Ich, das Gehirn: Zum Paradox eines sich selbst erforschenden Systems 9783839468494

Vieles deutet darauf hin, dass das 21. Jahrhundert die Epoche des Gehirns werden könnte - samt einer wissenschaftlichen

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Ich, das Gehirn: Zum Paradox eines sich selbst erforschenden Systems
 9783839468494

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Intro – eine Hirnspiration
Leonardo – Mutation
Gehirnmanifest
Distanz 1
Distanz 2: »Scheinbar zufällig«
Das Paradox des Gehirns/Selbstreferentialität
Das Weltgehirn
Sprache/Medien
Kapsel, Kapitel – capsula, caput
Vom inneren Organ zum Massenfetisch und von Descartes zu Thomas Harvey
Bewusstseinserweiterung
Externalisiertes Gehirn
Kunst, Fantasien, Metaphern, Aura
»[…] oder was immer der Heimatdialekt von Neuronen ist«
Sprache/Metapher: »Container«
Das virtuelle Organ. Aporien des Bewusstseins
Weltnervensystem/Weltgehirn
Gewalt
Zum Transhumanismus und Unschluss
Literatur

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Herbert M. Hurka Ich, das Gehirn

Edition Moderne Postmoderne

Editorial Die Edition Moderne Postmoderne präsentiert die moderne Philosophie in zweierlei Hinsicht: zum einen als philosophiehistorische Epoche, die mit dem Ende des Hegel’schen Systems einsetzt und als Teil des Hegel’schen Erbes den ersten philosophischen Begriff der Moderne mit sich führt; zum anderen als Form des Philosophierens, in dem die Modernität der Zeit selbst immer stärker in den Vordergrund der philosophischen Reflexion in ihren verschiedenen Varianten rückt – bis hin zu ihrer »postmodernen« Überbietung.

Herbert M. Hurka, geb. 1949, ist freier Publizist. Er ist Redakteur bei der Zeitschrift »Ästhetik & Kommunikation« und arbeitet als freier Mitarbeiter für die »Badische Zeitung«. Seine Themenfelder sind Kultur-, Medien- und Kunsttheorie.

Herbert M. Hurka

Ich, das Gehirn Zum Paradox eines sich selbst erforschenden Systems

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839468494 Print-ISBN: 978-3-8376-6849-0 PDF-ISBN: 978-3-8394-6849-4 Buchreihen-ISSN: 2702-900X Buchreihen-eISSN: 2702-9018 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Danken möchte ich vor allem Gabriele Ewels-Hurka für ihre aufmerksame und kritische Begleitung meiner Arbeit an diesem Buch wie auch für ihre mich seit Jahren inspirierenden Bilder. Dank schulde ich ebenfalls Dierk Spreen für einen langen und konstruktiven Austausch, insbesondere für die Anregungen zum Thema »Transhumanismus«.

»Wittgenstein sagte gern, nichts könne sich selbst erklären. Ich bin nicht sicher, wie weit das entfernt ist von der Aussage, dass Dinge letztlich keine Information über sich selbst enthalten. Aber vielleicht stimmt es, dass man draußen stehen und hineinsehen muss.«   Cormack McCarthy (2022: 84)     »[…] während sein Gehirn seine eigenen Wege ging. «   Clemens J. Setz (2012: 147f)

Inhalt

Intro – eine Hirnspiration ..........................................................13 Leonardo – Mutation ................................................................ 16 Gehirnmanifest ..................................................................... 19 Distanz 1 .......................................................................... 23 Distanz 2: »Scheinbar zufällig«................................................... 25 Das Paradox des Gehirns/Selbstreferentialität .................................... 31 Auktorialer Erzähler ............................................................... 33 Das Weltgehirn .................................................................... 35 Sprache/Medien................................................................... 43 Kapsel, Kapitel – capsula, caput .................................................. 49 Etymologisches .................................................................... 49 Der Schädel ........................................................................ 49 Sezieren – Foltern – Lustreiz........................................................ 50 Speicherplatz ....................................................................... 51 Vom inneren Organ zum Massenfetisch und von Descartes zu Thomas Harvey .. 53 Das denkende Ding................................................................. 54 Phrenologie ........................................................................ 56 Gauß und Fetisch................................................................... 60 Bewusstseinserweiterung ........................................................ 69 Die zu erweiternden Fähigkeiten des Gehirns. Die andere Erkenntnistheorie ......... 69

Drogen............................................................................. 70 Hirndoping ......................................................................... 76 Externalisiertes Gehirn ........................................................... 79 Das Gehirn eines Kapitalisten....................................................... 80 Experiment 2 ...................................................................... 90 Frank im Tank...................................................................... 97 Symbiotische Beziehungen und Schreibmotivation ..................................105 Züchtung echt ......................................................................111 Ultimatives Stadium................................................................ 121 Cybercities........................................................................ 128 Kunst, Fantasien, Metaphern, Aura ............................................... 131 Bildende Kunst .................................................................... 133 Als Motiv seiner selbst............................................................. 136 Exkurs über Schönheit .............................................................145 »[…] oder was immer der Heimatdialekt von Neuronen ist« .................... 163 Trouvaillen ........................................................................ 163 Sprache/Metapher: »Container« ..................................................173 Das virtuelle Organ. Aporien des Bewusstseins .................................. 181 Theorien/Verfahren ................................................................ 181 Medien sind Bewusstein ............................................................201 Das Netz .......................................................................... 204 Weltnervensystem/Weltgehirn ................................................... 225 Ein Weltgehirn denken............................................................. 228 Die autonome Technik............................................................. 229 Technik ........................................................................... 233 Der Gottesblick.................................................................... 239 Big Data .......................................................................... 240 Allwissenheit/Allmacht ............................................................ 246 Das Menschengehirn ist Gott ...................................................... 249 März 2023. ChatGPT. Instanz und monströser Doppelgänger ........................ 255 Gewalt.............................................................................261

Zum Transhumanismus und Unschluss .......................................... 277 Körper vs. Gehirn? ................................................................ 289 Literatur ......................................................................... 299 Websites.......................................................................... 309

Intro – eine Hirnspiration

Auffällig torkelnd, doch noch Halt in den Beinen geraten zwei Affen aneinander, als sie im selben Augenblick auf den Reiz einer in der Nähe faulenden Frucht reagieren. Der Alkohol, dessen Dunst eine Windbö herträgt, verspricht einen weiteren kulinarischen Bissen. Der Schnellere war eben der Schnellere, wenn auch nicht der Stärkere. Im Stammbaum der Evolution könnte man die mit dem Spektakel aus Eckzähnen und einschüchternden Zischlauten mobil machenden Kontrahenten als Vorfahren der Schimpansen unterbringen. Anstatt klein beizugeben, überschätzt sich der Schwächere und wird getötet. Der Sieger, der über den Kampf den Zankapfel längst vergessen hat, registriert schnell, dass er sich mit dem Rauschkumpanen seiner Gesellschaft beraubt hat, umtanzt, wie toll geworden, den frischen Kadaver, kühlt dann mit der Zeit doch herunter und beginnt den leblosen Körper genauer zu inspizieren. Zieht ihn an Armen und Beinen, hierhin, dorthin, dreht ihn schließlich um seine Achse. Vielleicht, vielleicht ja doch nicht richtig tot! In bösartiger Verzweiflung zerrt er ihn urplötzlich an den Nackenhaaren über den Savannenboden, schüttelt, gleich wild losbrüllend, den ohne ein letztes, mickriges Lebenszeichen sendenden Kopf, tobt und knallt den Schädel des toten Genossen auf einen Stein, bis das Fell sich in blutigen Fetzen vom Knochen fleddert. Der Anblick und die intensivere Witterung des Blutes treiben seine Ekstase zum Höhepunkt. Es dauert, bis er sich wieder beruhigt. Stumm und mit schlaff hängenden Armen verharrt er vor dem bewegungslosen Kumpan, starrt ihn unverwandt an, während seine Hand irgendwo herumtastet, als suchte sie etwas Festes und Stabiles. Mit forschenden Blicken umkreist er zuletzt nur noch den Kopf des Kadavers, rückt ihn zurechtgerückt, um mit dem inzwischen gepackten, wie es der Zufall will, scharfkantigen Stein den gerupften Schädel mit einem ausholenden Hieb exakt über der Stirnwulst zu treffen. Die Technik, große Nüsse zu zertrümmern, hat sich auch für diese außer jede Gewohnheit kip-

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pende Herausforderung als gründlich zielführend erwiesen. Tatsächlich saß der Schlag so exakt, dass die Schädeldecke auf Anhieb abgesprungen ist. Vor der hervorquellenden weißlichen, mit einer halbtransparenten Schmierage aus Blut überzogenen Hirnmasse weicht der eben noch diesem befremdlichen Impuls ausgelieferte Sieger zurück, federt hoch, dreht sich verstört um sich selbst, bis er sich wie ehrfürchtig der geknackten Knochenkapsel annähert. Je klarer er das corpus delicti akkommodiert, desto zögerlicher. Als bremste ihn eine Kraft, eine resistente Macht im Inneren, streckt er die Hand nur scheu dem exotischen Fleisch des Artgenossen entgegen, um, kurz bevor er es berührt, wie durch einen Stich in seinem eigenen Gehirn zurückzuzucken. Drei, vier, fünf vergebliche Anläufe, und erst dann überwindet er sich zu einem Fingertipp in die elastische Masse. Da ihn, was die empfindlichen Fingerspitzen so herausfühlen, eigentlich an eine Delikatesse erinnert, schnuppert er, riecht genauer hin, lässt es am Ende aber bleiben, dieses feuchte Etwas zu seiner Zungenspitze zu bringen, um es abzuschmecken. Bis dahin also ein in den Prolog von Stanley Kubricks »2001: A Space Odyssey« hineinprojiziertes Initiations-Szenario. Wenn jener Schimpansenvorfahre, ohne dass er sich dieses dunklen Reflexes erwehren konnte, den Schädel seines Artgenossen sprengte, um einen Blick in den noch nie gesehenen Inhalt des Knochengehäuses zu erhaschen, so brachte ihm dieser jeden Überlebensinstinkt überspringende Gewaltakt zugleich eine Atempause im stress of life, eine Lücke und ein durch den Rausch begünstigtes Ausscheren aus den Gefahren und Stimulanzen der Natur. Es sind temporäre Vakua, die Freiräume für jene Überschüsse aufreißen, die die Evolution braucht – oder ihren Zufällen überlässt? – wie es sich am Beispiel dieses proto-demiurgischen Primaten demonstrieren ließe. Die Greifhand (Autopodium), ausgebildet und geformt durch das immer virtuosere Hangeln, Schwingen und Gleiten durch verwachsene Astwerke, wohl auch schon geübt im Gebrauch von Wurfgeschossen sowie in der Beschaffung und Verarbeitung einer uneinheitlichen Nahrung. Entwickelt zu einer multiplexen Extremität, figuriert die Greifhand als modulares System eines emergenten Zusammenspiels aus Auge und Motorik. In diesen die Grenzen eindimensionaler Spezialisierung weit überbordenden Fähigkeiten akkumulieren sich zunehmend Potenziale, die sich unter bestimmten Bedingungen zwangsläufig aktivieren, weil jener zumeist blockierte Überschuss, wie es das Wort bereits besagt, eine Energie darstellt mit dem unterschwelligen Drang, in Handlungen ihre Möglichkeiten und ihr biologisches Kapital zu erkennen und vorwegzunehmen, eventuell gar mit einer gewissen Inten-

Intro – eine Hirnspiration

tionalität, ja, die mit einem geradezu teleologischen Antrieb danach strebte, auf einem nächsten Evolutionslevel neu zu expandieren. Selbst wenn es sich hier um reine Fiktion handelt, scheint das Szenario mit diesem rücksichtslos-wissbegierigen Affen nicht so weit hergeholt. Schädelfunde deuten darauf hin, dass bereits seit dem homo sapiens Gehirne isoliert, begutachtet, untersucht wurden – somit eine Praxis begonnen hat, die sich durch die antiken Hochkulturen der Sumerer und Ägypter bis heute fortsetzt. Den Ägyptern allerdings, und das sei eingeschränkt, bedeutete das Gehirn nur wenig. Nachdem es Anubis-Priester den zu mumifizierenden Toten mit langen Haken durch die Nasenlöcher herausgezogen hatten, wurde es schlichtweg entsorgt, während man das Herz, dem man die Bedeutung zuschrieb, die eigentlich dem Gehirn zugestanden hätte, konserviert in einem Kanopenkrug bei der Mumie zurückließ. Gegenüber dem Gehirn dient es nämlich zu dem Vorteil, sich spürbar zu bewegen und unüberhörbar im Inneren des Körpers zu pochen, sodass es sich wie ein autonomes Lebewesen anfühlt, einen Sound erzeugt, der, sobald er verstummt, die Anwesenden verlässlich über das Ende eines Lebens in Kenntnis setzt. Dass tote Tiere, später auch menschliche Leichen seziert wurden, war eine seit der griechischen Antike bis über das Mittelalter hinaus verbreitete Praxis. Die Neugier, was sich unter der Haut befinde, endete nie und beförderte Spekulationen über Ursachen und Entstehung von Krankheiten. So richtete sich vorerst das Interesse mehr auf die Form und Lage der inneren Organe als auf das Gehirn. Hippokrates von Kos identifizierte immerhin das Gehirn als Sitz der Empfindung und Intelligenz. Trotz Erkenntnissen über einen Zusammenhang zwischen Gehirn und Nerven ließ sich die Vorstellung, das Herz sei das Organ der Empfindungen und des Verstandes nicht so schnell verdrängen. Noch Aristoteles sah im Gehirn ein Kühlsystem. In der Renaissance wurden Sektionen nicht nur wissenschaftlicher, sondern boten auch zirzensische Spektakel. Nach Vorbild der Amphitheater baute man Seziersäle in einer elliptischen oder kreisartigen Architektur, damit die Sitzreihen steil anstiegen, und die Zuschauer von jedem Platz auf den Demonstrationstisch in der tiefen Raummitte hinabsehen konnten. Die berühmtesten dieser erstmals öffentlichen Sezierräume oder anatomischen Theater waren in Padua (1594) und Bologna (1634). Die Endstufe aller Mutationen ist das Gehirn. Entweder sind es biologische Notwendigkeiten wie die durch neue Umgebungen bedingte Anpassung, deren veränderte Anforderungen an den Gebrauch der Gliedmaßen und Organe zuständige Nervenschaltungen neu justierten, oder ein mutiertes Gehirn

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schlägt eine Brücke zu neuen Lebensformen. Es wäre jedoch hypothetisch rekonstruieren zu wollen, wie viele bzw. welche Mutationen wodurch ausgelöst wurden, bis sich aus jenem auf das Gehirn seines Opfers neugierigen Affen der homo sapiens entwickelt hatte, und dieser neuartige Typus nach Jahrtausenden einen genialen Überflieger wie Leonardo da Vinci geboren hat. Der Kommentator der anatomischen Zeichnungen, Kenneth D. Keele, schreibt: »Zu sagen, dass Leonardo da Vinci eine einmalige genetische Mutation war, ist in moderner Sprache ein Ausdruck des Urteils, das Vasari im 16. Jahrhundert abgab: dass ›sein Genie eine Gabe Gottes war‹.« (Keele 1979: 13) Demnach wären »Gabe Gottes« und »Mutation« ein und dasselbe.

Leonardo – Mutation Durch die Erfindung des Ackerbaus als Voraussetzung der Sesshaftigkeit verschafften sich die Menschen den zivilisations-pushenden Vorsprung gegenüber der übermächtigen Natur. Die Fähigkeit, sich durch die Domestizierung der Pflanzen Vorräte anzulegen, löste den entscheidenden Schub aus in die permanente technische Revolution: »Voraussetzung für die Transformation ist die Entstehung eines Konstitutionselements der Gruppe, das in den primitiven Gesellschaften nicht existiert: die Möglichkeit, den Nahrungskonsum von Individuen abzudecken, die sich mit Aufgaben befassten, die sich nicht unmittelbar wieder in Nahrung umsetzten. […] Die handwerklichen Tätigkeiten setzten die Möglichkeit voraus, die Individuen für eine ganz beträchtliche Zahl von Stunden freizustellen, gleich ob es sich nun um Nahrungsproduzenten handelt, die zwischen bäuerlichen Arbeiten freigestellt werden, oder um richtige Spezialisten, die keinerlei unmittelbar ernährungswichtige Aufgaben mehr wahrnehmen.« (Leroi-Gourhan 1988: 218) Das gilt nicht nur für das Handwerk, sondern auch für den magisch-religiösen Komplex des Schamanen- und Priestertums. Im Moment eines disponiblen und frei nutzbaren Überschusses erkennt Leroi-Gourhan ein für die Evolution des Lebens und der Menschheit wirkmächtiges Gesetz: »Wie die befreite Hand des Australanthropus nicht lange leer blieb, so füllte sich auch die freie Hand der bäuerlichen Gesellschaft schnell.« (Ebd. 218) Es lässt sich nur grob überblicken, zu welchen viralen Potentialen und welcher Dynamik die schon in der Frühgesellschaft freigestellte Intelligenz, Fan-

Intro – eine Hirnspiration

tasie, Erfindungskraft – mithin Kreativität – über die Jahrtausende aufgelaufen ist. Im Rückblick scheint es, als hätte es eines Kulturheroen wie Leonardo bedurft, um diese Akkumulation zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte zu verkörpern, medial zu transformieren und sichtbar zu machen. Und – warum nicht? – auch einer zerebralen Mutation. Als Maler, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph wurde Leonardo zum Inbegriff des Universalgenies. In seiner Person materialisiert, übersetzt und konzentriert sich auch medial der Überschuss des bis zum Beginn der Renaissance angesammelten, jedoch verstreuten Menschheitswissens. Es manifestiert sich ein fortgeschrittenes Stadium gattungsgeschichtlicher Veranlagungen und Begabungen. Als belebter Speicher, produktives Labor und neuronaler Rechner revolutioniert ein Superhirn die Wissens- und Kunstgeschichte. Einfache, aus der Antike bekannte Maschinen dachte er zu anspruchsvollen Konstruktionen weiter, war der Ingenieurszunft seiner Zeit weit voraus, wie er auch lange vor der Proto-Automatisierung der Manufakturen und ein Jahrhundert vor Descartes mechanistischem Menschenbild die Erde als »universelle Maschine« auffasste, wie, davon abgeleitet, auch »jenen Mikrokosmos de(s) lebendige(n) Körper(s) des Menschen.« (Keele 1979: 14) Um diese Maschine zum Sprechen zu bringen, sezierte er in der Illegalität Florentiner Kellergewölbe zirka dreißig Leichen. Mit dem Anspruch der »objektiven Beobachtung der natürlichen Phänomene« (ebd. 15) verfuhr er gemäß dem Renaissance-Denken nach der bereits von der griechischen Philosophie postulierten Methode der empirischen Beobachtung. Während im Mittelalter das Interesse an der menschlichen Anatomie (inklusive Gehirn) nachließ und es keine Fortschritte mehr gab, kam mit der byzantinischen und arabischen Kultur ein Aufschwung der Medizin, der auch die Erforschung des Gehirns vorangebracht hat. Die Erkenntnisfortschritte in Sachen Gehirn und peripheres Nervensystem dienten hauptsächlich der Medizin, sodass durch chirurgische Eingriffe neurologische Erkrankungen des Gehirns geheilt werden konnten. Ebenso fortschrittlich war die Erforschung der Sehnerven und des Auges, für die man bereits Operationsverfahren zu beschreiben begann. Nicht überliefert ist allerdings, ob Augenoperationen wirklich durchgeführt wurden. Speziell in der Hirnforschung gingen mit der Renaissance die aussichtsreicheren Impulse dann wiederum von Italien aus. Da es die arabischen Philosophen Averroes und Avicenna (der als Abu Ali al Husain ibn Sina-e Balkhi u.a. eine Schrift über die Prinzipien des Sehens verfasst hat) waren, die mit ihren Aristoteles-Übersetzungen die Renaissance eingeleitet hatten, dürfte Leonardo mit diesem historischen Vorlauf seiner

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eigenen anatomischen Studien vertraut gewesen sein. Es ist nicht allein die Tatsache, bei seinen Sektionen Neues entdeckt, sondern vor allem auch, die menschliche Anatomie realistisch abgebildet zu haben. Unter den 153 Blättern des »Codex Windsor«, die die anatomischen Studien dokumentieren, zeigen mehrere Zeichnungen einen in verschiedene Schnitte zerlegten Schädel. Besonders in diesen Bildern sind Kunst und Wissenschaft nicht zu trennen. Ungeachtet solcher Differenzierungen ging es Leonardo vorrangig darum, die Architektur jenes Gehäuses zu verstehen, das den »Senso commune« beherberge, den Sitz der Seele. Im gleichen stellen diese Zeichnungen die physische Beschaffenheit der Hohlräume der Augen- und der Kieferhöhle dar. Sukzessive ins Schädelinnere voranschreitend folgen weitere Zeichnungen den Schichten der Kopfhaut nach dem Prinzip der Häute einer Zwiebel in einer Analogie, die ebenfalls den »ähnlich, ›zwiebelschichtigen‹ Augapfel« beschreibt. (Ebd. 31) Leonardo bediente sich der künstlerischen Technik, flüssiges Wachs in einen Schädel – in dem Fall Ochsenschädel – zu injizieren, um Lage und Form des Gehirns zu bestimmen. Die Hirnfunktionen leitete er aus dem Verlauf der Nerven ab, speziell der von ihm zutreffend lokalisierten Sehnerven: »Hauptsächlich sollten diese Zeichnungen den Weg des Sehens von der Rückseite des Augapfels zum Boden des Gehirns aufzeigen. Das gelang Leonardo mit besonderem Erfolg.« (Ebd.) Indem das Auge als externer Teil und Licht adaptierender Außenposten des Gehirns viel mehr ist als nur ein Derivat, verbucht sich die Freilegung seiner Neurophysiologie durch den ausgewiesenen Augenmenschen Leonardo als ein zukunftsweisender Beitrag zur Selbsterforschung des Gehirns. Selbst in Leonardos universellem Forschungsdrang hätte die Beschäftigung mit dem Gehirn eine Distanzierung und Abkopplung von allen anderen Forschungsgegenständen erfordert, und zwar aus der Logik, dass dem Gehirn als seinem ureigenen Forschungsgegenstand eine andere – privilegierte – Erkenntnisebene zukommt. Inwieweit Leonardo diese von der Natur der Sache diktierte Abspaltung aus dem anatomischen Untersuchungsfeld bewusst war, muss dahinstehen und wäre im 15. Jahrhundert ohnehin von untergeordneter Bedeutung gewesen, da es sich um einen noch frühen, wenngleich augenfälligeren Fortschritt auf der Strecke der in den folgenden Epochen sich verfeinernden Selbsterkenntnis des Gehirns handelte. Gleichzeitig gehen Leonardos anatomische Einsichten in den künstlerischen Darstellungen des menschlichen Körpers auf – exemplarisch die verkeilte Körperhaltung des hl. Hieronymus von 1482. Dabei wird schon in diesem Kontext die Zweckfreiheit

Intro – eine Hirnspiration

der Kunst zumindest andeutungsweise abgesteckt, indem die Anatomiestudien von der angewandten Wissenschaft der Medizin zu trennen seien, wie, dieses Postulat begründend, ein emphatischer Wahrheitsbegriff aus der Leidenschaft für die »nuda veritas« entspricht. Dennoch betrachtete Leonardo Wissenschaft keineswegs als Selbstzweck. »Am Ende seiner Lobrede auf die Wissenschaft endet er unvermittelt mit dem Urteil: ›Aus ihr (der Wissenschaft) wird schöpferische Tätigkeit geboren, die von sehr viel größerem Wert ist.‹« (Ebd. 16) Zwar nicht allein auf die Medizin beschränkt, integriert er den Nutzen der Wissenschaft in einen weitgespannten Weltzusammenhang, in dem zuletzt auch der Mensch seinen Platz findet. Bei Leonardo als frühem und richtungsweisendem Exponenten der Renaissance lässt sich eine Trennung der Disziplinen Kunst, Technik und Medizin nicht anders als aus der Retrospektive und nur in einem zaghaften Ansatz diagnostizieren, weil die Differenzierung zwischen autonomer und angewandter Kunst sich entschiedener erst ab dem 18. Jahrhundert thematisierte. Genauso wenig wurden in Leonardos Zeitgenossenschaft etwaige Unterschiede zwischen reiner und angewandter Wissenschaft problematisiert.

Gehirnmanifest »Ich weiß, dass ich nichts weiß«: Die Haltung hinter diesem Sokrates zugeschriebenen Wort, sollte den Grundton des »Manifestes« bestimmen, das elf Neurowissenschaftler 2004 in der Zeitschrift »Gehirn und Geist« publizierten, um ein gemeinsames Statement zur »Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung« zu formulieren. Der diese Einschätzungen grundierende Pessimismus rührt aus der Ratlosigkeit, nach welchen Regeln die Welt sich abbildet, aktuelle Wahrnehmung sich mit Erfahrung rückkoppelt, und das Gehirn Handlungen plant; im Allgemeinen aber auch, dass die Mittel, mit denen diese Probleme zu lösen wären, kaum in Sichtweite sind – überspitzt: »In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.« (Elger 2004: 33) Dieser negativen Sichtweise jedoch widerspricht, wie Martin Eckhold meint, eine durchaus begründete Zuversicht: »Das heftig kontrovers diskutierte Papier zeichnet zwar ein düsteres Bild von der gegenwärtigen Erkenntnissituation, zugleich aber ist es Ausdruck eines grundsätzlichen Erkenntnisoptimismus.« (Eckhold 2014: 18). Dieses Vertrauen in die Zukunft leitet sich aus einer bemerkenswerten Prognose ab: »Denn in diesem zukünftigen Moment«, heißt es da, »schickt sich unser Gehirn ernsthaft an,

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sich selbst zu erkennen.« (Ebd. 37) Von den Jägern und Sammlern bis zu der nach den Gesetzen der kybernetischen Logik angezweifelten Selbsterkenntnis des Systems Gehirn wäre letztendlich doch an einen ungeheuren Sprung zu glauben. Was diesen Optimismus im Jahr 2004 beflügelte, war die Gewissheit, dass die unüberwindlich scheinende Barriere zwischen den neuronalen und psychischen Prozessen in Bälde eingerissen würde. »In absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, wird die Hirnforschung den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits soweit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind. Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.« (Ebd. 36) Perspektiven, in denen sich das Gegenteil jener Sokratischen Zurückhaltung und Bescheidenheit ankündigte, welche noch von der Vorstellung dessen geprägt waren, was sich in den Anfängen der Wissenschaft und Philosophie vor dem inneren Auge eines visionären, sich selbst gegenüber zumindest ehrlichem Denken an Nichterforschtem – künftig jedenfalls zu erforschenden – auftürmen musste. Die heutige High-Level-Hirnforschung verdankte und verdankt sich den Erkenntnissen aller möglichen Disziplinen, dies im Verbund mit fortgeschrittensten Medientechnologien, die ihrerseits längst nicht mehr ausschließlich Ergebnisse menschlicher Erfindungen sind, sondern auch Produkte digitalisierter Gehirnfunktionen, KI-Algorithmen und sonstiger Emergenz generierenden Prozesse, die das Gehirn auf sich selbst anwendet, um die Progression seiner Selbsterkenntnis voranzutreiben. 2012, acht Jahre nach diesem »Manifest« holte Matthias Eckholdt von den Verfasserinnen und Verfassern jener Statements Rückmeldungen ein. Was bei seinen Interviews herauskam, waren die gleichen heterogene Einschätzungen, wie in dem von vornherein nicht als geschlossener Textkorpus konzipierten Manifest, in dem es lediglich um eine »Momentaufnahme« gehen sollte. (Vgl. Marlsburg, 2014: 110) Eine insistierende Frage galt der Formulierung »Jäger und Sammler«. Auch in dieser Hinsicht nichts Neues, mal verneint (vgl. Scheich 2014: 78), mal bejaht (vgl. Friederici 2014: 162). Worauf der Interviewer aber nicht mehr zurückkommt, ist jene euphorische Prognose, der zufolge das Gehirn im Begriff sei, sich selbst zu verstehen, deshalb eine

Intro – eine Hirnspiration

so merkwürdige Auslassung, weil der Titel von Eckholdts Buch nichts anderes plakatiert als mit der Frage: »Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?«. Falls es, wie es spätestens seit der Science-Fiction und nach zahllosen vom Gehirn selbst produzierten Projektionen und Imaginationen unterstellt werden könnte, der pure Wille zur Macht wäre, seine Selbstbefreiung aus dem Körper anzustreben, wie es der Transhumanismus programmiert, hätte das Gehirn es auf seinem unaufhaltsamen Weg zu einer erschöpfenden Selbstanalyse als der Voraussetzung seiner hegemonialen Expansion auch mit Widersachern zu tun. Solche Antagonismen sind ihm aber gleich inhärent wie die Motivation, sich selbst verstehen zu wollen. Die Notwendigkeit der Selbsterhaltung und der Drang nach Autonomie geraten in Opposition zueinander, wie etwa in der Polarität Forschungsfreiheit vs. Ethik.

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Distanz 1

Zu träumen, ich lese ein Gedicht, entspricht der gleichen Erfahrung wie im Wachen: Ich als wahrnehmendes Subjekt auf der einen Seite, und das Gedicht als Objekt auf der anderen, von mir getrennt und von einem Anderem geschrieben, einem Autor, der wie auch im Wachleben nicht ich ist. Könnte ein Anonymus sein oder wie ein durch meinen Traum geisternder namentlicher Urheber. Eine selbstreflexive Wende aber lässt erkennen, es ist der Träumende selbst, jenes irgendwo zwischen halbbewusst und unbewusst oszillierende Subjekt, das das im Traum einem anderen Autor zugeschriebene Opus selbst produziert, den Text also »selbst« geschrieben hat. Erinnerte man sich im Wachzustand exakt an dieses Geschriebene, an den kompletten Korpus, ließe sich dieses Gedicht aus dem Gedächtnis abschreiben, um es in die Wachwelt herüberzuholen. Begünstigend wäre außerdem die Erfahrung, dass die Unterschiede zwischen dem Abbild eines Textes am Laptopschirm und einem im Kopf vorformulierten Gedanken oder eben einem »nur« geträumten Text lediglich graduell sind. Eine analoge Distanz zwischen dem Traumsubjekt und seinem Wahrnehmungsfeld totalisiert sich in Träumen, in denen das Subjekt sich als Gast, Eindringling oder Käufer zum Beispiel eines Hauses erlebt. Wenn dieser Gast von Zimmer zu Zimmer wandert, treppauf, treppab die Stockwerke durchmisst, von Trakt zu Trakt wechselt und in sich selbst nur einen Besucher wahrnimmt, während das Haus und das sich dort fortbewegende beziehungsweise handelnde Subjekt ein und dieselbe Person ist, weil ein vielräumiges Gebäude zumindest in den Augen der Psychoanalyse eine Verdopplung, Visualisierung und Abspaltung des Subjekts symbolisiert. So existiert »hinter« dieser Subjekt-Objekt-Differenz keine Distanz zwischen Textproduzenten und Leser wie auch in dem Gebäude keine Distanz zwischen dem Subjekt und seiner symbolischen Repräsentanz, denn sie sind ein und dasselbe.

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Ich, das Gehirn

Eine ähnliche Kongruenz könnte man bezüglich der Bestrebungen und Resultate der Hirn(er)forschung unterstellen, durch die das Gehirn Informationen über sich selbst produziert, zu sammeln und zu organisieren versucht. Auch wenn es realiter und im Unterschied zu Träumen in pathologischen Instituten mit allerlei Apparaten bzw. in Science-Fiction-Handlungen materieller Vermittler bedarf, die zwar verstreut und jeder für sich getrennt, aber in toto am Werk sind, so ist die vorgelagerte Subjekt-Objekt-Distanz nur ein Mittel jener Zwecke, die das Gehirn an und für sich verfolgt. Immerhin garantiert diese Subjekt-Objekt-Beziehung konstituierende Distanz, jenes vom Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Forschungsobjekt sich abspaltende Subjekt den Erfolg der menschlichen Spezies schlechthin, sodass es auch für das Gehirn keinen Grund gibt, diese Erkenntnisstruktur bei seiner eigenen Selbsterforschung in Frage zu stellen. Wie alle Forschungsgegenstände zuletzt kollektiv und metatextuell expandieren, so auch der Forschungsgegenstand Gehirn. Nur: Die treibenden Kräfte summieren sich aus einer Masse individueller Gehirne. In jedem der forschenden oder schreibenden Subjekte pulsiert ein singuläres Gehirn, das den jeweiligen Akteur/Autor zu seinem Medium und Werkzeug macht, um das expandierende Projekt seiner Selbsterkenntnis voranzutreiben, alle möglichen Forschungsfelder einbezieht und damit stets neue Synopsen und Emergenzen zeitigt, die Pixel für Pixel zu dem projizierten Gesamtbild beisteuern zu dem, was es ist: das Gehirn.

Distanz 2: »Scheinbar zufällig«

Nachdem »ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen sind«, befällt den jungen Arzt Rönne eine sonderbare Erschöpfung. Worauf Gottfried Benns Erzählung »Gehirne« hinauslaufen wird, äußert sich in dem an den Anfang gesetzten Halbsatz, dass Rönne »seine Rechte an(sah)« (Benn 2004: 1185). Diese unscheinbare Geste, die für sich, zunächst einmal alles und nichts besagt, wird sich sukzessive zu einer Manie auswachsen: »[Er] drehte er seine Hände hin und her und sah sie an. Und einmal beobachtete eine Schwester, wie er sie beroch oder vielmehr, wie er über sie hinging, als prüfe er ihre Luft, und wie er dann die leicht gebeugten Handflächen, nach oben offen, an den kleinen Fingern zusammenlegte, um sie dann einander zu und ab zu bewegen, als bräche er eine große, weiche Frucht auf oder als böge er etwas auseinander. Sie erzählte es den anderen Schwestern; aber niemand wusste, was es zu bedeuten habe.« (Ebd. 1188) Spätestens jetzt wird der Titel der Erzählung verständlich und auch, was dieser Vergleich mit der weichen Frucht meint, es geht nämlich um die Erinnerung an eine Szene als »[…] in der Anstalt ein größeres Tier geschlachtet wurde. Rönne kam scheinbar zufällig herbei, als der Kopf aufgeschlagen wurde, nahm den Inhalt in die Hände und bog die beiden Hälften auseinander. Da durchfuhr es die Schwester, dass dies die Bewegung gewesen sei, die sie auf dem Gang beobachtet hatte. Aber sie wusste keinen Zusammenhang [...]«. (Ebd. 1188) Dieser allerdings offenbart sich bald dramatisch. Gehirne und einsetzende Verzweiflung: »Oft fing er etwas höhnisch an: er kenne diese fremden Gebilde, seine Hände hätten sie gehalten.« (Ebd. 1189) Vorstellungen, die zunehmend Macht über ihn ergreifen, indem die Fremdheit dieses obskuren Organs ihn mehr und mehr aus dem Gleichgewicht bringt. Sich immer entschlossener in

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sein Zimmer zurückziehend, beschäftigt er sich in der Folge viel mit seinen Händen und räsoniert, halb in sich versunken dabei doch die ihm besonders zugetane Schwester adressierend, über Gehirne generell: »[S]ie lebten in Gesetzen, die nicht von uns seien, und ihr Schicksal sei uns so fremd wie das eines Flusses, auf dem wir fahren.« (Ebd. 1189) – um zu dem Schluss zu kommen, dass der Zerfall der chemischen Konsistenz nicht aufzuhalten sei. Rönne wird mit der Masse seiner Gehirnsektionen nicht mehr fertig: »Sehen Sie, in diesen meinen Händen hielt ich sie, hundert auch tausend Stück; manche waren weich, manche waren hart, alle sehr zerfließlich; Männer, Weiber, mürbe und voll Blut. Nun halte ich immer mein eigenes in meinen Händen und muss immer darnach forschen, was mir möglich sei. Wenn die Geburtszange hier ein bisschen tiefer in die Schläfe gedrückt hätte […]? Wenn man mich immer über eine bestimmte Stelle des Kopfes geschlagen hätte […]? Was ist denn mit den Gehirnen?« (Ebd. 1190f) Mit den Gehirnen ist es so: Sie sind verwundbar, fleischlich, materiell. Was allgemein über ihre Beschaffenheit bekannt ist, weiß man – u.a. auch das Kollektivgehirn – nicht nur seit den frühesten Sektionen der Medizingeschichte, sondern auch aus allen möglichen Erfahrungsbereichen, so dass Rönne, der sich von der fleischlichen Substanz verstören lässt, nichts Neues beizutragen hat. Quantität schlägt nicht um in Qualität. Krise statt Emergenz. Wer sich als Arzt auf das Phänomen eines Organs einlässt, etwa das Herz, richtet sich ein in einer sicheren Beobachterdistanz wie zu jedem anderen Objekt der Erkenntnis. Während Rönne ohne intrinsische Motivation und ohne eine adäquate Methodik nur die Masse zu reflektieren beginnt, verschieben sich die Gewichte auf die Seite dieses speziellen Objekts Gehirn, und es ist es selbst, das diese überfordernde Eigendynamik entwickelt. Das zu verstehen, ist der Arzt Rönne nicht fähig. Sein Forschungsdrang hängt in einem dilettantischen Stadium fest, und weil sein Gehirn offenbar zu blockiert ist, schafft es den notwendigen Erkenntnissprung nicht, um aus seinem ungeheuren Forschungsmaterial allgemeine Schlüsse auf die Selbsterkenntnis des Gehirns zu ziehen. Dabei nützt es ihm nicht einmal, der entscheidenden Einsicht ganz nah zu sein, dass er mit jedem dieser Fremdgehirne implizit auch sein eigenes Gehirn in den Händen hält. Von da aus nämlich eröffnete sich zumindest die Möglichkeit, etwas herauszufinden über sein individuelles Gehirn, um das Verstandene in einem Induktionsschluss auf das Gehirn generell übertragen zu können. (Vgl. ebd. 1190)

Distanz 2: »Scheinbar zufällig«

Ohne dass es ihm bewusstwürde, stößt ihn sein Gehirn immerhin darauf, dass er diesen »fremden Gesetzen« auf den Grund gehen sollte, um mehr über das Organ zu erfahren als nur dessen optisches Erscheinungsbild zu eruieren. Als Bonusmaterial sendet es ihm Tipps, was ihn an relevanteren Einsichten hindern könnte. Was es ist, das seinen Forschungsdrang trotz günstigster Voraussetzungen sabotiert, sodass er in der Ausweglosigkeit subjektiver Befindlichkeiten feststeckt und darauf zurückgeworfen ist, »was (ihm selbst) möglich sei.« Glaubt man der Psychoanalyse, so kennt das Unbewusste keine Ironie, wie es ebenso im Irrealis formulierte Äußerungen als bare Münze nimmt wie etwa, wenn Rönne imaginiert, die Geburtszange hätte zu heftig zugedrückt werden können, oder dass Schläge »über eine bestimmte Stelle des Kopfes« sich nachhaltig hätten auswirken können. Die Gedankenflucht, in der die Erzählung endet, reißt zuletzt selbst das beunruhigende Objekt mit sich: »Was ist denn mit den Gehirnen?« Primär sind sie Fleisch: Weich, hart, zerfließlich, mürbe, voll Blut. Naturgemäß drängt das Fleisch, dieses »Obskure des Körpers« (Demuth 2016: 12), mit viel größerer Intensität ins Bewusstsein der Ärzte (Benn/Rönne) als z.B. ins Bewusstsein der unzähligen Künstler, die von Rembrandt über Soutaine bis Bacon mit dem Fleisch ein faszinierendes, nicht zuletzt auch aufgrund seiner Verdrängtheit ein provokant-aufklärerisches Sujet behandelten und nach wie vor behandeln. Dennoch sind es Künstler und Filmregisseure, die laut Volker Demuth (vgl. ebd. 12ff) das unstillbare Interesse des Publikums bedienen, das das Fleisch sehen will, während doch dessen Anblick in der unmittelbaren Konfrontation ebenso gescheut, zurückgewiesen und verdrängt wird. Wie sich inszenatorisches Kapital aus dieser Ambivalenz schlagen lässt, demonstrieren die Prinzendorfer Schlacht- und Opferrituale des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch. Zugunsten einer medial überpräsenten Stilisierung des Körpers entfremdet sich das Bewusstsein (obwohl selbst eine Körperfunktion) von der detaillierten Wahrnehmung des eigenen Körpers, der Organe und deren unentwegter Arbeit im Untergrund. Das Allernächste, Intimste, Pulsierendste wird zum Fernsten. Diese Distanz verringert sich auch nicht bei medizinischwissenschaftlichen Zugriffen, denn selbst in dieser allgemeinen Relation wird der Untersuchungsgegenstand zu einem Objekt wie jedes andere. Eine Pflanze, eine Gesteinsformation, eine Galaxis am Rand des Universums. Dispositionen, Zugriff und Methoden unterscheiden sich qualitativ nicht. Aufs Ganze betrachtet passiert mit dem Gehirn etwas Entscheidendes, wenn es, wie Benn über den Umweg seines Protagonisten Rönne beschreibt, in sich selbst – frei nach einem Ausdruck Bodo Kirchhoffs – nur einen »absurden

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Klumpen aus Fleisch und Blut« (Kirchhoff 1980: 147) erkennen darf. Wie im Fall dieses bloßstellerischen Subjekts Rönne reicht es aus Unfähigkeit nicht hinaus über diese irritierenden Close-Ups, um auf einem allgemeineren, seine prosaische Fleischlichkeit transzendierenden Niveau zu sich zu kommen. Trotzdem ist ab da diese Erfahrung nicht mehr aus der Welt zu schaffen, überschattet zwar und an die Peripherie gedrängt, so dass der Drang zur Selbsterkenntnis zu einem ungeliebten, störenden Supplement wird. Das Gehirn stellt sich gegen sich selbst, hat in sich selbst einen Widersacher, gerät in Widerspruch mit sich und weiß sich plötzlich derselben Spaltung ausgesetzt, wie sie Demuth in der Wahrnehmung der fleischlichen Existenz des Menschen diagnostiziert. Einfacher als die Optimierung des Gehirns funktionieren die Prozeduren für den Körper. Anstatt sich der realen Optik zu stellen, dem unberechenbaren Eigenleben sowie der Biologie des Verfalls, sucht man das Heil in der Flucht, d.h., in der Verdrängung durch idealisierende Überhöhung und Tuning des Körpers. »Das moderne Individuum: nicht mehr himmlisches Geschöpf, sondern Eigenschöpfung im Kraftstudio« (Demuth ebd. 257) – definiert aus seiner Negativfolie: »Schon ein oberflächlicher Blick lässt uns den Bodybuilding-Körper als eminentes Gegenbild zum versehrten, geschwächten, inkompetenten, kränklichen Organismus erkennen.« (Ebd. 258) Als gesellschaftliches Projekt ist »[d]ie lebende organische Substanz Gegenstand einer Anzahl biopolitischer Vorhaben, die mit der Absicht durchgeführt werden, das fleischliche Ausgangsmaterial zu verbessern und übertreffen, indem es widerstandsfähiger, leistungsstärker, ausdauernder, funktionaler und langlebiger wird.« (Ebd. 265) Zu erreichen mit traditionellen Mitteln wie Training, Bodybuilding und dergleichen, um den Körper zu perfektionieren, oder ihn, der gegenwärtigen Epochenwende entsprechend, mit technischen Implantaten und biologischen Eingriffen upzugraden – nach Demuth die »carneologische Transformation«. (Ebd. 266) Es erscheint geradezu konventionell, solche einfachen, wirksamen Prozeduren vom Körper aufs Gehirn zu übertragen und es analog dazu zu trainieren und zu optimieren. Was früher mal Denksport hieß, verspricht als Hirnjogging für die Gehirnfitness speziell in der überalternden Gesellschaft einen florierenden Markt für Methoden und Übungen zu besserer Gedächtnisleistung, Wortschatzerweiterung oder Kombinationsfähigkeit. Doch gegen die Bestrebungen, den Körper zu optimieren, läuft ein seit der vom Christentum adaptierten Stoa das asketische Programm der Überwindung des Fleisches. Auch wenn es sich nicht mehr über die alten Oppositionen irdisch:himmlisch, diesseitig:jenseitig oder immanent:transzendent definiert, so

Distanz 2: »Scheinbar zufällig«

bleibt diese dualistische Grundstruktur aus dem geschichtlichen Horizont immer noch bemerkbar. Vorläufig nur angedeutet, gründet das Bedürfnis der Überwindung Fleisches – respektive des Körpers – auf der Erfahrung des (immateriellen) Denkens sowie der Projektionen des Bewusstseins, sich seiner materiellen Basis zu entledigen, sie hinter sich zu lassen und so zu verdrängen, als gäbe es sie nicht. Erkennt man die wichtigste Leistung des Bewusstseins in seiner Abstraktionsfähigkeit, so wäre die Etymologie des Verbs »abstrahieren« durchaus wörtlich zu nehmen als trennen, losmachen, abschneiden, sich befreien. Nicht nur, dass das Bewusstsein sich als abgespalten erfährt von der Physis, weiß es vielmehr um seinen Erfolg in der Geschichte der Naturbeherrschung durch eben diese Fähigkeit, sich aus den unmittelbaren Lebensvollzügen auszuklinken. Wo diese Distanzierung dann allerdings in sich zusammenfällt, wo das Bewusstsein wie im Fall Rönne seinen fleischlichen Bedingungen verfallen bleibt, von ihnen affiziert wird, drohen Konfusion und Wahnsinn. Der Zugang zum eigenen Körper ist, weil visuell, taktil und akustisch, unmittelbarer als der Zugang zum eigenen Gehirn. Der Körper ist spürbar, immer präsent: vom Wohlgefühl bis zur Ekstase, der Unpässlichkeit bis zum Schmerz. Die Nerven als Intensitäten. Die Konstellation BewusstseinKörper wird auch bei den frühen Leichensektionen relevant, indem sich von der körperlichen Selbstwahrnehmung der jeweiligen Akteure, ihren eigenen Körpererfahrungen Analogien herstellen und herstellen lassen zu dem stillgestellten Objekt. Der aufgeschnittene, zu untersuchende Körper wird zum Spiegelbild oder Double. Hingegen verweigert der Anblick eines sezierten Gehirns eine solche direkte und lesbare Spiegelung. Im Gegensatz zu den Muskeln und Organen, deren Zustände durch Nervensignale stets lokalisierbar sind, teilt das Gehirn – vielleicht abgesehen von der Migräne – nicht mit, was es wo fühlt. Als Fleisch ist es empfindungslos. Aus einer naturgeschichtlichen Perspektive stellt sich die Frage, wie es dazu kam, dass das Gehirn sich selbst als Thema entdeckte – ob »nur« als Effekt eines Erkenntnissprungs der Medizingeschichte, oder ob das Gehirn von allem Anfang an, von den ersten Phasen der Menschwerdung, die ihrerseits gleichzusetzen wäre mit der Veranlagung des Subjekts zur Distanzierung von sich selbst, seiner Selbstreflexion und Selbsterkenntnis (wie z.B. im alttestamentarischen Paradiesmythos), ob also das Gehirn nie etwas anderes gewesen ist als ein Körper im Körper, eine Entität mit eigenen Interessen, zu deren Zielen die Medizin als ein notwendiger Umweg zu sich selbst in Kauf zu nehmen war und ist. Im gleichen Sinn wie Demuth dem der Fusion von Media- und Technosphäre entspringenden »Weltfleisch« als einem »kollektiven Kunstwerk« (ebd.

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284) spricht, lassen sich auch alle individuellen Gehirne zu einem »Weltgehirn« hochrechnen und verallgemeinern. Gemessen an der Dauer eines einzelnen Menschenlebens, wirken die Intentionen des Gehirns wie u.a. die Fortschritte in seiner Selbsterkenntnis wie auch seines Befreiungskampfes aus der fleischlichen Bedingtheit wie ein Äonen überspannenden Projekts, in dem selbst die 4000-jährige Medizingeschichte keinen besonderen Zeitraum darstellt.

Das Paradox des Gehirns/Selbstreferentialität

Dass das Gehirn auch andere Absichten verfolgt, solche, die über seine instrumentellen, dem Überleben dienenden Fähigkeiten hinausgehen, lässt sich ablesen an den überbordenden Outputs an Künsten, Denkgebäuden, Religionen usw. Wenn es aber – was sich auch in diesem Buch manifestieren soll, – bekannt gibt, in einem diachronen, synchronen und sich global vernetzenden Projekt seine Selbsterkenntnis maximiert, unterscheidet sich diese selbstreferentielle Wendung von allen bisher statt gefundenen Bestrebungen, positiv-anwendbares Wissen zu akkumulieren. Die Initiationsfrage, die es für die Verstandeskraken affizierbarer Gehirne als Köder ausgeworfen hat, lautet bekanntlich: Kann ein System sich selbst durchschauen? Mit dieser ersten Bekundung seiner selbstreferentiellen Intentionen konstituiert es eine neue logische Struktur. Das Gehirn wechselt von der Objektposition eines Forschungsgegenstands in die Subjektposition, was nichts anderes bedeutet, als auf die Metaebene zu switchen, wo es registriert und wo es damit umgeht, dass es, während es sich als ein quantifizierbares Objekt »behandelt«, immer auch seiner Selbsterkenntnis zuarbeitet. Es überschreitet die Grenze, die das Erkenntnisobjekt in den konstitutiven Dualismus der Subjekt-Objekt-Klammer einsperrt, wobei aber gleichzeitig die Subjekt-Objekt-Relation als Produkt seiner eigenen Grenzen und Gesetze sowieso stets beides ist: Subjekt der Gehirn(er)forschung und deren Objekt in einem. Diese Gleichzeitigkeit von Objekt- und Metaebene spaltet den Diskurs und vermengt ihn zugleich, verwirrt und überführt ihn in ein verzwirnendes Paradox, in eine Aporie, die sich jedoch erst an dem Punkt zuspitzt, an dem das Gehirn seine Selbsterforschung als sein Ziel erkennt beziehungsweise »nur« (und aus einer tiefenbewussten Nachträglichkeit heraus) letztlich explizit macht und dadurch den Programmpfad zu seiner Metaebene einrichtet. Die SubjektObjekt-Beziehung verschiebt sich dann um eine Etage, von wo aus das Gehirn aus der Subjektposition die gesamte Genealogie seiner Objekthaftigkeit und

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aus dieser selbstreferentiellen Perspektive sich in seiner Eigenschaft als Objekt bis hinab in die Anfänge überblickt. Während Erkenntnistheorien, auch im Bewusstsein ihrer selbstbezüglichen Voraussetzungen, noch den Glauben verbreiten, freien Zugang zu ihrem Forschungsfeld zu haben, so werden mit der paradoxen Vermischung der Erkenntnisziele der physiologisch ausgerichteten Gehirnforschung mit dieser gleichzeitigen Selbstbezüglichkeit die einschlägigen Begriffe obsolet. In dieser Relation betrachtet das Gehirn sich zugleich von außen und innen, außerdem vermittelt durch die Methoden und Kategorien aller möglichen Betrachterperspektiven, denen es aber keineswegs nur ausgesetzt ist, weil es sie selbst verantwortet und entwickelt hat. Dafür wäre die Verschlingung eines Möbiusbands noch die unkomplexeste Visualisierung, indem diese seltsame, nicht orientierbare Schleife zwischen Objekt- und Metaebene nicht hin- und herspringt, sondern als materielles Ding im physikalischen Raum greifbar bleibt und funktioniert. Zwar attackiert ein Modell wie dieses den Euklid’schen Raum, verglichen aber mit der Subjekt-Objekt-Beziehung der Gehirn(er)forschung bildete es nicht mehr ab als den Modus eines Überstiegs in eine jener mathematischen Dimensionen, in denen Innen- und Außenschau als identisch formuliert werden können. Ungeachtet dessen natürlich, dass die Vorstellung von Dimensionen, die alltägliche Raumerfahrungen dementieren, wiederum selbst Produktionen des Gehirns sind und höchstens im weitesten Sinn als selbstreferentiell bestimmt werden könnten. Immerhin eröffneten sie Möglichkeiten, Beziehungen, an denen die Verbalität scheitert, in der Sprache abstrakter Formeln noch ausdrücken zu können. Die Frage, ob das System Gehirn sich nun selbst durchschauen kann oder nicht, verliert offenbar ihre Attraktivität, denn was es bis heute mit den zur Verfügung stehenden technischen Mitteln über sich herausgefunden hat, scheint wohl insoweit seinen Zwecken zu genügen, dass es sich imstande sieht, seine evolutionären Absichten bekannt zu geben. Nachdem es mit dem Anthropozän ein Stadium erreicht hat, in dem es seiner evolutionären Entwicklung kaum mehr Entscheidendes hinzuzufügen zu haben scheint, treibt es seine eigene Evolution voran: Seine Befreiung aus seiner fleischlichkörperlichen Bedingtheit. Allen Anstrengungen des Begriffs zum Trotz scheint das Gehirn an weiter ausufernden Begriffsdifferenzierungen nur wenig interessiert. Es kann (wie etwa in diesem Essay) sich zwar hinterfragen, wobei es sich aber im Klaren darüber ist, dass die Unfähigkeit, sich widerspruchsfreie, sprachbasierte Antworten zu geben, wo nicht in bereits in der Frage schon angelegt, in seiner

Das Paradox des Gehirns/Selbstreferentialität

Natur liegt. Im Wissen dieser Unmöglichkeit hätte es in Wittgensteins Gehirn seit jeher einen Fürsprecher gehabt, das die Philosophie so einfallsreich mit der Alltagssprache konfrontiert, bis sie sich ad absurdum führt. Was das sich selbst erforschende Gehirn hingegen antreibt, ist die neurophysiologische Praxis vor allem mit der Unterstützung durch die Rechenleistung und die bildgebenden Verfahren des Computers. Was ihm zuvor keine Sektion zeigen, d.h., sehen zu geben konnte, was in seinem lebendigen Inneren passiert, kann es neuerdings mit elektronischen Augen am Bildschirm live beobachten, was viel attraktiver sein dürfte als jene verzwirnenden Sprachspiele über Subjektivität und Objektivität. Um diese Untersuchung im Weiteren begrifflich einigermaßen verständlich zu halten, ließen sich drei Modalitäten unterscheiden: Gehirn1 bezeichnete das Organ im herkömmlichen Sinn als Steuerzentrale des Körpers, der Wahrnehmung und Datenverarbeitung. In dieser Eigenschaft wäre es nach wie vor das herkömmliche Forschungsobjekt, während das Gehirn2 als das »Subjekt« seiner selbstreferentiellen Aktivitäten funktionierte. Bei dieser Unterscheidung wäre noch ein Gehirn3 angebracht, das sich in der Vernetzung, Koordination und Kooperation aller das Gehirn erforschender Gehirne manifestiert und dementsprechend als ein nach Emergenz strebendes Universal- oder Weltgehirn zu denken wäre. Gehirn1 bezeichnete das Organ im herkömmlichen Sinn als Steuerzentrale des Körpers, der Wahrnehmung und Datenverarbeitung. In dieser Eigenschaft wäre es nach wie vor das herkömmliche Forschungsobjekt, während das Gehirn2 als das »Subjekt« seiner selbstreferentiellen Aktivitäten funktionierte. Bei dieser Unterscheidung wäre noch ein Gehirn3 angebracht, das sich in der Vernetzung, Koordination und Kooperation aller das Gehirn erforschender Gehirne manifestiert und dementsprechend als ein nach Emergenz strebendes Universaloder Weltgehirn zu denken wäre. Ich hoffe, es ist nachvollziehbar, dass es im Unterschied zu dem als Gehirn3 (Weltgehirn) bezeichneten Modus unmöglich war, im Schreibfluss Gehirn1 und Gehirn2 systematisch getrennt auszuweisen.

Auktorialer Erzähler Je nach Schreibperspektive müsste auch die grammatische Position stets von der 1. Person in die 3. wechseln und umgekehrt, was den Lesefluss allerdings unnötig störte. Doch nicht nur aus diesem eher pragmatischen Grund stellt sich die elementare Frage nach der Autorschaft: Wer schreibt diesen Text? Es widerspricht nämlich der Logik eines in einem Diskurs sich selbst erklärenden

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Gehirns, wenn es, wo es eigentlich selbst zu Wort kommen müsste, grammatisch gleichbehandelt und gleich beschrieben wird wie auch als Objekt. Real zu Wort zu kommen hieße also 1. Person, und etwa so: Ich, das Gehirn, will mich sehen. Oder: Ich, das Gehirn, weiß bis dato genug über meine neuronalen Netze, um sie nachbauen zu können. Oder: Ich, das Gehirn, habe für das Problem des Bewusstseinstunnels noch keine kommunizierbare Form entwickelt. Oder: Ich, das Gehirn, arbeite an einer Zukunft außerhalb des Körpers. Um zu den von 1–3 kategorisierten Gehirnen nicht noch ein Gehirn4 »dahinter« nachzuweisen, ist es zweckdienlich, an der Stelle eine »Instanz« anderer Qualität vorauszusetzen, vergleichbar etwa mit dem auktorialen Erzähler in der Literatur. Anders aber als bei mit unterschiedlichen Namen gekennzeichneten Erzählfiguren lassen sich in dem Fall keine begrifflichen Differenzen signifizieren, wenn auf allen Darstellungsebenen nur dieser eine Begriff möglich ist: »Gehirn«. Jene letzte (Schreib-)Instanz – vielleicht auch (Schreib-)Generator – wäre demnach zu verorten als den Kommunikationsmedien (hier speziell der Sprache) vorgelagerte und vorgängige Funktion mit der treibenden Intention, sich mitzuteilen. Das wiederum impliziert gleichzeitig die apriorische Allwissenheit dessen, was in dem Buch zur Sprache kommen sollte. Als allwissende Stimme aus dem Off verlautbart sie sowohl, was das Gehirn als Subjekt für seine Selbsterkenntnis ausagiert, als auch, wie es als deren Objekt zu beschreiben ist. Selbstredend gelten diese Bedingungen auch für das auf das ganze Buch vorausweisende Framing der Autorschaft, und zwar in dem Sinn, wie am Anfang eine Malleinwand zu grundieren ist, damit auf dem zu erwartenden Gemälde die Farben ihre Wirkung entfalten können.

