsternis ein Schauspiel vor meinen Augen. Es war ein seltsames Gefühl, das durch den Wechsel zwischen finsterem Nebel und immer wieder aufblitzender Sonne Beklemmung und gleichzeitig hoffnungsvolle Ruhe ausstrahlte. Für gewöhnlich streift mich diese Stimmung zwei- bis dreimal im Jahr und ich nenne sie mittlerweile liebevoll „meine norwegische Traurigkeit“, obwohl ich glaube, ich treffe damit immer noch nicht den Kern. Denn es liegt einfach zu viel Achtsamkeit und Hoffnung in diesen Momenten, als dass es eine Art depressive Verstimmung oder Trauer wäre. Einige Tage später im Gottesdienst in Oslo lernte ich das Lied „Röst genom sten och järn“ von Trond Kverno (*1945) und Anders Frostenson (1906–2006) kennen. Und wie es manchmal so ist, trafen Melodie und Text, der sich im Schwedischen bzw. Norwegischen nur in wenigen Nuancen von der deutschen Übersetzung von Jürgen Henkys unterscheidet, genau den richtigen Punkt in mir. Ein Lied, das die Hoffnung besingt und doch nicht jubelt. Eine Melodie, die sich wie Nebel bewegt und doch die Sonne durchblitzen lässt. Ein Glaube, der von Gottes Nähe singt, auch wenn man sie gerade nicht spürt.
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„Musik leuchtet durch eine andere Wirklichkeit“ – Trond Kverno „Kraftvoll, herzlich und erhaben, aber gleichzeitig demütig“1 – so beschreibt das Norsk Musikkinformasjon den Komponisten Trond Kverno, was sich auch in der Melodie des Liedes widerspiegelt. Geboren im Oktober 1945 in Oslo zählt Trond Hans Farner Kverno zu den bekanntesten Kirchenmusikern seines Landes. Seine melodische Schaffenskraft hat ihm eine besondere Stellung unter den norwegischen Komponisten verschafft. Sowohl in liturgischen als auch eher konzertbezogenen Kontexten spielt er heute eine zentrale Rolle in der norwegischen Kirchenmusik.2 Wichtige Stationen seines beruflichen Werdegangs führten ihn über das Osloer Musikkonservatorium, die norwegische Musikakademie hin zu seinen zwei Professuren für Kirchenmusik, Musiktheorie und Komposition. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Improvisation, Liturgie und Hymnologie. Als Mitglied in vielen Kommissionen prägt Kverno bis heute die Gestaltung der aktuellen Liturgie der norwegischen Kirche und gilt als Wegbereiter des Norsk Salmebok von 19853. Hier ist er mit 23 Liedern vertreten, darüber hinaus sind seine Melodien auch in diversen nordeuropäischen Gesangbüchern zu finden. 2021 wurde Kverno für seine kirchenmusikalischen Verdienste zum Ritter 1. Klasse des St. Olav-Ordens ernannt. Kirchenklänge, gregorianische Gesänge, norwegische Volksweisen, englischer Kathedralstil und armenische und orthodoxe Chöre bilden in Kvernos Musik eine organische Synthese. Für Trond Kverno „ist es die Aufgabe der Kirchenkunst, den Menschen eine andere Realität zu zeigen als harte Fakten. Sie hat damit den Charakter einer Ikone – und leuchtet durch diese andere Wirklichkeit sowohl in die Liturgie als auch in den Alltag hinein. Der wesentliche Punkt ist, dass die Musik uns hört und uns vor dem Thron Gottes interpretiert, nicht dass wir die Musik hören. Dies ist die Grundannahme, auf der meine Arbeit basiert.“4
„Gott ist derjenige, der die Tiefen öffnet und zwischen den Sternen wandelt“ – Anders Frostenson Was Kverno für die norwegische Liturgie und Kirchenmusik ist, war Anders Frostenson als Liederdichter für Schweden. Durch seine reiche Anzahl an Liedtexten wird der im April 1906 geborene Pfarrer in Norwegen auch immer mal wieder als eine 1 Biografi i Norsk Musikkinformasjon, 1994, in: Norsk Biografisk Leksikon, Trond Kverno, https:// nbl.snl.no/Trond_Kverno. 2 Trond Kverno i Store Norske Leksikon på net, sett 18. Juni 2016, snl.no/Trond_Kverno (abgerufen am 7.9.2022). 3 Norsk salmebok, Oslo 1985. 4 Aus dem Vorwort zu Trond Kverno: Triptychon II. Tre ikoner fra ‚Draumkvedet‘ for orgel, 1989.
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Art schwedischer Paul Gerhardt bezeichnet. Das Markenzeichen seiner poetischen Texte war das Bemühen, die Texte zu vereinfachen und aus theologischer Sicht besser singbare Lieder zu schaffen. Eine seiner Eigenschaften war, dass er die Texte im Zusammenspiel mit seinen eigenen Bewegungen schreiben und so die der Melodie innewohnende Bewegung und Energie vermitteln wollte. Es war wohl äußerst selten, dass er ein Lied dichtete, während er an einem Schreibtisch saß. Frostenson studierte Sprachen, Literatur und Theologie an der Universität Lund und promovierte anschließend 1928 in Englisch und slawischen Sprachen. Nach Ordination und ersten Amtsjahren trat er seinen Dienst in der Gemeinde Lovö an, wo er bis zu seiner Pensionierung 1971 blieb. 1977 gründete er die Anders-Frostenson-Stiftung mit dem Ziel, „das Werk der Erneuerung mit Hymnen und Versen zu fördern“5. 1981 wurde er zum Ehrendoktor der Theologie an der Universität Lund ernannt. Frostenson war sowohl 1937 als auch 1986 an der Gesangbucharbeit für die Gesangbücher der schwedischen Kirche tätig. Er gilt inhaltlich und formal als maßgeblicher Erneuerer des schwedischen Gesangs, insbesondere durch seine Beiträge zum Kindergesangbuch „Kyrkovisor“6. Der Aufruhr über seine Hymnen für das schwedische Gesangbuch von 19377 veranlasste ihn, sich für über zehn Jahre aus der Schreibarena zurückzuziehen.8 Durch das Gesangbuch des Ökumenischen Rates der Kirchen9, für das Frostenson sechs der acht schwedischen Kirchenlieder geschrieben hatte, inspirierte er Lieddichter auf der ganzen Welt. Im Gesangbuch der Schwedischen Kirche von 198610 ist er mit insgesamt 146 Originaltexten, Übersetzungen und Bearbeitungen vertreten. Frostensons Theologie zeichnet ein gebrochener Glaube an die Zukunft aus, der zum Lobpreis wird: Gott ist Schöpfer, ist Stimme und Quelle schöpferischen Handelns. Die Nähe Gottes im Wort gibt den eigenen Worten ihren Sinn. Unsere Welt ist Gottes Welt. Im Wort ist alles miteinander verbunden. Es ist der Platz des Menschen im Ganzen, der in Frostensons Art zu schreiben verwirklicht wird. Jede Kirche, jede Konfession hat ihre besondere Gabe von Gott, um zu dieser Ganzheit beizutragen. Die ökologischen Muster und das globale Bewusstsein sind in der Schöpfung verankert: „Gott ist derjenige, der die Tiefen öffnet und zwischen den Sternen wan-
5 Alva Ekström: Inget är skapat utanför. Teologi och kontext i Anders Frostensons författarskap, Karlstadt University Studies 2006, 16.18. 6 Ebd, 149. 7 Samlebøker fra Svenska Kyrkans, 1937. 8 Anne Kristin Aasmundtveit: Biografisk leksikon til Norsk Salmebok og Norsk Koralbok, Oslo 1995, 153. 9 Cantate Domino. Ein ökumenisches Gesangbuch (mehrsprachig, überwiegend englisch und französisch), Neue Ausgabe, veröffentlicht im Auftrag des Ökumenischen Rates der Kirchen, Kassel, Basel, Tours und London, 1974. 10 Samlebøker fra Svenska Kyrkans, 1986.
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delt.“11 Gottes Stimme ruft immer noch Menschen. Heimat finden bedeutet, auf den Ruf zu hören und die Antwort im Gehorsam zu formulieren. Anders Frostenson verstarb 2006 mit 99 Jahren – seine Beisetzung hatte in Schweden die Größe und das Renommee eines Staatsbegräbnisses. Die schwedische Originalfassung seines Liedes lautet:12 1. röst genom sten och järn mörkret den till mej bär vet inte vems den är: var inte rädd jag är har 2. fanns före natt och dag, frågor och rop och svar rösten som allting bär: var inte rädd jag är här 3. finns kring mej var jag går närmast när allt är svårt finns ingen ängslan kvar rösten är din: det är jag 4. när det blir tomt igen delar vi tomheten, ser ej och hör – ändå är jag ej rädd: du är här0
„Stimme, die Stein zerbricht“ – Jürgen Henkys Der deutsche Pfarrer und Dichter Jürgen Henkys ist nahezu eine logische lyrische Fortsetzung der Komposition und Dichtung des Liedes „Röst genom sten och järn“. Durch ihn wird es zu der Stimme, die Stein zerbricht. Mit hoher Kunst übersetzt er den Klang und die Theologie von Frostensons Dichtung. Nicht ohne Grund zählen Henkys’ Liederübersetzungen zu den beliebtesten im Evangelischen Gesangbuch. Der Sohn einer ostpreußischen Pfarrfamilie wuchs an der Bernsteinküste im Samland auf, studierte in Wuppertal, Göttingen, Heidelberg und Bonn und legte 1953 das Erste Kirchliche Examen in Düsseldorf ab.13 Dann wagte er einen besonderen Schritt
11 Ekström, 257. 12 Zit. n. Psalmer och visor. Tillägg till. Den svenska psalmboken, Stockholm 1975, Nr. 729. 13 Dietrich Schuberth: Henkys, Jürgen; in: Wolfgang Herbst (Hg.): Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs. Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch 2, Göttingen 1999, 140–142.
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und siedelte 1954 in die DDR über, um seine Kirche zu unterstützen. Es folgten die ersten Gemeindejahre, das Zweite Kirchliche Examen, Tätigkeiten als Hochschullehrer und Promotion. Er galt schnell als beliebter Dozent am Predigerseminar in Brandenburg sowie am Ostberliner Sprachenkonvikt und später als Professor der Humboldt-Universität. Als im August 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde, weilte Henkys gerade in Schweden. Dennoch entschied er sich für eine Rückkehr in die DDR, was für den Theologen bis zur Wiedervereinigung nie konfliktfrei blieb.14 Schwerpunkte seiner Arbeit bildeten die Katechetik, die Liturgik, die Homiletik, aber allem voran die Hymnologie. Schnell wurde Henkys national und international durch seine eigene Produktion von Liedtexten und seine hymnologische Forschung bekannt. Er war Mitverfasser, Herausgeber und Mitherausgeber zahlreicher Veröffentlichungen wie z. B. der Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Etwa 175 Liedübertragungen aus den Niederlanden, allen skandinavischen Ländern, Litauen, Frankreich und diversen englischsprachigen Ländern stammen aus seiner Feder. „Henkys’ Liedübertragungen sind weit mehr als bloße Übersetzungen. Sie sind Nachdichtungen, die sich durch theologische Tiefe und poetische Kunstfertigkeit auszeichnen. Sie haben das christliche Singen im deutschsprachigen Raum wesentlich bereichert und sind zugleich Beiträge ersten Ranges zum christlichen Kulturtransfer und zur Ökumene“15 (Wilhelm Gräb). Jürgen Henkys starb im Oktober 2015 in Berlin. In den 1980er Jahren hatte Henkys Frostensons Lied schon einmal übersetzt. Diese Fassung wurde im DDR-Beiheft zum Evangelischen Kirchengesangbuch abgedruckt: 1. Die aus dem Dunkel bricht, Stimme durch Erz und Stein – weiß nicht, wer zu mir spricht: Fürchte dich nicht, du bist mein. 2. Ehe noch Nacht und Tag, Frage und Antwort war – Stimme, die alles trägt: Fürchte dich nicht, ich bin da. 3. Spricht noch, wo ich auch sei, Worte des Neubeginns, macht mich in Ängsten frei – Stimme, die dein ist: Ich bin’s.
14 Vgl. Daniela Wissemann-Garbe, In memoriam Jürgen Henkys: 6. November 1929 – 22. Oktober 2015, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 55 (2016), 7–8. 15 Wilhelm Gräb, Nachruf auf Univ.-Prof. em. Dr. Jürgen Henkys (PDF), in: https://juergenhenkys. ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/juergenhenkys.ekbo.de/Texte/Nachruf_TheologFak_HU.pdf.
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4. Wird es dann wieder leer, teilen die Leere wir. Seh dich nicht, hör nichts mehr, fürchte mich nicht: Du bist hier.16
Eine Zeit der neuen Stimmen Kverno und Frostenson dichteten Melodie und Text in einer Zeit des Wandels und Aufbruchs zwischen Jung und Alt. Es war Ende der 1960er oder Anfang der 1970er Jahre – die Quellenangaben der skandinavischen und deutschen Literatur datieren hier unterschiedlich. Aber ob nun 1968 oder 1971 – der gesellschaftliche Strukturwandel war in vollem Gange. Auch wenn es in Norwegen und Schweden keine vergleichbare Rebellion gegen alte politische Verhältnisse und Strukturen wie Deutschland gab,17 so war es doch eine Art „silent revolution“18. Norwegen entdeckte Öl und wurde reich, Schweden wurde zum ABBA-Land. Weltweit suchten junge Menschen neue Formen in Gesellschaft, Politik, Kirche und Kultur. Es war eine Zeit des Ausprobierens, der Suche nach Grenzen und damit gleichzeitig auch eine Zeit der Verunsicherung. Nichts war so wie früher und nichts wie früher war so gewollt. Viele neue Stimmen waren zu hören und wurden wichtig. Vertraute Stimmen verschwanden – viele sicherlich mit Recht und manche sicherlich zu schnell. Zwanzig Jahre später – in eine völlig andere Zeit hinein – übersetzte Henkys das Lied ins Deutsche. Die Parallelen sind dennoch offensichtlich: Grenzen fielen, Steine zerbrachen, neue Stimmen kamen auf, neue Hoffnung und neue Verunsicherung. Wieder ein gesellschaftlicher Strukturwandel, wieder die Frage nach der Zukunft und was einen eigentlich trägt, wenn Vertrautes schwindet. Auch wenn jede Zeit und jede Generation für sich denkt, einzigartig zu sein, so sind unsere menschlichen Reaktionen doch recht ähnlich. Ob 68er-Revolution, ob Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs, ob die 2020er Jahre oder die ganz eigenen persönlichen Ereignisse im Leben – es gibt immer Momente des Zweifels, der Suche, das Verstummen vertrauter Stimmen und Steine, die zerbrochen werden wollen.
16 Neue Lieder. Beiheft zum Evangelischen Kirchengesangbuch, hg. vom Rat der EKU – Bereich DDR – und der Kirchenleitung der VELKD in der DDR, Berlin (Ost) 41987, Nr. 52. 17 Vgl. Thomas Etzemüller: Imaginäre Feldschlachten? „1968“ in Schweden und Westdeutschland, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, 2 (2005), 203–223. 18 Ronald Inglehart: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton (New Jersey) 1977.
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Du bist hier Um die Kraft der Natur zu respektieren und die eigenen menschlichen Grenzen zu erfahren, braucht es aber keine Katastrophe. Im wahrsten Sinne des Wortes erleben ‚von Natur aus‘ Menschen ihre Umwelt intensiver, die eben mit dieser näher zusammenleben als der gemeine Mitteleuropäer. Sie spiegelt sich in ihrem Alltag und Leben deutlich wider. In Skandinavien gehört bis heute das Zusammenleben von Natur und Mensch viel stärker zur Kultur und auch zur Theologie. Dass Kverno und Frostenson sich mit ihrem Lied also auf eine stürmische Seenacht- und Gespenstergeschichte aus Markus 6,45–52 beziehen, verwundert überhaupt nicht. Das schwedische Gesangbuch verzeichnet neben dem Titel des Liedes ausdrücklich Markus 6,50: „Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!“19 Die deutsche Perikopenordnung hat dies aufgegriffen und das Lied neu dem 4. Sonntag vor der Passionszeit zugeordnet, in dem zwar nicht Markus 6, aber der sinkende Petrus (Mt 14,22–33), die Sturmstillung (Mk 4,35–41) und die Sintflut (Gen 8,1–12) Predigttexte sind. Der Text und die Melodie, welche eine große Nähe zu norwegischen Volksweisen anklingen lässt, greifen diese Erzählung auf und setzen sie in Szene: Das Nebulöse der Sturmnacht, die in Wellen überschwappende Angst und die Mystik des Zweifelns und des Vertrauens. Die große Vorliebe Anders Frostensons für Rainer Maria Rilke steckt spürbar nahezu in jedem Wort. Ein Auf und Ab zwischen der Panik der Einsamkeit und Gottes Stimme schwingt im Dreierrhythmus des 9/8-Takts (drei Zählzeiten mit je drei Achteln). Der Beginn auf dem Grundton und die doppelte Wiederholung, die zögerlichen kleinen Sprünge bis zur kleinen Septime am Ende des 2. Taktes bauen die Spannung auf. Die punktierten Viertelnoten verleihen dem Text und den Phrasen besondere Wortakzente. Im 4. Takt dann als tröstende Zusage der Twist durch die Ruhe schenkende punktierte Viertelnote auf der Vier: Hab keine Angst, ich bin da. So besteht die Melodie aus vier Teilen,20 wobei jeder Teil nur einen Takt umfasst, mit Ausnahme des 4. Teils, der einen Verlängerungstakt bekommt. Den rhythmisch genau gleichen, je sechs daktylische Silben enthaltenden ersten drei Teilen steht der 4. Teil mit sieben Silben und der deklamatorischen Verlängerung ab der vierten Silbe gegenüber. So wird das Viertaktprinzip verlassen und der letzte Takt will in der Begleitung gut gestaltet sein, um nicht zu früh die nächste Strophe zu beginnen. Die Melodie lässt sich auch im Kanon singen: Einsatz nach zwei Takten. Sollen mehrere Strophen auf diese Weise gesungen werden, muss nach dem Schlusstakt jeweils noch ein Pausentakt eingefügt werden. Frostenson und Henkys lassen jede Strophe auf diesen letzten Takt zulaufen: ich bin da (Str. 1 und 2), Ich bin’s (Str. 3) und Du bist hier (Str. 4). Hier klingt Gottes 19 Psalmer och visor. Tillägg till Den Svenska pslamboken, Förslag avgivet av 1969 ars psalmkommitté Del 1:2, Stockholm 1975, Nr. 279. 20 Der folgende Abschnitt zur Melodie stammt von Beate Besser.
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Marit Günther
Stimme durch die Geschichte: vom Neuen Testament hin zur Schöpfungsgeschichte (vor Nacht und Tag) bis zur Gottesbegegnung des Mose am Dornbusch (Ich bin’s).21 Gottes Stimme trägt – durch alle Zeiten, durch alle Stürme, durch alle Zweifel. Doch die stärkste Kraft des Liedes steckt für mich in Strophe 4 – im Mut des Dichters, der Leere eine Stimme zu geben. Nicht jetzt in vorschnellen Jubel zu verfallen, sondern die Stimmung auszuhalten: teilen die Leere wir. „Nur wenige Lieder wagen es, auch das Fehlen Gottes in Wort und Klang zu bringen.“22 Über viele Jahre hinweg – durch verschiedenste Zeiten – trägt mich dieses Lied und diese Stimme. Mir gefällt der nordische Klang, die Ehrlichkeit, die Achtsamkeit für unsere verzagten Momente im Leben und die zart anklingende Hoffnung. Aber vor allem macht es Mut zum Aushalten und verschweigt nicht, dass es auch Zeiten gibt, in denen ich einsam bin und in denen ich Gottes Stimme nicht höre, obwohl sie doch als Grundton mitschwingt – Stimme die alles trägt: Hab keine Angst, ich bin da. Marit Günther
21 Meinrad Walter: Ein Lied vom fern-nahen Gott: „Stimme, die Stein zerbricht“ (GL 417) – Liedportrait. URL www.meinrad-walter.de, Auszug auf: AbGRUND. Karsamstag, https://www.dioezeselinz.at/kons/fastenzeitkalender/abgrund/15-04-2017 (abgerufen am 7.9.2022). 22 Ebd.
Kreuz, auf das ich schaue (EG.E 22)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Eckart Bücken (*1943) Lothar Graap (*1933) T / M: 1982 3. Sonntag der Passionszeit – Okuli
Der Titel des Liedes Kreuz, auf das ich schaue ruft ein anderes Lied in Erinnerung: „Stern, auf den ich schaue“ (EG 407). Und tatsächlich hat Eckart Bücken das alte Lied aus der Mitte des 19. Jahrhundert von Cornelius Friedrich Adolf Krummacher (1824–1884) im Sinn gehabt, als er seinen Liedtext schuf.1 Der markanteste Unterschied zwischen beiden Liedern ist der Adressat. Krummacher spricht Jesus, den Herrn, an: „alles, Herr, bist du“ – so enden alle drei Strophen. Anders Bücken – er spricht das Kreuz an, in dem er Christus vergegenwärtigt erlebt. Das Kreuz steht als Zeichen da. Es tritt an die Stelle Christi, der in der Formulierung der, dem ich vertraue, ist in dir mir nah (Str. 1) merkwürdig in den Hintergrund tritt und von dem nur indirekt gesprochen wird. Das Zeichen des Kreuzes vermittelt die Nähe zu Christus. Christliche Nachfolge wird mit dem Kreuz in Verbindung gebracht: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mk 8,34). Im Vorblick auf die Passion Jesu ist das Kreuz ein Zeichen für das bevorstehende Leiden. Die Heilsbedeutung des Todes Jesu am Kreuz macht aus dem Zeichen des Kreuzes zugleich ein Zeichen der Hoffnung und Zuversicht, einen Zufluchtsort: Kreuz, zu dem ich fliehe aus der Dunkelheit. Weil dieses Kreuz für den Gekreuzigten und Auferstandenen steht, gewährt es Asyl in der Not: statt der Angst und Mühe ist nun Hoffnungszeit (Str. 2). Dieser Hoffnung spendende Zufluchtsort wird zum Ausgangspunkt, von dem ich gehe in den neuen Tag (Str. 3). Die hier angedeutete Bewegung ist aber keine Bewegung vom Kreuz weg. In der Mutlosigkeit und Verzagtheit bleibt die Nähe des Kreuzes nötig. Das Hoffnungszeichen soll sozusagen auf den Wegen des Tages mitgehen und als Zeichen sichtbar bleiben. Das Lied hat eine klar erkennbare Struktur, die sich durch alle Strophen zieht. Kreuz, auf das ich schaue (1. Strophe) Kreuz, zu dem ich fliehe (2. Strophe) Kreuz, von dem ich gehe (3. Strophe) 1 Art. Elke Liebig: Kreuz, auf das ich schaue, in: Ansgar Franz, Hermann Kurzke, Christiane Schäfer (Hg.), Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur, Stuttgart 2017, 676 f.
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Ilsabe Alpermann
Jede Strophe beginnt mit dieser Anrede an das Kreuz. Dies wird eindeutig in der 1. Strophe (ist in dir mir nah) und in der 3. Strophe (bleib in meiner Nähe). Auch die 2. Strophe verbleibt im Modus der Anrede, hat aber stärker einen Zug der Selbstvergewisserung. In dieser direkten Ansprache an das Kreuz dürfte das Lied im evangelischen Bereich einmalig sein. Und es ist darin durchaus auch befremdlich. Das Zeichen des Kreuzes überlagert in diesem Lied den Bezeichneten: Christus. Das Kreuz gewinnt ein seltsames Eigenleben und tritt geradezu an die Stelle Jesu Christi. Er kommt nur indirekt in Strophe 1 vor als der, dem ich vertraue. Andererseits lädt das Lied dazu ein, mit den Kreuzen, die vielfach an Wänden hängen oder an Kettchen getragen werden, in einen existenziellen Dialog zu treten. Trotz der Bedenken nimmt das Lied als Vertrauenslied durch seine leichte Fasslichkeit für sich ein. Als neues Wochenlied ist es dem 3. Sonntag der Passionszeit Okuli zugeordnet. Es gibt keinen konkreten Bezug zu einem der Propriumstexte. Das Kreuz im Mittelpunkt des Liedes macht es grundsätzlich geeignet für die Passionszeit. Der Gedanke aus dem Wochenpsalm „Der Gerechte muss viel leiden, aber aus alledem hilft ihm der Herr“ (Ps 34,20) und die Elia-Geschichte 1. Kön 19,1–13 lässt sich gut mit dem Lied verbinden: statt der Angst und Mühe ist nun Hoffnungszeit (Str. 2). Der Textdichter Eckart Bücken wurde 1943 in Berlin geboren und wuchs in Aachen auf. Nach einer Ausbildung zum Gemeindehelfer war er jahrelang in der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Später arbeitete er in der Campingseelsorge und setzte sich für den Gemeindeaufbau in Neubaugebieten ein. Nach einem sozialpädagogischen Studium arbeitete er als Referent für kulturelle Bildung in der rheinischen Kirche. In dieser Funktion förderte er Liedermacher, Bands und Musiktheatergruppen. Bücken engagierte sich in der Arbeitsgemeinschaft Musik in der Evangelischen Jugend e. V. (AGM), für die er Arbeitshilfen für Bands und Liedermacher herausgab. Seine letzte berufliche Station war die Michael-Gemeinde in Faßberg in Niedersachsen, wo er immer noch lebt. Einige Lieder Bückens sind über die Kirchentage bekannt geworden und von da in das EG und einige Regionalteile eingewandert: „Er ist das Brot, er ist der Wein“ (EG 228) und „Gott gab uns Atem, damit wir leben“ (EG 432). Kreuz, auf das ich schaue findet sich bereits in zwei EG-Regionalteilen (Niedersachsen / Bremen und Württemberg). Der Text und damit die Melodie2 gliedert sich in vier Teile mit dem Reimschema ABAB, wobei die A-Teile sechs Silben, die B-Teile fünf Silben, jeweils im trochäischen Versmaß, umfassen. Dennoch sind alle vier Teile je zwei Takte lang. Dabei gleichen sich Teil 1 und 3 rhythmisch, jedoch beginnen Teil 1 und 2 zunächst gleich, jeweils auf der 3. Stufe. Während der 1. Teil auf die 2. Stufe zurückpendelt,
2 Der folgende Abschnitt zur Melodie stammt von Beate Besser.
Kreuz, auf das ich schaue (EG.E 22)
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steigt der 2. Teil zur Quinte auf. Der 3. Teil beginnt sodann mit der erniedrigten 6. Stufe und pendelt um die Quinte. Der 4. und letzte Teil ändert den Rhythmus, in dem der nunmehr 7. Takt durch die Dehnung der dritten und vierten Note zum Drei-Halbe-Takt erweitert wird, um zum Schluss in das Ende im Takt 8 zu münden. Die Tonalität wirkt wie „Moll“, ist aber wohl bewusst nicht so notiert, sondern in dorisch – darauf weist die nicht vorgezeichnete, aber in Takt 5 eigens erniedrigte Sechste hin. Dazu kommt – im Gegensatz zum Dominant-Schluss in der Mitte – die nicht funktionsharmonische Schluss-Kadenz hinzu. Der Komponist und Kirchenmusiker Lothar Graap hat ein umfangreiches musikalisches Werk geschaffen. Er wurde 1933 in Schweidnitz geboren und lebt heute in Schöneiche bei Berlin. Seine kirchenmusikalische Ausbildung erhielt er in Görlitz. Als Kirchenmusiker war er zunächst in Niemegk / Fläming und danach lange in Cottbus als Kantor und Organist tätig. Lothar Graap hat weltliche und geistliche Musik geschaffen. Seine Kompositionen reichen von Chor- und Orchesterwerken über Orgelmusik bis hin zu Vertonungen von Liedtexten. Viele sind im Verlag Christoph Dohr (Köln) publiziert worden. Graap war ebenso wie Eckart Bücken Mitglied der Gruppe TAKT, einer Vereinigung von Textern und Komponisten, die eng mit dem Neuen Geistlichen Lied verbunden sind. Ilsabe Alpermann
Du bist der Weg (EG.E 23)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung Liturgische Einordnung:
Christoph Zehendner (*1961) Johannes Nitsch (1953–2002) T / M: 1990 Neujahrstag
Von 1978 bis 1983 tourte ein Chor junger Erwachsener unter dem Namen „Aufwind“ deutschlandweit durch Kirchen und Gemeinden, er trat auf in Stadt- und Konzerthallen. Dieser Chor erwies sich als ein musikalischer Schmelztiegel unterschiedlicher Musikerpersönlichkeiten. Hier trafen sich der junge Clemens B ittlinger, der Gospel-Barde Jan Vering, der Gitarrist Werner Hucks, Sängerinnen wie Pat Garcia und Heike Barth. Mit dazu gehörten der Theologiestudent und Liedermacher Christoph Zehendner und der Pianist und Komponist Johannes Nitsch. Christoph Zehendner (Jahrgang 1961) ist Journalist, Theologe (M. A.) und mit über 300 Liedtexten einer der bekanntesten Textautoren der neueren christlichen Musik. Er ist heute am Kloster Triefenstein in Unterfranken als Mitarbeiter der ordensähnlichen evangelischen Christusträger-Bruderschaft beschäftigt. Dort lebt er gemeinsam mit seiner Ehefrau. Die Brüder stellen sich vor als „Männer mit Sehnsucht nach Gott, nach sinnvoller Arbeit und nach brüderlicher Gemeinschaft, … die dem Zeitgeist die Suppe gehörig versalzen“1 wollen. Christoph Zehendner ist viel unterwegs, deutschlandweit und darüber hinaus. Seine Konzerte haben ihn auch nach Afrika und Südamerika geführt. Zehendners heute wohl bekanntestes und am häufigsten gesungenes Lied ist „Unser Vater“. Über seine Verbindung mit der Christusträger-Bruderschaft unterstützt der umtriebige Autor auch zahlreiche soziale Projekte, z. B. in Afghanistan, Indien und Bethlehem. Johannes Nitsch (1953–2002) gehört zu den bedeutendsten Kirchenmusikern der modernen populären Kirchenmusik. Der Pastorensohn aus Iserlohn studierte an der Folkwang Musikhochschule in Essen und prägte seit den 1970er Jahren die christliche Musikszene als Pianist, Komponist, Sänger, Arrangeur und Musikproduzent. Dabei war er freiberuflich tätig sowie zeitweise als Musikreferent des CVJM in Kassel und als Musikproduzent des Hänssler-Verlags. Er arbeitete mit sämtlichen bekannten Akteuren und Akteurinnen der christlichen Musikszene zusammen. Die Themen Vergebung und Lob Gottes standen im Zentrum seines Schaffens. Johannes Nitsch starb im Alter von nur 49 Jahren überraschend an den Folgen einer Operation.
1 https://www.christustraeger-bruderschaft.org/christustraeger/bruder-werden.
Du bist der Weg (EG.E 23)
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Seit den frühen 1980er Jahren arbeiteten Johannes Nitsch und Christoph Zehend ner an gemeinsamen Musikprojekten. Ein Faible für thematisch zusammenhängende Liederzyklen zeichnet das Autoren-Duo bereits in diesen Jahren aus. „Fundamentales“ (Lieder zur Bergpredigt) und eine Vertonung von Asaph-Psalmen „Höre, Herr“ werfen ihre Schatten bzw. ihr Licht voraus auf die Pop-Oratorien der 1990er Jahre. Im Jahr 1990 entsteht die Produktion „Begegnungen“ – zunächst zehn Musik titel auf einer Vinyl-LP und vier Jahre später, 1994 – ergänzt um vier weitere Titel –, auch im CD Format. Der Textautor Christoph Zehendner untertitelt „Begegnungen“ als „musikalische Fenster zum Johannes-Evangelium“. Eingerahmt in den Prolog und Logoshymnus (Das Ja der Liebe) und Jesu Tod (Gottes Lamm) und Auferstehung (Auferstanden) erzählen die Lieder sowohl von unterschiedlichen Begegnungen Jesu mit den Menschen seiner Zeit (Johannes dem Täufer, Nikodemus, Maria, der Frau am Brunnen u. a.) als auch von zentralen Themen des Evangeliums wie z. B. die „Ich bin“-Worte. Diese Selbstaussagen Jesu stehen im Fokus für das Tageslied Du bist von Christoph Zehendner und Johannes Nitsch. Einem vierzeiligen Refrain, dessen zwei Schlusszeilen jeweils wiederholt werden, folgen im Wechsel mit dem Refrain zweizeilige Strophen. In dem Liedtext werden die unterschiedlichen „Ich bin“-Worte Jesu aus den Kapiteln 6 bis 15 des JohannesEvangeliums zusammengefasst und damit verdichtet. Zehendner schreibt: „Ich fragte mich: Wie müsste ein Liedtext formuliert sein, der diese großartigen Aussagen und Zusagen Jesu angemessen umsetzt? Ich bin der Weg, das Licht, die Wahrheit, die Tür, das Leben – wie könnte die Bedeutung dieser Worte bei den Menschen vertieft werden, die das künftige Lied singen und hören? Mit einem Mal wurde mir klar: Ich lade die Sänger und Zuhörer ein, ganz persönlich darauf zu antworten, ein großes Ja zu den Worten Jesu zu sagen: ‚Du bist der Weg und die Wahrheit und das Leben. Wer dir Vertrauen schenkt, für den bist du das Licht. Du willst ihn leiten und ihm wahres Leben geben, ewiges Leben, wie dein Wort es verspricht.‘ In anderen Worten ausgedrückt: Ja, du bist das alles tatsächlich, Jesus, ich glaube daran, ich traue dir das zu, ich habe das erlebt oder möchte es erleben: Du bist für mein Leben das Licht. Du bist die Tür. Du bist der Weg.“2 Der Komponist Johannes Nitsch wählte für die Refrainmelodie eine einfache Achtel-Tonfolge in C-Dur, die sich fast ausschließlich in kleinen Tonschritten im Ambitus einer Sexte entwickelt. Jede Zeile beginnt mit Drei-Achtel-Auftakten, die letzten beiden Zeilen werden wiederholt, mit dem Unterschied, dass sie einmal auf der Terz und am Schluss auf dem Grundton enden. Durch den Verzicht auf Synkopen (weitgehend) oder Sechzehntel-Rhythmisierungen entsteht eine gleichmäßig wellenförmige Bewegung, eine schlichte Melodie, die leicht nachzuvollziehen ist und zum Mitsingen einlädt.
2 Zum Nachweis des Zitats siehe die Fußnote am Schluss des Beitrags.
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Annette Kurschus
Die Strophen verlassen den wellenförmig entspannten Gestus aus Tonschritten und markieren mit einer Melodie aus akkordischen Tonsprüngen den neuen Songteil. Dieser neue Melodiegestus lässt aufhorchen und unterstreicht wie ein „Achtung-Signal“ den Inhalt der Strophen. Die Melodie erreicht ihren Hochton C an der Textstelle für den, der… Hier wird der Adressat der Segnungen vom Brot, der Tür, des Hirten und des Weinstocks indirekt angesprochen. Nach der kurzen Achtelpause erhalten die Bilder konkrete Lebensbezüge – das Brot für Lebenshungrige, die Tür für Verzagte, der Hirte für Verwirrte, der Weinstock für Kraftsuchende. Die Melodie wird ruhiger und leitet organisch über zur Melodie des Refrains. Der Refrain Du bist der Weg … ist der prägnante Teil des Liedes. Er wird am Anfang, zwischen den Strophen und am Ende gesungen und bleibt dadurch stärker als „Ohrwurm“ im Gedächtnis als die Strophen, die viel kürzer und für das gemeinsame Singen durchaus anspruchsvoll sind. Durch die Wiederholung des letzten Satzes im Refrain wird dieser nicht nur verlängert, sondern auch gedehnt, was eine gewisse Herausforderung an die Aufmerksamkeit beim Singen bedeutet. In der gottesdienstlichen Praxis finden sich Versuche, auf die Wiederholung im Refrain auch mal zu verzichten oder zwei Strophen zusammenzufassen und erst danach den Refrain zu singen. Die erste Aufnahme von Du bist hatte übrigens mit der heute geläufigen Gesangs- und Aufführungspraxis wenig zu tun. Die schlichte Melodie wurde 1990 im Tonstudio mit vielen Sechzehntel-Synkopen im Latin Style produziert und damit so verkompliziert, dass sie wegen mangelnder Nachvollziehbarkeit höchstwahrscheinlich einem breiten Publikum verwehrt geblieben wäre. Dem Komponisten Johannes Nitsch war diese Schwierigkeit durchaus bewusst, und er bestand auf einer neuen Produktion des Titels in einer musikalisch schlichteren Fassung, die sich bis heute für das Lied durchgesetzt hat. Dieses neue Tageslied ist dem Neujahrstag zugedacht. Wohin geht der Weg? Was ist Wahrheit? Was verspricht Leben? Solche existenziellen Fragen werden nicht nur an der Schwelle eines neuen Jahres gestellt, aber dann eben besonders intensiv. Der Blick in die friedlose, von Kriegen und Krisen geschüttelte Welt bietet von sich aus wenig Anlass zu hoffen; im Gegenteil: Viele sind gelähmt von manch scheinbarer Ausweglosigkeit, gebeutelt von der Angst vor der Lüge, verschreckt durch die Macht des allgegenwärtigen Todes. Du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben! widerspricht solch bleiernem Fatalismus. Es ist, wie bereits erwähnt, ein Echo auf die Ich-bin-Worte, die der Jesus des Johannesevangeliums spricht, sieben an der Zahl. „Ich bin“, sagt Jesus: das Brot des Lebens (Joh 6,35.41.48.51), das Licht der Welt (Joh 8,12; 9,5), die Tür zu den Schafen (Joh 10,7.9), der gute Hirte (Joh 10,11.14), die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25), der Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6), der wahre Weinstock (Joh 15,1.5).
Du bist der Weg (EG.E 23)
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Original-Manuskript von Johannes Nitsch 1990
Das Wochenlied hebt die sechste dieser Selbstaussagen besonders hervor und wählt die Trias Weg–Wahrheit–Leben gewissermaßen als Überschrift, Zusammenfassung und Kommentierung der anderen. Dieses Ich-bin-Wort ist in der Tat einer der meist zitierten Verse des Johannesevangeliums, nicht zuletzt deshalb, weil es in der Vergangenheit dazu herhalten musste, den christlichen Absolutheitsanspruch zu erheben und zu rechtfertigen. Den sah man im 2. Teil des Verses Joh 14,6 begründet: „niemand kommt zum Vater denn durch mich“. Von der dezidiert ausschließenden Auslegung speziell dieses und auch der anderen Ich-bin-Worte des Evangeliums darf und muss man sich verabschieden. Die Ich-bin-Worte Jesu sind ein Echo auf einen der Grundtexte des TNK3, den Auftakt zum identitätsstiftenden Narrativ Israels. Gott beginnt seine Befreiung des versklavten Volkes, indem er sich dem Mose mit Namen vorstellt. „Ich bin, der ich bin“, lautet eine Übersetzung der schwer zu übersetzenden hebräischen Worte „ehjeh ascher ehjeh“, eine andere: „Ich werde sein“, noch eine andere: „Ich bin (für euch) da“. Dies ist keine philosophische Überhöhungsformel für das Sein Gottes. Es ist vielmehr Gottes Zusage, dass er mit unverbrüchlicher Treue
3 TNK (gesprochen Tanach) ist die jüdische Bezeichnung für die hebräische Bibel und besteht aus den drei Konsonanten für die drei Teile der hebräischen Bibel: Tora (5 Bücher Mose) – Nebiim (Propheten) – Ketubim (Schriften).
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Annette Kurschus
und Zuwendung beharrlich zu seinem Volk hält, das erniedrigt und ganz unten ist. Solch liebende Treue ist ihm wesensmäßig, darauf kann sich berufen, wer Gott bei seinem Namen nennt, der in den vier Buchstaben des Tetragramms JHWH steckt. Dieser Name soll geheiligt und darf nicht ausgesprochen werden, um ihn vor Missbrauch zu schützen. Der Messias Jesus macht nun die Seinen gewiss: Gottes Versprechen gilt immer noch; es gilt für alle, die ihm vertrauen, seien sie beschnittene Juden oder Unbeschnittene. Gott ist durch und in Jesus da als elementares „Lebensmittel“, als Brot, Licht, Gemeinschaft, Solidarität, Weg, Wahrheit, Leben eben. Für Johannes ist es der Messias Jesus, in dem diese Zusage Gottes sich im wahren Wortsinn verkörpert und vergegenwärtigt. Er ist derjenige, der in Gottes Namen gekommen ist. Das ist kein Absolutheitsanspruch, den man heute zur Herabwürdigung anderer Religionen benutzen darf. Wohl aber polemisiert Johannes in seiner Zeit gegen andere Heilsbringer und Messiasse, die Weg, Wahrheit und Leben sein wollen und nicht halten, was sie versprechen. Insofern appellieren die Ich-bin-Worte durchaus an den kritischen Geist, der nicht jedem Heiland nachlaufen soll. Auch was Weg, Wahrheit, Leben sind, muss man aus dem Kontext des TNK deuten. Jesus ist der Weg. Es ist der Weg, dessen Wegweiser die Gebote der Tora sind. Gott lieben und einander lieben, darin sieht Johannes die Gebote zusammengefasst. Der Weg ist eine Lebenspraxis auf den Spuren Jesu. Ein Weg wohlgemerkt, kein fester Ort, an dem man bereits angekommen ist. Jesus ist die Wahrheit. Wahrheit ist im Wortfeld des TNK mit Vertrauen und Treue verwandt. Wahrheit ist ein Beziehungswort. Biblische Wahrheit ist nicht die scharfe Alternative von Richtig oder Falsch, Ja oder Nein, denn sie ist nicht ohne Liebe und Vertrauen zu erkennen. „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38), fragt darum zynisch der Machtpolitiker Pontius Pilatus, als er sich anschickt, Jesus zum Tod zu verurteilen. Jesus ist das Leben. Leben ist immer konkret und sehr leiblich, es ist kein abstraktes Ideal, das es zu erringen gälte. Im Hebräischen ist Leben eng verknüpft mit der Kehle und dem Atem, der sie durchfließt und die Geschöpfe zu lebendigen Wesen macht; seinen Sitz hat das Leben im Blut. Dennoch ist Leben mehr als allein der sterbliche Leib. Nach Johannes ist der Messias gekommen, um das „Leben in Fülle“ zu bringen. Zurück zum Texter des Tagesliedes. Zehendner hatte einen genialen Einfall, um unzweideutig den Charakter der Ich-bin-Worte als Gottes Zusage herauszustellen, dass er da ist und da bleibt, fürsorglich und befreiend. Sein Lied ist Zeile für Zeile ein Vertrauensbekenntnis, vielleicht sollte man sagen: eine Liebeserklärung, die auf Jesu Worte antwortet. Weit entfernt von christlicher Selbstbeweihräucherung ist es schlichtes und spontanes Gotteslob. Christi „Ich bin“ sucht das Du und eröffnet ein Gespräch; es sehnt sich nach Echo und wird erst durch meine Antwort vollständig. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ – das erlöst die Angeredeten
Du bist der Weg (EG.E 23)
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von der Überforderung, sich dies alles selbst sein zu müssen im Wirrwarr des Lebens. Auf das „Ich bin“ Jesu Christi antworte ich: Ja, das bist du, wie gut! Darauf vertraue ich im Neuen Jahr, was immer es bringen mag.4 Annette Kurschus
4 Hinweis zu den Quellen dieses Beitrags: Hilfreich war mir vor allem das Gespräch mit Hans-Werner Scharnowski, einem Weggefährten von Christoph Zehendner und Johannes Nitsch, der mir auch das Originalmanuskript der ersten Fassung des Liedes zur Verfügung gestellt hat sowie das Originalzitat Christoph Zehendners aus privaten Quellen. Vgl. ferner: https://www.christustraeger-bruderschaft. org; https://wochenliederpodcast.podigee.io/26-du-bist-der-weg; https://www.christoph-zehendner. de/vita/; https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Nitsch_(Musiker).
Da wohnt ein Sehnen tief in uns (EG.E 24)
Text / Melodie: Vorlage: Entstehung: deutsche Übertragung: Liturgische Einordnung:
Anne Quigley (*1956) T deutsch: Eugen Eckert (*1954) There is a Longing (in Our Hearts) T / M: 1973 1986 19. Sonntag nach Trinitatis
Biographische Bemerkungen Das Lied mit dem ursprünglichen englischen Titel „There is a Longing“ wurde 1973 von Anne Quigley komponiert und gedichtet, die damals noch keine 18 Jahre alt war. Ins Deutsche übertrug es 1986 Eugen Eckert. Die katholische Komponistin und Lieddichterin Anne Quigley, deren wohl berühmteste Komposition das in deutscher Übertragung vorliegende Lied ist, wirkte von 1969 bis 1995 als Mitglied der St. Thomas More Group of Composers an der Pfarrei St. Thomas More im Norden Londons. In den Beginn dieser Zeit fällt auch die Komposition ihres Liedes „There is a Longing“. Sie ist vor allem im englischsprachigen Raum außerdem bekannt für Lieder wie „The Seven Last Words from the Cross“ und „Take, Lord, and Receive“. Der evangelische Pfarrer Eugen Eckert ist Textdichter zahlreicher geistlicher Lieder, von denen einige Eingang in den Stammteil und in Regionalteile des Evangelischen Gesangbuchs und in die Beihefte verschiedener Landeskirchen gefunden haben. Eckert gilt als einflussreicher Vertreter des Neuen Geistlichen Liedes. Er ist vielfältig ökumenisch engagiert. Die Melodie wurde bei der Übertragung des Liedes ins Deutsche wörtlich übernommen. Auch die Textübertragung nimmt keine wesentlichen inhaltlichen Veränderungen am englischen Original vor. Der Wortlaut der Übertragung lässt in einzelnen Begriffen und Wendungen Ernesto Cardenals Psalm-Meditation „Der Durst“ durchscheinen.1
1 Vgl.Ernesto Cardenal: Das Buch von der Liebe – Lateinamerikanische Psalmen, Gütersloh 51977, 20 ff.
Da wohnt ein Sehnen tief in uns (EG.E 24)
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Historische Verortungen der Entstehungssituationen von Text und Melodie Die Komposition des englischen Originals erfolgte rund zehn Jahre nach der am 4. Dezember 1963 verabschiedeten Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965). Diesem wiederum gingen bereits seit Anfang der 1950er Jahre verschiedene internationale Kongresse zur katholischen Kirchenmusik voraus, in denen unter anderem über eine angemessene Stilistik liturgischer Kompositionen diskutiert wurde. Mit der Liturgiekonstitution von 1963 wurde zunächst die stärkere Beteiligung der Gemeinde an der Liturgiefeier an sich (SC 30), sodann auch die Möglichkeit des Singens in der jeweiligen Muttersprache (SC 36 § 2) festgeschrieben.2 In diese Zeit fallen auch die Anfänge der Taizé-Bewegung, deren erstes großes Jugendtreffen nach verschiedenen Aktivitäten Anfang der 1960er Jahre mit rund 1400 Teilnehmenden aus 30 Ländern im Jahr 1966 in der neu erbauten Versöhnungskirche stattfand.3 Zur hymnologischen Großwetterlage gehören hinsichtlich des Entstehungsortes auch Entwicklungen in der anglikanischen Kirchenmusik. Die Anglikanische Kirche, gewissermaßen als größere geographische Referenz, sucht in der späten Nachkriegszeit Wege, ihr musikalisches Erbe weiterzuführen. Die stilistischen Wandlungen der 1960er und 1970er Jahre sind Ergebnisse verschiedener Experimente mit spätromantischen Klängen, Einflüssen dodekaphonischen Komponierens und populärer Musik. Eine grundsätzliche Orientierung an tonalen Zentren bleibt in allen Gattungen anglikanischer Kirchenmusik mit mal mehr, mal weniger dissonanter Brechung in der Regel erhalten. In das Jahr 1973 zum Beispiel, das Entstehungsjahr der hier zu besprechenden Komposition „There is a Longing“, fällt die Veröffentlichung der „Anglican Folk Mass“ von Patrick Appleford (1925–2018), der gegenüber früheren und zeitgenössischen Messvertonungen anderer Komponist*innen eine größere Nähe zu populärer Musik erkennen lässt. Die anglikanische Kirchenmusik der frühen 1970er Jahre ist einerseits von einer gewissen Volkstümlichkeit und der Neigung zur Tradition geprägt, weist dabei andererseits nicht selten und insbesondere in den Kompositionen für die größeren Kathedralen ein gewisses Pathos auf. Anders als die hier referierten katholischen und anglikanischen Referenzen ist „There is a Longing“ nicht für einen konkreten liturgischen Gebrauch oder als Teil einer Messvertonung komponiert worden. Diese Freiheit ermöglicht einerseits eine unvoreingenommene Nähe zu populärer Musik und erklärt andererseits das fehlende Pathos der schlichten, deswegen aber nicht weniger eleganten Komposition.4 2 Vgl. Wolfgang Reiffer: Das Motu proprio Pius’ X. und seine Auswirkungen bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Albert Gerhards (Hg.), Kirchenmusik im 20. Jahrhundert. Erbe und Auftrag, Münster 2005, 75–98; sowie Karl Rahner / Herbert Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium, Freiburg / Br. 352008. 3 Vgl. Jean-Claude Escaffit / Moïz Rasiwala: Die Geschichte von Taizé, Freiburg / Br. 2018. 4 Vgl. Gustav A. Krieg: Einführung in die Anglikanische Kirchenmusik, Köln 2007.
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Timm Siering
Das deutschsprachige kirchenmusikalische Liedschaffen ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere von der Dichtung und der Komposition sogenannter Neuer Geistlicher Lieder geprägt. Kennzeichen dieser Gattung ist sowohl der gegenüber älteren Gesangbuchliedern verständlichere Text und die musikalische Adaption von Elementen zeitgenössischer populärer Musik. Dieser Gattung ist auch das vorliegende Lied zuzuordnen.5 Die musikalischen und liturgischen Großveranstaltungen des Deutschen Evangelischen Kirchentages haben maßgeblich zur Etablierung und Verbreitung neuen geistlichen Liedgutes beigetragen. Auch das vorliegende Musikstück ist unter anderem durch Auftritte der Band „Habakuk“, der Eugen Eckert angehört, bekannt geworden. Seit dem Frankfurter Kirchentag 2001 findet sich das Lied bis heute in jeder Liederzeitung der Band. Neben dem Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch führen auch frühere Gesangbuchbeihefte wie zum Beispiel das „EG Plus“ der beiden hessischen Landeskirchen (unter der Nr. 102) oder „Himmel, Erde, Luft und Meer“ der Nordkirche (unter der Nr. 142), aber auch das neue katholische „Gotteslob“ in verschiedenen regionalen Eigenteilen das Lied.
Zu Form und Inhalt des Liedes sowie zur Melodie Bei dem Titel des Liedes handelt es sich um die erste Zeile des Refrains. Mit diesem beginnt und endet das Lied, das ansonsten aus vier Strophen besteht. Das Lied ist in der zweiten Person gehalten. Es handelt sich um die Anrede einer Gruppe an Gott und ist daher formal als kollektives Gebet angelegt. Der Refrain bildet zu den vier konkreter gefassten Strophen ein allgemeineres, bildhaft sprechendes Gegenüber. Inhaltlich ist der Refrain zweigeteilt. Im 1. Satz wird Gott über das in den Betenden wohnende Sehnen informiert. Diese Exploration beschreibt das Sehnen als Bewegung einer Suche nach der Nähe Gottes. Der 2. Satz des Refrains konkretisiert das Nähebedürfnis mit dem Bild des Durstes nach Glück und nach Liebe. Gemeint sind diejenige Liebe und dasjenige Glück, die nicht selbst erwirkt werden können, sondern auf die Nähe zu Gott angewiesen sind: wie nur du sie gibst. Es dominiert insgesamt ein Textfeld, das inhaltlich als drängende Suche nach Gottes Nähe zusammengefasst werden kann. Auch musikalisch zeigt sich die Zweiteiligkeit des Refrains. Von einer Durchgangsnote zur Unterbringung einer zusätzlichen Silbe im ersten Satz einmal abgesehen, unterscheiden sich beide Teile des Refrains lediglich im Schlusston und der
5 Vgl. Wolfgang Teichmann: Populäre Kirchenmusik, in: Gotthard Fermor / Harald SchroeterWittke (Hg.), Kirchenmusik als religiöse Praxis. Praktisch-theologisches Handbuch zur Kirchenmusik, Leipzig 22006, 90–95.