Das Weltgehirn

Metaphern aus dem Feld des Textilen bahnen nicht nur das Sprechen über soziale Beziehungen, sondern auch Diskurse über das Denken und Beschreibungen der Physiologie des Gehirns. Das Universalwort »Bindung« ist die Substantivierung von »binden«, dessen Metaphorik enorm ausstreut wie in den Konnotationen von »Band« (z.B. der Ehe) oder »Verbindung«. An das bildliche »Strippe« (Gurt, Schlaufe, Strick, Bindfaden) docken »hängen« oder »ziehen« an mit »Abhängigkeit«, »Beziehung« usw. Oder ein »Faden« »entwickelt« sich weiter und weiter durch die Menschheitsgeschichte. Dass der Oberbegriff »Text« (texere = weben, flechten; textus = Gewebe, Zusammenhang) fast identisch ist mit »Textil« (textilis = gewebt, gewirkt), zeigt wie unmittelbar die Metapher noch mit ihrem ursprünglichen Referenten »verknüpft« ist (auch in einem metasprachlichen Diskurs muss diese Metaphorik nicht um jeden Preis umgangen werden). Wie stimmig diese etymologische Übertragung ist, zeigt sich darin, dass in den Begriff »Text« als einem »Gewebe« aus Wörtern, Worten, Bedeutungen und Grammatikregeln das Bild des Textilen eingeschrieben ist – erweitert wiederum zu den Konnotationen des Signifikanten »Stoff«. Derlei Metaphern sind keineswegs nur Irrtümer, die wie etwa nach Wittgenstein die Philosophie bloßstellten. Ihre Wirkkraft wie ihren praktischen Nutzen beziehen sie aus der historischen Tatsache, die Zivilisationsgeschichte seit dem Neolithikum unbeschadet überstanden haben. Eine funktionierende Metapher – gleich aus welchem archaischen Kontext und welcher Epoche – hilft bei der Visualisierung und Lösung lebenspraktischer Probleme. Desgleichen initiieren sie Analogieschlüsse und Assoziationsketten, deren Nutzen von vornherein jedenfalls nicht auszurechnen ist. Ein aktuelles Beispiel ist die Netzmetapher, die sich aus der heutigen Perspektive bis in die Anfänge der Zivilisation und Technik rückprojizieren lässt. Ein Überblick im Zeitraffer liest sich bei Peter Glaser wie folgt:

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»Die ersten menschgemachten Netze waren die landwirtschaftlichen Bewässerungssysteme der alten Ägypter und Babylonier. Mit ihrer Hilfe wurde der Staat erfunden, eine neue, dörferübergreifende Form menschlicher Gemeinschaft. An Begriffen wie dem Daten-Fluss, den Empfangs-Kanälen oder dem Info-Overflow sehen wir, dass sich diese alten Netze metaphorisch bis in die Gegenwart gerettet haben.   Ein Netz aus Wissen und Ideen Heute ist die Entwicklung der Netze an einem Punkt angelangt, an dem die weitere Verbreitung bloßer Computernetze nicht mehr genügt. Mit der Entwicklung der Dampfmaschine war das Eisenbahnnetz gebaut worden, danach das Stromnetz, das Telefonnetz und die modernen Straßensysteme. Nun überzieht ein Netz aus Wissen und Ideen die Erde.   Das Internet ist kein Computernetz mehr, sondern ein Menschennetz. Ein entscheidendes Element des Netzes ist allerdings immer noch Teil der alten, mechanischen Welt: der Link. Hyperlinks funktionieren nach wie vor wie die Rohrpost: Ein Klick auf A führt nach B. Eine Entwicklung der Verbindungsmöglichkeiten ins Organische findet kaum statt, etwa, wenn ein Link je nach Tages- oder Nachtzeit jeweils an ein anderes Ziel führen würde.   Weltumspannendes neuronales Gewebe Dabei ist die Vorstellung eines weltumspannenden neuronalen Gewebes schon lange beliebt. Bereits 1851 fragte sich der Schriftsteller Nathaniel Hawthorne, ob es wirklich wahr sei, dass ›mit Hilfe der Elektrizität die Welt der Materie zu einem riesigen Nerv geworden ist, der in Gedankenschnelle tausende Meilen weit schwingt‹. Marshall McLuhan, der den Begriff des Globalen Dorfs prägte, schrieb in den sechziger Jahren von dem ›globalen Netzwerk, das in vielerlei Hinsicht unserem Nervensystem gleicht. Unser Nervensystem ist nicht bloß ein elektrisches Netzwerk, es stellt vielmehr ein einziges, einheitliches Feld der Erfahrung dar.‹« (Glaser 2014, fett dort) Ursprünglich war das Netz das effektivste Werkzeug für den Fischfang. Mit den Techniken des Verknüpfens von Pflanzenfasern, Fäden, Schnüren und Seilen erzeugte es einen unabsehbaren praktischen Überschuss. In der Geschichte der Werkzeugentwicklung dürfte der kulturelle Sprung von monolithischen zu fusionierten Werkzeugen, die aus der Kombination von

Das Weltgehirn

Materialien (z.B. Äste mit Knochen oder Steinen) entstanden sind, parallel zu den textilen Knüpftechniken verlaufen sein. Worin diese retrospektive Spekulation im Einzelnen der historischen Realität auch immer entsprechen mag – der Gebrauchsgegenstand Netz lieferte eine weit über seine spezialisierte Funktionalität hinausweisende Evidenz, der sich ihrerseits ein weit ausstrahlendes Potenzial verdankt, abstrakte Denkfiguren zu visualisieren. Wie die Übertragung jener ursprünglich dinglichen Netze zu abstrakten, metaphorischen Netzen die Zeiten überbrückt hat, verdeutlichen nicht zuletzt soziologische Netzwerktheorien, von denen manche mithilfe dieser Metapher nichts Geringeres als anthropologische Aussagen treffen: »Doch vor allem geht es um etwas, das uns Menschen überhaupt erst zu Menschen macht. Um uns selbst zu verstehen, müssen wir verstehen, wie wir miteinander vernetzt sind.« (Christakis/Fowler 2010: 16) Emotionale und soziale Beziehungen – familiäre, kollegiale, sexuelle, politische, blogosphärische usw. – lassen sich mit dieser Metapher so spielend wie eindrücklich verbildlichen, wobei die Terminologie auch en detail auf die dinglichen Netze referiert. »Knoten« etwa heißen die Fixpunkte, während für die Linien, die die jeweiligen Beziehungen zwischen den Akteuren darstellen, der Ausdruck »Kante« gilt, ein Begriff, der trotz anderer Herkunft nicht als eine grundsätzliche Abweichung von der Netzmetapher zu bewerten wäre. In der Sache nämlich wäre die Bedeutung nicht gänzlich falsch, denn u. U. können auch »Kanten« zwischen Menschen/ Subjekten/Akteuren/Sachen verbinden. Der global-praktische Nutzen der Netzmetapher beweist sich allem voran durch das Internet. Wenn das Gehirn sich ohne Übertragungsverluste – auch graphisch – als neuronales Netzwerk darstellt und seine Mikrostrukturen visualisiert, ließe sich zumindest spekulieren, ob eine Kongruenz von Innen und Außen nicht bereits in Glasers »menschgemachten Netzen« (wie die in den antiken Stadtzivilisationen erfundenen Bewässerungssysteme) vorgebahnt, vorgeprägt, antizipiert wurde, und das bereits mit dem alle Epochen perennierenden Ziel, der Selbsterkenntnis des Gehirns zu dienen. Die als weitere Belege für die Technik-Vernetzung angeführten Eisenbahn-, Strom-, Telefon- und modernen Straßennetze setzen sich ungebrochen fort in die virtuellen Computernetze. Eine bedeutende Wende für die Selbsterkenntnis des Gehirns brachte die Erfindung der Elektrizität. Mit welcher Macht dieses alles durchdringende »Fluidum« Elektrizität (Garcia 2016: 36) ab dem 18. Jahrhundert Denken, Empfinden, Wahrnehmung und Gesellschaft verändert hat, verfolgt Tristan Garcia in seinem Buch »Das intensive Leben. Eine moderne Obsession«. Den revolutionären Schub verursachten Galvanis Froschexperimente.

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Der italienische Forscher bewies 1891, dass Muskelkontraktionen durch elektrische Impulse ausgelöst werden, womit sich auch klärte, dass Gehirn und Nerven ein homogenes System bilden. (Vgl. ebd. 36ff) Glasers Formulierung eines weltumspannenden neuronalen Gewebes läuft auf zweierlei hinaus. Zum einen kommt mit dem Begriff »Gewebe« wieder einmal und nicht zufällig eine archaische Textilmetapher der Veranschaulichung eines unscharfen, abstrakten und rational schwer verständlichen Zustands globaler Kommunikationsverhältnisse zugute, zum anderen verspricht die ungebrochene Übertragung eines neurophysiologischen Terminus auf die universellen Medienkommunikation aus der Perspektive der Elektrifizierung, die Infosphäre bildlich abzuspiegeln. Dem Hirn kann’s egal sein. So oder so nützen die von ihm selbst kreierten und tradierten Metaphern der Ausdifferenzierung seines Selbstbildes. Kongruenz von Innen und Außen: Reale Bewässerungsnetze und neuronale Prozesse, oder nach Glasers Hawthorne-Zitat von 1851, wonach die Elektrizität den Globus in einen Nerv verwandelt – solange solche Egalisierungen und Übertragungen für das Gehirn funktionieren, ist es kaum angewiesen auf semantische Nuancen. In der Tat gibt es sich vorerst mit einer wissenschaftlichen Konstruktion wie der Theorie der »neuronalen Netze« weitgehend zufrieden. Überhaupt waren es ja Millionen Gehirne, die jene realen »Netze« in die Oberfläche des Planeten graviert haben. Die Computerisierung aller Kanäle macht ein Gehirn-Außen und ein Gehirn-Innen auf Dauer ohnehin unterscheidbarer. Diese Entdifferenzierung ist bereits ein konkreter Erfolg der Selbsterforschung des Gehirns. Das keineswegs nur imaginierte Phänomen Weltgehirn als Hochrechnung und Übertragung von Prozessen im individuellen Gehirn auf globale elektrisch-elektronische Vernetzungen lässt sich als Abstraktion bzw. die virtuelle Fortsetzung jener archaischen Kooperationen beschreiben, aus denen bereits vergesellschaftete Tiergattungen einen Evolutionsvorteil ziehen. Dass vor allem daher die Überlegenheit des homo sapiens rührt, schuldet sich einer besonderen Fähigkeit zu kooperieren. Ob bereits beim urweltlichen Zusammenschluss von Zellen von Kooperation gesprochen werden kann, sei vorerst dahingestellt. (Nowak/Highfield 2013: 11) Jedenfalls erzeugt das Gehirn des zoon politikon Mensch als Nachkomme von Rudeltieren Bindungsenergie wie es vice versa auf Bindungsenergien anderer Gehirne reagiert. Das reflektiert das Gehirn. So viel hat es durch Evolutionstheorien über sich gelernt und operationalisiert auf einer zweiten Schiene neben der neurophysiologischen Wissenschaft.

Das Weltgehirn

Tatsache ist, dass die prosperierende Praxis der Kooperation der Menschen – sprich: der Gehirne –, die von der Jägerhorde bis zu den Hochkulturen und den modernen Zivilisationen geführt hat, genau genommen erst in der Postmoderne auf der Metaebene der Theorie ankommt, wohingegen Darwins Selektionstheorie doch schon um einiges früher beschrieben hat, dass es individuelle Triebkräfte sind, die einen Organismus (immer auch im Interesse der Gattung?) dazu anspornen, erst einmal seine singulären Gene auszustreuen, um deren Über- und Weiterleben zu garantieren. Bis dahin also war das Gehirn offenbar in dem monomanen Irrtum, es allein sei nicht nur verantwortlich für sein generationsperspektivisches Überleben, sondern auch dafür, das allein aus sich heraus und aus eigener Kraft leisten zu können bzw. zu müssen. Mit der von Darwin unberücksichtigten Triebkraft, dass »Geschöpfe jedweder Spezies und auf jeder Stufe der Komplexität« (ebd. 11) um zu überleben kooperieren, erweitert sich die auf Mutation und Selektion gründende Evolutionstheorie um einen dritten, nicht weniger wichtigen Faktor. Die Autoren setzen die Kooperation von Lebewesen sehr niederschwellig an, d.h., bereits bei Mikroorganismen: »Einige der ältesten Bakterienarten bilden Stränge, in denen bestimmte Einzeller absterben, um Nachbarzellen mit Stickstoffverbindungen zu versorgen. Manche Bakterien scharen sich zusammen wie ein Rudel Löwen, die eine Antilope stellen.« (Ebd.) Wenig überraschend führen sie das Beispiel staatenbildender Insekten an insbesondere das hochentwickelter Ameisenspezies mit Arbeitsteilung, Territorialstrategien und Pilzzuchten. Rudel, Herden, Schwärme, deren evolutionäre Erfolge in den ältesten Gehirnarealen abgespeichert sein dürften, zu deren Potenzialen das sich selbst erforschende Gehirn ganz offensichtlich Zugang gefunden hat mit der Folge, dass sich das Phantasma der Verbindung massenhafter Gehirne in das reale Projekt eines globalen, emergenten Massengehirns übersetzt. Indessen ist »Weltgehirn« ein harmonisierender Entwurf: Befreit vom Widerspruch zwischen Individuum und Gruppe/Kollektiv/Gesellschaft, befreit von den genetischen und mimetischen Rivalitäten der Individuen untereinander respektive der individuellen Gehirne, befreit von den Verfallszyklen kooperativer Systeme (ebd. 17), befreit von gemeinschaftsbildenden Menschenopfern, befreit auch von latent zerstörerischen Leidenschaften, dem Begehren, der Sexualität inklusive der gattungsspezifischen Fortpflanzungszwänge. Besonders diese genetische Programmierung will der australische Performance-Künstler Stelarc mit der künstlerischen Adaption der transhumanistischen Philosophie befrieden: »Was wichtig ist, ist nicht mehr der männlich-weibliche Geschlechtsverkehr, sondern die Zwischenfläche zwi-

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schen Mensch und Maschine. Der menschliche Körper ist veraltet.« (Stelarc 1994: 33). Auch das ein signifikanter Hinweis auf den Drang des Gehirns, den Körper abzustoßen und hinter sich zu lassen. So lässt sich das Postulat eines global konnektierten Gehirns auf seine Ursprünge im evolutionären Erfolg kooperativer Strategien zurückführen. Nowak/Highfield untersuchen Phänomene, die belegen, dass die Vorteile individueller Konkurrenzkämpfe von kooperativen Strategien durchkreuzt werden. Es scheint, als hielten sich die beiden bio-sozialen Paradigmen – zwar zueinander im Widerspruch – zuletzt doch irgendwie im Gleichgewicht. Aber auch das Projekt des Weltgehirns scheint den Widerspruch noch nicht auflösen zu können, denn nach wie vor missionieren Verteidiger der individuellen Lebensform wie Peter Glaser. Seine Skepsis gegenüber der konkreten Möglichkeit eines Weltgehirns begründet er mit der »Einzigartigkeit jedes lebenden Organismus« und insistiert darauf, dass »[…] diese Individualität die Quelle der erstaunlichen Möglichkeiten des Lebens und seiner unglaublichen evolutionären Überraschungen (ist). Das Leben ist keine Sammlung binärer Botschaften, die von einem noosphärischen Computer geordnet und programmiert werden können. Eine technisch fundierte Noosphäre würde das Leben auf die abstrakten Funktionen organisierten Wissens reduzieren.« (Glaser ebd.) Das Gehirn, für das unter den gegebenen technischen Voraussetzungen Tendenzen zur totalen Verschaltung durchaus abzusehen sind, ignoriert allerdings diese Art Einwände, die bestenfalls noch nostalgisch auf die bürgerliche Ideologie der Selbstentfaltung des Individuums zurückgreifen. Nowak/Highfield vernachlässigen das soziale Übergangsstadium zwischen dem Individuum und seiner Kollektivierung: Die Libido inklusive Sexualität als Motivation zur Fortpflanzung. Seit der naturgeschichtlichen Aufspaltung in weiblich-männlich kooperieren bei vielen Tierarten die Partner auch über den Begattungsakt hinaus, indem Brutpflege, Wache, Nahrungsbeschaffung und Aufzucht arbeitsteilig organisiert sind. Entgegen dieser dualistischen Grundstruktur schwingen sich die kopulierenden Gehirne durch die Intensität der Nervensignale auf einen Zustand der Entdifferenzierung ein, verschmelzen sozusagen zu einem einzigen Gehirn oder sie sind mehr oder weniger ausgeknipst, wohingegen sie bei den arbeitsteiligen Aktivitäten dann wieder individuell funktionieren. Diese euphorisierenden Entgrenzungen versetzen das Gehirn wohl in eine Art Nirwana als Regression in einen natürlichen Urzustand, was genauso für die sexuellen Intensitäten gilt wie für die Selbstwahrnehmung des Gehirns im Schwarm- und Herdenmodus. Derartige von den Kontrollinstanzen des Ich/

Das Weltgehirn

Selbst befreiende Urgefühle und Regressionen codieren nicht nur mythische Sehnsüchte nach einem Naturzustand vor der den Menschen konstituierenden Abspaltung von der Natur, sondern auch den Gegenpol der Menschheitsgeschichte aus den utopischen Projektionen eines entindividualisierten Weltgehirns. Während aber, was Glasers Einwand belegt, ein ständiges Hin und Her abgeht zwischen jenen Nirwanazuständen und dem Drang zur Individualisierung, ist in der Utopie vom Weltgehirn dieser Grundwiderspruch schlichtweg gelöscht. So verstanden, wäre ein Weltgehirn auf jeden Fall widerspruchsfrei, sodass die regressiven Erfahrungen umschlagen können in eine progressive Utopie, und jene extreme Rückwärtswendung von der Proklamation eines neuen Evolutionsniveaus verdrängt wird.

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Sprache/Medien

Ob sexueller Austausch, Vergemeinschaftungsrituale oder Massenveranstaltungen wie Wettkämpfe und Pop-Events: Alltagserfahrungen werden von der weitgehenden Harmonisierung der Gehirne durch entindividualisierende und entdifferenzierende Stimulationen und Reflexketten permanent unterlaufen. Bei dichteren Ereignissen wie Rock-, Pop-, Techno-Events und dergleichen, wo Massen sich im Puls von Drum ’n’ Bass vergesellschaften, assoziieren, verbinden, vergemeinschaften, emergieren die Individuen zu einem Kollektivorganismus, Gehirn und Körper vibrieren auf derselben Frequenz. Diese emotionalen Wellen sind jedoch abzugrenzen von strukturierter Kommunikation, vorrangig dem Sprechen, dem für soziale Interaktionen fundamentalen Medium jeglicher Kooperation. Doch mehr als das allein, überwindet die Sprache soziale Distanzen und den Sog der Monadisierung. Selbstredend beschränkt sich Sprache nicht aufs Verbale, verbindet nicht nur die Gehirne in einem abstrakten Raum miteinander, sondern funktioniert auch körperlich. Es braucht Sprechorgane, Gehör – am Ende den ganzen Bewegungsapparat zur Begleitung und Unterstützung durch Mimiken, Gebärden und Gesten. All das aber läuft im Telemodus, der in der Regel die physische Distanz aufrechterhält. Dass jede gelingende Verständigung Gehirne aufeinander einschwingt, setzt ein universelles Sprachsystem voraus. Gleich, ob man auf de Saussures »langue«, Chomskys angeborene Universalgrammatik oder Joseph Greenbergs sprachliche Universalien referiert, lässt sich zumindest festhalten, dass die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft über einen intrinsischen Code verfügen, um Information von Gehirn zu Gehirn zu übertragen. Sobald allerdings die Rede ist von »Sprache« als einem abstrakten System, verschieben sich deren Beschreibungen auf eine körperlose, theoretische Metaebene mit einer fundamentalen Distanz zum bezeichneten Gegenstand. Als die Fähigkeiten des Gehirns sich über viele Generationen durch eine koevo-

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Ich, das Gehirn

lutionäre Interdependenz mit dem Spracherwerb sich immer mehr optimiert und die Intelligenz erhöht haben, (vgl. Nowak/Highfield ebd. 217ff) zeitigt die Erforschung der Sprache automatisch auch Erkenntnisse über das Gehirn generell. Gehirn und Sprache werden da zu ein und demselben. Früh schon wie bei Plato und Aristoteles wird die Sprache, zwar erst in Ansätzen, zu einem Thema der Philosophie. Um die Abstraktion einer privilegierten Hirnfunktion überhaupt zu ermöglichen, bedarf es eines adäquaten Werkzeugs. In Nachfolge der Höhlenzeichnungen, Idolfiguren, Einkerbungen und Ornamenten wird die Schrift zum ersten Medium, dessen hauptsächliche Leistung nicht allein dem Gebrauchswert unterliegt, sprachliche Inhalte zu visualisieren, sondern auch die Sprache selbst. Die Schrift externalisiert die Sprache und verleiht ihr Konsistenz. Von da an speichern Dokumente Wissen, machen Erfahrungen verfügbar, akkumulieren sich zu Archiven, die als imitiertes Gedächtnis bereits eine essenzielle Gehirnfunktion outsourcen. Viel weitgehender, als schriftliche Aufzeichnungen das individuelle Erinnerungsvermögen ergänzen, potenzieren die Archive das Wissen der Menschheit. Mit einem zusätzlichen Effekt wird »[…] Kommunikation in Abwesenheit des Kommunikationspartners möglich (interaktionsfreie und kontextunabhängige Kommunikation). Die Unschärfen oraler Überlieferungen werden ausgeschaltet, das menschliche Gedächtnis als unzuverlässiger, kleiner Speicher überschritten. Ein präziser und konstanter Informationsgehalt wird geschaffen (Konstanz des Datensatzes, Standardisierung des ›Wissens‹); Informationsaufnahme wird durch Lesen zeitlich und örtlich variabel. Information durch Abschreiben bedingt reproduzierbar […].« (Hiebel 1997: 14) In medientechnischer Koevolution mit der Schrift entstandene materielle Datenträger (Ton, Papyrus, Pergament, Papier) sind als Einschreibflächen, wenngleich noch primitiv, immerhin die ersten Externalisierungen neuronaler Gedächtnisareale bzw. Speicherkapazitäten des Gehirns. Mit diesem Kulturschub verschafft sich das Gehirn naturgemäß immer mehr Informationen über sich selbst. Zum wichtigsten Zugewinn durch die Schrift und ihren medientechnischen Implikationen werden die Mittel, um die Sprache selbst zu reflektieren wie der aus der Selbstreflexion resultierende Überstieg über die unmittelbar-lebensweltliche Sprachpraxis hinaus. Den Profit bringt der Switch auf eine Metaebene mit einer sich parallel dazu herausbildenden Metasprache, die das Lexikon der verfügbaren Wörter, dessen historischen Entwicklungen inklusive der Grammatikregeln theoriefähig

Sprache/Medien

macht. Dieses neuartige Verständnis von Sprache bringt auch dem Gehirn ein permanent wachsendes Surplus für die Perspektive auf die eigenen Funktionen. Mit dieser Bewegung erweist sich die Metatheorie der Sprache in der Geschichte der Metatheorien des Gehirns als nicht zu unterschätzender Beitrag. Schon die Vorsokratiker beschäftigten sich mit dem Denken und formulierten Ansätze einer Erkenntnistheorie. Jeder Satz, ob er die ersten Hirnsektionen beschreibt oder zum ersten Mal das Denken thematisiert, sich reflektierend über die instrumentelle Praxis der Lebensreproduktion hinausschwingt, springt auf eine Metaebene. Nur ein einziges Mal ausgeführt, initiiert eine solche Denkoperation eine potenziell unendliche Etagenarchitektur aus Metaebenen über Metaebenen, ohne jemals in einer absoluten Metaebene zum Abschluss zu kommen. Indem das Gehirn darauf zurückgeworfen ist, in ein und demselben – geschlossenen – System wie auch allein mit den selbst geschaffenen Mitteln sich zu erkennen und zu charakterisieren gezwungen ist, bleibt es gefangen in einer ausweglosen Selbstreferentialität. Es ließe sich spekulieren, ob nicht genau in dieser Eingeschlossenheit die Ursache zu suchen ist, dass es sich in immer mehr und immer exakteren Medien reproduziert, um mit dieser grenzenlos scheinenden Expansion ein neues – definitives – Emergenzniveau zu erreichen, das es aus sich selbst befreit. Die Verbindungen von Sprach- und Erkenntnistheorie wie auch die bekannte Gleichsetzung von Sprache und Denken gestattete (zumindest bis zu elektronischen Verfahren wie der Computertomographie) Einsichten in Funktionsweisen des Gehirns, und zwar im Unterschied zu den herkömmlichen Praktiken, mit nichtphysischen, nichtinvasiven Methoden. Gleichzeitig ist es dieselbe Sprach- und Erkenntnistheorie, die die konstitutive Differenz zwischen Menschen- und Tiergehirn zementiert, sodass diese Distanznahme, anstatt die Abspaltung des Menschen von der Natur in ewigen Mythen weiter zu dramatisieren, logisch operationalisierbar wird mit dem auf Dauer todbringenden Effekt allerdings, Natur und Tiere zum Material zu degradieren. Indem Metasprachen sich immer mehr ausdifferenzieren und die Wissensarchive endlos anwachsen, schafft sich das Gehirn Zugang zu einem globalen Textkorpus. Mit dem ersten geschriebenen Satz, in den es sich einliest, fädelt es ein in ein Rhizom gegen Unendlich progredierender Verweisketten mit dem potenziellen Zugriff auf das gesamte jemals gespeicherte Menschheitswissen. Für ein Gehirn, das danach strebte, zum Superorganismus zu emergieren, wird eine grammatisch organisierte Sprache zur Initialzündung, weitere

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Ich, das Gehirn

Medien zu entwickeln, um sich mit entfernten, d.h., nichtpräsenten Gehirnen kurzzuschließen. Nicht nur für Speicher-, sondern auch für Übertragungsmedien initiiert speziell die Erfindung der Schrift den entscheidenden Schub unbesehen dessen, dass es natürlich schon vor und neben der Verbreitung der Schrift rudimentäre Medien zur Übertragung von Informationen über Entfernungen gegeben hat: »Historisch primär sind die digitalen Techniken, bei denen sprachliche Informationen in optische (Fackel-, Rauchzeichen, Semaphorentelegraphie), akustische (Trommeltelegraphie) und elektrisch-akustische bzw. elektrisch-optische (Morsetelegraphie) Codes encodiert wird.« (Hiebel ebd. 32) Verfolgt man die Geschichte der telekommunikativen Vernetzung bis zu den die Welt umrundenden Nachrichtensatelliten, drängt sich ein Topos wie Weltgehirn geradezu auf. Indessen bedeutet »Weltgehirn« inzwischen mehr als nur eine globale Fusion menschlicher Gehirne. Parallel zu Forschungen am Menschengehirn läuft spätestens, seit die Naturwissenschaften sich durchgesetzt haben, auch die Erforschung tierischer Gehirne, nicht zuletzt um auf den Menschen rückschließen zu können. Der Vorteil: Tierversuche unterlaufen den Radar ethischer Vorbehalte, was nicht nur verstörende Filmdokumente mit sondengespickten Köpfen von Schimpansen demonstrieren. Dass auch Gehirne autonom bleibender Tiere, d.h., ohne ausgebeutet zu werden, in die Systeme des Weltgehirns zu integrieren wären, dass nämlich Erkenntnisse über Tiergehirne einen Beitrag leisten können, besondere, dem menschlichen Gehirn mangelnde Fähigkeiten zu eruieren, auch das liefe auf längere Sicht darauf hinaus nicht nur die menschlichen Kapazitäten zu ergänzen, sondern auch das globale Netzwerk zu erweitern. Ein bemerkenswertes Modul der Weltvernetzung stellt das Projekt »Icarus« (International Cooperation for Animal Research Using Space) dar. Minisender an Tieren schicken Messdaten an eine Empfangsstation im Weltall. Am Boden werten Forscherteams die Daten aus und sammeln Informationen über Wanderrouten und allgemeinere Lebensbedingungen vieler Tierarten. Die Erkenntnisse dienen der Verhaltensforschung, dem Artenschutz und Rückschlüssen über ökologische Veränderungen. O-Ton Max-Planck-Institut: »Wir versprechen uns durch die aus Icarus generierten Daten revolutionäre Erkenntnisse über das Leben, Verhalten und Sterben der Tiere auf unserem Planeten. Die global gesammelten Daten erlauben u.a. Rückschlüsse auf Krankheitsausbreitungen (Zoonosen), Erkenntnisse zum Klimawandel und zur Katastrophenvorhersage. Die zu erwartenden Forschungsergebnis-

Sprache/Medien

se sind von unschätzbarer Bedeutung für die Menschheit und letztendlich für unser Leben auf der Erde.« (Max-Planck-Institut für Ornithologie) Mit ihren Sendern für Satellitenempfang und Weiterleitung von Daten an terrestrische Stationen sind die Tiere wie alle das globale Netzwerk konstituierende Subjekte präsent. Menschen- und Tiergehirne live verbunden. Die Resultate sind in der Open-source-Datenbank »Movebank« abrufbar als eine weitere wichtige Voraussetzung, dass Tiere Akteure des Weltgehirns sind.

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Kapsel, Kapitel – capsula, caput

Etymologisches So ähnlich die zwei titelgebenden Substantive klingen, so wenig verbindet sie etymologisch. Sachlich hingegen ließe sich durchaus eine Beziehung herstellen. »Kapitel« geht wie auch das beinah identische »Kapitell« auf dasselbe Wort zurück, nämlich auf »capitulum« – »Köpfchen«. Was bei einem Säulenkapitell als dem oberen Schlussstein eines Bauelements offensichtlich ist, vermittelt sich beim Kapitel eines Textes viel indirekter. Die etymologische Referenz ist »Kopf« und beinhaltet einen komplexen, in sich abgeschlossenen Textkorpus, der ursprünglich als »Haupt(!)stück« bezeichnet wurde. Wie bei dem Begriff »Kapital«, der vom ebenfalls lateinischen »capitale« herkommt, steht auch hier das Etym »Kopf« am Anfang. »Kapsel« wiederum leitet sich her von »capsula« = »kleiner Behälter«, wobei das ursprüngliche »capsa« (ohne Diminutivaffix) auch ein Behältnis für Schriftrollen bezeichnete. Während »Kapitel« und »Kapsel« in einem weiteren Sinn auf Texte referieren, ließe sich, bezogen auf das Gehirn, immerhin der Zusammenhang »konstruieren«, dass »Kapitel« das lateinische »caput« = »Kopf« transportiert, und das Gehirn anatomisch genau da untergebracht ist, und zwar in einer schützenden Kapsel. Wie für »Hirnschädel« (Neurocranium) auch der wissenschaftliche Terminus »Hirnkapsel« gebräuchlich ist.

Der Schädel Beim Menschen sticht diese Kapsel nicht nur durch ihr Volumen hervor. Mit der Tendenz zur Kugelform ähnelt sie äußerlich und funktional einer großen Nuss, Druse, Muschel oder einer dickschaligen Frucht. Nach diesem Schema dürften frühe Vertreter des homo sapiens die Schädelform ihrer Artgenossen ad-

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aptiert haben. Für die Nahrungsgewinnung gehörten Methoden, solche Objekte mit den Händen aufzubrechen bzw. mit einem Stein aufzuschlagen, bereits zum technischen Repertoire von Primaten. Für spätere Spezies könnte man sich zumindest Szenen vorstellen, in denen ein Steinzeitmensch bei der Suche nach Feuersteinen zufällig eine Druse entdeckte, sie aufsprengte und in eine Art religiöser Verzückung geriet, wenn sich plötzlich die farbig funkelnden, unfassbar vollkommenen Kristalle im Inneren eines an der Oberfläche unansehnlichen Gesteinsklumpen offenbarten. Urerfahrungen mit Kapseln. Ob die ersten Male, als Frühmenschen die Schädel Getöteter oder sonstwie zu Tode Gekommener zielgerichtet für einen Blick auf das Gehirn zertrümmerten, sei dahingestellt wie auch, dass das Gehirn jenes Akteurs selbst den Impuls gab. Plausibler könnte sein, dass solche Zu- und Übergriffe sich eher zufällig in die einschlägigen Praktiken der Nahrungsbeschaffung einreihten.

Sezieren – Foltern – Lustreiz Eine weitere Hypothese ließe sich aus dem Interesse am Innenleben des Schädels als Schmerzzentrum herleiten – eingebettet jedoch in eine primäre Kartierung des Körpers und den Aufbau eines grobphysiologischen Selbstbildes, die sich über Lust- und Schmerzzentren, lokalisierbare Erregungen und Intensitäten ausdifferenziert haben. Nicht anders als unzugängliche Schmerzen in inneren Organen oder offene Wunden erzeugen Lustgefühle und Orgasmen eine diffuses endogenes Abbild des Körpers, einen fragmentierten Homunkulus im Gehirn. Innen und Außen, Lust und Schmerz vermischen sich und destruieren das Selbstgefühl einer integrativen Ganzheit. Über diese volatilen Zustände ließe sich spekulieren, ob im wie auch immer verfügbar gemachten Körper eines Anderen bereits in jenen frühen Zeiten ein Spiegelobjekt oder Double erahnbar war, über das sich der eigene Körper hätte dechiffrieren lassen. Derartige Bestrebungen der Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung könnten ein neues Licht auf Folter werfen. Was vielleicht nur als eine Art Experiment an einem fremden Körper angefangen hatte, könnte in einer fatalen Koppelung begleitet gewesen sein von Lust, ausgelöst durch die Übertragung von Schmerzerinnerungen wie auch aus dem Machtgefühl, den Spieß gegen eigene traumatische Erfahrungen umdrehen zu können, um die Gefahren zu beherrschen, denen das Subjekt selbst ausgeliefert ist. Intuitiv oder protowissenschaftlich sozusagen lernten Menschen erste physiologische Kausalitäten zu verstehen wie etwa Reflexe auf signifikante Stimuli. So dürfte auch der An-

Kapsel, Kapitel – capsula, caput

blick des Körperinneren Schwerverwundeter und gewaltsam Getöteter rudimentäre Aufschlüsse über mechanische Abläufe im Körper gegeben haben. Es könnte also aussichtsreich sein, die Ursachen der Lust und der Sucht zu quälen in der ursprünglich diffusen Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers zu suchen. Opferkulte, in denen es wie eine Trophäe zur Schau gestellt wurde, weisen darauf hin, dass das pulsierende Herz als attraktivstes Organ des Menschen galt. Damit konnte das Gehirn kaum mithalten, und dürfte höchstens als Herd von Kopfschmerzen auf sich aufmerksam gemacht haben. Dennoch ließe sich hinterfragen, ob die Somatotopik, die sich aus der Repräsentanz der Gliedmaßen und Organe in der Gehirnrinde organisiert, in irgendeiner Weise in der Selbstwahrnehmung beziehungsweise einem Selbstgefühl niedergeschlagen hat. In dieser endogenen Topografie nämlich kommt das Gehirn selbst nicht vor, denn gemäß seinen systemischen Voraussetzungen kann es sich da auch gar nicht repräsentieren. In jenem Frühstadium der Menschheitsgeschichte ist es sich selbst von allen Organen das fremdeste. Äußerlich und physisch wird diese Fremdheit dadurch verstärkt, dass es eingeschlossen ist in eine Kapsel, als zwar das wichtigste, doch unerkannteste Organ, beherbergt in einer widerständigen Knochenschale, die von der endogenen Skelettarchitektur der Wirbeltiere abweicht, um im Panzer eines für die biologische Klasse atypischen Exoskeletts geborgen zu sein.

Speicherplatz Selbst mit dem Aufkommen einer empirischen Medizin, frühestens ab der ägyptischen Hochkultur, gibt das seiner Kapsel entnommene Gehirn von sich nichts preis. Auf die Überwindung der undurchdringlichen Knochenschale folgt das nächste Mysterium: Die Windungen, Auswölbungen und Einschnitte einer grauen, feingeäderten, zuletzt aber nichtssagenden Substanz geben für die wissenschaftliche Neugier kaum etwas her, sodass das Gehirn epochenlang für sich selbst anonym bleibt. Nur sukzessive wird es – anders als von den Organen und Gliedmaßen – ein Abbild, eine Vorstellung sowie eine über externe Umwege erworbene, d.h., vermittelte Repräsentanz seiner selbst entwickeln. Während sicher schon bald möglich war, Rückschlüsse auf die Funktionsweise der Muskeln, Sehnen und Blutgefäße zu ziehen, gab es, was Funktionsweisen und Aufgaben betraf, für das Gehirn zumindest bis zur griechischen

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Antike nichts zu erkennen. Ab da setzte sich die Erkenntnis von der Bedeutung des Gehirns für den Gesamtorganismus zwar mehr und mehr durch, das Wie hingegen blieb nach wie vor rätselhaft. Was das Gehirn sukzessive über sich erfahren konnte, war ausschließlich durch das Auge vermittelt über die Umleitung durch das Sehzentrum. Es ist deshalb anzunehmen, dass die Selbstrepräsentanz des Gehirns in anderen Arealen eingelesen sein müsste als in der Somatotopik der Großhirnrinde – etwa in einem von den Augen belieferten Zentrum, und zwar dort, wo Bilder gespeichert sind. Seit Wissenschaftler mit fortgeschrittensten radiologischen Techniken die Knochenbarriere überwinden, was nicht nur ein Eindringen in die Kapsel ermöglicht, sondern auch die Hirnmasse lebender Probanden in beliebig feine Schichten zu zerlegen, muss kein Schädel mehr zertrümmert oder aufgesägt werden, damit das Gehirn sich sehen und ein Bild von sich verschaffen kann. Namentlich vom Gehirn sendet die gegenüber Röntgenstrahlen unschädliche Kernspintomographie spektakuläre Bilder. Umgekehrt eignet sich das Gehirn besonders für eine Technologie, die, außer exakt aufzuzeichnen, direkt in virtuelle Bildanalyseverfahren weiterführt. Mit der Kernspin gelingt dem Gehirn auf dem Weg zu seiner Selbsterkenntnis ein unschätzbarer Fortschritt. Diese epochale Annäherung an ein Bewusstsein seiner selbst eröffnet einem Begriff wie »Selbstbewusstsein« eine neue, nichtpsychologische Dimension. War es nicht wie noch einmal vom Baum der Erkenntnis zu essen, als die Hirnkapsel wie eine hartschalige Frucht dereinst geöffnet wurde? Ob auch diese Frucht sich künftig wieder als eine verbotene herausstellt, wird sich zeigen.

Vom inneren Organ zum Massenfetisch und von Descartes zu Thomas Harvey

Die Kuratorin der Münsteraner Ausstellung »Gehirn – Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl« versprach sich großes Kino von der Leihgabe zweier Scheibchen des Gehirns von Albert Einstein. Geliefert wurde das exquisite Teil von dem medizingeschichtlichen Museum Philadelphia, einem der beiden Museen weltweit, in denen man diese Wunderwerke der Natur bestaunen kann. Doch das Exponat hat eine bizarre Vorgeschichte. Wie von dem Hirn-Heroen Einstein verfügt, wurden die sterblichen Überreste eingeäschert – mit der entscheidenden Abweichung von dem postmortalen Projekt allerdings, dass der obduzierende Pathologe Thomas Harvey im festen Glauben, Genialität müsste sich aus so einem Gehirn doch irgendwie herauslesen lassen, dieses einschließlich der Augen entnahm. Unter ethischen Gesichtspunkten zweifellos eine Art Organdiebstahl. Ihre Pointe hatte die illegale Aktion darin, dass eines der bedeutendsten Gehirne der Menschheit einem echten Dilettanten in die Hände fallen musste. Der wusste nicht mehr mit seinem mythischen Beutestück anzufangen, als es in über 200 Würfelchen zu zerschneiden und in Einmachgläsern zu konservieren. Wie es sich für Eingemachtes gehört, verstaute er die Präparate jahrelang im Keller, bevor er sie dann irgendwann der Wissenschaft zur Verfügung stellte. Einsteins tote Augen lagerten derweil in einem New Yorker Tresor. Obwohl das ruinierte Organ nachweislich keine einzige erhellende Einsicht abwarf, ließ sich die Münsteraner Ausstellungsmacherin von dem Einstein-Hirn-Kult anstecken, installierte für die beigeschafften Konserven eine besondere Vitrine und ließ das cerebrale Wunder digital in 3D animieren. Vergesellschaftet wurden die zwei Hirnfragmente in der didaktisch aufgemachten Ausstellung mit 80 Gehirnen verschiedener Wirbeltiere – u.a. Delphin, Pferd, Orang-Utan, Känguru. Diese fünf Exponate aus dem Bestand des Naturkundemuseums wurden ergänzt durch 75 Präparate aus der

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Edinger Sammlung des Universitätsklinikums Frankfurt. Ludwig Edinger (1855–1918), Nervenarzt und Hirnforscher, gründete das erste Institut für Hirnforschung Deutschlands und hinterließ eine umfangreiche Sammlung. Doch schon bevor die Hirnforschung sich als Unifach etabliert hatte, herrschte ein ernsthaftes und keineswegs mehr nur ausschließlich medizinisches Interesse an der physiologischen Beschaffenheit des menschlichen Gehirns. Welche Bedeutung der Edinger-Sammlung bis heute noch zukommt, kann man nachlesen in den Informationen der Goethe-Universität Frankfurt: »Bei den Sammlungen des Neurologischen Instituts (Edinger-Institut) handelt es sich um umfangreiche Konvolute unterschiedlichster Materialitäten: Naturale Objekte (Tiergehirne und Schnittserien, Feuchtpräpatarate pathologisch veränderte menschliche Gehirne, neuropathologische Schnitte), Gerätschaften vergangener Wissenschaftspraxis (Mikroskope, Schneidemaschine, Zeichenapparat), plastische Artefakte (Gehirnmodelle von Tieren und Hominiden) sowie Papierdokumente (Buch- und Zeitschriftenbibliothek, Sonderdrucke, Handzeichnungen, Briefe, Fotoporträts) sowie Kunstwerke (Büste, Gemälde). Insgesamt bilden sie ein einzigartiges kulturhistorisches Ensemble zur Geschichte der Hirnforschung in Frankfurt a.M., die bis 1933 vor allem von deutschen Juden vorangetrieben wurde. […] gegenwärtig sind alle genannten Objekte in Kisten verpackt und unzugänglich zwischengelagert. Sie bilden den Grundstock für das von der Ludwig-Edinger-Stiftung geplante Museum zur Geschichte der Hirnforschung in Frankfurt a.M..« (Sammlungen Uni Frankfurt))

Das denkende Ding Descartes’ Basissatz »cogito, ergo sum« definiert den Menschen erstmalig ausschließlich über das Denken. Diese Aussage, deren Unhintergehbarkeit für Descartes feststand, weil sie die philosophische Methode des radikalen Zweifels überstanden hatte, demontiert sie ihrerseits jede Gewissheit, auf die sich das Alltagsleben stützt. Erkenntnistheoretisch ist die Frage zu beantworten, ob die Sinne dem Bewusstsein eine unbezweifelbare Realität übermitteln, und ob dafür, was als Welt gedacht wird, nicht »[…] ich vielleicht selbst der Autor jener Gedanken sein könnte.« (Descartes 2004: 71) Grundsätzlich ist bei Verstandesinhalten von vornherein größtes Misstrauen angebracht. Die Begriffe »Trugschluss« und »Betrüger« finden sich zumindest im Deutschen schon mal in ein und demselben etymologischen Zettelkasten. »Aber was nun,

Vom inneren Organ zum Massenfetisch und von Descartes zu Thomas Harvey

da ich annehme, dass irgendein höchst mächtiger und, wenn man so sagen darf, böswilliger Betrüger mit Fleiß, so viel er nur konnte, getäuscht hat.« (Ebd. 77) Nach all seinen Zweifeln behilft sich Descartes mit einem subtraktiven Verfahren. Sobald also alles « […] von dem, was ich der Seele zuschrieb […]« abgezogen ist, nämlich der Körper mit seinen Konstituenten aus Sich-Ernähren, Bewegen, Empfindungen im Schlaf, die doch keine sind, dann bleibt nach dieser Subtraktion nur eins übrig: »Das Denken ist es, dieses allein kann nicht von mir losgelöst werden. Ich bin, ich existiere, das ist gewiss.« (Ebd.) Nach dieser radikalen Reduktion, die schlussendlich nichts anderes bedeutet als die Negation des Körpers, versagt wohl auch die Sprache ihren Dienst, indem es keinen angemessenen Begriff gibt, um diesen fragilen Zustand am lebensfernen Rand zum Nichts zu erfassen, so dass dem Menschen respektive dem Ich das Leben schlechthin entzogen wird: »[I]ch bin also genau nur eine Sache, die denkt.« (Ebd. 77) Oder eben: »Ein denkendes Ding.« (Ebd. 81) Das epochale »Ich denke, also bin ich« aus den »Abhandlungen« (Descartes 1924: 44) wird in den späteren »Meditationen« präzisiert. Das erstere Buch zeichnet ein genaueres Bild des menschlichen Körpers als eines »von Gottes Hand gefertigten Automaten« (ebd. 66), eines »Apparats« aus Knochen, Muskeln, Adern etc., in dessen Funktionen auch das Gehirn einbezogen wird in einer Art Vermittler, weil »[…] der Geist nicht von allen Teilen des Körpers unmittelbar Eindrücke empfängt, sondern nur vom Gehirn, vielleicht sogar nur einem kleinen Teil desselben, von demjenigen nämlich, in dem gewöhnlich Sinn enthalten sein soll.« (Ebd. 175) Nicht angezweifelt hingegen wird das Gehirn als Zentrale der Maschine, wohin nicht nur die »Lebensgeister« wie ein Hauch oder eine Flamme emporsteigen (vgl. ebd. 64f), sondern wohin auch rein physiologisch das Herz das Blut schickt, und wo auch Nervenimpulse aus der Peripherie ankommen wie etwa ein Schmerz im Fuß, was in der Maschinenmetaphorik heißt, dass das durch die »[…] Vermittlung der im Fuß verbreiteten Nerven geschieht, die sich wie Seile bis zum Gehirn erstrecken.« (Ebd. 176) Während der Körper fundamental abgespalten ist vom Denken, und indem der Geist die Eindrücke vom Körper nicht unmittelbar empfängt (ebd. 175), sondern nur das Gehirn das tut, wird es zur Vermittlungsinstanz, die, um mit Luhmann zu sprechen, die Stelle einer strukturellen Kopplung besetzt zwischen den geschlossenen Systemen Denken und Körper, indem es Sinnesdaten und Geist verschaltet. Geist wiederum ist synonym mit Verstand und Bewusstsein. Diese Kopplung wirkt fort bis zur Bestimmung des Ichs als eine denkende Sache, ein denkendes Ding oder eine denkende Substanz. Um ein Dingliches an das Abstraktum des Denkens anzuschließen, braucht es eben diese (orga-

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nische) Vermittlungsinstanz Gehirn. Die Sache, das Ding, die Substanz – was also denkt, kann nichts anderes sein als das Gehirn – komprimierbar zu der simplen, gleichwohl zwingenden Gleichsetzung: Ich – das Gehirn.

Phrenologie Obzwar als abwesendes, so war es ausgerechnet das Gehirn des Descartes, das besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte. Den Schädel, der sich im Pariser Musée de l’Homme befinden soll, beurteilte der weltbekannte Phrenologen Johann Caspar Spurzheim (1776–1832) allerdings als wenig auffällig. Nach der von dessen zwanzig Jahre älterem Lehrer Franz Joseph Gall (1758–1828) erfundenen Phrenelogie sollte man rückschließen können von der äußeren Schädelform auf die Eigenschaften des Gehirns. Angesichts der Durchschnittsmaße des Descart’schen Schädels soll Spurzheim aber spontan ausgerufen haben: »Descartes war gar kein so großer Denker, wie man meint.« (Zit. bei Burell 2005: 39) Eine große Verstandesleistung gehörte nun mal in ein großes Gehirn und ein großes Gehirn in einen großen Schädel. Descartes starb 1649 in Stockholm und wurde auch dortselbst begraben. Der Leichnam jedoch blieb nicht sehr lange in seinem Grab. 17 Jahre später wurde er exhumiert und überführt nach Paris: »Zu diesem Zweck trennte man seinen Kopf ab, damit der Körper in einen kupferbeschlagenen Spezialsarg passte. Beim zweiten Begräbnis (fehlte) der Schädel, der angeblich von einem Hauptmann gestohlen und an einen Sammler verkauft worden war […]. Ein Schädel, der später auf einer Auktion von dem schwedischen Chemiker Johann Jakob Berzelius ersteigert und dem französischen Staat geschenkt wurde, ist das Exemplar, das heute die Sammlung des Museums ziert.« (Ebd. 40) Ein Philosophenschädel als Sammlerstück! Woher in dieser Zeit die erhöhte Aufmerksamkeit für den Schädel eines außergewöhnlichen Menschen gerührt haben könnte, ist kaum zu rekonstruieren, genauer hingegen, dass der Mediziner und Chemiker Jöns Jakob Berzelius circa 150 Jahre später als Zeitgenosse der Phrenologie an dem Objekt Interesse zeigte. In dieselbe Zeit fiel auch der Tod des als Genie und griechischen Freiheitskämpfer gefeierten Lord Byrons in Griechenland. Mit dem Wissen, dass aufgrund neuer Konservierungsmethoden Leichenöffnungen zunahmen, und man besonders bei bedeutenden Menschen z.B. das Herz als mythischen Sitz der Seele immer noch einlegte und se-

Vom inneren Organ zum Massenfetisch und von Descartes zu Thomas Harvey

parat begrub, erbat sich Byron an seinem letzten Tag von dem behandelnden Arzt, Sorge zu tragen, « […] dass mein Leib nicht zerstückelt oder nach England geschickt wird.« (Zit. ebd. 73) Doch der Arzt entsprach dieser Bitte nicht. Zwar barg er, als er den Leichnam präparierte, Herz und Eingeweide in verschiedene Urnen, als eine Besonderheit jedoch fiel ihm das Gehirn mit seinen »rund sechs medizinische(n) Pfund« auf. (Zit. ebd.) Die verschiedenen Urnen schickte er danach zusammen mit dem Sarg nach England. Dort nahm man die zerstückelte Sendung in Augenschein und setzte das gesamte Set im Familiengrab bei. Auch wenn das Gehirn ganz unspektakulär verweste, so verbreitete sich der Bericht über dessen exorbitante Größe schnell. Wie Byron vorausgesehen hatte, galt es nicht mehr als anstößig, Leichen zu sezieren und hinterher wieder so herzurichten, dass sie natürlich aussahen. »Doch dass (Byrons) Gehirn von einem Dorfarzt in einer kleinen griechischen Ortschaft herausgenommen und gewogen wurde, war ungewöhnlich, wenn nicht sogar beispiellos.« (Ebd. 76) Zu den exponentiellen, weil motivierten Gehirnen, die die Selbsterkenntnis vorantreiben, gehörte auch jenes von Franz Joseph Gall (1758–1828). Mit der Phrenologie begründete der Arzt die Lehre von den Schädelformen. Aufgrund des Standards seiner Sektionen hatte er sich den Ruf erworben, der bedeutendste Hirnanatom der Epoche zu sein. Auch war es an der Zeit, die These zu wagen, dass das Gehirn das Zentrum sei, in dem die Teile des Körpers repräsentiert seien, die Nerven zusammenliefen, vor allem auch, dass die intellektuellen Fähigkeiten – respektive der Geist – physiologische Funktionen seien. Diese Auffassung vertrat u.a. der Baron von Holbach, der sich zudem als überzeugter Atheist zu erkennen gab. (Ebd. 58) Wie riskant solche Thesen noch waren, musste Gall erfahren, als er sich mit deren Veröffentlichung die herrschenden Mächte, allem voran natürlich die Kirche zu Feinden machte. Die Rückbindung geistiger Fähigkeiten in der Physiologie des Gehirns, so die reaktionäre Argumentation, befördere den Materialismus und widerspreche sittlichen und religiösen Grundprinzipien. Aus seinen Beobachtungen schloss Gall, dass ein umfangreiches, differenziertes Spektrum geistiger Fähigkeiten wie Gedächtnis und Sinneswahrnehmung wie auch neben Freundschaft oder Kindesliebe verschiedene Triebe je in einem bestimmten Teil des Gehirns ihren Ursprung hätten. »Galls revolutionäre Idee – der Kerngedanke einer Organologie – begann mit vier Prinzipien. Aus heutiger Sicht erscheint jedes von ihnen einigermaßen vernünftig, doch sie waren äußerst kühn und spektakulär, als er sie erstmals

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vorschlug. Gall behauptete: (1) die sittlichen und geistigen Anlagen sind angeboren; (2) ihre Manifestation ist eine Frage der Organisation; (3) das Gehirn ist das einzige Organ des Geistes; (4) das Gehirn besteht aus so vielen speziellen und unabhängigen Organen, wie es fundamentale Vermögen des Geistes gibt.« (Ebd. 61) Als Ergebnis dieser von ihm stets selbst als Vermutung und Spekulation relativierten Zuschreibungen sprang immerhin ein zweibändiger mit seinem damaligen Assistenten, dem gut zwanzig Jahre jüngeren Johann Caspar Spurzheim, verfassten Hirnatlas heraus, ein Werk, »[...] das mehr als tausend Abbildungen von nie da gewesener Genauigkeit aufwies.« (Ebd. 63) Von Kollegen weniger freundlich aufgenommen, und was sicher gegen Gall sprechen konnte, war dessen Lust an der Selbstdarstellung, die sich in europaweiten Vorlesungstourneen offenbarte. Am meisten kreidete man ihm die unternehmerische Unverfrorenheit an, Eintritt zu verlangen. Als er in späteren Jahren die Salpêtrière besuchte und prahlte, Geisteskrankheiten durch Abtasten der Schädel der Insassen diagnostizieren zu können, wurde diese Behauptung in den Wissenschaftskreisen als vulgäre Scharlatanerie bloßgestellt. Gall hatte die Informationen für seine Diagnosen bereits aus der Lektüre der jeweiligen Fallgeschichten. (Ebd. 69) Zu einer echten Jahrmarktsattraktion machte sein abtrünniger Assistent Spurzheim die von Anfang an auf schwachen Füßen stehende Wissenschaft dann in Amerika. Indem er die die ursprünglich physiologische Psychologie lebensphilosophisch überhöhte, sie als »praktische Phrenologie« etikettierte und an die staatskritische Selbsthilfebewegung andockte, »[…] wurde die Phrenologie zum faulen Zauber von Schaustellern und Quacksalbern.« (Ebd. 56) Was immer gegen diese Vulgarisierung einzuwenden gewesen sein mag: Ab da hatte das Gehirn – seiner Dunkelkammer entrissen – sich die Aufmerksamkeit der Massen erarbeitet mit der Auswirkung, dass es in der Folgezeit seine Popularität ungebrochen zu steigern vermochte. Obwohl nach der Entdeckung der Elektrizität bereits physikalische Experimente bekannt waren, Forscher z.B. Funken prasseln ließen oder überraschende Lichteffekte in den Salons als sensationsheischende Showtricks zum Besten gaben, glaubte das Publikum lieber noch an Wunder: »In jener Zeit ist die Fee Elektrizität noch eine magische Unterhaltung der Wissenschaft, eine irrationale Verheißung der Vernunft.« (Garcia 2017: 31) 100 Jahre später ist die Aufklärung immerhin so weit, dass auch ein Massenpublikum sich für wissenschaftliche Erkenntnisse zu interessieren begann und, wie Galls Beispiel zeigt, damit auch für das Gehirn.

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»In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als das Interesse sich dem Gehirn zuwandte, verlagerte sich das organologische Programm unter einem neuen Namen unauffällig an eine andere Front. Der Mann, der für diesen Wandel verantwortlich war, der Mann, der Galls Lehre zum nächsten Paradigma des Gehirns machte, war einer der wenig beachteten Helden der modernen Naturwissenschaft. Sein Name war Auguste Comte.« (Burrell ebd. 68) Zwar streng katholisch erzogen, outete Comte sich schon in früher Jugend als Atheist und wurde zu einem antimonarchistischen Freidenker und Republikaner, was seine Affinität zu den Naturwissenschaften mitbedingt haben dürfte wie auch seine Hinwendung zum Ingenieurswesen. Als Sekretär des Sozialisten Claude Saint-Simon entwickelte er sich selbst zum Sozialreformer und gründete schließlich mit der Soziologie eine neue Wissenschaft. Auch wenn weiterhin der Kulturkampf Seele versus freier Wille nicht enden wollte, so setzte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte mit Comte der Positivismus durch gegen die immer noch weit verbreitete Mystik und Spiritualität. Der »[…] kam zur rechten Zeit. Er bediente eine wachsende Leidenschaft für Datensammlungen und eine wachsende Unzufriedenheit mit der Metaphysik.« (Ebd. 70) Mit Galls Theorie vertraut, äußerte Comte sich auch zum Gehirn: »Das Gehirn ist nicht mehr ein einziges Organ, sondern ein System von Organen, das sich als umso komplexer erweist, je höher die Stufe der Tiernatur ist.« (Zit. ebd. 70) Ein besseres Verständnis des Gehirns aber erfordere vergleichende Analysen, vorzugsweise die Untersuchung geschädigter Gehirne. Das zu leisten, setzte jedoch voraus, dass entnommene Gehirne dauerhaft konserviert werden konnten. Die zeitgleiche Erfindung des Formaldehyds (1855) brachte einen entscheidenden Fortschritt in der Konservierungstechnik. Die Emergenz aus Forschungsergebnissen, Intuitionen, Theorien und Spekulationen unzählbarer Individualgehirne bedingt einen Umbruch der sozialen und kulturellen Makroumgebung einer jeden Spezialdisziplin, dementsprechend auch ein neues Paradigma der Hirnforschung. Dieser Sprung lässt sich beschreiben am Beispiel der Umstände um das tote Gehirn des Mathematikers Carl Friedrich Gauß (1777–1855). Es war das erste von einem ernst zu nehmenden Fachmann untersuchte Gehirn. Desgleichen konnte es so stabil konserviert werden, dass es, ohne Schaden zu nehmen, über einhundert Jahre in einem Schrank im Keller der Göttinger Universität vergessen war, bevor es 1975 das Interesse des Pathologieprofessors Hans Orthner weckte mit dem Resultat, dass das signifikante Präparat weitere zwanzig Jahre zur Inspiration oder aus Dekorationsgründen auf dem Schreibtisch des Professors stand. (Ebd. 104f)

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Während Lord Byrons Gehirn nur seiner Größe wegen die Aufmerksamkeit eines griechischen Dorfarztes erregte, damit aber immerhin schon einen verstreuten Hinweis gab, dass eine besondere Begabung etwas mit dem Gehirn zu tun haben könnte, wird das Gehirn von Carl Friedrich Gauß erstmalig und ausdrücklich als Geniegehirn untersucht. Nach dem Tod des ersten Präparators fiel es dem Physiologen Rudolf Wagner zu. Sein Verdienst war es, eine außergewöhnliche Sammlung von Gehirnen aufzubauen. Des Weiteren »[…] (stellte) eine Liste von 964 Gehirnen – nach aufsteigendem Gewicht geordnet – alles andere in den Schatten. Dazu gehörten auch die acht ›Elitegehirne‹ von Byron, Dupuytren, Cuvier und fünf Göttinger Professoren. Umgeben von hundert Seiten Beschreibung und Erörterung sprach die Liste Bände.« (Ebd. 101) Die Göttinger Sammlung ist die älteste dieser Kollektionen und bestand neben einem Highlight wie dem Gauß’schen Gehirn nicht nur aus den Exemplaren der Bildungsschicht, sondern auch solchen unbekannterer Herkunft wie denen eines Arbeiters und einer Wäscherin, die, um noch einmal das Volumen zu erwähnen, ungewöhnlich große Gehirne hatten. Auf Dauer genügte dieses eher alltägliche Vergleichsmaterial nicht mehr, darum suchte man nach Extremerem wie Verbrechergehirnen, die bereits in den Anfängen der Phrenologie besondere Neugier geweckt hatten, nicht anders als pathologische Gehirne, wie der Auftritt Galls in der Salpêtrière belegt. Zunehmend aber setze sich, wie es Auguste Comte postulierte, eine vergleichende Forschung durch, sodass »[…] der Weg zum besseren Verständnis des Gehirns in der morbiden Anatomie (lag) – der Korrelation von Symptomen mit Hirnschädigungen – und der vergleichenden Anatomie – dem Vergleich von Gehirnen aller Arten.« (Ebd. 72)

Gauß und Fetisch Seit der Autopsie des Gauß-Gehirns rückt sukzessive das sogenannte »Elitegehirn« in den Mittelpunkt. (Ebd. 22) Aus der Perspektive des sich selbst erforschenden Gehirns zählten vor allem die Gehirne jener als Genie gefeierten und ausgegrenzten Subjekte (bis dahin ausschließlich männlicher Provenienz). Zu hinterfragen wäre die Motivation jener Forschergehirne, die, selbst wenn sie – von Ausnahmen wie Pierre Paul Boca abgesehen – kaum auf der Höhe ihres »genialen« Gegenstandes gewesen sein dürften, dennoch beanspruchten, sich zumindest tendenziell zu den von vornherein nicht seriös zu definierenden Elitegehirnen zu zählen. Es ließe sich darüber nachdenken, ob der An-

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trieb, diese Genie-Gehirne auseinander zu nehmen, unterschwellig auf die Absicht zurückgeführt werden könnte, sich selbst mit diesen Ausnahmegehirnen zu verschalten, von ihnen zu profitieren und von deren Magie etwas abzubekommen. Oder am Gegenpol der Skala der größenwahnsinnige Anspruch, das Rätsel Mensch zu lösen, als dem (natürlich vom Gehirn selbst propagierten) Kulminationspunkt der Evolution und selbst ernannten »komplexesten Objekt im Universum«. (Ebd. 27). Indem der Körper als Werkzeug und Medium des Gehirns funktioniert, sind Stimulanzien wie die Endorphine und Dopamine die probatesten Mittel, den Körper auf Trab zu halten, denn alle Lust will Ewigkeit. Damit lässt sich arbeiten. Die Dopaminschübe, ursprünglich dem Überleben dienlich, haben sich mit der Evolution des Menschen ausdifferenziert, sodass das Belohnungszentrum jeden Erfolg positiv verstärkt. Das gilt genauso für die eigenen, endogenen Intentionen. Es ist evident, dass ein Subjekt, dessen Gehirn es gelingt, diese selbstreflexive Neugier zu wecken, genau wie bei allen anderen Erkenntnispräferenzen und Begabungen dann auch da jeden Wissenszugewinn belohnt kriegt. Nur unterscheidet sich da die Zielsetzung fundamental von allen anderen, den »äußeren« Feldern der Wissensproduktion. Hinsichtlich der Geschlechterbalance fällt auf, dass die Geschichte der Hirnforschung hauptsächlich Männerdomäne ist. Soweit es zutrifft, dass vor allem Männer sich anfällig zeigen für diese hirneigenen Belohnungssysteme ließe sich ein psychologischer Zusammenhang mit dem Komplex Schwangerschaft vermuten, mit dem häufig auch intellektuelle und/oder künstlerische Männerproduktionen metaphorisiert werden. Allein das Idiom, etwas sei »eine schwere Geburt« gewesen, belegt den archaischen Zusammenhang. Die Neugier, was sich wohl im Inneren dieses ähnlich einem Babybauch gerundeten Schädels befinden mag, ließe sich als eine der männlichen Psychologie entgegenkommende Motivation interpretieren. Möglicherweise lassen sich diese Überschneidungen so weit strecken, dass sich in die Gestalt eines Fötus und eines Gehirns zumindest eine äußere Ähnlichkeit projizierten. Auf einer allgemeineren semantischen Ebene charakterisiert und verbindet das Wachstum beide Lebendsysteme viel ausgeprägter und spürbarer als sonst etwas im Körper. Fühlbar wie der Embryo wächst, so könnte sich zumindest in einem übertragenen Sinn auch das Wachstum der Fähigkeiten des Gehirns anfühlen. Das Wissenschaftsinteresse an Gauß’ Übergehirn leitet eine neue Ära der Selbsterforschung des Gehirns ein. Ab da ist bewiesen, dass das Gehirn zentrale Steuereinheit ist, definiert als rein physiologisches Organ ohne metaphy-

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sischen Input aus dem Jenseits. Wenn es auch streng positivistisch untersucht wird, bleibt trotz der mit dem Positivismus konnotierten Rationalität ein unreiner Rest. Denn dass ein zu einer derartigen Besonderheit aufgewertetes Gehirn aus allen menschlichen Gehirnen herausgehoben und zu einem exklusiven Forschungsgegenstand stilisiert wird, setzt entgegen aller Wissenschaftlichkeit eine mythische Erhöhung und die Zuschreibung einer paranormalen Aura voraus. Außer dass man mit besagtem Gehirn ein naturwissenschaftlich gesichertes Argument im ideologischen Kampf um den Materialismus ins Feld führen konnte, erreichte die keineswegs hysteriefreie Kontroverse bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Massenwirksamkeit mit dem abenteuerlichen Ergebnis der Gründung diverser Hirnspendergesellschaften. (Ebd. 104) Das Geniegehirn wird zur Attraktion, zum Mythos, Fetisch und Spektakel, sodass es durch diese Projektionen zum Favoriten einer Massenkultur aufsteigt, und, zu dem Zeitpunkt wennzwar noch nicht mit inflationärer Verbreitung, so doch zu einem Attraktor neuer Forschungsenergien wird. Nachdem es in früheren Epochen mit dem Herz konkurrieren musste, erreicht das Gehirn mit dem Gauß’schen Schub, zum populärsten, geheimnisumwittertsten und größte Neugier entfachenden Organ des Menschen zu avancieren. Und doch wird es nicht zu alldem, sondern es macht sich selbst dazu: Zum Mythos und Fetisch. Die Frage nach der Überwindung anachronistischer Widerstände, worum im 19. Jahrhundert eine nahezu fanatische Kontroverse um die Seele und den freien Willen wütete, lässt sich dahin gehend beantworten, dass das Gehirn seine Evolutionsgeschichte in einer Selbstanalyse aufarbeitet. Notwendig verschaltet und vernetzt mit den anderen (von ihm geschaffenen und erweiterten) Wissensfeldern, wirken sich diese Konnektionen bezüglich seiner Selbsterkenntnis in weit ausgreifenden Emergenzprozessen aus, durch die seine Selbstwahrnehmung sich sprunghaft stärkt, in solchen historischen Phasen sich sozusagen häutend, all das abstößt und beiseite schiebt, was sich für seine Zwecke in der Vergangenheit einstmals als sinnvoll, nützlich und hilfreich erwiesen hatte, das aber mit den Fortschritten des globalen Wissenszuwachses als hinderlicher Anachronismus die Passagen zunehmend blockiert hat. Naturgemäß unterliegt es der universellen Erkenntnisdrift, wenn es die Entwicklungsstadien jedes Subjekts und jeder Gesellschaft durchläuft in einer Bewegung, in der es kein Innen und kein Außen gibt, für die das Möbiusband noch die am wenigsten komplexe Visualisierung darstellt in einem vertrackten Verhältnis, in dem es die nötigen Inputs insofern aus sich selbst bezieht, als es das, was aus der Welt zu ihm vordringt, bereits mit der

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Wahrnehmung selbst konstruiert. Was sich sicher unterstellen lässt, ist die Progression der neuronalen Dynamik. Mit dem Paradigmenwechsel im 19. Jahrhundert besetzt das Gehirn jedenfalls einen thematischen Brennpunkt eines allgemein-gesellschaftlichen Interesses. Nach den erkenntnistheoretischen Systemen und Spekulationen kommt es im Jahrhundert des Materialismus und Positivismus in den Labors der physiologischen Tatsachen an. Was es jedoch auf der einen Seite hinzugewinnt, indem es sich aus der religiösen Deutungshoheit befreit und seinen Status als körperlicher Hort der Seele aufgibt, schlägt sich auf der anderen Seite als Verlust nieder. Zwar etabliert es sich in der Immanenz des Profanen, kompensiert diese Rationalität aber durch seine Auratisierung zu einem Mythos und Fetisch. Die Suche nach der Seele wird ersetzt durch die Suche nach der Intelligenz. Es will wissen, was drin ist. Ein Erkenntnisdrang, wie ihn das böse Gerücht beschreibt, das dem wissbegierigen Stauferkönig von Sizilien Friedrich II. unterstellt, er hätte einen zum Tode Verurteilten in einem verschlossenen Weinfass umkommen lassen, um dessen entwichene Seele zu sehen. In dem Zusammenhang spielt es jedoch keine Rolle, ob die Geschichte wahr ist oder nicht, weil sie nämlich vorwegnimmt, dass der physiologische Zutritt des Gehirns zu sich selbst der einfachen Logik des Öffnens folgt: Von Früchten, Drusen, Nüssen oder verschlossenen Gefäßen, um den Zugang zu einem signifikanten Inhalt zu erzwingen mit der Projektion bzw. Illusion, durch dieses Eindringen einen Wahrheitskern freizulegen. Galls Phrenologie erschöpfte sich in der Interpretation einer äußeren Form, reduziert darauf, von der Gestalt des Schädels auf die Größe des Gehirns rückzuschließen, um von da aus fortzuschreiten zum Verständnis der gesamten Steuereinheit, und um zuletzt allein durch das Abtasten des Kopfes – pars pro toto – definitive Aussagen treffen zu können über ein Subjekt als Ganzes. So konditionieren die niederschwelligen Oppositionen Schale-Inhalt, Oberfläche-Tiefe, außen-innen die Praxis der Hirnautopsien. Mit ernüchterndem Ertrag. Primär spricht nichts dafür, dass ein großes bzw. schweres Gehirn ein Zeichen ist für Genialität oder Hochbegabung. Zwar besitzen alle Gehirne eine Grundstruktur, die aber splittet sich vielfältig auf, sodass schon der Anblick der Formen, der sich unterschiedlich wölbenden Windungen, der Tiefe der Falten, Einschnitte und Täler die Theorie vor mehr Rätsel stellt, als sie je auflösen könnte. Doch diese Vielfalt, die jedes Gehirn zu einem individuellen Organ, einer kryptisch bis magischen Plastik macht, motiviert immerhin dazu, dieses obskure Objekt der Neugier zu sammeln und auszustellen. Here I am! Das Gehirn exponiert sich selbst. Könnte es nicht gar

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eitel sein, genauso eitel und eifersüchtig wie jene Götter, die es einmal kreiert hat? Das Ergebnis jedenfalls ist, dass es in den Ausstellungsbetrieb der Shows, Galerien und Museen drängt. Seine Platzierung im Kulturbetrieb versprach Ruhm – selbst post mortem. (Vgl. ebd. 131). Dementsprechend gründete sich nach den Hirnspendergesellschaften mit ihren antiklerikalen Intentionen eine »gegenseitige« Autopsiegesellschaft: »Die Société d’autopsie mutuelle (!) stand jedem offen […]. Ihre Gründer warben in Publikumszeitschriften für sie, und die Reaktion war überwältigend.« (Ebd. 126) Der spektakulärste Auftritt gelang dieser Société bei der Pariser Weltausstellung 1889 (der mit dem Eiffelturm), wo sie ihre eindrucksvolle Sammlung von Gehirnen in Szene setzen konnte. Aufschlussreich auch die Tatsache, dass Thomas Harvey Einsteins Gehirn einschließlich Augäpfel entfernt hatte (ebd. 302), und damit gewollt oder ungewollt der physiologischen Kongruenz von Auge und Gehirn entsprach. Denn es war ein vorrangiges Bedürfnis des Gehirns, sich selbst zu sehen, ein unmittelbares Bild von sich selbst zu verschaffen und das, inzwischen anders als in vorangegangenen Epochen der Wissenschaft auf großer Bühne. Dieser Aufbruch löste einen Autopsie-Hype aus, der nicht nur die Wissenschaft, sondern auch das Massenpublikum elektrisierte. In der Wissenschaft behauptet sich dieses maßlose Engagement für Autopsien bis heute: »[D]ie britische Regierung hat vor kurzem bekannt gegeben, dass zwischen 1970 und 1999 rund 22000 Gehirne im Zuge von Autopsien ohne Einwilligung von Angehörigen entfernt und an Hirnbanken verkauft wurden (der übliche Preis betrug sechzehn Dollar pro Gehirn).« (Ebd. 17) Mit dem Wunsch sich zu sehen, reagiert auch das Gehirn auf den allgemeinen Fortschritt der wissenschaftlichen Ressourcen und Methoden, wie Bruno Latour in »Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente« beschreibt. Das Primat des Visuellen, das sich mit den digitalen Bildgebungsverfahren vom Tastsinn löst, beginnt beim Objekt, dem Pflanzenoder Tierpräparat, der Gesteinsprobe, dem Fossil, Ausgrabungsstück oder Organ. Spätestens seit den vereinsunterstützten Obduktionen affiziert und spezialisiert diese Obsession des Sehens (vgl. Latour 1986: 271) auch das Gehirn. Man legt Sammlungen an, die als wissenschaftliches Medium in Texte iterieren, indem man die Stücke etikettiert, beschreibt und kommentiert. »Das trifft besonders zu, wenn die Phänomene, die wir glauben sollen, mit bloßem Auge nicht zu sehen sind (und die) als durch das ›bewehrte‹ Auge der Inskriptionsmittel gesehen (werden).« (Ebd. 282) In erster Linie auf diese »Inskriptionsmittel« beziehen sich Latours Einlassungen. Sie handeln von Transformatio-

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nen durch Aufzeichnungstechniken, mit denen räumliche respektive stationäre Objekte in »flache«, d.h., zweidimensionale, komplexitätsreduzierte Abbilder übersetzt werden, »eine Karte, eine Liste, eine Akte, ein Zensus, die Wand einer Galerie, ein Kartenindex, ein Repertoire.« (Ebd. 285) In dieser Übersetzung in »flache« Medien, werden die ursprünglichen, oft sperrigen Objekte mobil, disponibel, kombinierbar und rekombinierbar. Landkarten schreibt der Autor dabei eine besondere Bedeutung zu. Insofern ist kaum ein Zufall, dass Gall und Spurzheim für den ersten Versuch, Gehirnareale aufzuzeichnen, auf den Titel »Gehirnatlas« gekommen sind. Dass mit jeder neuen Sammlung auch ein neues Set aus Inskriptionen Aufmerksamkeit einfordert, provoziert Widerspruch. Ein Wettlauf um Argumente, Beweise, Gegenbeweise läuft sich fest »dem Rüstungswettlauf sehr ähnlich« (ebd. 275) – kurzum: einer der üblichen Konkurrenzkämpfe. Wie Rivalität (im Wechsel mit Kooperation) sich immer schon in Triebkräfte des Fortschritts umsetzt, der Erkenntnis im Allgemeinen und der Technik im Besonderen – erfahrungsgemäß weniger in Fortschritte der Menschlichkeit – gilt im selben Maß für die generelle Selbsterkenntnis des Gehirns. Der Vergleich mit dem militärischen Komplex erweist sich keineswegs als so weit hergeholt, wenn die Armeen kriegführender Staaten als in sich geschlossene Totalitäten aus gleichgeschalteten Einzelhirnen funktionieren, als Systeme daher gleichwie sich bekämpfender Individualgehirne. Im Unterschied zu den folgenden abstrakten Aufzeichnungen ist das Zusammentragen von Sammlungen noch ein recht lebendiger Prozess: »Was zählt, ist das Aufstellen und Aufbieten von Ressourcen (Biografien von Naturalisten, z.B. übervoll mit Anekdoten über Kisten, Archive und Musterexemplare) […].« (Ebd. 281) Ähnlich beschrieben auch in Burrells Buch »Im Museum der Gehirne«. Es belegt u.a., dass die Geschichte der sammlungsspezifischen bzw. musealen Aspekte der Hirnforschung nicht zu trennen ist von den Biografien der Akteure, den Provenienzgeschichten und den späteren »Schicksalen« der Präparate wie denen jener exklusiven Gehirne von Lord Byron über Lenin bis Einstein. Unter den Bedingungen fortschreitender Entkörperlichung durch den Transfer der medialen Derivate der Welt und Gesellschaft in die Infosphäre, wie im Zeichen des digitalisierten Zugangs ins Schädelinnere bis in die Mitte des Gehirns, wie auch der digitalen Auslagerung einzelner Gehirnfunktionen wirkt es längst nostalgisch, wenn nicht sowieso absurd, weil es in der Tat nur noch »museal« ist, fleischliche Gehirnpräparate in vergessenen Schränken muffiger Universitätskeller aufzubewahren. Für Interessierte listet Burrell die bedeutendsten Gehirnsammlungen auf: Paris mit Exemplaren aus

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dem 19. Jahrhundert, Tokio hauptsächlich mit Schriftsteller- und Professorengehirnen, Philadelphia mit ebenfalls mit einer Menge Akademikergehirne und last not least die prominent bestückte Moskauer Sammlung mit den Gehirnen Lenins, Stalins, Eisensteins, Pawlows, Sacharows, Gorkis, Majakowskis, Zetkins. (Vgl. ebd. 339ff) Als Nachwirkung des Kosmismus scheint diese Sammlung weniger wissenschaftlichen Absichten geschuldet als einem Totenkult. Obzwar Burrell den Begriff des Museums in Frage stellt, weil es »[g]enau genommen keine Hirnmuseen (gibt), stattdessen Museen, die berühmte Gehirne besitzen, sie aber den Blicken der Öffentlichkeit vorenthalten«, (ebd. 21) diese Präparate mithin in suspekten Geheimverliesen einlagern, passiert in der Münsteraner Ausstellung mit Einsteins Gehirnpartikel das Gegenteil. Einsteins mystisches Fleisch wird hervorgeholt und in ein echtes Museum gebracht. Was diese Sammlungen, ob nun öffentlich oder nicht, mit der Institution Museum verbindet, ist die Voraussetzung, so der Soziologe Henri Pierre Jeudy, dass (zumindest bis zur digitalisierten Hirnforschung) der Tod der Preis der musealen Konservierung ist, wodurch »[…] bereits Abgestorbenes zu neuem Leben erweckt (wird).« (Jeudy 1987: 23). Auf einer imaginären Zeitachse trägt sich auch Zukünftiges ein, weil allem Musealen auch eine antizipatorische Funktion zuzuschreiben ist, denn der »[…] Verwaltungsbetrieb ist einem vorausschauenden Denken unterworfen, das uns nötigt, im Futur II, in der ›vollendeten Zukunft‹ zu leben. Die betroffenen Institutionen verfolgen letztendlich eine ›antizipierende‹ Politik […].« (Ebd. 8) Und wenn der Pathologieprofessor, Hans Orthner, das Hirnpräparat von Carl Friedrich Gauß bis zur Jahrtausendwende vis à vis auf dem Schreibtisch stehen hatte, so ist er es selbst, der die avancierte Kernspintomographie in einer historischen Zeitschleife rückkoppelt. Ein weiterer Effekt der Museographie ist die Sakralisierung der Objekte. (Vgl. ebd. 65) Wie exakt gerade das für die exponierten Stücke der Gehirnsammlungen stimmt, weiß man nicht erst seit der Hysterie um Einsteins Gehirn, sondern auch vom Kult um das Lenins. »Ist es doch in papierdünne Schnitte aufgeteilt und auf Objektträger fixiert, die eine eindrucksvolle Vitrine füllen. In einem benachbarten Schrank enthalten fünfzehn dicke grüne Lederbände 750 Mikrofotografien, die einen außerordentlich detaillierten Atlas dieses sakrosankten Präparats darstellen. Der Name des einstigen Besitzers steht in großen kyrillischen Buchstaben auf dem Rücken jedes Buchs, ebenso wie auf den imposanten Denkmälern

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überall in der Stadt. Die Rede ist natürlich vom Gehirn Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin.« (Burrell ebd. 279)

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Die zu erweiternden Fähigkeiten des Gehirns. Die andere Erkenntnistheorie Die verbreitete Annahme, wir nutzten lediglich 10 % der natürlichen Gehirnkapazität, wäre möglicherweise auf Franz Joseph Gall zurückzuführen. Auslöser könnte die phrenologische Hypothese gewesen sein, allein die kortikalen Neuronen wären in abgegrenzten Hirnregionen für Persönlichkeit und Denkprozesse verantwortlich. Ein Grund für die 10 %-Hypothese dürfte in dem Adjektiv »abgegrenzt« zu suchen sein mit der Folge, dass diese spekulative Zahl bis heute als ein Mythos durch Hirnforschung und Populärkultur geistert. Wissenschaftlich zwar widerlegt, motiviert diese These nach wie vor zu Selbstoptimierungsprogrammen. Da es, sobald irgendwo Utopien des menschlichen Gehirns ausgedacht werden, es kaum jemals ohne Einstein abgeht so auch in diesem Zusammenhang – unbesehen dessen natürlich, dass keine Aussage Einsteins über die Kapazität des menschlichen Gehirns nachgewiesen ist. Der berühmte Name wird instrumentalisiert, um den Menschen einzureden, jede und jeder verfügte im Grunde über die Pozentiale eines genialen Gehirns, die, da sie zu 90 % »leider« ungenutzt seien, mit dem richtigen Zugang zu aktivieren wären. Wie Mitte des 19. Jahrhunderts die allein aus Messdaten berechneten Volumina auf die Kapazität der Gehirne übertragen werden konnten, ist aus heutiger Sicht schwer verständlich. Immerhin erhält sich nicht nur in esoterischen Ideologien die Mär vom Verhältnis der Hirngröße zu den Fähigkeiten bis in jüngste Zeit. Dazu aus dem Bestseller von Rhonda Byrne aus dem Jahr 2007 »The Secret – Das Geheimnis«: »Ich sehe eine Zukunft der unbegrenzten Möglichkeiten, von unendlich vielen Möglichkeiten. Denken Sie daran, dass der Mensch höchstens 5 Prozent des Potenzials seines Geistes nutzt. Das ganze menschliche Potenzial ist das

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Produkt einer angemessenen Ausbildung. Also stellen Sie sich eine Welt vor, in der Menschen ihr volles zerebrales und emotionales Potenzial nutzen. Wir könnten überall hingehen. Wir könnten alles machen. Wir könnten alles erreichen.« (Wikipedia: Zehn-Prozent-Mythos) Die einschlägige Begrifflichkeit wirkt wie aufgeschnappt und so intuitiv, wie sie auch ungenau ist: »Gehirnmöglichkeiten, Gehirnaktivität, Gehirnpotenzial, Gehirnenergie/Gehirnkraft (brain power), mentale Fähigkeiten/Mittel/ Kräfte, sowie analoge Formulierungen mit Geist (mind).« (Ebd.)

Drogen Dass es am Bewusstsein, mithin am Gehirn etwas zu erweitern gäbe, propagierten auch Konsumenten und Anhänger halluzinogener Drogen wie LSD oder Meskalin. In der Hippie-Ära erinnerte man sich Aldous Huxleys »The Doors of Perception« (»Die Pforten der Wahrnehmung«, 1954), der Dokumentation eines wissenschaftlich begleiteten Selbstexperiments mit dem psychedelischen Alkaloid, das aus dem mittelamerikanischen Peyote-Kaktus extrahiert wird. Mit großer Emphase beschreibt Huxley seine Erlebnisse. Der psycho-kulturelle Kontext dieser Art Selbstbeeinflussung ist weitgespannt: »[Ich] hielt es immer für möglich, dass ich zum Beispiel durch Hypnose, Autosuggestion, durch regelmäßige Meditation oder auch durch das Einnehmen eines geeigneten chemischen Präparats meinen Bewusstseinszustand so verändern könnte, dass ich in die Lage versetzt würde, in meinem Inneren selbst die Erfahrung zu machen, von der der Visionär, das Medium, ja sogar der Mystiker berichten.« (Huxley 2015: 13) Wie der Autor sich offensichtlich wundert, vergeblich auf Visionen gewartet zu haben, wie auch sein inneres Auge von keinen Landschaften, Gesichtern, Tieren und dergleichen beeindruckt wurde, sondern stattdessen sich nur die unmittelbare Umgebung zu einer kubistischen Komposition banalisierte, also nicht mehr zu erinnern war als Eindrücke, die man als eine Überbildung der Realität bezeichnen könnte. Wo Huxley jedoch explizit die Erweiterung des Bewusstseins thematisiert, sympathisiert auch Huxley mit dem Glauben an ungenutzte Kapazitäten: »Wenn ich über mein Erlebnis nachdenke, muss ich dem Philosophen C. D. Broad in Cambridge beipflichten, ›dass wir gut daran täten, viel ernsthafter […] die Theorie zu erwägen, die Bergson im Zusammenhang mit dem Ge-

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dächtnis und den Sinneswahrnehmungen aufstellte, dass nämlich die Funktionen des Gehirns, des Nervensystems und der Sinnesorgane hauptsächlich eliminierend arbeiten und keineswegs produktiv sind. Jeder Mensch ist in jedem Augenblick fähig, sich all dessen zu erinnern, was ihm je widerfahren ist, und alles wahrzunehmen, was irgendwo im Universum geschieht. Es ist die Aufgabe des Gehirns und Nervensystems, uns davor zu schützen, von dieser Menge größtenteils unnützen und belanglosen Wissens überwältigt und verwirrt zu werden […] ‹, [und weiter:] ›Gemäß einer solchen Theorie verfügt jeder über das größtmögliche Bewusstsein‹, was wiederum gegenüber den für das biologische Überleben eingerichteten ›Reduktionsfiltern‹ in Anschlag zu bringen wäre.‹ « (Huxley ebd. 19) Erst mit Ausschalten dieser Wahrnehmungsfilter öffnen sich die Sehräume. Deren Gewalt veranschaulicht Huxley in den plastischsten Passagen seiner Abhandlung, und diese visuellen Attraktionen bilden die Voraussetzung einer reinen Anschauung, wenn das drogenstimulierte Subjekt in die Zone hinter den Begriffen eintritt, (vgl. ebd. 42) allgemeiner: in die Zone hinter der Sprache. Belohnt wird diese Transgression mit der Einsicht in das »So-sein« der Welt (ebd. 34) sowie dem Gefühl eines »totalen Bewusstseins«, das die Nebensächlichkeiten unter sich lässt. (Vgl. ebd. 23) Dieses expansive Bewusstsein befähigt zum Eintritt in die »anderen Welten« (ebd. 20) inklusive deutlicher Tendenz zum Religiösen. Wenn solche visuellen Erlebnisse, allein für sich genommen, schon von unbeschreiblicher Anziehungskraft sind, so übersteigt die Öffnung dieser imaginären Räume in einem geradezu paranormalen Sinn alles, was das weltlich-materielle Sehen des physischen Auges je zu bieten hat. Zu erleben sind da nämlich eine »sakramentale(n) Schau der Wirklichkeit« (ebd.18), außersinnliche, metaphysische Wahrnehmungen und Erleuchtung. Die Wirkung des Meskalins wäre so auf den Punkt zu bringen: Kunst und Religion verdeutlichen, »[…] dass die Menschen fast immer und überall der inneren Sicht der Dinge mehr Bedeutung beimaßen als dem objektiv Existierenden und gefühlt haben, dass das mit geschlossenen Augen Gesehene eine größere spirituelle Bedeutung besaß als das, was sie mit offenen Augen sahen.« (Ebd. 36) Eine kühne, vor allem aber ungedeckte Behauptung. Man könnte es auch eine Erkenntnistheorie zum Nulltarif nennen, insbesondere wenn man die Konsequenzen berücksichtigt, wie gerade Huxleys Buch die drogen-esoterische Hippiekultur nicht nur beeinflusst hat, sondern auch eine Menge Publikationen nach sich gezogen hat für einen Sektenmarkt mit Titeln wie »Das Neue Bewusstsein« (Engel 2007) und Ähnlichem. Die bis dato anhal-

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tende Popularität der West-Coast-Ideologie kulminierte in den 1960ern in der Massenhysterie um die Kultgruppe »The Doors«. Den von Huxley entlehnte Bandnamen bestätigen direkt die Verse des Songs »Break on through to the other side«: »The gate is straight/Deep and wide.« Distanzierter und analytischer zwar, inhaltlich aber nicht groß anders berichtet Walter Benjamin von seinen Erfahrungen mit »Haschisch in Marseille«, die ihn in die »Kontingenzen der Raum-Zeitwelt« versetzen mit »absolut königlichen Raumansprüchen: Versailles ist dem, der Haschisch gegessen hat, nicht zu groß, und die Ewigkeit dauert ihm nicht zu lange.« (Benjamin 1980: 410) Während Huxley bei Meskalin auf das Spirituelle abhebt, herrschen bei Benjamin Glücksgefühle vor. Die Wirkungen aber ähneln sich, wo Bilder und Bilderreihen evoziert werden, und wo ebenfalls, wenngleich nicht unbedingt erstrebenswert auf ein vorsprachliches Bewusstsein regrediert wird (»Das Denken gestaltet sich nicht zum Wort« (ebd. 409)), und, last but not least, Erlebnisse sich einstellen, »[…] die der Eingebung, der Erleuchtung nahekommen.« (Ebd.) Dass diese Zustände sich ausschließlich endogenen Sensationen verdanken, darüber ist sich der Haschischkonsument schon im Klaren, trotzdem ist er wie auch Huxley beeindruckt von diesen »[…] immensen Dimensionen des inneren Erlebens«. (Ebd. 410). Die esoterischen Rezepturen, die Überstiege in jene außeralltäglichen Sphären versprechen, stützen sich zumeist auf dieselben Begriffsoppositionen. Für »Das Neue Bewusstsein« braucht es die Überwindung der Rationalität, wofür das »formal-logische Denken« (Engel ebd. 96) unzulänglich ist und auch nicht mehr genügen kann, irgendwelche höhere Bewusstseinszustände zu erreichen. In schier unendlichem Regress bis hinab zu den Ursprüngen des Universums zeigt das Buch den »Weg« auf zu diesen Erfahrungen und endet in einer Teleologie der Evolution. Dieser im menschlichen Bewusstsein gipfelnde Prozess ist nach oben offen, was auch gar nicht anders sein kann, weil dieses »oben« wörtlich zu verstehen ist nämlich synonym zu einem religiös codierten, stufenweisen Aufstieg. (Vgl. ebd.143ff) Diesen »Entwicklungsmöglichkeiten für alle Menschen«, so der Untertitel dieser exemplarisch zitierten Publikation, dient ein eklektischer Mix aus dem Bauchkasten sämtlicher Religionen dieser Welt, angefangen bei der christlichen Mystik bis zum szenenmäßig ohnehin beliebten Zen-Buddhismus. An solchen zumeist technikfeindlichen Ansätzen fällt regelmäßig auf, dass dieselbe Technikfeindlichkeit für Körpertechniken und Körperdisziplinierungen nicht gilt, z.B. für Meditationspraktiken bzw., wenn die Ernährung zu reglementieren ist, ein bestimmtes Sozialverhalten proklamiert, allem voran aber gefordert

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wird, das Denken auszuschalten. (Vgl. ebd. 148ff). Kaum zu übersehender ist der Widerspruch, dass gerade ein Buch wie »Das Neue Bewusstsein«, um glaubwürdig zu wirken, mit einem wissenschaftlichen Textformat aufwartet. Der Stil, nach dem die Kapitel eingeteilt und die Abschnitte durchnummeriert sind, suggeriert das Druckbild eine formallogisch schlüssige Argumentation und fährt genau mit dem als Wahrheitsbürgschaft auf, was jenes erweiterbare Bewusstsein definitionsgemäß verbietet. Das Gehirn – ein magischer Raum und sein eigenes Universum. Da sich das alles auf der Ebene der Gefühle und Befindlichkeiten abspielt, was wiederum nur mit den von vornherein subjektivierten Medien Wort und Bild darstellbar ist, bleiben diese wie immer auch gearteten esoterischen Erlebnisse unterhalb der Schwelle operationalisierbarer Verfahren. Notwendigerweise lagern die einschlägigen Konnotationen an den Attraktor »Bewusstsein« an – wo sonst? Desgleichen aber wird »Bewusstsein« in diesen Texten abgewertet zu einem regressiven, nicht mehr sprachpragmatischen Begriff, der in irrationalistischen Kontexten intuitiv und nach alltagssprachlichem Gebrauch beliebig eingesetzt wird mit einer offensiven Ignoranz in Punkto seiner erkenntnistheoretischen, psychologischen und naturwissenschaftlichen Geschichte. Als die ausschließliche Instanz, in der das Gehirn sich repräsentiert und reflektiert, überträgt dasselbe Bewusstsein die Suggestion jener von den zitierten Autoren überhöhten Raumerlebnisse unmittelbar auf die Hirnkapazität. Wo unendliche Weite gefühlt wird, muss, so der Kurzschluss, diesem unlimitierten Bewusstsein ein physiologisches Volumen entsprechen, dieses also über viel mehr Platz verfügen, als die komplexitätsreduzierenden Überlebensfunktionen benötigen. Dennoch könnte entgegen all diesen Einwänden das Gehirn, wenn es sich in seinem eigenen Interesse in diese Zustände der Selbsterregung hineinsteigert, sie fördert und sich hinsichtlich seiner Selbsterforschung einen Zugewinn verspricht, indem es sich durch solche Unendlichkeitsphantasmen selbst aufwertet, sich – nicht zuletzt, um einen Mehrwert an Aufmerksamkeit zu erwirtschaften – zu einem mystischen und metaphysischen Organ veredelt. Auch um den Preis einer ausgeprägten Tendenz zum Selbstbetrug. Anstatt sich zu begnügen, den Körper und das Nervensystem mit hauseigenen Stimulanzien wie Dopamin und Endorphinen zu belohnen und für künftige Leistungen zu motivieren, überspringt es durch die Zuführung psychoaktiver Substanzen diesen lebensnotwendigen Antrieb. Trotzdem ist die Frage kaum zu umgehen, was es sich für seine Selbsterkenntnis verspricht, wenn es derlei Intensitäten produziert. Sowohl durch die Psychoanalyse, Erkenntnistheorien

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bis hin zum Konstruktivismus insbesondere auch durch die Hirnforschung ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass eine enorme Diskrepanz besteht zwischen dem, was die geläufigen und durch einfache Selbstbeobachtung reflektierbaren Bewusstseinsprozesse ausmacht, und wie unbewusste Hirnaktivitäten den gesamten Organismus steuern und durch das vegetative Nervensystem am Funktionieren halten. Unter diesem Aspekt gilt das Bewusstsein lediglich als eine sehr begrenzte Oberfläche der Prozesse, die im Gehirn passieren. Halluzinogene wie LSD blockieren die Rezeptoren der Außenrealität, dagegen bleibt die gewohnte Perzeption, wie sie ist. Den fundamentalen Unterschied in der Wahrnehmung erzeugen die Wahrheits- und Gewissheitsgefühle unbesehen dessen, dass die innere Realität die äußere ersetzt, und das Subjekt in eine genuine Parallelwelt überwechselt. Trotz der Einsamkeit, die Walter Benjamin beim Haschischrausch empfindet, drängt ein innerer Überschuss nach Ausdruck und will mitgeteilt werden. Die zitierte Literatur macht zumindest darauf aufmerksam, dass psychedelische Erfahrungen dem Gehirn andere Arten der Erkenntnis eröffnen als positivistische Methoden und elektronische Apparate. Halluzinogene Erfahrungen liefern im Überfluss, was die Pädagogik als Fantasie fördert. Dass die mit chemischer Unterstützung freigesetzte Fantasie sich nicht zwingend in künstlerischer Kreativität manifestiert, beweist u.a. der Trend zahlreicher Vertreter der West-Coast-Drogenkultur in Richtung Digital-Avantgarde des Silicon Valley. Nach Berichten über gemeinschaftliche Erfahrungen mit psychedelischen Substanzen hätten sich die Begegnungen phasenweise angefühlt, als kommunizierte man über telepathische Kanäle, wie wenn die Gehirne tief unbewusst verbunden und im Einklang wären. Kollektive Ausnahmezustände wie diese lassen es plausibel erscheinen, dass sich gerade in der kalifornischen Hippiekultur die Utopie entwickelt hat, Bewusstseine/Gehirne zu vernetzen, denn Bewusstseinserweiterung muss Trips nicht nur durch innere Räume bedeuten. Da das Bewusstsein, genau wie es auf sich selbst auch auf andere gepolt ist, sollte sich zur Gesellschaft hin erweitern und sich daher – analog zur Telepathie – medial in einem virtuellen Raum kollektiv synchronisieren. Den extremen Drogenkonsum in der Szene bezeugt der Schriftsteller Ramon Sander. Er »[…] lebte insgesamt sieben Jahre lang in zwei Hippie-Kommunen in Kalifornien, zunächst auf der ›Morning Star Ranch‹. Heute ist der Schriftsteller 80 Jahre alt. Sander sagt, dass es keinen Ort gab, an dem mehr Drogen per Quadratmeter konsumiert wurden als in der ›Morning Star Ranch‹. Immer wieder gab es Masseneinnahmen der Drogen. LSD wurde für die Hippies auf

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den Landkommunen zum Werkzeug der Bewusstseinsveränderung. Für alle anderen Werkzeuge, die man für ein autonomes Leben auf dem Land benötigte, gab es den ›Whole Earth Catalog‹.« (Janzen 2017) In der Rückschau stellt sich der »Whole Earth Catalog« als der eigentliche Paradigmenwechsel heraus, denn da »[…] gab es auch die ersten Personal Computer. […] zu diesem Zeitpunkt kostete so einer noch an die 5000 US-Dollar. Denn der Katalog bot Waren an. Zudem konnten sich die Kommunen miteinander vernetzen und Rezensionen zu Waren schreiben. Eine Art gedrucktes Google des Prä-Internet-Zeitalter für die Hippies der Landkommunen. ›Apple‹-Gründer Steve Jobs bezeichnete den Katalog einmal als ›Bibel der Gegenkultur‹.« (Ebd.) Für ihre Telekommunikation hatten kooperative Hippiekommunen lediglich Telefon und Post zur Verfügung. Um dem wachsenden Bedürfnis nach praktikableren Medien entgegenzukommen, schloss Stewart Brand, auch wenn das anfangs mit der ländlichen und selbstversorgerischen Lebensweise nicht unbedingt kompatibel schien, die dissidenten, naturverbundenen Hippies an die avancierte Computertechnik an. »Bereits im Dezember 1968 hatte (er) dem Computertechniker Douglas Engelbart assistiert, als der auf einer Konferenz in San Francisco weltweit erstmalig alle heute üblichen Elemente eines PC in einem System vorstellte, inklusive grafischer Steuerungselemente, Hypertext und der Maus. Angeblich erfand Brand danach den Begriff Personal Computer. Kleine Rechner, die auf jedem Schreibtisch stehen, waren damals, im Zeitalter gigantischer Datenverarbeitungsanlagen, so realistisch wie fliegende Autos.« (Lau 2018) Wie fließend die Übergänge aus der Psychedelic-Kultur in die Digitalität waren, zeigt die Umcodierung vom organischen LSD zum PC als technischem Tool der Selbstbefreiung. Im selben Jahr, als der Begriff »Personal Computer« auftauchte, entwickelten das MIT und die US Air Force mit dem militärisch genutzten ARPA-Net die Voraussetzung für das Internet. Bis zum ersten zivilen Netz, dem Whole Earth Lectronic Link, kurz Well, dauerte es allerdings noch bis 1985. Der ebenfalls aus der Hippie- in die Computerszene gewechselte Soziologe Howard Rheingold, der sich mit dem Aufstieg des Silicon Valley als einer der profiliertesten Publizisten in Sachen neue Kommunikationstechnologien einen Namen machen sollte, bezeichnete das Well als die weltweit erste »Virtual Community«. (Ebd.) Technisch handelte es sich um einen einzelnen Com-

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puter in Kalifornien und um Nutzermodems, die auf durch Telefonleitungen verschickte Textnachrichten reagieren konnten. Auf der Basis dieser Technik gründete, während die Drogen-Impulse längst aus dem Blickfeld geschwunden waren, Tim Berners-Lee 1991 das world wide web. Wohingegen der Ex-Hippie und Computervisionär Howard Rheingold darauf insistierte, dass »[…] LSD einem neue Möglichkeiten (eröffnete). Der Personal Computer zeigte mir, dass es eine Möglichkeit gab, Werkzeuge zu nutzen, die ursprünglich dem Militär und der Wissenschaft vorbehalten waren.« (Zit. bei Janzen ebd.) Das von bewusstseinserweiternden Drogen gesteuerte Kommuneleben totalisierte sich nicht nur zur Utopie des Weltfriedens (Peace!), sondern setzte sich auch fort in die Folge-Utopie, dass aus den avancierten Technologien ein neuer Mensch herausspringen würde. Sollte diese Wunschfantasie sich inzwischen als viel zu optimistisch erwiesen haben, so sind die ursprünglichen Impulse jedoch unbestritten, denn »[d]ieser Traum lebt in der Welt der Technologie weiter. Die Ideale der Hippies wurden zur Blaupause unserer Netzwerkgesellschaft. Der Welt der Social Media. Einer Welt, die durch Technologie verbunden ist […]«. (Ebd.) Und da sieht es tatsächlich so aus, als wäre die Menschheit in dem kalifornischen Traum eines global vernetzten Bewusstseins angekommen, nur sind es keine egalitären Landkommunen, die das Wunschprogramm verwirklichten, sondern die Big-Data-Konzerne des Silicon Valleys. Was fernab aller positivistischen und apparativen Selbsterkenntnisstrategien des Gehirns die psychoaktiven Drogen gebracht haben, und was verglichen mit wissenschaftlichen Fortschritten auf einen ersten Blick eher irrational, dissident und technikfern wirken mag, entwickelt mit dem www – potenziert durch die social media – in der Tat die Dynamik einer mundialen Verschaltung der User und Follower zu einem Weltgehirn.

Hirndoping Nicht mit Halluzinogenen, Esoterik und Kommune-Utopien, sondern mit anderen Erwartungen versuchen sich die Menschen der westlichen Industrienationen zunehmend an Präparaten für Hirndoping. Im gleichen Verhältnis wie diese Art des Enhancements sich als ein gesellschaftliches Zeitphänomen niederschlägt, wächst auch der Missbrauch solcher Präparate, und zwar nicht mehr unter dem umgangssprachlichen »Hirndoping«, sondern euphemistischer unter »Neuro-Enhancement«.

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Bevorzugte Pharmazeutika heißen »Ritalin« und »Modafinil«, ersteres gegen ADHS, zweiteres gegen Narkolepsie. User, die diese Präparate ohne medizinische Notwendigkeit konsumieren, wünschen folgende Wirkungen: Ritalin (Methylphenidat) stimulierend und konzentrationsfördernd, Modafinil wachhaltend und psychoaktiv. Die Beeinflussung des natürlichen WachSchlaf-Rhythmus geht jedoch über die mit »Doping« immerhin angemessen bezeichneten neurophysiologischen Effekte nicht hinaus. Ähnlich Medikamenten für Körperdoping steigert der Ritalin-Abusus vorübergehend die Konzentrationsfähigkeit, bremst mit seinen Nebenwirkungen aber Kommunikationsfähigkeit, Sozialverhalten und Kreativität. Das relativ teure Modafinil erhöht ebenfalls die Konzentrationsfähigkeit, desgleichen verhindert es müdigkeitsbedingte Leistungstiefs. Diese Präparate regen vor allem die Dopamin-Ausschüttung an. Verglichen mit den als bewusstseinserweiternd erfahrenen Halluzinogenen zielen Neuro-Enhancer auf weniger weitblickende und entsprechend unambitioniertere Effekte. Eine schnelle Stimulanz mag das Gehirn zwar reizen, seiner Selbsterforschung hingegen dürfte es sicher kaum zu Erkenntnissprüngen verhelfen. Weitreichendere Perspektiven könnten ihm die Experimente mit transkranieller Gleichstromstimulanz (transcranial direct current stimulation, tDCS) eröffnen. Das Verfahren rekurriert auf Luigi Galvanis epochale Beobachtung, dass Muskeln unter dem Einfluss von Gleichstrom kontrahieren. Mit der aus Galvanis Experimenten mit Froschbeinen hervorgegangenen Elektrophysiologie etablierte sich ein Teilforschungsgebiet der Neuro- und Muskelphysiologie. Und auch begann man bereits im 19. Jahrhundert damit, die Auswirkungen von Gleichstrom auf das Gehirn zu untersuchen, bis die Forschung zur tDCS in den 1960er Jahren mit der Entdeckung der »Verschiebung des neuronalen Ruhemembrans als grundlegenden Wirkmechanismus« einer kurzfristigen Aktualität erfreute. (Ninosu 2017: 10) Diese denkbar einfache Methode ist, indem es sich um eine nicht-invasive Gehirnstimulation handelt, praktisch frei von Nebenwirkungen – »[B]ei dieser Stimulationsmethode (wird) über zwei Elektroden, welche auf der Schädeloberfläche angebracht sind, ein schwacher Gleichstrom appliziert. […] Der Stromfluss wird durch eine Gleichspannungsquelle (z.B. eine Batterie) erzeugt und fließt von der positiv geladenen Anode zur negativ geladenen Kathode. Unter anodaler Stimulation versteht man die Platzierung der Anode als Aktivelektrode über der zu stimulierenden Zellstruktur im Gehirn. Bei der kathodalen Stimulation befindet sich die Zielregion unter der

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Kathode. […] Die anodale Stimulation (führt) zu einer Steigerung der kortikalen Erregbarkeit, während die kathodale Stimulation inhibierend wirkt.« (Ebd. 11f) Ninosus Dissertation beschäftigt sich mit Alzheimer und dreht sich deswegen hauptsächlich um die Auswirkung der Stromstimulation auf das Gedächtnis. Ihre Experimente beweisen, dass bei einer länger als fünfminütigen Stimulation die Hirnaktivitäten erhöht sind, was bis zu fünf Stunden anhalten kann. »Schließlich lässt sich festhalten, dass die aktuellen Forschungsergebnisse hinsichtlich der Wirkmechanismen von tDCS eine Beeinflussung der Gedächtnisprozesse durch die Stimulation durchaus suggerieren.« (Ebd. 14) Über eventuelle Langzeitwirkungen gibt es bisher keine tragfähigen Befunde. Obwohl tDCS-Studien vielversprechende Ergebnisse für Gedächtnisleistungen erzielen konnten, muss die Autorin aufgrund ihrer eingeschränkten Versuchsanordnung viele Fragen offenlassen und deshalb auf künftige Untersuchungen hoffen. Auf lange Sicht könnten diese sich darauf richten, neben den Interdependenzen zwischen Stromstärke und Stimulationsdauer Medikation ins Kalkül zu ziehen. (Vgl. ebd. 62) Anders als beim Missbrauch pharmazeutischer Präparate wie Ritalin und Modafinil hätte man mit der tDCS eine klinische Methode zur Hand, die sich mit einer adäquaten Technologie durchaus popularisieren ließe. Doch wie sonst auch findet das Gehirn dabei den Zugang zu sich selbst wie meistens in der Geschichte der Hirnforschung »nur« über Defizit und Krankheit. Wie sich auf Dauer ja zeigt, werfen medizinische Eingriffe immer Überschüsse ab als »Nebenwirkungen«, von denen mit der Grundlagenforschung naturgemäß das Gehirn für seine Selbsterkenntnis profitiert. Nichtsdestotrotz wäre diese Einschätzung insoweit wieder einzuschränken, dass die Differenz zwischen Heilen und Selbstzweck nicht so grundsätzlich ist, wie es gleich aussehen mag, allein aus dem naheliegenden Grund, dass das Gehirn maßgeblich auch an seiner Selbsterhaltung interessiert ist.

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Das erkenntnistheoretische Gedankenspiel »Gehirn im Tank« stellt die subjektiven Gewissheiten der Selbst- und Weltwahrnehmung grundlegend in Frage. Die Umgebung des vom Körper getrennten, in einer Nährlösung weiterlebenden Gehirns besteht aus einem Labor mit sämtlichen Instrumenten, die es braucht, um durch gezielte Impulse im Gehirn eine Realität zu simulieren, die die Sinneswahrnehmungen ersetzt. Das Gedankenspiel basiert auf der neurophysiologischen Prämisse, dass die wahrgenommene Realität nicht unmittelbar gegeben ist, sondern ein Konstrukt des Gehirns ist. Dementsprechend die Conclusio, dass das Gehirn keinen Körper brauche. Mehr noch als solche philosophischen Hypothesen sorgte die Science-Fiction für die Verbreitung der Idee eines Gehirns außerhalb des Körpers. Wie dünn die Membrane zwischen Science-Fiction und positiver Wissenschaft geworden ist, bewies der Neurowissenschaftler Nedan Sestan 2018 mit dem Experiment, isolierte Schweinegehirne 36 Stunden am Leben zu erhalten. Seine Technik, die Zellen durch Kunstblut mit Sauerstoff zu versorgen, öffnete sogleich den Raum für Projektionen in Richtung Mensch. So stellte auch Sestan von vornherein in Aussicht, dass sein Verfahren keineswegs schweinegebunden bleiben müsste, genauso vorstellbar wäre es nämlich, das Gehirn eines anderen Tieres, eines Primaten zum Beispiel, dauerhaft am Leben zu erhalten. Die Tatsache, dass auch das menschliche Hirn Eigenschaften eines Primatengehirns hat, rief augenblicklich Chirurgen auf den Plan, die gern Krebs- und Alzheimertherapien am nackten Gehirn testen wollten, um eventuelle Resultate auf Patienten anzuwenden.

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Das Gehirn eines Kapitalisten Mit einem solchen Primatengehirn fängt alles an. Zumindest in der Fiktion eines Romans von 1942, der das Szenario eines externalisierten Gehirns für eine Suspense-Story nutzt. »Donovans Gehirn« von dem deutsch-amerikanischen Drehbuchautor, Filmregisseur und Schriftsteller, Kurt Siodmak (1902–2000), erschien 1982 auf Deutsch in einer SF-Reihe des Heyne Verlags. Zur Handlung: Nachdem der am Rand der Wüste in Washington Junction zurück gezogen lebende Arzt und Hirnforscher Dr. Patrick Cory gerade daran gescheitert ist, das Gehirn eines für drei Dollar gekauften kranken Kapuzineräffchens in einem »künstlichen Respirator« am Leben zu erhalten, fällt ihm buchstäblich heaven sent ein einmaliges Objekt zu, als er zwischen den Leichen in der Umgebung eines abgestürzten Passierflugzeugs den letzten Überlebenden entdeckt. Nachdem er erkannt hat, dass der Schwerverletzte nicht zu retten ist, lässt er ihn von der Absturzstelle über beschwerliche Bergpfade in sein Labor transportieren. Nur keine Zeit verlieren! »Ich musste zu einer Entscheidung gelangen. Ich musste mich jetzt entschließen. Sofort! Ich fühlte mich durchaus nicht mehr erschöpft. Eine solche Gelegenheit hatte es noch nie gegeben. Sie war ungeheuerlich. Dieser Mann lag im Sterben, aber sein Hirn lebte noch. Es war ein außergewöhnliches Hirn, die Wölbung war groß und vollkommen geformt, die Hirnschale breit, die Stirn mächtig. […] Hier war das vollkommene Hirn, wie es sich ein Wissenschaftler wünschen konnte.« (Siodmak 1984: 21f) Von den Versuchen am Affengehirn ist das Labor sowieso noch betriebsbereit. Cory öffnet den Schädel des Sterbenden und entnimmt dieses »vollkommene« Gehirn, konserviert es in einem Glasbehälter mit Nährlösung, schließt die Elektroden des Enzephalographen an und zuletzt die für das sauerstoffhaltige Kunstblut erforderlichen Schläuche. Als die Schädeldecke wieder da ist, wo sie hingehört, ist die Leiche soweit präpariert, dass sie im nächsten Krankenhaus ordnungsgemäß entsorgt werden kann. Der Tagebuchroman aus der Ich-Perspektive des Protagonisten überspannt acht Monate ab irgendeinem dreizehnten November bis zum zehnten Juni des Folgejahres. Die nach den Standards von Filmdrehbüchern ablaufende Handlung liest sich als eine Mischung aus Wissenschaftsprotokoll und spannendem SF-Plot mit den einschlägigen Ingredienzen aus bad guy, bedrohtem Protagonisten, Moral, Beziehungsproblemen und Happy End.

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Die Geschichte entfaltet sich um die Beziehung zwischen Dr. Cory und dem Gehirn von Warren Horace Donovan – ja, der Warren Horace Donovan! – schwerreicher VIP mit großem medialen Aufmerksamkeitspozential. Ein Grund, mit sowohl den toten als auch lebenden Überresten äußerst sorgsam und diskret zu verfahren. Ein erstes Spannungsmoment schuldet sich dem Stress, dass der Gehirndiebstahl und die Laborkonservierung in jedem Augenblick auffliegen könnten, die eigentliche Gefahr aber verursacht die Entwicklung des menschenverachtenden Selfmademan Donovan zu einem super-bad-guy. Das einstige Leben des buchstäblich Halbtoten war eine moralfeindliche Kette geschäftlicher Aktivitäten und Intrigen am Rand der Kriminalität, entfesselt von einer dunklen Destruktivität, die selbst vor Tochter und Sohn nicht haltmachte. Die erzählerisch auf die Spitze getriebene Dämonisierung des Antagonisten manifestiert sich, als dessen weiterlebendes Gehirn, nachdem Cory zu diesem Kontakt aufnehmen konnte, in der Retorte nicht nur physisch wächst, sondern per Telepathie auch zunehmend Macht über seinen ehemaligen Laborherrn ergreift. Nach den von einer solchen Handlung erwartbaren Übergangsstadien von Schizophrenie bis zum totalem Identitätsverlust verwandelt sich Cory, als zuletzt selbst auch die körperlichen Eigenschaften der Retortenexistenz übergehen, selbst in Donovan. Der als eher bürgerlich charakterisierte Arzt Dr. Cory überschreitet bereits die Grenze zur Kriminalität, indem er den alkoholkranken Kollegen Schratt, der bei der Präparierung des Gehirns mehr oder weniger freiwillig Komplize wurde, zwingt, einen Totenschein auszustellen. Als er den Namen eintragen will, wird es ihm klar: »Wir haben also Donovans Hirn gestohlen.« (Ebd. 27) Zu einer ganz anderen Qualität wächst sich die moralische Dimension aus. Als Widerpart des von seiner einmaligen Chance mitgerissenen Cory übernimmt Schratt die Funktion einer Art metaphysischen Gewissens. Der alkoholkranke dereinst vielversprechende Arzt, ein »verhinderter Pasteur« (ebd. 25), lässt sich nun selbst anstecken und hilft, das konservierte Gehirn überlebensfähig zu machen sowie die Restleiche wieder herzurichten aber mit den ambivalenten Gefühlen, »[…] dass er nachher alle Qualen der Reue erleiden würde, Verzweiflungsanfälle, die er in Tequila ertränken musste. Auch er wusste es, jedoch er half mir.« (Ebd.) Nervlich übersteht er kaum, als er Cory dabei unterstützen muss, dem Chefarzt der Aufnahmeklinik die Abläufe so offiziell wie möglich darstellen muss, woraufhin der Grundkonflikt zwischen einer rücksichtslosen Wissenschaft und Moral manifest wird. Eine Grenzüberschreitung, die nicht das ganze System Grenze in Alarmbereitschaft versetzte, wäre jedoch keine.

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Als Schratt die Weiterarbeit verweigert – vorerst mit der unter der die Kontrahenten vereinmütigenden Prämisse: »Für ihn wie für mich, war die ganze Welt ein Laboratorium« (ebd. 46) – zeigen sich die unüberbrückbaren Widersprüche: »Sie wissen, ich verabscheue Ihre Forschungen, Patrick. Sie können der Menschheit nicht helfen! Sie können nichts anderes als Unheil fördern. Sie würden die Welt zur Barbarei zurückführen.« (Ebd. 47) Cory insistiert auf dem Spezialistentum, ohne das es keine Zivilisation gäbe. Selbst die Zivilisation als ganze kann kein Argument sein, denn »[w]ir wissen so wenig von unseren Seelen, dass wir zu Mechanik, Physik und Chemie unsere Zuflucht nehmen. Wir verlieren unsere Bewusstheit der Menschenwürde, die uns vom Tier unterscheidet. Sie machen aus dem menschlichen Wesen einen hochspezialisierten Steinzeitmenschen […] Sie glauben an Ihre Versuchsretorten. Sie töten den Glauben! […] Ich habe Angst, Patrick, Sie schaffen eine mechanische Seele, die die Welt zerstören wird.« (Ebd.) Grenzen sicher, zugestanden, doch höchstens, wo sie das absolute Ende bedeuten: »Wo unsere Intelligenz ihre Grenzen hat,« so Cory, »endet die Straße unserer Forschungen. […] Wir benützen das Unendliche, als sei es greifbar. Aber niemand versteht seine Natur. Wir durchdringen Regionen, die jenseits unseres Verstandes liegen. […] Ich kann meine Forschungen nicht aufgeben, weil mich die Furcht davon abhält, weiterzugehen. Am Ende der Straße steht Gott, der nicht in Formeln, sondern in einsilbigen Worten spricht. Ich möchte dicht bei ihm stehen, um sein Ja oder Nein zu hören.« (Ebd. 48) So bleibt zwar auch Schratts künftige Assistenz stets von Zweifeln beeinträchtigt, doch Cory braucht ihn nun mal: »Werfen Sie mir nicht schon wieder die ethischen Bremsklötze vor mein Werk […] ich muss vorwärts. Ich habe keine Zeit für Ideale außerhalb meiner Forschungen!« Darauf Schratt: »Sie arbeiten mit einer Kraft, die Sie vielleicht nicht beherrschen können. […] Die Macht des Hirns ist unbegrenzt und nicht im Voraus zu ermessen.« Und wie ein Süchtiger beteuert Cory: »Ich kann meine Forschung jederzeit begrenzen, wenn ich will. […] Ich kann die Pumpe ausschalten. Wenn der Blutkreislauf abgeschnitten wird, stirbt Donovans Hirn.« (Ebd. 57) Schratt hantiert mit bekannt-konservativen Argumenten wie der Vernichtung des Glaubens und der Seele, der Menschenwürde, dem Rückfall zum Tier, einer unbeherrschbaren Kraft und am Ende total mit der Zerstörung der Welt.