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damit zusammenhängenden Harmonisierung. Der 1. Satz schließt auf der immerhin anderthalb Taktlängen andauernden 2. Skalenstufe, die mit dem Dominantbzw. Dominantseptakkord harmonisiert wird. Den Schluss des Refrains bildet eine 4-5-1-Kadenz. Analog zur Betonung des Textes erhält das du in wie nur du sie gibst durch die mittels Punktierung erhöhte Länge gegenüber den übrigen Silben das größte Gewicht. Bereits die vorletzte Silbe leitet unter dem Wert einer Achtelnote in den Schlusston ein. Beide liegen auf der 1. Skalenstufe. Die Tenorklausel zum Ende, bei der die Melodie über die letzten drei Takte hinweg gleichmäßig und weitestgehend in Deckung zum vorgezeichneten Grundschlag abwärtsgeführt wird, vermittelt den Eindruck des Erreichens einer inneren Ruhe. Der Schluss kontrastiert damit den übrigen Refrain, der bei einem insgesamt überschaubaren Ambitus (kleine Sexte) von einer großen rhythmischen Dynamik und melodischen Bewegungsfreude gekennzeichnet ist. Schon der Beginn des Refrains, der sich zumindest musikalisch mit dem Beginn seines 2. Teils wiederholt, implementiert eine treibende, rastlose Grundstimmung. Der Refrain und damit auch das Lied beginnen mit drei auftaktigen Achtelnoten auf der 5. Skalenstufe, dem zweithöchsten Ton des Liedes. Markant ist die Achtelpause, die den Beginn der Melodie von der betonten auf eine unbetonte Zwischenzählzeit verschiebt. Hier nicht von einem Auftakt zu sprechen, lässt sich nur mit dem Notenbild begründen, das mit der Achtelpause ganz zu Beginn und einer halben Note im letzten Takt je einen Volltakt zu Beginn und zu Ende aufweist. Die Tonhöhe der auftaktigen Figur wird, trotz der sich ändernden Harmonie, noch für eine weitere Achtelnote beibehalten, so dass der 2. Takt mit einem Vorhalt auf betonter Zählzeit beginnt, den die Melodie unter Erhalt der Spannung mit der nächsten Achtelnote nach oben hin auflöst. Die Energie, die mit diesem Motiv aufgebaut wird, entlädt sich in den folgenden Achtelnoten und kommt nach einem kurzen Moment des Innehaltens über der Textsilbe Gott nach rund dem ersten Viertel des Refrains zur Mitte hin vorläufig zur Ruhe, um dann mit dem Beginn des 2. Teils einen neuen Anlauf zu nehmen. Erst mit dem Schluss des Refrains ist auch musikalisch tatsächlich ein hör- und spürbarer Schluss erreicht. Melodie und Text sind insofern kongruent, als beide eine sehnsuchtsvolle Suche beschreiben. Die Melodieführung unterstreicht dabei die Intensität der Suchbewegung des Textes und schafft durch Betonung einzelner Silben und Wörter eine Konkretisierung der Textaussage. Betont wird vor allem, dass die Suchbewegung sich auf die Nähe zu Gott richtet, an den die erst in den Strophen konkreter gefasste Bitte nach Glück und Liebe adressiert wird. Die vier Strophen können gegenüber dem Refrain als retardierende Momente betrachtet werden. Der Text der vier Strophen ist ähnlich strukturiert. Während sich im Refrain 37 Textsilben innerhalb von 16 Takten ereignen, sind es in den Strophen, die ebenfalls aus je 16 Takten bestehen, lediglich 24 Silben. Beide Liedteile sind durchgehend syllabisch, sodass die höhere Textdichte im Refrain folglich auch eine höhere musikalische Dichte nach sich zieht, als dies in den Strophen der Fall ist. Auch die Strophen sind auftaktig gesetzt, jedoch auf volle Zählzeiten und in
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Viertelnoten. Grundsätzlich vollzieht die Melodie der Strophen dieselben Bewegungen wie im Refrain, bis hin zu charakteristischen Wendungen an den Satzenden und der Vorhaltsfigur zu Beginn. Auch die Strophen sind zweiteilig aufgebaut, wobei die Wiederholungsstruktur bis hin zu den Kadenzen am Satzende vom Refrain grundsätzlich übernommen werden. Tonhöhenverläufe und Spitzentöne sind in Refrain und Strophe in höchstem Maße ähnlich, so dass der Unterschied zwischen Refrain und Strophe aus musikalischer Sicht vor allem in den Notenwerten und den in der Strophe eingefügten Pausen liegt. Formal kann der Ablauf des zweiteiligen Refrains und der zweiteiligen Strophe schematisch daher folgendermaßen dargestellt werden: A-A’-A’’-A’’’. Ein Thema, das global als die Abwärtsbewegung der fünften zur ersten Skalenstufe beschrieben werden kann und das im Laufe von Refrain und Strophe dreimal wiederholt wird, bildet die melodische Grundlage des ganzen Liedes. Auch die Harmonisierung ist in Refrain und Strophe ähnlich.6 Auffällig ist lediglich der im fünftletzten Takt vorgesehene Fmaj7-Akkord als einziger Akkord mit großer Septime. Der statische Charakter des Klangs in seinem Kontext bestätigt den Eindruck der Ruhe und des Innehaltens, der für die Strophe insbesondere im Gegenüber zum Refrain bereits festgestellt wurde. Die hinsichtlich der musikalischen Gestaltung angestellten Beobachtungen lassen sich auf der Textebene bestätigen. Die bereits im Refrain angelegten Rollen des lyrischen Wir und dessen betende Haltung bleiben erhalten. Formal erinnern die Strophen in ihrer gleichbleibenden Form an eine vom Kollektiv vorgetragene Fürbitte. Der Aufbau der Strophen sieht in den je ersten Sätzen, die mit um beginnen und auf bitten wir enden, je drei konkrete Elemente vor. Die 1. Strophe bittet um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung, die 2. um Einsicht, Beherztheit, um Beistand und die 3. Strophe um Heilung, um Ganzsein, um Zukunft. Die 4. Strophe greift Lexeme auf, mit denen die Suchbewegung bereits im Refrain beschrieben wird. Hier wird im ersten Satz die Bitte formuliert, Gott möge das Sehnen und den Durst stillen. Der jeweils zweite Satz schließt in allen vier Strophen mit der Formulierung sei da, sei uns nahe Gott. Auch hier geht in den ersten drei Strophen Konkretes vorweg: In Sorge, im Schmerz, in Ohnmacht, in Furcht und in Krankheit, im Tod. Die textlich stärker in Analogie zu dem allgemeiner gehaltenen Refrain konzipierte 4. Strophe fasst gewissermaßen die Bitten der vorangegangenen Strophen zusammen und bekennt Wir hoffen auf dich. Die Eingängigkeit der Melodie, die nicht zuletzt durch ihre formale Gestaltung, einen wiederkehrenden Refrain und immer neue Textstrophen, die jedoch für sich genommen mit weniger Text auskommen, unterstrichen wird, macht das Lied grundsätzlich auch in Gruppen gut singbar, die es noch nicht kennen. Dafür spricht auch der vergleichsweise geringe Ambitus. Eine solide instrumentale Liedbegleitung
6 Da sowohl dem Refrain als auch der Strophe die gleiche Quintfallsequenz zugrunde liegt, können beide Teile auch gleichzeitig gesungen werden (Idee: Beate Besser).
Da wohnt ein Sehnen tief in uns (EG.E 24)
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ist für eine gute Singbarkeit die Voraussetzung. Insbesondere der Rhythmus des Refrains, dessen 1. Ton zudem zwischen zwei Zählzeiten liegt, aber auch die langen Töne jeweils zur Mitte in allen Teilen und die Pausen in den Strophen bedürfen der instrumentalen Überbrückung. Für das unbegleitete Singen ist das Lied daher eher ungeeignet. Die Einsatzmöglichkeiten des Liedes sind vielfältig. Neben seiner Verwendung als Wochenlied, wie es das Ergänzungsheft vorsieht, ist auch der Einsatz als Fürbitte denkbar. Gegenüber gesprochenen Formen bietet das Lied den Vorteil, die ganze Gemeinde in allen Teilen der Fürbitte zu beteiligen. Es wäre außerdem denkbar, die Strophen von einer Vorsängerin bzw. einem Vorsänger oder einer vorsingenden Gruppe vortragen und den Refrain als Gebetsruf von allen singen zu lassen. Überdies eignet sich der Refrain auch unabhängig von den Strophen als Gebetsruf einer ansonsten gesprochenen Ektenie. Die klare Struktur der Strophen, die insbesondere im 1. Teil formal der Liste ähnlich sind und zudem ohne ein spezifisches Reimschema auskommen, lädt zum Weiterschreiben ein. Es bietet sich an, eigene Strophen zu entwerfen. Das ist sowohl für die Arbeit in verschiedenen Gemeindegruppen und in der Schule als auch für den Gottesdienst denkbar. Das Lied hat aufgrund seiner formalen Anlage also einen besonderen kirchenmusikpädagogischen Mehrwert.7 Timm Siering
7 Vgl. Sebastian Rütten: „Da wohnt ein Sehnen tief in uns …“. Das „Neue Geistliche Lied“ als Medium der Katechese, Marburg 2013.
Umkehr und Nachfolge
Lass uns in deinem Namen, Herr (EG.E 25)
Text und Melodie: Erstveröffentlichung: Liturgische Einordnung:
Kurt Rommel (1926–2011) T / M: 1964 8. Sonntag nach Trinitatis
Im Vorwort des 1997 im Münchner Strube-Verlag herausgekommenen, aus 309 Liedern bestehenden Querschnitts seines Liedschaffens berichtet Kurt Rommel (1926–2011), er habe als Vikar das in den 1950er Jahren eingeführte Evangelische Kirchengesangbuch „freudig begrüßt“1, sei damit aber, als er 1960 in Stuttgart-Bad Cannstatt Jugendpfarrer geworden war, schnell an Grenzen gekommen, denn die Kritik der Jugend an der Kirche habe sich besonders am Gottesdienst entzündet, vor allem an den Liedern. Daran hat sich bis heute wenig geändert! Bei der Aufgabe, „mit den jungen Leuten zu Formen glaubwürdigen Christseins […] zu kommen und sie mit ihnen zu praktizieren“2, begann Rommel im Februar 1962 mit den heute legendären Cannstatter Kinogottesdiensten, die damals Furore machten. Das 1944 im Krieg zerstörte Gebäude des „Filmpalasts“ in der Seelbergstraße 12 im Zentrum Bad Cannstatts war 1953 wieder eröffnet worden, 1973 wurde das Kino endgültig geschlossen. Heute ist in der Einkaufsstraße an dieser Stelle davon nichts mehr zu erkennen. Wenn Gottesdienst im Kino, in der Lebenswelt der Jugendlichen, gefeiert wird, ersetzen neue Lieder die alten Gesangbuchlieder, eine Band begleitet, „Combo“ sagt man, Klaviere gibt es in Kinos seit dem Ende der Stummfilmzeit nicht mehr, der Gottesdienst wird im Team vorbereitet und durchgeführt, man orientiert sich an Themen, nicht am Kirchenjahr, eingeladen wird auf Donnerstagabend, um den Sonntagsgottesdiensten keine Konkurrenz zu machen. Rommels Kinogottesdienste zählen zu den frühesten „Gottesdiensten in neuer Gestalt“, die Resonanz ist gewaltig: Die 950 Sitzplätze des Kinos und viele Stehplätze reichen nicht aus, um alle aufzunehmen, die kommen wollen. Häufig bleiben Hunderte draußen in der Schlange und können nicht herein. Von kirchenleitender Seite wird das Projekt sehr kritisch beäugt. Dem Vorwurf des liturgischen Wildwuchses hielt Rommel später entgegen, dass „Fachleute meinten, unsere württembergische Gottesdienstordnung habe Pate gestanden“3. Noch im Alter konnte Rommel süffisant erzählen, wie er zur Stuttgarter 1 Kurt Rommel: Der große Gottesdienst. Lieder aus vier Jahrzehnten – eine vorläufige Bilanz, München 1997, 3. 2 Rommel, Gottesdienst, 4. 3 Kurt Rommel: Kirche, Kino, Spiel und Lied. Mein Leben mit der Gemeinde, Privatdruck Stuttgart 1999, 69.
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Kirchenleitung zitiert wurde und dort den gefurchten Stirnen von Landessingwart Hermann Stern (1912–1978)4 und Eberhard Weismann (1908–2001), dem damals für den Gottesdienst zuständigen Oberkirchenrat, am Tisch gegenübersaß. Sie seien aber, berichtet Rommel, später zu Freunden geworden, den für Jugendarbeit zuständigen Oberkirchenrat Manfred Müller habe er jedoch stets an seiner Seite gehabt.5 Das Lied Lass uns in deinem Namen, Herr entstand 1964 für einen jener KinoGottesdienste, 1965 erklang es zum ersten Mal.6 Rommel schrieb zunächst nur eine, bewusst recht allgemein gehaltene Strophe als Kehrvers bzw. Wiederholgesang, die zwischen den Fürbitten gesungen wurde, ein interessanter liturgischer Gestaltungsimpuls! Die Fürbitten und die Liedstrophe wurden damals mit einem Dia auf die Kinoleinwand projiziert. Die Strophe bekommt ihr Profil also nicht aus sich, sondern aus ihrem Kontext, den jeweiligen Fürbitten, mit denen zusammen sie erst ein Ganzes ergibt. Mit der Zuspitzung auf das Handeln des Menschen sollte das Gebet vor dem Missverständnis bewahrt werden, als werde damit Verantwortung abgeschoben. Die der Aufklärungsepoche in manchem verpflichtete Aufbruchszeit der 1960er Jahre sah denn auch einen wesentlichen Sinn des Gebets in der Wirkung auf den Beter.7 Das schlug sich auch in Liedern nieder.8 Immerhin ist schon das Vaterunser mit seiner vierten bis siebten Bitte ethisch ausgerichtet. Auf die Dauer fatal und durchaus auch in der Wirkungsgeschichte des Liedes Rommels liegend war aber dann das u. a. George Bernanos (1888–1948) zugeschriebene, meist aber als Gebet anonym überlieferte und zu jener Zeit populäre Zitat „Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit zu tun.“ Dieser problematischen Wirkung entgeht Rommels Lied, wenn es – wieder, wie seine ursprüngliche Überschrift nahelegt – in den Kontext konkreter Fürbitten zurückverlegt wird. Heute ist außerdem daran zu erinnern, dass auch das Gebet ein Handeln des Christen ist. In Agendenkommissionen werden Fürbitten, die mit „Lass uns“ beginnen, augenzwinkernd gern als „Lassiv“ bezeichnet. Sie enthalten in der Tat häufig eine Doppelbotschaft, denn in der Sprechrichtung gehen sie zwar an Gott, sind aber in vielen Fällen ein versteckter ethischer Appell an die im Gebet versammelte Gemeinde. Dieser Vorwurf trifft Rommels Lied und insbesondere die Kopfstrophe wegen seiner differenzierten Ausdrucksweise und seiner ursprünglichen liturgischen Einbindung nur bedingt. Rommel benennt als Handlungsantrieb den Mut, voll Glauben, also 4 Hermann Stern war 1973 der erste, dem in Württemberg der Titel „Landeskirchenmusikdirektor“ verliehen wurde. 5 Vgl. Rommel, Kirche, 67. 6 Dietrich Meyer (Hg): Das neue Lied im Evangelischen Gesangbuch. Lieddichter und Komponisten berichten, Düsseldorf 21997, 221. 7 Vgl. das von Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky initiierte und im Essener Katholikentag von 1968 wurzelnde „Politische Nachtgebet“ in der Kölner Antoniterkirche; vgl. Michael Meyer-Blanck: Das Gebet, München 2019, 270. 8 Vgl. damals Christian Fürchtegott Gellerts „So jemand spricht, ich liebe Gott“ (EG 412) und heute Eckart Bückens „Gott gab uns Hände, damit wir handeln“ (EG 432,3).
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einen Mut, der sich nicht auf sich selbst, sondern auf Gott verlässt. Nicht im eigenen, sondern in Gottes Namen und „um Gottes Willen“ soll geschehen, was geschehen soll. Das erinnert an den mit „Tat“ überschriebenen Abschnitt aus Bonhoeffers „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“: Nicht das Beliebige, das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen, und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.9
Die Bitte speziell um Mut spielt auch in zwei anderen, in diversen EG-Regionalteilen enthaltenen Liedern Rommels eine Rolle: „Herr, gib uns Mut zum Hören“ und „Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen“. Hier dürfte Paul Tillich im Hintergrund stehen, für den Mut „ein Ausdruck des Glaubens“10 ist. Das Stichwort Glauben legt die Spur zur Trias aus 1. Kor 13,13, die Rommel motivierte, noch weitere Strophen zu schreiben. Dabei wird die ursprüngliche Strophe semantisch nur geringfügig, aber in der Linie von „Glaube – Liebe – Hoffnung“ (1. Kor 13,13) inhaltsschwer variiert. Der Stropheneingang bleibt jeweils gleich, ebenso die Bitte Gib uns den Mut, die dann in den Strophen aufgefächert wird als Bitte um Mut, voll Liebe und um Mut, voll Hoffnung. Auch die Strophenschlüsse gehen jeweils eigene Wege. Rommel berichtet,11 zur Verbindung von Liebe und Wahrheit am Ende der 2. Strophe habe ihn Eph 4,15 inspiriert: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe“. Bleibt angesichts der Formulierung die Wahrheit zu leben die Frage, ob leben ein transitives Verb ist, das ein Objekt braucht, auch wenn es heute im – auch kirchlichen – Sprachgebrauch häufig so verwendet wird.12 Am Ende der 3. Strophe geht mit dem Stichwort Hoffnung der Blick in eine offene Zukunft, in der es immer möglich ist, wieder neu zu beginnen, womit auch immer. Die Konkretion entsteht im individuellen Lebenskontext der Singenden oder in einer Fürbitte, die durch das Lied gegliedert wird. Rommel berichtet aus kollegialer Rückmeldung,13 sein Lied werde als durchaus konkret empfunden, wenn in den Strophenschlüssen davon die Rede ist, die Wahrheit zu leben, von vorn zu beginnen, zu Menschen zu werden, und gleichzeitig so allgemein, dass es praktisch überall passe. Rommel hatte
9 Dietrich Bonhoeffer, Stationen auf dem Wege zur Freiheit, in: Ders: Widerstand und Ergebung (Werke Bd. 8), Gütersloh 2015, 571. 10 Paul Tillich: Der Mut zum Sein, Stuttgart 31958, 124; vgl. Ulrich H. J. Körtner: Dogmatik, Leipzig 2020, 131–133. 11 Meyer, Lied, 221. 12 Wie gewaltsam der transitive Gebrauch des Verbs ist, zeigt der zeitweilige Slogan der Autofirma „Opel“: „Wir leben Autos.“ 13 Meyer, Lied, 221.
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nach den drei ersten Strophen offenkundig das Bedürfnis, das Lied noch mit einer 4. Strophe und im Rückgriff auf Strophe 1 mit dem Stichwort Glauben abzurunden und es mit der Bitte um eine Menschwerdung des Menschen auslaufen zu lassen. Das erinnert an einen Aphorismus des früheren Limburger Bischofs Franz Kamp haus (*1932): „Mach’s wie Gott: werde Mensch.“14 Erstmals und von Anfang an vierstrophig gedruckt wurde das Lied im vom Bad Cannstatter Jugendpfarramt bzw. von Rommel selbst herausgegebenen Liederheft „Lieder von heute. Lieder aus modernen Gottesdiensten der Jugend“ aus dem Jahr 1964.15 In dieser Gestalt fand es rasche Verbreitung, vollends, als Dieter Trautwein es in das 1968 beim Burckhardthaus-Verlag16 herausgekommene Liederheft „Gott schenkt Freiheit. Neue Lieder im Gottesdienst“ aufgenommen hatte. In einigen wenigen der zahlreichen Liederbücher, die Rommels Lied enthalten, ist die 4. Strophe ausgelassen, z. B. im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche von 2002 (Nr. 573). Man begnügt sich mit drei Strophen und bleibt bei der Logik der paulinischen Trias aus 1. Kor 13. In Württemberg war das Lied von 1969 bis 2015 in allen Ausgaben des Jugendliederbuchs enthalten.17 Viele andere Liederbücher enthalten es, auffallend wenig die Kirchentagsliederbücher. In den beiden Liederheften „Neue Lieder“ und „Neue Lieder II“, die die württembergische Kirchenleitung 1971 und 1983 zwischen dem Evangelischen Kirchengesangbuch von 1953 und dem Evangelischen Gesangbuch von 1996 herausgab, stand Rommels Lied.18 Im Evangelischen Gesangbuch wurde das Lied in vier Regionalteile aufgenommen, den bayrisch-thüringischen, den beider hessischen Landeskirchen, jenen der Nordkirche und den des Westverbundes, nicht aber in den württembergischen, was Rommel enttäuschte. Dafür avancierte es in der 2018 in der EKD19 eingeführten neuen Perikopenordnung zu einem der Wochenlieder am 8. Sonntag nach Trinitatis. Da es bisher kein Stammteil-Lied war, findet es sich nun im eigens zur neuen Perikopenordnung bzw. der Reihe der neuen Wochenlieder von der EKD herausgegebenen Liederheft (EG.E). Der Klangraum des 8. Sonntags nach Trinitatis war in der alten Perikopenordnung mit dem Leitbild aus der Berneuchener Bewegung mit „Früchte des Geistes“ 14 Vgl. Franz Kamphaus, Mach’s wie Gott, werde Mensch. Ein Lesebuch zum Glauben, hg. von Regina Groot Bramel, Freiburg 2019. 15 Mir lag eine Ausgabe vor, die im Vorwort den Vermerk trägt „Heft 1–3. Die Hefte 1, 2 und 3 sind auch einzeln zu beziehen durch …“, woraufhin Anschrift und Telefonnummer des damaligen Bad Cannstatter Jugendwerks folgen. 16 Heute in der Verlagsgemeinschaft Burckhardthaus-Laetare Verlag GmbH, Offenbach / Main. 17 Das aktuelle „Kommt und singt“ – Liederbuch für die Jugend, Gütersloh 2015, enthält es nicht mehr. 18 Neue Lieder – ein Angebot für die Gemeinde, Neuhausen-Stuttgart 1971, Nr. 75; Neue Lieder – ein Angebot für die Gemeinden II, Neuhausen-Stuttgart 1983, Nr. 775. 19 In Rommels württembergischer Landeskirche ein Jahr später.
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überschrieben, in der neuen heißt es nun „Kinder des Lichts“.20 Hier spielen zusammen der Wochenspruch „Wandelt als Kinder des Lichts“ (Eph 5,8–9) und als Leseund Predigttexte die Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,1–5), die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1–7), der Leib als Tempel des Heiligen Geistes (1. Kor 6,9–20), das Opfer der armen Witwe (Mk 12,41–44), die Christen als Salz der Erde und Licht der Welt (Mt 5,13–16) und schließlich die ausführliche Aufforderung, als Kinder des Lichts zu leben (Eph 5,8–14), abgerundet durch die beiden Wochenlieder „Sonne der Gerechtigkeit“ (EG 263) und Lass uns in deinem Namen, Herr (EG.E 25). Rommels Lied repräsentiert in diesem Klangraum den ethischen Akzent des Sonntags: das Licht der Christenmenschen leuchtet, wenn sie die nötigen Schritte, d. h. den Gotteswillen tun (vgl. Mt 5,16), auch wenn das Lied im Modus der Bitte bleibt. Die häufig Tonwiederholungen enthaltende, sehr leicht singbare Melodie schreitet den Oktavraum der d-Moll-Leiter in durchweg diatonischen Schritten aus, mit einem einzigen Terzsprung abwärts am Ende der 3. Zeile. Zwar macht die Moll-Tonart im Klang-Gewand der Melodie mit den ausgesprochenen Bitten auf ihre Weise Ernst, doch der schwingende 6/4-Takt schafft mit seiner Leichtigkeit und der sanft angeschärften Rhythmik einen guten Ausgleich. Bernhard Leube
20 Vgl. Dörte Maria Packeiser u. a. (Hg): Lied trifft Text. Gottesdienstgestaltung mit dem Evangelischen Gesangbuch, Stuttgart 82020, 211.
Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten (EG.E 26)
Text und Melodie: Roger Trunk (1930–2013) T / M: 1999, gleichzeitig in Deutsch und Französisch Entstehung: Liturgische Einordnung: 17. Sonntag nach Trinitatis 1. Avec le Christ dépasser les frontières, Par son esprit supprimer les barrières. O Seigneur Dieu, accorde-nous ce don. Pour ton amour nous te glorifions. Refrain: Alléluia! Gloire au Seigneur! Alléluia! Gloire au Seigneur! Alléluia! Gloire au Seigneur! Alléluia! Gloire au Seigneur! 2. Tu nous créas pour vivre comme des frères En nous aimant, joyeux dans la lumière, Réconciliés, unis par le pardon! Bannis en nous et haine et division! 3. C’est par la croix dressée sur le Calvaire Que le péché est vaincu, o mystère! Dans ta parole et dans ton sacrement Notre unité trouve son fondement. 4. Ressuscité, tu appelles à la vie Tous les humains que ton amour convie A travailler pour un monde meilleur, Rempli de paix, de respect, de bonheur. 5. Par ton esprit, donne-nous la sagesse, Inspire nous, Dieu, selon ta promesse! Que les croyants fassent ta volonté Et soient témoins de ta fidélité. 6. Accorde-nous la grâce du partage Sans distinguer les races ni les âges. Nourris nos cœurs du pain de la vraie vie; De la mort même nous sommes affranchis.
Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten (EG.E 26)
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Grenzen überschreiten Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten / Avec le Christ dépasser les frontières eignet sich auch als treffende Überschrift für biografische Notizen zu Roger Trunk (1930–2013),1 der den deutschen und französischen Text sowie die Melodie geschaffen hat. Roger Trunk wurde am 17. April 1930 in Fortschwihr (Elsass) geboren. Der kleine Ort, der heute zum französischen Departement Haut-Rhin gehört, liegt keine zehn Kilometer vom Rhein und damit der Grenze zu Deutschland entfernt. Von 1871 bis zum 11. November 1918, dem Ende des Ersten Weltkriegs, verlief die Grenze anders und Fortschwihr gehörte zum deutschen Kaiserreich, im 2. Weltkrieg wurde das Elsass vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt. Roger Trunk war des Französischen und des Deutschen mächtig und konnte leichtfüßig über die Grenze zwischen beiden Sprachen wechseln. Von klein auf war Musik seine Leidenschaft. Neben Klavier spielte er schon früh auch Orgel und gestaltete, seit er dreizehn war, Gottesdienste in Fortschwihr und Umgebung. Gleichzeitig spürte er schon als Jugendlicher eine Berufung zum Pfarrer. Ein geistlicher Freund und Berater riet ihm, beides zu verfolgen, und so studierte er parallel „théologie protestante“ in Strasbourg und Genf und Musik am Conservatoire de Strasbourg. Zwischen den beiden Fächern zeichnete sich für ihn keine wirkliche Grenze ab, denn im Sinne Martin Luthers dienten Theologie und Musik für ihn gemeinsam der Verkündigung und der Ehre Gottes. Konsequent führte er in seinem Liedschaffen theologische und musikalische Begabung und Ausbildung zusammen. Wichtig war ihm, mit seinem Werk Grenzen zwischen Generationen aufzulösen und Lieder für den Gottesdienst zu schaffen, die Menschen unterschiedlichen Alters im Singen zusammenführten. Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten / Avec le Christ dépasser les frontières geht damit auf einen Dichter und Musiker zurück, der über Sensibilität für und Erfahrung und Kompetenz mit Grenzen und ihrem Überschreiten verfügte. Roger Trunk hat als Pfarrer in Mittelwihr, in Colmar, wo er gleichzeitig als Gefängnisseelsorger tätig war, in Mulhouse, in Rauwiller und schließlich, bis zu seiner Pensionierung 1997, in der Gemeinde St. Sauveur de Cronenbourg (Strasbourg) gewirkt. In jeder Gemeinde gründete er einen Chor oder führte ihn engagiert fort. Für die protestantische Musiklandschaft hat er auf nationaler und europäischer Ebene Verantwortung übernommen. So war er viele Jahre im Vorstand der „Conférence Européenne pour la Musique d’Eglise Protestante“ (CEMEP). Nach seiner Pensionierung als Pfarrer hat er bis kurz vor seinem Tod als Organist gewirkt. Im Kreis der fünf Kinder von Roger Trunk ist Resonanz auf seinen musikalischen Impuls über die Grenze seines Todes hinaus zu entdecken. Seine Tochter Fréderique, Musikerin, komponierte ein „Requiem à la mémoire de mon père“. Ein erstes
1 Für Auskünfte zur Biografie und zum Liedschaffen von Roger Trunk danke ich herzlich seiner Witwe Martha Trunk und seiner Tochter Fréderique Trunk.