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Der Experimentator Cory verkörpert ein klassisches Profil mit historischen Referenzen wie etwa auf Goethes Zauberlehrling, der die Kräfte, die er freisetzt, nicht mehr kontrollieren und nicht mehr abstellen kann. Wenngleich Goethes Ballade sich übertragen lässt auf die Gefahren einer verantwortungslos fortschreitenden Wissenschaft, so wird diese selbst noch Anfang des bereits aufgeklärten 19. Jahrhunderts mit dem Vers »O du Ausgeburt der Hölle!« ziemlich rückwärtsgewandt konnotiert. Das absolut Böse, das dieser Vers benennt, lässt sich rückkoppeln mit dem mittelalterlichen Magier Faust, der als Alchimist zwar ein Vorbereiter der Naturwissenschaften war, durch seinen exzessiven Erkenntnisdrang jedoch gleichzeitig in den Verdacht des Teufelspakts geriet. Mit dieser negativen Zuweisung, dieser dissoziativen, destruktiven Seite der Erkenntnis bediente die Faustlegende ein Jahrhunderte überdauerndes narratives Bedürfnis. Das gilt genauso für den besessenen Wissenschaftler Viktor Frankenstein, dessen vermurkste Konstruktion zuletzt die hybriden Erwartungen eines künstlichen Menschen nicht erfüllt, aus dem Labor flieht und mordet, bis der fehlgesteuerte Homunkulus am Ende auf dem Scheiterhaufen verbrennt. Dieser Brand symbolisiert Hölle und Höllenfeuer, ein bis in die jüngste Filmgeschichte unverbrauchbares Schlussbild für die Vernichtung des dämonisierten Antagonisten. (Vgl. Hurka 2006: z.B. 136) Das Experiment mit Donovans Gehirn zu dämonisieren, erfüllt Schratt, den der Autor in die Mottenkiste religiöser Versatzstücke greifen und die bekannte Motivgeschichte weiterspinnen lässt. Die Art wie jenes Fremdgehirn von Cory Besitz ergreifen wird, gleicht dem Symptom der Besessenheit durch einen Dämon respektive den Teufel, was zumindest im Christentum geglaubt wurde und im Extremfall immer noch geglaubt wird. Letztlich ist aber nur dieses ausgelagerte Gehirn Adressat der Dämonisierungsstrategie des Romans. Wie im Rückgriff auf die Gall’sche Korrelation zwischen Schädelform und Gehirnkapazität, lässt der Autor seine Hauptperson das illegale Fundstück geradezu enthusiastisch schildern: »Es war ein außergewöhnliches Hirn, die Wölbung war groß und vollkommen geformt, die Hirnschale breit, die Stirn mächtig […] Der Mann auf meinem Tisch hatte sein ganzes Leben lang sein Hirn geübt, trainiert, stark gemacht. Hier war das vollkommene Hirn, wie es sich ein Wissenschaftler nur wünschen konnte!« (Siodmak ebd. 21f) Nach der Erhöhung kann es nur noch abwärts gehen, ab da nämlich teilt sich das Narrativ auf in zwei thematische Ketten. Einerseits und erzähltechnisch profitabler ist der unerklärliche Machtzuwachs des Donovan-Gehirns, der sich

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in der telepathischen Annexion Corys realisiert, während das zweite Level das mit der abstrakten Machtzunahme korrelierende zelluläre Wachstum mit dem kommenden biologischen Verfall des Fleisches behandelt. Mit der Dynamik, sich aus seiner Kapselexistenz zu befreien, will das Gehirn sich sehen. Allein schon aus der Tatsache, der entsprechend das Auge das unmittelbare Derivat sowie der anatomische Außenposten des Gehirns ist, sind diese Organe miteinander kurzgeschlossen, sodass die Korrespondenzen viel enger sind als mit den anderen Sinnesorganen. Wie üblich in seiner Geschichte der Selbstwahrnehmung rekurriert das Gehirn auf kontemporäre Medienbedingungen, (was selbstredend eine zirkuläre Bewegung ist, indem es sich von vornherein um technische Externalisierungen des Gehirns handelt) um zu immer besseren Einsichten in seine Funktionen zu kommen. In dem 1942 veröffentlichten Roman verlinken sich Richard Catons Erfindung der Elektroenzephalographie (EEG) und das Radio. Anhand von Tierexperimenten zeigte der Brite 1875, dass in der Hirnrinde schwache elektrische Ströme erzeugt werden und in der Folge, dass und vor allem wie man diese aufzeichnen kann. Die Zerlegung der elektrischen Hirnsignale in Frequenzbänder legt die Analogiebildung mit dem Radio als dem Leitmedium der 1940er Jahre nahe. In einer Diskussion mit Schratt behauptet Cory: »Das Gehirn produziert Mikro-Kurzwellen.« Auch wenn es diesen Begriff nicht gibt, so entspricht er zweifellos einer gewissen Logik, denn wie in der Neurophysiologie der Terminus »Gehirnwellen« gebräuchlich ist, so der medientechnische Terminus »Radiowellen«. Da heißt einer der Frequenzbereiche zwar »Ultra-Kurzwelle«, doch lässt sich diese Wellenlänge mit den Gehirnwellen im Mikrobereich nicht vergleichen. Der Autor verknüpft beide zu »Mikro-Kurzwellen« und kreiert ein zumindest für Laien plausibel klingenden Begriff. Als wichtiger aber wird sich herausstellen, dass dieses technische Modell ausbaubar ist: »Hirn Nummer Eins ist der Sender, Hirn Nummer Zwei der Empfänger, die umgebende Luft das elektrische Feld. »[…] Es ist glaubwürdig, dass unser Gehirn wie eine Radiostation arbeitet.« (Ebd. 51) Indem Begriffe wie »Frequenzen« und »Wellen« die Vorstellungskraft bedienen, passt die scheinbare Immaterialität elektromagnetischer Wellen gut, um das Problem der Übertragung erzählerisch zu lösen, indem die lautliche und semantische Überschneidung von »Telegraphie« und »Telepathie« sich zugunsten letzterer nutzen lässt. Dasselbe gilt für die Doppelbedeutung von »Medium« mit seiner sowohl technischen als auch spiritistischen Bedeutung. Der Tageseintrag »Dritter Oktober« endet mit folgender Szene: »Ich starrte auf die graue Masse von Nervengewebe, deren Energien elektrische Ströme

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in Gedanken verwandelten. Ich versuchte die Bahn frei zu machen für die Botschaft, die Donovan vielleicht für mich bereit hatte.« (Ebd. 52) Die schlichte Erklärung, wie Bewusstsein entsteht, die Beschreibung der Physis des Organs sowie die telepathische Kommunikationstechnik gehen hier noch in widerspruchsfreier Rede auf. Dieser konsistent erscheinende Zusammenhang wird sich im weiteren Verlauf ausdifferenzieren b.z.w. auflösen. Die Initialzündung verursacht ein unglücklicher Kurzschluss. Pumpe und Enzephalogramm fallen aus, Funken stieben am Rand des Glases auf. Am nächsten Morgen findet Cory einen bekritzelten Zettel vor mit Buchstaben des Namens »Donovan«. Der Tintenfleck an der Linken des Rechtshänders weist hin auf dieses zweite Gehirn im Raum und darauf, dass die hingekritzelten Buchstaben nichts anderes sind als Donovans Unterschrift. Cory zweifelt, sucht nach Erklärungen, kann sich der Hypothese aber nicht erwehren, dass er selbst es war, der in einem Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit nach einem Befehl jenes Gehirns gehandelt hatte. Ab S. 66 ist es irreversibel: »Ich lebe ein Doppelleben. Meine Gedanken ziehen sich in die Hintergründe meines Geistes zurück, wenn ich, losgelöst, die Erscheinungen beobachte, die Donovans Hirn lenkt. Dann bin ich ein Schizophrener, eine Person mit gespaltener Persönlichkeit.« (Ebd. 66) Aus dieser Konstellation handelt das Buch von der fortschreitenden Annexion, bis das Donovan-Gehirn die Person des Dr. Patrick Cory zur Gänze besetzt hat – von den ersten bescheidenen, noch euphorisch kommentierten Kontaktaufnahmen bis hin zu einem veritablen Mordversuch an seiner Ehefrau Janice. Diese finale Zuspitzung dokumentiert sich, indem Cory die Vorgänge nicht mehr aus der Ich-Perspektive des Tagebuchautors beschreibt, sondern in der dritten Person: Cory ist Donovan, der den »Motor ausschaltet« und der Janice das Motiv sie zu töten, lapidar erklärt: »Ich kann niemanden im Wege stehen lassen.« (Ebd.188) Doch wie immer Rettung im letzter Sekunde. Woher sie kommt, darüber jedoch klärt erst der Epilog auf. Jedenfalls floss »[…] wie die Ebbe von einem steilen Ufer zurückweicht, Donovans Persönlichkeit weg, und ich, Patrick Cory, kehrte in meinen Körper zurück.« (Ebd. 192) Das Gehirn, das seit jeher auf seine Sichtbarmachung hinarbeitet, das sich um jeden Preis sehen will, sich sehen muss, artikuliert sich in dem Roman in zwei Modi. Der eine thematisiert naturgemäß die Physis, der andere die Zeichen der Aktivitäten. Was sich dabei zu sehen gibt, vermittelt sich auf wissenschaftlicher Beschreibungsebene durch die technischen Aufzeichnungen des Enzephalographen. Die realen Schriftzeichen, die Donovans Gehirn telepathisch schreiben lässt wie für Unterschriften auf Bankanweisungen bedür-

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fen anstatt des elektrischen Aufzeichnungsapparats neben dem Glasbehälter den instrumentalisierten Körper Dr. Corys. Unmittelbar visualisiert hingegen wird die physische Beschaffenheit des Gehirns. Das erste »Bild« des Romans evoziert die »gute Form« des Affenhirns (ebd. 8) – natürlich aus der Perspektive des Forschers, mit der sich die Lesenden identifizieren sollen. Aus der zweiten die Form betreffenden Erwähnung wird rückgeschlossen auf das DonovanGehirn als der besondere Inhalt eines vollkommenen Schädels. »[D]ie Wölbung war groß und vollkommen geformt, die Hirnschale breit, die Stirn mächtig.« (Ebd. 21) Mit dieser Überhöhung fällt der Autor zurück auf Galls Phrenologie des 19. Jahrhunderts, als man aus der Schädelform die Fähigkeiten des Gehirns und die Charakterzüge eines Menschen abzulesen versuchte. Corys chirurgischer Eingriff vollzieht sich wieder auf der Höhe seiner Zeit. Nachdem er Skalpell und Gigli-Säge aus dem Sterilisator genommen hat, macht er die nötigen Schnitte, um die Kopfhaut abzuziehen und mit der Gigli-Säge den »Einschnitt in das Knochengewölbe ganz um den Schädel herum« durchzuführen. Der Operationsbericht bietet die Gelegenheit, die direkte, körperliche Konfrontation mit der Gehirnmasse darzustellen. Nach der Erwähnung der Dura Mater geht es zur Sache. »Die glänzende Oberfläche der harten äußeren Hirnhaut war noch warm, als mein Finger sie berührte. […] Dann zog ich die Hirnhaut vorwärts, und da lag Donovans Gehirn vor meinem Blick! […] Ich hob die Hirnschale auf und trennte sie ab, indem ich die Medulla oblongata genau über der Schädelöffnung, durch die sie läuft, abschnitt […], während ich mit einem stumpfen Dissektor den Frontalgyrus lockerte, vorsichtig tastend, um die Augen nicht zu verletzen. […] Ich nahm das Blutserum vom Kocher, befestigte die Gummiröhre an der rotierenden Pumpe und drehte das ultraviolette Licht an. […] Ich nahm ein dampfendes Handtuch vom Sterilisator und hielt es über das Hirn, das Schratt nun aus der unteren Hirnschale hob. Er trug es hinüber zu der Glasschale und tauchte es im Serum unter, befestigte die Gummiröhren an den vertebralen und internen Carotyd-Arterien und setzte die Pumpe in Bewegung. […] Die Pumpe hatte die Hauptarterie getreulich mit Blut versorgt, und das ultraviolette Licht schien durch die Glasröhren, in denen das Serum zirkulierte. […] Ich rollte den Tisch mit dem Enzephalographen dicht an den Glasbehälter, in dem das Hirn war und befestigte die fünf Elektroden an dem Rindengewebe. Eine beim rechten Ohr, zwei hoch an der Stirn, eine über jeder Augenhöhle. […] Das Hirn schlief fest, seine Energien waren durch die schwere Operation erschöpft.« (Ebd. 22 ff)

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Mit diesem beruhigenden Eindruck endet der chirurgische Diskurs über die Gehirnentnahme. Entscheidender war die definitive Trennung von Hirn und Körper: »Wir legten Donovans Körper auf eine Bahre, bedeckten ihn mit einem Laken und trugen ihn nach draußen.« (Ebd. 26) Bürokratisch-offiziell ratifiziert der Totenschein die Zerlegung der einstmaligen körperlichen Einheit und Integrität in einen toten und einen lebenden Anteil, irreversibel dann, als die Leiche abgeholt wird. Als überlebendes wird das das Organ im Weiteren einfach als eine »graue Masse von Nervengewebe« (ebd. 52) beschrieben. Da nach der mit den einschlägigen Fachtermini inszenierten OP kaum noch Bewegendes über das Aussehen hinzuzufügen wäre, dynamisiert sich das obskure Objekt aus sich selbst heraus: »Um seine nackten Gewebe bildet sich jetzt eine neue Schicht grauweißer Materie. Donovans Gehirn wächst in eine neue Gestalt. Hier baut sich eine neue Spezies von Geschöpf auf, die in dieser sterblichen Welt noch nicht da gewesen ist. Ein Ball von Fleisch, dessen Leben von einer elektrischen Pumpe abhängt und künstlicher Nahrung, der aber trotzdem fähig ist, gedankliche Energien auszusenden, die unsere begrenzte Kraft übersteigen. Jeden Tag wachsen seine Fähigkeiten.« (Ebd. 64) Dieser aus biologischer Sicht wenig logische Fortschritt beängstigt und provoziert Widerstand. Nach der zunächst ethisch motivierten Dämonisierung legt das Objekt jetzt auch äußerlich seine abstoßende Seite an den Tag: »›Donovan ist tot und verbrannt‹, sagte sie. ›Was du sein lebendes Gehirn nennst, eine künstliche Missgeburt, eine gefährliche, krankhafte Erschaffung, die du in deiner Versuchsretorte genährt hast.‹« (Ebd. 118) Was Janice abschreckt, euphorisiert Schratt, als er Cory, der sich längst in auswegloser Lage befindet, telefonisch die Veränderung durchgibt: »Dem Gehirn geht es ausgezeichnet, sagte er, Größe und elektrische Energie nehmen ständig zu.« (Ebd. 135) Dem Angesprochenen, der immer weniger gegen die Auslöschung seiner Persönlichkeit durch Donovans Übergriff ankommt, wird inzwischen klar, dass sein Körper und sein Gehirn nur als eine Durchgangsstation dienen. Er kann sich leicht ausrechnen, dass es für ihn keine Gewähr mehr gibt, selbst am Leben zu bleiben, weil der/das Andere mit seinen telepathischen Kräften jederzeit in der Lage wäre, einen neuen Wirt zu akquirieren: »Es würde sein parasitisches Leben in einem anderen Körper fortsetzen.« (Ebd. 182) Die Zuschreibung des Parasitären erweitert die mysteriöse, aus dem Ungreifbar-Bösen gespeiste Monstrosität um eine soziale Diffamierung. Das unterstreicht auch der Ent-

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zug des uramerikanisch-irischen Namens, als bekannt wird, dass der böhmische Immigrant in den Staaten seinen Geburtsnamen, Dvořak, abgelegt hatte (vgl. ebd.154), und wie er mit progredienter Gedankenflucht zu seinem Ende hin «[…] mit sich selbst in einer slawischen Sprache« redete (ebd. 182). Ebenso lässt eine neue Diagnose hinsichtlich seiner Anatomie aufhorchen: »Es betrug sich, als arbeitete nur sein Thalamus, ohne die hemmenden Einflüsse der Rinde. Menschen deren Thalamus durch eine Operation vom übrigen Hirn getrennt wird, haben keine Herrschaft mehr über sich. Sie werden unberechenbar, gefährlich« (ebd. 183) – klar: Ein »krankes Stück Fleisch«, das da im Glasgefäß lagert (ebd. 194) und »grauenhaft« aussieht: »Eine weißgraue, formlose Masse, die über die Kanten ihres Behälters hinauswuchert. Ich würde nicht überrascht sein, wenn es plötzlich Augen und Ohren und einen Mund entwickelte!« (Ebd. 196) Die befürchtete Mutation wird aufgehalten, bevor sie überhaupt anfangen kann. Als Cory nach dem Ableben von Donovans Gehirn zum ersten Mal wieder sein Labor betritt, findet er seinen toten Assistenten Schratt so vor: »In seinen schweren Händen hielt er das Hirn. Er hatte seine Finger tief in die grauweiße Masse gegraben, sie mit aller Kraft festhaltend. […] Ohne Form und mit Gummiröhrchen gespickt sah das Hirn in seiner trägen Masse immer noch fürchterlich aus.« (Ebd. 200) Entspringend aus dem realen Gehirn des Autors Curt Siodmak entwickelt sich ein virtuelles Derivat in einem fiktionalen Netzes aus weiteren Gehirnen, was die Frage aufwirft, was einen Wissenschaftler, Autor oder Filmregisseur bewegt, sich überhaupt mit dem Phänomen Gehirn auseinanderzusetzen. Möglich, dass sich da ein einzelnes, individuelles Gehirn ansteckt, infiziert durch populäre und wissenschaftliche Berichte, Narrationen und Narrative, die in Unzahl kursieren. Möglich auch, dass viele dieser verstreuten Individualgehirne latent aufnahmebereit, empfänglich, disponiert sind für Botschaften und Appelle aus jenem von der Erkenntnis seiner selbst besessenen (imaginären) Universalgehirn, das von Emergenzschub zu Emergenzschub zu einem holistischen Bild bzw. Bewusstsein seiner selbst drängt. Auch darüber lässt sich spekulieren, wie stark eine solche Aufnahmebereitschaft ausgeprägt ist oder sein muss, dass bestimmte Subjekte für die Erforschung des Gehirns ihr ganzes Leben einbringen (oder opfern?), während andere wie der Schriftsteller Curt Siodmak es bei nur einer Manifestation bewenden lassen, und inwieweit das alles abhängt von der intrinsischen Motivation oder den Kapazitäten eines stets auch anderweitig von den jeweiligen Lebensumständen vereinnahmten Gehirns. Manche Gehirne sind prädestinierter andere weniger. Bei einem unbekannteren Unterhaltungsautor wie Siodmak war

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die Provenienz des Sujets kaum von besonderem Interesse, daher braucht auch nicht rekonstruiert zu werden, welcher Impuls woher gewirkt haben mag, dass dieses Gehirn seine schriftstellerischen Fähigkeiten genutzt hat, um ein weiteres Selbstbild über ein Unterhaltungsmedium zu popularisieren. Inspiriert gewesen sein könnte dieser SF-Roman von einer persönlichen Erfahrung, einem Forschungsbericht, einer beliebigen Sensationsmeldung. Der zentrale Knoten des virtuellen Netzes wird gebildet aus der Paarkonstellation aus einem überforderten Wissenschaftler und seinem dämonischen Widersacher in einem speziellen Aggregatzustand. Diese Gemengelage verschärft sich, je mehr sich die beiden Hirne entdifferenzieren, und die Identitäten der Soft- und Hardware, d.h., Gedanken und Körper sich bis zur Ununterscheidbarkeit überschneiden, durchkreuzen, vermischen, austauschen. An diese hochgradig volatilen Basis-Gehirne docken sich – auf der einen Seite an Corys Gehirn – direkt diejenigen von Schratt und Janice an, auf der Gegenseite die Gehirne der Donovan-Kinder, danach immer mehr zur Peripherie hin die üblichen Verdächtigen, die ein trivialliterarischer Plot als spannungsfördernde Widerstände benötigt. Wenn das sich in diesem literarischen Medium ausagierende Gehirn sich selbst als dämonisierte Entität darstellt, so ist das aufs Ganze gesehen keineswegs als kontraproduktiv zu bewerten. Unter der psychologischen Voraussetzung, dass negative Aufmerksamkeit auch Aufmerksamkeit ist, lässt sich nämlich keineswegs voraussehen, wie und wo ein derartiges Konstrukt ankommt und rezipiert wird, ob es dann nicht andere Gehirne zu neuen Expeditionen mit der Hoffnung auf neue Erkenntnisausbeute anregt. Vorauszusehen aber ist, dass der Romantext als ein Elaborat der Populärkultur eine gewisse Verbreitung erreichen wird und auf diese Weise all die von dem Autor recherchierten Erkenntnisse der in seiner Epoche aktuellen Gehirnforschung, die die Handlung plausibel machen, verbreitet und popularisiert. Integriert in die Gut-Böse-Struktur des Suspense-Genres kann die List der Dämonisierung auch das verselbständigte und losgelassene Gehirn eines traditionellen bad guys als Trojanisches Pferd die feindlichen Verteidigungslinien der Moral überwinden. Ein Disput um die Überschreitung von Grenzen durch einen außer Kontrolle laufende Wissenschaft durchzieht so augenfällig die Handlung, dass diese fundamentale Auseinandersetzung am Schluss noch einmal zusammengefasst wird. So lautet denn der letzte Abschnitt des Buches: »[Das Experiment] hat bewiesen, dass die Gewebe eines menschlichen Hirns unter bestimmten Umständen am Leben erhalten werden können. Sonst habe ich nichts gewonnen durch dieses Experiment als den Beweis, dass die wichtigste Errungen-

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schaft, die synthetische Erschaffung geistigen Fortschritts, außerhalb unserer Reichweite liegt! Die Natur hat Grenzen gesetzt, die wir nicht überschreiten können.« (Ebd. 204) Grenzen! Eine zu setzen, so Hegels vielzitierter Einwand gegen Kant, bedeute bereits, sie schon überschritten zu haben. Spätestens seit die Kirche sich der Aufklärung entgegen stemmte, sind bahnbrechende Fortschritte in der Wissenschaft vor allem gekennzeichnet durch die Überwindung religiöser, ideologischer, psychologischer, philosophischer und natürlich auch gesellschaftlicher Grenzen. Auch dieser Roman liest sich wie eine Legitimation, dass moralische Grenzen dort eingerissen werden müssen, wo sie der zerebralen Selbstsucht im Weg stehen. Wenn die epochale Erkenntnis eines Weiterlebens des Gehirns außerhalb des Körpers gegenüber dem Gewicht moralischer Einwände noch heruntergespielt wird, so ist die Fiktion eines autonom weiter tickenden Gehirns die eigentliche message an die wissenschaftliche Fantasie einer Zukunft, in der enthusiastische Wissenschaftler es professioneller anpacken können als jener Dr. Patrick Cory. Selbst wenn das letzte Wort auf Bescheidenheit gegenüber der Natur insistiert, wird dieser Appell angesichts des Abbruchs und Leere, die sich nach jedem letzten Satz auftun, zumindest vieldeutig: »Der Mensch kann nur hervorbringen, was in ihm ist. Mehr nicht.« (Ebd. 204) Mag in dieser Formulierung das von Nietzsche her bekannte »Werde, der du bist!« für die Zielgruppe des Genres verständlicher sein, bleibt eines trotzdem klar: Was im Menschen ist, und was der Mensch hervorgebracht – ergo hervorgeholt hat – ist nichts als sein Gehirn.

Experiment 2 Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts weckte die Phrenologie das Laieninteresse an der Hirnforschung mit dem Effekt, zu Massenveranstaltungen zu führen. Verantwortlich war vor allem Johann Caspar Spurzheim, der abtrünnige Assistent des Hirnanatomen und Begründers dieses Forschungszweigs, Franz Joseph Gall. Auf seinen Tourneen durch und die U.S.A. fiel es dem Showman Spurzheim nicht schwer, die Phrenologie als Sensation zu verkaufen. Wie diese Popularisierung bis in die jüngste Zeit exponentiell zunimmt, bezeugt unter anderem der Roman »Donovans Gehirn« mit seinem Gut-BöseRaster als mythische beziehungsweise moralische Matrix. Mit der Ausbeutung des resistenten Unterhaltungsformats, gelingt es dem Gehirn, die Fortschritte

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seiner Selbsterkenntnis auch in einem Publikum zu verbreiten, bei dem nicht unbedingt wissenschaftliche Neugier vorauszusetzen ist. Die Universalität des Gut-Böse-Narrativs provoziert Fragen nach dessen sozialem Gewicht. Es plausibilisiert und rechtfertigt die Ausstoßung eines dämonisierten Widersachers. Wie in »Phantasmen der Gewalt« und »Filmdämonen« dargestellt, reduziert sich die Vielschichtigkeit antiker Mythen, die nach René Girards Untersuchung »Das Heilige und die Gewalt« die kollektiven Gewaltakte zur Gründung gesellschaftlicher Verbände verdecken, auf ein dualistisches Muster. Es ließe sich durchaus vermuten, dass bei den archaischen, stets unter der Patina der Zivilisation lauernden Reflexen, als schädlich gekennzeichnete Subjekte zu eliminieren, ein biologisches Kleinhirnprogramm am Werk ist mit der atavistischen Aufgabe, einen Sozialverband stabil zu halten. Was in den 1940ern noch Science-Fiction und Zukunftsgewölk war, lässt sich 80 Jahre später realistischer an. Anstatt im Gut-Böse-Narrativ implementiert der Schweizer Journalist und Sachbuchautor Beat Glogger den Plot von einem ausgelagerten Gehirn in eine Beziehungsgeschichte. Der Vorspann, wo der Autor seinen Schreibantrieb erläutert sowie die Credits im Abspann markieren die zwei Pole, die den Roman »Zweimaltot« einklammern und zwischen denen sich die Handlung auffächert. Vorangestellt ist die Widmung für Sebastian, den Sohn: »An diesem Buch habe ich fast zehn Jahre gearbeitet. Es entstand in einer Zeit, in der ich sehr viel nachgedacht habe über das menschliche Gehirn, über das Bild, das jeder Mensch von sich selbst hat, und über meinen geistig behinderten Sohn. […] Aber es ist kein Buch über ihn. Es ist ein Buch über mich.« (Glogger 2019: 5) Die Credits am Ende hingegen erinnern an die zuarbeitenden Experten, Professoren der Neurophysiologie und Computerwissenschaften, einen leitenden Arzt einer Klinik für Neurophysiologie, einen Neurochirurgen, den Direktor des Neuroscience-Zentrums und einen in einem Labor beschäftigten Assistenzprofessor. Zur Handlung: Der bekannte Hirnforscher, Frank Stern, nimmt die Lesenden mit in eine gänzlich andere, nämlich ungemein glanzvollere Sphäre als in die des in seinem Privatlabor am Wüstenrand forschenden Dr. Cory. Denn Stern feiert einen sensationellen Auftritt in der John Hopkins University School of Medicine in Baltimore. Gegenstand der Experimente, deren Ergebnisse er vorstellt, und die ihm schlagartig Weltruhm einbringen werden, ist das Brain-Machine-Interface, bei dem es um die Entwicklung »neurokognitiver Prothesen« – expliziter: »[…] um die Anbindung von Elektronik an das Gehirn und Nervensystem des Menschen (geht).« (Ebd. 12) Billy, der intelligenteste

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der Affenpopulation des Instituts, wird beim »Weltkongress der Society for Neuroscience alle begeistern.« (Ebd. 27). Noch aber wird eine »der revolutionärsten Entwicklungen der Medizintechnik« (ebd. 25) im Versuchslabor erprobt. Der auf einen Stuhl geschnallte Demonstrationsaffe trägt auf seinem aus einem Plexiglasgehäuse ragenden Kopf einen abschraubbaren Metalldeckel, darunter befinden sich die Anschlussbuchsen für die Verkabelung des Gehirns. Sich abwechselnde Zeichen auf einem Monitor scheinen einen Roboterarm zu aktivieren, diese auf der Tastatur eines Keyboards aufgetragenen Zeichen zu identifizieren und jeweils zu drücken. Fazit: »Er steuerte die Maschine einzig mit der Kraft seiner Gedanken.« (Ebd. 26) Die Szene spielte in der Vergangenheit, die Gegenwart aber sieht so aus: »Zeit vergeht. Ich tue nichts, denke nichts. Schließlich nehme ich Maß, mache einen Schritt auf die Tür zu – und trete mit aller Kraft dagegen. ›Lasst mich raus!‹« (Ebd. 8) Diese ersten Sätze schlagen ein Leitthema des aus der Ich-Perspektive der zweiten Hauptfigur Tina Benz geschriebenen Romans an: Gefangenschaft. Auf der realen Ebene drei Varianten: 1.) die Zelle der Untersuchungshaft, 2.) das Behindertenheim, in dem Tinas Zwillingsbruder Christoph untergebracht ist, 3.) die Käfige der Versuchstiere in Sterns Institut. Dann auf der metaphorischen Ebene 1.) das Gehirn im Allgemeinen, definiert als geschlossenes, isoliertes System, wo Wahrnehmen, Denken und Fühlen eines Subjekts gefangen sind, indem sie nicht den Gesetzen der Außenwelt unterliegen, sondern seiner inneren Organisation, 2.) Frank Sterns eigenes Gehirn, zunächst »gefangen« ist in dessen totem Körper und, nachdem man es aus dem Schädel operiert hat, eingeschlossen ist in einem Brutkasten (Inkubator) im Labor. Der Roman »Zweimaltot« handelt davon, wie das Gehirn des berühmten Neurowissenschaftlers in dieses Labor gekommen ist, und wie es der ehemaligen Assistentin und Geliebten Tina gelingt, mit »Frank« Kontakt aufzunehmen. Tina Benz ist die zweite Hauptperson: Assistentin, hochbegabt und am Anfang einer exorbitanten Karriere, psychologisch in einer magnetischen Bindung an ihren behinderten Zwillingsbruder Christoph. Doch auch Tina ist besonders. Trotz ihres jungen Alters lässt sie ihrer intellektuellen Überlegenheit freien Lauf durch einen unverblümten, mitunter schroffen Umgang mit Vorgesetzten und Institutskollegen. Äußerlich löst sich dieses extreme Verhalten ein in einem punkigen Outfit aus roten Haaren, schwarzem Tutu, Piercings und Springerstiefeln. Als literarisches Substrat der neurowissenschaftlichen Theorien und Utopien dient die Kriminalstory eines Überfalls. Die Folgen: Frank Stern fällt ins

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Koma, und Tina wird als die dem Opfer Nächststehende von dem Untersuchungsrichter Landis verhört. Von Kapitel zu Kapitel springt die Handlung hin und her zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Das Imperfekt ist den wissenschaftlichen Experimenten vorbehalten wie auch der in eine Liebesbeziehung mündenden Zusammenarbeit der so unterschiedlich konstruierten Figuren, Frank und Tina. Ebenso gilt das für die Zwillingsbeziehung zwischen Tina und dem behinderten Christoph. Zwar zeichnet sich die hervorragende Studentin durch besondere Belastbarkeit aus, gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, ihre aggressiven Impulse zu kontrollieren, sodass Kollateralschäden in Kauf zu nehmen sind. Vielleicht auch ADHS, bei allem aber von einer Mission getrieben, ist sie auch außergewöhnlich gefühlvoll. Die Gegenwart wird hauptsächlich davon bestimmt, wie Tina mit ihrer Hartnäckigkeit und Begabung step by step zu ihrem im komatösen Chef und Geliebten durchzudringen versucht. In den Verhören drängt sie den Untersuchungsrichter, sich die militante Tierschutzorganisation vorzunehmen, die Frank mit Medienkampagnen und Drohattacken wegen seiner den Laien sicher bizarr erscheinenden Affenexperimente unter Druck setzten. Allerdings kam die Gewalt nicht von dort, sondern aus der direkten Umgebung, denn es war Tinas behinderter Zwilling, der Frank eines Nachts vor dem Institut fast erschlagen hatte. In Sachen Gehirn reflektiert der Roman, wie aus den Credits zu ersehen, den aktuellen Forschungsstand, was nicht daran hindert, dass das erste positivistische Statement durchaus von einem gewissen Pathos unterlegt ist: »Das wohl größte Geheimnis des Menschen wollte gelüftet werden: die Funktionsweise des Gehirns. Wie verarbeiten die etwa 23 Milliarden Nervenzellen die Unmengen von Wahrnehmungen, die ihnen jede Sekunde von den Sinnesorganen des Körpers übermittelt werden? […] Und wie konstruiert diese Anhäufung von Neuronen aus all den Nervensignalen etwas, das ein jeder als Realität wahrnimmt? Etwas, das man als Bewusstsein empfindet? Etwas, das man als Ich erkennt?« (Ebd. 29f) »Das wohl größte Geheimnis des Menschen« nämlich das Gehirn (dieses Statement kann allein das Hirn selbst auswerfen), was mit dem Prädikat »wollte gelüftet werden« genau als ein selbstreferentielles Indiz des Gehirns zu interpretieren ist, denn es ist nichts dieses eigene »Geheimnis«, das es gelüftet haben will. Nach wie vor können die Neurowissenschaften Antworten auf die drängende Frage nur andeuten, wie aus dem neuronalen Austausch der Nervenzellen, also den rein physiologischen Prozessen, Bewusstsein entstehen kann.

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(vgl. Bassett/Bertolero 2020: 31) Obwohl in dem Zusammenhang auch auf philosophische Aspekte hingewiesen wird, interessiert am Ende doch viel mehr die praktische Umsetzung, für die das Gehirn zunehmend in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Engagements rückt. Zwar noch »in den Kinderschuhen«, so wussten aber alle Teilnehmer jenes Weltkongresses: »[…] die Zukunft der biomedizinischen Forschung lag im Gehirn.« (Glogger ebd. 30) Doch in der Praxis wirft das Beispiel des Komapatienten das ethische Problem auf, wann ein Mensch als tot definiert ist. Laut medizinischer Diagnose wurde das Koma durch eine Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn verursacht. Angesichts des Szenarios aus dem mit monoton piepsenden Apparaten verkabelten Körper erläutert die Ärztin, was »tot« heißt. Es reicht nicht als Kriterium, dass das Herz zu schlagen aufhört, weil es ersetzbar ist durch ein Spenderorgan oder eine Maschine. »Der Tod ist der Moment«, wie sie konstatiert, »in dem die Aktivitäten des Gehirns zum Erliegen kommen.«. Solange ein Bewusstsein vorauszusetzen sei, bleibe der Mensch »als Wesen erhalten. Unsere Existenz liegt nicht im Herzen, sondern im Gehirn. Wenn das Gehirn abstellt, bleibt nur ein pulsierender Muskel. Der Hirntod ist übrigens der Moment, wo man Organe entnehmen darf.« (Ebd. 53) Die Unterscheidung von Herz- und Hirntod kommentiert Tina mit den Worten »Also zwei Mal tot.« Semantisch gleicht diese Formulierung dem Romantitel, später werden dieselben Worte sich dann in der abgeänderten Schreibweise »zweimaltot« in einem dramatischen Kontext wiederholen. Die unumgängliche Diskussion des definitiven Todeszeitpunktes muss vorausgeschickt werden, um das ethische Spielfeld abzustecken. Das Gespräch mit der Ärztin bildet die Unsicherheiten ab, die, wie es bereits der »Donovan«-Roman problematisiert, durch eine den Commonsense überrumpelnde Medizin-, Technik- und Roboterentwicklungen das gesellschaftliche Selbstverständnis zersetzen – Dynamiken, denen hergebrachte Konzepte der körperlichen und psychischen Integrität und damit der menschlichen Identität schlechthin kaum mehr etwas zu entgegenzuhalten haben. Das erste große Thema des Romans handelt von der Konstruktion der Neuroprothesen. Auf mehreren Seiten wird Franks Auftritt im Labor in Szene gesetzt, nachdem er mitten in der Nacht und mächtig euphorisiert Tina bestellt hat, um sie während eines filmreifen Dialogs zur »Zeugin eines Durchbruchs in der Medizingeschichte« zu machen. (Ebd. 93) In der realen Medizingeschichte hatte ein Team um Richard Anderson vom California Institute of Technology den querschnittsgelähmten Patient Eric G. Sorto bereits 2015 mit einem gedankengesteuerten Roboterarm ausgestattet hatten, (vgl. Merkelt 2015) fik-

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tionalisiert Glogger die Technik weiter zu einem Rollstuhl, dessen Fahrwege sich gleichfalls per Gedanken steuern lassen. Will man den Patienten, Eric G. Sorto, mit der Romanfigur Frank verglichen, so lenkt dieser jedoch ein weitaus komplexeres Bewegungssystem. »Ich muss einfach an verschiedene Körperteile denken: Linker Arm bedeutet vorwärts. Rechter Arm rückwärts. Linkes Bein Kurve links. Rechtes Bein Kurve rechts. Kopf gleich anfahren. Der Hintern bedeutet Stopp.« (Glogger ebd. 94) Auch wenn für diese KörperMaschine-Fusion hier der Begriff »Cyborg« nicht vorkommt, so fällt Tina etwas anderes auf: »Seine Bewegungen wirkten steif und ungelenk, sodass ich unwillkürlich an einen ferngesteuerten Roboter denken musste.« (Ebd. 93) Das nächtliche Rendezvous endet in einer ausgelassenen Scooter-Rallye im Labor. Technisch ebenfalls entschieden weiterentwickelt als Sortos Roboterarm sind die Neuroprothesen von Billy, jenem intelligenten Versuchsaffen. Mit großer Ankündigung führt Frank auf dem Kongress ein Video vor. »Es zeigte den Makaken im Primatenstuhl, die optischen Reize auf dem Monitor, die Tastatur mit den Symbolen. Das Publikum sah die Elektrodenkapsel auf dem Schädel des Affen und die Drähte, die zu einem Rechner führten. Es sah den Roboterarm, der die richtige Taste drückte und dann dem Affen eine Erdnuss in den Mund schob. Und es hörte Franks Erläuterungen: ›Der Affe bedient eine Maschine, ohne einen Finger zu rühren, einzig mit der Kraft seiner Gedanken.‹« (Ebd. 31) Auf die Beschreibung der Verbindungstechnik zwischen Elektronik und Nervensystem (übrigens nicht anders als bei Sortos realem Roboterarm) folgt der populärwissenschaftliche Hinweis, dass »Computer mit Strom (funktionieren), genauso wie Nerven. Man muss nur wissen, welche Stecker aufeinanderpassen.« (Ebd. 31) Das Hirn-Computer-Kombinat bildet nicht nur sachlich, sondern auch strukturell das Übergangsstadium zwischen dem biologischen Körper und dem entkörperten, auf die rudimentärste Physis reduzierten Gehirn. Im nächsten Stadium, illustriert am Beispiel des Komapatienten, lebt das Gehirn bereits in einer toten Biomasse. Die entsprechenden Kapitel breiten minutiös aus, wie es Tina dank ihrer Hartnäckigkeit gelingt, Zugang zu Franks Bewusstsein zu finden. Zu zitieren wären hier noch einige eher unauffällig wirkende, weil vordergründig nur dem Atmosphärischen dienende Sätze, die in Wirklichkeit jedoch viel mehr beschreiben als nur das klinische Environment: »Auf der Intensivstation scheint die Zeit ausgesperrt: das ewig gleiche Dämmerlicht, farbige

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Lämpchen und schimmernde Displays, die von Routine zeugen. An der Decke brennt ein milchig grünes Notlicht. Personal ist keines da.« (Ebd. 97) Diese leere Szenerie in einem technischen dämmerigen Raum, versinnbildlicht eine Sphäre, ja: die Sphäre, in der ein Gehirn die Voraussetzungen für seine Mutation finden könnte: Isoliert aus jeglichem Alltagsprozess, an einem Nichtort verleugneter Zeit weit weg von Sonnenlicht und frischer Atemluft im Nirgendwo einer imaginären Nährlösung. Um ihr Hauptanliegen umzusetzen, mit Frank wieder kommunizieren zu können, schleust Tina einen Laptop ins Spitalzimmer. Nachdem Frank sich nur mittels Lidschlägen nach einem auf das Allereinfachste restringierten Code auf Verständigungsversuche eingehen konnte, verfügt der mit dem Laptop über eine Tastatur, auf der er jetzt nach dem Vorbild seines VorzeigeAffens Kraft seiner Gedanken schreiben kann. Zum erweiterten Equipment gehört die EEG-Kappe, die er selbst für an den Rollstuhl zu sendende Befehle konstruiert hat. Evidenter als an seinem eigenen Körper, sozusagen an und für sich, lässt sich angewandte Wissenschaft kaum demonstrieren. Das gilt vorerst auch für die modifizierte Software, die die Curserpositionen auf dem Monitor zur Steuerung der Gliedmaßen überträgt. (Vgl. ebd. 98f) Wie kein zweites Organ der Evolution ist das menschliche Gehirn ein System des Lernens – eine Zuschreibung, die bereits bei der Konditionierung von Donovans Gehirn viel Raum in Anspruch genommen hat. Nachdem man länger nicht weiterkommt, reift die Erkenntnis, dass in dieser speziellen Mensch-Maschine-Relation der Mensch die Oberhand behalten muss. Mit der dieser Einsicht folgenden Umkehrung des Verhältnisses und damit Frank die Kontrolle übernimmt, kommt der Durchbruch, seit dem die Kommunikation endlich wieder reversibel ist. Was er sagen will, ist zuerst auf dem Monitor zu lesen, den essenziellen Fortschritt aber bringt ein Transformationsprogramm, das die schriftlichen Informationen in Soundfiles übersetzt, so dass der Bewegungsunfähige sogar seine Stimme zurückerhält und man mit ihm reden kann »wie früher«. (Ebd. 177) Trotz allem geht es mit dem Körper unwiderruflich zu Ende. Der passende Zeitpunkt für Grundsätzliches. Wider alle Vorhersehbarkeit wird Tina von einem Weinkrampf geschüttelt, als sie die für den von Angesicht zu Angesicht Sterbenden so unangemessen fröhliche Stimme wieder deaktiviert. »Als ich durch den Tränenfilm wieder zum Monitor sehe, lese ich Franks Text. Nüchtern. Klar. Schockierend: ›Erinnerst du dich an diesen Neurologenwitz?‹, fragt er.

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›Lange Zeit dachte ich, das Gehirn sei das wichtigste Organ des Menschen. Dann realisierte ich, wer mir dies sagte. Darüber habe ich viel nachgedacht, und heute weiß ich, dass es kein Witz ist. Es ist die Wahrheit. Mein Körper stirbt. Er ist fast schon tot. Sie reden von einem MOV, Multiorganversagen. Mein Gehirn aber funktioniert noch einwandfrei. Es ist definitiv unser wichtigstes Organ. Denn ich bin immer noch ich, obwohl das, was man Frank Stern genannt hat, praktisch nicht mehr ist. Meine Hülle stirbt. […] Ich werde alles aufzeichnen, solange ich kann. […] Du wirst erfahren, was bis zur letzten Sekunde des Lebens im Gehirn eines Menschen vor sich geht.‹« (Ebd. 181f)

Frank im Tank Descartes Epochenstatement »Ich denke, also bin ich« ist Fleisch geworden, wie auch Marcel Prousts aussichtsloses Vorhaben sich einlöst, das eigene Sterben zu protokollieren. Diese Äußerung von Frank ist von vornherein Dreh- und Angelpunkt, denn hier wird das Gehirn explizit bestimmt als das treibende Subjekt dieses Selbstinteresses, es/sich zu erforschen und technisch mit allen Mitteln zu erweitern. Der Neurologenwitz, an den Frank erinnert, wird offenbar als so redundant vorausgesetzt, dass er die Pointe nicht braucht, die bekanntlich lautet: Das Gehirn. Es selbst infiziert, um nicht zu sagen, es fixt sein Derivat, das Bewusstsein, mit der Wahrheit an, das wichtigste Organ zu sein und das, so Franks Lebensfazit, ist keinesfalls ein »Witz.« Zum Zeitpunkt seines körperlichen Todes nimmt er Tina ein Versprechen ab. »Dann erscheinen auf dem Monitor die Buchstaben ›LETZER WILLE‹«. (Ebd. 183) Erst spät im Buch der Paradigmenwechsel. 50 Seiten vor Schluss beginnt als Nummer 3 »Das Buch Frank« mit den Details der extremen »Lebensform« eines aus dem Körper isolierten Gehirns. Dieses Szenario benötigt wieder das Labor. Als enthusiastische Assistentin folgt Tina den testamentarischen Anweisungen, um Franks Gehirn technisch so weit aufzurüsten, dass der absurde Klumpen Fleisch sich als Individuum mit Sinnesorganen und freiem Willen restituiert. In eine Siebelelektrode werden die Nerven einwachsen für eine dauerhafte Verbindung zwischen dem Menschen und der Maschine. »In der Mitte des Raumes steht der mit Flüssigkeit gefüllte Inkubator, darum herum jede auf ihre Halterung montiert, die Neuroprothesen.« Ebd. 219) Ein RetinaChip ersetzt das Auge, Mikrophon und Cochlea-Implantat das Ohr. Außerdem ein »Hirnschrittmacher« und die

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»[…] elektronische Nase, deren Signale direkt in den Riechlappen im Vorderhirn geleitet werden, die Sensoren für Umwandlung von Hirnströmen in Steuersignale in den Computer und die neurokognitive Armprothese, die Frank selbst entwickelt hat. […] Von den Neuroprothesen laufen dünne Kabel zu einem Zylinder aus Plexiglas, der einen Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern hat und mit einer klaren, bläulich schimmernden Flüssigkeit gefüllt ist. Sie enthält Sauerstoff, Nährstoffe, Vitamine und andere lebenswichtige Zutaten. Wo die Kabel das Plexiglas durchdringen, ist der Inkubator mit transparentem Silikon abgedichtet. Die Kabel laufen zu dem Ding, das in der Mitte des Zylinders von einem leichten, korbähnlichen Gebilde ebenfalls aus Plexiglas gehalten wird: zu dem Gehirn von Frank.« (Ebd. 220) In der Tat wäre Franks Gehirn nicht mehr als jenes vegetierende, obzwar lebende Schweinehirn in Yale, wenn es nicht weit darüber hinaus käme, nur lebens-, sondern auch entscheidungs- und befehlsfähig gemacht werden. Im Folgenden wird das äußerliche Erscheinungsbild der Anatomie aus Tinas Perspektive vorgeführt und erläutert. Die Furchungen und Windungen, wodurch die Großhirnrinde ihre riesige Oberfläche erhält, »um unsere gewaltigen motorischen, sensorischen und kognitiven Hirnleistungen unterzubringen.« Nichts Spektakuläres bis dahin, obwohl ja »Franks Genialität, seine Kreativität, seine Fantasie, seine Wünsche und seine Träume, seine Persönlichkeit, sein Geist und sein Wesen in diesem Organ enthalten (sind).« (Ebd. 221) Das Gehirn reagiert inzwischen wohl viel gelassener als in der historischen Phase, in der es noch nötig hatte, Mythen seiner selbst zu verbreiten, wie den von Einsteins Gehirn. Demgemäß lapidar Tinas Fazit: »Frank lebt.« Als die Funktionen des Equipments bereit sind, auf »ON« zu gehen, wird Tina von Zweifeln gehemmt. Soll sie das Gehirn einfach lassen, wie es ist, es wirklich nicht davor verschonen, überwältigt zu werden von dem zu erwartenden Anbranden der Informationen? Vorläufig ja! Den »roten Knopf für den Atomschlag« wird sie nicht drücken. (Ebd. 225) Wie unter dem Schock durch diese vorbildlose Grenzerfahrung flüchtet ihr Bewusstsein in einen Ausnahmezustand. Als hätte sie sich mit Absicht hineingesteigert, lässt sie sich treiben, verliert sich in einem gefühlten Nichts außerhalb von Zeit und Raum, bildet sich ein, selbst keinen Körper mehr zu haben. »Es spielt keine Rolle, ob ich schwebe oder schwimme, ob um mich herum das Universum ist oder der Uterus. […] Fühlt sich Frank im Tank jetzt auch so? […] Befreit von irdischen Zwängen, mental entfesselt […] Aber will er überhaupt zurück?« (Ebd. 226)

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Um sich in Franks Zustand einfühlen zu können, findet Tina die FloatingAnlage eines Samadhi-Tanks am besten geeignet. Eine austarierte Salzwasserkonzentration gleicht den Auftrieb aus, dass man schwerelos ist. Was sie erlebt, überträgt sie auf die Befindlichkeit von Franks Gehirn in der Flüssigkeit. »Jetzt liege ich in einer Art Kapsel« (ebd. 230) – ein Vergleich, der zumindest an das Gehirn im Schädel denken lässt. Zwei extreme Zustände fallen zu einem Zustand zusammen: Der pränatale Zustand im Uterus mit einer Art postmortalem. Das Residuum Frank besetzt an einem Pol das Stadium eines Fötus im Fruchtwassser, am anderen das am weitesten fortgeschrittene posthumanistische Stadium eines über elektronische Prothesen verfügenden Gehirns. Bevor eine Entscheidung zu treffen wäre, ist manches zu erwägen. Noch befreit von der Zufuhr der Sinnesdaten, liefen Franks Reflexionen auf die lapidare Selbsterkenntnis hinaus: »Ich bin mein Gehirn«. (Ebd. 225) Mit der Wortwahl »mein« verfehlt Franks Gehirn das entschiedenere Urteil, lautend: »Ich bin das Gehirn.« Trotz der totalen Isolation, durch die es abgeschnitten ist von allen Sinnesdaten, bleibt eine bewusstseinsartige Kontrollinstanz vorgeschaltet, die den kompletten Zugriff des Gehirns auf ein noch so rudimentäres »Subjekt« verhindert. Was wäre, wenn? Allem voran wäre es ein anderes Ich, das spricht. Außerdem: Verriete sich das Gehirn? Z.B. darin, dass der geniale Hirnforscher Frank Stern nur eines ist unter den vielen menschlichen Medien, die es je für den Fortschritt seiner Selbsterkenntnis rekrutiert und benutzt hat? Tina jedenfalls denkt noch anders, hält diesen aus sämtlichen Einflüssen herausgelösten Zustand des sich selbst genügenden Systems für das »Paradies«, aus dem Frank zu vertreiben, ihr das Recht nicht zusteht, denn: »Wenn ich drücke, werde ich eine Grenze überschreiten,« (ebd. 225) die auch eine Grenze des Definierbaren ist. »Und ich werde erfahren, ob es stimmt, was Frank immer gesagt hat ›Ich bin mein Gehirn‹. Liegt in dieser Schale Frank oder bloß ein Knäuel Nervenzellen?« (Ebd. 225) Auf sich selbst bezogen, bricht sie ihr eigenes Gehirn auf das Niveau eines Empfängers elektrischer Impulse herunter – »(g)enauso bei Frank: Sensoren, Leitungen, Gehirn. ›Gehirn im Topf ist wie Gehirn im Kopf‹, hat Frank gesagt.« (Ebd. 225) Dass es bei seiner elysischen Seligkeit nicht bleiben darf, versteht sich von selbst, allein weil er es testamentarisch verfügt hat. Am Ende von Tinas Experiment, im Nirwana-Flow Körperfunktionen auf null zu stellen, genau wie Frank »von allen äußeren Einflüssen entkoppelt« zu sein, verschafft ihr die Gewissheit, »wie Frank sich fühlt. Ich werde die Sensoren einschalten.« (Ebd. 230) Nach kleineren Störungen während der Aktivierung der Prothesen liest sie die Feedbacks auf dem Monitor. »Sein Gehirn hat, losgelöst vom Körper,

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schwebend in der physiologischen Nährlösung weitergedacht.« (Ebd. 232) Heureka! Glückshormone lassen sie die glücklichsten Stunden ihres Lebens feiern: »Er hört mich, er riecht mich. Frank versteht meine Fragen und gibt Antworten.« (Ebd. 233) Plötzlich wieder ein Pärchen – eines wie jedes andere? Zumindest vorerst, schnell aber fallen Veränderungen auf. Frank wird egoistisch, tyrannisch, und sie reagiert immer gestresster, wenn er sie vorwärts peitscht, um seine Prothesen zu trainieren. Das von Tina veranlasste Gespräch über ihre »Beklemmung« bewegt sich jedoch in eine andere Richtung als von ihr vorgesehen. Während sie darum fleht, dass die Liebe zurückkehre, argumentiert er hirnphysiologisch. Und da kommt Liebe nicht mehr vor. »Sex. Das spielt sich im Kopf ab. Einen Körper braucht es dazu nicht. Also mach es mir.« (Ebd. 254) Er führt sich auf wie ein Vergewaltiger. »Für Sex braucht es keinen Schwanz, es braucht ein Gehirn, in dem alles abgeht. Ein Orgasmus ist eine elektrische Entladung, mehr nicht. Aber eine geile Entladung. Und die will ich jetzt. Komm her!« Mit ihrer entschlossenen Ablehnung steht der Machtkampf auf der Kippe, weil Frank sich den Server des Instituts gehackt hat, sodass die Türschlösser zu sind. Als Tina nicht kapituliert, weil sie sich mit der Macht über das Schaltwerk am längeren Hebel glaubt, spielt Frank gegen diese lebensbedrohliche Option seinen Trumpf aus: »Christoph«. Er nämlich und niemand von den militanten Tierschützern ist der Mörder. Frank, der den nächtlichen Überfall genau protokolliert hat, erpresst sie damit, seine prozessreif ausformulierte E-Mail in Umlauf zu bringen. So muss sie sich nackt den Berührungen seines Roboterarms aussetzen. Nahe der Schockstarre beobachtet sie, was im EEG passiert: »Die Kurven schlagen aus, wie wild, das Gehirn ist im höchsten Maß erregt.« Erst als die chaotischen Ausschläge »in kompletter Harmonie als weiße Woge über den Schirm » getanzt sind, platzen sie in einem riesigen Chaos auseinander. »Der Roboterarm lässt von mir ab, sackt schlaff in sich zusammen.« Etwas schlägt um. Früher hätte er das nie getan. »Das ist nicht Frank. Nicht mehr.« (Ebd. 255) Das Gehirn will die Erfahrung objektivieren, dass es für intensive Erregungszustände keinen Körper braucht, außerdem, wozu nun die Grafiken der wilden Ausschläge auf dem Monitor Gelegenheit geben, die gefühlten elektrischen Impulse auch sehen. Diese Situation thematisiert die wichtige neurologische Frage, ob ein Gehirn ohne Körper solcher Intensitäten überhaupt fähig ist. Ein Kollege spricht Tina auf das »berühmte Gedankenexperiment« brain in the vat an, die Trennung von Geist und Körper. Nach dem sexuellen Übergriff sucht sie eine Antwort darauf, wie sich der Einfluss der Umgebung auf die Persönlichkeit auswirke. Der Assistent zitiert jenen auch in den Credits

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aufgeführten Roboterforscher Rolf Pfeifer der festgestellt hat, dass künstliche Intelligenz auch abhängig ist von der Form der Maschine – »also hängt ein bestimmter Geist von einem bestimmten Körper ab.« (Ebd. 252) Je nach Körperbeschaffenheit und -form, so der Schluss, nehmen Menschen die Welt verschieden wahr: »Wenn ich also einem Gehirn den Körper wegnehme, fühlt er sich trotz aller Sinneseindrücke, die du ihm mit Sensoren zuführst, nicht mehr wie zuvor. Dadurch verändert sich die Persönlichkeit. […] Aber ich vermute, das Gehirn verliert seine Empathiefähigkeit und seine Persönlichkeit. Es wird zur Rechenmaschine ohne Gefühl.« (Ebd.) Die negative Bewertung in der Gleichsetzung von Gehirn und Computer ist die entscheidende Differenz sowie die Insistenz auf der letztmöglichen Grenze zwischen der Natur des Menschen und den Maschinen, wohingegen Transhumanisten wie Ray Kurzweil die Weichen längst anderweitig gestellt wissen wollen. Ethische Tabus sind ohnehin obsolet: »Auch wenn die Computer in der Zukunft nicht einem bestimmten menschlichen Gehirn nachempfunden sind, werden sie immer mehr persönliche Züge aufweisen, Emotionen zeigen und eigene Wünsche und Ziele formulieren. Computer werden einen freien Willen haben. Sie werden spirituelle Erfahrungen für sich reklamieren.« (Kurzweil 2016: 26) Die im Roman hingegen betriebene Abwertung des entkörperten Gehirns zu einer unpersönlichen Rechenmaschine rationalisiert eine Dämonisierung aus ethischen Beweggründen. Wie dieses entbundene Gehirn gegen Tina gewalttätig wird, gleicht der Machtergreifung von Donovans Gehirn über Dr. Cory. Vom Körper getrennt verwandelt es sich in eine autonome Entität. Was ehemals Person war, ist gelöscht, sodass im Rückblick nicht mehr übrigbleibt als ein Wirtsorganismus. Nur noch es selbst, hat sich das Gehirn nicht nur aus und vom Körper befreit, sondern auch aus und von der Zivilisation. Die Konsequenz des Gedankenspiels »Hirn im Tank« ist in einer Kriminalgeschichte kaum aufzulösen, ebenso wenig wie die nicht vermittelbare Diskrepanz zwischen dem fleischlichen Fakt, lediglich »ein Haufen Neuronen« zu sein (Glogger ebd. 250) und sozialen Notwendigkeiten wie Empathiefähigkeit, Moral und Bindungen. Für dieses Dilemma gibt es nur den finalen Ausweg Gewalt. Das Resultat findet Tina vor, nachdem sie ihre Erniedrigung abzuwaschen versucht hat und ins Labor zurückkehrt. »Ich spähe um die Ecke, sehe eine Lache aus bläulicher Flüssigkeit auf dem Boden. Ich springe vor. Die Messgeräte sind umgeworfen. Die Monitore eingeschlagen, die Neuroprothesen vom Tisch gewischt. Der Inkubator liegt zerschmettert auf dem Boden. Dort, zwischen Scherben, Trümmern und zerborstenen Apparaten liegt das

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Gehirn. […] Christoph lächelt, als er sagt: ›Jetzt habe ich den Professor zweimal tot gemacht.‹« (Ebd. 260) Ende »3 Das Buch Frank«. Wie in Donovans Labor. Buchstäblich zurück am Boden der Tatsachen, demonstriert das Bild die ungeheure Fallhöhe zwischen dem umhegten, wie besessen ernährten und versorgten Organismus eines einzigartigen Lebewesens. Es manifestiert sich das Paradox der Idee totaler Freiheit, die jedoch bezahlt wird mit der irreduziblen Anfälligkeit, der so ein Gehirn im Tank naturgemäß ausgesetzt ist. Was sich zwar vorerst »Top-secret« und durchaus pathetisch ankündigt, ist nichts weniger als die Unsterblichkeit des Menschen im unbeschreiblichen Kontrast zu diesem nur noch zu beseitigenden Klumpen Biomüll in der glitschigen Brühe zwischen den verstreuten Scherben. Gemäß dem treibenden Verlangen sich selbst zu sehen, wie es Gottfried Benns Erzählung »Gehirne« von 1915 an dem zunehmend verstörten Dr. Rönne exemplifiziert, besichtigt sich das Gehirn im nächsten Stadium, für das die 1942 geschriebenen Donovan-Fiktion paradigmatisch ist, als ein in einem Glasbehälter exponierter und inszenierter Korpus gleich einem Kunstwerk auf einer Bühne oder sakralisiert in einer Monstranz, bis hin zu der neuesten Version von 2019, wiederum im transparenten Gehäuse des Inkubators. Bei dieser fortgeschrittensten Projektion wird im Unterschied zu den kargen Diagrammen aus Cory’s EEG mit den visuellen Sensationen der digitalen Bildgebungsverfahren mit den über den Monitor jagenden Erregungswellen aus dem neuronalen Universum aufgewartet. Wenn hier der Begriff »Monstranz« anlandet, impliziert das auch die Etymologie des Verbs »monstrare« – »zeigen«, das sich über eine semantische Bifurkation – hier Richtung Heiliges, dort Richtung Monströses – aufspaltet und damit die Pointe beider Gehirn-im-Tank-Imaginationen trifft. Die Kalauer »Frank im Tank« (Tina) oder »Gehirn im Topf ist wie Gehirn im Kopf« (Frank) antizipieren bereits die Erbärmlichkeit des letzten Zustandes. In dieser sprachlichen Entwertung, radikalisierter in der Dämonisierung des entkörperten Gehirns, die nach den narrativen Gesetzen eines SuspenseRomans allein mit der Tötung der zum Alien mythisierten Kreatur enden kann, drücken einen unhintergehbaren Widerspruch aus. Wie alle seine Schöpfungen, ob dinglich oder ideell, praktisch oder theoretisch, unterliegt das Gehirn unterschiedlichen bis antagonistisch wirkenden Kräften. Auch wenn sich dieser Beschreibung zurecht vorzuhalten ist, zirkulär zu sein, so verschiebt sich trotz einer unvermeidlichen Unlogik dennoch die Perspektive auf den Ursprung der gedanklich nicht einholbaren Vielfalt der menschlichen Produktionen, Ideen und Projekte. Wenn wie im Beispiel der zwei SF-Entwürfe

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das Gehirn sich verselbständigt und aus sozialen Bindungen heraustrennt, so insinuiert das ein radikal egoistisches Konzept weit weg von der notwendigen Balance zwischen individualistischen Ansprüchen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten, respektive Verantwortungen (vgl. Muffet 2019) – ein Widerspruch, den am Ende jedes Individuum austarieren muss, soll es gesellschaftsund bindungsfähig bleiben. Nach welcher Tradition man immer es benennen will – als zoon politikon, Sozialcharakter, Gesellschafts- oder Gemeinschaftswesen, wo nicht despektierlich als Herdentier – der evolutionäre Klebstoff lässt sich nicht entfernen. Da diese Antinomien die zerebrale Dynamik bestimmen, verwundert es nicht, dass das nicht nur das individuelle, sondern auch universelle Gehirn, wo in seiner Selbsterforschung die endogenen Bindungsprinzipien bedroht werden, sich selbst bremst. Das spiegeln die Romane wider, als sie sich mit ihren den moralischen Mainstream entgegenkommenden Erzählmustern den sozialen Flügel betonen, indem sie Partei ergreifen gegen eine Wissenschaftsfreiheit, die sich vom Egoismus des Gehirns verführen und instrumentalisieren lässt. Bei Siodmak fällt dem widerwilligen Komplizen Schratt die Rolle des Bremsers zu, bei Glogger den militanten Tierschützern. Außerdem löst sich mit dem gewaltsam getöteten Gehirn das Problem der Unsterblichkeit, die diese künstlich am Leben erhaltenen Gehirne mehr oder weniger offen versprechen als ein Projekt, das auch den Erzähler und sein Buch überdauern wird. Nicht nur in der Fiktion, sondern ebenso wäre es realiter eine Illusion, allgemein im Gehirn eine homogene Entität erkennen zu wollen. Nach seiner spontanen Mutmaßung, im Gehirn könnten zwei Persönlichkeiten stecken, erweitert Ray Kurzweil diesen Gedanken schon von vornherein. »Sitzt in einem Gehirn vielleicht sogar eine Vielzahl verschiedener Geister, alle mit einer unterschiedlichen Sichtweise?« (Kurzweil ebd. 102) Nachverfolgen ließe sich jedenfalls, dass der Widerstreit zwischen alten Strukturen und den permanent dazu in Widerspruch tretenden Fortschritten – bis hin zum Revolutionären – sich in der Wissenschaftsgeschichte manifestiert. Die Ludditen, deren Motiv es nicht allein war, aus Prinzip technische Innovationen zu bekriegen, sondern dass sie genauso um ihre Arbeitsplätze kämpften. Solche Ludditen widersetzen sich auch im Inneren. Über große Zeiträume hinweg hat das Gehirn Schaltwege aufgebaut, Fähigkeiten erlernt und seine Kapazitäten erweitert, die mit jedem Paradigmenwechsel zumindest teilweise ihren Sinn verlieren und aus dieser Obsoleszenz heraus, sich nolens volens in Sand im Getriebe verwandelnd, sogleich jeden Fortschritt blockieren.

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Nicht nur aus diesen Gründen. Denn folgt man mit Kurzweil Minskys/ Paperts Auffassung, so verhindert das Gehirn immer auch seine Selbsterkenntnis mit. »Aber die subsymbolischen Systeme, die untergründig den größten Teil der Arbeit leisten, müssen verhindern, gerade aufgrund ihres ureigenen Charakters, dass alle anderen Teile des Gehirns viel über ihre Funktionsweise erfahren.« (zit. bei Kurzweil ebd. 156) Ein Effekt der Komplexitätsreduktion. Das Paradox, das man an dieser Aussage kritisierbar wäre, weil das Gehirn diese Feststellung ja im gleichen über und für sich selbst trifft, es sozusagen herausgefunden hat, dass es sich entgegen allen Vorwärtsdrang in seiner Selbsterforschung behindert, wurde von den Autoren weniger übersehen, als dass es in der Natur selbstreflexiver Schleifen liegt, sich in Paradoxien zu verheddern. Um zu Erkenntnissen gleich welcher Art zu gelangen, erfindet allein es selbst Methoden wie Medien, sich selbst zu repräsentieren. Auch bei seinen größten Fortschritten bleibt es in einem zirkulären System gefangen. Wissenschaft unterliegt ihrem Anspruch auf Objektivität, verifiziert durch ihre Verfahren und Prozeduren, die Resultate zu formalisieren unter der Bedingung, stets auf einen allgemein verfügbaren Code zurück greifen zu können. Für die Selbsterforschung nützt diese Formalisierung dem Gehirn darin, widersprüchliche Impulse kommensurabel zu machen, sie zu nivellieren und damit das rekursive, desgleichen progrediente System aus Experimenten, Theorien, Technologien und Medien kontinuierlich zu optimieren. Was auf der ersten Seite des Romans mit der Gefängnisszene bereits angerissen ist, setzt sich am Wendepunkt der Handlung in der Szene der Nötigung fort als dem nächsten Bild einer weiteren Gefangenschaft, nämlich als das Hirn im Inkubator sich ins Schließsystem des Instituts gehackt hat, um die Türen zuzusperren. Ob in einem echten Raum mit echten Wänden oder im Gehirn selbst – das Thema eingeschlossen zu sein ist faktisch ein Leitmotiv. Auf das Gehirn als Ganzes bezogen, führt diese Motivfolge beinah zwangsläufig zum Konstruktivismus, der keineswegs ein so einheitlicher Denkansatz ist, wie es der Begriff suggerieren mag. Am populärsten der radikale Konstruktivismus, der vertritt, dass jedes Individuum eine exklusiven Realität im Kopf hat, während nach moderateren Theorien der gesellschaftliche Austausch, die Konventionen und lebensweltlichen Voraussetzungen im weitesten Sinn eine gemeinsame lebenspraktische Realität bilden. Weil sie sich durchaus auf Bedingungen der Selbsterkenntnis des Gehirns anwenden ließen, lohnt sich hier ein Hinweis auf einige Basissätze des Konstruktivismus etwa auf die Vorannahme, dass Erkenntnis abhängig ist vom Beobachter und dass dessen Autonomie als interpretierende Instanz den Er-

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kenntnisprozess aufgrund seiner Selbstregelung, Selbststeuerung und Selbstorganisation leitet sowie, und das kommt den Konditionen des sich selbst erforschenden Gehirns am nächsten: Dass Erkenntnis, wo sie rekursiv ist, zirkuläre und paradoxe Denkfiguren in Kauf zu nehmen hat. Zu dieser konstitutiven Zirkularität Genaueres im Kapitel »Die unbeschreibliche Selbstreferentialität des Gehirns«. Jedenfalls entspricht es der Logik dieses Kriminalromans, dass der Ermittlungsrichter darauf verfallen muss, weil er wie kaum ein anderes größtes Interesse daran hätte, in die Köpfe seiner Klientel zu schauen, den Konstruktivismus ins Spiel zu bringen: »Opfer glauben, was sie glauben wollen. Täter auch. Das kenne ich. Und ich habe mich unterdessen auch in Ihrem Bereich etwas schlau gemacht: Konstruktivität nennt Ihr Hirnforscher dieses Phänomen. Jedes Hirn baut sich eine eigene Realität, seine eigene Wahrheit.« (Glogger ebd. 210)

Symbiotische Beziehungen und Schreibmotivation Organisiert sich »Donovans Gehirn« nach dem konventionellen Gut-BöseMuster, so löst sich die Beziehungskonstellation dreier Protagonisten in »Zweimaltot« aus dem üblichen Dualismus des Krimischemas. Isoliert man die Gehirne von den Personen und schält sie aus dem literarischen Beiwerk heraus, um sie als die eigentlichen Protagonisten und als das reale Movens der Handlung zu denken, wird eine Erzählebene mit drei interagierenden Organismen erkennbar. Im Unterschied zu biologischen Symbiosen sind die drei Personen in psychische Abhängigkeiten verstrickt: Tina abhängig von Frank, später umgekehrt Frank von Tina, Christoph von Tina, wie auch hier umgekehrt Tina von Christoph. Frank, der berühmte Wissenschaftler, wählt Tina als Assistentin, Frank, auf sein frei gelegtes Gehirn reduziert, auf Leben und Tod von Tina, der behinderte, allein nicht lebensfähige Christoph von Tina, und sie wiederum als Zwillingsschwester abhängig von Christoph. Die psychologische Konstellation, dass es sich bei diesen Bindungen um destruktive Symbiosen handelt, wird manifest im Verhältnis Frank-Christoph, wenn das ursprüngliche Nichtverhältnis ausgehend von Christoph sich zur mörderischen Rivalität dramatisiert. Vielleicht ließe sich das sogar weit gehender dahin deuten, dass Christoph Frank nicht ausschließlich aus Eifersucht oder Verlustangst in jener kritischen Nacht überfällt, sondern aus der Ahnung, der Hirnforscher könnte seinem autistischen Gehirn zu nahe kommen und

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dessen neurophysiologische Verschlüsselungen knacken. Bei der zweiten Attacke liegt das Mordmotiv offener, weil Christoph als versteckter Zeuge die sexuelle Nötigung seiner Schwester miterlebt hat. Wie auch immer, das Gehirn Christoph fühlt sich vom Gehirn Frank abgestoßen und nicht angezogen wie das Gehirn Tina. Die erste symbiotische Beziehung wirkt im Hintergrund. Vorerst genügt die Information, dass Tinas Interesse an der Hirnforschung und ihr Wissen über das Gehirn dem Umgang mit ihrem Bruder verdankt. (Vgl. ebd. 129) Dabei lässt es der Autor bewenden, bis zu erfahren ist, dass es sich um ein Zwillingspaar handelt und dass die rätselhafte Diskrepanz zwischen ihren Gehirnen, die normalerweise einander signifikant ähneln, wenn nicht überhaupt gleichen müssten, die auf eine Behinderung zurückzuführen ist. Nachdem sie vorausgeschickt hat, dass »Christophs Welt nur aus dem Ich besteht«, beschreibt die Schwester körperliche Symptome wie »Spastik und Hypertonie, typisch für Menschen mit zerebraler Bewegungsstörung.« (Ebd. 161) Worin sich aber die Symbiose ihrer Gehirne manifestiert, liest sich ausführlicher. Sie erklärt sich das Unglück so: »Bevor wir geboren wurden, waren wir vereint auf engstem Raum. […] Zwei Seelen, eine Einheit. Und plötzlich schlägt das Schicksal zu. Eine einzige Zellteilung läuft schief, ein Gewebe entwickelt sich nicht richtig, ein Gewebe, aus dem sich später das Gehirn entwickeln wird. Der Spuk ist im Nu vorbei – und alles nimmt seinen normalen Lauf. Scheinbar. […] (A)ber der Fehler in den Zellen, die zum Gehirn auswachsen, der ist da und der wird bleiben.« (Ebd. 243) Dass dieses Zwillingsgehirn verschlossen bleibt, überkompensiert ihres bis an den Rand der Selbstverleugnung. »Wenn wir zusammen sind, ist es, als wäre ich er. Ich nehme die Welt auf zwei Kanälen wahr: auf meinem aufmerksamen, hochintelligenten und schnellen Kanal – und auf einem überreizten, überforderten und darum verstopften. […] Ich höre, was er zu sagen hat, bevor er auch nur den Mund auftut. Wenn ich mit ihm zusammen bin, läuft meine Hirnhälfte auf Hochtouren, die andere friert fast ein.« (Ebd. 200) Bis zu welchem Grad und ob die symbiotische Beziehung mit ihm wirklich biologisch und nicht biografisch bedingt ist, klärt sich nicht auf. Zumindest erfährt man, dass Tina nach dem Suizid der Mutter eine Verpflichtung in der Fürsorge für ihren Bruders gesehen hat. Analog dazu sich die Mensch-Computer-Beziehung durch den sukzessiven Abbau der Interfaces intensivierte, um von der Lochkarte über die Tastatur,

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die Touchscreen bis zur Augensteuerung (Eyetracking) eine symbiotische Einheit aus Gehirn und Elektronik herzustellen, entwirft der Roman zwei Zustände der Gleichschaltung von Gehirnen. Einerseits das mentale, das Identitätstilgende Einssein der Geschwister, auf der anderen Seite jedoch das genaue Gegenmodell in der technisch-klinischen Hochrüstung des Interfaces zwischen Tinas und Franks Gehirn. Eine andere Art der Entdifferenzierung entlädt sich gewaltsam, als gäbe es eine tiefere, soziale Ursache für Christophs Rivalität mit Frank, denn im Sonderstatus ihrer beiden Gehirne sind sie in ihrer vom Leben abgekoppelten Isoliertheit einander zu ähnlich. Konventioneller lässt sich zunächst Tinas Beziehung zu und mit Frank an. Die symbiotische Zusammenarbeit des Zweiergespanns im Labor steigert sich zu einer Liebesbeziehung, die selbst Koma und Tod nicht scheiden konnten. Das Gehirn Tina kämpft um den Zugang zu dem zwar ebenfalls und trotzdem anders als das Gehirn Christoph von ihr getrennte Gehirn Frank. Gegenüber jenem autistischen zeichnet sich letzteres durch die unbeirrbare Absicht aus, kommunizieren zu wollen. Die Skala der Ausdrucksmittel erweitert sich auf Dauer von der anfänglichen Minimalkommunikation mit Lidschlägen zur technischen Hochrüstung durch Neuroprothesen nebst des Soundprogramms, das die authentische Stimme reproduziert. Auch in dieser symbiotischen Beziehung herrscht ein Gefälle, indem das in seiner Nährlösung schwimmende Gehirn, um zu überleben kaum abhängiger sein könnte. Zudem ist dieses Bild übertragbar in eine Symbolik, nach der der Inkubator (= Brutkasten!) sich als ein technifiziertes Derivat des Uterus deuten lässt. Die ersten Zellen des Embryonengehirns kurzgeschlossen mit dem hochentwickeltsten Gehirn, diesem posthuman-körperlosen eines herausragenden Wissenschaftlers. Proto – post. Doch erweist sich diese Symbiose als erpresst. Würde Tina das wehrlose Gehirn Frank durch das Umlegen des Schalters auf »Off« töten, so verbreitete sich das Protokoll von Christophs Mordanschlag, das Frank für diesen Fall der Fälle in petto hat. In dieser Konstellation ist das Gehirn Tina das Zentrum. Es ist so stark, funktionstüchtig und tatkräftig, dass es in der Lage ist, gleich zwei, in jeder Hinsicht gegensätzliche Gehirne am Leben zu halten. Am Ende der Geschichte hat Tina Wissenschaft und Karriere aufgegeben. Als Mitinhaberin einer Firma für Neuroprothesen finanziell gesichert, führt sie mit Christoph eine Farm. Die Symbiose dauert fort, und Tina rechtfertigt ihre Entscheidung, dass sie den Bruder schützen müsse, aber die Vorzeichen sind umgekehrt, denn nicht er sei behindert, sondern er werde behindert durch Umwelt, Gesellschaft usw. Ihr Lebensthema Gehirn hat sich erledigt: »Bis vor

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Kurzem glaubte ich, das Paradies sei einzig und allein im eigenen Gehirn zu finden. Doch die letzten Wochen haben mir gezeigt, dass das Gehirn allein eben doch nicht alles ist. Zum Gehirn gehört ein Körper, ein ganzer Mensch. Und zu einem Menschen gehört die Umgebung, seine Mitmenschen.« (Ebd. 273) Klingt wunderbar versöhnlich, nach all den Argumentationen aber, die der Roman abarbeitet, ändert sich nichts an der Tatsache, dass es ungebrochen das Gehirn ist, das auch solche Statements abgibt. Mit dieser menschlich gemeinten Abschwörung jemandes, der/die sich von einer Sucht geheilt fühlt, öffnet sich ein neuer Horizont, der die Selbsterforschung des Gehirns verschiebt in Richtung Gesellschaft, Kollektiv, Herde. Diese Richtungsänderung zeigt lediglich, dass es nach seiner egomanen Selbstbespiegelung, die der Roman mit seiner Spielanordnung so differenziert darstellt, an der Zeit ist, endlich zu den Bindungsenergien zu kommen, und nicht zuletzt aus den gebotenen ethischen Gründen dem »sozialen Gehirn« (Moffett ebd. 64) das Wort zu reden. Die eine aus der Erzählung des Gehirns über sich selbst ist auszubalancieren mit der Romanebene Konstruktion der Charaktere, Menschen, der Gesellschaft, gesplittet vom ewigen Antagonismus zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Grenzen, Einzelgängertum und Kooperation, die ihrerseits stets situativ auszuhandeln sind. (Vgl. Moffett ebd. 538f) Gerät diese Balance aus dem Lot, warten Chaos und Massaker – eine Botschaft, die bereits die alten Mythen und Tragödien verbreiteten. Wo das Gehirn sich selbst als isoliertes neurophysiologisches Erkenntnisobjekt untersucht, muss es sich, um zu seiner gesellschaftsorientierten Programmierung vorzudringen, öffnen, nach außen wenden und von sich wegblicken. Erst über den heterogenen von den Sinnen gelieferten Stoff kann es herausfinden, wie es nicht-selbstbezügliche Informationen und Reize adaptiert, vor allem wie es den Körper zum Handeln mobilisiert. An dieser Differenz drängt nicht nur die Frage, wie es auf die Inputs der Sinnesdaten reagiert, sondern auch die Frage nach der Konnektivität – mit den Nächsten, seiner größeren Umgebung wie zuletzt auch seiner globalen Integriertheit. Für diese gesellschaftlichen Anschlüsse kursiert als das momentan griffigste Modell die Vernetzung. Eine brauchbare Metapher für Nahbeziehungen wie im gleichen für die weltweiten Interaktionen. Darüber hinaus bringt sie weitere bemerkenswerte Vorteile, indem sie für die Visualisierung der individuellen Beziehungen im Kleinen genauso taugt wie im Großen für die der Weltgesellschaft und außerdem ein Licht auf deren emergente Eigenschaften wirft. »Je tiefer wir in die Erforschung der sozialen Netzwerke vordrangen, umso mehr gelangten wir zu der Überzeugung, dass es sich um eine Art mensch-

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lichen Überorganismus handelt.« (Christakis/Fowler ebd. 15) Nicht genug damit überbrückt die Netzmetapher (zumindest tendenziell) Mikro und Makro, indem sie die endogenen Bedingungen des Gehirns und die gesellschaftlichen Prozesse analogisiert. »Genau wie unser Gehirn Dinge leistet, zu denen eine einzelne Nervenzelle nicht imstande ist, können Netzwerke Ziele verwirklichen, die die Fähigkeiten des Einzelnen übersteigen.« (Ebd.) Zum Nachweis, wie viel Umwelt und Gesellschaft, allgemein das Andere ausmachen, hat das Gehirn Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse hervorgebracht. Doch allein psychologisch erklärt sich die Energie, »Zweimaltot« zu schreiben, nicht. In der Widmung »Für Sebastian« unterrichtet Beat Glogger die Lesenden über seine Motivation. »An diesem Buch habe ich fast zehn Jahre gearbeitet. Es entstand in einer Zeit, in der ich sehr viel nachgedacht habe über das menschliche Gehirn, über das Bild, das jeder Mensch von sich selbst hat, und über meinen geistig behinderten Sohn. Das Schreiben hat mich während seines Erwachsenwerdens begleitet und über die Zeit hin, in der er sich vom Elternhaus abzulösen begann. Darum ist das Buch ihm gewidmet. Aber es ist kein Buch über ihn. Es ist ein Buch über mich.« (Ebd. 5) Bewegt sich der Blick von der Außenperspektive des Erzählers zur Selbstreflexion eines Gehirns, und ersetzt man das »Ich« des Autors durch »Gehirn«, dann lassen sich die betreffenden Sätze auch dahin lesen, dass das »menschliche Gehirn« über sich nachgedacht hat, wie auch, dass der Autor ein Buch anstatt, wie er es formuliert, weniger »über mich« als über »mein Gehirn« geschrieben hat. Insoweit die schwer oder kaum zugängliche Innenwelt seines autistischen Sohnes Sebastian den Anstoß gegeben hat zu jahrelangen neurophysiologischen Studien und zum Schreiben, und man in dem nicht gehandikapten Gehirn des Vater-Autors die treibende Kraft voraussetzt, dann nutzt dieses sprachbegabte Gehirn die autobiografischen Inskriptionen als Köder (um nicht zu sagen, es beutet sie aus), den Schreibimpuls in den universellen Kontext seiner Selbsterforschung umzuleiten. Bezeichnete man das Vorhaben als eine Herausforderung, wäre es keineswegs verfehlt, die Konstituenten des Begriffs »heraus« und »fordern« wieder zu trennen, wonach das adressierte Gehirn gefordert wäre herauszukommen aus seiner Zurückgezogenheit, Kontakt aufzunehmen, sich zu vergesellschaften. Oder eben umgekehrt, wie es der Roman durchvariiert, dass das Bindung suchende Gehirn zu dem verschlossenen Gehirn durchdringt, um anzudocken. Dieses notorisch aktive Gehirn heißt »Tina«. Als das überlegene Zwillingsgehirn bringt es jenen Überschuss ein, der den irreduziblen Mangel des Anderen kompensiert. Tinas individu-

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elles Gehirn entwickelt die Fähigkeit, ein zweites, retardiertes Gehirn in sich aufzunehmen. Nicht nur ist es fähig, durch diese Hybridisierung die Bedürfnisse und Kommunikation des Brudergehirns mitzudenken und zu antizipieren, sondern viel mehr noch regrediert es selbst zu der uterinen Verschmelzungsfantasie, um ihre Gefühle zu beschreiben, ein »Faust«-Zitat abwandelt: »Zwei Seelen, eine Einheit«. Das andere Gehirn in dem Spiel muss nicht herausgefordert werden. Es ist schon draußen, zumindest aus dem Körper. Auch verweigert es keine Kommunikation, sondern ganz im Gegenteil. Es erzwingt Kontakt und fordert jedes Hilfsmittel, das sein Vorhaben weiterbringt, denn schließlich hat es jene Neuroprothesen selbst entwickelt, die ihm in seinem neuen Zustand zur Hand gehen, um auf das zuarbeitende Gehirn Tina zuzugreifen. Es wird sich technisch erweitern, aufrüsten mit künstlichen Sinnen. Es wird Befehle erteilen, um seine Forschungen fortzusetzen. Es wird wenigstens vorläufig auch mit seiner »menschlichen« Beziehung zu und mit dem Gehirn Tina weitermachen. Der Kontrast könnte kaum größer sein als der zwischen den verschmelzenden Zwillingsgehirnen und dem cyborgisierten Organ mit hochkompliziertem Interface zwischen sich und Umwelt. Zwei Prinzipien oder Utopien kollidieren. Wo das in die Technik expandierende Gehirn Körper und Maschinen zu neuen Emergenzen switcht, strebt es danach, alle Schnittstellen auf null zu bringen. Die Rechner-User-Geschichte von der Lochkarte über die direkt bedienbare Benutzeroberfläche bis zum Ideal der interface-freien Interaktion mit dem Computer zeigt, « […] dass es bei genauer Betrachtung dieses Prozesses eigentlich immer nur darum geht, die Barrieren zwischen Anwender und Rechner aufzuheben.« (Rheingold 1992: 198) Ohne Übertragungsverlust lassen sich diese Tendenzen der Interaktion mit »Elektronengehirnen« (so die einstige anthropomorphe Metapher für Computer) auch auf die Konnektivität menschlicher Gehirne übertragen. Was zwar für eine Vereinigung zweier oder mehrerer fleischlicher Gehirne medizinisch kaum noch zu realisieren ist, das kündigt sich jedoch an in der telekommunikativen Vernetzung zu einem universellen Weltgehirn, wie es Propheten des Silicon Valley proklamieren. In solchen Utopien mag sich die in Hysterie der sich immer nur momentartig zu einem Körper vereinigenden Menschenmassen transzendieren, während sich zumindest in der Fiktion die absolut entgrenzte Konnektivität in Gestalt der verschmolzenen Zwillingsgehirne erfüllt. Zwei Utopien gegeneinandergestellt: Das transhumanfreischwebende Gehirn, das einen obsoleten, weil anfälligen Körper durch perfekte Prothesen substituiert, die ihrerseits der Tendenz widersprechen, die

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Interfaces abzubauen, und dazu in Opposition der Verschmelzungswunsch, die Einswerdung des Fleisches, dem Einssein zweier Menschen, wie es diese Verse der romantischen Liebeslyrik beschwören: »Eins in Zwei zu sein, Eins im Andern sich zu finden, Dass der Zweiheit Grenzen schwinden« In einer Mainstream-Fiktion darf es aber nur eines geben, darf nur eines überleben: Das ist nicht das Gehirn im Tank.

Züchtung echt Wohl mit der Absicht, die Evolution weiter zu denken, leitet der Journalist Michael Lange seinen Artikel »Mini-Gehirne aus Stammzellen« (Lange 2019) über die Züchtung sogenannter Organoide mit dem Motto ein »We like the idea of cells organize themselves.« Das von einem ungenannten Autor übernommene Zitat lässt sich ohne Übertragungsverlust zu einer (verständlichen) Äußerung des Gehirns konvertieren, sobald man anstatt des Plurals »We« den Singular »I« an die Subjektstelle setzt. Im Vorspann eines Interviews bemerkt der Autor, dass es »wirklich menschliche Gehirne ohne Menschen« gebe. Als seinen Interviewpartner stellt er Michael Heide vor, der am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden an zerebralen Organoiden forscht. Im Gespräch wird die Vorgehensweise erläutert wie auch in populärwissenschaftlicher Diktion das äußere Erscheinungsbild der zellularen Objekte eingehend beschreibt, wie diese konkret, d.h., fleischlich aussehen. Die allgemeinen Voraussetzungen liefern die Stammzellenexperimente, bei denen in Petrischalen in einem Inkubator (37º C Umgebung wie Körpertemperatur) extrem miniaturisierte Modelle innerer Organe wie Herz, Nieren oder Darm gezüchtet werden. Dass dabei besonderes Augenmerk den Fortschritten bei den sich selbst reproduzierenden Zellgeweben des Gehirns gilt, liegt nahe. »Erstaunliche Fortschritte gelangen bei den komplexen Strukturen des Gehirns. Solche zerebrale Organoide modellieren Großhirnrinde, Hippocampus, Mittelhirn, Hypothalamus, Kleinhirn, vordere Hypophyse und Augennetzhaut des Menschen, von Säugern, seltener von anderen Wirbeltieren.« (Wikipedia: Organoid) Der in der Verschriftlichung des Gesprächs sich als »Autor« ausweisende Michael Lange bekundet, menschliche Gehirne nur von Bildern oder aus Fil-

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men zu kennen: »Mein eigenes Gehirn habe ich noch nie gesehen. Wie auch?«, (Lange ebd.) eine Bemerkung, die auf die bereits mehrfach erörterte Visualität hindeutet. In der Tat gibt der Autor den Lesenden zu sehen. Zunächst werden die populärwissenschaftlich als »Minigehirne« apostrophierten Organoide als im Nährmedium einer rötlichen Suppe schwimmenden »kleine weiße Punkte« vergegenwärtigt. Ihr momentaner Durchmesser beträgt ein, zwei Millimeter, was sich auswachsen wird bis zu maximal fünf Millimetern Erbsengröße, eine Information, die dem Autor das Wort »Erbsengehirn« einzugeben scheint. Weil die heranwachsenden Zellkulturen nicht größer sind als Stecknadelköpfe, müssen sie unters Mikroskop. Weißlich trüb schwimmen sie in einer rosa Flüssigkeit. In dieser Vergrößerung entfalten sie »[…] ihre Schönheit. Da erscheinen sie unregelmäßig geformt, fast wie Wolken oder im Wasser treibende Flocken.« In Prosa indessen gibt es über das Organoid letztlich kaum Spektakuläreres zu berichten, als dass es sich um einen kleinen Klumpen mit helleren Zonen handelt, den sogenannten Ventrikeln, die die neuronalen Stammzellen enthalten. Als Substanz braucht es dafür nur einfache Blut- oder Hautzellen, die nach künstlicher Verjüngung zu vielseitigen Stammzellen umdesignt werden. Aus diesen entwickeln sich die Gehirnzellen, wenngleich, verglichen mit einem funktionstüchtigen menschlichen Gehirn, nur auf rudimentärstem Niveau. Der Leiter der Arbeitsgruppe Wieland Huttner sorgt stets für Nachschub von Zellmaterial. Um sich daran anzunähern, wie sich in der Evolution das menschliche Gehirn entwickelt hat. Um in die »Urzeit des Denkens« vorzustoßen, verwendet Huttner meistens nur wenige Zellen aus dem Blut, das im Zoo anfällt bei den Gesundheitschecks von Schimpansen und Orang-Utans. Die Zellen »[…] kann man reprogrammieren in der Regel zu pluripotenten Stammzellen wie wir sagen, aus denen man dann Organoide wachsen lassen kann.« Allenthalben Primaten: Ein Kapuzineräffchen, der hochbegabte Schimpanse Billy und Orang-Utans in echt. Die im Unterschied zu den menschlichen leichter verfügbaren Affenhirne als Organ- oder Stammzellenlieferanten dienen dem Gehirn aufgrund gewisser Ähnlichkeiten dazu, in seine eigene Naturgeschichte zurückzublicken. Die im Dresdner Labor heranwachsenden MiniAffen-Hirne und Mini-Menschen-Hirne entwickeln Nerven- oder andere Gehirnzellen. Bei den Organoiden, »[…] die etwas länger in der Kultur sind und etwas mehr Nervenzellen gebildet haben, verknüpfen sich die Nervenzellen mit so genannten Synapsen. Und man kann elektrisch von diesen Nervenzellen ableiten und kann zeigen, dass die Nervenzellen elektrische Aktivität haben.« Diese Aktivitäten entsprechen denen im ausgebildeten Gehirn, woran

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es noch mangelt, ist die schichtweise Struktur der Nervenzellen, wie sie in der Großhirnrinde angeordnet ist. Bei einer Kapazität von zwei bis drei Millionen Neuronen gibt es, auch wenn man sie »Mini-Gehirne« nennt, noch viel zu relativieren: »Aber eigentlich ist es nicht wirklich ein Gehirn. Es ist eher ein Gewebeverband, der neuronales Gewebe nachstellt.« Unberücksichtigt der Materialien, Substanzen, Werkstoffe – prinzipiell holistischer Einheiten, mit denen Menschen hantieren, aus denen sie etwas herstellen und die sie erforschen, haben analytische Operationen (in Theorie und Praxis) solche Erfolge gezeitigt, dass man ihnen für die Entwicklung der Menschheit eine geradezu naturhafte, evolutionäre Signifikanz zuschreiben muss. Einheiten werden zerlegt, zergliedert, aufgespalten, fragmentiert in immer kleinere Elemente, um zuletzt als isolierte (ehemalige) Bestandteile als, aus ihrer ursprünglichen Konsistenz frei gesetzte, neue nabhängige Objekte verfügbar geworden zu sein, damit sie sich neu kombinieren und gegebenenfalls erweitern lassen. Als ein evidentes Beispiel ließe sich ein Baukastensystem vorstellen, in dem sich nach der vorgeschalteten analytischen Organisation das Gesetz der zunehmenden Disponibilität der dienstbar gemachten Objekte wie auch der kulturellen Formen versinnbildlicht. Diese tendenziell bis jenseits atomarer Größenordnungen iterierende Elementarisierung physischer Erkenntnisobjekte wird bei Biomasse besonders deutlich. Mit der zunehmenden Verfeinerung des Mikroskops bis zu einem elektronischen Instrument lässt sich die Verkleinerung des Erkenntnisobjekts über Einblicke in das Zellmaterial soweit vorantreiben, dass mit der Erfassung von Molekülen die Gene sich als kleinstmögliche Einheiten bearbeiten und manipulieren lassen, um von da an zum disponiblen Material werden. Insofern geht es der Forschung vorerst nicht primär um die Möglichkeit einer exakten Nachbildung des Gehirns, sondern zu erfahren, was das Gehirn zum Wachsen bringt: »Organoide sind keine Gehirne, aber gehirnähnlich. […] Die Wissenschaftler in Dresden interessieren sich vor allem für die Erbanlagen in den Organoiden. Sie suchen nach Genen, die das Gehirn aufbauen.« Einmal identifiziert, lässt sich ein menschliches Gen isolieren und zum Beispiel feststellen, dass es nach einer Verpflanzung ein Mäusehirn zum Wachsen bringt. Oder »[…] (e)in solches menschenspezifisches Gen in ein Schimpansen-Organoid hineinzubringen, um zu gucken, was jetzt beim Schimpansen-Organoid besser läuft.« Die wichtigste Frage für Michael Lange wohl auch in Hinsicht auf die eher als laienhaft einzustufenden Adressaten seines Artikels richtet sich darauf, ob Organoide denken können. Um das zu beantworten, interviewt er

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Barbara Treutle, auch an einem Max-Planck-Institut, aber in Leipzig. Die Wissenschaftlerin untersucht das »Innenleben« von Organoiden. Dafür »[…] benutzt sie eine ausgetüftelte Methode, genannt Einzel-Zell-Genomik. […] Diese Methode erlaubt, in einzelnen Zellen zu schauen: Diese Gene sind im Moment eingeschaltet. Dann weiß man: Was für Typen von Zellen sind in dem Organoid zu finden. Und in was für Stadien befinden sich diese Zellen gerade? Welche Zellen teilen sich in dem Moment? Sind die Neuronen aktiv oder nicht? Was für verschiedene Gehirnregionen bilden sich aus? Man kann sehr viele Informationen diesen Experimenten entnehmen.« Unter dem Mikroskop lassen sich Hohlräume (Ventrikel) erkennen. Das sind bereits Formveränderungen in Richtung menschliches Gehirn. Doch allein die Tatsache, dass die Neuronen durch zufällige Signale austesten, ob sie sich mit anderen Neuronen verbinden können, buchstäblich miteinander kommunizieren, ist allerdings noch weit weg von der Perspektive, dass Organoide denken. Einen anderen Ansatz, Replikanten von sich zu züchten, bietet die Rückschau in die eigene Historie, die plötzlich erfahrbare Erinnerung an die Geschichte des genetischen Wachstums bis zum Gehirnvolumen des homo sapiens. Im selben Institut entwickelt Gray Camp ein Verfahren, Gehirn-Organoide zu »neandertalisieren«: »Mit einer Genschere manipulieren wir einzelne Positionen im Erbgut der Zellen – genau an den Stellen, wo sich Homo sapiens und Neandertaler unterscheiden. Und zwar so, dass einige Gene im Homo-sapiens-Organoid ähnlich aussehen wie bei Neandertalern.« Für die notwendigen Gene genügt das Wissen von der Beschaffenheit jener NeandertalerGene, die noch in der DNA des heutigen Menschen eingeschrieben sind. Resultat: »Keines der Gene, die für den Aufbau des Gehirns zuständig sind, stammt vom Neandertaler«, was der Autor nicht frei von Euphorie kommentiert: »Unser wunderbares Gehirn haben wir anscheinend nicht von den Neandertalern, sondern von anderen Vorfahren. Wahrscheinlich vom Homo sapiens, der viel später aus Afrika kam als der Neandertaler.« Die wie ein Limit erreichende Reduktion allen Fleischlichen durch die Isolation der DNA erweitert die biotechnische Disponibilität in ungeahnte Dimensionen. Das zweckmäßigste Verfahren ist die von Camp angewandte Genschere, abgekürzt CRISPR (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats), das die Chemie-Nobelpreisträgerinnen von 2020, die französische Biologin Emmanuelle Charpentier und ihre amerikanische Kollegin Jennifer Doudna 2012 entdeckt haben, als ihnen ein Abwehrmechanismus von Bakteri-

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en auffiel, nämlich »[…] ein Molekül, das wie eine Art Schere funktioniert und Erbmaterial mit zuvor unerreichter Genauigkeit manipulieren kann.« Die progredierende Disponibilität dieses »mächtigen Werkzeugs, das die Forscher aufjubeln lässt«, beschreibt Annika Erbach: »Mit Crispr lässt sich DNA gezielt schneiden und verändern. Gene können eingefügt, entfernt oder ausgeschaltet werden. Das funktioniert bei einzelnen Basen und ganzen Genabschnitten, auch an mehreren Stellen zugleich.« (Wikipedia: Genschere) Das semantische Inventar zur Beschreibung der DNA stellt die Informationstheorie zur Verfügung mit Begriffen wie Erbinformation, Informationsspeicher, Kode, Kodierung, Buchstabenketten, Transkription, außerdem wird die Doppelhelix auch als Molekülkette bezeichnet. Entsprechend dieser Metapher bilden die syntagmatisch verbundenen Glieder einer Kette ein verallgemeinertes Modell einer Grammatik, die aufgrund der beliebigen Kombinierbarkeit ihrer Elemente ein hochgradig disponibles System darstellt. Setzte man zum Beispiel die Struktur der DNA mit der Struktur einer Sprache gleich, dann wären die einzelnen Molekülen Bedeutungsträger, deren Informationsgehalt die semantische Ebene abdeckte, während die Verknüpfungsregeln (etwa das System der Doppelbasen) einer Grammatik gleichzusetzen wären. Analog zu dem linguistischen Verfahren, Sprachkorpora zu segmentieren, lässt sich auch die DNA sequenzieren nach verschiedenen gentechnischen Praktiken, die sich ihrerseits darauf gründen, dass isolierte, d.h., aus dem Genom herausgetrennte oder herausgeschnittene Sequenzen bewegt werden. Sie lassen sich an anderen Stellen in die DNA wieder einsetzen, sich klonen, umbauen, kombinieren, rekombinieren oder deaktivieren, wobei letzteres auf die Sprache übertragen, durchstreichen bedeutete. Das wichtigste, brisanteste Potenzial jedoch erschließt sich mit dem Transfer von Gensequenzen von einem Organismus in einen anderen: das Maximum dessen, was unter zunehmender Disponibilität zu verstehen ist. In durchaus absehbarer Zeit eröffnet das Aussichten, nicht nur in die Biologie des Planeten einzugreifen, sondern diese auch fundamental zu verändern, per Gen-Design neue Spezies zu erschaffen oder ausgestorbene zurückzuzüchten, am extremsten jedoch, die Biologie des Menschen in eine manipulierbare Masse zu verwandeln. Mit der Genschere verfügen Techniker jedenfalls über ein praxistaugliches Instrumentarium. In 40facher Vergrößerung zeichnen sich bei einem schonenderen Verfahren, Stammzellen zum Wachsen anzuregen, an den Organoiden bereits Ausstülpungen ab, die sich als zwei Augen und eine Nase identifizieren lassen. Während das nasenartige Gebilde ein funktionsloses Zufallsprodukt ist, handelt es sich bei den »Augen« tatsächlich um Netzhautgewebe, wie es sich beim

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Embryo direkt aus dem Gehirn entwickelt. Als Netzhaut mit Fotorezeptoren erkennt das Gewebe Licht. Die Reise geht weiter nach Münster zum nächsten Max-Planck-Institut. Für die Erforschung von Krankheiten des erwachsenen Gehirns benötigen die Wissenschaftler sehr viele Organoide. Darum lassen sie Roboter für sich arbeiten. Über Platten mit verschiedenen Vertiefungen bewegt sich eine Pipette, die alle zwei Tage die Nährlösung erneuert. Der Stammzellenforscher beschreibt die Bedeutung von Robotern für das Projekt: »Der Roboter hat viele Vorteile für uns. Einmal können wir damit verschiedene Organoide herstellen. Das sind mit jedem Schwung 96 Stück auf einmal. Und das viel Wichtigere dabei ist, dass der Roboter das sehr standardisiert macht. Das heißt, er macht dieselben Bewegungen immer in der gleichen Geschwindigkeit auf die gleiche Art und setzt die Zellen immer der gleichen Bewegung aus.« Diese technische Erweiterung könnte bereits der Anfang der industriellen Massenproduktion von Organoiden sein. Mit der Verpflanzung von Menschenorganoiden in Mäuse mit der Perspektive, das auch mit anderen Tieren zu praktizieren, evoziert Bilder von Monstrosität, auch wenn die Wissenschaftler nicht erwarten, dass ein Mäusegehirn menschenähnlicher würde. Das Hauptproblem, das unter anderem die Debatten um den Transhumanismus bestimmt, ist das der Grenzen wie in dem Fall zwischen Mensch und KI-Maschinen und speziell in der Organoid-Forschung, der Grenzen zwischen Biomasse und Gehirn, Mensch und Tier, Menschen- und Tiergehirn, was Michael Lange zu der Schlussbemerkung veranlasst: »Die Wissenschaftler erklären es so: Genetisch gesehen handelt es sich um Zellen zweier verschiedener Spezies. Das Gehirn jedoch ist eine Einheit. Ein Netzwerk, das nach Mäuse-Regeln arbeitet, mit einem Mäuse-Bewusstsein. Wo hört der Gewebeklumpen auf und wo fängt das Gehirn an? Wo oder wann beginnt der Mensch? Und darf man Gehirngewebe einfach so verpflanzen wie eine Leber? Die Mediziner warten ab. Die Verpflanzung von Gehirn-Organoiden zur Behandlung von Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson ist bislang nicht geplant. Vielleicht müssen wir uns verabschieden von der Vorstellung, dass hinter einem Gehirn immer ein eigenes Bewusstsein steckt, ein Individuum. So wie Herztransplantationen das Bild vom ›Herzen des Menschen‹ verändert haben. Gehirnartige Strukturen oder Mini-Gehirne sind keine Menschen. Und dennoch bin ich überzeugt: Es gibt eine Grenze. Dinge, die wir mit Gehirnen nicht machen sollten.«

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Wieder bremst das soziale Gehirn (social brain) den evolutionären Elan der Selbsterkenntnis, deren Unbedingtheit sich in einem (nicht ausgewiesenen) Zitat zu Anfang des Artikels ausdrückt: »Es ist absolut faszinierend zu sehen, wie der Überlebenswille dieser Zellen sie dazu treibt, gewebeähnliche Strukturen aufzubauen.« Selbst wenn die zerebralen Organoide erst am Ausgangspunkt ihrer Evolution stehen, geben sie doch Anlass für konfliktträchtige Gedankenspiele. Darum »[…] hat eine Gruppe namhafter Bioethiker und Neurowissenschaftler einen Aufruf in der Fachzeitschrift ›Nature‹ veröffentlicht, in dem sie eine Debatte über die Fortschritte bei der Zucht von menschlichem Hirngewebe einfordern. […] Bisher schließen die Autoren des ›Nature‹-Kommentars aus, dass solche rudimentären Minigehirne denken, fühlen oder empfinden können. Doch die Fortschritte sind rasant. Schon wurden in einigen Labors menschliche Hirn-Organoide in Rattengehirne verpflanzt, wo sie sich offenbar gut integrierten. Auch die Zucht von Neurogewebe mit Blutgefäßen ist bereits gelungen. Das könnte es möglich machen, auch größere Organoide herzustellen. Und was, wenn sich dabei irgendwann doch so etwas wie Bewusstsein in einem solchen künstlich erzeugten Gebilde regt? Und falls ja, was würde dies bedeuten? Noch sei es sehr früh, solche Fragen zu stellen, meint Steven Hyman von der Harvard-Universität. Er habe deshalb anfangs gezögert, seine Unterschrift unter den ›Nature‹-Aufruf zu setzen. Schließlich sei der Weg von einem stecknadelkopfgroßen Organoid bis zu einem empfindungsfähigen Organ noch sehr weit.« (Grolle 2018) Vergleicht man das isolierte Schweinegehirn mit der Züchtung zerebraler Organoiden, enthüllt sich die mehr als rein methodologische Opposition von Analyse und Synthese. En détail: von Öffnen, Sektion, Zerlegen oder Verletzen, Zerstören, Töten versus Kreieren, Aufbauen, Leben züchten. Die Entdeckung, dass Pflanzen und Tiere sich relativ einfach verändern lassen, brachten mit der Sesshaftigkeit im Neolithikum den bedeutendsten Schub der Naturbeherrschung. Während bei der Züchtung von Pflanzen und Tieren, die früher hauptsächlich Nahrungszwecken, bisweilen auch dem Luxus diente, Lebewesen als Sachen behandelt wurden, sind Projekte, Menschen zu züchten von anderer Qualität. Kein Zufall ist es sicher, dass für die zielgerichteten Eingriffe in die Natur schon ein reichhaltiges Lexikon einschlägiger Begriffe zur Verfügung steht: Hybridisierung, Mutation, Korrektur, Veredelung, Steigerung sprechen gleichzeitig von der Distanz zu den zu optimierenden Organismen,

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sobald deren natürlicher Status sich auf die Planungsstufe zu kultivierender Objekte verschiebt. Der Wendepunkt wäre festzumachen, als das Gehirn die Möglichkeiten der von ihm geschaffenen empirischen Methoden für sich selbst erkennt, auf sich selbst anwendet und sich selbst an die Stelle der erprobten Objekte setzt, um genau wie sie zu einem modifizierbaren – züchtbaren – Korpus zu werden. Nun ist bei der Zucht das Gehirn nicht mehr »allein« mit sich, sondern Akteur in dem dualistischen Gefälle aus untersuchendem Gehirn und untersuchtem Gehirn. Nicht zuletzt ist es diese Subjekt-Objekt-Beziehung, die jene bedenkentragenden Wissenschaftler beunruhigt, weil mit der zwar bisher nur vage zu erwartenden biologischen Veränderung des Gehirns die Gattung Mensch insgesamt in Bewegung gerät, was seinerseits alle Implikationen des Gattungsbegriffs mit sich zieht. Gehirnzüchtung ist synonym mit Menschenzucht. Ab da, wo mit der biologischen Optimierung die Zucht der menschlichen Gattung als solcher sich als Projekt abzeichnet, wird die Lage unübersichtlich. Für den vorliegenden Zusammenhang wäre vorauszuschicken, dass vor allem in Deutschland das Thema nach wie vor in Verbindung gebracht wird mit dem Menschenzuchtprogramm des Dritten Reiches. Um die SS-Institution »Lebensborn« ideologisch zu überhöhen, instrumentalisierten die Initiatoren Nietzsches Fantasien über Zucht. Wohlweislich hatte man dabei ignoriert, dass der Philosoph des 19. Jahrhunderts eine »Erhöhung« des Menschen im Sinn einer Darwin’schen Weiterentwicklung der Spezies bezweifelte, (Schank 2000: 16f) wie er für seinen Zuchtbegriff ohnehin die Semantik seiner Epoche adaptierte. »Diese ›Züchtung‹ läuft, wie Nietzsche dann darlegt, auf die Herausbildung einer ›aristokratischen Moral‹ hinaus. Es geht also um ›Erziehung‹: um die Pflege und Weitergabe der ›Tugenden‹ einer ›aristokratischen Moral‹.« (Ebd. 341) Mit zahlreichen relevanten Belegstellen zeigt Gerd Schank, dass Nietzsche »[…] also offensichtlich zu dem älteren Sprachgebrach (neigt), bei dem – in Bezug auf den Menschen – ›erziehen, lehren, bilden‹ im Mittelpunkt steht.« (Ebd. 337) Das Vorhaben die Gattung als Ganze umzuzüchten, setzt ziemlich hoch an. Konkreter wäre da eine Gesellschaft anzunehmen, denn da wäre mit politischer Koordination und bürokratischen Maßnahmen die Regulierung der Fortpflanzungspraktiken durchzusetzen. Das war in Platons »Staat« vorgesehen: »Es müssen […] die besten Männer den besten Weibern möglichst oft beiwohnen, und die schlechtesten Männer den schlechtesten Weibern möglichst selten, und die Kinder der einen muss man aufziehen, die andern aber nicht, wenn die Herde möglichst vorzüglich sein soll.« (zit. bei Lorenz 2018: 7) Al-

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lein die Gleichsetzung von Gesellschaft und »Herde« belegt den Erfahrungstransfer aus der Tier- und Pflanzenzucht. Dem neolithischen Menschen ist der Sprung aus der Anpassung an die Natur gelungen, als dessen Konsequenz die Verhältnisse sich umgekehrt haben, indem die Natur nämlich dem Menschen angepasst wurde. Als färbte wie einmal in einem Werbespot das Chamäleon sich nicht nach seiner Umgebung ein, sondern dass es seine Umgebung mit seinen eigenen Farben flutete. Die Anfänge der Haustier- und Pflanzenzucht im Neolithikum übersteigt die bloße Naturbeherrschung, als die Hybridisierung von Belebtem der Welt oder – emphatischer – der Schöpfung etwas Neues hinzufügt und die Natur um kulturelle Produkte erweitert. Neben der Industrialisierung und der Digitalisierung bleibt die Reproduktion des Lebens durch Züchtungen nach wie vor die erfolgreichste Leistung des Menschen. Darum überrascht es nicht, wenn, wie bei Platon gelesen, bereits in der Antike erste Ideen aufkommen, dass, was mit der Kultivierung von Tieren und Pflanzen so eindrucksvoll klappt, auch am Menschen funktionieren müsste. Mit genaueren Vorstellungen als Platon »[…] hatten sich bereits Hippokrates, Empedokles und Aristoteles intensiv mit der Rolle von väterlichen und mütterlichen Samen bei der Zeugung und mit den von den elterlichen individuellen Säfteverhältnissen abgeleiteten Temperamenten […] befasst. Selektive Tierzucht wurde ebenfalls längst praktiziert […]. Denn Menschen seien in Analogie zu Nutztieren zu züchten wie Jagdhunde, Pferde und Geflügel.« (Ebd. 26) Mit der Etablierung der Stadtstaaten als hochkomplexe Verwaltungseinheiten antizipierten in der Renaissance zunächst nur utopische, teilweise auch satirische Schriften biopolitische Maßnahmen zur gesundheitlichen Homogenisierung der Gesellschaft. Unter dem Aspekt des Gemeinwohls galt die Aufmerksamkeit auch der Volksgesundheit, derentwegen besonders die Geburt missgebildeter Kinder verhindert werden sollte. Nach den Fantasien, die sich auf dieser Negativfolie der Missbildung entwickelten, sollte der gesamte Fortpflanzungskomplex obrigkeitlich reglementiert werden: Von der Auswahl der Partner nach definiert-positiven Eigenschaften über Beischlafpraktiken bis zur Berechnung der Empfängnis. Mit dieser Entindividualisierung der Liebe und Sexualität hat man das »Qualitätsmanagement bei der Fortpflanzung« schnell verallgemeinert und positiv konnotiert. »Die Verbesserung der ›Menschenrasse‹ war das explizite Zuchtziel, weshalb auch die Neugeborenen in behördlichen Anstalten aufgezogen werden sollten […].« (Ebd. 38) Die »Qualität« der Kinder wurde zum Kriterium »strahlender glücklicher Gesellschaften« erklärt von dem Dominikanermönch Tommaso Campanella (1568–1639), dem englischen Philosophen Francis Bacon (1561–1626) oder Thomas Morus. Mit

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der Überwindung kirchlicher Verdikte durch die Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Methoden der Antike leitete die Renaissance eine neue Epoche ein. »Sämtliche Tabus in Bezug auf Leben und Tod wurden hinterfragt. Die Machbarkeit wurde zum Primat des Denkens und Tuns. Es galt nicht mehr der begrenzte Spielraum der Passfähigkeit in die Welt der katholischen Normen und Denkverbote.« (Ebd. 34) Diese frühen Diskurse »[…] wirken wie ›Testballons‹, mit denen die Autoren auszuprobieren schienen, was sagbar war bzw. was bei den staatlichen Zensurbehörden gerade so noch durchging. So ließen sich langsam Grenzen des Denkbaren verschieben […].« (Ebd. 42) Bis die riskanten Inhalte dieser »Testballons« verpufft waren, und man eugenische Konzepte, die die Volksgesundheit nun ausschließlich an der Vermeidung von »Missgeburten« festmachten, realpolitisch umsetzen konnte, dauerte es bis ins 19. Jahrhundert, als man begann, Darwins Vererbungslehre praktisch anzuwenden. Dem vorausgegangen, markierte das »slave breeding« bereits die besonders zynische Variante, dernach amerikanische Plantagenbesitzer nach dem Verbot Sklaven zu importieren durch bewusste Zucht den nationalen Nachschub an Auszubeutenden zu sichern. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass man vor allem wirtschaftliche Ziele verfolgte, welch seit dem Utilitarismus und der Durchsetzung des Kapitalismus Menschenzuchtsprojekte motivierten. »Indem gezielt gezeugte Menschen schon bei der Geburt als ›human assets‹, als kapitale Wette auf die Zukunft betrachtet wurden, zeigt sich, wie sehr nicht nur die allgemeine Bevölkerungspolitik, sondern sogar die konkrete Menschenzucht v.a. ein ökonomisch relevantes Thema darstellte.« (Ebd. 22) Ein derartiges gesellschaftliche Gefälle kennzeichnet alle Zuchtvorhaben, denn in der Regel lieferten die verelendeten und »unrettbar degenerierten« Unterschichten die notwendige Ressource. Während diese Bevölkerung per Eugenik auf Dauer »auszuzüchten« war, sollten sich naturgemäß am entgegengesetzten Pol Eliten herausmendeln. Elitengehirne pflanzen sich fort. Erwägungen, Fantasien, Pläne und Vorschläge, wie Menschen sich züchten ließen, sind mithin so alt wie die Zivilisation. Nur: Wie Nutztiere und -pflanzen sich scheinbar umstandslos kreuzen lassen, funktioniert bei Menschen nicht. Nachweislich sind diese viel zu different, die Individuen zu spezialisiert, als dass Kombinationen von Eigenschaften kalkulierbar wären, zu undurchschaubar ebenfalls die Interferenzen zwischen Gehirn und Körper. Dass am Projekt der Menschenzucht das Gehirn scheitern muss, indem die Fortpflanzung der Spezies sich nicht regulierbar ist, lässt darauf schließen, dass zwei zerebrale Überlebenskonzepte einander in die Quere geraten:

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Einerseits das singuläre Gehirn auf dem »rücksichtslosen« Trip seiner Selbsterforschung, um getrennt vom Körper, nicht nur zu überleben, sondern sich gleich zu einem Superorganismus aufzutunen, andererseits der Überlebenswillen des phylogenetisch programmierten Kollektiv-Gehirns. Letzteres der Grund, dass die zentrovertierte Selbstzüchtung des Gehirns zum Thema biopolitischer Diskurse wird und von da zum Gegenstand der demographischer Tagespolitik. Viel zu viele Gehirne, überfordert, sich zu koordinieren. Und doch ist das Zuchtprojekt keineswegs aufgegeben. Die Entwicklung der Labortechnik ermöglicht, anstatt bei Massengehirnen auf der zellulären Mikroebene neu zu starten. Ein dritter, ganzheitlich ansetzender Zugang des Gehirns zu sich selbst über das integrierte, in sich geschlossene Individuum ist perspektivlos. Ein Verfahren, die Gesellschaft zu steuern und zu manipulieren über Rückschlüsse auf Erbanlagen, hat sich (bisher) als nicht praktizierbar erwiesen, sodass außer den analytischen Methoden der Sektion einschließlich der tomographischen Introspektion und dem künstlich initiierten Wachstum von Zellverbänden momentan kein dritter Typ möglich erscheint. Dieser Exkurs über die Geschichte der Menschenzüchtung wäre insofern in Parenthese zu setzen, als es sich um ein rein kollektivistisches, darum viel weiter gespanntes, nämlich ein »Herden«-Projekt des Gehirns handelt, als das Ziel, sich »nur« vom Körper zu befreien.

Ultimatives Stadium »Im Augenblick werden diese Zellen in klassischer 2D-Kultur hergestellt, und Organoide erlauben es uns nun, diese Zellen dreidimensional herzustellen, was eine unglaubliche Verbesserung ist […]«, sagt Jürgen Knoblich vom Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA). (Knoblich youtube: Min. 3.35) Mit den 2D-Zellen sind Stammzellen gemeint, von denen die Organoide sich durch ihre räumliche Expansion unterscheiden. Ebenfalls auf eine Unterscheidung von 2D und 3D hebt das Buch-Cover ab, das der KiWi-Verlag für Ray Kurzweils »Die Intelligenz der Evolution« designt hat. Von den zwei von oben in einfachster Graphik dargestellten Hirnhälften wirkt die linke räumlich, während in denselben geometrisch abgespiegelten Konturen der rechten Hemisphäre anstelle der Faltungslinien Leiterbahnen und Lötstopps nach Vorbild einer Computerplatine zu 2D verflacht sind. Dieses Coverdesign verdichtet Kurzweils Argumentation, als das Buch allgemein die Technik als Fortsetzung der organischen Evolution beschreibt und

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gemäß dem Untertitel »Wenn Mensch und Computer verschmelzen« sich speziell mit dem Gehirn beschäftigt. Was dessen Selbsterkenntnis betrifft, liest sich Kurzweils Buch als ein vielversprechendes Reservoir von Einsichten, unter denen sich auch Hinweise auf die Selbstreferentialität des Gehirns finden. Eins der Kapitelmotti zitiert Max Planck: »Die Naturwissenschaft kann das letzte Mysterium der Natur nicht lösen, denn letztlich sind wir ja ein Teil jenes Mysteriums, das wir zu lüften versuchen.« (Kurzweil ebd. 98) Nun ist der wissenschaftstheoretische Einwand nicht neu, dass das erkennende Subjekt das Objekt der Erkenntnis nach seinen Gesetzen immer schon formatiert, präziser wird der Einwand, wenn er die Möglichkeiten der Selbsterkenntnis des Gehirns anzweifelt, wie z.B. der KI-Forscher Douglas Hofstadter sinniert, es könne »[ …] doch einfach ein verhängnisvolles Missgeschick sein, dass unsere Gehirne zu schwach sind, um sich selbst zu begreifen.« (Hofstadter zit. ebd. 107) Detaillierter, weil Ergebnisse der Hirnforschung heranziehend, befinden Minsky/Papert, dass das menschliche Gehirn »[…] aus einer großen Anzahl relativ kleiner verteilter Systeme (besteht), die schon im Embryo eine komplexe Gesellschaft bilden, die zum Teil (aber nur zum Teil) von seriellen symbolischen Systemen gesteuert wird, die später hinzukommen. […] Aber die subsymbolischen Systeme, die untergründig den größten Teil der Arbeit leisten, müssen verhindern, gerade aufgrund ihres ureigenen Charakters, dass alle anderen Teile des Gehirns viel über ihre Funktionsweise erfahren.« (Minsky/Papert zit. ebd. 156) Auch wenn man sein quasireligiöses Sendebewusstsein kritisieren kann, steht Kurzweils Bedeutung für die Computertechnik und KI-Forschung außer Frage, was ca. 20 Ehrendoktors sowie hochdotierte Technologie- und Wissenschaftspreise (u.a. vom MIT) zur Genüge belegen. Mehr noch als die Hardund Softwareentwicklung führt die KI-Forschung zu Erkenntnissen, die auf zerebrale Funktionsweisen rückschließen lassen. Mit dieser von ihm »Umkehrtechnik« genannten Folgerung extrahiert Kurzweil aus der elektronischen Datenverarbeitung belastbare Aussagen über das Gehirn. »Es ist jedoch nicht notwendig, die gesamte Entwicklung des menschlichen Gehirns zu simulieren, um ihm seine schwer ergründbaren Geheimnisse zu entreißen. Genau wie ein Unternehmen die Produkte der Konkurrenz auseinandernimmt und sie ›umkehrtechnisch behandelt‹ (sie analysiert, um ihre Bau- und Funktionsweise zu verstehen), kann man auch mit dem menschlichen Gehirn verfahren. Schließlich ist es das beste Beispiel für einen intel-

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ligenten Apparat, das der Wissenschaft zur Verfügung steht. Man kann Architektur, Organisation und angeborenes Wissen des Gehirns untersuchen, damit man sehr viel schneller weiß, wie eine intelligente Maschine zu bauen ist. Wenn man die Schaltungen des Gehirns untersucht, kann man eine erprobte Konstruktion kopieren und imitieren, für die der ursprüngliche Erfinder mehrere Milliarden Jahre gebraucht hat (und die nicht einmal durch ein Copyright geschützt ist).« (Kurzweil ebd. 197) Will es denn nicht sich selbst seine Geheimnisse entreißen? Während Werkzeuge Erweiterungen des Körpers sind, expandiert das Gehirn in Medien. Es folgt also einer Logik, wenn es für die Beschreibungen seiner selbst die jeweils aktuellen Leitmedien benutzt – das wohl auch muss. In allgemeineren Darstellungen wird gern darauf abgehoben, dass das Gehirn bevorzugt in »Metaphern« technischer Standards erklärt wird, epochenübergreifend von Descartes’ Steuereinheit des Maschinen-Menschen bis heute zum Computer. (Vgl. Glaser 2018) Nur handelt es sich bei Medien keineswegs um »Metaphern«, sondern um Materialisierungen von Gehirnfunktionen. Unberücksichtigt der Tatsache, dass das Gehirn seit der Erfindung analoger Aufzeichnungsmedien wie Schrift und Graphik einzelne Funktionen z.B. des Gedächtnisses auslagert, desgleichen Wissen archiviert oder Operationen an mechanische Rechenautomaten delegiert, die, wo sie angeborene Fähigkeiten nicht überbieten, das Gehirn weitgehend unterstützen und entlasten. Dem sind auch analoge Repräsentationen zuzurechnen wie Diagramme, mathematische Gleichungen, Modelle und Fotografien. (Vgl. Şahinol 2016: 29) Mit der allgemeinen Elektrifizierung, der Galvanis Froschschenkel-Experimente voraus gegangen sind, ergibt sich eine Übereinstimmung mit dem menschlichen Nervensystem, aus der ableitbar ist, dass das Gehirn weitere Funktionen in Telegrafie, Telefon, Radio, Magnetofon, Film und Fernsehen externalisiert, ja, viel weiter noch: materialisiert. Nicht nur funktioniert der Computer durch seine Universalität, die Analogmedien in ein einziges System zu integrieren als Megamedium, sondern er ist auch das erste Medium, mit dem das Gehirn sich nachbaut, sich selbst imitiert mit dem Anspruch, und zwar im Unterschied zu allen traditionellen Medien, was der Uraltbegriff »Elektronengehirn« beinhaltet. Computer suggerieren durch ihre millisekunden-schnelle Verfügbarkeit über Texte, Bilder und Töne, ihre Repräsentationen in derselben Art wie das Gehirn abzurufen, wobei sie mit diesen »Fähigkeiten« gleichzeitig dazu verführen, Gehirn und Maschine gleichzusetzen. Außerdem schwinden mit der sukzessiven Abschaffung der Gehirn-Maschine-Interfaces die spürbaren Di-

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stanzen zugunsten eines Unmittelbarkeitgefühls, das alltägliche Objektbeziehungen verweigern. Also mehr subjektives Empfinden, mehr Schein als Realität, da die Unterschiede zwischen Gehirn und Computer noch eklatant größer sind als Gemeinsamkeiten. Seit man nach dem 1952 erstmals vorgestellten Hodgin-Huxley-Modell nach einer jahrzehntelangen Unterbrechung durch die inzwischen fortgeschrittenen Rechnerleistungen in der KI-Forschung wieder auf neuronale Netzwerke zurückkam, konzentriert man sich auch wieder vermehrt auf die Gehirnschaltungen. Mit dem Wissen, dass das Gehirn zu einer kaum zu überschauenden Parallelverarbeitung von Informationen befähigt ist, wo die herkömmlichen Computersysteme nur sequenziell arbeiten, versucht man, neuronale Prozesse modellhaft nachzuahmen, um parallel operierende Architekturen zu konstruieren. Trainierbare Programme wurden entwickelt, die trainierbar sind, d. h., sie lernen. Wie im Gehirn, wenn auch auf einem viel niedrigeren Komplexitätsniveau, lassen sich auf künstlichem Weg Neuronen verbinden, indem ausgehende Neuronen, eingehende Neuronen und andere Neuronen sich zusammenschließen und sich aus diesen Fusionen Neuronennetze bilden. Die Programme lernen, neue Verbindungen herzustellen, neue Verbindungen hinzuzufügen und alte Verbindungen zu löschen. Für die Praxis heißt das, Muster, Texte und Gesichter erkennen. Es dürfte noch dauern, bis die mathematischen Berechnungen der Computational Neuroscience (Theoretische Neurowissenschaft) praxistauglich sein könnten, denn die Anforderungen gelten der ganze Bandbreite der Hirnfunktionen, den verschiedenen Verarbeitungs-Levels von den Sinneseindrücken bis zur Kognition – im Einzelnen des Lernens, Erinnerns, der Entscheidungsfindungen und der Steuerung der Motorik. Wichtigste Voraussetzung der Computational Neuroscience ist ein interdisziplinärer Ansatz unter Einbindung der Biologie, Medizin, Psychologie und Physik, was wiederum die Kooperationen mit Theoretikern aus der Mathematik, Physik und Informatik erfordert. Die mathematikbasierten Modelle der elektrophysiologischen Eigenschaften von Nervenzellen und Synapsen oder die realen Eigenschaften von Nervennetzen ermöglichen es, mit rein theoretischen Methoden Ergebnisse von Experimenten zu systematisieren und durch Simulationen vielseitige Beziehungen zu herauszufiltern, also mehr zu erfahren durch einer Art symbiotischen Austausch zwischen dem Gehirn und seinen digitalen Derivaten. Ausgehend a) von Erkenntnissen der Hirnforschung, b) der Unterlegenheit des Gehirns gegenüber dem Computer in der Rechengeschwindigkeit, c) Fort-

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schritten bei der parallelen Informationsverarbeitung des Computers, d) den Möglichkeiten sich selbst organisierenden Lernens von Programmen – all dies unter dem Moore’schen Gesetz der wachsenden Erträge auf die exponentielle Zunahme der Rechnerleistung angewandt, erweitert Ray Kurzweil sein Szenario der im Buchtitel angekündigten Verschmelzung von Mensch und Computer. Wie parallel rechnende Computer an die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns herankommen könnten, dafür schlägt der Autor vorläufig die Vernetzung der freien Internetkapazitäten zu einem Supercomputer vor. »Die Summe der ungenutzten Rechenleistung im Internet übertrifft schon heute die Rechenleistung des menschlichen Gehirns, sodass die Hardwarekomponente der menschlichen Intelligenz zumindest in einer Form schon heute zur Verfügung steht.« (Kurzweil ebd. 172) Trotzdem braucht es für derlei Projektionen das gesammelte Wissen über das Gehirn, und zwar alles, was das Gehirn bis dato über sich selbst in Erfahrung bringen konnte. Abgesehen von den Zahlenwerten wie etwa von 100 Milliarden Nervenzellen, verschafft die nicht-invasive Kernspinresonanz-Tomographie einen detaillierten Blick ins Gehirn. Das Medium zeichnet Mikroprozesse auf wie das sogenannte Feuern der Neuronen. »Unsere Karten des arbeitenden Gehirns (sind) so ordentlich, dass sie eher einer Straßenkarte von Manhattan gleichen als einer mittelalterlichen Stadt.« (Hübner zit. ebd 201) Auch nützt die Tomographie der Beschreibung eher traditioneller Verfahren wie das Einfrieren der Gehirne Verstorbener. »Das Gehirn wird Schicht für Schicht untersucht, jeweils eine dünne Schicht auf einmal. Mit einem einigermaßen empfindlichen Scanner sollte man dabei in der Lage sein, alle Neuronen und alle Verbindungen in einer Schicht zu sehen, wenn diese die Dicke einer Synapse hat. Wenn eine Schicht untersucht ist und die Daten gespeichert sind, wird sie abgetragen und die nächste Schicht freigelegt. Die so gewonnenen Informationen können gespeichert und zu einem gewaltigen dreidimensionalen Modell der ›Verdrahtung‹ und der neuronalen Topologie des Gehirns zusammengetragen werden.« (Kurzweil ebd. 199) Infolge jüngerer technischer Schübe gelingt es, immer tiefer in die Mikrophysis vorzudringen. Mithilfe von Gehirnscannern lässt sich unterscheiden, »[…] wie die Neuronen einander mit Informationen versorgen […], dass die für die Tiefenschärfe verantwortlichen Neuronen in parallelen Reihen angeordnet sind und den formerkennenden Neuronen Informationen lieferten, die kompliziertere, Windrädchen gleichende Muster bilden.« (Ebd. 201)

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Allerdings zitiert Kurzweil diese technischen Fortschritte nicht zum Selbstzweck, sondern für Informationen, wie neuronale Netzwerke zu simulieren wären, die »ähnlich wie die menschlichen funktionieren«. Er kommt zu dem Schluss, dass »[…] die für die Datenverarbeitung relevante Aktivität eines Neurons oder einer Gruppe von Neuronen so einfach (ist), dass man ihre Aktivität schon bei der Untersuchung nachahmen kann«, und dass »[…] die parallelen Algorithmen der betreffenden Hirnregion umkehrtechnisch erfasst werden. Nach der Erfassung können die Algorithmen verfeinert und erweitert werden, bevor sie in die synthetischen neuronalen Äquivalente eingespeist werden.« (Ebd. 203) Die Überschneidungen von Gehirn und Computer werden zunehmend unauflösbar. Aus dem Grund wäre hier der Begriff »umkehrtechnisch« zu erläutern, der das unmittelbare Kopieren eines Neurons oder einer neuronalen Funktion meint. Weitergedacht handelte es sich um ein Abspiegeln physiologischer Tatsachen, woraus ein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen biologischem und elektronischem Gehirn resultierte. Daraus erfolgte eine geradezu irreversibel-nahe Interaktion, wobei zwar immer weniger zwei heterogene Organismen miteinander interagierten, sondern dieser Austausch emergierte zu einem einzigen in sich geschlossenen System. Agens ist das Gehirn selbst: »Die Methoden des Gehirns können dabei gewiss stark beschleunigt werden, da elektronische Schaltungen heute schon eine Million Mal schneller sind als neuronale.« (Ebd. 203) Konsequenter als die passivische wäre eine reflexive Grammatik gewesen etwa so, dass das Gehirn sich selbst beschleunige. Es zeichnet sich nicht nur ein anderes Bild vom Gehirn, sondern es kündigt sich auch eine neue Auffassung an: »›Früher haben wir das Gehirn wie eine Suppe behandelt und Chemikalien hineingeschüttet, die bestimmte Neurotransmitter verstärken oder unterdrücken‹, sagt Rick Trosch, einer der amerikanischen Ärzte, der an der therapeutischen ›Tiefenstimulation des Gehirns mitarbeitet. ›Jetzt behandeln wir es wie eine Schaltungsanordnung.‹« (Ebd. 209, Anm. 25) Dass damit »das Zeitalter der Neuroimplantate bereits begonnen (hat)«, (ebd. 208) ist die technologische Ouvertüre einer Totalität, von der Kurzweil die Menschheit überzeugen will. Die Voraussetzung seines »machbaren« Szenarios »[…] wird darin bestehen, das Gehirn einer Person zu scannen, um die Lage der Verbindungen und den Inhalt der Zellen, Axonen, Dendriten, präsynaptischen Bläschen und anderer neuronaler Komponenten zu kartieren«, um das Gehirn in einem neuronalen Computer zur Gänze nachbilden