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Stück daraus entstand als Bearbeitung eines Werkes von Roger Trunk selbst für seine Trauerfeier, wo es mit Beteiligung von Bruder und Schwester musiziert wurde. Das ganze Requiem wurde 2015 in der Kirche Saint Sauveur, in der Roger Trunk so viele Jahre als Pfarrer und auch als Musiker gewirkt hatte, uraufgeführt.2
Grenzen gestalten Trunks Lied Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten / Avec le Christ dépasser les frontières liest sich wie ein Gegenentwurf in europäischer Perspektive zu Ernst Moritz Arndts 1813 formulierter Ansage: „Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze“3. Mit seinem Buchtitel machte Arndt einen deutsch-nationalistischen Anspruch auf die französischen Gebiete westlich des Rheins geltend. Der Rhein war auf der Strecke, auf der er heute zwischen Frankreich und Deutschland fließt, mehrfach Frontlinie. Er markiert noch heute die inzwischen friedliche Grenze zwischen beiden Staaten. Roger Trunk schrieb und komponierte sein Lied für den ersten ökumenischen grenzüberschreitenden Kirchentag in Strasbourg (Frankreich) und Kehl (Deutschland), der im Jahr 2000 zu beiden Seiten des Rheins und auf seinen Brücken stattfand. Das Lied setzt einen Ansatz fort, den Trunk schon 1994 mit dem Lied „Zwei Ufer – eine Quelle“ / „Deux Rives – une source“ für ein erstes grenzüberschreitendes Treffen von Gemeinden aus Kehl und Straßburg verfasst und komponiert hatte. Inzwischen hat sich aus den passageren Projekten an beiden Ufern des Rheins eine dauerhafte, feste Struktur entwickelt. Seit 2017 gestalten evangelische und katholische Gemeinden an beiden Rheinufern den neuen Stadtteil „Port du Rhin“ mit, in dem Kehl und Strasbourg grenzüberschreitend näher zusammenwachsen. Die Evangelische Landeskirche in Baden und die Union evangelischer Kirchen von Elsass und Lothringen (UEPAL) stellen jeweils eine halbe Pfarrstelle für die sich entwickelnde Gemeinde zur Verfügung. Zentrum der zweisprachigen Angebote ist die „Chapelle de la rencontre“ / „Kapelle der Begegnung“, die schon 1948 als Ort für Schritte der Versöhnung von Deutschland und Frankreich gebaut wurde und die seit 2021 mit vereinten Kräften renoviert wird.4 Das gezielte Liedschaffen von Roger Trunk ist zugleich Frucht und inspirierender Motor dieser Grenzen überwindenden, versöhnenden Bewegung. In der entstehenden revidierten Fassung des EG sollte Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten / Avec le Christ dépasser les frontières unbedingt in deutscher und französischer Sprache zur Verfügung gestellt werden, um seinen Puls in ganzer Kraft aufnehmen zu können. 2 http://frederiquemusic.com/projets/requiem/ 3 Ernst Moritz Arndt: Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze, Leipzig 1813. 4 https://www.evangelische-ortenau.de/oekumene-deutsch-franzoesisch/oekumenischeskirchenprojekt-chapelle-de-la-rencontre-strasbourg-kehl/
Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten (EG.E 26)
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Grenzen verwandeln Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten / Avec le Christ dépasser les frontières hat in beiden Sprachen sechs Strophen, die sich in ihrer inhaltlichen Linie sehr nah sind, auch wenn der Text jeweils keine unmittelbare Übersetzung darstellt. Die Strophen sind mit einem Refrain verbunden, der eine dritte Sprache, Hebräisch, ins Spiel bringt: Halleluja bedeutet das, was jeweils in Deutsch oder Französisch danach wiederholt wird: Lobet den Herrn / Gloire au Seigneur. Dieser Ruf wird mit dem Refrain viermal gesungen. Die sechs Strophen lassen sich inhaltlich und sprachlich in drei Zweiergruppen gliedern. Das erste Paar und das dritte Paar sind überwiegend bittend als Gebetsansprache formuliert. Strophen 3 und 4 stellen indikativisch Tod und Auferstehung Jesu Christi als Grundlage für die davor und danach formulierten Bitten dar. Strophe 6 nimmt in den letzten beiden Zeilen die Hauptaffirmationen von Strophen 3 und 4 wieder auf (Verbundenheit in der Abendmahlsgemeinschaft und Auferstehung). Die ersten beiden Strophen führen mit ihren Bitten gleichzeitig in die Nöte ein, die Grenzen bedeuten können: Engherzigkeit, Entzweiung, Hass und Gewalt, und stellen mit Weitherzigkeit, Frieden, Freude und Versöhnung ein Gegenbild an den Horizont. Die Verbindung mit Jesus Christus wird als Weg aus der Not hin zum Horizont der Verheißung eingeführt: mit dir, o Herr. Dass mit o Herr Jesus Christus angesprochen ist, wird in der französischen Fassung sofort (Avec le Christ), in der deutschen spätestens mit dem Einstieg in die 3. Strophe und dem Rekurs auf das Geschehen am Kreuz deutlich. Die mittleren beiden Strophen zeichnen in der Bewegung vom Kreuzestod zur österlichen Auferstehung das Fundament / fondement eines Glaubens, der nach dem Sieg an der ultimativen Grenze zwischen Leben und Tod Grenzen überschreiten kann. Für den Weg, der im Licht des Ostermorgens aufscheint, wird Gott in den letzten beiden Strophen um Wegzehrung gebeten. Um Grenzen zu überschreiten, braucht es Weisheit und Kraft von Gott her, einen starken Glauben, Liebe, Hoffnung, Mut und die Bereitschaft zu teilen. Die Strophen sind sowohl in der deutschen als auch in der französischen Version jeweils im Paarreim gestaltet (AABB) und jambisch profiliert. Das erste Verspaar endet unbetont, das zweite betont. Die metrische Gestalt wird durch die schwingende und „mitreißende“ Melodieführung5 unterstützt. Jede Textzeile hat den gleichen Rhythmus: Nach drei AuftaktAchteln steht mit der punktierten Viertelnote der erste musikalische und textliche Haltepunkt, gefolgt von weiteren deklamierenden Achteln. Einen besonderen Akzent setzt die Melodie auf die jeweils letzten Worte in der 3. und 4. Zeile der Strophe, z. B. die Gnad, die so mit der Tat als Antwort und Konsequenz, zu der aufgerufen wird, eng verbunden ist. Der Refrain bringt eine neue Variante. Das viermalige
5 Dieser Absatz zur Melodie wurde von Beate Besser mit verfasst.
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Halleluja beginnt ebenfalls mit drei Auftaktachteln, die jedoch nicht schrittweise, sondern im Terzfall geführt werden. Die jeweilige Antwort Lobet den Herrn / Gloire au Seigneur erfolgt synkopisch – ein neues Rhythmus-Element. Zudem bewegt sich der Refrain im oberen Teil des Ambitus, während die Strophen eine ganze Oktave um den Grundton durchschreiten. Die Verortung des Liedes am 17. Sonntag nach Trinitatis überzeugt durch klar erkennbare Bezüge zu den Texten des Sonntags. Jesaja 49,6 zum Beispiel ruft eine Entgrenzung „bis an die Enden der Erde“ auf. Matthäus 15,21–28 zeigt die Hindernisse, Grenzen überwindende Kraft des Glaubens und des Gottessohnes. Und Galater 3,26–29 könnte in eine 7. Strophe des Liedes umgedichtet werden. Für Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten / Avec le Christ dépasser les frontières legen sich auch andere Zeiten und Anlässe nahe. So ist es zum Beispiel in seiner Mitte auch ein Osterlied, von seiner Genese her ein Lied zur Völkerverständigung, und es ruft Aspekte ökumenischer Verbundenheit auf. Entscheidend ist der Auftakt Mit dir, o Herr / Avec le Christ als Vorzeichen für die innere Haltung an und den Umgang mit Grenzen. Die Weise, in der Jesus Christus mit den Grenzen anderer Menschen umgeht, zeugt sowohl von der Akzeptanz von Kraftgrenzen (Mt 11,30) als auch, in der Aufforderung zur Nachfolge, von seiner Ermunterung, Grenzen zu überschreiten. In keiner Weise legitimiert werden Grenzverletzungen. Grenzen können eine positive, schützende Funktion haben. Manche Grenzen sollten auf keinen Fall und nie überschritten werden, andere fordern noch Geduld. Die sicherste Grenze für einen Menschen ist sein Tod. An der Grenze zwischen Leben und Tod steht aus christlicher Sicht Jesus Christus. Er begegnet nicht als Grenzwächter, der die Einreise kontrolliert und Zollgrenzen nachhält, sondern als einer, der selbst existentielle Grenzerfahrungen gemacht hat und uns in unseren Grenzen begegnen will. Von der Verwandlung der Grenze Tod her in etwas Lebendiges, durch dessen Poren das Licht der Auferstehung schimmert, sind unsere Grenzen zu deuten. Mit dir, o Herr / Avec le Christ zielt auf eine Grenzpolitik, die die Grenze selbst verwandelt. Wibke Janssen
Die Heiligen, uns weit voran (EG.E 27)
Text: Melodie: Vorlage:
Jürgen Henkys (1929–2015) Willem Vogel (1920–2010) Met alle heiligen – De heiligen, ons voorgegaan T: Muus Jacobse (1909–1972) T / M: 1963 Entstehung: deutsche Übertragung: 1995 Liturgische Einordnung: Apostel und Heilige
Biografische Bemerkungen Klaas Hanzen Heeroma alias Muus Jacobse1 wurde 1909 auf Terschelling geboren und starb 1972 in Groningen. Er war Sprachwissenschaftler und Hochschullehrer in Djakarta (Indonesien) und Groningen (Niederlande). Als einer der Autoren, die bei der Neubereimung des Genfer Psalters mitwirkten, und als Kirchenlieddichter ist er im „Liedboek voor de kerken“ von 1973 und im „Liedboek 2013“ mit zahlreichen Liedtexten vertreten. Für seine 31 Psalmenübertragungen im Gesangbuch von 1973 zeichnet er mit seinem Klarnamen; seine 36 Lieder im selben Gesangbuch (davon sieben Übersetzungen aus anderen Sprachen) firmieren unter Heeromas Künstlernamen Muus Jacobse. Das Gesangbuch von 2013 enthält 45 Liedtexte von ihm. Willem Vogel2 wurde 1920 in Amsterdam geboren und starb 2010 in Amstelveen. Er war Komponist, Kantor und Organist unter anderem in der Amsterdamer Oude Kerk. Mit dem Pfarrer und Dichter Sytze de Vries (*1945), 1988–2006 Prediger an der Oude Kerk, entstand eine außerordentlich produktive Zusammenarbeit; viele der von Willem Vogel vertonten Liedtexte aus der Feder von Sytze de Vries wurden in das „Liedboek 2013“ aufgenommen, insgesamt 91 Melodien von Willem Vogel. Im „Liedboek voor de kerken“ (1973) stehen 20 Melodien von Willem Vogel. Jürgen Henkys wurde 1929 in Heiligenkreutz (Ostpreußen) geboren und starb 2015 in Berlin. Er war evangelischer Theologe und Pfarrer, Hymnologe und Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin. Henkys über-
1 Vgl. https://www.liedboekcompendium.nl/persoon/36-muus-jacobse, https://nl.wikipedia.org/ wiki/Klaas_Hanzen_Heeroma, http://www.dbnl.org/auteurs/auteur.php?id=heer023. 2 Vgl. https://www.liedboekcompendium.nl/persoon/33-willem-vogel, https://nl.wikipedia.org/ wiki/Willem_Vogel_(1920-2010).
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trug insgesamt ca. 175 überwiegend neue Kirchenlieder aus den Niederlanden, Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland, Island, Lettland, Frankreich, England, USA und Kanada übersetzend und nachdichtend ins Deutsche.3 Das „Evangelische Gesangbuch“ (EG) von 1993 enthält in seinem Stammteil elf Lieder von Henkys, weitere Lieder finden sich in den Regionalteilen, landeskirchlichen Beiheften und vielen anderen Gesangbüchern, darunter auch im katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ von 2013 (vier Lieder).
Historische Verortung: Entstehungssituation von Text und Melodie, Aufnahme in das EG.E In einem kurzen Kommentar zu seinem Liedtext4 berichtet Muus Jacobse, dass nach Fertigstellung eines frühen Entwurfs zum neuen niederländischen Gesangbuch das Fehlen eines Heiligenliedes auffiel. Daraufhin habe er sich sofort ans Werk gemacht. Die starke Anlehnung seines Liedes an Hebräer 11 sei auch mit Hebräer 11,8, dem Trauspruch von Jacobse, zu erklären, der ihn sein Leben lang begleitet habe: „Durch den Glauben ward gehorsam Abraham, da er berufen ward, auszugehen in das Land, das er ererben sollte; und ging aus und wusste nicht wo er hinkäme“ (Luther 1912). An das genaue Entstehungsjahr seines Textes kann Jacobse sich nicht erinnern; es muss aber spätestens 1963 gewesen sein. Willem Vogel komponierte 1963 die Melodie zum Text von Muus Jacobse.5 Das Lied mit Text und Melodie erschien erstmals in einer Ausgabe von „De adem van het jaar – zomertijd“ (Amsterdam 1964), bevor es 1973 ins „Liedboek voor de kerken“ (Nr. 103) und in weitere niederländische Liedsammlungen aufgenommen wurde. Im „Liedboek 2013“ steht es unter der Nummer 728 in der Rubrik „Allerheiligen“. Und unter der Nummer 741 finden wir das Lied „Een engel roept de oude man“ (Ein Engel ruft den alten Mann) – ein Lied über Johannes den Täufer, das ebenfalls nach Vogels Melodie zu Die Heiligen gesungen wird.6 Jürgen Henkys hat 1995 eine Übertragung des niederländischen Textes angefertigt und diese anlässlich des 7. Interdisziplinären ökumenischen Seminars zum Kirchenlied 2000 im Kloster Kirchberg mit dem Thema „Das ‚Alte Testament‘ und
3 Vgl. die unvollständige Gesamtliste seiner Liedübertragungen auf der Gedenkseite für Jürgen und Erika Henkys: https://juergenhenkys.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/juergenhenkys.ekbo.de/ Texte/JH_Lieder_aus_anderen_Sprachen.pdf. 4 https://www.liedboekcompendium.nl/lied/728-de-heiligen-ons-voorgegaan-6_8_8. 5 Auskunft per E-Mail von Pieter Endedijk, verantwortlicher Redakteur des digitalen Kompendiums zum niederländischen Liedboek 2013 www.liedboekcompendium.nl. 6 https://www.liedboekcompendium.nl/lied/741-een-engel-roept-de-oude-man-7_0_1.
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die Gesänge der Kirche“ überarbeitet. 2003 wurde Henkys’ deutsche Übertragung der drei Strophen von Muus Jacobse erstmals in der Sammlung „Stimme, die Stein zerbricht“7 gedruckt. Für den deutschen evangelischen Bereich ist als Anlass für die Aufnahme des Liedes in das Ergänzungsheft des EG die Perikopenordnung von 2018 zu nennen, verbunden mit der Aufnahme der beiden Heiligengedenktage am 11. November (Martinstag) und 6. Dezember (Nikolaustag) in den evangelischen Festtagskalender.
Form und Inhalt Henkys’ Übertragung hält sich mit wenigen Ausnahmen formal und inhaltlich streng an die niederländische Vorlage. Das Lied von Muus Jacobse wurde in das „Liedboek voor de Kerken“ von 1973 in der Rubrik bijbelliederen / Bibellieder aufgenommen, und ihm ist der Hinweis auf das 11. Kapitel des Hebräerbriefs vorangestellt. In der niederländischen Fassung bestehen die ersten beiden Strophen aus zwei Sätzen zu jeweils vier Zeilen, denen sich ein gleichbleibender Refrain, ebenfalls zu vier Zeilen, anschließt. Diese Anordnung von drei mal vier Zeilen deutet auf eine formale Dreiteiligkeit hin, die sich sowohl durch die inhaltliche wie auch durch die Melodieanalyse bestätigen lässt. In der deutschen Übertragung konnte Henkys das Bauprinzip der Verteilung von zwei Sätzen auf je vier Zeilen für die 1. Strophe uneingeschränkt übernehmen. Die 3. und letzte Strophe enthält in der niederländischen Fassung nur einen einzigen Satz, der sich über die acht Strophenzeilen erstreckt. In der deutschen Fassung gibt es einen kurzen, über zwei Zeilen gehenden und einen langen, über die restlichen sechs Zeilen reichenden Satz. Wesentlich für die niederländische und die deutsche Fassung ist das syntaktische Zusammenwachsen der beiden vierzeiligen Blöcke in der letzten Strophe. Die inhaltliche Zweiteilung innerhalb der beiden ersten Strophen beruht auf der Gegenüberstellung von Lebenswerk und Gottvertrauen der Heiligen. Eine erzählende Stimme berichtet in der 1. Strophenhälfte von Niederlagen (nichts erworben, Str. 1) und Unsicherheit (wohin, wann, Str. 2). In der jeweils 2. Hälfte geht es dagegen um Hoffnung (Gottes Hand, die sie bis dort geleitet, Str.1), Zuversicht und Glaubensgewissheit hinsichtlich eines weiteren Zusammengehens mit ihrem Gott zu einem sicheren Ziel (die Stadt für sie bereitet). Ein Lied also über den Glauben, über den Glauben der Heiligen und über unseren Glauben. Ein Lied, das dazu anregt, über die Heiligen, über Heiligkeit und die
7 Jürgen Henkys: Stimme, die Stein zerbricht. Geistliche Lieder aus benachbarten Sprachen ausgewählt und übertragen, München 2003, Nr. 24.
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Beziehung zwischen uns und den Heiligen nachzudenken.8 Zunächst geht es im Lied aber um die Heiligen vor unserer Zeit. „Wir“ kommen nur ganz beiläufig in der ersten Liedzeile vor: uns sind die Heiligen vorangegangen. In der berichtenden Vergangenheitsform erzählen die beiden ersten Strophen von einem Leben der Heiligen, in dem sie – hier auf der Erde – nichts erworben, d. h. nichts zuwege gebracht haben, am Ende keine großartigen Erfolge vorweisen konnten und nicht angekommen sind, weder mit dem, was sie mitbrachten und anzubieten hatten, noch als anerkannte oder gar geschätzte Mitmenschen. Noch im Sterben waren und blieben die Heiligen Fremdlinge. So enden die ersten vier Liedzeilen der 1. Strophe. Die 2. Strophe verweist auf Abraham, das Vorbild der Heiligen. Obwohl er nicht wusste, wohin ihn Gott führen wollte und wann er ankommen würde, folgte Abraham Gottes Ruf. Das taten die Heiligen auch. Wie Abraham starben auch sie, ohne endgültig angekommen zu sein. Das klingt nach einem vergeblichen Leben. Aber die beiden Wörtchen doch (Str. 1) und nur (Str. 2) stellen sich einer solchen Deutung entgegen, indem sie jeweils in der zweiten Strophenhälfte eine neue Sichtweise auf das Leben der Heiligen eröffnen. Die Heiligen glaubten, dass Gott sie bis dort, also bis ans Ende ihrer Bahn, geleitet hatte (Str. 1); ja, sie wussten (Str. 2), dass Gott sich ihrer nicht geschämt hat, dass ihr Lebensweg noch immer mit Gottes Weg übereinstimmt. Und sie glaubten und wussten, dass das Ende ihrer Lebensbahn noch nicht das Ziel war. Als Ziel dürfen die von Gott bereitete Stadt und der Sehnsuchtsort eines besseren Vaterlands (Str. 1) gelten, ebenso der eschatologische Ausblick in Strophe 3, dass wir, eins mit dem heilgen Wandervolk, Gottes Liebe sehen können. Die 3. Strophe rückt von dem Muster der beiden Vorgängerstrophen ab, das eher klägliche irdische Leben der Heiligen mit ihrem unbeirrbaren Glauben zu konfrontieren. Nun geht es um die Gegenwart und um das Kommende, das berichtende Präteritum wird von einem futurischen Präsens abgelöst. Der irdische Dienst der Heiligen ist durch Freikauf (Offb 14,3) beendet, und nun ist auch von ihren Werken die Rede (Offb 14,13). Die müssen nicht unbedingt im Widerspruch zu der lakonischen Feststellung in Strophe 1 stehen, die Heiligen hätten hier nichts erworben. Personen, als Heilige anerkannt, haben Werke vollbracht, das ist bekannt. Aber damit und dafür haben sie nach biblischem (und evangelischem) Verständnis eben doch nichts erworben, sie haben sich das Himmelreich nicht erarbeiten können. Aber ihre Glaubenskraft und vielleicht auch ihr Versagen war und ist immer noch vorbildlich, tröstlich und glaubenstärkend. Noch einmal taucht das doch aus Strophe 1 auf, hier, um das Gestorbensein der Heiligen, von dem in beiden Vorgängerstrophen die Rede ist, zu widerlegen: Die Heiligen sprechen, und sie bezeugen (Jer 6,10) ihren Gott bis
8 Für eine Erörterung über Unterschiede und Gemeinsamkeiten im katholischen und evangelischen Verständnis von Heiligen ist hier kein Platz, aber es soll doch exemplarisch auf einschlägige Bibelstellen zu Heiligen wie 1. Kor 6,11, Eph 2,19–20 oder Hebr 12,14 verwiesen werden sowie auf das Augsburger Bekenntnis, Art. 21: Vom Dienst der Heiligen (EG 808).
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heute, durch ihr irdisches Leben bezeugen sie, wie kraftvoll der Glaube sein kann. In der 3. Strophe sind alle Unsicherheiten und Vergeblichkeiten überwunden. Auch um uns geht es jetzt in Strophe 3, die wir in Strophe 1 nur zu Beginn und jedes Mal wieder im Refrain vorkamen. Nun wird explizit zusammengeführt, was zusammengehört und was im Refrain schon von Beginn der 1. Strophe an vereint ist: Wir und die Heiligen. Wir werden mit einbezogen in den Glauben, in die Hoffnung und Geduld der Heiligen. Sie laden uns in ihre Gemeinschaft ein, dass wir … den Weg zu Ende gehen. Wir Heutigen gehören zu der Wolke der Zeugen (Str. 3 niederländische Fassung), zum heilgen Wandervolk (Str. 3). Das zeigen die kleinen, aber bedeutsamen Änderungen im letzten Refrain noch deutlicher. Während der Beginn des Liedes die Differenz zwischen den Heiligen und uns benennt (uns weit voran), sind wir im Refrain singend mit ihnen verbunden. Die beiden Rufe, den Namen Gottes und seine sichere Wegbegleitung der Heiligen zu preisen, werden abgeschlossen durch die Aufforderung, gemeinsam mit allen Heiligen in diese Lob- und Dankrufe einzustimmen und zusammen zu singen. Für eine solche Einladung, die Berührung zwischen Erde und Himmel betend und singend zu erfahren, gibt es in unseren Kirchengesängen und liturgischen Texten (z. B. Glaubensbekenntnis, Vater Unser, Präfationsgebet, Sanctus) viele Beispiele.9 Im Refrain nach der 3. Strophe steigert der Dichter Muus Jacobse unsere Verbindung mit den Heiligen noch einmal, indem er den Lobruf Er ließ sie sicher gehn (Str. 1) in die Gegenwart und uns an die Seite der Heiligen holt: Er lässt uns sicher gehn. Wie schade, dass die Ausrufungszeichen der hymnisch-emphatischen niederländischen Vorlage nicht übernommen worden sind! Bemerkenswert ist die große Nähe der drei Strophen zu Kapitel 11 des Hebräerbriefs. Der Vergleich zwischen Bibel- und Liedtext sowie zwischen dem niederländischen Urtext von Muus Jacobse und der sehr gelungenen deutschen Übertragung durch Jürgen Henkys macht das theologische Umfeld des Liedes deutlich. Muus Jacobse benennt als „leitenden Gedanken“ seines Liedes „die Verbundenheit der Gemeinschaft / Gemeinde (nl.: gemeente), die wir sind, mit den Heiligen, die uns vorangegangen sind“10. Bestätigt wird dieser Gedanke durch den letzten Vers von Hebr 11,40, „weil Gott etwas Besseres für uns verheißen hat; denn sie [die Heiligen] sollten nicht ohne uns [!] vollendet werden.“ Alle drei Strophen schließen mit den Worten, die dem Lied seinen Titel gegeben haben: mit allen Heiligen (met alle heiligen). Das ist das eigentliche Motto des Liedes. Außerdem weist Jacobse auf eine frühere Umarbeitung der 3. Strophe mit Hilfe von Jan Wit11 hin, die zur Auf 9 Vgl. u. a. EG 185.1: „voll sind Himmel und Erde seiner Herrlichkeit“; EG 147,3/EG 535: „mit Menschen- und mit Engelzungen“; EG 316: „vereint mit den himmlischen Chören“; EG 153,5: „Der Himmel, der kommt, grüßt schon die Erde, die ist“; EG.E 29: „da berühren sich Himmel und Erde“; vgl. auch EG 319,1. 10 S. „Tekst“ in: https://www.liedboekcompendium.nl/lied/728-de-heiligen-ons-voorgegaan-6_8_8. 11 Jan Wit 1914–1980, https://nl.wikipedia.org/wiki/Jan_Wit, Dichter und Hymnologe.