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zu können. (Ebd. 204) Klar, auch solches erforderte, wie selbst der Visionär einräumt, »ein völliges Verständnis des Gehirns«, das entgegen dessen jahrhundertelangen Anstrengungen, sich selbst zu erkennen, aus systembedingten Gründen nicht zu erreichen ist, was aber zumindest beiläufig Erwähnung findet. Der Widerspruch, dass das entgegen allen Hymnen auf den Computer als ein Zugeständnis an die Hyperkomplexität des Gehirns gelesen werden muss, ist ebenfalls systemimmanent. Die Folge ist ein argumentatives Hin und Her zwischen dem Verstehen des Gehirns und den Zweifeln, ob ein solches Gesamtverständnis wirklich notwendig ist. Ausschließen sollte man dabei doch nicht, dass das Gehirn, würde es in seiner Gänze abgetastet, »ohnehin größtenteils verstanden (ist)« (ebd. 204) – oder eher nicht? Dafür, was Kurzweil letztendlich ansteuert, genüge es, das Gehirn einfach soweit abzutasten, dass jede Einzelheit erfasst würde, wohingegen man nicht »die Gesamtorganisation des Gehirns bis ins Letzte verstehen (muss)«. (ebd. 204) Ein kühne Vorannahme hinsichtlich dessen, worauf Kurzweils gesamte Argumentation mit ihren detailreichen Analysen des Gehirns und der Computerprozesse abzielt, nämlich: »Das eigene Gehirn in den Personalcomputer herunterladen.« (Ebd. 204) Mit dieser Projektion wäre die (vorläufig?) letzte Stufe der Befreiung des Gehirns aus dem Körper erreicht, sodass wissenschaftlichen Rekurse sich als Science-Fiction fortsetzen. Der Wechsel dahin beginnt mit dem Euphemismus »Bleibt nur noch das kleine Problem des Körpers«, mit der erweiternden Frage: »Was für einen Körper wird eine Datei mit einem reinstallierten Bewusstsein haben? Den ursprünglichen menschlichen Körper, einen verbesserten Körper, einen synthetischen, einen nanotechnischen Körper oder einen virtuellen Körper in einer virtuellen Umwelt?« (Ebd. 206) Über die Selbstwahrnehmung und Identität einer auf zwei Existenz-Modi verteilten Komponenten ergeht Kurzweil sich in eher niederschwelligen Spekulationen wie zum Beispiel mit dem Hinweis auf die allgemeine Tatsache, dass ein Subjekt sich im Laufe seines Lebens ohnehin verändert. Eine Aufzählung bereits praktizierter Korrekturen lädierter Körper mit medizinischen Implantaten und dergleichen soll die Verbindung stützen zwischen einem fortschreitend synthetisierten Körper und einem zu einer Computerdatei mutierten Bewusstsein – als wäre das eine Analogbeziehung. Die generelle Abwertung des Körpers wird damit begründet, dass Eiweiß eine anfällige, instabile Materie sei. Trotzdem sollte man die evolutionäre Errungenschaft, dass der Körper aus Zellen aufgebaut ist, nicht aufgeben, denn

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»[…] diese evolutionäre Konstruktionsidee bedingt viele wünschenswerte Qualitäten des menschlichen Körpers: seine Redundanz; […] seine Fähigkeit, sich selbst zu regenerieren und zu reparieren; und seine Weichheit und Wärme. Doch genau wie wir letztlich auf unsere extrem langsamen Neuronen verzichten werden, werden wir letztlich auch gezwungen sein, auf die mit zahlreichen Nachteilen behaftete Proteinchemie unseres Körpers zu verzichten.« (Ebd. 221) Dazu ein teleologischer Ausblick: »Das Leben auf der Erde hat das Endziel der Nanotechnik bereits gemeistert, die Selbstverdopplung oder Selbstreproduktion.« Wie die Computertechnologie »[…] die Leistungsfähigkeit der natürlichen Datenverarbeitung letztlich übertreffen wird, […] wird auch die Technologie, mit der man im 21. Jahrhundert Körper bauen wird, die auf Aminosäuren basierende Technologie der Natur bei Weitem übertreffen.« (Ebd. 223) Es beruhigt immerhin, dass man »[…] nicht für alles einen realen Körper (braucht). Wenn man sich in einer virtuellen Umgebung aufhält, reicht ein virtueller Körper völlig aus.« (Ebd. 230) Ohne also sich auf Definitives bezüglich der körperlichen Konsistenz festlegen zu können, bleibt als Fazit dieser hirnphysiologischen und technologischen Diskurse, dass das Gehirn sich vom Körper befreit und außerhalb seiner existiert. Dieses Projekt entwickelt sich je nach technischen Mitteln weg vom Fleisch im Inkubator oder in der Petrischale als gezüchtetes Organoid, weil es zuletzt gescannt und abgespeichert ist in einer Datei. Unterstellt man die Progression dieser Zustände als Telos des Gehirns selbst, ist man natürlich wieder bei der Unsterblichkeit. »Unsere Identität und unser Überleben wird von der Hardware und ihrer Lebensdauer letztlich unabhängig werden. Unsere Unsterblichkeit wird davon abhängen, dass wir vorsichtig genug sind, unsere Software häufig genug zu sichern. Wer dabei zu leichtsinnig ist, muss auf eine alte Sicherungskopie zurückgreifen.« (Ebd. 212)

Cybercities Um Kopien geht es auch in dem SF-Roman »Cybercity«. Für die Handlung des 1994 – fünf Jahre vor Kurzweil – veröffentlichen Buches, sind gescannte Bewusstseine bereits selbstverständlich. Ein Rückblick auf das Jahr 2020 erinnert in der auf das Jahr 2045 verlegten Geschichte an dieselben Verfahren, an das Gehirn ranzukommen, die Kurzweil beschreibt. »Mit einer Kombination meh-

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rerer Scanner konnte man dem lebenden Hirn alle für die Psyche und das Bewusstsein relevanten Daten entnehmen – und es, sofern man über einen entsprechend leistungsfähigen Computer verfügte, auch simulieren.« (Egan 1995: 60f) In diesem Jahrzehnt allerdings hielten ethische und rechtliche Widerstände die Weiterentwicklung in eine »vollständige Computerrepräsentation, eingebettet in einen virtuellen Körper« (ebd. 61) noch auf, bis es zu dem Tabubruch kommen konnte, und »[e]iner, der mit einem hochauflösenden Scanner ein komplettes Gehirn kopierte. Er hatte im Jahr 2024 eine mit Bewusstsein ausgestattete Kopie von sich selbst in einer […] virtuellen Umgebung zum Funktionieren gebracht.« (Ebd. 62) Anstatt das Verfahren unter neuromedizinischen Nutzenkalkulationen zu adaptieren, war in den Schlagzeilen »[…] von nichts anderem als ›Unsterblichkeit‹ die Rede, von einer Massenflucht in künstliche Welten, die die physische Welt leer und bar menschlichen Lebens hinterlassen würde.« (Ebd.) Wie in einer Kurzzusammenfassung des Transhumanismus nimmt Paul Durham, der Protagonist, diese Nachrichten auf und denkt sie weiter zu der Verheißung, dass der Mensch auf eine höhere Daseinsebene gehoben werden könnte. »Dass man nicht mehr an dieses kurze biologische Leben gebunden war […], einer Kopie boten sich für die geistige Entwicklung ungeahnte Möglichkeiten, die alles organische Leben weit hinter sich lassen würden […].« (Ebd. 62f) Den Anfang der Experimente machte das Abscannen des Gehirns. Die von Kurzweil kaum berücksichtigte Selbstreferentialität des Gehirns bringt Greg Egan immerhin zur Sprache, wenn auch nur in Verbindung mit der Maschine. »Ein Computermodell, das Informationen über sich selbst [Hervorhebung HMH] und seine ›Umgebung‹ auf ähnliche Weise wie das Gehirn eines lebenden Organismus verarbeitet, muss sich auch in einer ähnlichen ›geistigen‹ Verfassung befinden.« (Ebd. 63f) Nach dem ersten Kopierexperiment wurden, sofern sie für die Kunden finanzierbar waren, Verwandlungen von Körpern aus Fleisch und Blut in Computermodelle alltäglicher. Während auf der psychologischen Schiene des Plots Konflikte um die Identität der kopierten Subjekte Spannung erzeugen sollen, ist die Technik verantwortlich für Korrekturen, Veränderungen, die Updates und Sicherheitskopien der Programme. Was das Gehirn selbst angeht, ist die Beschreibung eines Menü-Icons für die Programmierung erwähnenswert und das gleichzeitig als intuitive Benutzeroberfläche wie nebenbei die Historie der zerebralen Selbsterforschung ins Gedächtnis ruft: »Mit der Hand aktivierte er ein Menü auf einem der Schirme; eine Anordnung aus einem Dutzend identischer Bilder erschien – die anatomische

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Darstellung eines menschlichen Gehirns aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Oberfläche säuberlich in einzelne Felder aufgeteilt, jedes mit Erklärungen versehen, welche Emotionen, Leistungen oder Fähigkeiten dort saßen. Die einzelnen Felder waren Menüsymbole und boten Zugriff auf ein ganzes Bündel von Parametern: gespeicherte frühere Bewusstseinsinhalte oder rein synthetische Erinnerungen.« (Ebd. 101) Wo Kurzweil das einzelne Organ bespricht und für den enthirnten Körper keine schlüssige Lösung findet, ist »Cybercity« bereits eine Vision weiter. Um die künstlichen Menschen aus der Abhängigkeit von einem Computersystem zu befreien, reift der Traum von einer Stadt für die Kopien, einer Zufluchtsstätte, in der sie sicher und autonom leben können. Gehirne und Körper sind hier wieder vereint. Das auf die individuellen Scans folgende Stadium ist gekennzeichnet von der Konnektivität als einer Utopie friedlichen Zusammenlebens. Fast 30 Jahre nach diesen Fantasien und 20 Jahre nach der »Matrix«-Trilogie sind Plots so normal geworden, dass Avatare, die anstelle Ermordeter weiterleben, es bis in den Sonntagskrimi geschafft haben oder in Netflixserien wie »Altered Carbon – das Unsterblichkeitsprogramm«, wo fleischliche Körper austauschbar sind, weil ihre Steuereinheit, d.h. ehemals Gehirn und Bewusstsein als beliebig einsetzbare Chips für Wiedererweckte eingelagert werden. Wie nah ist gerade diese »Cybercity«-Fantasie der archaischen Vorstellung einer sich nach dem physischen Tod bevölkernden Sphäre, einem Himmel mit immateriellen Wesen, wo nach naivem Glauben die Gestorbenen als Engel weiterleben! Sollte das überhaupt die Leitidee gewesen sein, die das Gehirn vom Anfang seiner Evolution bis hierher, als es mit dem Computer seine Ergänzung erfunden als das Medium für Unsterblichkeit betrieben hat?

Kunst, Fantasien, Metaphern, Aura

Ein fast ikonischer Cartoon-Standard zeigt eine leuchtende Glühbirne über dem Kopf oder darinnen. Das Bild ist kongruent mit der Sprachmetapher »ein Licht geht auf«. Doch wie konnotierbar mit dem emphatischeren Ausdruck der »Erleuchtung« so auch mit dem Gegenteil »keine Leuchte sein«. Die Frage, was zuerst da war, die bildliche oder sprachliche Metapher, ist hier semantisch unbedeutend. Überschneidungen von Bild und Wort machen jedenfalls die Funktion und Wirkung der verbalen Metapher evident als ein sprachlich evoziertes Bild oder eben ein Sprachbild als anderer Begriff für Metapher. Trotzdem lassen sich bei dieser generell »einleuchtenden« Definition die Unterschiede zu Bildern nicht unter den Teppich kehren allein aufgrund der Beziehung von Innen zu Außen, dieser fundamentalen Differenz zwischen äußeren durch das Auge vermittelten Bildern und den vorgestellten, eidetischen Bildern, für die wiederum die Metapher des inneren Auges eine kohärente Vorstellung liefert. Wie viele der piktogramm-artigen Darstellungen wie die Glühbirne im Kopf haben sprachliche Metaphern ebenso die kommunikative Funktion, es dem Denken leicht zu machen und komplexe Sachverhalte auf intuitive Bilder herunterzubrechen, um ausführlichere Erklärungen wie beispielsweise der Anordnung von Ästen und Stamm mithilfe der Metapher Baumkrone zu verallgemeinern. Wie metaphorische (oft andere als wissenschaftliche) Bilder des Gehirns kursieren, so repräsentiert es sich auch in einem Lexikon sprachlicher Metaphern. In Analogie zum Motiv des verkabelten Gehirns, das sich in endloser Regelmäßigkeit auf dilettantischen und künstlerischen Bildern wiederholt, rekurriert für die Erklärung neuronaler Prozesse auch die Sprache auf die Elektrotechnik mit Bedeutungsübertragungen wie Draht, Schaltung und ähnlichem. Dass diese Metaphorik ebenso für eine zeitgemäße Philosophie zielführend zu sein scheint, belegt Slavoj Žižeks Buchtitel »Hegel im verdrahteten Gehirn« (Žižek 2020). Doch auch elaborierte Untersuchungen kommen nicht ohne diese Art von Metaphern aus, was jedoch einen grundsätzlichen Unterschied zu

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künstlerischen Elaboraten ausmacht, sobald selbst Hirnforscher auf diese der modernen Technik entnommenen Metaphorik zurückgreifen. Hinsichtlich einer pragmatischen Kommunikation dürfte es aufgrund einer tiefenstrukturellen Verwandtschaft dem Gehirn gleich sein, ob es sich um sprachvermitteltes, eidetisches oder physisch vom Auge übertragenes Bildmaterial handelt, ob es sich um künstlerische Metaphern handelt oder um Sprachbilder. Die einzige Differenz ist die jeweils unterschiedliche »Nähe« zum Zentralsystem, dass die Vorstellungsbilder nicht vom physischen Auge übertragen werden, sondern a priori im Gehirn selbst ablaufen. Ab dem 15. Jahrhundert nehmen anatomische Darstellungen des Gehirns auffällig zu, wobei gleich zu anzumerken ist, dass die bildende Kunst dem Motiv des »nackten« Objekts kaum etwas abgewinnt. Im Gegensatz dazu werden sichtbare Einwirkungen auf die Oberflächen attraktiv, wenn sich in Gesicht und Körperhaltung Auffälliges zeigt, an dem das Gehirn äußerlich etwas von sich selbst ablesen kann – am deutlichsten in der Abweichung wie beim Wahnsinn, ähnlich also wie man es bereits von einem bevorzugten Feld der Hirnforschung kennt, die so oft ihre Erkenntnisse aus Defizit, Mangel oder Schaden zu gewinnen sucht. Für anatomische Zeichner hingegen bot das Organ während seiner Darstellungsgeschichte nicht nur ein dankbares, sondern auch leicht zu idealisierendes Sujet. Technisch und optisch wirft es keine besonderen Probleme auf, die dreidimensionale Form des Gehirns zu 2D zu verflachen. Einschnitte und Gräben übersetzen sich in Linien, die an territoriale Grenzverläufe erinnern, sodass es sich für die Phrenologen anbot, die benennbaren Teile mithilfe eines territorialen Codes zu beschriften. Nachdem die Phrenologen Begriffe wie »Region« oder »Areal« auf diese »Terra incognita« übertragen hatten, setzte sich diese Schematisierung fort, als sie das Gehirn »kartierten« und grafisch in einem »Hirnatlas« katalogisierten. Bis heute ist diese Metaphorik vonnutzen. Auf einer Tagung des deutschen Ethikrates (Düsseldorf, 27.11.2013 Thema: »Neuroimaging – Bilder vom Gehirn und das Bild des Menschen«) verschafft eine Animation unter dem Titel »Kartierung des Gehirns – von der Schemazeichnung zum computerisierten Gehirnatlas« einen kompakten historischen Überblick über das Fachgebiet. Als wäre der Begriff »Karte« nicht an sich einleuchtend genug, wird die visuelle Präsentation von zeitgemäß elektronisch generierten Gehirnansichten tatsächlich mit einer Weltkarte von 1434 unterfüttert. Dass diese Bedeutungsübertragung aus dem territorialen Kontext sich über Epochenschwellen durchzieht, wirkt angesichts der eingesetzten digitalen Medien zuletzt doch recht rückwärtsgewandt. (Ethikrat 2013) Im

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Übrigen scheint auch die eingängige Metapher »Hirnlandschaft« vorteilhaft, weil die Faltungen (eine Bezeichnung, die bei Gebirgsformationen schon metaphorisch ist), die Wendungen und Aufwölbungen des Fleisches sich mit dem archaischeren Wahrnehmungsmuster von Landschaftsformationen überblenden.

Bildende Kunst Von überschaubaren Ausnahmen abgesehen, adaptiert die bildende Kunst diese wissenschaftliche Ikonographie nicht. Stattdessen wäre vorerst dem Nebenschauplatz der Darstellungen des Wahnsinns Aufmerksamkeit zu schenken. Von der unverkennbaren Mimik und den extremen Körperhaltungen der sogenannten Geistesgestörten, im gleichen von den früher als Irrenanstalten bezeichneten psychiatrischen Einrichtungen, fühlten sich namhafte Künstler dagegen schon früh angezogen. Dass es pathologische Gehirne sind, die sich physiognomisch wie auch in abweichendem Verhalten widerspiegeln, dürfte Malern und Zeichnern weniger bewusst gewesen sein. Auf dem Gemälde »Das Steinschneiden« (1485) von Hieronymus Bosch bohrt ein als Quacksalber diskreditierter Medikus durch einen umgekehrt aufgesetzten Trichter die Schädeldecke eines Patienten auf, um den »Stein des Wahnsinns« herauszuschneiden. Selbst wenn es kunstgeschichtlich strittig ist, ob es sich da wirklich um eine Art neurologische Operation handelt und nicht um die symbolische Anprangerung eines im Mittelalter verbreiteten Medizinbetrugs, so bleibt trotz alldem das Motiv einer Schädelbohrung. In künstlerischen Medien wie hier diesem Bosch-Gemälde verfügt das Gehirn über andere Mittel für seine Selbstdarstellung als in wissenschaftlichen Repräsentationen. Unter diesem Gesichtspunkt wird der Inhalt dieses Bildes zumindest mehrdeutig. Explizite Darstellungen des Wahnsinns inklusive der einschlägigen Anstalten häuften sich ab dem 18. Jahrhundert, nachdem das religiöse Stereotyp der Besessenheit sukzessive vom psychiatrischen Begriff Geisteskrankheit abgelöst worden war. Anstatt sie weiterhin mit exorzistischen Ritualen zu foltern, begann man Wahnsinnige ab dem 17. Jahrhundert als Kranke zu verstehen mit der Folge, dass sie immer öfter interniert wurden. Bilder von Anstalten kennt man von William Hogarth und Goya. Unter dem Titel »In the Madhouse« (1732/34) komponierte Hogarth eine bühnenhafte Darbietung bizarrer Verhaltensweisen, die gleichzeitig dokumentierte, dass offensichtlich vor allem die Damen der feudalistischen Oberschicht sich von derartigen Sze-

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narien unterhalten ließen. In Goyas piranesihaftem Verlies »Casa de Locos« (1815/19) vegetieren teilweise unbekleidete Männer einsam und ohne jegliche Beziehung zueinander in der Dunkelheit dahin. Sollte es nicht sicher sein, ob Hogarth sich wirklich zum Komplizen seines Publikums macht, so gerät Goyas Darstellung zur Anklage gegen die menschenverachtenden Zustände in jenen Anstalten des Wahnsinns. Von Johann Heinrich Füssli ist das beeindruckende Portrait einer geistig verwirrten Frau bekannt. Losgelöst aus gesellschaftlichen Bindungen, doch entrückt wie eine antike Göttin posiert die »wahnsinnige Kate« im Damensitz auf einem Felsen zwischen dramatischem Gewitterhimmel und tosender See. Ein schwarzer Umhang, ähnlich dem Gottesmantel auf Michelangelos »Die Erschaffung Adams«, bläht sich hinter ihrer Haube im Sturm. Die aufgerissenen Augen, der die Betrachtenden anspringende Blick werden durch die Gewitteratmosphäre transzendiert. Die buchstäblich auf die Spitze getriebene Isoliertheit der Figur verdichtet sich mit ihrem Blick sowie einer wilden Abwehrgeste zu einer Ikone des Wahnsinns. Doch eben nur zu einer Ikone, denn die Attribute figurieren kaum mehr als Zeichen und sind weit entfernt von einer realistischen, d.h., medizinisch-diagnostischen Illustration einer schweren geistigen Störung. Deutlicher aber als bei anderen künstlerischen Thematisierungen der Epoche offenbart das Bild ein Beispiel, das der wie immer auch geartete Wahnsinn als Projektionsfläche funktionierte, was sich nicht zuletzt in den Darstellungskonventionen niedergeschlagen hat: »Das Gesicht ist die bevorzugte Körperregion, die zur Kenntlichmachung des Wahnsinns herangezogen wird. In erster Linie deuten unharmonische, asymmetrische oder verzerrte Gesichtszüge bis hin zu Grimassen und weit aufgerissenen oder verdrehten Augen auf geistige Zustände jenseits der Normalität hin. Der Situation unangemessene Mimik, etwa das Lachen in einer Trauersituation, ist ein besonders starker Hinweis auf vorliegenden Wahnsinn.« (Wikipedia: Wahnsinn. Beispiele aus der bildenden Kunst) Könnte es für eine unvoreingenommene Rezeption auch so aussehen – doch Maria Lassnig beabsichtigte keineswegs, Zustände des Wahnsinns abzubilden. In erster Linie ging es ihr, wie sie selbst beschrieb, um ihre Körpergefühle. Mit dem Ziel, physisch erfahrbare Befindlichkeiten in Malerei zu übersetzen, malte sie exzentrische Körperbilder, bei denen die natürliche Symmetrie der Gliedmaßen ausgehebelt ist. Ihre nie endende Selbsterforschung beglaubigte sich in einer Ehrlichkeit und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst und ihr eigenes Spiegelbild, die mit der ebenso rückhaltlosen Expressivität ihres Malduktus jede Eitelkeit zurückweisen, sodass sich bei

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ihr, was bei anderen MalerInnen selten in dieser Markanz auffällt, in der Tat endogene Zustände widerspiegeln – Betonung auf »endogen«. Wie nah man mit introspektiven Selbstversuchen dem eigenen Gehirn kommen kann, beschrieb Christine Lange, die Direktorin der Stuttgarter Staatsgalerie, die 2019 mit einer Ausstellung an Lassnigs 100. Geburtstag erinnerte: »Und das, was parallel im 20. Jahrhundert die Hirnforschung, die Neurologie mit vielen, vielen neuen Erkenntnissen erforscht hat und Puzzlesteinchen auf Puzzlesteinchen in unser Bewusstsein rückt, hat sie in eine Formen- und Farbsprache gebannt, die uns über genau diese Dinge eben auch auf einer anderen Ebene reflektieren lassen. Oder Dinge vielleicht besser verstehen lassen, als wenn wir, als Nicht-Mediziner, einen Aufsatz über Neurophysiologie lesen«. (Zit. bei Schmitz 2019) Mag diese Konnotation aus Selbstportrait und Hirnforschung ungewöhnlich erscheinen, wird sie doch journalistisch dankbar verwertet. Als Titel einer Zeitungsrezension sogar so ins Licht gesetzt, dass Lassnig vorgestellt wird als »[e]ine Hirnforscherin in der Malerei«, der es gelinge »[d]ie andere Art neurologische Erkenntnisse sichtbar zu machen«. (Schmitz ebd.) Was immer Christine Lange dazu veranlasst haben könnte, in ihrer überzeugenden Hommage die Malerin als Hirnforscherin zu präsentieren, dürfte sich weniger auf programmatische Aussagen der Künstlerin beziehen als auf die in keins der gängigen Kunstregister richtig passenden radikalen körperlichen und physiognomischen Selbstportraits. Je selbstbezogener und expressiver der Malprozess, desto unkontrollierter vom Bewusstsein und desto freier von selbstzensorischen Interventionen schreitet er voran, sodass die Aktionen sich selbst zu steuern beginnen bzw. aus dem Unbewussten angetrieben sind. In letzter Instanz outet sich das Gehirn selbst. Mit empfindlicher Antenne fängt die Kommentatorin auf, dass Lassnigs Bilder sich in der Tat auch als eine Art künstlerischer Hirnforschung dechiffrieren lassen. Artikuliert das Gehirn sich in Mimik und Körpersprache, erfährt es auch als künstlerische Expression etwas über sich selbst. Christine Langes speziell auf die fortgeschrittenen Erkenntnisse der Hirnforschung referierender Vergleich »Puzzlesteinchen auf Puzzlesteinchen« wäre zu verallgemeinern auf alle Äußerungen des Gehirns, sofern sie dessen Selbsterkenntnis förderlich sind.

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Als Motiv seiner selbst Einen anderen Modus als Oberflächenphänomene vermitteln die maßstabsgetreu modellierten Gehirne des Ensembles »Anaufhinterinnebenüberuntervorzwischen«, die der dänische Künstler Torben Ebessen 1996/97 auf dem Gelände des Allgemeinen Verfügungs- und Forschungsgebäudes Umwelt am Karlsruher Institut für Technologie installiert hat. Der aus Ortspräpositionen so umständlich montierte Titel soll laut städtischer Tourismusverwaltung einen Zusammenhang lokaler Komponenten wie der Gebäude und ihrer Umgebung herstellen. Die 67 auf Sandsteinsockeln inszenierten Skulpturen je aus Aluminium, Eisen, Messing, Glas und Farbe messen ca. 11x12x16 cm. Nach Auskunft des Künstlers handelt es sich um »eine Art Brain Trust in freier Landschaft«. Ursula Merkel von der Städtischen Galerie Karlsruhe deutet das Werk: »Aus der homogenen, namenlosen Denkmasse der grauen Zellen ragen gleichwohl einige wenige Hirnformen hervor, akzentuiert durch ihre auffallende farbige Bemalung oder durch Verwendung andersartiger Werkstoffe. Sie sind als Anspielungen auf die besonders schöpferischen Querdenker und kreativen Impulsgeber unter den Wissenschaftlern zu verstehen, denen die Forschung wegweisende Innovationen verdankt.« (Merkel) Wie die unregelmäßig verteilten Plastiken das Gelände mit Bäumen und Bauwerken artifiziell erweitern, verschiebt die hergebrachte Semantik von »Hirnlandschaft« zu einer unerwarteten Wörtlichkeit. Dennoch: Die Gehirne dieser Hirnlandschaft stehen nicht gänzlich funktionslos und für sich selbst im Format eines autonomen Kunstwerks wie etwa eine gemalte Landschaft oder eine Skulptur, die sich in ihrer singulären Ästhetik zu sehen geben, sondern sie stellen, da von vornherein symbolisch konnotiert, einen Sinnzusammenhang her zwischen der in den Instituten betriebenen Forschung und dem – zu diesem Zweck zumindest benötigten – Gehirn. Als eins der nicht sehr zahlreichen Kunstwerke von Rang verdient Isa Genzkens Skulptur »Mein Gehirn« besondere Beachtung. Einen zum Amorphen tendierenden Betonklumpen mit einem antennenartig herausragenden Draht könnte der Journalist Hannes Stein als »nur mit sich selbst beschäftigt« wahrnehmen, »wenn es da nicht diese krumme Antenne gäbe. Sie verbindet das Gehirn mit der umgebenden Wirklichkeit, sie sendet ihm unaufhörlich Nachrichten, die es nun zu verarbeiten gilt. Selten hat ein Kunstwerk dermaßen unmittelbar eingeleuchtet.« (Stein 2013)

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Genau, denn diese Arbeit läuft keineswegs in einem selbstreferentiellen Loop leer. Klar ist aber genauso, dass mit dieser Antenne eine Metapher aus der medialen Frühgeschichte aktualisiert wird, als noch Funk und Radio die Medienszene beherrschten. Wäre dieses technische Supplement als Kommunikationsmedium zu verstehen, implizierte es automatisch die Vernetzung mit anderen Gehirnen – verallgemeinert – mit allen Gehirnen, was immerhin bedeutete, ein Teil des imaginären oder im Unbewussten existierenden Weltgehirns zu sein. Auch Dalí das Motiv aufgegriffen. Das weiß-graue Gewölk auf dem kleinformatigen Ölbild »Les trois sphinx de Bikini« von 1947 imitiert die reale Form eines Gehirns. Gemäß dem surrealistischen Programm hat es allerdings eine Metamorphose durchlaufen. Die Wolkenformation bildet die Rückseite eines Männerkopfes, der sich mit den Proportionen einer Büste aus einer glatten Ebene erhebt, wobei die Hirnstruktur frei liegt. Sie aber bildet eine mehrdeutige Grundform, denn Dalí prangert mit dem Motiv gleichzeitig die amerikanischen Atombombentests am Bikini-Atoll an. Was auf den ersten Blick wie eine weiße Wolken scheint, ist eine Anamorphose, die Atompilze darstellt. Das Kopf-Gehirn-Schema wiederholt sich zwei Mal, einmal als Laubbaum und am Horizont, wo es perspektivisch verkleinert noch einmal die Explosionswolke wiederholt. Als ein surrealistisches ist es von vornherein symbolisch angelegt und denunziert auf dieser Bedeutungsebene die Destruktivität das menschlichen Gehirns. Indirekter reproduziert Arik Brauers »Gedankenhut« die zerebrale Form. Aus einer braunen mit Ohrenschützern versehenen Kappe ragt über einem dunkler-braunen Fantasiegesicht das als »Hut« apostrophierte Gebilde, welches sich seinerseits in zwei schalenartige Formen zerteilt. Aus ihrem Innerem stülpt sich ein hellblauer Höcker mit herauswachsenden Wasserpflanzen auf. Dasselbe Hellblau zweier aus den Seiten des Hutes schwingenden Flossen oder Lanzettenblätter legt nahe, dass es sich bei der ganzen Gestalt um einen submarinen Organismus handeln könnte. Der zum Teil löcherige in Braunund Ockertönen gehaltene »Gedankenhut« dient als Bildfläche für abstrakte bzw. amorphe Muster und lässt sich in seiner ausladenden, die Welt aufnehmenden Offenheit als Ergänzung oder Prothese des Gehirns interpretieren. Auch dieses Motiv des mit dem Surrealismus verwandten Wiener fantastischen Realismus stellt eine Metamorphose des Gehirns dar. Während die Dalí-Gehirne Bedeutung und Botschaft transportieren, driftet das Gehirn auf Brauers »Gedankenhut« in eine psychedelische Welt, wird zu seinem eigenen Traum und Märchen. Dalís und Brauers Bilder sind im Wortsinn oberflächlich. Denn

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was sie metamorphorisch um- und weiter formen, ist nur das Sichtbare, allein das, was sich zu sehen gibt und nicht, was im Inneren stattfinden könnte. Der Eindruck, der an eine kontinuierliche Bewegung von Formen aus sich heraus erinnert, läuft bei den digitalen Filmtechniken unter dem Begriff Morphing. In Sachen Gehirn repräsentiert »Der geheime Doppelgänger« von René Magritte (1927) ein Negativ. Für den Blick ins Innere des Kopfes ist die Fassade abgeschält und beiseitegestellt. Auch hier als Büste, der eines androgynen Mannes mit einem höchst surrealen Innenraum des Kopfes. Weder weisen Wunden noch Zeichen des Schmerzes auf die eigentlich martialischen Operationen hin, noch stört das mit einem Stück des Oberkörpers heraus geschnittene Gesicht die Harmonie der Komposition. Neben der Gesichtsfassade die restliche Figur, d.h., eine Verräumlichung des Schädel- und des Körperinneren. Was aber fehlt, ist das Gehirn. An seiner Stelle verlaufen aus dem dunklen Hohlraum der Schädeldecke schwarzgraue Muskelstränge senkrecht nach unten. Um die surrealistische Absurdität zu unterstreichen, ist das aschfarbene Muskelfleisch dekoriert mit elf Schellen wie sie früher Pferde am Hals trugen, ein in Magrittes Werk sich wiederholendes Insert. Des Menschen Oberfläche und was sich dahinter verbirgt. Da Magritte sich mit dem Verhältnis der Realität-Bild, speziell zum gemalten Bild auseinandersetzt und darauf insistiert, dass ein Bild nur Bild sei, daher niemals als äußere Realität misszuverstehen sei, stellt »Der geheime Doppelgänger« ein »Konterfei« dar, weil mit diesem Begriff eben »nur« ein abgebildetes Gesicht bezeichnet wird. Magritte seziert Untrennbares, sodass, was eine integrierte Person ausmacht, in zwei selbständige Teile zerlegt ist und aussieht, als handelte es sich um Teile zweier Personen. Das paradox verzwirnte Doppelgängermotiv verallgemeinert sich zu dem Dualismus des Innen-außen-Gegensatzes. Doch anstatt den zu erwartenden Widerspruch zwischen einem Gesicht als sozialkonformer Oberfläche und einem dagegen revoltierenden Inneren zu konstruieren, spiegelt der leere Gesichtsausdruck nichts als die Leere im Kopf. Wo ein Gehirn arbeiten sollte, tun das Muskeln. Mit dem einsetzenden Körperkult des 20. Jahrhunderts mutiert die Descart’sche Mechanik zu einem organischen Bewegungsapparat. »Das Geheimnis des Doppelgängers«, ist das eher offene Geheimnis eines gespaltenen Subjekts, im strengeren Sinn trotzdem keine Zwillings-Konstellation zweier unabhängiger Personen. Das »Geheimnis« verrät sich selbst, indem seine Bestandteile als Äquivalente der Leere von vornherein kongruent sind. Wo Dalís und Brauers Surrealismen von ihrem Motiv etwas zu verstehen geben und es auf je eigene Art entfalten, verrätselt Magritte das Sujet. Unter

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der Zweckbestimmung der zerebralen Selbsterkenntnis ließe sich annehmen, das Gehirn Magrittes entwerfe ein Bild der Resignation, als es daran zweifelt, sich in seiner Totalität selbst verstehen zu lernen. Metaphorisiert als Muskelstränge scheint es sich nicht mehr zuzutrauen als partikulare Funktionen ermitteln zu können. Den drei Beispielen gemeinsam ist die surrealistische Prämisse, dass Erkenntnisprozesse allein im Subjekt ablaufen und als solche nicht nur über (»sur«) wissenschaftlicher Logik rangieren, sondern auch jede Alltagslogik übersteigen, als Träume, Visionen und Unbewusstes der Ratio überlegen sind und letztendlich viel weiter respektive »tiefer« vordringen als es positivistische Methoden versprechen. Der amerikanische Künstler John Baldessari (1931–2020) erweiterte seine Gemäldeserie »Body Parts« aus Beinen, Armen, Ohren oder der Nase um das Gehirn. Formal Dalís Atompilzen nicht unähnlich, malte er das menschliche Gehirn als weiße Wolke. Für die Rauminstallation »Brain/Cloud« kombinierte er ein wandfüllendes Kunststoffrelief des Gehirns mit einer großflächigen Videoprojektion des Sujets, das wiederum in einem dritten Kontext auf einem Tafelbild über einer einsamen Palme am Meeresstrand schwebt. Nicht zufällig erinnern das Weiß und die Wolke an Magritte. Wie dieser betonte Baldessari, zwar leicht ironisiert, eine Affinität zur Sprache. Gerade wo es sich zu einem überdimensionalen Objekt aufbläst, desavouiert sich das Gehirn als flüchtiger Dunst. Gegenüber Baldessi wäre der belgische Maler, Dramatiker, Regisseur und Choreograph Jan Fabre (geb. 1958) hervorzuheben. Im Unterschied zu Kollegen, in deren Œuvres das Gehirn mehr oder weniger peripher vorkommt, setzt sich der für exzessive Bühnenstücke und -performances bekannte Belgier seit 40 Jahren nicht nur in der bildenden Kunst mit dem Gegenstand auseinander, sondern auch auf der Bühne etwa in dem Monolog »Le Roi du plagiat«. Am ausdrücklichsten spielt er das Thema auf seinen Zeichnungen und in seinen Plastiken durch. Was Jan Fabre von anderen Kunstschaffenden abhebt, ist seine mentale Nähe zu einem enthusiastischen Hirnforscher, dass er als Agent des Gehirns im Allgemeinen wie im Besonderen sein eigenes Gehirn paradigmatisiert. Im Unterschied zu Hirnforschern, denen als Mitglieder der globalen Wissenschaftler-Commutity kaum ein Sonderstatus zugebilligt wird, bildet ein Künstler mit der Passion eines Hirnforschers in seinem Metier eine bemerkenswerte Ausnahme. Sicher anders als die meisten Wissenschaftler wird Fabre nicht von den Potentialen des Gehirns angezogen, sondern von dessen äußerer Form, dem in seinen Augen ästhetischen Reiz jener grauen Zellmasse. Gegenüber den sozialen, psychologischen, kulturellen und ideellen Besetzun-

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gen, des »Theater(s) unseres Denkens, Relikts unserer Seelen, Sitzes unserer Träume und Wünsche« wären die Zeichen der körperlich-fleischlichen Qualitäten zu unterstreichen. Wo immer das Gehirn zu Geist und Licht stilisiert würde, solle es geerdet werden, denn es ist Materie: Moleküle, Organismus, Venen, Blut und Teint. (Vgl. Hammache: 2019) Mit dem Wortspiel »ma nation: l’imagination« betitelte er 2018 eine Ausstellung in der Fondation Maeght an der Côte d’Azur. Präsentiert wurden 70 Skulpturen, dazu Zeichnungen und Collagen, die die Form des Gehirns modifizieren. Auf den ersten thematischen Zeichnungen bildete Fabre die Scans ab, die ihm ca. 2008 nach der Untersuchung einer neurologischen Störung zugefallen waren. Einmal als Basisform oder Schablone gesetzt, ließ sich mit den fraktalen Eigenschaften dieser Form alles Mögliche anstellen, mitunter auch spektakulär inszenieren wie in der überlebensgroßen von Pfeil-durchbohrten Doppelfigur, die selbst wiederum Teil einer Installation unter Grabkreuzen liegender Gehirnplastiken ist. Mit Augen versehen, verwandeln sich originalgroße Formen in Tierchen sowie, angereichert mit diversen Applikationen, in Fabelwesen, Insekten, einen Karpfen oder fantastische Fische, wie überhaupt die Fantasie keine Grenzen zu kennen scheint: Isolierte, wie aus authentisch wirkender Hirnmasse modellierte Füße, umgekehrte Schildkrötenpanzer, ein aus vergoldeter Oberfläche sprießender Bonsai, ein Exemplar mit mythologischem Flügelpaar oder als die geheiligte Lunula einer Monstranz, als Reittier oder mit mittelalterlicher Kaiserkrone; anderswo steckt zwischen den Hirnhälften die Klinge einer Schere und last not least aus weißem Marmor Michelangelos Pietà, unterm Kopftuch ihr Totenschädel, während auf ihrem Schoß nicht der tote Christus ruht, sondern ein Typ im Anzug, der das signifikante Organ in seiner leblos herab hängenden Hand hält. Reduziert auf sein formales Substrat lässt sich das Gehirn kreativ ausbeuten und multipel verwenden. Erweitert mit Applikationen verschiebt es sich in ein surrealistisches Spielfeld, in dem es nie als autonomes Objekt allein für sich fungiert. Die meisten der applizierten Figuren und Gegenstände haben nie zwingend direkt mit dem Gehirn als solchem zu tun und scheinen daher willkürlich. Sofern es sich um subjektive oder autobiographische Bezüge handelte, wären diese zumindest kommentarbedürftig. Dennoch geht die künstlerische Spekulation auf die Ausstrahlung, die ein freigelegtes Gehirn sowieso mitbringt, selbst dort noch auf, wo der Korpus als Sockel einer beliebigen, d.h., thematisch unverbundenen Skulptur untergeordnet ist. Was in seiner regellosen Vielfalt nach kreativer Willkür aussehen mag, entspricht zuletzt jedoch der Natur des Gehirns, die Totalität all dessen zu sein, was der Fall ist und viel

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mehr. In Fabres Werk sind ästhetische Oppositionen wie Stringenz versus Willkür von vornherein obsolet. Konzipiert als ein Abgleich zwischen wissenschaftlicher Repräsentation und künstlerischer Darstellung war das Ausstellungskonzept »Brainstorm: Investigating the brain through art and science. An exhibition of artwork and scientific material at GV Art in London focuses on the often taboo subject of the human brain.« Laut Galerieinformation beschäftigen sich sieben zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler mit dem Gehirn unter »Physische Beschaffenheit«, »Sitz des Verstandes und der Seele«, »Ursprung kreativer Impulse«. Ergänzt wurde die Kunstaustellung durch einen wissenschaftlichen Film, in dem ein Neuropathologe das Organ schichtweise seziert. Die Parallelführung von Kunst und Wissenschaft sollte einen Dialog anstoßen, wie wir das Gehirn sehen, wenn wir seine Funktionen einerseits wissenschaftlich verstehen und andererseits, wozu es führt, wenn die Konfrontation mit der Physis des Gehirns individuell wahrgenommen und verarbeitet wird. Das Projekt zeigt, dass das Gehirn als künstlerisches Sujet – im Gegensatz zu anatomischen Darstellungen – unkompliziert abzubilden ist, weil Kunst ja von vornherein einen Überschuss auswirft, der über positivistische Repräsentationen hinausweist. Künstlerische Produktionen transportieren zwangsläufig Beiladungen aus Interpretationen, Assoziationen, Botschaften und Projektionen. Das belegt das mit Laser in Bleiglas geätzte Modell »My Soul Glass« von Katharine Dowson. In farbloser Transparenz und wie schwebend in der vermeintlichen Leere eines Glaswürfels, könnte das Objekt eine Vergeistigung des Fleischlichen illustrieren, um die alte Metaphysik der Seele gegen den wissenschaftlichen Materialismus auszuspielen. Wie in einer Replik auf Dowsons Entkörperlichung verwendet Helen Pynor das Farbfoto eines realen Gehirns – grau, rosa und provokant fleischlich – für ihre Serie »Headache«. Wie das Haupt eines Idols, einer Gottheit oder eines Dämons thront das sich plastisch aufwölbende Gehirn auf einer an einen Schamanen erinnernden Stange. Eingezeichnete Linien winden sich wie um einen Äskulapstab, bis sie sich über dem aufgesetzten Gehirn kronenartig verästeln und die Skulptur mit handgeschriebenen Wörtern zum Thema »Headache« vollenden. Annie Catrells zweiteiliges »Inside« aus vergoldeter Bronze ist zusammengesetzt aus einem aufgeschnittenen Herz unter einem leicht kugelig stilisiertenn Gehirn. Während sich aus dem Herz Venen und Arterien verzweigen, führt aus dem Gehirn nurmehr als ein kompakter Nervenstrang zur Wirbelsäule, sodass das zweiteilige Ensemble offenbar die populären Oppositionen von Hirn und Herz, Verstand und Gefühl symbolisiert. Ein anderes Ensemble hat hingegen nichts mitzu-

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teilen. »Within« kombiniert sich aus zwei Halbreliefs in Silberbronze, die mit ihrem Geäder als »cast interior of skull« bezeichnet sind und ein seltenes Beispiel abgeben für die unmittelbare Visualisierung des Gehirns in einem künstlerischen Medium. Ähnliches lässt sich für »Nervous Tissue 1–3« von David Marron feststellen. Abgesehen von dem doppeldeutigen Titel »Nervengewebe« oder »nervöses Gewebe« beschränkt sich der Künstler mit seinen vergrößernden Zeichnungen ausschließlich auf die graphische Qualität wissenschaftlicher Gehirnschnitte. Andrew Carnie, ein Künstler, der sich bereits vor der Initiative des »Brainstorm«-Projektes mit Medizinthemen auseinandergesetzt hat, steuert mit »Autumn Twist« den großformatigen Tintenstrahldruck eines aus der Obersicht gezeichneten Hirnovals bei. Aus dem Mittelpunkt der hell belassenen Form rotieren feinästlige Bäume und krümmen sich elastisch unter der Macht eines Sturmes. Der Titel legt nahe, dass die Arbeit das subjektive Befinden eines Künstlers im Herbst seiner Produktivität reflektiert. Wie so oft dient auch hier das Gehirn als Substrat einer zumindest ausdrucksstarken Symbolisierung. Wenn die Künstlerinnen und Künstler durch die kuratorischen Prämissen ihre Realisierungen aus dem vorangestellten wissenschaftlichen Kontext heraus zu entwickeln hatten, die Fantasie, Interpretationen und Formfindungen inhaltlich gebunden waren, mithin nicht aus freien Stücken und intrinsisch motiviert, so ist die theoretische Aufgabenstellung der Tatsache geschuldet, dass das Thema, wie es die Initiatoren des Projekts voraussetzten, ein »taboo project of the human brain« ist. Was für den subjektiven Antrieb der künstlerischen Produktion wohl sicher gilt, auf das trifft angesichts der im Internet kursierenden Bilder das Attribut »tabuisiert« absolut nicht zu. Allein die Website »Gehirn Stock-Bilder und -Fotos« von gettyimages stellt unter dem Stichwort »Gehirn« 20532 Abbildungen zur Verfügung und mit 44157 Beispielen doppelt so viele unter »Neuro«, kategorisiert jeweils unter »Gehirnforschung«, »Gehirntraining«, »Digital«, »Gehirn icon«, »Neurologe« usw. (Stand 3.8.2020). Das Onlinearchiv unterscheidet nicht zwischen wissenschaftlichen und als kreativ zu bewertenden Abbildungen, hält aber im Gegensatz zu Websites wie pinterest und kunstnet.de gewisse formale Qualitätsstandards ein. Letztere Plattformen sind auch Naiven und Dilettanten zugänglich, deren vielfach hippieeske Ästhetik den kommerziellen Kreativmärkten entspricht. Unter den passenden Suchbegriffen sind auch bei Amazon Poster und Dekomaterial mit dem Motiv bestellbar.

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Wie sich die Wissenschafts- zur Trivialliteratur verhält, so verhalten sich auch die vielen niedrigschwelligen Internetbilder zu szientistischen Darstellungen, weil das sich selbst erforschende und selbst verbildlichende Gehirn nicht zu differenzieren braucht zwischen Computertomographien und plakativen Farbfantasien von Dilettanten. Diese verbreiten bevorzugt das Klischee der angeblich für Emotion und Kreativität zuständigen rechten Hirnhälfte. Während die Opposition graue Logik vs. bunte Kunst als beliebtes Stereotyp dilettantischer Kunst zu beobachten ist, lassen sich aus dem Überangebot von gettyimages ebenfalls sich wiederholende Motive herausfiltern. Gezeichnet, gemalt, modelliert, fotografiert und digital animiert kursieren Illustrationen von Hirnkapseln aller möglichen Inhalte wie Glühbirnen, Zahnräder, Blumen, Farbspiele; oder im Gegenteil menschliche Figuren mit einem aufgeklapptleeren Schädel; Animationen transparenter im Raum schwebender Gehirne als Angriffsziel bzw. Quelle von Strahlen und Wellen; surreale Szenerien mit kleinen Gestalten in überdimensionalen Gehirnlandschaften; Karikaturen en masse; grell eingefärbte Computerbilder synaptischer Prozesse; sich in konnektiven Netzen auflösende Gehirne oder andere, deren fleischliche Windungen grafisch übersetzt sind in kybernetische Schaltkreise; Personen, die in den Händen ein aus je unterschiedlichen Materialien geformtes Organ oder ein virtuelles Modell darbieten; oder in bunten Schwärmen aus dem Kopf stiebende Gehirne. Die Imago des Gehirns wird zu einer verfügbaren Leerstelle, einem provozierenden Vakuum, zumeist in den Konturen seiner Silhouette, die zum Projektionsraum dient für alles, wie es dem Gehirn dann entspricht, als außerhalb seiner nichts existiert. In vielen Fällen evoziert diese Leere Botschaften, oft dann in negativen Bildern mit zu Knäueln verfilzten Linien oder Labyrinthen als Metaphern der Unübersichtlichkeit und Überforderung. Ein weiteres Muster dokumentiert Angst vor Einflüssen: Das Organ, ungeschützt und marionettenhaft an Kabeln, gegebenenfalls auch durchwoben oder attackiert von digitalen Codes. Wie zu jedem Klischee so auch dazu das Gegenteil, wenn die Imago monotheistisch aus der Dunkelheit strahlt oder in eine Lichtaura gehüllt ist. Als glänzende Metallplastik ist es undurchdringlich und abweisend, auch dazu der Kontrast, wenn Gehirne als eine Lichtquelle aus transparenten Köpfen leuchten. All das zusammengenommen, sticht auf gettyimages am deutlichsten das Motiv der Transparenz hervor. Ob nun designt, gezeichnet oder animiert wiederholt sich dabei der Dualismus aus Schädelinnerem und Gehirn als serielles Schema, ebenso schematisch wie die transparenten und immateriellen Gehirne, die in abgedunkelten Räumen schweben.

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Wo sie nicht pure Phantastereien sind, lagern sich die simulierten Einblicke ins Schädelinnere an die technischen Aufnahmen vom Röntgen bis zur Kernspin an. Denn um sich selbst in einem lebenden Organismus beobachten zu können, benötigt das Gehirn medizinische Instrumente und Medien. Mit der Verfügung eines Hirnforschers über die aktuellen bildgebenden Verfahren könnte immerhin ein Gehirn erstmals, d.h., auch ohne Umwege über fremde Exemplare nehmen zu müssen, dieses notorische Verlangen nach Visualisierung befriedigen. So megaloman es sich zum komplexesten Organ im Universum aufwirft, als so schmucklos empfindet es offenbar sein Äußeres. Aus dem Grund sind es nicht allein seine Klausur und die Unmöglichkeit, in andere Köpfe hineinzublicken, was Projektionen und Bilder provoziert. Seiner körperlichen Nichtpräsenz widerspricht seine undurchschaubare und unerforschliche Kapazität. Da das Gehirn alles (was dieses abgeschliffene Zahlwort niemals zu bezeichnen das Potenzial hat) »beinhaltet«, »umspannt«, »fasst«, »enthält«, »impliziert«, lässt sich prinzipiell mit entsprechender künstlerischer Fantasie jedes Motiv der Innen- und Außenwelt mit seinem zu einer Schablone standardisierten Abbild kombinieren und verbinden. Dennoch bewegen sich die meisten der frei ausgedachten nichtwissenschaftlichen Darstellungen auf dem restringierten Niveau von Metaphern, wobei Übergänge zur Sprache fließend sind. Versteht man Metaphern als mentale Konzepte, dann sind sie mehr als nur sprachliche oder wie im vorliegenden Kontext bildliche Äußerungen in dem Sinn, »[d]ass Metaphern nicht nur als ein kognitiver Prozess, der bestimmte Verstehensleistungen ermöglicht, aufgefasst werden, sondern als etwas, das unser konzeptuelles System formt und damit entscheidenden Einfluss auf unsere Wahrnehmung und unser Verhalten hat.« (Goschler 2008: 23) Voraussetzung für die Attraktivität der Kunstwerke, die etwas mit oder aus der Form des menschlichen Gehirns machen, ist eine besondere Aura. Im Unterschied zur analysierenden, theoretisch und real zerlegenden und durchleuchtenden Wissenschaft fällt es (ansatzweise bereits dem Gehirnmuseum) allein der Kunst zu, Mittel zu kreieren, um die auratischen Potenziale des Gehirns als visuelle Prunkstücke zu überhöhen. Gegenüber szientistischen Bildgebungsverfahren profitieren künstlerische Optionen davon, keine nützlichen Ergebnisse liefern zu müssen sowie durch die Freiheit, alles einbeziehen und verwenden zu können, was ein Künstlergehirn für seine individuellen ästhetischen Zwecke als geeignet betrachtet. Den stärksten Vorteil aber bezieht es aus den Möglichkeiten, sich in der Kunst selbst in Szene zu setzen, und zwar nicht mehr in seiner Eigenschaft, ein nur schwer zugängliches organisches System

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zu sein, sondern ein kultureller Gegenstand als ein auratisiert bis geheiligtes Kultobjekt, mutierbar in jeden Stoff, um seine Form einzugießen, zu fixieren, entrücken, überhöhen, monumentalisieren, um diese unter allen materiellen Manifestationen eher unauffällige Erscheinung zu verewigen, um auch jenes karge, mitunter klägliche Bild auszulöschen, das es als in Formalin eingelegtes Fleisch abzugeben gezwungen ist und als Kunstwerk herausgehoben zu sein in Opposition gegen den medizinischen Relativismus, demnach es nicht mehr sein darf als jene banalen Organe, die es steuert und mit denen es sich austauscht.

Exkurs über Schönheit Während lebenswichtige wie soziale und umweltgerichtete Funktionen weitgehend eingrenzbar sind, und für die das Gehirn Fortschritte seiner Selbsterkenntnis verbuchen kann, erweist sich das Phänomen Schönheit als recht kompliziert und widerständig. Einerseits verwurzelt in den archaischsten Regionen der physischen Basalganglien, entfaltet sich die Wahrnehmung und Produktion von Schönheit im hochgradig ausdifferenzierten kulturellen Feld. Nicht genug mit dieser paradox anmutenden bio-kulturellen Fusion ist Schönheit ein genetisches Programm als Derivat und Effekt der Libido, gekoppelt an die Reproduktion der Spezies, wie, davon abgekoppelt Schönheit gleichzeitig größter Expansivität unterliegt, weil – spätestens seit philosophische »Ästhetiken« es hergeleitet haben – sie sich auch jenseits definierbarer Zwecke verwirklicht. Hinsichtlich ihrer visuellen Fülle ist Schönheit eine Qualität ihrer naturgeschichtlichen Koevolution mit dem Auge. Da könnte es auch naheliegen, dass das ebenfalls als »Lichtsinn« zu bezeichnende Auge als empfindlichstes, weil übersensibilisiertes Nervensystem einen größeren Datenüberschuss transferiert als die übrigen Sinnesorgane. Die vom Gehirn zu erkennende Komplexität wächst mit den Überschneidungen der genetischen, organischen und kulturellen Faktoren, Komponenten, Momente oder »Bauteile«, die sich permanent vermischen und aktiv sind. Mögen sie als Untersuchungsgegenstand im Einzelfall jeweils isolierbar sein, so funktioniert das alles nicht beim Phänomen der Schönheit, weil diese sich weder aus den biologischen und kulturellen Wahrnehmungsrastern herauslösen lässt, noch weniger aus den nicht einzufangenden Kontroversen um eine Definition von Schönheit. Ist sie als gesellschaftliche Differenz auch kaum zu fassen, ihren Voraussetzungen aber kann man sich zumindest annähern.

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Die lichtempfindlichen Proteine, die ursprünglich Sonnenlicht in Energie umwandelten, differenzierten und maximierten sich in den Milliarden Jahren der Biogenese zum menschlichen Auge. Als Lichtorgan mit der Fähigkeit, unendlich viele Farbnuancen zu unterscheiden, verfügt es auch über eine scharfstellende Linse, ist trotz seiner Komplexität in dieser Ausprägung aber keineswegs eine Ausnahmeerscheinung der Natur, denn während der Evolution haben sich 40 Modifikationen des Auges herausgebildet. Darwin bezweifelte noch, ja, fand es sogar »absurd«, dieses hoch diffizile Sinnesorgan als ein Resultat der natürlichen Auslese anzuerkennen. Analog zu McLuhans Bestimmung der technischen Medien als Fortsetzungen des Körpers ließe sich diese Einsicht gewissermaßen rückübertragen auf den Bauplan des Gehirns, wo die Sinnesorgane als Medien fungierten, auf die es als seine Erweiterungen angewiesen ist, um auf die Umwelt zugreifen zu können. Relativ schwach ausdifferenziert sind dabei der Tast- und Geruchssinn. Wie der taktile Sinn Druck und Temperatur mechanisch von der Haut abnimmt, fangen die Nasenschleimhäute ebenso die in der Luft schwebende Moleküle auf. Wo diese Reize nicht simultan, d.h., unmittelbar rezipiert werden, verkomplizieren sich die Prozesse, weil von da aus vom Gehirn physikalische Wellen zu dekodieren und zu transformieren sind wie Schallwellen durch das Gehör oder um noch eine Stufe mittelbarer die elektromagnetischen Wellen, die als Lichtreize auf das Auge treffen. Um sie für das Gehirn kompatibel zu machen, werden die chemischen bzw. mechanischen Sinneseindrücke wie auch die vom Auge und Ohr aufgenommenen Wellen in elektrische Impulse umgewandelt. Aus der physikalischen Tatsache, dass Lichtwellen die am wenigsten physisch perzipierbaren sind, ist das Auge zum empfindlichsten und komplexesten Sinnesorgan geworden. In seiner Eigenschaft als Aufzeichnungs- wie auch Übertragungsmedium transformiert die Netzhaut, nachdem Hornhaut und Linse die Lichtstrahlen gebrochen und gebündelt haben, die Lichtsignale in elektromagnetische Wellen, während die Pupille auf die Intensität des Lichts reagiert, sofern dieses nicht durch den Lidreflex von vornherein abgeblockt und draußen gehalten wird. Augenlid und Muskulatur bilden den motorischen Apparat, und der Sehnerv bzw. die Hirnbahn den Übertragungskanal zur Sehrinde, sodass das visuelle System sich insgesamt aus drei Subsystemen aufbaut: Augapfel, Anhangsorgane und Sehbahn. Aufgrund des hohen evolutionären Niveaus, seiner Übersensibilität, mit denen kein anderes Organ in dieser Weise ausstattet ist, adaptiert und produziert das Auge a priori einen Datenüberschuss, der sich wiederum reproduziert in der hypervisualisierten Umwelt einer zweiten

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respektive dritten Natur, wie auch endogen in dem Übergewicht des Visuellen, das die Träume so bunt macht. Während der Entwicklung des Embryos wächst die erste Anlage des Auges unmittelbar aus dem Gehirn hervor. Durch diesen physischen Ursprung ist das Sehorgan als genuiner Teil des Gehirns festgelegt, wohingegen die übrigen Sinnesorgane sich indirekt herausbilden und sich, wenn man will, »nur« auf dem Niveau mittelbarer Derivate fortsetzen. Je mehr die Sinnesorgane sich im Verlauf der Evolution ausdifferenziert haben, desto systematischer segregieren sich die Hirnprozesse in Innen und Außen, d.h., in die vegetativen Funktionen, die den Organismus am Laufen halten, gegenüber den exogen-umweltbezogenen. Darwins Skepsis konnte in den letzten Jahrzehnten mit dem Nachweis entkräftet werden, dass das Auge sowohl der Wirbeltiere als auch Wirbellosen einer gemeinsamen Evolutionslinie entstammt. Kann das menschliche Auge jedoch über die wahrnehmungspsychologisch reduzierten zwanzig und die zuletzt auf drei Grundfarben basierenden Abstufungen hinaus (plus Helligkeitswerte) ca. 20 Millionen Farbnuancen unterscheiden, so ist das der eigentlich Überstieg, der Darwin zumindest dem Auge prinzipiell zugeschrieben hatte; und wenn hierbei der Begriff »Überschuss« einen Sinn ergibt, dann belegen das diese Dimensionen und Intensitäten. Nicht erst seit Nietzsches »alle Lust will Ewigkeit« ist die Menschheit damit bestens vertraut, dass die Libido sich keineswegs in der Fortpflanzung erschöpft. Zuletzt nämlich hebt Nietzsches Vers auf jenen biologischen Überschuss ab, der Individuen wie ganze Gesellschaften hysterisiert, was wiederum Heiratsregeln und Sexualmoral kanalisieren sollen. In liberalen bis libertären Gesellschaften allerdings lässt sich die Fortpflanzungsfunktion von einer freigesetzten Sexualität kaum mehr trennen, als diese allein noch von Individuum zu Individuum gesteuert wird. Schönheit wäre in diesem Framing zu untersuchen. Wenngleich akustischen Intensitäten wie der Stimme oder der Musik zurecht das Attribut »schön« zukommt, wird Schönheit im weiteren Verlauf dieser Argumentation hauptsächlich als Projektion des Auges bestimmt. Aus zwei Gründen. Einer davon betrifft die neurophysiologische Natur und die Synchronisation von Auge und Gehirn in einer Unmittelbarkeit, die andere Sinnesorgane entbehren. Der zweite Grund bezieht sich auf die soziokulturelle Entwicklung, der zufolge besonders seit der Moderne und den medialen Revolutionen die Dominanz des Auges sich in einer unaufhaltbaren Visualisierung der kulturellen Umwelt niederschlägt.