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nahme der „Wolke der Zeugen“ aus Hebr 12,1 geführt hat. Zeile 5 der 3. Strophe ist eine der wenigen Ausnahmen für eine vom niederländischen Original abweichende Nachdichtung, in der Jürgen Henkys sich gegen die wörtliche Übersetzung der Vorlage12 entschieden hat. Indem Henkys Hoffnung und Geduld aufgreift, übernimmt er den Gedanken der Zuversicht und Hoffnung in Hebr 11,1 und bringt die Hoffnung (hope) aus Jacobses letzter Liedzeile schon in der 5. Zeile unter. Zwei weitere Abweichungen von der niederländischen Vorlage finden sich in den Zeilen 4 und 8 der 2. Strophe. Die Synopse zeigt den niederländischen (nl.) Liedtext, seine deutsche (dt.) Übertragung und die zugehörigen Verse aus dem Hebräerbrief.13 Nl. Vorlage (Muus Jacobse):
Dt. Übertragung (Jürgen Henkys):
Bibelstelle:
1. De heiligen, ons voorgegaan, hebben hier niets verworven, maar zijn aan ’t einde van hun baan als vreemdeling gestorven. Maar zij geloofden dat Gods hand die hen tot daar geleid had in ’t beter, hemels vaderland een stad voor hen bereid had.
Die Heiligen, uns weit voran, haben hier nichts erworben, sie sind am Ende ihrer Bahn als Fremdlinge gestorben. Und glaubten doch, dass Gottes Hand, die sie bis dort geleitet, in einem bessren Vaterland die Stadt für sie bereitet.
Hebr 11,2 Hebr 11,39
Refrain: Geprezen zij zijn naam! Hij deed hen veilig gaan! Komt, zingen wij tesaam met alle heiligen!
Sein Name sei gelobt! Er ließ sie sicher gehn. Kommt, singen wir im Chor mit allen Heiligen.
Hebr 11,9.13 Hebr 11,1 Hebr 11,14.16.40 Hebr 11,10a
Hebr 11,29.38
12 „Dass wir, umgeben von der Wolk’, den Weg zu Ende gehen“ oder „Dass in der Zeugenwolke wir / …“ 13 Im Fettdruck stehen die Personalpronomina uns und wir in beiden Sprachen, graphisch in KoPräsenz mit den Heiligen sichtbar. Einzelne kursiv gedruckten Wörter jeweils in der zweiten RefrainZeile sowie in der letzten Zeile der dritten Strophe zeigen deren Verwandlung (im letzten Refrain) resp. deren Entsprechungen in der jeweiligen anderen Sprache (in der letzten Zeile der dritten Strophe). Der Kursivdruck ganzer Zeilen in Str. 2, Z. 4 und 8, Str. 3, Z. 5 (dt.) hebt Abweichungen vom nl. Original hervor. Die unterstrichenen Zeilen in den Str. 2,4 und 3,5 (nl.) markieren Gedanken, die nicht in der dt. Übertragung berücksichtigt werden konnten. Die Bibelstellen in der rechten Spalte beziehen sich auf die nebenstehenden nl./dt. Zeilen. Die unterstrichenen Bibelverse nehmen Bezug auf die nebenstehenden unterstrichenen Zeilen im nl. Originaltext. Die kursiv gedruckten Bibelstellen beziehen sich auf die kursiv gedruckten Wörter im nl. und dt. Text. Absichtlich wurden nur Bibelstellen aus Hebr 11 und 12 in die Synopse übernommen. Selbstverständlich lassen sich weitere biblische Bezüge nachweisen; einige sind im Fließtext und in den Fußnoten genannt.
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Dt. Übertragung (Jürgen Henkys):
Bibelstelle:
2. Zij trokken uit als Abraham, door God de Heer geroepen zonder te weten waar hij kwam, om ’t land van God te zoeken. Zij zijn gestorven in zijn naam en hebben niets geweten dan dat Hij had gezegd: Ik schaam mij niet uw God te heten.
Sie zogen aus wie Abraham, als er den Ruf vernommen. Der wusste nicht, wohin es ging und wann dort anzukommen. In Gottes Namen starben sie und wussten nur das Eine: Gott schämt sich nicht, ihr Gott zu sein, ihr Weg ist auch der seine.
Hebr 11,8 Hebr 11,8 Hebr 11,8 Hebr 11,14 Hebr 11,13 Hebr 11,1 Hebr 11,16
Refrain: Geprezen zij zijn naam! Hij deed hen veilig gaan! Komt, zingen wij tesaam met alle heiligen!
Sein Name sei gelobt! Er ließ sie sicher gehn. Kommt, singen wir im Chor mit allen Heiligen.
3. Die van de aarde vrijgekocht nu rusten van hun werken, zij spreken en getuigen nog om ons geloof te sterken, dat wij omgeven door de wolk de weg ten einde lopen, één met het heilig trekkend volk in liefde en in hope.
Vom Dienst der Erde freigekauft ruhn sie von ihren Werken. Doch reden sie und zeugen noch den Glauben uns zu stärken, dass wir in Hoffnung und Geduld den Weg zu Ende gehen, eins mit dem heilgen Wandervolk, und Gottes Liebe sehen.
Refrain: Geprezen zij zijn naam! Hij doet ons veilig gaan! Komt, singen wij tesaam met alle heiligen!
Sein Name sei gelobt! Er lässt uns sicher gehn. Kommt, singen wir im Chor mit allen Heiligen.
Hebr 11,29.38
Hebr 4,9–10 Hebr 11,4 Hebr 12,1; 11,1 Hebr 11,40; 12,1 Hebr 11,1
Hebr 11,40
Melodie Die Struktur der Melodie wird am deutlichsten erkennbar, wenn die 12 Zeilen untereinander abgedruckt sind, wie im „Liedboek voor de Kerken“ 1973 geschehen. Hilfreich ist aber auch die Darstellung der Melodie in drei Systemen zu je vier Zeilen; diese Form ermöglicht ebenfalls Einblicke in das reichlich vorhandene melodische Beziehungsgefüge, und sie zeigt die durch Viertelpausen markierte Dreiteiligkeit des Liedes. Aufgrund der ausschließlichen Verwendung leitereigener Töne und ihres Ambitus von einer None (c’-d’’) kann die Tonart der Melodie als reines d-Moll bezeichnet werden. Gleichzeitig besitzt die Melodie mit ihren Kadenzierungen, mit den an die Weisen des Genfer Psalters erinnernden langen Zeilenanfangs- und Schlusstönen (in ihrem 1. Teil, Zeilen 1–4) und in ihrer Beschränkung auf zwei Notenwerte auch
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modale Merkmale; besonders auffallend ist der im Mittelteil dominante Ton a’,14 der quasi die Funktion eines Rezitationstons übernimmt.
Bei näherem Hinsehen lassen sich Beziehungen in Form von Ähnlichkeiten, Variationen und Imitationen, von Antworten und Spiegelungen zwischen einzelnen Zeilen erkennen. Die Zeilenpaare 1 und 3, 2 und 4 spiegeln einander jeweils im Quintabstand. In Zeile 4 endet die Spiegelung nach dem 4. Ton, weil am Zeilenende der Grundton erreicht werden und – noch wichtiger – der tiefste und nur hier verwendete Ton des Liedes, das zweimalige c’, erklingen soll, passend zum Text nicht nur der 1. Strophe. In allen 12 Melodiezeilen des Liedes gibt es Tonwiederholungen; ab Teil 2 sind sie unübersehbar. Ähnlichkeiten zwischen den Zeilenschlüssen in Zeilen 3, 8 und 12 werden durch die gemeinsame Tonfolge f ’ – e’ – d’ bewirkt; Zeile 8 weist darüber hinaus eine große Ähnlichkeit mit Zeile 3 auf. Zeile 6 variiert die Zeile 5, Zeile 10 imitiert fast vollständig Zeile 9. Ein weiteres Merkmal der Melodie zeigt sich in wiederholten Umkreisungen eines bestimmten Tones: In den Zeilen 2 und 11 ist es das a’; in Zeile 4 das d’; in den Zeilen 1, 3 und 8 das f ’. Die Zeilen 4 und 11 könnten als musikalische Kreuzmotive gedeutet werden, Zeile 4 jedenfalls unter Bezugnahme auf den ihr unterlegten Text der 1. Strophe. Willem Vogel hat für den jambischen Text eine syllabische Melodie ohne Taktoder Mensurstriche im Grundschlag von Halben komponiert. Pro Zeile gibt es so viele Töne, wie der Text Silben hat. Abwechselnde vier- und drei-hebige Jamben zu je acht bzw. sieben Silben mit betonten und unbetonten Kadenzen auf der Textebene bilden – mit zwei Ausnahmen – das Versmaß der ersten beiden Teile. Der Refrain im 3. Teil besteht aus vier Zeilen zu je sechs Silben, ebenfalls im jambischen Metrum. Im 1. Liedteil (Z. 1–4) werden entgegen dem jambisch-auftaktigen Metrum die unbetonten Silben zu Beginn jeder Zeile mit Hilfe einer Halben musikalisch gedehnt, die 2. Zählzeit, besser: der 2. Grundschlag fällt dann jambisch korrekt auf die erste betonte Silbe. Am Anfang der Zeile 2 der 1. Strophe haben wir es mit einem dak-
14 Der in der Melodie am häufigsten vorkommende Ton: je 6-mal in den Teilen 1 und 3, 14-mal im Mittelteil.
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tylischen Textmetrum, also mit einer betonten Silbe, gefolgt von zwei unbetonten Silben, zu tun. Diese Abweichung vom jambischen Textmetrum wird musikalisch gut aufgefangen: Die daktylisch korrekte Betonung der ersten Silbe ha- wird durch die melodische Dehnung des ersten Tons unterstützt, so dass die zweite, im Jambus betonte, im Daktylus aber unbetonte Silbe -ben als kurze Viertelnote weich auf der melodischen Bahn in Richtung der Septime b’, dem höchsten Ton in Teil 1, landen kann. Dem daktylischen Textmetrum folgen auch die letzten drei Silben des Refrains mit allen Hei-li-gen. Im Unterschied zur musikalisch-rhythmischen Umsetzung des sprachlichen Daktylus in Zeile 2 bewirkt der musikalische Rhythmus in Zeile 12 ein akzentuiertes Singen der drei Heiligen-Silben am Ende jeder Strophe. Die dadurch entstehende Nachdrücklichkeit – eine Fortsetzung der musikalischen Betonung von alle durch den Quartsprung und die dem Grundschlag vorgezogene Halbe – unterstreicht den Titel und die vom Textdichter beabsichtigte Grundaussage des Liedes: Mit allen Heiligen sollen wir singen und uns ihnen zugehörig wissen. Eine weitere Besonderheit des Liedes ist die sich dynamisch entwickelnde Affektlage in den drei Liedteilen, sowohl auf der Text- als auch auf der musikalischen Ebene.15 Von Teil 1 über Teil 2 bis Teil 3 steigt die melodische Spannung. In Teil 1 sorgen die kleinen Intervallschritte und wenigen Terzsprünge, dazu die Halben, mit denen alle Zeilen beginnen und enden, für einen ruhigen Fluss der Melodie, die vom b’ in der 2. Zeile allmählich in zwei Terzsprüngen und Sekundschritten in alle Richtungen den Tonraum einer Septime hinunter zum c’ der 4. Zeile durchschreitet. Alle Zeilenschlüsse des 1. Teils werden durch Tonwiederholungen vorbereitet (Zeilen 1, 3, 4) bzw. befestigt (Z. 2, 4), was zu einer gefühlten Verlangsamung der Melodie beiträgt. Im 2. Teil (Z. 5–8) kommt eine neue Bewegung und Energie in die Melodie, beginnend mit dem Quintsprung von der letzten halben Note aus Teil 1 (d’) auf den ersten Ton des zweiten Teils, das a’. Hier gibt es fast nur noch Viertelnoten und viele markante Tonwiederholungen. Mit einem dreimaligen a’, gefolgt von einem zweimaligen c’’, dem bisher höchsten Ton der Melodie, beginnt Teil 2 sehr energisch und insistierend, kommt dann aber noch einmal am Zeilenschluss auf dem im 2. Teil allgegenwärtigen a’ zur Ruhe. In der 6. Zeile wird der höchste Ton d’’ des Liedes nach einem Anlauf auf dem dreifachen a’ mit einem Quartsprung kurz vorgestellt, in völligem Einklang mit den unterlegten Silben daar / dort (Str. 1), niets / nur (Str. 2), to einde / zu Ende (Str. 3). Diesem kurzen musikalischen Höhepunkt des 2. Teils folgen zwei Zeilen, die sich mit ihren jeweils identischen Zeilenschluss- und Anfangstönen und den durch keinen kadenzierenden Zeilenschluss oder eine halben Note unterbrochenen Abwärtsbewegungen stufenweise hin zum Grundton zu einer einzigen atemlosen, eindringlichen Tonreihe verbinden. Beziehungen zu den jeweils unterlegten Strophentexten lassen sich leicht herstellen. Die in der Liedmitte liegen 15 Im Kommentar zu De heiligen, ons voorgegaan im niederländischen Liedboek-Kompendium (s. Fußnote 10) wird der Aufbau der Melodie mit dem einer „Dreistufenrakete“ („drietrapsraket“) verglichen.
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den Zeilen 6 und 7 setzen durch ihre ungebremsten Übergänge zur jeweils nächsten Zeile (nur Zeile 7 besteht ausschließlich aus Viertelnoten, nahtlos noch ein wenig fortgesetzt in Zeile 8) eine musikalische Beschleunigung in Gang. Die Dynamik wirkt trotz der nun wieder ruhigen Zeilenenden im 3. Teil, dem Refrain (Zeilen 8–12) weiter und wird noch verstärkt: Der abrupte Lagenwechsel zwischen d’ und d’’, überwunden mit Hilfe eines Quint- und sofort anschließenden Quartsprungs, ist sichtbar und erfordert sängerische Spannung sowie die Bereitschaft, in das Lob Gottes stimmlich zu investieren. Das hohe d’’, im mittleren Teil nur einmal erreicht, dominiert nun die 1. Hälfte des 3. Teils, fünfmal dürfen die Gemeinden diesen hohen Ton singen. Die Energie, die Kraft, der Jubel gehen nicht verloren, wenn sich die Melodie mit der vorletzten Zeile wieder der Tonlage des 1. Teils annähert – jedoch: Noch kehrt auch die vorletzte Zeile zur Quinte a’ als Schlusston zurück. Dann aber landet in Zeile 12 die immer noch energiegeladene Melodie mit einem Quintsprung in die Tiefe auf dem Grundton, von dem aus sie sich aufbäumend in einem letzten und vor dem Grundschlag ausgeführten Quartsprung nach oben endgültig in drei Abwärtsschritten zum Grundton d’ begibt.16 Willem Vogel ist eine geniale Vertonung des Liedtextes gelungen.
Liturgische Einordnung und Vermittlung Im „Liedboek voor de Kerken“ von 1973 steht das in den Niederlanden sehr beliebte Lied aufgrund seiner biblischen Vorlage in der Rubrik Bibellieder. Neben Hebr 11 nennt es noch einen Psalmvers: „Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus“ (Ps 22,5). Als weitere liturgischen Orte sind die Gottesdienste zum Reformationstag, zu Allerheiligen, zum Begräbnis genannt. Im „Liedboek 2013“ befindet sich das Lied im Abschnitt Allerheiligen. Im Gesangbuch „Singt Jubilate“ der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz von 2012 wird das Lied für das „Ende des Kirchenjahres“ vorgeschlagen. Das Gesangbuch der Südwestdeutschen Landeskirchen „Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder“ von 2005 ordnet Die Heiligen der Abteilung Gemeinschaft, Kirche, Ökumene zu. In „Lieder und Psalmen für den Gottesdienst“, dem Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch von 2018, gehört das Lied zur Gruppe Umkehr und Nachfolge. Der Wochenliedplan von 2018 sieht es für den Gedenktag der Heiligen (1. November), den Martinstag (11. November) und den Nikolaustag (6. Dezember), den Tag der Maria 16 Entgegen der Notierung einer Ganzen Note im „Liedboek voor de Kerken“ haben sich die Herausgeber*innen des EG.E – wie schon die von „Singt Jubilate“ (2012) – für eine Halbe als Schlussnote entschieden. Damit wird die Rückbindung des Endes zum Anfang, nämlich die Symmetrie zwischen der letzten und der ersten Zeile in Form von jeweils 5 halben Grundschlägen, zerstört. Und der hymnische Charakter des Liedes verliert durch eine kurze Schlussnote seine poids et majesté, sein Gewicht und seine Majestät.
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Magdalena (22. Juli) und eine Reihe von Aposteltagen vor. Der Wochenliederpodcast der Sächsischen Landeskirche führt Die Heiligen als Tageslied für den Martinstag. Und in Anlehnung an eine Äußerung des Dichters Muus Jacobse über „De heiligen“: „een reislied, een treklied“17, darf es auch als Pilgerlied verstanden werden. Die Heiligen sind im „Liedboek voor der Kerken“ von 1973 als Wechselgesang vorgesehen, dessen Strophen von einer Solostimme und dessen Refrain von der Gemeinde gesungen werden sollen. Diese Form ist sehr geeignet für den Fall, dass dieses Lied einer Gemeinde vermittelt werden soll, der Die Heiligen noch unbekannt ist. Der Einstieg über den Refrain in der eher hohen Lage kann der Gemeinde erleichtert werden, wenn ihr die textliche und musikalische dramaturgische Geschichte des Liedes in Grundzügen erzählt wird. Diese Geschichte ist anhand des Notentextes auch für Laien, die keine Noten lesen können, nachvollziehbar, allerdings nur, wenn der Notentext mindestens in drei Systemen zu je vier Zeilen, besser: in 12 einzeiligen Systemen, vorliegt.18 Mit einer guten Erklärung kann jede*r erkennen, ob die Noten sich nach oben oder nach unten bewegen, ob es eher ruhig und betrachtend oder drängend zugeht, wo es besondere Körperspannung braucht und wo nicht. Der Kommentar zum „Liedboek 2013“ bietet eine weitere Möglichkeit des Wechselgesangs an: Teil 1: Solo; Teil 2: einzelne Stimmen; Teil 3: alle. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass die Gemeinde das Lied nach mehrmaligem Hören mitsingen kann und will. Auch in diesem Fall sollte an der Form des Wechselgesangs festgehalten werden: Die Gemeinde könnte sich in zwei Erzählergruppen aufteilen, z. B.: Teil 1 – linkes Kirchenschiff (Nordseite), Teil 2 – rechtes Kirchenschiff (Südseite), Teil 3 – alle zusammen. Weiteren kreativen und einen singenden Dialog fördernden Aufteilungen einzelner Zeilen oder Blöcke zwischen Vorsänger*innen, Gemeinde und Chören sind keine Grenzen gesetzt. „Ein ruhig gehendes ‚Psalmtempo‘ (MM = 60–66) wird dieser monumentalen Melodie gerecht“, schreibt der niederländische Kirchenmusiker und Kommentator Christiaan Winter zu De heiligen, ons voorgegaan.19 Britta Martini
17 S. „Tekst“ in: https://www.liedboekcompendium.nl/lied/728-de-heiligen-ons-voorgegaan-6_8_8. 18 Der Abdruck des Textes und der Melodie im Ergänzungsheft zum Evangelischen Gesangbuch ist in seiner Vernachlässigung der Zeilenordnung unübersichtlich und lädt nicht dazu ein, dieses noch recht unbekannte Lied kennenzulernen. 19 Vgl. https://www.liedboekcompendium.nl/lied/728-de-heiligen-ons-voorgegaan-6_8_8 s. „Melodie“. Laut Winters Homepage promoviert er über das kompositorische Werk Willem Vogels: http:// denotenmaker.nl/site/.
Nächsten- und Feindesliebe
Wenn das Brot, das wir teilen (EG.E 28)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Claus-Peter März (1947–2021) Kurt Grahl (*1947) T / M: 1981 (1985) 13. Sonntag nach Trinitatis
Ein Wundermotiv Das Gute an Heiligen sind die unendlich ausdeutbaren Legenden. Sie verselbstständigen sich und gewinnen ein Eigenleben – mal zum Wohl, mal zum Wehe der Rezipientinnen und Rezipienten. In jedem Fall sind sie nicht aufzuhalten. Die Legende einer der beliebtesten Heiligen, der hl. Elisabeth (1207–1231), geht so: Die Landgräfin Elisabeth von Thüringen hat ein Herz für die Armen. Sie versorgt sie medizinisch, baut ein Krankenhaus unterhalb der Wartburg, öffnet während einer großen Hungersnot die gräflichen Kornkammern und bringt auch sonst regelmäßig Essen von der Burg zu den Armen. Der landgräflichen Familie ist so viel Basiskontakt suspekt. Eine Frau von Adel habe keine Berührungspunkte mit den Armen zu haben, hieß es. Ihr Mann, Landgraf Ludwig (1200–1227), will keinen Streit mit der Familie riskieren und verbietet ihr, Essen zu den Kranken zu bringen. Als er sie einmal erwischt und zur Rede stellt, was sie denn unter ihrem Mantel habe, antwortet sie, es seien lediglich Rosen. Als er den Mantel zurückschlägt, um nachzuschauen, ist das Brot tatsächlich in Rosen verwandelt. Das Rosenwunder der hl. Elisabeth ist geboren. In Kunst und Musik wurde es zigfach reproduziert, es prangt in der berühmten Darstellung von Moritz von Schwind in der Elisabethgalerie auf der Wartburg und wird tausendfach im Religionsunterricht und in den Kirchen erzählt. Überall da, wo Elisabeth Patin steht, also in hunderten von Krankenhäusern, Altenheimen, Schulen, Straßen, Kirchen – da erzählt man sich gerne dieses so poetische Wunder: Brot zu Rosen. Dass der Hintergrund harter sozialethischer Tobak ist – warum ist es erlaubt, den Armen Rosen zu bringen, Brot dagegen nicht? –, wird gern verschwiegen. Die noch existenziellere Frage, warum es überhaupt so viel soziale Ungleichheit gab und bis heute gibt und warum es deswegen des Engagements Einzelner bedarf, wird gar nicht erst gestellt. Die Gesellschaft richtet sich gerne ein in der Ungleichheit, und die auf der Sonnenseite sonnen sich zudem noch im Gefühl, die Guten zu sein, indem sie – dem guten Beispiel folgend – mildtätig spenden, was die Schieflage noch zementiert. Ungeachtet all dessen ist das Motiv „Brot zu Rosen“ offensichtlich einfach zu schön, um liegenzubleiben.
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Ulrike Greim
Die Entstehungsgeschichte Es ist 1981, als der 750. Geburtstag Elisabeths gefeiert werden soll. Wir sind in der katholischen Diaspora, in Leipzig. Die Jugendgruppe einer Gemeinde möchte eine Fußwallfahrt zu den Stätten der heiligen Elisabeth machen und sucht singbare Lieder dafür. Sie fragt ihren Kantor, Kirchenmusikdirektor Kurt Grahl. Der bittet seinen Freund, den Erfurter Professor für Neues Testament, Claus-Peter März, einen Text zu schreiben. März war in der Leipziger Gemeinde vorher Kaplan. März textet, Grahl komponiert eine vierstimmige Fassung mit Refrain. Sie funktioniert. Sie verbreitet sich, wie so oft in der DDR, mit Abschriften und handgemachten Kopien. So gelangt das Lied auch in den Westen. Kurt Grahl, jetzt lange im Ruhestand, beschreibt in einem Telefon-Interview (Sommer 2022), wie es ohne Erlaubnis und finanziellen Ausgleich gedruckt wurde („eine ganz dumme Geschichte“) und erstmals im Liederbuch des Katholikentages in Düsseldorf 1982 einem größeren Publikum bekannt wird – zum Leidwesen des Komponisten auch noch in einer rhythmisch vereinfachten Form und mit veränderten Harmonien. Von dort startet es durch in einige Regionalteile des Evangelischen Gesangbuches und 2013 auch in das katholische Gotteslob und zahllose weitere Publikationen. Mittlerweile hat sich aber – auch nach Drängen Grahls – die Originalfassung wieder durchgesetzt.
Der Text Der katholische Professor für Neues Testament, Claus-Peter März, holt die Vision aus Offb 21 in die Gegenwart. Es wird nicht erst im himmlischen Jerusalem sein, dass Gott bei den Menschen wohnt, sondern es passiert im Hier und im Jetzt, wenn wir barmherzig sind, so wie es Elisabeth war. Wenn wir den Hungrigen Brot bringen, wenn wir einander sättigen, lebt Gott unter uns. Dann blüht das Not-Wendende wie eine Rose. Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht in der Liebe, die alles umfängt. Kurt Grahl weist im benannten Gespräch auf Rainer-Maria Rilke und seinen Text von der Rose hin. Rilke beschreibt, wie er einer Bettlerin einmal eine Rose statt Geld gegeben hat. Daraufhin hat er sie eine Woche lang nicht gesehen. Auf die Frage seiner Begleiterin, wovon die Bettlerin in der einen Woche gelebt habe, sagte Rilke: von der Rose. So sieht Grahl auch die nährende Wirkung von Kunst und Kultur und Musik. In der 2. Strophe holt Claus-Peter März den göttlichen Richter des Weltgerichtes aus Matthäus 25 in die Szenerie und sagt: Wenn wir jetzt in jedem Armen Christus erkennen können, hat das Reich Gottes schon begonnen. Und er legt den Gedanken nahe, dass die konkret geleistete Hilfe als Freude ins eigene Herz zurückfließen wird. Das Motiv des eigenen Beschenkt-Werdens durch die Hilfeleistung zieht sich auch durch die weiteren Strophen in verschiedenen Motiven: die Hand, die wir hal-
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ten, hält uns selbst – das Kleid, das wir schenken, bedeckt auch uns. Da spielt März sicher auf das Motiv des Mantel-Teilens durch den hl. Martin an. Wenn er in der 4. Strophe dichtet, dass der Schmerz, den wir teilen, zur Hoffnung wird, dann nimmt dies eine Erfahrung der Seelsorge und Psychotherapie auf: Durch das Aussprechen des Schmerzes kann er sich verwandeln. Final eschatologisch wird es in der 5. und letzten Strophe: Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist und der Tod, den wir sterben, vom Leben singt, dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut. Der Referent für Bibel und Liturgie in der Diözese Gurk, Klaus Einspieler, deutet diese Strophe folgendermaßen: „Damit gelangen wir in der letzten Strophe zum letzten großen Geheimnis unseres Lebens. Für andere da zu sein, sich selbst zu verschenken, heißt auch loszulassen. Das letzte große Loslassen in unserem Leben ist der Tod. Wer die Haltung des Loslassens schon mitten im Leben eingeübt hat, weiß, dass auch der Tod, den wir sterben, vom Leben singt, wie es am Ende dieses Liedes heißt.“1
Kritik 1. Der Text arbeitet mit einer lyrischen Überhöhung einer Notlüge – der Antwort Elisabeths auf die Frage ihres Mannes nach dem Brot. Darf das Poesie? Ja, sie darf. Sie muss es nicht logisch zu Ende denken. 2. Das Lob der Barmherzigkeit spaziert auf dem schmalen Grat der Leidensmystifizierung. Da, wo Leid und Schmerz und der Tod machtvoll werden, setzt der Text die gewagte These des Verwandelns dagegen. Er spricht damit eine Sehnsucht aus, danach, dass alles am Ende einen Sinn ergibt, dass da die Erlösung steht. Diese Sehnsucht bedient sich gerne der Poesie, weil sie Bilder bringen darf, die widersinnig klingen, aber eine Idee der anderen Welt sichtbar machen, auf die wir warten. Es ist aber eine Sehnsucht, die ebenso auch herb enttäuscht werden kann, vor allem dann, wenn am Sterbebett nichts vom Leben singt, sondern alles trostlos scheint und bitter. 3. Außerdem – wie eingangs erwähnt – wird hier nicht das Bild der eschatologischen Gerechtigkeit gemalt, indem die Ungleichheit aufgehoben wird, indem die Letzten die Ersten sein werden und die Niedergedrückten aufrecht stehen. Stattdessen bleibt es im schiefen Hier und Jetzt stehen, das durch uns, die Helfenden, gemildert wird. Gemilderte Ungerechtigkeit ist aber noch lange keine Gerechtigkeit. Das vollendete Reich Gottes kennt keine Armen mehr, in denen sich Christus offenbaren müsste.
1 www.kath-kirche-kaernten.at.
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Ulrike Greim
Der Texter Claus-Peter März, geb. 1947 in Leipzig, besuchte unter anderem die Kreuzschule in Dresden. Er studierte bis 1969 am Philosophisch-Theologischen Studium in Erfurt Theologie und wurde 1971 in Dresden zum Priester geweiht. Nach Kaplansjahren in Meißen und an der Leipziger Propsteigemeinde promovierte er 1978 an der Päpstlichen Universität Gregoriana. Anschließend war er als Kaplan in Gera tätig und übernahm einen Lehrauftrag, später die Dozentur für neutestamentliche Exegese am Philosophisch-Theologischen Studium in Erfurt. Nach seiner Habilitation wurde er Professor und blieb an der Fakultät bis 2012. Er gehörte zahlreichen Gremien an, u. a. der Arbeitsgemeinschaft katholischer deutschsprachiger Neutestamentler und der Studiorum Novi Testamenti Societas, der Kommission „Wissenschaft und Kunst“ und der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Claus-Peter März textete zahlreiche Lieder, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt Grahl entstanden auch verschiedene Oratorien. Er verstarb im November 2021. Die Fakultät und das Bistum Dresden-Meißen würdigten ihn im Nachruf als einen, dem die pastorale Erschließung der neutestamentlichen Botschaft, aber auch eine launig-kritische Zeitzeugenschaft wichtig war, was man an seinen Büttenreden gut habe erkennen können. „Solange sein wacher Geist dies zuließ, blieb Claus-Peter März pastoral tätig und zog mit seinen Predigten die Gemeinden – vor allem im Dom zu Erfurt – in den Bann. Sein leidenschaftliches Temperament verband sich mit einer tiefen Frömmigkeit und einer gleichermaßen intellektuellen wie poetischen Brillanz.“2
Der Komponist Kurt Grahl, geb. 1947 in Markneukirchen, Vogtland, war bereits elfjährig als Organist tätig. Er trat mit 15 Jahren in die Kinderklasse der Hochschule für Musik in Leipzig ein. Später studierte er Kirchenmusik, gewann u. a. Improvisationspreise, wurde der jüngste Kirchenmusikdirektor und blieb in der katholischen Propsteikirche St. Trinitatis Leipzig bis zum Ruhestand 2012. Er komponierte über 1000 geistliche Lieder, Kantaten, Chorstücke und Solokonzerte. Es entstanden ebenso Oratorien, darunter: „Aufstand der Worte“ und „Große Johannespassion“. Sein berühmtestes Lied bleibt Wenn das Brot, das wir teilen. Es fand auch Einzug in das Oratorium zur hl. Elisabeth, das zu einem späteren Elisabeth-Jubiläum entstand.
2 https://www.bistum-dresden-meissen.de/aktuelles/prof-em-dr-claus-peter-maerz-74-verstorben.
Wenn das Brot, das wir teilen (EG.E 28)
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Die Melodie Kurt Grahl, der sich frühzeitig schon mit dem beschäftigt hat, was wir heute immer noch Neues Geistliches Lied nennen, worüber er heute lacht, komponiert singbare Lieder. In dem Fall – wie gesagt – soll es von Jugendlichen zu einer Fußwallfahrt gesungen werden können. Das schließt für ihn einen Drei-Viertel-Takt aus. „Wenn man gehen will, muss es ein Vierertakt sein, der nicht zu schnell sein darf.“ So sagt er es, heute immer noch in Leipzig lebend, am Telefon. „Das Lied soll Leichtigkeit ausdrücken, die von innen kommt.“ Eine Leichtigkeit, die jetzt schon glauben lasse, was erst zukünftig passieren wird. Die Melodie ist gleichmäßig gebaut. Jede Zeile beginnt mit zwei aufsteigenden Auftakt-Achteln. Das Gestaltungsmittel der vorgezogenen Schluss- bzw. Schwerpunktsilbe wird noch mehrmals angewandt. Die von Kritikern belächelten Synkopen an den Zeilenenden seien keine Synkopen, sagt Grahl, auch keine Effekthascherei. Er habe mit der Dynamik des Sprechens mit komponiert. Man betone das Wort Rose nicht mit zwei gleichgewichtigen Akzenten, sondern das Ro mehr als das se. Und vor allem gehe es um das Blühen der Rose, also soll der Schwerpunkt schlicht verlagert werden zugunsten des Blühens. Die Tätigkeitswörter bekommen den Akzent, während die Hauptwörter im geraden Takt bleiben. „Dadurch zieht sich diese freundliche, aneignende und intime Art durch das Lied. Es ist eben kein Marsch, den manche daraus machen. Es ist wirklich schlimm, was man aus einem einfachen Lied alles machen kann.“
Kritik Genau das Ebengenannte ist kaum zu vermeiden: Der „Walk-Song“-Gedanke unterliegt der Gefahr, den Inhalt musikalisch zu einfach zu verpacken. Steile theologische Thesen fühlen sich handlicher an, wenn man mitschunkeln kann, erst recht marschieren, wobei sie dann schneller zur Gewissheit werden. Ulrike Greim
Wo Menschen sich vergessen (EG.E 29)
Text: Melodie: Entstehung: Liturgische Einordnung:
Thomas Laubach (*1964) Christoph Lehmann (*1947) T / M: 1989 22. Sonntag nach Trinitatis
Wo Menschen sich vergessen ist eines der bekanntesten Lieder aus dem Bereich der Neuen Geistlichen Lieder. Es ist seit vielen Jahren in nahezu jedem Kirchentagsliederbuch aufgenommen, es ist bei kirchlichen Trauungen beliebt und dient als Material für Radioandachten. Auffällig ist, dass es ein geistliches Lied ist, in dem traditionelle theologische Begriffe nicht vorkommen. Gott wird nicht angerufen, Jesus wird nicht benannt, ein biblischer Bezug ist zunächst nicht erkennbar. Vielmehr geht es vor allem darum, was Menschen tun und lassen (sollten), wie sie das zwischenmenschliche Leben gestalten (sollten). Was macht dieses Lied so erfolgreich und worin liegt das Geistliche dieses Liedes?
Zur Geschichte des Liedes Der Text stammt von Thomas Laubach. Dies ist der Geburts- und Künstlername von Thomas Weisser, unter diesem Namen veröffentlichte er auch seine Lieder. Thomas Laubach ist ein katholischer Theologe, der 1964 in Köln geboren wurde, Theologie und Germanistik studierte, im Fach Theologische Ethik promovierte und sich habilitierte. Seit 2012 ist Thomas Laubach unter seinem offiziellen Namen Weisser Professor für Theologische Ethik an der Universität Bamberg.1 Über 20 Jahre war Thomas Laubach Mitglied der Kölner Band Ruhama, einer zwölfköpfigen Gruppe, die seit 1986 auf vielen evangelischen Kirchentagen, Katholikentagen und Ökumenischen Kirchentagen aufgetreten ist und unter anderem die Abschlussgottesdienste der Katholikentage 1992 (Karlsruhe), 1994 (Dresden), 2000 (Hamburg) und 2008 (Osnabrück) sowie des 1. Ökumenischen Kirchentages 2003 in Berlin musikalisch gestaltete. Die Melodie hat Christoph Lehmann komponiert. Lehmann, geboren 1947 in Peking, studierte Kirchenmusik in Berlin und Cembalo in Köln und hat als Organist, Cembalist und Kirchenmusiker gearbeitet.
1 Vgl. https://www.kirche-im-swr.de/autorinnen?id=16.
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Auch andere bekannte neuere Lieder sind von ihm komponiert, so beispielsweise „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt“ (1979). Für „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn“ (1983) übersetzte er zusammen mit Diethard Zils den spanischen Text ins Deutsche. Wo Menschen sich vergessen wurde 1989 komponiert, also in dem Jahr, in dem gesellschaftliche Umbrüche zum Fall der Mauer führten und etwas Neues begann.
Zur Form und zum Text Die drei Strophen des Liedes sind kurz und umfassen jeweils zwei Zeilen, daran schließt sich der Refrain an. Das Lied lebt von den Wiederholungen, auch die Struktur der drei Strophen ist gleichförmig: Wo Menschen sich vergessen / verschenken / verbünden … Darauf folgt in allen drei Strophen eine weitere Beschreibung bzw. Präzisierung dieser ersten Handlung, jeweils gefolgt von den Worten und neu beginnen, ganz neu. In den Strophen geht es durchgehend um das Handeln der Menschen. Sprachlich ist das jeweilige Handeln im Präsens formuliert, inhaltlich ist es jedoch eher in der Zukunft angesiedelt. Die Beschreibungen der menschlichen Handlungen sind gleichsam Visionen von einem Zustand, der (noch) nicht erfüllt ist. Die 1. Strophe schildert das, was die Bibel Umkehr, Metanoia, nennt – eine der schwierigsten Anforderungen an menschliches Verhalten. Wie soll das gelingen, die Wege zu verlassen, ganz neu zu beginnen? Umkehren und werden wie die Kinder? Die Fischernetze loslassen und Jesus nachfolgen? Das alte Leben hinter sich lassen und sich neu entwerfen? Diese Fragen beantwortet das Lied nicht. Es zielt vielmehr auf das Bild, das den wiederkehrenden Refrain bildet: da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns. In der 2. Strophe geht es um sich verschenken, die Liebe bedenken. Der Reim dominiert hier die Wortwahl, denn Liebe will gelebt und nicht nur bedacht werden. Die 3. Strophe benennt eine soziale Dimension. Sich miteinander verbünden, den Hass überwinden geht über das nur Individuelle hinaus und weitet den Horizont. Das Lied verwendet keine biblischen Bilder, wohl aber biblische Terminologie: Himmel und Erde, Frieden und Liebe. Was ist das für ein Bild, auf das das Lied zuläuft, die Berührung von Himmel und Erde? Hier wird biblische Terminologie eigentlich konterkariert. Biblisch ist die Trennung von Himmel und Erde, damit fängt alles an: „Und Gott nannte die Feste Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag. Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an einem Ort, dass man das Trockene sehe. und es geschah so. Und Gott nannte das Trockene Erde … Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag“ (Gen 1,8–10.13). Es beginnt mit der Trennung, der Unterscheidung zwischen Himmel und Erde, erschaffen an unterschiedlichen Schöpfungstagen. Der Himmel ist im biblischen Denken der Ort der Sehnsucht, der Wohnort Gottes, und das gilt für die Hebräische
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Bibel vor allem in nachexilischer Zeit.2 Die Erde ist demgegenüber der Lebensraum der Menschen, der Ort des Gelingens und des Scheiterns, der Ort des Glücks und des Leidens. Das Bild, dass sich Himmel und Erde berühren, überwindet diese Unterscheidung und eröffnet eine neue Perspektive. Es lässt an das Schöpfungsbild von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle denken, die zarte Berührung der Fingerkuppen Gottes und Adams als Schöpfer und Geschöpf. An diesen Moment erinnert Marie Luise Kaschnitz in ihrem Gedicht „Das alte Thema“: Ab und zu Du Gott noch immer Unbekannter Berührst uns Wie der an die Decke Der Sistina gemalte Den eben erst Erschaffenen Adam Nur mit einem Finger …3
Himmel und Erde, Schöpfer und Geschöpf berühren sich. Ab und zu, nur mit einem Finger, aber das genügt. Im Vaterunser verknüpft die Bitte „Dein Wille geschehe“ Himmel und Erde (Mt 6,10). Die verschiedenen Sphären gehören zusammen, Gottes Wirken möge, so diese Bitte, sich auch auf die Erde erstrecken. Das Bild lässt weiterhin an das Lied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ denken, die Bitte um das Kommen des Trostes aus dem „höchsten Saal“ zu uns, den Menschen „hier im Jammertal“ (EG 7). Es hat vielleicht auch Jan Janssen und Fritz Baltruweit bei ihrem Lied „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ inspiriert. Auch hier kommt es ja zu einem Kontakt zwischen Himmel und Erde. Diese Sphären bleiben nicht voneinander getrennt, sondern kommunizieren miteinander, der Himmel wirkt heilsam ein auf die Erde: „und die Erde lebt auf und wird licht.“4 Da, wo Menschen etwas wagen, so sagt dieses Lied, sich einander zuwenden und Grenzen überwinden, ist etwas von der himmlischen Wirklichkeit, der Gegenwart Gottes, auf Erden spürbar. Verbunden ist dies mit dem Wort Frieden, hier futurisch bzw. im Imperativ formuliert. Frieden ist noch nicht, kann aber werden, wenn Menschen sich entsprechend verhalten. Und zwar dort, wo es uns etwas angeht, in der Nähe und nicht als fernes Ziel. 2 Vgl. Christoph Koch: Artikel Welt / Weltbild (AT), https://www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/34756/. 3 Marie Luise Kaschnitz: Das alte Thema, in: dies., Gesammelte Werke Bd. 5: Die Gedichte, Frankfurt 1985, 491. 4 Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (T: Jan Janssen / M: Fritz Baltruweit), tvd-Verlag Düsseldorf 2008, in: freiTöne. Lieder für den Reformationssommer 2017, Kassel / Berlin 2017, Nr. 90.
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Zur Melodie Das Lied ist in F-Dur geschrieben. Dur-Tonarten haben prinzipiell etwas Strahlendes. F-Dur ist „im stärksten Sinne die Natur-Tonart und ‚schöner‘ als C-Dur, mindestens anmutiger, weniger nüchtern, poetischer“5. Insgesamt ist die Melodie fließend, beschwingt und eingängig. Pausen unterbrechen an manchen Stellen den Melodiefluss, lassen Zeit zum Atmen und erzeugen zugleich eine gewisse Spannung. Deutlich ist der Wechsel im Charakter der Melodie zwischen den Strophen und dem Refrain. Die Strophe wird in reinen Vierteln gesungen, ist eher getragen, mit wenigen Tonsprüngen. In den ungeraden Takten 1, 3 und 5 wird der Text auf einer gleichbleibenden Note deklamiert, die im nächsten Takt jeweils um einen Ton (auf dem 2. Viertel) nach oben geführt wird. Auf der so erreichten Note beginnt der nächste Teil. So steigert sich die Strophe sequenzartig um drei Töne nach oben. Der Refrain dagegen klingt wie eine Fanfare, wirkt frischer als die Strophe, wechselt zwischen Achteln und Vierteln, hat Tonsprünge und ist bewegt. In zwei Teilen, die jeweils identisch beginnen, wird der Text wortgleich wiederholt. Die Melodie nimmt an mehreren Stellen den Inhalt des Textes auf. Während die Strophen jeweils einen offenen Schluss haben, noch auf eine Fortsetzung des Satzes warten, bildet der Refrain eine durch das schnellere Tempo entschiedene Antwort. Auf diesen Refrain laufen die Strophen jeweils zu. Auch an anderen Stellen begegnen diese Bezüge zwischen Text und Melodie. So wird der Friede als Triole gesungen und bekommt dadurch ein besonderes Gewicht, auch das unter uns erfährt eine Betonung. Hier unterscheiden sich die beiden Refrain-Teile, und die Betonung des uns wird dadurch erreicht, dass der Ton jeweils vor der Hauptzählzeit erreicht wird. Text und Melodie korrespondieren, wenn die höchsten Töne den Himmel besingen und die Melodie dann wieder zur Erde „hinabsteigt“. Schließlich endet die Melodie, harmonisch abschließend, mit dem Grundton.6 Der Charakter der Melodie spielt für dieses Lied eine große Rolle, die Melodie intoniert durch ihre Beschwingtheit das, was im Text noch Vision ist: die Berührung von Himmel und Erde.
Zum gottesdienstlichen Kontext Zugeordnet ist das Lied dem 22. Sonntag nach Trinitatis, also einem späten Sonntag im Kirchenjahr. Die biblischen Texte dieses Sonntags kreisen um die Fragen von Schuld und Vergebung und um die Fragen des richtigen Handelns. Micha 6 bringt prägnant zum Ausdruck, was gut ist: „nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben 5 Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Vom geistigen Wesen der Tonarten, Stuttgart 1999, 149. 6 Dieser Absatz wurde in Teilen von Beate Besser ergänzt.
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und demütig sein vor deinem Gott“ (Mi 6,8). Matthäus 18,21–35 spricht von der Notwendigkeit, einander zu vergeben, zunächst in einem Gespräch zwischen Petrus und Jesus, dann in einem dreigliedrigen Gleichnis über Schuldner und das Erlassen von Schulden. Die Epistel findet Worte für die Zwiespältigkeit des Menschen zwischen dem Wissen um das Gute und der Unfähigkeit, entsprechend zu handeln (Röm 7,14–25). Dieser Text macht deutlich, dass es eine Verstrickung in eine Sphäre der Schuld gibt, deren Überwindung durch Gottes Gnade geschieht, nicht durch das Bemühen des Menschen. Deutlich wird hier auch, dass gerade Römer 7 in Spannung steht zu den Bildern, die Wo Menschen sich vergessen entwirft und die sich auf das Tun der Menschen konzentrieren. Der Gottesdienst am 22. Sonntag nach Trinitatis kann also beide Aspekte zur Sprache bringen. Es ist wichtig und Not wendend, Nächstenliebe zu praktizieren. Zugleich aber werden wir aufgefordert und ermutigt, auf Gottes Zuwendung zu uns zu vertrauen. Das neue Wochenlied eröffnet die Möglichkeit, im Singen dieses Liedes der Hoffnung eine Stimme zu geben, einer Hoffnung, dass das richtige, gütige, liebende Handeln der Menschen die Kraft hat, die Erde zu verwandeln. Ulrike Suhr
Erhaltung der Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit
Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn (EG.E 30)
Text: Melodie: Erstveröffentlichung:
Diethard Zils (*1935) / Christoph Lehmann (*1947) Cristóbal Halffter (1930–2021) T: Es sind doch deine Kinder (tvd-Verlag Düsseldorf ) Str. 1–3: 1983 | Str. 4: 1994 Vorlage: Anunciaremos tu reino (T / M: 1965) aus: Misa de la juventud (1965) T: Maria Pilar Figuera Lopez (1939–2007) Liturgische Einordnung: 18. Sonntag nach Trinitatis
Biographische Bemerkungen Die spanische Originalfassung des Liedes wurde von Cristóbal Halffter (1930–2021) komponiert. Halffter studierte u. a. Komposition im Alten Stil, wandte sich dann aber mit anderen im Selbststudium der Moderne zu. Halffter schuf ein großes und breitgefächertes Œuvre und verarbeitete auch als Auftragskomponist immer wieder gesellschaftsaktuelle und -kritische Themen. Er wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Der spanische Originaltext stammt von der Ordensfrau und Autorin Maria Pilar Figuera Lopez (1939–2007), die nach einem Studium der Psychologie an der Universität in Madrid noch an der päpstlichen Universität in Salamanca ein Diplom in Liturgischer Pastoral erwarb. Die Übertragung des Liedes ins Deutsche besorgten 1983 Diethard Zils (*1935) und Christoph Lehmann (*1947). Zils ist römisch-katholischer Theologe und lebt als Dominikanerpater in Mainz. Er schrieb zahlreiche Neue Geistliche Lieder, die in allen relevanten deutschsprachigen Gesangbüchern der Ökumene vertreten sind, darunter „Suchen und Fragen“ sowie „Wir haben Gottes Spuren festgestellt“. Lehmann ist Kirchenmusiker mit dem Schwerpunkt Alte Musik, der aber in den 1970er und 1980er Jahren Melodien für zahlreiche bekannte Neue Geistliche Lieder schuf, unter anderem „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt“ und „Wo Menschen sich vergessen“.
Zur Entstehungssituation Das Lied bildet ursprünglich den Abschluss einer Messkomposition von Cristóbal Halffter. Im September 1965 wurde die „Misa de la juventud“ (Messe der Jugend) in der Kathedrale von Santiago de Compostela zum Abschluss einer großen Jugendwall-
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Nico Szameitat
fahrt uraufgeführt. Die historischen Umstände sind bedeutsam: Spanien befindet sich immer noch unter der Franco-Diktatur, in der die römisch-katholische Kirche lange Zeit eine unrühmliche Rolle spielte. Aber gerade in den 1960er Jahren bildet sich in der Kirche eine oppositionelle Basis. Zum anderen tagt im Herbst 1965 wenige Wochen vor seinem Abschluss noch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). So verwendet Halffter für seine Messe auch Texte in seiner Landessprache. Die vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedete Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ hatte die Feier der Messe in den Volkssprachen knapp zwei Jahre zuvor erlaubt. Halffter komponiert eine Messe, die mit ihrer Eingängigkeit und Kürze klar für die liturgische Verwendung gedacht ist. Neben den traditionellen Messteilen (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei) komponiert Halffter noch drei Gesänge, die er jeweils mit dem Adjektiv „procesional“ (für eine Prozession) versieht: eine „entrada“ (Eingangsmusik), die „comunión“ (Gabenbereitung) und eine „salida“ (Ausgangsmusik). Diese letzte „procesional de salida“ ist das Lied „Anunciaremos tu reino“, ein gewissermaßen auskomponiertes „Ite, missa est“. Zils übertrug das Lied für den Lateinamerikanischen Kreuzweg auf dem Kirchentag 1983 in Hannover. Das Lied wurde zusammen mit einer chilenischen Gruppe im Wechsel der Sprachen aufgeführt, wobei das Spanische das erste und das letzte Wort haben sollte, sodass Zils bewusst nur drei Strophen übersetzte, die dann mit den vier spanischen Strophen verzahnt wurden. In der Vorbereitungsgruppe des Kreuzweges gab es jedoch Bedenken gegen einzelne Formulierungen in der deutschen Fassung. Da Zils nicht erreichbar war, nahm Christoph Lehmann Änderungen am Text vor, die später von Zils akzeptiert wurden.1 Der tvd-Verlag wünschte sich 1994 auch eine Übertragung der 4. Strophe ins Deutsche. Die wörtliche Übersetzung, die der Verlag selber anbot, wurde von Zils und Lehmann abgelehnt, kursiert tatsächlich aber noch in älteren Publikationen.2 Schließlich nahm Lehmann eine Übertragung der 4. Strophe vor.3
1 Mit nur drei Strophen ist das Lied abgedruckt in: Mein Liederbuch 2 (Ökumene heute), Düsseldorf 1992, B 171; LebensWeisen, Liederheft 30. DEKT Hannover 2005, 91. 2 Thuma Mina. Internationales Ökumenisches Liederbuch, München 1995, 245; Lieder für Leipzig. 27. DEKT Leipzig 1997, 39; Colours of Grace. Gesangbuch der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, München 2006, 138. 3 U. a. in Gottesklang. Das kleine Liederbuch – Kirchentag Stuttgart 1999, 90; Erdentöne – Himmelsklang. Neue geistliche Lieder, Ostfildern 2004, 106; Alive. Das ökumenische Jugendliederbuch für Schule und Gemeinde, München 2008, 19; Durch Hohes und Tiefes. Gesangbuch der Evangelischen Studierendengemeinden in Deutschland, München 2008, 356; Das Liederbuch. Lieder zwischen Himmel und Erde, Düsseldorf 2015, 282; freiTöne. Liederbuch zum Reformationssommer 2017, Kassel / Berlin 2017, 167; Evangelisch-reformiertes Gesangbuch, Zürich 2019, 862; #lautstärke. Liederbuch zum Kirchentag Dortmund 2019, 110.
Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn (EG.E 30)
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Überlegungen zu Form und Inhalt Die spanische Originalversion Tänzerisch leicht, so möge man das Lied musizieren und singen, ist öfter zu lesen. Dabei hat die Ursprungskomposition einen ganz anderen Charakter. Das Schlussstück der Misa de la juventud wird durch strenge Trommelschläge eingeleitet. Und wie ein militärischer Marsch klingt es auch, wenn der Chor – im Wechsel zwischen Vorsänger und Tutti – das Lied singt: „Anunciaremos tu reino, señor“ / „Wir werden dein Reich verkünden, Herr“. Es ist die selbstbewusste und gestärkte Gemeinde, die aus der Kirche heraustritt in die Welt, um Zeugnis abzulegen vom Reich Gottes. Wie dieses Reich aussieht, wird in den Strophen entfaltet. Halffter kreiert nahezu eine Parodie auf traditionelle militärische Musik, indem er den Marschrhythmus, eine eingängige Melodie mit vielen Wiederholungen und eine Harmonisierung von nur vier bis fünf Akkorden mit einem christlichen Text verbindet. Dieses angekündigte Reich ist kein Reich von Macht, sondern von Gnade (Str. 2), und keines, das Gewalt ausübt, sondern Gewalt erleidet (Str. 3). Anunciaremos tu reino, señor Tu reino, señor, tu reino Reino de paz y justicia Reino de vida y verdad Tu reino, señor, tu reino Reino de amor y de gracia Reino que habita en nosotros Tu reino, señor, tu reino Reino que sufre violencia Reino que no es de este mundo Tu reino, señor, tu reino Reino que ya ha comenzado Reino que no tendrá fin Tu reino, señor, tu reino Anunciaremos tu reino, señor Tu reino, señor, tu reino
Die Struktur dieser ursprünglichen Fassung ist sehr klar: Rahmung: „Anunciaremos tu reino, señor“ (2 Takte) mit Refrain „tu reino, señor, tu reino“ (4 Takte) vier Strophen (jeweils 4 Takte) mit jeweils dem Refrain (s. o. 4 Takte) Rahmung: „Anunciaremos tu reino, señor“ (2 Takte) mit Refrain (s. o. 4 Takte)
Bei der Übertragung ins Deutsche wurde auch die Struktur des Liedes verändert. Was beim deutschen Lied als Refrain gekennzeichnet ist, ist im spanischen Original die
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Rahmung des Liedes, die nur einmal am Anfang wie eine Art Aufgesang und einmal am Ende gesungen wird. Der eigentliche Refrain sind die vier letzten Takte, die bei Rahmung und Strophen identisch sind: „tu reino, señor, tu reino“. Mit der Übertragung ins Deutsche fand versehentlich auch eine Änderung der Melodie statt. Halffter übersandte das Original erst Jahre später nach Deutschland, und als der Fehler auffiel, war es bereits zu spät, denn das Lied war längst in der neuen Version in Gebrauch. Der vorletzte Ton des Refrains (und der Strophen: Silbe kom-) ist im spanischen Original nicht nur 3/8 lang, sondern ganztaktig, wodurch die Schlusssilbe -me auf Schlag 1 des neuen Taktes kommt. Daher gibt es bei den nachfolgenden Strophen ursprünglich auch keine 3/8-Pause zu Beginn, sondern der Refrain geht nahtlos in die Strophen über; ein endloser Wechselgesang. Halffters Revolutionslied über das Reich Gottes ist eine sehr prägnante Musik, die vom Wechselgesang zwischen Vorsänger und Gemeinde lebt. Die Vorsänger singen Rahmung und Strophen und die Gemeinde – man muss sich bei der Uraufführung die Kathedrale voller Jugendlicher vorstellen – antwortet auswendig mit dem „tu reino, señor, tu reino“. Die aufsteigende Melodie der Rahmung zeugt mit ihrer Tonwiederholung von Stolz und Selbstbewusstsein. Aufrecht und mit entschlossenem Schritt tritt die Gemeinde aus der Kirche in die Welt. Ein besonderer Kunstgriff sind die Duolen (Halffter selber notierte punktierte Achtel) in Refrain und Strophen. Sie durchbrechen den Dreierrhythmus des 6/8-Taktes und verleihen der Musik an diesen Stellen – und damit auch dem Liedinhalt – einen besonderen Nachdruck. Die deutsche Übertragung Diethard Zils und Christoph Lehmann haben eine deutsche Übertragung geschaffen, die sehr dicht am Originaltext ist. Notgedrungen kam es zu Änderungen, um Zielsprache und Melodie gerecht zu werden, z. B. bei der Rahmung, dem deutschen Refrain. Original: „Wir werden dein Reich verkünden, Herr, dein Reich, Herr, dein Reich.“ Deutsch: Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn, dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
Das Original ist sprachlich gesehen eine Aussage, die an Gott gerichtet ist und dennoch starken Zeugnischarakter hat. Die singende Gemeinde spricht nicht nur zu Gott, sondern bezeugt indirekt schon in ihrem Singen der Welt das Reich Gottes. Auch wenn das Verkünden im Futur steht, so erscheint doch das Reich als schon präsent. Auch die deutsche Übertragung ist eine Anrede an Gott, die aber statt einer Aussage eine Bitte, Lass uns …, verwendet und damit eher den Charakter eines Gebets hat. Dabei bleibt unklar, worin genau die Bitte des Lass uns … gehn besteht. Dass der sonstige Charakter des deutschen Liedes doch eher ein zeugnishafter oder appellativer ist, zeigt sich auch darin, dass der Liedanfang oft als Plural miss-
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verstanden und falsch gesungen wird. Immer wieder findet man nämlich, z. B. bei YouTube, die Textfassung Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehn, wodurch das Lied zu einem Appell an die Mitchristen wird. Dadurch kommt es aber schon nach zwei Takten zum Bruch in der Sprechrichtung, wenn dann wieder Gott um das Kommen seines Reiches gebeten wird. Auffällig ist in der Textübertragung, dass zum einen der Weg der Christenheit angesichts des Reiches Gottes als ein Weg der Gerechtigkeit charakterisiert wird. In der spanischen Fassung taucht die Gerechtigkeit als ein Kennzeichen erst in der 1. Strophe auf. Zum anderen bildet die zweite Vaterunser-Bitte dein Reich komme wörtlich den Schluss des deutschen Refrains, wodurch der Gebetscharakter unterstrichen wird. Zugleich erscheint das Reich – im Gegensatz zum spanischen Original – nicht so klar präsentisch. Das Reich mag schon ansatzweise da sein, es ist aber vor allem noch im Werden. Nur so macht die Bitte um das Kommen des Reiches Sinn. Alle Strophen haben denselben Aufbau. Sie bestehen aus zwei melodisch nahezu identischen Zeilen. Der einzige Unterschied ist, dass die 1. Zeile eine Silbe mehr hat und damit auf einer Duole endet: Frieden / Liebe / (Ent-)behrung / Anfang. In der spanischen Textfassung variiert die Silbenanzahl mehr, was aber durch die Verschleifung der Silben im Spanischen kein Problem darstellt. Dafür ist der Text in der spanischen Fassung strenger durchgeführt, indem jede der acht Strophenzeilen mit dem Wort „reino“ beginnt. Die singende Gemeinde führt in den Strophen aus, welchen Charakter das Reich Gottes hat, das im Refrain herbeigerufen wird. In der 1. Strophe ist es ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, des Lebens und der Wahrheit (spanisch) bzw. der Klarheit und des Friedens, der Wahrheit und des Rechts (deutsch). Die aufgeführten starken Substantive sind in beiden Fassungen ähnlich. Der Friedensaspekt erinnert an die Bergpredigt Jesu bei Matthäus (der auch das Vaterunser entstammt; Mt 5–7), genauso wie an die Abschiedsreden bei Johannes (u. a. Joh 14,27ff ). In diesen Reden steht auch eines der sieben johanneischen Ich-bin-Worte („Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, Joh 14,6), auf das die 1. Strophe ebenfalls Bezug nimmt. Die spanische 2. Strophe spricht vom Reich der Liebe und der Gnade, das unter uns wohnt, die deutsche Fassung wohl aufgrund der Silbenzahl vom Licht statt von Gnade. Das Gebot der Liebe findet sich u. a. ebenfalls in den Abschiedsreden (Joh 13,34f ), das Lichtwort wiederum in der Bergpredigt (Mt 5,14ff ). Die 2. Strophenzeile spielt hingegen auf das Jesuswort an: „Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Die deutsche 3. Strophe erinnert stark an das Lied „Jesu, geh voran“ (EG 391,2): „denn durch Trübsal hier geht der Weg zu dir“ und steht in der Tradition der Jesusnachfolge, die für die Jünger Leidensnachfolge ist. Allerdings setzt die spanische Version einen etwas anderen Akzent. Nicht die Nachfolgenden, sondern das Reich selbst erleidet Gewalt, ist also kein starkes Reich, sondern ein schwaches und verletzliches.
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Es ist ein Reich ganz anderer Art, als wir Reiche in dieser Welt kennen. Passend dazu nimmt die spanische Strophe mit „ein Reich, das nicht von dieser Welt ist“ Bezug auf das Wort Jesu vor Pilatus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). „Ein Reich, das bereits begonnen hat, ein Reich, das kein Ende haben wird“ – so bezeugt die spanische 4. Strophe, dass das Reich Gottes schon in dieser Welt gegenwärtig ist und nie enden wird. Die deutsche 4. Strophe entstand erst später auf Bitten des Verlags hin. Die wörtliche Übersetzung, die der Verlag selber anbot, lautete: „Dein Reich, das schon hat begonnen, dein Reich, das nie enden wird.“4 Diese Übersetzung wurde von Zils und Lehmann abgelehnt. Die deutsche Fassung von Lehmann versucht, das Motiv „weder Anfang noch Ende“ sprachlich anders nachzuahmen, und setzt so einen neuen Akzent: Sehn wir in uns einen Anfang, / endlos vollende dein Reich! Der Mensch ist aufgefordert, am Reich Gottes tatkräftig mitzuarbeiten, auch wenn die Vollendung bei Gott liegt. Zum gottesdienstlichen Gebrauch
Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn ist neben dem Lied „Lass mich, o Herr, in allen Dingen“ (EG 414) das Wochenlied für den 18. Sonntag nach Trinitatis. An diesem Sonntag geht es um das gottgefällige Leben. Orientierung dazu bieten die Zehn Gebote (AT: Ex 20,1–17) und das Evangelium vom reichen Jüngling (Mk 10,17–27). Wer im Glauben den Weg der Gerechten (vgl. Ps 1,6) geht, der baut am Reich Gottes mit und befindet sich auf dem Weg der Gerechtigkeit. Ebenfalls ist das Lied Tageslied für den Tag des Apostels und Evangelisten Matthäus (21.9.), wohl aufgrund seiner zahlreichen Anspielungen auf das Evangelium. Neben den oben genannten seien hier noch die Aussendungsrede (Mt 10) und der Missionsauftrag (Mt 28,16ff ) erwähnt. Ob man das Lied eher mit strengem Trommelschlag als Revolutionsmarsch oder als tänzerischen Walzer musiziert, bleibt den Ausführenden überlassen. Auf jeden Fall bietet es sich an, dieses Lied im Wechsel zwischen Vorsänger*innen und Gemeinde zu singen. So ist für die Gemeinde auch das auswendige Singen möglich. Es lohnt sich, dem Gebetscharakter dieses Liedes nachzuspüren, vielleicht sogar als Explikation der zweiten Vaterunser-Bitte Dein Reich komme. Und natürlich bietet das Lied vielfältige Anknüpfungspunkte für unsere Vorstellung vom Reich Gottes, das doch ganz anders ist als alle Reiche dieser Welt. Nico Szameitat
4 U. a. Thuma Mina, 245.
Damit aus Fremden Freunde werden (EG.E 31)
Text und Melodie: Rolf Schweizer (1936–2016) T / M: 1982 Entstehung: Liturgische Einordnung: 21. Sonntag nach Trinitatis
Biographische Anmerkungen Rolf Schweizer wurde am 13. März 1936 in Emmendingen in Baden geboren und starb am 6. Juni 2016 in Selb. Nach dem Studium der Kirchenmusik versah er in Mannheim an der Johanniskirche seine erste Stelle als Kantor und war danach 1966–2001 als Bezirkskantor in Pforzheim tätig, seit 1975 auch als Landeskantor von Mittelbaden. 1984 bekam er den Titel „Professor“ für die Fachgebiete der Kirchenmusik verliehen. Auf drei Gebieten hat er überregional starken Einfluss gewonnen und Spuren hinterlassen: als Autor Neuer Geistlicher Lieder und Komponist größerer Werke; als Theoretiker der Kirchenmusik, der durch zahlreiche Vorträge und Publikationen seinen Beitrag zur konzeptionellen Debatte über Kirchenmusik leistete1; sowie als Kirchenmusik-Pädagoge mit besonderem Schwerpunkt in der Erschließung des Singens und Musizierens mit Kindern und Jugendlichen. Aus der Praxis der Kinderchöre und Jugendkantorei heraus und im Kontext seines Kirchentagsengagements komponierte Schweizer ab den 1960er Jahren etliche Neue Geistliche Lieder. Sie nehmen das Bedürfnis nach stärkerer Rhythmik auf, ohne sich einfach den Moden der Popmusik zu verschreiben. Ein spezifischer Stil rhythmischer Lieder entstand auf diese Weise, mit dem er sich bis ins Evangelische Gesangbuch durchsetzte, wo Schweizer zu den quantitativ am stärksten vertretenen Autoren Neuer Geistlicher Lieder zählt.2 Neben den in mehreren Liederbüchern gesammelten Liedern umfasst Rolf Schweizers kompositorisches Schaffen Chor- und Kammermusik, Bläser- und Orgelstücke.
1 Vgl. Rolf Schweizer: Ritual und Aufbruch. Kirchenmusik zwischen pädagogischem Auftrag und künstlerischem Anspruch, hg. von Peter Bubmann, München 1996. 2 Vgl. EG 226, 285, 287, 416, daneben Lieder in den Regionalteilen des EG sowie etliche Lieder in den Beiheften zum EKG und EG.
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Historische Verortung Damit aus Fremden Freunde werden war das Motto des Landesmissionsfestes 1982 in Baden, wozu Schweizer das Lied „in Ermangelung geeigneter traditioneller Lieder“3 in Text und Melodie beisteuerte. Die beginnenden 1980er Jahre waren politisch geprägt von starken Spannungen im Ost-West-Konflikt und den Diskussionen um Atomwaffen sowie den NATO-Doppelbeschluss zur Stationierung atomar bestückter Mittelstreckenraketen in Westeuropa (Ende 1979). Eine starke Friedensbewegung formierte sich und fand auch in kirchlichen Milieus, insbesondere bei Kirchentagen, breitere Unterstützung. In dieser Situation konnte Schweizers Lied auch als ein Appell zum Friedensengagement gelesen werden und war deshalb sowie aufgrund seines persönlichen Engagements bei Kirchentagen ab 1983 wiederholt in Kirchentagsliederheften enthalten. Das Lied ist in allen regionalen EG-Anhängen enthalten (außer Nordelbien) sowie in vielen weiteren evangelischen Liederbüchern und -heften, u. a. auch im zweisprachig deutsch-englischen Gesangbuch4. Im römisch-katholischen Bereich ist das Lied hingegen kaum verbreitet.
Zum Text Rolf Schweizer beschreibt selbst seine Textintention im Aufbau des sechsstrophischen Liedes: 1. Der Menschen-Bruder und Gottes-Sohn durchlebt das menschliche Schicksal, damit uns das Evangelium erreichen kann. 2. Er ist unter uns in seinen Geschwistern, und er kennt hierbei keine Rassentrennung. 3. Er selbst wird zum lebendigen Beispiel konsequenter Liebe und damit die einzige Hoffnung für den Frieden unter seinen Geschöpfen. 4. Die Gleichheit der Geschwister Christi und der Kinder Gottes ist daraus zu ersehen, wie sie miteinander umgehen und ihr Glück und Brot untereinander teilen. Die beiden letzten Strophen geben dem Gedanken der Menschenfamilie in Gottes Haus weitere Perspektiven: Nachdem Gott die Menschen nach seinem Ebenbild schuf, obliegt ihnen auch die Verantwortung für diese Erde. Die Schöpfung ist das Haus, in dem die Menschen leben und für das sie Verantwortung tragen (fünfte Strophe). Damit es zu den Veränderungen beim einzelnen Menschen, in den Gemeinden, auf den Kontinenten und in den verschiedenen Völkern kommen kann, benötigen wir den Heili-
3 Rolf Schweizer, in: Dietrich Meyer (Hg.): Das neue Lied im Evangelischen Gesangbuch. Lieddichter und Komponisten berichten, Arbeitshilfen des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland 3, Düsseldorf 21997, 268–276: 272. 4 Gottesdienst-Institut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Hg.): Mit Herz und Mund. Rejoice, My Heart. Gesangbuch – Hymnbook, München 2020, 260 (mit englischer Fassung).
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gen Geist, den Jesus von Nazareth verheißen hat, und der allein Menschen und menschliche Gemeinschaften aus der Enge des Egoismus und des Hasses zur Einigkeit und zum Frieden führen kann (sechste Strophe).5
Der Text zeigt mithin einen theologisch fundiert durchdachten Aufbau: Nach den inkarnations- und kreuzestheologischen Strophen 1–3 (kommst du als Mensch Str. 1; gehst du als Bruder durch das Land Str. 2; lebst du die Liebe bis zum Tod Str. 3) fügen sich mit Strophe 4 eine Reformulierung der Soteriologie im Sinne präsentischer Eschatologie (schenkst du uns Lebensglück und Brot) und dann schöpfungstheologische (Str. 5) wie pneumatologische Erweiterungen (Str. 6) an. So wird ein klassisch-trinitarisches Denken mit christologischer Schwerpunktsetzung deutlich. In alledem zielt Schweizer zugleich auf eine Transformation der Menschheit hin zu Menschlichkeit (Str. 2), Frieden (Str. 3), Rettung vor Hungersnot (Str. 4), Bewahrung der Schöpfung (Str. 5) und Einheit der Völkergemeinschaft (Str. 6). Die auch sonst für Rolf Schweizers Lieder charakteristische Verbindung von christologischer Prädikation und ethischem Engagement für eine Welt im Sinne Gottes wird auch in diesem Lied deutlich. Dass im Sprachgebrauch heute eine gut begründete Zurückhaltung gegenüber dem Begriff der Rassen herrscht, sollte nicht dazu führen, die 2. Strophe zu meiden. Hier könnte gegebenenfalls Rassen auch durch Völker (Str. 6) oder „Menschen“ ersetzt werden. Jedenfalls will Schweizer mit dieser Strophe gerade die Universalität des Heils und die Gleichwertigkeit aller Menschen unterstreichen. Der Liedtitel rekurriert auf das Gegenüber von Fremden und Freunden, weniger auf den ebenfalls biblisch beziehungsreichen Gegensatz von Fremde und Heimat, wie er im 1. Petrusbrief sowie in Hebräer 11 thematisiert wird. Schweizers Text ruft vor allem Anklänge johanneischer Theologie auf: Gott inkarniert sich in Jesus Christus und kommt so in sein Eigenes, die Welt, die zugleich mit diesem Kommen Gottes fremdelt. In den Jüngern wird die Fremdheit der Welt zur Freundschaft mit Christus transformiert, weil sich Jesus wie ein echter Freund an seine Freunde hingibt und „sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Auch in Schweizers 1. Strophe sind zunächst die Überwindung der Gottesfremde und die Konstitution der Freundschaft mit Christus im Blick. „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete“ (Joh 15,14). Die Erwählung geht von Christus aus: „Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan“ (Joh 15,15b). Seine Freunde werden von der Botschaft des Evangeliums erreicht (vgl. Str.1: damit die Botschaft uns erreicht). Die Gottesfreundschaft bleibt nicht bei sich, sondern hat in die Welt auszustrahlen und Frucht zu bringen: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt“ (Joh 15,16). Diese Frucht aber
5 Schweizer, in: Meyer (Hg.), Das neue Lied (Anm. 3), 272.
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besteht aus der Liebe, die sich im Einsatz für den Frieden zeigt (Joh 15,17: „Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt“; vgl. Str. 3: lebst du die Liebe bis zum Tod. / Du zeigst den neuen Weg des Friedens, / das sei uns Auftrag und Gebot). Doch lebt dieser Auftrag vom vorlaufenden Geschenk Gottes (schenkst du uns Lebensglück und Brot, Str. 3). Beim Lebensglück darf die (Glück-) Seligpreisung (makarios) der Seligpreisungen (Mt 5,1–12) assoziiert werden, beim Brot leibliche wie geistliche Speise, also auch das Abendmahl. In den Verben helfen, retten verdichtet sich die Heilsabsicht Gottes (Str. 4). Ganz in johanneischer Diktion erscheint der Heilige Geist als die verheißene Verbindung zu Gott, die tröstende Orientierung fürs Leben zu geben vermag (Joh 14,15–26; 16,7–11, vgl. Str. 6). Und wie die Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium mit der Bitte um die Einheit der Jüngerschaft enden (Joh 17,21), so endet auch Schweizers Lied mit der Bitte um den Geist, der den Weg zur Einigkeit uns weist (Str. 6). Das meint zunächst die Einheit der ganzen Menschheit, also der bewohnten Erde, darf aber auch auf die Ökumene der Christenheit bezogen werden. Das recht einfache rhythmische Versschema besteht aus vier Jamben (Tetrameter) mit hyperkatalektischem Versende in Vers 1 und 3 (eine zusätzliche unbetonte Silbe).
Zur Melodie Die schlichte Liedweise bedient sich des ungeraden Taktes und verströmt somit eine geradezu heitere Gelassenheit. Die Leichtigkeit der melodischen Bewegungen wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass jede der Zeilen mit der schwebenden Terz, der 3. Stufe begonnen wird, lediglich in der dritten Zeile bekommt diese noch einen Auftakt vorangestellt: Du gehst den Weg. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass in der Melodie die 7. Stufe ausgespart bleibt, damit kommt es in der 2. und 4. Zeile zu einer pentatonischen Tonfolge, welche die Schwerelosigkeit des Singens noch deutlicher unterstreicht.6
Die sich insgesamt im Umfang einer Oktave, aber meist lediglich im Umfangsbereich einer Quinte bewegende Melodie folgt einer leicht einprägsamen Form von vier Verszeilen à drei Takten: Schema: A-B-A-Bvar) und ist erkennbar auf ein gleichmäßig-kadenzielles Fortschreiten unter Einbezug von Nebenstufen in der Begleitung hin angelegt (I – V – II [oder Dur-Parallele] – IV – VI – II – V [bei der Wdh.: + I]). Die Melodie könnte auch eine Kinderlied- oder Wiegenliedmelodie sein – die Gemeinde einfach einmal unbegleitet summen lassen! Sie symbolisiert damit die im Text durchscheinende christologisch fundierte zuversichtliche Geborgenheit. Das Lied ist allerdings selten in Kinderliedsammlungen aufgenommen worden.7 Mit seiner teils 6 Schweizer, in: Meyer (Hg.), Das neue Lied (Anm. 3), 273. 7 Auch nicht in diejenigen Rolf Schweizers selbst; Ausnahmen stellen etwa „Haste Töne. Ein Liederbuch für Kinder und Jugendliche“ (1997), Nr. 57, sowie das baden-württembergische „Liederbuch für die Jugend. Geistliche Lieder für Schule und Kindergottesdienst“ (1995), Nr. 482, dar.
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pentatonisch wirkenden schlichten Melodie könnte es auch eine gute Brücke zum Kindergottesdienst schlagen.8
Liturgische Bezüge Der 21. Sonntag nach Trinitatis kreist um die Bewährung des Glaubens in der Welt: Menschliche Gerechtigkeit und Verantwortung für eine friedliche und gerechte Gestaltung des Lebens kommen in den Blick. „Suchet der Stadt Bestes“ (Jer 29,7) gibt die alttestamentliche Lesung als Direktive vor. Mit der „Waffenrüstung Gottes“ geht es daran, das „Evangelium des Friedens“ in die Welt zu tragen (Lesungstext Eph 6,13.15) und dem Bösen intelligent zu widerstehen (also die andere Backe hinzuhalten, vgl. die Evangeliumslesung Mt 5,38–48). In der Predigtreihe IV werden die oben entfalteten johanneischen Bezüge unmittelbar zum Gegenstand der Predigt (Joh 15,9–17). Eine „Versprechung“ des Liedes mit dem Predigttext durch strophenweise Auslegung und Singen innerhalb der Predigt liegt daher in diesem Fall nahe. Das dem liturgischen Proprium korrespondierende bekannte und beliebte Gebet „O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens“ kann auch in der Vertonung durch Rolf Schweizer (EG 416) dem Wochenlied an die Seite gestellt werden, z. B. als Predigtlied bzw. Sololied nach der Predigt. Der Titel des Liedes hat Spuren hinterlassen, in Predigten, aber wohl auch bei anderen literarischen und musikalischen Veröffentlichungen.9 Auch Bildungs- und Akademie-Veranstaltungen leihen sich den Titel für interreligiöse Begegnungsformate und Projekte aus. In den bedrängenden Situationen der 2020er Jahre von Strömen Flüchtender, neuen Kriegen in Europa und weltweiter (Hungers-) Nöte durch ökologisches Versagen und wirtschaftliche Ungerechtigkeit hat dieses Lied seit seiner Entstehungszeit nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Es könnte am 21. Sonntag nach Trinitatis auch strukturbildend die Liturgie insgesamt prägen und / oder als Medium einer Liedpredigt dienen und dann zur geistlichen Mitte der ganzen Woche werden. Peter Bubmann
8 Für mehrstimmige Singmöglichkeiten ist ein vierstimmiger Satz von Rolf Schweizer selbst (aus dem Jahr 2001) im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche (Nr. 567) leicht zugänglich, ein dreistimmiger Satz aus Schweizers Feder findet sich im Jubila-Liederbuch „Leben mit Christus – Singen vom Leben“ (vom gleichnamigen Kongress Hannover 1986), Nr. 27. 9 Vgl. etwa Joachim C. Häberlein, Wie aus Fremden Freunde werden. Ein politischer Essay über Begegnungen mit Flüchtlingen, Berlin 2018, oder das Musical „Fremde werden Freunde“ von Reinhard Horn nach Texten von Rolf Krenzer, 2014.
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Text: Melodie: Erstveröffentlichung: Liturgische Einordnung:
Jochen Rieß (1931–2015) Matthias Nagel (*1958) T / M: 1985 9. Sonntag nach Trinitatis
Der 21. Deutsche Evangelische Kirchentag 1985 in Düsseldorf stand unter der aus Psalm 24,1a stammenden Losung „Die Erde ist des Herrn“. Im Kirchentagsliederheft 1985 steht das Lied von Jochen Rieß und Matthias Nagel als Nummer 3 in der Rubrik „Die Erde ist des Herrn“, die das Heft mit thematisch einschlägigen neuen und älteren Liedern eröffnet (Nr. 1–18). Das Lied ist außerhalb des damals vom Kirchentag ausgeschriebenen Liederwettbewerbs entstanden. Jochen Rieß schrieb den Text des Liedes spontan in einer knappen halben Stunde im Dezember 1984 während einer Geburtstagsfeier des damaligen Kirchentagspastors Reiner Degenhardt und trug ihn als persönliches Geschenk mit einer eigenen Melodie vor.1 Matthias Nagel begegnete dem Text in einem Info-Heft des Kirchentages und schrieb ebenso spontan seine Melodie dazu.2
Biographisches zu den Verfassern Der Dichter des Textes Jochen Rieß wurde am 11. November 1931 in Essen geboren und starb am 28. Oktober 2015 in Kassel. Er wirkte als Industrie- und Gemeindepfarrer in Dortmund, in Baunatal-Altenbauna bei Kassel und in Cappel bei Marburg, verbrachte aber auch viele Jahre seines beruflichen Lebens im Auftrag der Gossner Mission in Nakuru / Kenia und in Südafrika sowie in Kommunitäten in England und den Niederlanden. Nach seiner Pensionierung lebte er in Mexiko. Über seiner Todesanzeige stehen die Zeilen aus unserem Lied: „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben – Gestundet ist die Zeit, die uns gegeben“ mit der Signatur „(J. R. 1984)“. Die Familie würdigt den Verstorbenen dort mit folgenden Sätzen: „Wir danken für viele gemeinsame Jahre an zahlreichen Orten auf dieser Welt. Viele seiner Worte haben Eingang gefunden in das Leben auf der Erde – dass wir diese
1 Erinnerung von Reiner Degenhardt, zusammen mit einigen biographischen Details mitgeteilt am 17.03.2023. 2 Erinnerung von Matthias Nagel, mitgeteilt am 18.01.2023. Vgl. unten zur Melodie.
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Erde als Gottes gute Schöpfung schützen und bewahren sollen, dafür hat er gedichtet, danach getrachtet.“3 Die Melodie des Liedes stammt von Matthias Nagel.4 Er wurde am 13. Januar 1958 in Löhne in Westfalen geboren und wuchs mit der „bodenständige[n], engagierte[n] Kirchenmusik“ der dortigen Kirchengemeinde auf, erhielt seit seinem siebenten Lebensjahr Klavier- und Orgelunterricht und lernte die kirchliche Chor- und Bläserarbeit kennen. „Der Bezug zum neuen geistlichen Liedgut kam seit meinem 14. Lebensjahr durch kirchliche Jugendfreizeiten zustande. Ich konnte und wollte mich dieser Musikrichtung nie entziehen, weil sie eine direkte Eingängigkeit besitzt und dadurch (nicht nur junge) Menschen dem Glauben nahebringt.“ Nach dem Studium der Kirchenmusik in Herford und Essen war Nagel 1984–2003 Kantor der Evangelischen Kirchengemeinde Düsseldorf-Garath, die dank einer glücklichen multiprofessionellen Teamarbeit zu einer ausstrahlenden evangelischen Profilgemeinde im Rheinland avancierte. 2003–2009 wirkte Nagel als Kirchenmusikdirektor in der Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik der Evangelischen Kirche von Westfalen in Villigst und 2009–2011 als Landesposaunenwart der Evangelischen Kirche im Rheinland, bevor er, der bereits in seinem ganzen Berufsleben auch kirchenmusikalische Lehraufträge und Dozenturen wahrgenommen hatte, 2011 als Professor für kirchliche Popularmusik an die Hochschule für Kirchenmusik in Herford berufen wurde. Aus seinem vielfältigen kompositorischen Schaffen ragen die Liedoratorien „Dietrich Bonhoeffer“ (2002) und „Gaff nicht in den Himmel“ zu Martin Luther (2017) besonders heraus.