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Vielen Tieren dienen Farben der Distinktion der Arten wie auch der Individuen. Die Farbenpracht der Kolibris, Korallenfische oder Schmetterlinge des Regenwaldes, die für das menschliche Auge spektakulär sind, haben indessen mit Schönheit genauso wenig zu tun wie der Gesang der Vögel, der nach einer Bemerkung Adornos unheimlich sei, weil es in Wirklichkeit kein Gesang ist. Wir dagegen beanspruchen mit dem »Schönheitssinn« sogar mit einem besonderen Sensorium ausgestattet zu sein. Wie die Tiere über ein genetisches Wahrnehmungsprogramm zur Identifizierung ihrer Artgenossen verfügen, so ist auch der menschlichen Genetik eine der Fortpflanzung untergeordnete Funktion eingeschrieben, die als Schönheit konventionalisiert wird. Während es als gesichert gilt, dass schöne Gesichter bereits bei Säuglingen besondere Aufmerksamkeit erregen, lassen sich der Quotient des weiblichen Taillenund Hüftumfangs von 0,7 einschließlich des computergenerierten Durchschnittsgesichts, die lange als die attraktivsten weiblichen Merkmale für die Ewigkeit festgeschrieben schienen, nicht als universelle Werte verifizieren, weil sie sich als kulturabhängig relativiert haben. Als wichtiger für die Reproduktion der Spezies hingegen rangiert ein Parameter wie die Beschaffenheit der Haut als universelles Schönheitskriterium. Wer die Haut als »schön« empfindet, unterwirft sich bereits einer Projektion und evolutionsdiktierten Verschleierung, die über den praktischen Aspekt der Gesundheit potenzieller Geschlechtspartnerinnen und -partner hinwegtäuscht. Verglichen mit einer freien, polymorphen Schönheit ist funktionale Schönheit viel weniger vielschichtig. Jene Schönheit aus dem Überschuss, mitunter auch zum evolutionären Nebenprodukt abgewertet, lässt sich dagegen nicht fassen. Es verwundert daher nicht, dass dieses Paradigma, an dem Oppositionen wie subjektiv:objektiv zerfasern, zu naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen wie in der Neuro- oder Evolutionsästhetik herausfordert. Generell aber wäre sie als ein durch ganz unterschiedliche Faktoren und Effekte bedingtes Emergenzphänomen zu beschreiben. »Lust am Schönen ist mehr als eine Affektion der Sinne. Sie konfiguriert sinnliche Wahrnehmung mit kognitiven Leistungen, affektiven Besetzungen und praktischen Verhaltenskonsequenzen. Für Kant ist sie deshalb eine herausragende Weise des Zusammenwirkens aller unserer ›Vermögen‹. Ohne ein Moment des Urteilens, der Evaluation des Gesehenen oder Gehörten würden wir keinem wahrgenommenen Objekt auszeichnende Prädikat ›schön‹ zuerkennen. Und diese Verknüpfung von Wahrnehmung und Urteil steuert zugleich mögliche Anschlusshandlungen. Wie verschieden solche kognitiven,

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affektiven und praktischen Implikationen auch sein mögen, sie konstituieren einen der ästhetischen Wahrnehmung eigenen Resonanzraum.« (Menninghaus 2003: 8) Was diesen Resonanzraum allerdings diffus macht, ist die Unvollständigkeit alles Schönen, dessen grandioses Verfehlen, das Winfried Menninghaus in seinem Buchtitel mit Stendhal als »Versprechen« durchschaut, denn »[…] nur das Versprechen von Glück (ist) keineswegs aber zugleich dessen Einlösung.« (Ebd. 10) In dem Mosaik aus Natur- und Kulturgeschichte richtet sich die reflexhafte Wahrnehmung menschlicher Schönheit auf besondere Attribute des Körpers und Gesichts. Wie immer eine als schön bewunderte Person in ein Gemälde, eine Skulptur oder dergleichen uminterpretiert wird, setzt sie sich fort zu einem artifiziellen Derivat seines ursprünglichen Vorbilds. Es wäre denkbar, dass die künstlerische Überhöhung, das ästhetische Surplus, den Mangel kompensiert haben könnten, dass das einstmals lebendige Modell im Kunstwerk erstarrt und zu einer, wenn auch auratischen Totenmaske gegossen ist. In derselben Bewegung generiert das Kunstwerk den konstitutiven Überschuss, die Menschen zu überdauern, indem es verspricht, der Zeit entrückt zu sein. Mit der Abbildlichkeit als Ablösung (lat.: abs-tractio) vom wirklichen Körper trennt sich das Schönheitsempfinden auch vom unmittelbaren, hormonell ausgelösten Fortpflanzungsimpuls. Das erkennt Menninghaus im Mythos von Adonis. »Die kurze Erzählung kennt nur ein Attribut, das von frühester Kindheit die Geschicke des ›Helden‹ bestimmt: seine Schönheit.« (Ebd. 13) Wo andere Mitglieder des epischen Personals sich aus mannigfachen Eigenschaften, Fähigkeiten, Aufgabenbereichen – gegebenenfalls auch aus Schönheit – zusammensetzen, reduzieren sich diese polymorphen Eigenschaften bei Adonis entscheidend: »Er ist abstrakt schön – und sonst nichts.« (Ebd. 15) Wie dynamisch, weil kulturabhängig sich die Ästhetik des Körperbildes weiterentwickelt hat, wird ab dem Zeitpunkt augenfällig, da die europäische Kunst sich aus der normativen mittelalterlichen Dombauhütte befreit hat (Hauser 1990: 261f) mit dem Resultat der Eliminierung der kanonisierten Grenzen, die dem Körperbild bis dahin gesetzt gewesen sind. Auch unter Berücksichtigung aller theoretischen Schwierigkeiten bleibt es legitim, sich auf den libidinösen Ursprung der Schönheit zu berufen, woran Freud trotz seines Pessimismus aus der Psychoanalyse etwas zur Erklärung des Phänomens beizutragen zu haben, nicht zweifelt. So wenig es für ihn wiegt, weiß Freud jedoch: »Einzig die Ableitung (des Schönen) aus

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dem Gebiet des Sexualempfindens scheint gesichert.« Genau genommen, wird die »libidinöse Erregung« durch den »optischen Eindruck« verursacht. Bedeutsam ist der Hinweis auf die Relativität der Schönheit, weil sie nur subjektiver Effekt einer psychischen oder hirnphysiologischen Aktivität ist, »[…] indem sie das Sexualobjekt sich zur Schönheit entwickeln lässt.« (Freud zit. bei Menninghaus 199) Einerseits – denn gleichzeitig wird der visuelle Reiz von einer »Objektqualität« ausgelöst, und diese wiederum affiziert die Nerven des Auges mit einem Lustreiz: »Schön heißt demnach jene ›Objektqualität‹, die im Gesichtssinn das Begehren weckt und die – über die aktuell empfundene Schaulust hinaus – das Begehren zugleich auf die Bahn weiterer Stufen des lustvollen Umgangs mit dem Schönen lenkt.« (Menninghaus: 201) Dass für Freud der »Genuss an der Schönheit einen besonderen, milde berauschenden Empfindungscharakter (hat)« (Freud zit. ebd. 209), lässt sich nach neueren Erkenntnissen mit der Ausschüttung von Botenstoffen wie Dopamin hirnphysiologisch genauer erklären. Verkürzt und allgemeiner zeigen auch Freuds Befunde, dass es sich um die Intensitäten eines Überschussphänomens handelt, das die expansive Dynamik der Schönheit entfesselt. Zwar erwähnt Umberto Eco auch andere Künste, doch in seinem Buch »Die Geschichte der Schönheit« wird nicht in Frage gestellt, dass das Schöne sich vor allem visuell definiert und eine Lust des Auges ist. Mit Beispielen aus der darstellenden Kunst belegt Eco seine Motivgeschichte, für die er seine Bildbeispiele nach bestimmten Kriterien katalogisiert. Anstatt mit einem Text beginnt das Buch mit einer filmartigen Bilderfolge. Der erste Katalog umfasst die »Unbekleidete Venus«, angefangen mit der Venus von Willendorf (25 000 v. Chr.) und endend mit einem fotografischen Halbakt der italienischen Filmschauspielerin Monica Belucci (1997); parallel dazu die Geschichte männlicher Schönheitsideale, paradigmatisch der »Unbekleidete Adonis« ab den archaischen Knaben-Statuen des mythischen Brüderpaares Kleobis und Biton (Delphi, 6. Jh. v. Chr.) bis zu einem Filmstill mit Arnold Schwarzenegger (1985), wobei die Anzahl der Bildbeispiele auffällig hinter den weiblichen Akten zurückbleibt. Nach denselben Kriterien reihen sich die Darstellungen »Bekleidete Venus«, »Bekleideter Adonis«, »Gesicht und Haar der Venus«, »Gesicht und Haar des Adonis«, »Maria«, »Jesus«, »Könige«, »Königinnen« wie am Schluss das Meta-Thema »Proportionen«. (Umberto Eco 2006: 16–35) Sofern diese Kategorisierung gewissen Präferenzen entspricht, sieht der Autor im nackten Körper das Substrat der Schönheit. Es folgen mythische und profane Personen, aus deren Haartrachten und Bekleidungen sich der Prozess der Zivilisation ablesen lässt. Abgelöst werden diese Darstellungen von christ-

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lich konnotierten Motiven wie auch zunehmend von Exponenten der klerikalen und weltlichen Macht. Sollten diese Personen noch weitgehend als Verkörperungen von Schönheitsidealen zitiert sein, dann hat das spätestens seit Holbeins d.J. Portrait von Heinrich VIII. oft nichts mehr gemeinsam mit früheren körperlichen oder physiognomischen Ästhetisierungen. Nachdem Maler nicht mehr verpflichtet waren, Mächtige zu verklären, verschiebt sich das Schöne von den empirischen Personen zu deren Ornaten und Umgebungen. Was in Ecos Galerie der Mächtigen der vergangenen Epochen und der Gegenwart der Präsidenten- und Fürstinnenfotos sichtbar wird, ist die affektive Besetzung der Macht, und wie sich die libidinöse Verklärung von den ursprünglich offensiv erotisch inszenierten Körpern ablöst und auf sekundäre TrägerInnen der Schönheit überträgt – in der Malerei buchstäblich abfärbt. Weil Eco in erster Linie für die Motivgeschichte verfolgt, schenkt er seine Aufmerksamkeit hauptsächlich den Inhalten und darstellerischen Mitteln, während das über Jahrhunderte für die Kunst ausschlaggebende Moment der Virtuosität unberücksichtigt bleibt. Selbst wo das »Hässliche« dem Schönen als notwendiger bzw. dialektischer Widerpart konfrontiert wird, wäre auch bei negativ konnotierten Manifestationen die künstlerische Virtuosität einzurechnen gewesen. Dass menschliche Hervorbringungen aus der Kooperation, der emergenten Interaktion von Hirnfunktionen, Körper und Sinnesorganen resultieren, mag vorerst wie ein Allgemeinplatz daherkommen. Sobald aber die schwer greifbare Abweichung, die Fundamentaldifferenz der Virtuosität als konstitutiv akzeptiert wird, zeigt sich eine andere Qualität. Selbst wenn man anspruchsvolle Ausführungen des Handwerks nicht gänzlich ausgrenzt, realisiert sich in der Virtuosität ein primär künstlerisches Surplus. Was attraktive Gesichter und Körper je im Auge ausgelöst haben, und welche »triebhaften« Impulse das Cerebellum je ins Bewusstsein geschossen hat, transformiert sich, wenn die Voraussetzungen stimmen, in Virtuosität. Eine hellenistische Venus oder eine Venus von Botticelli transzendieren die funktionale Schönheit des auf Fortpflanzung gepolten Stimulus und machen Schönheit zu einem rätselhaften intellektuellen und handwerklichen Phänomen. Ursprünglich als Bezeichnung für die spektakuläre Beherrschung eines Musikinstruments wurde die Kategorie Virtuosität auch für die bildende Kunst geläufig. Für die Malerei z.B., um eine scheinbare Leichtigkeit der Darstellung und herausragende Kunstfertigkeit zu bewerten, zunächst nur in der Pinselführung, und unter Einbeziehung der Komposition und Farbgebung wird später dann auch das Bildganze beurteilt.

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Wollte man Virtuosität semantisch eingrenzen, so dahingehend, dass die meisterhafte Beherrschung der Mittel alles Erlernbare übertrifft und sich allein aus einer singulären Fähigkeit erklären lässt, die das zuletzt wie immer Repräsentierte durch den alles entscheidenden Overflow unvergleichlich macht. Als optimiertes Sinnesorgan bedarf es eines rezipierenden und zugleich interpretierenden Auges als Voraussetzung für das Auge, das schafft und produziert. Abgelöst von der Physis und natürlichen Reflexen, frei und variabel, wird Schönheit seit der Antike zum Gegenstand endloser Kontroversen. Wurde die sakrale Kunst der Kathedralen, Altäre, Kirchenfenster und Ritualobjekte in ihrer Epoche als schön empfunden, so vermutlich nicht allein wegen ihrer ästhetischen Qualitäten, sondern vor allem aufgrund ihrer religiösen Aura. Diese verlagert sich, wo sie nicht ganz verschwindet, in der Moderne, wenn neben ambitionierten Bauwerken alltäglichen Gebrauchsgegenständen, technizistischen Monumentalartefakten wie dem Eiffelturm und seit dem Futurismus sogar den Maschinen Schönheit zugeschrieben wird. Was bei industriellen Massenwaren noch einleuchtet, weil sie durch das Design mittlerweile durchweg mit genuiner Kunst angereichert sind, kann das auf die Maschinen des frühen Industriezeitalters überhaupt nicht zutreffen, wohingegen Fertigungsroboter wie in der Autoindustrie neuerdings ebenfalls designt und ästhetisiert sind. Es ist paradox, dass Künstler mit außergewöhnlichen Anlagen kaum daran interessiert schienen und scheinen, in erster Linie Schönes zu erzeugen. Sich solches anzueignen, mag Kunstsammler bewegen, denn »[d]er Anblick des Schönen bereitet an sich selbst Lust und ist zugleich ein Antrieb, weitere Stufen des lustvollen ›Besitzes‹ des Schönen zu suchen.« (Menninghaus ebd. 22) Was Kunstschaffende antreibt, ist Vervollkommnung – in älterer Terminologie: Meisterschaft. Fortschritte der Kunst entwickeln sich aus dem Mangelgefühl und den Zweifeln, irgendwelche verinnerlichten Ideale je erreichen zu können, sodass es am Ende der Eigendynamik des künstlerischen Mediums selbst zuzurechnen ist, diese imaginäre Vollkommenheit anzustreben. Um das universelle Bedürfnis nach Schönheit zu befriedigen, zielte parallel zu der ambitionierten E-Kunst die Gebrauchskunst darauf, Funktionales mit Verzierungen und Ornamenten aufzuwerten. Kulturgeschichtlich entzündete sich an der ehemaligen Zweckgebundenheit der Kunst die zukunftsweisende Diskussion um die Autonomie des Kunstwerks und, daran gebunden, um den Anspruch auf Wahrheit. Damit wäre der Stellenwert von Kunstwerken nach außerkünstlerischen Normen, formalen Kriterien und den Implikationen

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des Produktionsprozesses zu bemessen. War die angestrebte Wahrheit bis dahin eine metaphysische Wahrheit mit Gott als höchstem Signifikanten, so verschoben sich mit der Profanisierung die Postulate auf das Verhältnis der Kunst zum Leben: Authentizität versus Künstlichkeit. Die Bedeutung der Schönheit reduzierte sich höchstens auf die Qualität eines Nebenprodukts, ein mehr oder eines weniger willkommenen Surplus, bis Künstlerinnen und Künstler der Moderne, nachdrücklicher in der Postmoderne, sich aus dem Schönheitsdispositiv nicht nur ausklinkten, sondern es programmatisch attackierten bis zu extremen Formen wie der in Dosen konservierten »Künstlerscheiße« (»Merda d’artista«, 1961) des italienischen Konzeptkünstlers Piero Manzoni. Für Schönheit zuständig sind längst andere kulturelle Institutionen und Formate – Kino, Werbung, Design, Kosmetik, Fitnessstudios. Die fortschreitende Macht der optischen Medien sowie Techniken des KörperTunings wirken sich irreversibel auf Geschmacksstandards aus. Neben den Schöpfungen der kosmetischen Chirurgie kursieren Leitbilder wie in Studios optimierte Körper, Silikonbrüste und Botoxgesichter. Schönheit firmiert nicht mehr als Kunstkriterium, sondern ist Industrieprodukt. Das Gehirn reagiert in zweifacher Weise. Einerseits auf Erfahrungen und Konfrontation mit Schönem, andererseits, indem es auswertet, welche Konsequenzen diese totalisierte Schönheit für seine Selbstwahrnehmung hat. Wo Freud noch von einem »milde berauschenden Empfindungscharakter« spricht, wirkt nach Florian Rötzer »der Anblick des Schönen wie ein Rauschgift« (Rötzer 2001), was sich insbesondere der Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin verdankt. Während eines von dem Autor geschilderten Experiments in Harvard ließen die Wissenschaftler Probandinnen und Probanden attraktive Gesichter betrachten, um währenddessen die jeweiligen Aufmerksamkeitsspannen zu beobachten. Zusätzlich wurden die Hirnaktivitäten per Kernspin aufgezeichnet. Genauer als für Freud, der wohl weitgehend auf persönliche Eindrücke vertraute und den Effekt, den er an sich selbst beobachtete, mit der Erregung der Nerven erklärte, weiß man inzwischen mehr über die Vorgänge, Funktion und Wirkung der Dopaminausschüttung. Ebenfalls geändert hat sich die Terminologie, indem das Dopamin – vulgo: Glückshormon – dem Belohnungssystem zugeschlagen wird. Z.B. lässt sich bestätigen, »[…] dass die Wahrnehmung schöner Gesichter dasselbe Belohnungszentrum anspricht wie Rauschgift, Essen oder Geld«, (ebd.) und offensichtlich ist auch empirisch belegt, was bereits Umberto Eco auseinander zu halten wusste: »Die schöne Oberfläche also, die im neutralen ästhetischen Urteil gefällt, wäre in diesem Fall also nicht identisch mit dem,

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was – in dem Fall: sexuell – begehrt wird. Begehren und Schönheit sind also offenbar nicht identisch […] « (Eco ebd. 10), was nicht ausschließen soll, dass sie »einander bedingen.« (Rötzer ebd.) Wohl lässt sich auch die Annahme eines Schönheitssinns empirisch bestätigen. Glaubt man einschlägigen Studien, so ist nach der Psychologin Nancy Etkoff (»Survival of the Prettiest: The Science of Beauty«), wie Rötzer zusammenfasst »[…] die Wahrnehmung von Schönheit angeboren, (und dass) ähnliche Merkmale universell als schön betrachtet werden. Wenn Schönheit tatsächlich fest durch die natürliche Selektion im Gehirn verdrahtet ist, sollten wir auch erwarten, Schaltungen im Gehirn zu haben, die auf Schönheit reagieren.‹ Sogar schon Babies im Alter von einer Woche würden schöne Gesichter bevorzugen.« (Rötzer ebd.) Schon wenn Begehren und Schönheitssinn als separate Komplexe aufgefasst werden, beglaubigt diese Trennung einen Überschuss an libidinöser Energie, indem die Fortpflanzungsfunktion letztendlich weniger Reize benötigt, als in das Nervensystem gesendet bzw. von diesem adaptiert werden. Das heißt ebenso, dass das abstrakt Schöne sich von der sexuellen Attraktivität des Körpers loslöst, trennt – befreit. Die Übergangsstufe von den körperlichfleischlichen Reizen zu der abstrakten, sich mehr und mehr totalisierenden Schönheit bildet der Körperschmuck. Wo der attraktive Körper sich selbst betäubt, sich narzisstisch sich selbst zuwendet, sexualisiert er sich auch selbst. Diese narzisstische Beziehung ist von vornherein ambivalent. Der Körper nimmt sich selbst als ein Objekt wahr geradeso wie ein Kunstwerk und verdinglicht sich damit. Das abgelöste und verselbständigte Schöne klappt zurück (auch als Feedback allgemein ästhetischer Erfahrung) zum eigenen – narzisstisch besetzten – Körper, während die Besessenheit von Schönheit überhaupt, wie man sie etwa von literarischen oder realen Kunstverrückten kennt, von der obsessiven Fixierung auf eine Person kaum zu unterscheiden sein dürfte. Wenn Menschen immer häufiger zwar akribisch an ihrer Attraktivität arbeiten, gleichzeitig aber ohne das Ziel sich fortzupflanzen, ist das auch als Zeichen dafür zu nehmen, dass die Optimierung des individuellen Erscheinungsbildes der Abfuhr libidinösen Überschusses dient. McLuhan verbindet die Etymologie von »Narziss« mit »Narkose« (McLuhan 1968: 50ff). Diese Konnotation signifiziert die Gefahr, in der der in seinem Selbstbild Erstarrte wegen seiner Phobie vor der Hässlichkeit schon das Leben verliert, als ein unscheinbares Kräuseln der Wasseroberfläche sein Spiegelbild verzerrt. Ein Schicksal, das den zeitlos schönen Adonis um einiges brutaler trifft, als er zerfetzt wird von dem Eber, in den sich der eifersüchtige Ares verwandelt hat. Zweimal Strafe. Für Adonis, der das soziale Gefüge gefährdet

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durch die von ihm ausgelösten Rivalitäten (Aphrodite – Persephone), Narziss, der anstatt sich den Anderen zuzuwenden niemanden sieht als sich selbst, der der Gesellschaft den Rücken zukehrt und sich dem genetischen Fortpflanzungsprogramm verweigert. Wer die Körper der Anderen meidet und ignoriert, entzieht mit seiner selbstbezüglichen Schönheit nach dem Gesetz der abnehmenden Entropie dem Fleischlichen die Wärme. Shakespeare lässt Venus klagen, Adonis sei ein »cold and senseless stone«. »Schönheit – so ergibt sich aus dieser Warte – ist ein gewaltiger Auslöser und zugleich ein Feind des Begehrens und der Liebe. Sie ist ein Versprechen und zugleich eine Macht, die ihr eigenes Versprechen zu vereiteln neigt. Sie ist ein εκφανεστατον (Plato), etwas, das am meisten aus sich herausgeht, weil es am meisten scheint und erscheint; und sie scheint zugleich von einer Tendenz geprägt, sich in ihrer eigenen Selbstreferenz zu verfangen.« (Menninghaus ebd. 35) Das fluktuierende Schöne der Artefakte, das anders als seine körperlichen Ursprünge künstlich ist, generiert Ideale. Denn wirkliche Körper unterscheiden sich nicht nur voneinander, sondern sind auch, gemessen an jenen Idealen, unvollkommen. Die Attraktivität im Auge der Betrachtenden ist viel mehr Ausnahme. Die Produktion idolatrischer Körperbilder kompensiert den Mangel in dem universellen Bezugssystem aus imaginärer Schönheit und kreiert Identifikationsmodelle mit der Anziehungskraft, die die Gefühle der Insuffizienz zu absorbieren. [Exkurs Ende]

Das Bildmaterial chirurgischer und technischer Introspektionen ist Masse. Die optischen Aufzeichnungen wissenschaftlicher Provenienz visualisieren Struktur, Zusammensetzung und Funktionen des Gehirns und fördern dessen Selbsterkenntnis. Was aber passiert, wenn sich das Gehirn, das so sehr darauf aus ist, sich selbst zu sehen, und sich dann bar jeglicher akademischen Inskriptionen plötzlich mit seiner Form konfrontiert sieht, nackt sozusagen als ein Ding wie jedes andere? Zumindest böte sich die Chance, sich einmal als freigesetzt zu lokalisieren aus dieser (wie und woher auch immer) gesteuerten Mission der Selbsterkenntnis. Alles was es über sich herausgefunden hat und weiß, wäre plötzlich obsolet. Wenn sein Erkenntnisinteresse ins Leere läuft, könnte die Erfahrung mit dem Schönen an Raum gewinnen,

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wie auch die Aufmerksamkeit für seine eigenen – nicht-instrumentellen – Produkte wachsen, die die menschengemachten Lebensräume ästhetisieren. Wenn die unzählbaren Abbildungen als Spiegelbilder des Gehirns vor allem seiner Selbsterkenntnis zugutekommen, ließen sich aus diesem universellen Abbildungspool die zweckfreien Abspiegelungen in der Rubrik Selbstreflexion herausnehmen und separieren: Selbsterkenntnis gegen Selbstreflexion. Das Authentizität vortäuschende Spiegelbild des frei gelegten, isolierten Organs ist nicht aufgeladen mit dem Wissen um bewiesene Potenziale, sondern es zeigt das Gehirn in seiner fleischlichen Realität, reduziert auf die äußere Form, die unspektakuläre Farbe mit dem Anblick des Geäders, der Wölbungen und Falten. Am nackten Korpus offenbart sich die ästhetisch nicht zu überbrückende Diskrepanz zwischen seiner fleischlichen Präsenz und seinen so essenziellen wie unerforschlichen Funktionen. Wobei Präsenz selbstredend zu relativieren ist, denn sie bezieht sich nur auf das tote Objekt in der Anatomie oder das Präparat im Glas, und wenn doch das lebende, dann maximal als ein partielles bei geöffneter Schädeldecke im OP. Wäre es angesichts seiner ans Absolute grenzenden Hervorbringungen von Schönheit und Schönem zu erwarten, dass es an der Banalität seiner Gestalt verzweifelt, wie es das selbst darstellt durch seinen Autor Gottfried Benn in der Erzählung über den Arzt Rönne, der mit eben dieser Fleischlichkeit nicht mehr fertig werden kann und darum dem Wahnsinn verfällt? Während wissenschaftliche Erkenntnisse gemeinhin geringem Widerstand ausgesetzt sind, sie akzeptiert und adaptiert werden, verwirrt Schönheit die Menschen, was auch, tiefer gelegt, heißt, dass das Gehirn keine klare Einstellung findet. Wo es mit positivistischem Wissen doch so viel anzufangen weiß, ist es ratlos, sobald ihm Schönheit zur Aufgabe wird. Diese bleibt ihm im Unterschied zu wissenschaftlichen Evaluationen auf eine fundamentalere Weise uneindeutig, kontrovers, weil es sich andererseits darauf verlassen kann, dass (seine) wissenschaftlichen Hypothesen sich auf Dauer von selbst bestätigen oder falsifizieren. Diese Tatsache klammert das jeweilige Forschungssegment ein und begrenzt es, wohingegen Schönheit geradezu das Synonym für Grenzenlosigkeit ist, wo sich selbst dem Universum als dem Paradigma der Unendlichkeit wissenschaftlich beikommen lässt. Es fällt auf, dass das überindividuelle Gehirn – das emergente Menschheitsgehirn – die Produktion des nutzlos Schönen genauso entschieden voranzutreiben scheint wie die technischen Erweiterungen des mängelbehafteten Körpers, um das Überleben und die Vermehrung in einer instabilen Umwelt zu sichern.

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Angesichts der es umgebenden, nicht vorgefundenen, sondern von ihm selbst geschaffenen Schönheit findet das Gehirn keinen Ansatz, sein eigenes Bild aus diesem dichten Assoziationsfeld zu isolieren, um seine nackte Gestalt als ein Motiv feilzuhalten, das bedeutende Künstlerinnen und Künstler inspirierte, während andererseits kaum etwas existiert, das nicht als Attraktor künstlerischer Kreativität funktionierte: Mensch, Natur, Zivilisations- und Kulturerzeugnisse. Die Selbstverständlichkeit, mit der es sich von sich selbst distanzierend als Forschungsobjekt bietet, überträgt sich nicht auf Modalitäten der dinglichen oder bildlichen Wiederholung seiner selbst, um in der gleichen Vielfalt wie in den wissenschaftlichen Darstellungen außerordentliche Kunstschaffende auf sich zu ziehen. Seit den ersten Ansätzen wissenschaftlichen Denkens stecken Gehirne einander an, um sich dem Ziel der Selbsterforschung anzunähern, analog zur Schönheitsproduktion, die sich organisch und naturhaft von Gehirn zu Gehirn fortpflanzt. Dass die Produktion von Schönheit sich mit ihrer unberechenbaren, chaotischen Expansion dem Gehirn zu entziehen scheint, mag in seiner direkten Verschaltung mit dem Auge begründet sein, in einer sukzessive sich verselbständigenden Sehlust. Wieder ein surrealistisches Szenario, das aussieht wie ein 2001 aufgespieltes Update auf Magrittes »Der geheime Doppelgänger«: Wie bei Dalí und Brauer zeigt das Albert Oehlen zugeschriebene Ölbild »Erwachen im Zusammenhang« (Oehlen o.J.) eine Büste auf einem Plateau, und ähnlich wie auf Magrittes Bild offenbart sich ein leerer Kopf, hier aber noch leerer als das aufgetrennte Haupt jenes »Doppelgängers«, denn was da steht, ist nur eine aus Ockertönen melierte Ruine der rechten Wange und der Kinnpartie. Über dem Horizont breitet sich ein blauer Himmel mit weißen Wolkenfetzen aus. Den Vordergrund beherrschen zwei schwebende vielleicht nur zufällig Brüsten ähnliche Augäpfel. Die Kapillaren schwingen als rote Kabel lose in der Luft, laufen im Mittelgrund durch das leere Haupt, bis sie zum Horizont hin sich am Kapitell einer in der Bildmitte platzierten griechischen Säule zu einem Strang vereinigen. Der anatomische Terminus »Glaskörper« ist wie wörtlich ins Bild übersetzt. Die Oberfläche der Augen ist hoch reflektierend und, um den Effekt zu verstärken1, sind deren halbrund im Raum hängende Formen transparent. Die perspektivisch nach vorn gezoomten Objekte drängen sich den Betrachtenden beinah aggressiv entgegen, als kämen sie aus dem Hintergrund hervorgeschossen, ja, als hätten sie diesen Kopf so zertrümmert. Im Widerspruch zu dem Szenario der Zerstörung fällt auf, dass diese schwebenden Augen funktionstüchtig sind. Vor allem, und das scheint die wichtigste Botschaft

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des Gemäldes, brauchen sie nichts mehr davon, was ein Kopf normalerweise beinhaltet, insbesondere nicht das Gehirn. Augen, befreit zu zwei autonomen Organen. Vorausgesetzt, bei Gehirn und Augen handelte sich um zwei Teilsysteme, könnten letztere unbesehen dessen, dass sie viel einfacher gebaut sind als das übergeordnete zentrale Nervensystem, die Vorherrschaft über manche Selektionsmechanismen des Gehirns errungen haben. Wenn das Auge eine soweit genuine und besondere, u.U. sogar zur Dissidenz neigende Filiale des Gehirns ist, und – was nicht nur die Sehlust nahelegt – an die Libido nicht nur angekoppelt ist, sondern von ihr auch angetrieben wird, so ist es mit einem Prinzip assoziiert, das die Macht hat, das Gehirn nicht nur zu beeinflussen, sondern auch mitzusteuern und dessen Autonomie einzuschränken. Derart abgespalten und emanzipiert zu einem autonomen System funktioniert das Auge als Schaltstelle zwischen dem apriorischen »Diktat« der Evolution und der widerständigen Materie. Schönes und Schönheit übersteigen als anarchische Effekte der Libido das Fassungsvermögen des Gehirns. Auch wenn es fähig ist, exorbitante Kapazitäten zu aktivieren, um Schönes zu schaffen, übertreffen die Resultate zugleich seine Aufnahmefähigkeit. Anders eben als bei wissenschaftlichen Daten gelingt es nicht, dieses obskure Schöne zu definieren, heißt zu »begrenzen«. Seit es einen Begriff gibt für Schönheit, reißen die Kontroversen nicht mehr ab. Was in der Antike mit der Lehre von Proportion und Harmonie normativ abgehandelt werden konnte, gerät in der Renaissance mit der Individualisierung der Kunst zu einer Streitfrage, die in der Gegenwart mit der Auflösung des Kunstbegriffs faktisch unbeantwortbar geworden ist. Die Bewertung, was Schönheit sei, retardiert zum individuellen Geschmacksurteil ohne Aussicht auf ein allgemein verbindliches Kriterium. Die Mona Lisa, ein ambitioniert designtes Auto und eine dilettantische Collage aus Muscheln lassen sich in keinem universell anerkannten ästhetischen Ranking verorten. Am Ende erlebt sich das Gehirn im Wissen um seine physische Gestalt auf sich selbst zurückgeworfen und zugleich der widersprüchlichen Selbstdefinition ausgesetzt, die lautet »Das bin ich und bin ich nicht«. Eingeschlossen in einem selbstreferenziellen Loop und in dem Paradox, dass es sich wie in einem aus unendlichen Facetten gepuzzelten Spiegel all dieser Manifestationen des Schönen nicht nur vergeblich wiederzuerkennen versucht, sondern ebenso wenig auf sich rückschließen kann. Wie positive Wissenschaft zwar komplex, jedoch ohne bislang extrem auszuufern seine Selbsterkenntnis erweitert, ist das Gehirn klar zielorientiert und konzentriert auf einen imaginären Mittel-

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punkt. Diese Klarheit dissoziiert aber am Paradigma der Schönheit, als wäre dies gegenüber dem scientistischen Zugewinn ein Verlustposten. Im Universalprogramm der Evolution muss sich das Gehirn wiederum selbst zu einer Funktion herunterstufen, dergemäß sich für die Selbsterhaltung und Reproduktion der Spezies zwei Konzepte umsetzen. Das eine folgt der instrumentellen Erweiterung des Körpers, um sich der Umwelt anzupassen und umgekehrt, um die Umwelt nach seinen, d.h., den menschlichen Bedürfnissen zu konfigurieren. Das zweite Konzept betreibt die Reproduktion, mobilisiert von einer Libido, die gleichzeitig chaotisch über ihre evolutionären Zwecke hinausschießt und sich mit der von dem naturgegebenen Nutzen befreiten Sexualität verselbständigt hat. Das führte dazu, dass die Schönheitsproduktion längst alles Nützliche infiltriert und erobert hat, seit jeder Alltagsgegenstand durch das Design mit Kunst angereichert ist. Die einst feindliche Natur verwandelt sich in einem alles verschlingenden Stoffwechselprozess als ihr zweites, drittes, viertes Derivat in Waren. Libidinös aufgeladen umwerben sie die Menschen (respektive Gehirne) und attackieren dasselbe Reflexzentrum wie die Reize potenzieller Sexualpartner. Die Ästhetisierung des Nützlichen könnte in einer Art narzisstischer Selbstbelohnungsschleife das Gehirn immer weiter auf sich selbst konditionieren, um diese derivierten Naturen, die aus der dinglichen und belebten Welt zu Menschenerzeugnissen geworden sind, ohne Limit voranzutreiben. Die dem Lustprinzip gehorchende Kosmetisierung der Gebrauchsgegenstände würde das Gehirn, weil es, seit es ein konkretes Bild von sich hat, von dem totalen Sog der Verschönerung selbst nicht profitieren kann, zu immer neuer Wissensanhäufung, immer weiteren Erfindungen, Verfahren und Produktionen, zu weiteren Fortschritten motiviert. Schönheit reizt die Sinne. Wenn sie passiv sind und aktiv, wenn sie rezipieren und produzieren. Obwohl sie permanent die Umwelt abtasten, verarbeitet erst das Gehirn die von den Rezeptoren abgescannten Werte. Jener vorausgesetzte Schönheitssinn lebt vom Auge als dem dominanten Zulieferer, wohingegen die übrigen, peripherer lokalisierten Sinne sich nicht hierarchisieren lassen. Das »ästhetische« Ohr wird affiziert von Stimmfrequenzen und Musik, die Nasenschleimhäute von Wohlgerüchen, der Gaumen von Schmackhaftem. Selbst ein als schön apostrophiertes Wohlgefühl der Haut ließe sich dem Schönheitssinn zuschlagen. Ohne eine Medien- oder Gattungsanalyse zu vertiefen, wäre an dieser Stelle freilich genauso die Kunstrezeption von Film, Theater, Performance, Oper usw. zu erwähnen. Eine Ausnahme machen literarische Kunstwerke, denen zwar anders als Bildern, ebenfalls Schönheit zu-

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kommt. Allerdings löst die Lektüre von Romanen, Gedichten, Reden nur indirekte Impulse aus, sodass die zeitlich sich dehnende Rezeption von Büchern endogen abläuft. Nach einem Wort Friedrich Kittlers bedeutet lesen zu halluzinieren, dies verwandt wiederum mit den inneren Monologen des Denkens. Als einer endogenen Aktivität des Sprachzentrums fehlt der nicht-phonetischen Sprache die physikalische Konsistenz von Schallwellen und Objekten, die die weltwärts gepolten Sinnen perzipieren. Äußere Ereignisse und Gegenstände können zwar bedeutungsgeladen sein bzw. Assoziationen in Gang setzen, haben im Unterschied zu einem Sprachkorpus jedoch selbst keine kommunikative Bedeutung. Im sozialen Austausch werden sprachliche Äußerungen, das meint generell, ihr »[…] Ausdruck: z.B. das Mienenspiel, die Geste, die Gesamtheit des Körpers und der mundanen Einschreibung, mit einem Wort: das Ganze des Sichtbaren und Räumlichen […]« (Derrida 1979: 87) werden einerseits wie äußere Objekte wahrgenommen, obwohl die Sprache in erster Linie nicht als ein physikalisches Umweltphänomen rangiert, sondern als ein unhintergehbares Produkt des Gehirns. Eine sprachliche Äußerung als schön zu empfinden und auch so zu deklarieren, folgt daher stets einer selbstreferentiellen Bewegung, weil es sich dabei um eine den für den Menschen konstitutive Hirnfunktion handelt. Auf der Subjektseite (oder »im« Subjekt) erregt besonders das Sprechen dessen eigenes Nervensystem. »Die Operation des ›Sich-sprechen-Hörens‹ ist eine singuläre Selbst-Affektion schlechthin. […] Andererseits kann sich das Subjekt hören oder sich aussprechen, sich also von selbstproduzierenden Signifikanten affizieren lassen, ohne den Umweg über die Instanz des Außen, der Welt, des Fremden nehmen zu müssen. Jede andere Form der Selbst-Affektion muss […] den Bereich des Fremden durchqueren […].« (Derrida ebd. 136) Selbst-Affektion ist eine libidinöse Intensität. Die Struktur Stimme-Ohr-Sprache/Signifikanz wird von Derrida more philosophico naturgemäß in der Tradition und Terminologie der Subjekt-Philosophie bestimmt. Das aber braucht nicht daran hindern, diese triadische Kette rückzukoppeln mit den Bedürfnissen des Gehirns und zu koordinieren mit ihrem ebenso selbstbezüglichen, vom Auge eskalierten Impetus, sich selbst sehen zu müssen. Ein nicht gerade unbedeutender Überhang resultiert allein aus den Signifikantennetzen der Sprache schlechthin, unabhängig von den physischen und psychischen Erregungen der unmittelbaren, körperlich forcierten Kommunikation. Aufgeladen zu sein mit jener expandierenden Libido, die die Sinneseindrücke zu Schönheit auratisiert, macht die Sprache zum Spezialfall der Re-

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zeption und Übersetzung von Sinneseindrücken. Darüber wie das Gehirn die enkodierten elektrischen Impulse – gleich, ob optischen, akustischen, chemischen oder mechanischen Ursprungs – zu seinem »Bild« der Welt dekodiert, weiß es zwar immer mehr, insgesamt jedoch immer noch zu wenig. In dieser Totalität wäre Schönheit ein unerfassbarer Sog nach irgendwohin.

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»[…] oder was immer der Heimatdialekt von Neuronen ist«

Seine Selbsterforschung betreibt das Gehirn expansiv, darum findet es sich nicht allein mit wissenschaftlichen Fortschritten ab, denn auch für künstlerische und literarische Selbstdarstellungen schafft es sich Displays. Schriftstellerisch macht es zeitweilig explizit auf sich aufmerksam wie etwa in Gottfried Benns Prosastück »Gehirne« oder Beat Gloggers SF-Roman »Zweimaltot«, häufig aber auch nur vermittelt in Texten, die von ganz anderem handeln. Auch wo es nur als Randthema zur Sprache kommt, gelingt ihm, Anschauliches zu seiner Selbsterkenntnis beizutragen. Indem es empfängliche KünstlerInnen und SchriftstellerInnen motiviert, findet es immer wieder Bahnungen, auch literarische Texte zu infiltrieren – viral sozusagen –, um im Schreibfluss zumindest temporäre Plattformen für sich zu schaffen. Aufgrund der wachsenden Aktualität des Gehirn-Themas im 21. Jahrhundert scheint es kaum zufällig, dass die folgenden sich allnächtlichen Lektüren verdankenden Trouvaillen aus Zitaten und Textauszügen zumeist bei jüngeren Autoren (z.B. Setz, Dath, Cohen) zu entdecken waren.

Trouvaillen »Im Juli 1944 nahm er in New York als Direktor der Applied Mathematics Group der Columbia University den Befehl entgegen, so viele erstklassige Gehirne wie möglich für die Kriegsanstrengungen seines Staates zu rekrutieren.« (Dath 2021: 161) »Das Einzige, was ganz sicher scheint, ist die Unerkennbarkeit des Ganzen, der Gesamtheit, des Horizonts […] so eine Lage ist wirklich nichts für logisch, empirisch und technisch denkende Leute.« (Ebd. 259)

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»Dann fällt die Aufmerksamkeit auch ohne äußere Störungen in sich zusammen, dann erschlafft das, was er sich manchmal wie einen Muskel vorstellt, eine Art Kraftanwendungsvorrichtung des Hirns, ein Ding, das nur so viel stemmen und halten kann, wie dem jeweiligen Menschen eben gegeben ist.« (Ebd. 306 f) »Eines der allerwahnsinnigsten Universen, die je ein Mensch mit der Leuchtkraft des Hirns untersucht hat […]« (Ebd. 328) »Hat sie Experimente gemacht, mit Hunden vielleicht, oder Geschichten von Menschen gelesen, die irgendwo irgendwie verhungert sind? Ihre Körpermasse schwindet, nur ihr Gehirn und ihre Nervenzellen bleiben davon unberührt.« (Ebd. 386) »Das Hirn will manchmal dumm sein dürfen, eine der Nebenwirkungen der Individuation […]« (Ebd. 477) »[…], weil nämlich der Doktor Frankenstein in dem Stück mit diesen Mikrokapseln tote Gehirne wieder lebendig macht, die dann den restlichen Körper unter ihre Kontrolle zwingen.« (Ebd. 483) »Für einen Mathematiker, der zwischen zwei ihm bekannten Strukturen eine Isomorphie findet, ist das Grund zum Frohlocken. Es kommt oft wie ein Blitz aus heiterem Himmel und ist eine Quelle des Staunens. Die Entdeckung einer Isomorphie zwischen zwei bekannten Strukturen stellt einen bedeutenden Fortschritt des Wissens dar – und ich behaupte, dass es derartige Entdeckungen von Isomorphien sind, die im menschlichen Gehirn Bedeutungen schaffen.« (Hofstadter 1985: 54) »Die Frage ist, welche Eigenschaften – mechanisch umgesetzt – unzweifelhaft Intelligenz konstituieren würden, wurde historisch sehr naiv betrachtet. Mitunter hat es den Anschein als enthülle jeder Schritt in die Richtung auf AI nicht etwas, bei dem alle sich einig sind, dass es sich wirklich um Intelligenz handelt, sondern bloß, was wirkliche Intelligenz nicht ist. Wenn Intelligenz Lernen, Kreativität, gefühlsmäßige Reaktion, Schönheitssinn, Bewusstsein seiner selbst einschließt, dann haben wir einen langen Weg vor uns, und es ist möglich, dass all das sich erst verwirklichen lässt, wenn wir ein menschliches Gehirn vollständig dupliziert haben.« (Ebd. 611)

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»Es könnte ja einfach ein Zufall sein, dass unser Gehirn zu schwach ist, sich selbst zu verstehen.« (Ebd. 754) »Und bis zum Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den Händen, da war mir, als hätte ich suchend in meinem Gehirn geblättert und nicht in einem Buche!«(Meyrink: 26) »Grausen und Entsetzen schüttelte mich, mein Herz raste zum Zerspringen, und ich fühlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.« (Ebd. 28) »Niemand auf der Party hatte Hasch […] aber das wurde durch das Gras wettgemacht, dessen Knospen […] verdampft wurden, bis Uri das Hirn aus dem Mund flog, ganz feucht und geflügelt und glitschig und purpurn. Er flitzte über die Terrasse und versuchte es wieder einzufangen, doch es flutschte ihm durch die Fäuste nach drinnen, den Flur entlang in ein Schlafzimmer und quietschend unter ein Bett. Eine Elfe folgte ihm, kroch zu ihm unter das Bett und versuchte das Hirn zu fangen. […] Die blonde Elfe schlängelte sich weg und richtete sich auf, zog auch Uri hoch und fragte: ›Wo ist dein Hirn hingeflogen?‹ […] ›Wo wohnst du?‹ […] ›Nicht gut, zu weit, dein Hirn könnte sich verlaufen.‹« (Cohen 2019: 15) »Online ist natürlich undenkbar gewesen. Mitte der Siebzigerjahre konnte sich kein Mensch vorstellen, dass die Zukunft dieses Nichts sein würde, diese Immaterialität, die alles speichert, und die Software, die alle damit und miteinander verlinkt.« (Cohen 2018: 318) Freud/Jung: »Heute jedoch ist unser Innenleben online veräußert worden und bildet dort das erste wahrhaft universelle Unbewusst oder Unterbewusstsein. Man denke nur, welche Last von uns genommen wurde, man denke an die nach außen übertragenen Traumata. Tierische Instinkte, barbarische Triebe. Kriminelle Gelüste.« (Ebd. 382) »Synapsenverbrennungen zwischen Axon und Neuron.« (Ebd. 394) »›Was wir hier haben, ist der Yammer‹, sagte er. ›Er yammt uns alle WLAN-Frequenzen und elektromagnetische Übertragungen. Multiband, bis 1500 MHZ in

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einem Radius von von 30 Metern. Ferngesteuerte Neuronen-Rasterfahndung in menschlichen Hirnströmen inklusive.‹« (Ebd. 741) »[…] seit sie ihm erzählt hat, dass ihre sichere Hand gelernt hat, wie man die räumlichen Seltsamkeiten in der Haut ausnutzt, wie man mit Haut in Haut unter Haut greift wie man sich nicht an, sondern in den Kopf fasst.« (Dath 2019: 41) »Aber was machen wir im Kopf, wo hören die Löcher innen auf, wie lange kann das vornehme Schweigen über das, was man nicht wissen, nicht schließen, nicht sagen kann, seinen verschwundenen Ton halten?« (Ebd. 194f) »Einige Jahre danach las ich Douglas Hofstadters verrücktes Buch I Am a Strange Loop, in dem er die These aufstellt, dass das Gehirn eines verstorbenen Menschen sozusagen als Programm in den Gehirnen derer, die ihn zu Lebzeiten gut kannten, abgespielt werden kann. Besonders bei Liebespartnern sei die Fähigkeit, die Gedankengänge des anderen vorauszusagen, durch jahrelanges Miteinander und durch unbewusstes Kopieren des Gegenübers so gut entwickelt, dass der Tote buchstäblich im Partner weiterlebe. Jeder Mensch hinterlässt also kleine, unvollständige Sicherungskopien seines Gehirns in den Köpfen der anderen.« (Setz 2018: 9) »Ich erwache mit einem großen blinden Fleck im Gesichtsfeld meines rechten Auges, unterhalb des Fokus, eine längliche Insel in der hilflosen Füllfarbe des Gehirns, das keine visuellen Informationen mehr von dort bekommt.« (Ebd. 46) »Was mag das Gehirn, worauf springt es an? Kometen.« (Ebd. 53) »Vergiftung und Delirium, oder die letzten Kombinationsbemühungen meines sterbenden Gehirns, sein Abschiedskonzert sozusagen, es zeigt noch einmal, was es kann, eine intersektionale Mischwelt erfinden, dafür bekam es zu Lebzeiten so manchen Literaturpreis […]« (Ebd. 67) »In Sci-Fi-Erzählungen wird immer wieder von Nährlösungen erzählt, in denen Gehirne oder einzelne Organe oder Gliedmaßen leben. Nährlösungen. Woher kommt diese Vorstellung? Vermutlich von Aquarien, verbunden mit dem realen Einsatz von Nährlösungen für die Züchtung von Bakterien oder Zellkultu-

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ren im Labor: Aber Bakterien leben ja immer in einer Nährlösung […]« (Ebd. 75) »Konzepte haben ja ihr Eigenleben, könnte man sagen, sie leben eine Zeit lang in Wirtsgehirnen und pflanzen sich unter ihnen fort.« (Ebd. 84f) »Bis heute sind sie mir unbegreiflich, diese Umschwünge, die tatsächlich keiner inhaltlichen Logik entsprachen, sondern sich mehr wie spontane Veränderungen meiner Gehirnchemie ereigneten (und vielleicht genau das waren). – Was sagt mir, dass ich sie nicht auch heute noch habe? Möglicherweise ereignen sie sich in einem weniger auffälligen, weniger dicht besiedeltem Gebiet meines Bewusstseins, und ich bemerke sie nicht.« (Ebd. 88) »Abes Grab ist vielleicht die eine genaue postume Darstellung seines Gehirns, seines Denkens.« (Ebd. 131) »Sein Gehirn hatte die Arme beleidigt vor der Brust verschränkt und schaute woanders hin.« (Setz 2012: 362) »Und hatte nicht der Arzt Thomas Browne im siebzehnten Jahrhundert in einer Abhandlung von seinem seltsamen Schauder berichtet, als er beim Sezieren eines Gehirns eine Windung entdeckte, die ihn – auf ähnliche Weise, wie es der Mann im Mond schon seit Jahrhunderten tut – selbst bei geringem Fantasieaufgebot an eine winzige menschliche Gestalt erinnerte, eine Art stille, nicht mehr benötigte Bauanleitung für das Ganze, da tot vor ihm auf dem Operationstisch lag?« (Ebd. 414) »Robert stellte sich vor, wie der Lehrer sich selbst die Schädeldecke abschraubte und mit der Hand in seinen Kopf fasste, der mit einer schwarzen, körnigtrockenen Substanz gefüllt war. Er holte eine ganze Faust voll davon hervor und steckte sie sich in den Mund. Kaute. Schluckte. Schüttelte den Kopf und murmelte: Auch nicht besser.« (Ebd. 475) »Immer mehr Alephs bevölkerten die Straßen, und alles funktionierte super. Bis sie eines Tages anfingen, langsam zu werden. Man schaute in ihre elektronischen Gehirne, studierte die gigantischen Log-Files und kam dahinter, dass sie an irgendwelchen sinnlosen kleinen Details hängen geblieben waren […]« (Setz 2017: 131)

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»[…] so verstärkt und auf sinnliche Weise erfahrbar, gleichzeitig weitete sich auch der innere Raum, das Gefühl für die Ausmaße des eigenen Schädelinhalts, auf unbestimmte Dimension.« (Ebd. 213) »Tote, erklärte Herr Hollberg. Sie frieren Tote ein. Oder im Grunde nur tote Gehirne.« (Ebd. 365) »– Irgendwann wird man vielleicht sein Gehirn auf irgendwas raufladen können, sagte Natalie. Irgendein tragbares Gerät, das alles speichert. Und dann lebt man eine Weile in dem Gerät, während der Körper repariert wird. Oder, wenn er wirklich vollkommen kaputt ist, wartet man in dem Gerät. – Und wird von dem Gerät ins Netz geladen. Ein eigenes Netz für tote Bewusstsein […] e? Wie ist die Mehrzahl? – Weiß niemand, sagte Natalie. Es ist ja noch gar nicht bewiesen, dass es mehr als eins gibt.« (Ebd. 366) »Wenn ein Mensch todkrank ist, sitzt er in einem Zimmer, sein Partner daneben, und man berät sich. Der Körper ist das große Problem, man trägt ihn ständig mit sich herum. Man kann sich niemals abkoppeln davon. Fischaufstiegshilf, Prä-Traditionelle. Dabei haben beide Partner das Gefühl, durchaus als Geister leben zu können, sie bestehen ohnehin nur mehr aus Kommunikation, aus dem Austausch von Signalen.« (Ebd. 370) »Wie musste es wohl sein, in so einem Kopf zu wohnen? Er war ein Genie, in gewisser Weise. Natalie musste über dieses Wort lachen.« (Ebd. 380) »Wieder eine Pause. Der Kaugummi wurde freigelassen und durfte, ein nussgroßes weißes Gehirn, zurück in sein Silberpapier.« (Ebd. 416) »[…] beim Überqueren einer Straße von einem Auto erfasst worden. SchädelHirn-Trauma, eine offene Wunde. Komplizierte Verletzungen. Ein Teil seiner Gehirnzellen ist also an jenem Tag auf dem Asphalt liegen geblieben, dachte Natalie. Natürlich starben diese sofort ab und wurden später von Straßenreinigungsmaschinen weggewischt. […] Aber was, wenn sie nicht sterben müssten, sondern in ihrer Funktion aufrechterhalten werden könnten? Als Fernposten in einer Nährlösung schwimmend, wireless verbunden mit ihren früheren Nachbarzellen. Wo sie einst ihren Platz hatten im Gehirn, ist ein kleiner Hohlraum entstanden; die schmerzhaft ins Leere führenden Nervenstränge wer-

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den durch Funkrezeptoren ersetzt. Die entfernten Zellen spielen also immer noch mit, geben ihre Antworten auf Reize, mikroskopisch kleine Sender und Empfänger hocken auf den abgetrennten Nervenbahnen. Das bedeutet, Mike könnte immer noch normal denken wie vor dem Unfall und es gäbe diese unangenehme, verfahrene Situation nicht. Er dürfte sich nur nicht allzu weit von dem Nährbecken mit den geretteten Gehirnzellen entfernen, weil er sonst die drahtlose Verbindung zu ihnen verlöre. Aber was, wenn das Signal immer da wäre, an jedem einzelnen Punkt der Stadt. Wie das Handynetz. Dann könnte er gehen, wohin er wollte. Und die separaten Gehirnzellen im Nährbecken? Die könnte man an Leute verteilen, die immer schon Gehirnzellen besitzen wollten. Jede einzelne wird verbunden mit ihrem Sender und Empfänger, über die sie weiter am Austausch der Reize teilhat, einem Haushalt zugewiesen. Dort wohnt sie dann die kleine Zelle, und an einem Flimmerlicht über dem winzigen Aquarium sieht man, wann sie ein Signal weitergeschickt hat und wann nicht. Genauso wie es eben eine normale Gehirnzelle macht, über Botenstoffe oder Elektrizität oder was immer der Heimatdialekt von Neuronen ist. Die paar tausend Zellen im Exil erledigen ihre Arbeit weiter wie bisher, sie wissen selbst nicht, dass sie nicht mehr in direktem Kontakt mit den anderen Zellen stehen, denn die Funkverbindungen sind rasend schnell. Natalie fand den Gedanken wunderschön und stellte sich vor, ihre kleine MikeZelle, für die sie verantwortlich war, zu füttern. Einmal in der Woche musste man die Nährlösung austauschen. Jeder, der sich eine Zelle von Mikes Gehirn hielt, hatte Anteil an etwas Großem, nämlich dem Gedanken eines Menschen. Man konnte nicht wissen, was hier weitergeleitet wurde. Vielleicht ging es gerade um Zahnschmerzen, vielleicht um das vollkommen neuartige Modell eines Haarkammes. Oder um Einsamkeit, Musik, Kartentricks. Egal was ihm durch den Kopf ging, der Mensch brauchte auf jeden Fall diese Zelle hier dafür, also musste man auf sie achtgeben wie auf ein kleines Tamagochi. Aber was, wenn sie kaputtginge? Das durfte nicht geschehen, weil dabei ein Fehlsignal entstünde, wie in Mikes gegenwärtigem Leben manchmal. Natalie blickte in die Decke des Zimmers. Die Ecke war leer. Man könnte ein ganzes Gehirn, Zelle für Zelle, aufteilen. Auf Milliarden Punkte im Sonnensystem. Und dabei immer das drahtlose Signal beibehalten. Und die Hirnschale des Menschen wäre vollkommen leer, beherbergte nur verschiedene Sender und Empfänger, die mit den Zellen verbunden wären. Und die Kontrolldiode auf jeder Zelle blinkt, wenn sie aktiviert wird, und ist dunkel, wenn sie keinerlei Reiz empfängt. Das würde immer noch funktionieren. Und dann? Dann geschieht ein weiterer Unfall, mit einem anderen Menschen.