Zum Text Das Lied setzt ein mit der Kirchentagslosung „Die Erde ist des Herrn“, dem programmatischen Eröffnungssatz des 24. Psalms. Im Lied bildet dieses Bekenntnis die Grundlage und den Ausgangspunkt von Aufrufen, dem entsprechend zu leben. Die Forderungen sind im Imperativ Singular gehalten; als Aufrufe einer Gemeinschaft (wir) ergehen sie mit persönlicher Eindringlichkeit an die Menschen als Einzelne. Die erste Hälfte der 1. Strophe (Die Erde ist des Herrn, / geliehen ist der Stern, auf dem wir leben) und die zweite Hälfte der letzten Strophe (Denn der in Jesus Christ / ein Mensch geworden ist, bleibt unsre Stärke) legen einen indikativisch begründenden Rahmen um den Block von sechs Imperativen. Dieser Block setzt folgernd (drum …) mit der zweiten Hälfte der 1. Strophe ein (… sei zum Dienst bereit; gebrauche deine
3 Todesanzeige in der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen am 31.10.2015. 4 Das Folgende nach Matthias Nagel, in: Dietrich Meyer (Hg.): Das neue Lied im Evangelischen Gesangbuch. Lieddichter und Komponisten berichten (Arbeitshilfen des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland 3), Düsseldorf 21997, 202 f. sowie nach dem Wikipedia-Artikel.
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Kraft; vertraue auf den Geist; geh auf den andern zu; leg deine Rüstung ab; verlier nicht die Geduld), bevor ein denn zur abschließenden Begründung überleitet. Der indikativische Rahmen ist zu Beginn schöpfungstheologisch akzentuiert. Dies kann zum einen aus der Fortsetzung der biblischen Losung in Psalm 24 erschlossen werden: „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, / der Erdkreis und die darauf wohnen. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet / und über den Wassern bereitet“ (Ps 24,1 f.). Ebenso klingt in Strophe 1 Zeile 2 Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben mit, dass Gott den Menschen zu seinem Mandatar in der geschaffenen Welt bestimmt (1. Mose 1,28) bzw. ihn „in den Garten [gesetzt hat], dass er ihn bebaute und bewahrte“ (1. Mose 2,15). Die Erde ist den Menschen nur geliehen, von Gott zu treuen Händen anvertraut – ein Gedanke, der sich in der Umwelt- und Klimakrise in den letzten Jahrzehnten dahingehend konkretisiert hat, dass wir die Erde von unseren Kindern und Enkeln bzw. den zukünftigen Generationen geliehen haben. Der abschließende Teil des indikativischen Rahmens ist christologisch bzw. inkarnationstheologisch bestimmt: Denn der in Jesus Christ / ein Mensch geworden ist, bleibt unsre Stärke. Nimmt man die Erwähnung des Geistes in Strophe 2 Zeile 3 hinzu, kann man ein trinitätstheologisches Muster erkennen. Alle sechs Imperativsätze haben ihrerseits eine begründende oder erläuternde Umgebung. Der erste folgert zunächst daraus, dass die Erde den auf ihr lebenden Menschen nur geliehen ist: Drum sei zum Dienst bereit! Menschen tragen Gott als Eigner und Herrn der Erde dadurch Rechnung, dass sie in Verantwortung vor Gott mit dieser Leihgabe umgehen, zwar von ihr leben und sie kultivieren, aber sie nicht beschädigen oder zerstören, sondern schützen und erhalten. Nicht nur ist durch das Dienstverhältnis die Verfügungsgewalt der Menschen über die Erde begrenzt, sondern auch die ihnen zur Verfügung stehende Zeit: Gestundet ist die Zeit, die uns gegeben. Das befristete Dienstverhältnis soll nun aber entschlossen wahrgenommen werden. Gebrauche deine Kraft, lautet der zweite Imperativ: Nutze die Möglichkeiten, die dir gegeben sind, schöpf dein Potenzial aus, tu was! Wie die biblischen Gleichnisse von den ungleichen Söhnen (Mt 21,28–32) und von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14–30; vgl. Lk 19,12–27) verwehrt das Lied die quietistische Option, die Hände in den Schoß zu legen und die Dinge einfach laufen zu lassen. Wer kreativ und / oder produktiv tätig ist, stiftet Zukunftshoffnung und trägt so zur Überwindung gesellschaftlicher Lähmung und Resignation bei. Der dritte Imperativ Vertraue auf den Geist, / der in die Zukunft weist wird in der Zusage Gott hält sie offen verankert. Er stellt das Zutrauen in die Selbstwirksamkeit bei der Lebens- und Weltgestaltung in den Horizont des Vertrauens auf Gott, der „nicht fahren lässt das Werk seiner Hände“ (nach Ps 138,8), der sein Volk aufruft, „der Stadt Bestes“ zu suchen, und dafür einsteht, „dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jer 29,7.11). Die beiden Gebote der 2. Strophe Gebrauche deine Kraft und Vertraue auf den Geist konkretisieren das grundlegende Gebot sei zum Dienst bereit hinsichtlich der
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Aktivität, der Arbeit, des Engagements. Sie entsprechen einander im Sinne einer cooperatio dei et hominum, eines Zusammenwirkens Gottes und der Menschen.5 Die beiden Gebote der 3. Strophe Geh auf den andern zu und Leg deine Rüstung ab betreffen das – und zwar friedliche – Miteinander der Menschen. Auch sie sind komplementär aufeinander bezogen; das grundlegende Geh auf den andern zu wird antithetisch verstärkt durch Leg deine Rüstung ab. Geh auf den andern zu wird kommentiert mit Zum Ich gehört ein Du, um Wir zu sagen. Diese elementare Weisheit, die biblisch grundlegend in der Erzählung 1. Mose 2,18–25 Ausdruck findet, hat vor allem Martin Buber philosophisch reflektiert.6 Gegen die – sei es drohende, sei es bereits eingetretene – Vereinzelung oder gar Verfeindung von Menschen bedarf es des Mutes, Distanzen zu überwinden und sich dabei – Leg deine Rüstung ab – wehrlos und angreifbar zu machen. Das Risiko wird nicht verschwiegen, aber, ähnlich, wie dies in der 2. Strophe geschah, in das Vertrauen auf Gottes Handeln und Hilfe aufgenommen: Weil Gott uns Frieden gab, kannst Du ihn wagen. Derselbe Gedanke ist in Kurt Rommels Lied „Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen“ (1963) entfaltet, in dessen Gebetsrahmen (Str. 1 und 5) es heißt: „gib mir den Mut zum ersten Schritt. / Lass mich auf deine Brücken trauen, / und wenn ich gehe, geh du mit.“ Biblisch steht Jesu Gebot des Gewaltverzichts und der Feindesliebe (Mt 5,38–48), zeitgeschichtlich der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre im Hintergrund, wobei es in Jochen Rieß’ Lied, wie schon erwähnt, um den Mut und die Entscheidung der Einzelnen geht. Nachdem die Strophen 2 und 3 das Grundgebot der Dienstbereitschaft (Str. 1) hinsichtlich der Aktivität und Sozialität konkretisiert haben, lenkt Strophe 4 mit dem sechsten und letzten Imperativ ins Grundsätzliche zurück. Auf allen Bewährungsfeldern des tätigen und gemeinschaftlichen Lebens gilt es, Widerständen, Rückschlägen, Erfahrungen der Vergeblichkeit und des Scheiterns standzuhalten: Verlier nicht die Geduld. Gegen Verzagen und Resignation, die aus dem Gefühl des inneren Ungenügens und der Erfahrung äußerer Gegenkräfte erwachsen, wird nach dem Bauplan des ganzen Liedes auf das Handeln Gottes verwiesen: Inmitten aller Schuld ist Gott am Werke. Das Ganze zusammenfassend, wird zum Abschluss die Menschwerdung Jesu Christi in Erinnerung gerufen, in dem Gott sich selbst aller Schuld ausgeliefert und sie so überwunden hat: Denn der in Jesus Christ / ein Mensch geworden ist, bleibt unsre Stärke. Der Apostel Paulus hat diesem Paradox in 2. Korinther 12,7–10 klassischen Ausdruck verliehen: „‚Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.‘ … Darum bin ich guten Mutes … um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (V. 9.10). 5 Vgl. nach 1. Kor 3,9 klassisch Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18, 754. 6 Vgl. z. B. Martin Buber, Das Problem des Menschen, Frankfurt am Main 1948, 116: „Das Wir schließt das Du potenziell ein. Nur Menschen, die fähig sind, zueinander wahrhaft Du zu sagen, können miteinander wahrhaft Wir sagen.“
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Trotz der Vielzahl von Imperativen wirkt das Lied nicht gesetzlich. Appellativ ist es allenfalls in dem Sinne, dass es zur Wahrnehmung der von Gott geschenkten Heilswirklichkeit und Betätigungsmöglichkeiten ermutigt und ermuntert: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind möglich – ergreife die Chancen, zur Kultivierung und Befriedung der Erde, die des Herrn ist, dein Potenzial einzubringen!
Zur Melodie und ihrem Verhältnis zum Text „Der Text von Jochen Rieß sprach mich auf Anhieb an, weil wichtige Inhalte dort sprachlich sehr treffend und dennoch knapp und präzise ausgedrückt werden“, erinnert sich Matthias Nagel und kommentiert die Melodie wie folgt: Sie „ist ebenfalls von Knappheit geprägt – innerhalb von drei Minuten stand der Melodieverlauf fest. Ich entschied mich für den Choralstil, weil erstens das Choralsingen auch in der Zeit der Neuen Geistlichen Lieder nicht aus der Mode kommen wird, und zweitens, weil es in diesem Text keinen Grund für ‚Rhythmische Spielereien‘ gibt.7 Die Tonart dmoll8 soll die insgesamt ernste Grundstimmung des Textes transportieren. ‚Ernst‘ ist hier nicht zu verwechseln mit ‚hoffnungslos‘! Und so hinterlassen Text und Melodie, vor allem auch in den inzwischen entstandenen Chor- und Bläserbearbeitungen, einen insgesamt schwungvollen und ermutigenden Eindruck. Wie es sich für ein echtes Christenlied gehört!“9 Im Einzelnen10: Die Melodie gliedert sich wie der Text in zwei gleichartige Hälften. Beide bestehen aus je einer Kurzzeile (sechs Silben mit drei Hebungen) und einer Langzeile (elf Silben mit fünf Hebungen), immer im jambischen Versmaß. Das Reimschema der vier Zeilen je Strophe – ABCB – weist allerdings in den Zeilen 1 und 3 einen Binnenreim auf: AABCCB (Herrn–Stern, leben; -reit–Zeit, -geben), so dass man die Strophe auch sechszeilig auffassen kann. Die Melodie trägt dieser Doppeldeutigkeit kongenial Rechnung, indem sie die Tonfolgen der Kurzzeilen 1 und 3 zu Beginn der Langzeilen 2 und 4 sequenzartig wiederholt, in der 1. Strophenhälfte eine Terz höher, in der 2. eine Sekunde tiefer. Während aber die musikalische Phrase in den Kurzzeilen 1 und 3 in einer deutlichen Zäsur endet (Halbe und Viertelpause), fließt sie in den Langzeilen 2 und 4 bruchlos weiter. Diese musikalische Behandlung entspricht auch in sechs von acht Fällen dem Duktus des Textes; nur in der jeweils
7 Eine musikalische Alternative bietet neuerdings (2021) Dennis Thielmann: https://de.bienenberg. ch/medien/songvideo-die-erde-ist-des-herrn (abgerufen am 18.03.2023). 8 In der Erstveröffentlichung im Kirchentagsliederheft 1985 Nr. 3 sowie in „Mein Liederbuch“ (2007), Nr. 4: e-Moll. 9 Nagel, in: Meyer (Hg.), Das neue Lied, 203. 10 An den Abschnitten zur Melodie hat Beate Besser mitgewirkt.
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zweiten Hälfte der Strophen 2 und 4 überbrückt der Melodiebogen eine textliche Zäsur (Gott hält sie offen bzw. bleibt unsre Stärke). Der 1. Teil mit seinem fanfarenartigen Dreiklangmotiv und seiner um eine Terz erhöhten Wiederholung bewegt sich im unteren Bereich des Ambitus und verharrt in der Mitte – buchstäblich in der melodischen Mitte, nämlich auf der Quinte – in der Schwebe, während der 2. Teil nach dem Aufstieg in die Oberoktave und der um einen Ton tieferen Wiederholung zum Grundton zurückführt. Als Tonalität ist d-Moll notiert, jedoch fehlt sowohl in der Melodie selbst als auch in den angegebenen Harmonien der funktionsharmonische Leitton.
Liturgischer Kontext „Es ist ja, Herr, dein G’schenk und Gab / mein Leib und Seel und was ich hab / in diesem armen Leben. / Damit ich’s brauch zum Lobe dein, / zu Nutz und Dienst des Nächsten mein, / wollst mir dein Gnade geben.“ Mit diesen Zeilen aus dem anderen Wochenlied des 9. Sonntags nach Trinitatis („Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“ von Martin Schalling, EG 397, 2. Strophe) und ebenso mit dem als Predigttext für diesen Sonntag vorgeschlagenen Gleichnis „Von den anvertrauten Talenten“ (Mt 25,14–30) klingt Die Erde ist des Herrn am engsten zusammen: Es geht darum, dass Menschen in und mit ihrem Leben, in dem, was sie denken, sagen und tun, dem entsprechen, was Gott ihnen zudenkt und zuspielt, zutraut und zumutet. Das ist im Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle (Mt 13,44–46), dem Evangelium des Sonntags, der Entschluss, alles andere um dieses Gewinnes willen dranzugeben. Ganz ähnlich Paulus in der Epistel Phil 3,4–14, nach der er um Christi willen für Schaden erachtet, was ihm einst Gewinn war. Und ebenso Jeremia, der zum Propheten berufen und – seiner Jugend zum Trotz – bevollmächtigt wird (atl. Lesung Jer 1,4–10). In den beiden anderen ergänzenden Predigttexten bittet Salomo um „ein gehorsames Herz …, dass er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist“ (1. Kön 3,5–28: V. 9), und endigt Jesus die Bergpredigt mit dem Gleichnis vom Hausbau – auf Fels oder auf Sand (Mt 7,24–27). Der Wochenspruch fasst es zusammen: „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern“ (Lk 12,48b). Etwas zu wagen und nicht zu verzagen: dazu ermutigt Die Erde ist des Herrn. Martin Evang
Alphabetisches Verzeichnis der Liedanfänge
Atme in uns, Heiliger Geist (EG.E 7) Auf Seele, Gott zu loben (EG.E 15) Da wohnt ein Sehnen tief in uns (EG.E 24) Damit aus Fremden Freunde werden (EG.E 31) Die Erde ist des Herrn (EG.E 32) Die Heiligen, uns weit voran (EG.E 27) Du bist der Weg (EG.E 23) Es kommt die Zeit (EG.E 8) Gelobt sei deine Treu (EG.E 16) Ich bin das Brot, lade euch ein (EG.E 11) Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt (EG.E 17) Ich sage Ja (EG.E 10) Ich sing dir mein Lied (EG.E 19) In Christus gilt nicht Ost noch West (EG.E 13) In einer fernen Zeit (EG.E 4) Kreuz, auf das ich schaue (EG.E 22) Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn (EG.E 30) Lass uns in deinem Namen, Herr (EG.E 25) Lobe den Herrn, meine Seele (EG.E 14) Meine engen Grenzen (EG.E 12) Menschen gehen zu Gott in ihrer Not (EG.E 2) Mit dir, Maria, singen wir (EG.E 18) Mit dir, o Herr, die Grenzen überschreiten (EG.E 26) Stern über Bethlehem (EG.E 1) Stimme, die Stein zerbricht (EG.E 21) Unser Vater – Bist zu uns wie ein Vater (EG.E 9) Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht (EG.E 28) Wir feiern deine Himmelfahrt (EG.E 6) Wir gehn hinauf nach Jerusalem (EG.E 3) Wir haben Gottes Spuren festgestellt (EG.E 20) Wir stehen im Morgen (EG.E 5) Wo Menschen sich vergessen (EG.E 29).
Autorinnen und Autoren
Ilsabe Alpermann, *1959, Dr. theol., 2007–2022 Studienleiterin für Prädikanten ausbildung und Gottesdienst in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (Berlin), seit 2022 Äbtissin im Kloster Stift zum Heiligengrabe Christoph Anders, *1960, Theologischer Referent für Kuba und Lateinamerika im Berliner Missionswerk, Gemeindepfarrer in Berlin-Frohnau, Direktor des Evangelischen Missionswerks in Deutschland (EMW; jetzt: Evangelische Mission Weltweit); jetzt Gemeindepfarrer in Berlin-Waidmannslust Jochen Arnold, *1967, Dr. theol. habil., Honorarprofessor; A-Kirchenmusiker und Pfarrer; nach Stationen in Reutlingen und Stuttgart seit 2004 Direktor des Michaelis klosters Hildesheim; Vorsitzender der Liturgischen Konferenz; Privatdozent für Systematische und Praktische Theologie in Leipzig; Liturgieberater der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa; Herausgeber der Buchreihe „gemeinsam gottesdienst gestalten“ Christina Aus der Au, *1966, Prof. Dr. theol., Dozentin für Religionen und Ethik an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und Kirchenpräsidentin der Evangelischen Landeskirche Thurgau / Schweiz Beate Besser, *1963, Kantorin in Schönebeck / Elbe, seit Dezember 2012 Landeskirchenmusikdirektorin der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg, Co-Vorsitz „Liedauswahl“ der Kommission für das neue Gesangbuch, stv. Vorsitzende der Liturgischen Konferenz Peter Bubmann, *1962, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, daneben als Melodist und Kirchenmusiker ehrenamtlich tätig und Mitglied der Landessynode der Evangelisch-Luthe rischen Kirche in Bayern Inken Christiansen, *1973, Lehrerin sowie Orientierungsstufenleiterin am Johanneum zu Lübeck, langjährige ehrenamtliche Mitarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, u. a. in Liederheftausschüssen, Redaktionsmitarbeit für „Der Andere Advent“ (Andere Zeiten e. V.) Alexander Deeg, *1972, Prof. Dr. theol., Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, von 2009–2011 Leiter des Zentrums für evangelische Predigtkultur in
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Autorinnen und Autoren
Lutherstadt Wittenberg, seit 2011 Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD Martin Evang, *1957, Dr. theol., Gemeindepfarrer in Düsseldorf, Landespfarrer für Gottesdienst in der Ev. Kirche im Rheinland, Theologischer Referent für Gottesdienst bei der UEK in Hannover, jetzt im Ruhestand in Heiligengrabe Anne Gidion, *1971, Studium der Theologie und Kunstgeschichte, haupt- und ehrenamtlich beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, Referentin für Kirchen- und Religionsgemeinschaften im Bundespräsidialamt, Pastorin in Hamburger Gemeinden, Gottesdienstinstitut und Pastoralkolleg der Nordkirche, Bevollmächtigte des Rates der EKD in Berlin und Brüssel Stephan Goldschmidt, *1964, Dr. theol., Gemeindepfarrer in Marburg und Kassel, Theologischer Referent für Gottesdienst und Kirchenmusik im Kirchenamt der EKD, aktuell Pastor in Hannover und Referent im Michaeliskloster in Hildesheim Ulrike Greim, *1971, Rundfunkbeauftragte der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, zuvor 20 Jahre lang Journalistin u. a. für MDR und DLF, lebt in Weimar Marit Günther, *1976, Pfarrerin i. E. Ev. Kulturbüro RUHR.2010, Gemeindepfarrerin in Dortmund, Landeskirchliche Beauftragte für den 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dortmund, jetzt Geschäftsführerin und Pfarrerin der jugend-kulturkirche sankt peter gGmbH in Frankfurt Hartmut Handt, *1940, Dipl.-Theologe, Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche in USA und NRW; Bundeswart im Christlichen Sängerbund, Leiter der Agentur „radio m“; Beauftragter für Kirchenmusik und Agende; Vorsitzender für das Gesangbuch 2002; Herausgeber von Liederbüchern und Chormusik, Autor von Gedichten und Geschichten, Übersetzer von Liedtexten, lebt in Aufkirchen (Oberbayern) Julia Helmke, *1969, Dr. theol., zuletzt Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages und nun Oberkirchenrätin für Theologie, Gottesdienst, Kirchenmusik und Geistliches Leben in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Honorarprofessur Christliche Publizistik in Erlangen Wibke Janssen, *1965, Dr. theol., Pfarrerin in Gemeinde, Krankenhaus, Schule; seit 2022 Oberkirchenrätin für Theologie und Ökumene in der Evangelischen Kirche im Rheinland
Autorinnen und Autoren
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Ilse Junkermann, *1957 in Dörzbach / Jagst, nach dem Studium der Ev. Theologie und Germanistik (Grundstudium) in Tübingen und Göttingen von 1983 bis 1995 Vikariat und Gemeindepfarrdienst in Horb am Neckar und Stuttgart, 1995 Studienleiterin für Pastoraltheologie und Predigtlehre am Pfarrseminar in Stuttgart-Birkach, 1997 Personaldezernentin der Württ. Ev. Landeskirche, ab 2007 auch Ausbildungsdezernentin, 2009 1. Landesbischöfin der neu-fusionierten Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), seit 2019 Leiterin der Forschungsstelle „Kirchliche Praxis in der DDR. Kirche (sein) in Diktatur und Minderheit“ am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät Universität Leipzig Annette Kurschus, *1963, Dr. theol. h. c., Gemeindepfarrerin in Siegen, Superintendentin im Kirchenkreis Siegen, Präses der Ev. Kirche von Westfalen, Ratsvorsitzende der Ev. Kirche in Deutschland, lebt in Bielefeld Bernhard Leube, *1954, Gemeindepfarrer in Willmandingen, Pfarrer im Amt für Kirchenmusik Stuttgart und Dozent für Liturgik, Hymnologie und Theologie an der Hochschule für Kirchenmusik Tübingen, jetzt im Ruhestand in Eislingen Uwe Maibaum, *1962, nach Studium der evangelischen Kirchenmusik 1991–2006 Kantor an der Salvatorkirche Duisburg, seit 2007 Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck Andreas Marti, *1949. Theologiestudium und Musikstudium (Orgel und Cembalo) in Bern. Bis 2019 Organist und Kirchenchorleiter in Köniz bei Bern. Mitarbeit am Reformierten Gesangbuch (1998) und am Liturgiewerk der ev.-ref. Kirchen der deutschsprachigen Schweiz. Ehemals Dozent für kirchenmusikalische Theoriefächer an mehreren Universitäten und Musikhochschulen in der deutschsprachigen und französischsprachigen Schweiz und in Graz. Im Ruhestand aktiv als Organist, Cembalist und Chorleiter Britta Martini, *1952, Dr. phil., wiss.-künstlerische Assistentin am Kirchenmusikalischen Institut der HMT Leipzig; Landeskirchenmusikdirektorin in Görlitz; Studienleiterin für die kirchenmusikalische Aus- und Fortbildung in der EKBO; jetzt im Ruhestand in Berlin Gudrun Mawick, *1964, Gemeindepfarrerin in Bottrop und Hagen, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Kirchenreform im Kirchenkreis Unna, danach im Fachbereich Gottesdienst und Kirchenmusik im Institut für Aus-, Fort und Weiterbildung der EKvW tätig, seit 2019 theologische Oberkirchenrätin für Gemeindedienst und Seelsorge in der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg
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Autorinnen und Autoren
Gabriele Rink, *1960, M. A., Musikwissenschaftlerin, Konrektorin der musikalischen Allegro-Schule in Berlin Mitte Sigurd Rink, *1960, Dr. theol., Propst für Süd-Nassau 2002–2014, Militärbischof 2014–2020, leitet den Bereich Theologie und Ethik in der Diakonie Deutschland Günter Ruddat, *1947, Dr. theol., 1971 Assistent für Praktische Theologie an der Universität Bonn, 1976 Gemeindepfarrer in Leverkusen-Wiesdorf, 1991 Professor für Praktische Theologie zuerst an der Ev. Fachhochschule Bochum und dann ab 2001 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, jetzt im Ruhestand in Bochum Matthias Schneider, *1959, Dr. phil., Bezirkskantor in Schopfheim / Baden, Wiss. Assistent an der Universität Basel, seit 1994 Professor für Kirchenmusik / Orgel an der Universität Greifswald, dort auch Dozent für Liturgik und Hymnologie, daneben Präsident der Gesellschaft der Orgelfreunde (2013–2023) und Herausgeber / Verfasser von Noten, Zeitschriften und Büchern; lebt in Glückstadt an der Unterelbe Tatjana K. Schnütgen, *1967, Dr. phil., Gemeindepfarrerin / Kurseelsorgerin in Bad Wörishofen, Vorsitzende Christliche Arbeitsgemeinschaft Tanz in Liturgie und Spiritualität e. V., Tanzpädagogin und Visionssucheleiterin (School of Lost Borders) Harald Schroeter-Wittke, *1961, Dr. theol., Professor für Didaktik der Ev. Religionslehre mit Kirchengeschichte an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn, Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags Timm Siering, *1993, Dr. phil. in art., Mag. theol., Professor für Musikpädagogik und -wissenschaft mit dem Schwerpunkt Musik in der Kirche an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik in Bayreuth, Vikar im Ehrenamt der ELKB Ulrike Suhr, *1955, Dr. theol., Professorin (em.) für Theologie an der Evangelischen Hochschule für Sozialarbeit und Diakonie (Hamburg), 2012–2022 Vorsitzende des ständigen Ausschusses „Abendmahl, Gottesdienst, Fest und Feier“ (AGoFF) des Deutschen Evangelischen Kirchentags, wohnhaft in Glücksburg (Ostsee) Nico Szameitat, *1975, Gemeindepfarrer in Oldenburg (Oldb.), nebenamtlicher Kirchenmusiker, ehem. Referent für Theologie im Oberkirchenrat der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg Ellen Ueberschär, *1967, Dr. theol., u. a. Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, ab 2023 Vorstandsvorsitzende der Stephanus Stiftung BerlinWeißensee