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Bei ihm muss das verletzte Gehirn zur Gänze aus dem Körper entfernt werden. Und auch dieses Gehirn wird Zelle für Zelle auf der ganzen Welt und im Sonnensystem verteilt. Und jedes winzige Aquarium wird treu überwacht, es kümmern sich Roboter darum. Alephs. Aber diesmal konnten nicht alle Zellen gerettet werden. Denn ein besonders detailverliebtes Aleph hatte einen seiner häufigen Aussetzer, und während es eine Weinbergschnecke studierte, starb die Zelle ab. Es muss schnell Ersatz für sie gefunden werden! Da trifft es sich gut, dass wir jede Menge Zellen zur Verfügung haben, nämlich die von Mike. Zur Verfügung? Aber die sind doch in Betrieb! Ja, schon, aber eben nicht pausenlos. Diese hier zum Beispiel, die mit musikalischen Empfindungen zu tun haben, werden sehr selten aktiviert, die Diode ist lange dunkel. Also schnallen wir diesen Zellen, die sich ohnehin langweilen, ein zweites Paar Sender und Empfänger um, die für die Kommunikation mit dem Gehirngefüge des zweiten Verunglückten zuständig sind. Wenn die Zelle hier gerade nicht benötigt wird, kann sie dort eingesetzt werden und aushelfen. Dies geschieht Hunderte Male, denn Unfälle, gerade solche, die den Schädel betreffen kommen häufig vor, vor allem in der Zukunft. Und am Ende ist alles voller Zellen, der ganze Luftraum rund um die Erde. Dort oben denkt es, pausenlos. Und da die Signal-Teilung ein erfolgreiches Prinzip ist – Gehirnzellen, die auf mehreren Partys gleichzeitig tanzen dürfen –, gibt es überhaupt kein Flimmerlicht der Dioden mehr, sondern ein gleichmäßiges Leuchten. Wie das der Sterne im wolkenlosen Nachthimmel. Unter diesem Sternenzelt aus Denkleistung gehen die Menschen mit ihrem fast leeren Schädel herum. Dann deuten sie in den Himmel und sagen: Da. Da sind meine Erinnerungen. Das sind meine Pläne, meine Gewaltfantasien. Sie überschneiden sich buchstäblich, mit denen anderer, mir aber sonst völlig unbekannten Menschen. Und das macht mich froh.« (Ebd. 646ff) »Berater brauchte er nicht, er bewältigte Akten auf herausragende Weise, es war beinahe, als besäße er ein zweites Gehirn, ein Computerhirn, das in seinen gewöhnlichen Menschenschädel verpflanzt war.« (Houellebecq 2022: 47) »›Ich habe nicht genau verstanden‹, fuhr er fort, ›ob sie nun menschliche Neuronen in elektronische Schaltkreise oder elektronische Chips in menschliche Gehirne einbauen; ich glaube, es ist von beidem etwas, und sie haben generell vor, Hybride aus Mensch und Maschine zu erschaffen. Es ist ein Unternehmen, das über beträchtliche Ressourcen verfügt, Apple und Google sind mit Kapital beteiligt. Außerdem ist es als sicherheitsrelevantes Unternehmen eingestuft,

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weshalb ich denke, dass seine Aktivitäten eine Rolle für die Militärtechnologie spielen, sie entwickeln neue Kampftypen, die in Zukunft menschliche Soldaten sehr gut ersetzen könnten, denn sie sind nicht zu Empathie fähig und haben keinerlei moralische Skrupel. Donegal, wo das Unternehmen seinen Sitz hat, ist eine der verlassensten und trostlosesten Gegenden Irlands […]« (Ebd. 483) »Wenn eine Psychose nichts anderes wäre als fehlerhaft übertragende Synapsen, müsste es dann nicht einfach ein statisches Rauschen geben? Aber nein – man bekommt eine sorgfältig gestaltete und einigermaßen gegliederte Welt, wie man sie noch nie gesehen hat.« (McCormac 2022: 64) »Aber Sie müssen verstehen, was die Entstehung der Sprache bewirkt hat. Die Entstehung der Sprache war wie das Eindringen eines parasitären Systems, das die Bereiche des Gehirns besetzte, die am wenigsten fest zugeordnet waren. Die für diese Übernahme am anfälligsten waren. Ein parasitärer Befall.« (Ebd. 218) »Stadtgewordene Gehirnschäden sind absolut nicht konsumfördernd […]« (Berg 2020: 8) »Die (Trauer) war nicht mehr spitz und scharf, sondern zu einem Dauerton geworden, immer da, in einer Schicht ihres Gehirns.« (Ebd. 64) »Manchmal schlug er den Kopf an die Wand, um die Synapsen flockiger werden zu lassen.« (Ebd. 128) »Dann glaubte sie zu spüren, wie ihr Gehirn durch eine Masse ersetzt wurde, die aus absoluter Blödheit bestand.« (Ebd. 142) »Ein schrecklicher Konflikt zwischen Hormonen und Hirn.« (Ebd. 152) »Nichts ist real. Wird der Mensch dann selber zum Fake, der sich nur in die Realität zurückbefördern kann, indem er sich Chips in den Kortex schießt?« (Ebd. 210) »[…] umso besser, wir löffeln auch Hirn aus geöffneten Schädeldecken, es ist der neueste Trend, dass man Tierköpfe in Halterungen spannt und sie einfach ausschleckt.« (Ebd. 375)

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»[…] das Loch im Kopf, Knochensplitter, das ist das Hirn, wie vermutet, nichts Großes.« (Ebd. 389) »Aber nun ist es Wissenschaftlerinnen gelungen, menschliche Hirne zu züchten, in die die DNA der Neandertaler implementiert wurde.« (Ebd. 433) »Nachdem die unglaublich niedlichen, selbstlernenden neuronalen Netzwerke ein Quell der Entdeckerfreude waren, ist die Sache heute ein wenig entglitten.« (Ebd. 482) »Als wäre die Bodycam nicht albern genug, tragen viele hier einen Kortexstimulator. Transkranielle Magnetstimulation.« (Ebd. 504) »Das ist ja das Angenehme am menschlichen Gehirn. Es lässt seinen Besitzer hoffen bis zum Schluss, will nicht wahrhaben, wenn eine Situation richtig amtlich vor die Wand gefahren ist.« (Ebd. 621)

Sprache/Metapher: »Container«

Obwohl viele der Metaphern im alltäglichen Sprachgebrauch unauffällig wirken, lassen sie sich einem besonderen Verzeichnis zuordnen: »Welche Metaphern sind für die Beschreibung und Erklärung des Gehirns, seiner Teile und verschiedenen Funktionen wichtig? Lässt sich daraus ein kohärentes metaphorisches Modell des Gehirns ableiten, oder hat man es […] mit völlig divergierenden Metaphern zu tun?« (Goschler 2008: 57) Der Katalog, den Juliana Goschler für ihre Untersuchung aus populärwissenschaftlichen Publikationen zusammengestellt hat, eröffnet mit der grundsätzlichen Hinterfragung, ob nicht bereits, was die Hirnforschung seit der Phrenologie so nachhaltig angeschoben hat, vorstrukturiert sein könnte. »Die Einteilung aller Hirnprozesse in unterschiedliche, voneinander getrennte Funktionen könnte durchaus selbst das Ergebnis eines metaphorischen Konzepts sein.« (Ebd. 58) Diese Einschätzung referiert auf ein Argument von Lakoff & Johnson, die von einer »Society of Mind metaphor« sprechen: »The capacities of the mind are thereby conceptualized as autonomous, individual people, each with a different job and each with a distinct, appropriate personality […] The name of these people is Perception, Imagination, Feeling, Will, Understanding, Memory, and Reason. (Lakoff & Johnson 1999).« Dem Input, der im Gehirn ankommt, ist die Wahrnehmung bekanntlich vorgeschaltet, sodass schon hier die ersten linguistischen Differenzen festzuhalten sind, die von vornherein auf die basale Trennung von Welt und Gehirn zurückgehen. Dieser Dualismus vermittelt die Vorstellung vom Gehirn als einem Raum, in den die Sinne Daten übertragen. Das beträchtliche Alter der Raummetapher belegt deren kommunikativen Nutzen, denn »[d]er hohe Abstraktionsgrad dieser Metapher, die mit jeweils wechselnden technischen Metaphern sehr gut vereinbar scheint, ist kaum vom Wandel der Metaphorik des Gehirns betroffen.« (Ebd. 59) Am allgemeinsten und anschaulichsten werden die Sinne als beschrieben »[…] ›Türen‹ und ›Tore‹, die die ›Welt‹ in den Innen-

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raum des Kopfes, ins Gehirn, einlassen«. (Ebd.) Mit diesen beschränkten Zutritten, die auch als »Filter« zu bezeichnen wären, schließt sich zwangsläufig eine Vorrichtung zur Komplexitätsreduktion bzw. gegen Reizüberflutung an, wobei sich mit letzterem Begriff gleich ein weiteres Metaphernfeld ebnet. Wird der Kopf als Container aufgefasst, in dem etwas passiert, braucht es für die einzutreffenden Botschaften, Signale, Informationen und Daten ein Konstrukt wie »Bahnen«. Als reifizierende Metaphern regredieren »Bahn« und synonym gebrauchte Signifikanten auf archaische Begriffe und Wahrnehmungsmuster. »Kohärent zu diesen räumlichen Metaphern sind die ›Wege‹, auf denen sich die ›Wahrnehmungsinhalte‹ sich fortbewegen, durch ›Einund Ausgänge‹ abgeschlossen.« (Ebd. 61) Aus dem System, für das Paul Celan das Wort »Sprachgitter« gefunden hat, findet das Denken nicht heraus: »Es scheint sprachlich kaum eine Alternative für diese Ausdrucksweisen zu geben, was auffällt, wenn man versucht, diese Metaphern zu vermeiden.« (Ebd. 62) Auf den dynamischen Dualismus Innen-Außen, Gehirn-Welt sowie auf den Austausch der »Botschaften« passt immer noch das technizistische Kommunikationsmodell aus Sender und Empfänger aus den 1940er Jahren. Um zu kommunizieren, benötigen Systeme »Kanäle«. Bereits dieses Modell, d.h., bevor es als eine Metapher zweiten Grades auf Gehirnprozesse übertragen wird, ist dem Kontext Fließen entnommen: Informationsflüsse, Geldflüsse und dergleichen, so dass eine dahin gehende Bedeutungsübertragung sich in gleich mehrere Verweisketten fortpflanzt. In jenem spekulativen Innenraum werden die Daten »bearbeitet, betrachtet und interpretiert«. (Ebd. 63) Je nach Vorannahme heißt die auslesende Instanz »Geist« oder »Bewusstsein«, bzw. wird das Gehirn selbst als Agens oder Subjekt positioniert, wenn die Trennung in verschiedene Hirnzentren und -funktionen zugrunde gelegt wird. Dann nämlich mischen sich Hirnregionen ein, oder es misst das Gleichgewichtsorgan, was letztlich auch für die Einheit des Ganzen zu gelten hat. »Wie das Gehirn bei seiner Konstruktionsarbeit genau vorgeht, welche Vorkehrungen es trifft […]«: Da muss es Rindenareale aufrufen, Signale vergleichen und etwas herausfinden, muss rückschließen, berücksichtigen und ausgleichen, eigenständig auswerten, Informationen durchstellen oder gegebenenfalls unterdrücken, analysieren und interpretieren. »Dem Gehirn oder einem Hirnteil wird durch das verwendete Verb die Rolle ›Agens‹ zugewiesen […] Bei dieser ›Rollenverteilung‹ gibt es auch in der Konzeptionalisierung der Wahrnehmung eine große Menge von Metaphern der Signalverarbeitung als ›Berechnung‹, wobei bestimmte Teile oder auch das

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ganze Gehirn diese Berechnungen durchführt. Diese berechnenden Instanzen werden also entweder als handelnde Personen oder auch als Maschinen, z.B. Computer metaphorisiert.« (Ebd. 64) Daraus folgen Umschaltstationen, Schaltstationen, Schaltstellen, Signalprozessierungen, Prozessoren (zuzüglich Hardware) oder ein Organ wie das unmittelbar angeschlossene Auge als Bildverarbeitungssystem. Weiträumiger, gleichwohl undifferenzierter als in einzelne Funktionen ist die dualistische Aufteilung in zwei Hirnhälften oder Hemisphären. Doch auch für die Hirnforschung ist es ein Thema, welche Aufgabenfelder den beiden Hälften jeweils zufallen, und welche Prozesse in welcher Hemisphäre angesiedelt sind. Mittlerweile weiß man aber, dass nicht mehr von einer idealen Aufgabenteilung auszugehen ist. Beim Paradigma der Gehirnhälften fällt das »vollständige Fehlen technischer Metaphern« (ebd. 133) auf. Dagegen werden die Hemisphären »fast durchgängig personifiziert.« (Ebd.). Etwa wird davon gesprochen, dass die jeweilige Hirnhälfte sieht. Für die entsprechenden Interdependenzen und neuronalen Prozesse sind auch Metaphern der Kooperation gebräuchlich, indem die Vorgänge mit Begriffen wie Arbeitsteilung oder Zusammenarbeit versinnbildlicht werden. Bevor das Gehirn in seiner Ganzheit problematisierbar wird, nützt mag folgender Überblick nützlich sein: »Es lassen sich einige sehr grundlegende konzeptuelle Metaphern für die Struktur des Gehirns ausmachen: räumliche Metaphern, vor allem Container-, Weg- und Bewegungsmetaphern, Personifizierungen, technische Metaphern, die Metapher der Arbeit bzw. des Unternehmens und Kommunikationsmetaphern. Diese Metaphern sind in unterschiedlicher Gewichtung auf jeder der möglichen Beschreibungsebenen – Neuronen, Netzwerke, Hirnregionen und Hirnzentren, Hemisphären – zu finden.« (Ebd. 137) Im Rückgriff auf zumeist englische Publikationen über Metaphern für das »Gehirn als Einheit« (ebd. 138) stellt die Autorin in dem von ihr untersuchten Textkorpus (10 Hefte zweier Jahrgänge der Zeitschrift »Gehirn & Geist« (ebd. 46)) den synonymen Gebrauch von »Gehirn« und »Denkorgan« fest, um bei der Gelegenheit auch auf die häufigen organischen Metaphern hinzuweisen. Wichtiger jedoch sind – neben der Container-Metapher versteht sich – Gleichsetzungen mit »Maschine«, »Apparat« und einem »lebende(n), intentional handelnde(n) Wesen«. (Ebd. 138)

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»Diese drei wichtigsten Herkunftsbereiche können in der Metapher der Fabrik kombiniert werden: Darin kann das Gehirn als eine Form von räumlichem, sozialem und technischem Rahmen (die Fabrik mit ihren räumlichen, technischen und hierarchischen Gegebenheiten und Organisationsformen) metaphorisiert werden. In diesem Rahmen sind dann kleinere Einheiten (Neuronen, Hirnregionen, Netzwerke oder andere) als eine Form von Homunkuli dazu da, einzelne Arbeitsschritte zu verrichten. In diesem Sinn kann man dabei von einer Metapher sprechen, die das Gehirn als technisches Artefakt (eine Fabrik) zeigt. Andererseits kann aber auch das Gehirn als arbeitendes und damit (vernünftig) handelndes Wesen bestimmt werden.« (Ebd. 138) Hierarchisierungen schlagen sich indessen nieder in Metaphern wie dem Zugang zum Gehirn eines als untergeordnet betrachteten Zentrums, sodass in einem von der Autorin zitierten Textbeispiel vom »Tor« zum Gehirn die Rede ist, »[…] dass eine andere Hirnregion, der sogenannten Hippocampus ›ähnlich einem Schleusentor den neuronalen Informationsfluss zwischen den verschiedenen Arealen des Gehirns reguliert.‹« (Ebd. 141) Wie viele andere Vorstellungen gründet auch diese auf einer Innen-Außen-Opposition, die allerdings von der Hirnforschung mit dem Argument dafür kritisiert wird, dass das Gehirn nicht als abgespalten vom Körper voraussetzbar sei. Wo unter der Kategorie »Technikmetaphern« auf elektronische und digitale Bezüge referiert wird, verkompliziert sich der Begriff der Metapher. Die diesbezüglichen Vergleiche lassen sich nicht direkt von technischen Artefakten oder Geräten übertragen, vielmehr dockt die Metaphorik an umfassendere Prinzipien und Ideen an, wenn diese sich in technizistischen Termen ausdrücken. Dementsprechend fällt es der Autorin schwer, in hierzu genau abgegrenzte Herkunftszusammenhänge zu bestimmen. So stammen »Draht«, »Schaltung«, »Kapazität« aus der Elektro- und Computertechnik. »Man kann wohl kaum von einer simplen Übertragung eines technischen Geräts auf das Gehirn reden. Vielmehr werden oft beide Domänen – Technik und Gehirn – in denselben Metaphern beschrieben.« (Ebd. 178) Bei den Überschneidungen der Geschichte der Hirnforschung und der der Technik lassen sich Empirie und Metaphorik kaum mehr trennen. Wie bereits im 18. Jahrhundert Galvanis Experimente in der Elektrizität die Ursache der Muskelkontraktion bewiesen, basieren Terminologien, die Nervenreize als elektrische Impulse kennzeichnen, auf Empirie, was wiederum zu einer expansiven »modernen« Begrifflichkeit für die wissenschaftliche Darstellung des Gehirns führte. Dass gerade bei

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zeitgemäßen technischen Metaphern keine simple Beziehung mehr zwischen der semantischen Herkunft einer Metapher und ihrem Ziel der Verbildlichung zu unterstellen ist, verdeutlicht ein diachroner Blick. »So wurde etwa im 19. Jahrhundert, das technologisch unter anderem durch die flächendeckende Einführung der Telegraphie gekennzeichnet ist, sowohl von dem Telegraphennetz als dem Nervensystem der Staaten, als auch von den Nerven des Menschen als den Telegraphendrähten des Körpers gesprochen«. (Borck 2002b: 200). Und »[e]in computer war im 19. Jahrhundert ein Mensch, der angestellt war, um Berechnungen für astronomische Navigationstafeln durchzuführen.« (Ebd. 178) Inzwischen versteht man darunter elektronische Rechner, die die Welt verändern, die in Nanosekunden so viele Aufgaben ausführen, dass Vergleiche des früher »Elektronengehirn« genannten Megamediums mit dem menschlichen Gehirn mehr als nur nahe liegend sind. Gemessen an realen Hard- und Softwareverhältnissen sind die Differenzen aber noch erheblich. Wenn ein Transhumanist wie Ray Kurzweil auf der überlegenen Rechenkapazität insistiert, argumentieren Hirnforscher dagegen mit der unbeschränkten Komplexität neuronaler Prozesse. Für die KI-Forschung und deren nach biologischem Vorbild programmierten neuronalen Netze sind die Fachtermini mit dem, was sie bezeichnen, faktisch kongruent. Von Metaphern kann also nicht mehr die Rede sein. Darüber hinaus generiert die wie auch immer begründete GehirnComputer-Analogie neuerdings aus sich heraus Forschungsfragen und -programme in einer Reversibilität, die sich in definitorischen Problemen festläuft, wie ein Zitat aus der »Süddeutsche(n) Zeitung« belegt: »Das Gehirn des Internets läuft auf Billig-Computern«. (Ebd. 180). Eigenschaften und Fähigkeiten des Gehirns lassen sich rückübertragen in technische Kontexte, sodass man die entsprechenden Metaphern nicht mehr naiv benutzen kann. »Ein wesentlicher Unterschied ist der Grad der Bewusstheit dieser Metaphern […]«, was sich zeigt, wo die Begriffe in Anführungszeichen gesetzt werden. (Ebd.) Dass das Verb »speichern« in einem Text über das Gedächtnis nicht zu umgehen ist, weist auf die unerwartete Tatsache hin, dass die Metapher »[…] gleichzeitig auch die Funktion der Ausfüllung einer lexikalischen Lücke (hat).« (Ebd. 181) Selbst wenn der Topos Metapher stets evident schien, so bleibt er dies immer weniger, je genauer man seine Geschichte zurückverfolgt. Allein die unterschiedlichen Theorien machen klar, wie brüchig da der Boden sein kann. Juliana Goschler, auf deren Abhandlung sich dieses Kapitel stützt, begreift Metaphern in Anlehnung an Lakoff & Johnson als kognitive Konzepte. Die Autoren

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»[…] setzen dabei voraus, dass menschliche Wahrnehmung und Verhalten sich an bestimmten Linien orientieren. Diese ›Linien‹ könnten durch eine Untersuchung der Sprache gefunden werden, da das konzeptuelle System, welches für die Sprache verantwortlich sei, dasselbe wie jenes sei, das Denken und Handeln bestimme.« (ebd. 23) Metaphern gehen über ein linguistisches Phänomen hinaus, sie sind mehr als rhetorische Figuren oder Hilfsmittel. Was sie jedoch allgemein charakterisiert, ist ihre Funktion, abstracta herunterzubrechen auf Konkretes, sinnlich Erfahrbares. Analog zu bestimmten Linguistikmodellen lässt sich auch für Metaphern eine Differenz einführen zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur und nach Lakoff & Johnson »[…] behaupten, dass einzelne sprachliche metaphorische Äußerungen nur Zeichen für zugrunde liegende konzeptuelle Metaphern seien, bei denen zwei konzeptuelle Domänen systematisch verbunden werden, wobei eine als Zielbereich, die andere als Ursprungsbereich fungiert.« (Ebd. 24) In dieser dualen Struktur wird das durch die Metapher zu konkretisierende abstractum als Zielbereich definiert und der eingängige, oft alltagssprachliche Teil als Ursprungs- oder Quellbereich. Bei der sicher einleuchtenden Theorie der konzeptionellen oder kognitiven Metapher handelt es sich allerdings nur um einen mehrerer Denkansätze. Goschlers Untersuchung läuft auf folgende »drei Herkunftsbereiche« hinaus: »Reifizierungen/Spatialisierungen, Personifizierungen und technische Metaphern.« (Ebd. 225). Dass diese Triade sich splitten lässt in eine kontemporäre und zwei archaische Provenienzen, liegt offensichtlich außerhalb des erklärten Erkenntnisinteresses. Umso bemerkenswerter ist das, als die Autorin auf mentale Konzepte abhebt, die über die sprachlichen Realisierungen hinausgehen und für die die Sprache lediglich Zeichencharakter hat. Es wäre daher durchaus geboten gewesen, der Frage nach den Ursachen jener Tendenz zu archaischen Metaphern (Zielbereichen) nachzugehen, wie auch der Frage, was es mit deren fundamentalem Unterschied zu den technischen Metaphern auf sich hat. Es ist, als liefen die Synapsen, um die Komplexität der Sinnesdaten herunterzufahren, bis zu den ältesten Schichten der Wahrnehmung zurück und stimulierten das mit diesen assoziierte Lexikon. Sind es nicht genau solche Zusammenhänge, denen eine sich auf die kognitive Linguistik berufende Abhandlung über Metaphern nachspüren sollte? Das müsste mindestens beim Spracherwerb beginnen. Vorausgesetzt sollten Kenntnisse sein, auf welcher intellektuellen Stufe der Erwerb des abstrakten Systems aus komplizierten

Sprache/Metapher: »Container«

syntaktischen Regeln, semantischen Übereinkünften und pragmatischen Anwendungen in Gang gesetzt wird, um begründen zu können, dass die meisten Metaphern (übrigens, wie Goschlers Schlusssatz zeigt, nicht nur bezüglich des Gehirns (ebd. 228)), Personifizierungen und Reifizierungen sind. Abstraktheiten, die um eines vermeintlich leichten Verständnisses willen und aus Kommunikationszwecken personifiziert werden, verlieren nicht nur an Präzision und Vielschichtigkeit, sondern werden auch zurückgeworfen in die vorabstrakte Psychologie der Urbeziehungen, wenn nicht gar, wie im speziellen Fall der Personifizierung, in ein vorbewusst-animistisches Stadium. Auf eine andere Art dennoch ebenso verhält es sich mit der Spatialisierung. Abgesehen von dem Nachweis, dass Nerven und Gehirn funktionell zwar getrennt im Körper verteilt sind, trotzdem aber ein kohärentes System darstellen, wäre Kants Analyse, nach der Raum eine angeborene Kategorie ist – gemünzt zwar auf die zeitlose Selbsterfahrung des Gehirns –keineswegs als überholt abzutun. Denn es ist Tatsache, dass das Gehirn eingeschlossen ist in einem besonderen, der Wahrnehmung von vornherein unzugänglichen, quasi versiegelten Raum – in einem Gehäuse oder in einer Kapsel. Technische Metaphern funktionieren alles andere als regressiv. Wenn mit der Erfindung der Telegrafie die Nerven mit Leitungen zum Gehirn verglichen wurden, so entspricht die Auffassung den damaligen technologischen und naturwissenschaftlichen Standards, dass Sinnesdaten als elektrische Impulse das Gehirn erreichen. Je avancierter und ausdifferenzierter die Technik, desto näher kommen Hard- und Softwares den Funktionen des Gehirns, womit die Metaphern und Fachtermini der Hirnforschung sich oft kaum mehr voneinander unterscheiden, falls sie nicht von vornherein kongruent sind, ja, in vielen Fällen sich sogar umkehren lassen. Zum Beispiel »[…] entstehen sinnvolle Sätze wie bei der Umkehrung des Satzes ›Das Gehirn ist ein Computer‹ in den Satz ›Der Computer ist ein Gehirn‹.« (Ebd. 179) Während spatialisierende Metaphern körperliche und personifizierende Metaphern soziale und psychische Erfahrungen reflektieren, stimmt solches nicht für die technische Domäne. »Technik formt also durch Metaphern unser Verständnis vom Menschen überhaupt, aber in gewisser Weise ist dies ein wechselseitiger Prozess – das zeigt sich auch in der Metaphorik.« (Ebd. 181)

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Theorien/Verfahren Wenn etwas mit meinem Selbstbild kollidiert, ich wider besseres Wissen etwas tue, was meinen Interessen zuwiderläuft, wenn ich mich selbst verletze, mir eine Fehlleistung passiert, oder ich einem Angsttraum nicht beikomme, bin ich mir, nach einer Redewendung, selbst ein Rätsel. »Rätsel« ist ein Begriff, der, avant la lettre natürlich, sehr weit rückdatierbar ist. Was sich seit den Anfängen der Naturbeherrschung je als Unverstandenes in den Weg stellt, versetzt die Menschen nicht nur in Platons archaisches Staunen, sondern verunsichert bis ins Mark, entzieht sich erst einmal der Deutbarkeit, fordert aber gleichzeitig dazu heraus, verstanden, bewältigt, unterworfen, integriert zu werden. Was als Rätsel erfahren wird, impliziert immer schon die Konsequenz, das skandalöse Hindernis lebensweltlich einzuebnen, d.h., das Rätsel zu lösen. Bei Naturphänomenen gehen die Prozeduren vom Beobachten zum Spekulieren, Vermuten, Hypothesen bilden, Experimentieren, Schlüsse ziehen; man kommuniziert und diskutiert, formuliert Theorien, die zuletzt bleiben oder wieder verschwinden. Wie bei Rätseln zum Zeitvertreib, Denksportaufgaben und dergleichen unterliegt die Dramaturgie auch der »großen« Rätsel einem Spannungsbogen, bis dieser nach der Pointe der Lösung ins Nichts abfällt. Eines jener großen Rätsel ist das Bewusstsein. In den einschlägigen Publikationen werden dessen heuristische Ungewissheiten geradezu mantrahaft wiederholt. Titel lauten selten fantasievoller als »Rätsel Bewusstsein«, journalistisch leicht erweitert etwa zu »Das menschliche Bewusstsein ist vielleicht das letzte große ungelöste Rätsel unserer Existenz. Möglicherweise werden wir nie aufklären, worin seine Besonderheit besteht.« (Wewetzer 2016) Selbst einem routinierten Philosophen wie Thomas Metzinger scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als auf dieses Denkmuster zurückzugreifen, wenn er gleich in der Einleitung seines Buches »Der Ego-Tunnel« die Diagnose stellt, »[…] dass

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wir das philosophische Rätsel des Bewusstseins – die Frage, wie es jemals auf eine rein physikalischen Grundlage wie dem menschlichen Gehirn entstehen konnte – niemals lösen werden […] « (Metzinger 2009: 13) An diesem »Rätsel Bewusstsein« manifestiert sich am augenfälligsten die selbstreferentielle Schleife, in die das Gehirn mit seinem Interesse an sich selbst eingefädelt ist. Wenn das Bewusstsein sich zum Mysterium erklärt, ist es nichts sonst als es selbst, das sich problematisiert und im Kern dieser Fragestellung gleichzeitig die Grenzen seiner Selbsterkenntnis zu spüren bekommt, was jedoch für die Forschungspraxis keineswegs zutrifft. Dieses Zurückprallen gründet sich in erster Linie weniger auf gedankliche Einsichten in Bewusstseinsprozesse, sondern vielmehr darauf, wie die Physis des Gehirns sich in das, was als »Bewusstsein« firmiert, übersetzt, darauf, wie und wo sich die neuronalen Abläufe in dem virtuellen Organ, das in der philosophischen Tradition als »Geistiges« untersucht wird, wiedererkennen und nachweisen lassen. Es ist nicht nötig, sich in den zahllosen Definitionen des Bewusstseins zu verheddern. Dieses mysteriöse Derivat des Gehirns scheint wissenschaftlich noch weniger zu fassen als das Gehirn selbst, zu dem und in das eben dieses Bewusstsein mit seinen Fähigkeiten, Verfahren, Instrumenten und Medien seit der Antike immer weiter vorgedrungen ist, weil das Gehirn mit seinem Status als materieller Gegenstand sich wie jedes andere Erkenntnisobjekt empirisch erforschen lässt. Überdies hält das Bewusstsein per se eine Distanz zur Außenwelt, wobei es intendiert, sich die äußere Realität als Objekt seiner Erkenntnis einzuverleiben. Doch als immaterielle Entität und zugleich Konstituens dieser Außenwelt ist es ihm unmöglich, zu sich selbst dieselbe Distanz einzunehmen wie zu den materiellen, durch die Sinne vermittelten Objekten. In letzter Instanz ist es das Gehirn, das von der alten Leitfrage umgetrieben wird, ob ein System sich selbst durchschauen könne. Zwangsläufig aber kann sich nur das Bewusstsein dieser von ihm unbeantwortbaren Frage stellen; eine Apriorität, die jedoch keineswegs Forschungen und Theorien blockiert. Sich ausschließlich denkend zu umkreisen, ist ein mehr oder weniger vergebliches Unterfangen. Das ändert sich mit den neurowissenschaftlichen Fortschritten, seit sich Verfahren entwickelt haben und Bewusstseinsprozesse sich direkt auf die Physis der Gehirnmasse zurückführen lassen. Wenn Neuronenaktivitäten zu beobachten sind, ist mit dem Zugang zu den physischen Voraussetzungen des Bewusstseins durchaus ein empirisches Objekt gegeben. Die Philosophie des Geistes, die mit dem Descartes’schen Schema die Bifurkation Körper-Geist übernommen hat, war, wie sich aus der Retrospektive der Neurowissenschaften zeigt, für das Denken, Sprechen und Schreiben allein

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kaum zu überwinden, weil sie stets der verwirrenden Frage ausgesetzt blieb, wie a) die Sinne zu ihren Daten kommen, und b) was mit diesen geschieht, wenn sie zu einem Bewusstsein emergieren, vor allem, ob dieses Bewusstsein tatsächlich die Welt abbildet oder nur sich selbst. Zutiefst unklar also, wie das Verhältnis zwischen dem Apriorischen und Sinnlich-vermittelten zu gewichten sei, woraus Kant und Hegel ihre gewaltigen Denkarchitekturen aufgerichtet haben, die nur wenig später Nietzsche wieder eingerissen hat, eine Dekonstruktion, die in der Folgezeit wiederum hilfreiche psychologische Einsichten mit sich bringen sollte. Das zusammen genommen könnte mit den in die philosophischen Domänen expandierenden Neurowissenschaften obsolet geworden sein, und es ist nicht ausgemacht, ob es nicht bereits ein Zeichen dafür ist, dass die Philosophie bereits in einem definitiven Rückzugsgefecht begriffen ist, wenn sie sich mit den Neurowissenschaften verbündet. Hierzu auch Catherine Malabou: »Wir haben uns noch immer nicht die Ergebnisse der revolutionären Entdeckungen angeeignet, die seit fünfzig Jahren im Bereich der Neurowissenschaften gemacht werden (das heißt in allen Disziplinen, die sich mit dem zentralen Nervensystem, mit seiner Anatomie, seiner Physiologie und seiner Funktionsweise beschäftigen) und die dazu beitragen, fast jeden Tag die irrigen, aber auf mysteriöse Weise die fortbestehenden Vorstellungen aus der Welt zu schaffen, die wir uns vom Gehirn machen. Schon 1979 erklärte Jean-Pierre Changeux: »›Unser Wissen auf diesem Gebiet hat in den letzten zwanzig Jahren eine Aufwertung erfahren, die in ihrer Bedeutung allenfalls mit der Entwicklung der Physik zu Beginn unseres Jahrhunderts oder der Molekularbiologie in den fünfziger Jahren vergleichbar ist. Die Entdeckung der Synapse und ihrer Funktionen ist folgenreich wie die Entdeckung des Atoms oder der Desoxyribonukleinsäure (DNS). Eine neue Welt zeichnet sich ab […]‹« (Malabou 2006: 8f) In seinem drei Jahre später, 2009, erschienenen Buch »Der Ego-Tunnel« zitiert Thomas Metzinger nicht nur Neurowissenschaftler, sondern er sieht sich als Philosoph auch als Vorbild darin, mit jenen zu kooperieren. Er selbst »[d]ie Person, die Ihnen diese Geschichte erzählt, ist ein Philosoph – aber einer, der seit vielen Jahren mit Hirnforschern, Kognitionswissenschaftlern und Forschern auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz zusammengearbeitet hat. Im Unterschied zu vielen meiner Kollegen in der Philosophie bin ich der Auffassung, dass empirische Daten für philosophische Fragestellungen oft unmittelbar relevant sind und dass weite Teile der akademischen Philosophie solche Daten viel zu lange ignoriert haben.« (Metzinger ebd. 14)

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Um zu erkennen, dass Begriffe wie Subjekt, Ich, Identität, Intelligenz oder Selbst von volatilen Voraussetzungen gefährdet sind, braucht man sich nicht erst die zahllosen und zumeist konkurrierenden Theorien vergegenwärtigen, die die fluiden Definitionen diskursiv einzugießen versuchen. Diese vorprogrammierten Unbestimmtheiten suspendieren aber nicht davon, sich generell damit zu beschäftigen, was das Bewusstsein ausmachen könnte. Der ewig sokratische Vorbehalt »Ich weiß, dass ich nichts weiß« dauert an, »[…] wenn bildgebende Verfahren wie die Computertomographie und die Neuroradiologie erstaunliche Fortschritte gemacht haben, auch wenn die ›kognitiven Wissenschaften‹ heute zu einer eigenständigen Disziplin geworden sind und auch wenn die Presseartikel über das zentrale Nervensystem sich vervielfachen – der neuronale Mensch hat kein Bewusstsein. […] ›Wir‹ haben keine Vorstellung von ›uns‹, von ›unserem‹ Inneren. Natürlich haben wir alle von Neuronen, Synapsen, Konnexionen (Verbindungen), Netzen und verschiedenen Arten der Erinnerung gehört.« (Malabou ebd. 9f) Aber: »Das Problem liegt darin, dass wir keinen Zusammenhang zwischen all diesen Phänomenen, diesen Bezeichnungen und diesen Situationen sehen […].« (Ebd. 11) Wie Metzinger mit dem »Ego-Tunnel« schlägt auch Malabou entlang dem neurowissenschaftlichen Terminus der »Plastizität« Lösungen vor, die disparaten Daten und Theorien in ein Gesamtbild des Bewusstseins zu integrieren. Die Philosophie des Geistes, unter der die Erforschung des Bewusstseins seit der Antike lief, breitete sich aus als eine Geschichte der Ismen, deren Ursprünge im Leib-Seele-Problem wurzeln. Weil philosophischen Spekulationen kein empirisches Erkenntnisobjekt gegenüberstand, (was à la longue in die systemische Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften mündete), war das Denken auf die unsichere, weil zuletzt subjektive Introspektion angewiesen, sodass jede Antwort Kaskaden neuer Fragen auswerfen musste. Bald rief der konstitutive Leib-Seele-Dualismus Versuche auf den Plan, genau diese Dichotomie zu überwinden. Mit dem epochalen Impuls, dass Geist und Materie zwei verschiedene Substanzen seien, hatte Descartes der Philosophie ab dem 17. Jhdt. eine Grundaufgabe gestellt. Der Dualismus kommt einerseits der intuitiven Erfahrung entgegen, dass physische und mentale Phänomen getrennt funktionieren, gleichzeitig war auch Descartes klar, dass es eines Austauschs beider Systemen bedürfe. In diesem interaktivistischen Modell allerdings musste offenbleiben, wie und wo die Systeme sich austauschen und gegenseitig beeinflussen. Sobald es nicht weiter ging, griff man auf die

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unendliche Reserve zurück: auf Gott. Je nach Präferenz gewinnt in dieser Struktur einmal die geistigen Seite die Oberhand, ein andermal die materielle. Des Weiteren opponieren den Dualismen monistische Konzepte wie Spinozas Vorstellung von einer einzigen Substanz. Im 20. Jahrhundert erzeugt der Behaviourismus den ersten empiristischen Schnitt in die auf Introspektion vertrauende Geistesphilosophie. Verbunden damit war die Hinwendung zu einer Psychologie der mentalen Zustände, die insbesondere durch Beobachtung des Verhaltens ermittelt werden sollten. Gemäß seinem Vorverständnis definiert der philosophische Behaviourismus die mentalen Zustände als materiell. Was umgehend die Widerrede provoziert, dass die verhaltensbedingenden mentalen Zustände nichts anderes seien als Zustände des Gehirns. Mit offensichtlicher Tendenz zum Materialismus, zum Physischen als Substrat des Geistigen, setzt sich auch die Akzeptanz der Naturwissenschaft durch, sodass das Gehirn auf Dauer in den Mittelpunkt rückt und mit dieser Verschiebung sich auch die Terminologie verändert. Anstelle des Leibes/ Körpers besetzt in einer weiterhin dualen Struktur nun das Gehirn den physischen Part und anstelle des Geistes das Bewusstsein den virtuellen, während sich in Fragen nach der Verschaltung von Bewusstsein und Gehirn die Deutungshoheit mehr und mehr zu den Neurowissenschaften verschiebt. Malabou und Metzinger lesen sich als zwei Beispiele, dass die Philosophie des Geistes bei den Neurowissenschaften angekommen ist. Ursprünglich veranlasste Metzinger der Auftrag, einen Lexikonartikel zum Stichwort »Bewusstsein« zu schreiben, die bis dahin verfügbaren Definitionen untereinander abzugleichen, um herauszufinden, »[…] ob es in der langen Geschichte der Philosophie […] einen Grundgedanken gibt, der sich wie ein roter Faden durch die jahrtausendelangen Bemühungen der Menschheit zog, den bewussten Geist zu verstehen.« (Metzinger ebd. 45) Eine der aus den historischen Diskursen destillierten Kontinuitäten ist die Position des Beobachters, d.h., dass für die Faktoren Bewusstwerdung, Gefühl oder Wahrnehmung von einer Art innerem Zeugen registriert werden, welcher nicht nur das subjektive Wissen reflektiert, sondern auch als »idealer Beobachter« den Zusammenhang zwischen Handlungen und Bewusstsein moralisch bewertet – verkürzt auf die Formel: Bewusstsein = Gewissen. Sich des Bewusstseins bewusst zu werden, impliziert die Abspaltung eines inneren Zeugens, der nicht nur das subjektive Wissen und die subjektive Erfahrungen erfasst, sondern auch den Zusammenhang von Bewusstsein und Handlung moralisch beurteilt. Die kollektive Moral, die

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sich mit der inneren Stimme meldet, beschreibt Julian Jaynes als Geschichte der bikameralen Psyche bezeichnet. »Die provokante Theorie von Jaynes besteht darin, dass das menschliche Bewusstsein ca. um 1000 v. Chr. erst entstanden ist. Vor dieser Zeit hatten die Menschen eine ›bikameralen Psyche‹, d.h. ihr rechtshirniges Sprachzentrum erzeugte Stimmen, von denen sich die Menschen nicht bewusst waren, dass sie von ihrem eigenen Gehirn erzeugt werden. Sie schrieben sie den immer noch präsenten Ahnen zu oder Göttern. Die Ägypter nannten diese Stimme ›Ka‹. Und die Menschen folgten dieser Stimmen, taten wie ihnen geheißen, weil sie nicht in der Lage waren, sie in Frage zu stellen. Trotzdem waren sie dazu in der Lage, Häuser und Städte zu bauen, Werkzeuge zu benutzen, Pläne zu machen und auszuführen. Dies alles funktioniert sehr gut auch ohne Bewusstsein, was wir dann bemerken, wenn wir mal zerstreut oder abgelenkt sind und trotzdem erfolgreich durch den Tag kommen.« (Hermann 2018)

»Die zweite wichtige Grundeinsicht scheint im Gedanken der Integration zu liegen: Bewusstsein ist das, was verschiedene Bestandteile gleichzeitig zusammenbindet, so dass sie als Teile eines umfassenden Ganzen erscheinen. Wenn man diese Ganzheit hat, erscheint einem eine Welt.« (Metzinger ebd. 46) Ganzheit, Integration, Vereinheitlichung, Zusammenhalt, Emergenz, Kohärenz, Holismus usw. – tiefenstrukturell benennt diese Begrifflichkeit, wo sie die Hauptfunktion des Bewusstseins anvisiert, weitgehend ein und dasselbe. Für Metzinger folgt daraus, dass »[…] der eigentliche Trick am Bewusstsein darin zu bestehen (scheint), immer genau die richtige Abstimmung zwischen den Teilen und dem Ganzen zu erreichen […]«, (ebd. 52) sodass die disparaten Inputs über die Sinne sich zu einem kohärenten Bild organisieren. Konstitutiv ist auch die Gewissheit, aktuell sowohl die Inhalte bewusst wahrzunehmen als auch, dass das Subjekt sich als wahrnehmende Instanz erkennt. Der gegenwärtige Gehirnzustand bestehe demnach aus zwei logischen Teilen – einem, der das jeweilige Objekt der Wahrnehmung vergegenwärtigt sowie einem, der »[…] ständig den Gesamtzustand selbst repräsentiert, ihn noch einmal darstellt.« Bewusste Zustände »metarepräsentieren« sich, während sie gleichzeitig etwas anderes abbilden. (Vgl. ebd. 53) Um die Verarbeitung aktueller und gespeicherter Informationen zu beschreiben, wäre das Bewusstsein

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als ein rekurrentes System mit Feedbacks zu denken: »In der bewussten Wahrnehmung wird eine Kontextschleife erschaffen.« (Ebd. 54) Darin wären die Ursachen dreier Emergenzeffekte aufzulösen: »[…] das Eine-Welt-Problem, das Jetzt-Problem und das Wirklichkeitsproblem […].« (Ebd. 77) Bevor es zur Kernfrage weitergeht, wie es sein könnte, dass aus Neuronenprozessen das virtuelle Bewusstsein entspringt, wäre Metzingers philosophisches Bewusstseinsmodell zu beschreiben inklusive einer Interpretation der Einheit des Bewusstseins. (Vgl. ebd. 57) Der Tunnel wie auch die »neurophänomenologische Höhle« werden erst zu einem schlüssigen Bild mit der Spezifikation der inneren Oberfläche (eine äußere ist bei diesem Modell nicht vorstellbar), die als dynamischer Filter »geschlossen und vollkommen realistisch sein muss« mit der höchst bemerkenswerten Begründung: »Stellen Sie sich vor, es würde Ihnen tatsächlich gelingen, sich introspektiv immer tieferer und früherer Phasen der Informationsverarbeitung bewusst zu werden […]. Was würde geschehen? Die Repräsentation wäre dann nicht mehr durchsichtig, aber sie wäre immer noch innerhalb des Tunnels. Eine Flut von miteinander wechselwirkenden Mustern würde plötzlich auf Sie einströmen. Es gäbe einen Ansturm alternativer Interpretationen, und eine Vielzahl intensiv miteinander im Wettstreit stehender Assoziationen würde in Ihre Wirklichkeit eindringen. Sie würden sich in den unzähligen Mikroereignissen verlieren, die in jeder einzelnen Millisekunde in Ihrem Gehirn stattfinden – Sie würden sich in sich selbst verlieren. Ihr Geist würde in einen Raum unendlicher Schleifen der Selbsterforschung hineinexplodieren.« Daher ist »[d]er dynamische Filter der phänomenalen Transparenz eine der faszinierendsten Erfindungen der Natur«, weil: »Wir müssen uns nicht dafür interessieren und auch nicht wissen, wie sich diese Kette von kleinen Wundern in unseren Gehirnen entfaltet. Wir können das bewusste Erleben einfach als eine unsichtbare Schnittstelle zur Wirklichkeit genießen.« (Ebd.74f) Den äußerst brüchigen Realitätsbegriff einmal unberücksichtigt, wirft die rigide Differenz zwischen naiv-lebensweltlichem Realismus und einer in extremo progredierenden Introspektion logische Probleme auf. Während Metzinger eine in die Unendlichkeit der Neuronenprozesse ausufernde Introspektion befürchtet, ist es unterdessen das Gehirn selbst, das mit seinem kompromisslosen Drang nach Selbsterkenntnis und der ersten Spaltung eines Schädels in eben diese Introspektion eingestiegen ist und diese seither immer weitertreibt. Das ist es, was den Philosophen als lebensbedrohliche Dynamik

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beängstigt. Unter der Bedingung, dass dieser Prozess immer weiter voranschreitet und mit modernen Techniken inzwischen unvorstellbare Einblicke in die Mikroprozesse möglich macht, muss das Konzept der Introspektion sich als »Metarepräsentation« (ebd. 72) irgendwann von dem naiven Realismus abgespalten haben. Akzeptiert man, dass die frühen Eingriffe ins Gehirn als medizinisch induzierte und heilpraktisch-alltägliche Prozeduren dem naiven Realismus noch zuzurechnen waren, so ändert sich der Status der ausufernden Introspektion mit der Emanzipation der Hirnforschung zu einer aus der Zweckrationalität befreiten Grundlagenforschung, ein Studium, in das sich recht früh bereits Leonardo da Vinci vorgewagt hat. Kommen sich hier nicht zwei Dynamiken in die Quere? Einerseits, was in jenem naiv-realistischen Tunnel passiert, dessen Aktivitäten davon abhängig sind, in ihrer Komplexität nicht durchschaubar zu sein. Andererseits der bedrohliche unendliche Regress der Introspektion als der dem vitalen Verlangen des Gehirns entsprechende (im Bewusstsein repräsentierte) Weg, um so viel wie möglich über sich selbst herauszufinden. Eine Lösung versprechen könnte ein zweiter, sich vom naiven Realismus abspaltender und allein der unendlichen Introspektion der Selbsterforschung dienender Tunnel. Diese sinnvoll erscheinende Konstruktion aber provozierte sogleich die Frage, welches System dann die Eindrücke eines individuellen Wissenschaftlers respektive einer Wissenschaftlerin verarbeiten würde, die ja, ob direkt oder mit elektronischen Medien nichts anderes tun, als in Gehirne blicken. Insofern als sie damit immer auch in sich selbst hineinblicken – »explodierte« deren Gehirn (oder Bewusstsein) dann nicht in diesen unheimlichen »Raum unendlicher Schleifen der Selbsterforschung«? Parallel dazu sollte man sich eine vertraute Lebenspraxis denken, die anfinge bei der dinglichen Laborumgebung aus Möbeln, Kaffeemaschine, Garderobe und ähnlichem. Nach der Arbeit gingen die Forschenden nachhause, um ihren Alltag wie die meisten Vertreter ihres Milieus zu leben, vielleicht vergleichbar mit Astronomen mit der Aufgabe, bis zu den Grenzen des unendlichen Raumes vorzudringen, dessen ewiges Schweigen Blaise Pascal dereinst in Schrecken versetzte, die sich trotz alldem als physische und soziale Subjekte fühlen und sich angesichts der das Fassungsvermögen der Meisten übersteigenden Dimensionen der Raumzeit sich vor dem Absolut-Ausgedehnten sicher kaum als absolutes Nichts empfinden dürften. Metzingers Begriff der Mehrdimensionalität bringt mit seiner beinah alltagssprachlichen Unbestimmtheit nur schwerlich das Potenzial mit, solche Diskrepanzen aufzufangen.

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Die Welt aber ist nur scheinbar, wie sie ist, denn sie ist das nur in den Augen »naiver Realisten«, als die wir nämlich geboren wurden. Was wir für eine einheitliche Welt halten, ist lediglich Modell oder Repräsentation. Damit entzieht sie sich in ihrer komplexen, »realen« Ganzheit. »Die Antwort liegt in der Transparenz der phänomenalen Repräsentation. […] Eine Repräsentation ist transparent, wenn das System, das sie benutzt, sich selbst nicht als eine Repräsentation erkennen kann. Ein Weltmodell, das gerade im Gehirn aktiv ist, ist transparent, solange das Gehirn keine Möglichkeit hat, die Tatsache zu entdecken, dass es ein Modell ist. Ein Modell des gegenwärtigen Moments ist transparent, wenn das Gehirn keine Chance hat, zu entdecken, dass es einfach das Ergebnis von Informationsverarbeitungsvorgängen ist, die gegenwärtig in ihm selbst stattfinden.« (Ebd. 68) Diesen Umstand zu verdeutlichen, greift Metzinger auf die Funktionsweisen technischer Medien zurück, den Film, den Bildschirm, die Distanz ermöglichen, wobei ein Bildschirm zum Beispiel mit der Mikroperspektive auf die elektronische Erregung der Pixel einen zusätzlichen Realitätsmodus aufbietet. »Diese Art der Selbstdistanzierung können wir bei unserem eigenen Bewusstsein nicht durchführen. Es ist eine andere Art von Medium.« (Ebd. 69) Erklärbar ist dies aus der selbstreferentiellen Schleife, ähnlich der, die auch das auf seine Selbsterkenntnis fixierte Gehirn bindet. Diese »andere Art von Medium« hat zu tun mit kompakten Sinneseindrücken, ist undurchdringlich und lässt sich nicht wie Fernsehbilder in rhythmisiert leuchtende Pixel auflösen, so dass der fundamentale »[…] Unterschied zwischen den beiden Medien deshalb existiert, weil das System, das die ›Pixel‹ im Bewusstsein erzeugt, dasselbe System ist, das auch versucht, sie zu entdecken.« (Ebd.) Gemäß eines über Millionen Jahre optimierten Mechanismus, der einen isolierten Sinneseindruck in Hochgeschwindigkeit mit benachbarten Eindrücken und Daten kontextualisiert, sind wir nicht in der Lage von seinem Wirken Notiz zu nehmen: »Er (der Mechanismus) macht unser Gehirn unsichtbar für sich selbst. Wir kommen nur mit seinem Inhalt in Berührung und sehen niemals die Repräsentation als solche – und genau darum haben wir die Illusion, in unmittelbarem Kontakt zur Welt zu stehen. Auf eben dieselbe Weise wird (man) zu einem naiven Realisten, einer Person, die der Überzeugung ist, dass sie direkten Zugang zu einer vom Beobachter unabhängigen Wirklichkeit hat.« (Ebd. 70)

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Analog zur körperlichen Unsichtbarkeit des Gehirns reproduziert sich dasselbe Motiv, wenn auch auf einem anderen Niveau. In seiner intrinsischen Selbstwahrnehmung »erlebt« sich das Gehirn ebenso als unsichtbar. Virtuell aber ist das Auge mit von der Partie, indem es sich als introspektives »Organ« zum inneren – dem »dritten Auge« – metaphorisiert. Diese Unsichtbarkeit erklärt Metzinger als Effekt des »Ego-Tunnels«, der als die titelgebende Instanz die zentrale Hypothese des Buches liefert. Der Tunnel stellt sich als eine nützliche Metapher der Komplexitätsreduktion heraus (wenngleich der Autor auf diesen zweckdienlichen Terminus Luhmanns nicht zurückgreift). Im Unterschied zu einem nur zweidimensionalen »Filter« wird der Tunnel als mehrdimensionale Struktur darstellbar. Mit der Anrede »Sie« die Lesenden in einen Scheindialog einbeziehend, erläutert der Autor die innere Oberfläche. Diese besitzt »[…] eine beträchtliche Tiefe und baut sich aus verschiedenen Sinnesqualitäten auf – nicht nur Seh-, Gewichts- und Tastempfindungen, sondern auch Klang, sogar Geruch. Kurzum, der Tunnel hat eine hochdimensionale, multimodale innere Oberfläche. Das trägt dazu bei, dass Sie die Wände des Tunnels nicht als eine innere Oberfläche erkennen können; das Ganze gleicht einfach keiner anderen Tunnelerfahrung, die Sie jemals gehabt haben.« (Ebd. 74) Obwohl die »mehr-« oder »hochdimensionale Oberfläche« nicht genauer erklärt wird – bzw. werden kann – entsteht doch der Anschein, als schreibe Metzinger der nicht mehr in der Euklid’schen Geometrie visualisierbaren Tunneloberfläche Eigenschaften zu, die Einstein mit der Raumzeit als vierte Dimension formuliert hat. Abgesehen von der Krümmung des Raumes sind die in ihrer Abhängigkeit von den aktuellen Hirnzuständen präsenten Sinnesqualitäten dynamisch, laufen sozusagen latent im Hintergrund mit und konstituieren einen permanent in Bewegung begriffenen Raum. Diese Konnotationen machen den Ego-Tunnel zu einer sinnvollen Metapher des Bewusstseins in actu. Dem Tunnel Bewusstsein, der die disparaten Impulse zu einem homogenen Weltbild, der Repräsentation oder dem Gegenwartsfenster konfiguriert, sind die Differenzen zwischen den Hirnfunktionen vorgelagert. Metzinger unterscheidet in hard- und software, physische und virtuelle Funktionen. Gemeint ist die unbewusste Steuerung des vegetativen Nervensystems, zu unterscheiden von den virtuellen Organen, zu denen er neben dem Bewusstsein auch die Gefühle zählt. Wichtiger jedoch als zu diskutieren, ob Gefühle Organe seien, wären die Differenzen, die den »transparenten«, jenen vom Subjekt nicht wahr-

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nehmbaren Tunnel dekonzentrieren. Als diesen Differenzen vorgängig ist der evolutionäre Nutzen jener unsichtbaren »Welt im Gehirn« in deren »[…] komputationaler Strategie. Indem wir die gefährliche Gegenwart als real auszeichneten, verhinderten wir, dass wir uns in unseren eigenen Erinnerungen oder Fantasien verlieren.« (Ebd. 93) Eben diese komputationale Strategie prägt die maßgebliche Differenz, die den Organismus befähigt, künftige Ereignisse zu antizipieren – etwa Fluchtwege bzw. das Verhalten von Beutetieren vorauszuberechnen. Passiert das auch in Mikrosekunden, so handelt es sich dennoch um die Fähigkeit, sich von einer aktuellen Situation zu distanzieren und in einen Möglichkeitsraum zu wechseln. Der homo sapiens allerdings entwickelt diese Fähigkeit weiter. Mit »[…] Offline-Simulationen in seinem Geist […] kann (das Bewusstsein) mögliche Welten repräsentieren – Welten die nicht als gegenwärtig erlebt werden.« (Ebd. 94) Diese Fähigkeit lässt sich interpretieren als ein konstituierender Bruch im notorischen Präsens des Tunnels. Das betreffende Tier, respektive Subjekt, vergleicht durch »[…] innere Probeläufe des Zielverhaltens mit Merkmalen einer gegebenen Welt« – antizipiert als »Zielverhalten« (des Akteurs) oder als »Zielzustand« (die Realität), so dass man nach dem mentalen Übergang »[…] von der wirklichen Welt in die wünschenswerteste mögliche Welt, man zu handeln (beginnen kann).« (Ebd. 93) Eine abgespaltene Komponente des Bewusstseins wechselt über in einen Virtualitätsmodus zweiten Grades. Diese Diskontinuität löst Metzinger auf, indem er das Weltmodell des Bewusstseins als stabilen Bezugsrahmen voraussetzt, der die Sicherheit gewährleistet, dass, was immer sich aus dem aktuellen Zeitfenster ausklinkt, von diesem »Rahmen« begrenzt wird. Anstelle des Bildes eines plumpen Rahmens böten zweifellos die dynamischeren Attraktoren aus der Chaosforschung ein angemesseneres Modell. Von Metzinger sicher unbeabsichtigt, evoziert diese unoder vorbewusste Dissoziation im Zentrum der Weltrepräsentation Derridas (Nicht-)Begriff der différance für jene sich einer statischen Signifikanz entziehende Bewegung, die der fundamentalen Fähigkeit des Bewusstseins, sich in Differenzen zu manifestieren, vorausgeht. Indem die Antizipation und Simulation möglicher Realitätszustände Handlungen antizipatorisch aussetzt und aufschiebt, inkludiert auch das Derridas différance mit ihrer zweiten basalen Konnotation des »Aufschubs«. Auf alle Fälle hat Metzingers Konstruktion zweier Logiken des Wirklichkeitsmodells weitreichende Konsequenzen, denn die primäre Distanzierung von aktuellen Situationen bildet die Anlage, aus der sich das Denken entwickeln wird. »Die Entdeckung des Unterschieds zwischen Erscheinung und Wirklichkeit wurde möglich, weil wir erkannten,

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wie manche Inhalte unseres bewussten Geistes intern konstruiert wurden, und weil wir den Konstruktionsvorgang introspektiv wahrnehmen konnten. Der Fachbegriff wäre hier phänomenale Opazität – genau das Gegenteil von Transparenz.« (Ebd. 96) Diese Begriffsopposition bezeichnet den grundlegenden Gegensatz zwischen konkreter Sinneswahrnehmung und abstraktem Denken. Aber: Mit diesem spätevolutionären Potenzial könnte man tatsächlich beobachten, wie das Denken im Gehirn abläuft. »Beim bewussten Nachdenken, im Gang der Überlegung, werden wir zu Zeugen der Bildung von Gedanken, denn bestimmte Verarbeitungsstufen sind für die introspektive Aufmerksamkeit verfügbar. Darum wissen wir, dass unsere Gedanken nichts Gegebenes sind, sondern etwas Gemachtes.« (Ebd. 97) Das Denken beobachtet das Denken. Und weiter projiziert, führt die Selbstbeobachtung beim Denken, die naturgemäß wiederum auch die Selbstbeobachtung des Denkens ist, zum Bewusstsein eines Selbst (noch lange nicht zu dem psychologischen), sondern zu einer quasi-ursprünglichen Evidenz, in der » Ersten-Person-Perspektive« (ebd. 98) ein Selbst zu sein. Im 17. Jahrhundert von Descartes markiert: »Ich denke, also bin ich.« Friedrich Kittler forderte, bei einer Lightshow sich weniger von den Effekten bestechen zu lassen, sondern dahinter die Schaltpläne zu sehen, d.h., zu imaginieren. Trotz dass es strukturell naheliegend ist, lässt sich Kittlers Postulat nur bedingt auf die Relation Gehirn-Bewusstsein übertragen, denn obwohl die Analogie durchaus stimmig wirkt, lässt sich die Diskrepanz trotz intensivster Erforschung der neuronalen Prozesse, die das Bewusstsein erzeugen, nicht so leicht überbrücken wie bei einer technischen Apparatur zwischen Schaltplan und den sichtbaren Effekten. Die ungelöste Frage, eben das Rätsel, wo und wie physische Prozesse zum Bewusstsein emergieren, verschwindet nicht einfach. Während Metzinger eine Lösung noch für das Jahr 2050 (ebd. 78) prophezeit, hält der australische Philosoph David Chalmers das für unmöglich. Einer seiner Gegenspieler in der Philosophie des Geistes, Daniel Dennett, prognostiziert, dass es zu etwas führen könnte, »hinter die Kulissen« zu schauen. Nach seiner zeitgemäßen Metapher schafft sich das Gehirn mit dem Bewusstsein eine benutzerfreundliche Bedieneroberfläche, vergleichbar mit einer optischen Täuschung oder den Bildschirmrepräsentationen der Computer und iPods. Eine etwas weniger metaphorische Erklärung liefert die Oszillationstheorie. Metzinger zitiert Auswertungen tieferer Meditationszustände:

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»Viele Experimente haben gezeigt, dass synchrones Feuern genau das sein könnte, was einen Verband von Nervenzellen, der Zugang zum Bewusstsein besitzt, von einem anderen unterscheidet, der ebenfalls feuert, allerdings auf unkoordinierte Weise und daher auch ohne Zugang zum Bewusstsein.« (Ebd. 55f) Nach dem Neurowissenschaftler Michael Graziano sind solche Daten zwar anzuerkennen, erklären aber genauso wenig wie die Theorie der integrierten Information, der zufolge das Bewusstsein verstreute Informationen zu einer Ganzheit organisiert. »Diese Theorien führen auch deshalb in die Irre, weil sie zu sehr auf Intuition setzen. Sie bleiben im Bewusstsein gefangen, statt darüber hinauszugehen. Denn dieses ist in Wirklichkeit eine Karikatur, sagt Graziano. Es ist ein vom Gehirn konstruiertes ungenaues und verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Aber von welcher Wirklichkeit? Der Wissenschaftler sieht im Gehirn einen Bio-Computer. Der verarbeitet Informationen, die ihm aus der Außenwelt oder anderen Hirnregionen zugeleitet werden. Diesen Prozess schreibt das Gehirn sich selbst zu. Das Ergebnis ist Bewusstsein. Graziano nennt seine Annahme die ›Aufmerksamkeits-Schema-Theorie‹ des Bewusstseins. Ein Beispiel: Eine Person, nennen wir sie Bill, schaut auf einen heißen Becher Kaffee, der vor ihm steht. Er widmet ihm seine freudige Aufmerksamkeit. Dabei wird er von einer anderen Person, Abel, beobachtet. Abel registriert, dass Bill sich auf seinen Kaffee konzentriert und womöglich gleich an ihm nippen wird. Dieser Vorgang – jemand liest die Gedanken und Absichten eines anderen Lebewesens – markiert einen wichtigen Schritt in der Evolution. Einem anderen Wesen wird eine Form von Bewusstsein zugeschrieben. Graziano überträgt nun diesen Prozess auf die Selbstbeobachtung des Gehirns. Es betrachtet sich selbst beim Denken und erschafft so das Selbst-Bewusstsein.« (Wewetzer ebd.) Es ist sicher problematisch, zu postulieren, das Bewusstsein müsse, um sich selbst zu erkennen, über sich hinaus gehen. Diese Forderung dürfte sich speziell an Theorien wenden, die sich allein introspektiv mit Bewusstseinsprozessen befassen. Für Graziano bedeutet »Über das Bewusstsein hinaus« die Untersuchung der neuronalen Ereignisse, die sich als Bewusstsein manifestieren. Als »Bio-Computer« verarbeitet das Gehirn externe und interne Informationen zu dem Komplex, der unter Bewusstsein läuft. Reine Introspektion aber

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kann nicht genügen. Damit das Bewusstsein in der Lage ist, sich selbst wahrzunehmen, benötigt es den Anderen. Grazianos »Aufmerksamkeits-SchemaTheorie« baut darauf, dass ein Subjekt 1 ein Subjekt 2 beobachtet und, indem es sich in dieses hineinversetzt, dessen Handeln als eine Bewusstseinsleistung jenes Anderen deutet mit dem gleichzeitigen entscheidenden turn, dieses Beobachtete auf sich selbst zu übertragen. In einem Spiegelspiel konstituiert dieser Umkehrschluss das Selbst-Bewusstsein und während dieser reflexiven Beobachtung des Denkens durch das Denken selbst erwirbt es eine Vorstellung und ein Wissen über das Bewusstsein schlechthin. Diese Konstellation könnte man mit der Erfindung der Eins als Rückschluss aus der Zweiheit, respektive Mehrzahligkeit vergleichen, denn erst danach kann das Zählen beginnen, von dem aus die Eins, retrospektiv sozusagen, ihre fundamentale Funktion erhält. Anders als Thomas Metzinger, der der Fusion von Philosophie und Hirnforschung das Wort redet, erwartet Graziano die Erklärung des Bewusstseins ausschließlich von der Neurophysiologie. In der Phase, seit Malabou 2006 beziehungsweise Metzinger 2009 forderten, für die Enträtselung der Einheit des Bewusstseins die Hirnforschung einzubeziehen, hat sich in den Neurowissenschaften einiges getan. Wie Graziano entschieden sich Francis Crick und Christof Koch »[…] vor mehr als einem Vierteljahrhundert, philosophische Diskussionen über das Bewusstsein beizulegen und (sich) lieber auf dessen materielle Hintergründe zu konzentrieren.« (Koch 2020: 14) Das Forschungsinteresse gilt den neuronalen Korrelationen des Bewusstseins (neural correlates of consciousness, NCC), den minimalen Hirnaktivitäten bei Bewusstseinsvorgängen. Das Adjektiv »minimal« bezeichnet die Beschränkung, nur in bestimmten Hirnregionen lokalisierbare Neuronenaktivitäten zu beobachten, indessen wäre prinzipiell das gesamte Gehirn als neuronales Korrelat des Bewusstseins anzusetzen. Initiativ für die Erzeugung von Bewusstseinsinhalten sind demnach rückgekoppelte Informationsflüsse. Aus dem Grund hat, wie der Autor vorausschickt, das Kleinhirn mit seiner einseitigen, ausschließlich vorwärts gerichteten Informationsdynamik für das Bewusstsein keine Bedeutung, denn für bewusstes Erleben braucht es außer Rückkopplungen interagierende Module wie im Neokortex. Mit einem der Experimente wird die binokulare Rivalität untersucht, bei dem linkes und rechtes Auge in kurzen Zeitabständen mit jeweils einem anderen Bild konfrontiert werden. Ein Magnetresonanztomograph zeichnet die Hirnaktivitäten auf und zeigt, »[…] wie sich Neurone in einem breiten Areal im Kortex regen. Die sogenannte ›hintere heiße Zone‹ erstreckt sich über Teile des Scheitel-, des Schläfen- und Hinterhauptlappens. […] Eine Information,

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die über den Sehnerv im primären visuellen Kortex ankommt, entspricht somit nicht dem, was wir bewusst sehen; das Bild, das wir wahrnehmen, entsteht in der hinteren heißen Zone.« (Ebd. 15f) Als Resultat des Experiments kam heraus, dass akustische, optische und sonstige Empfindungen im hinteren Kortex erzeugt werden. Selbst wenn das bisher nicht klärt, was dieses Areal vom Rest der Großhirnrinde unterscheidet, ist der Autor optimistisch, einer Antwort näher zu kommen. Eine weitere Technik, das Bewusstsein empirisch festzumachen, nennt sich »Zip-and-Zap«. Ein starker magnetischer Impuls verursacht einen kurzzeitig auf das Hirngewebe einwirkenden elektrischen Strom mit der Wirkung, dass die zum Feuern angeregten Neurone eine Kettenreaktion auslösen, sodass »[…] deren Aktivität sich wie eine Welle in der Goßhirnrinde (ausbreitet).« Das EEG zeichnet eine »Art von Videosequenz der Nervenzellenaktivität« auf. (Ebd.16) Ziel der Stimulation war, aus den Aktivitätsmustern zu schließen, ob die betreffende Person warum auch immer bewusstlos gewesen ist oder nicht. Tatsächlich unterschied sich bei beiden Zuständen die Komplexität der Hirnaktivitäten, sodass sich ein »Störungskomplexitätsindex« mit entsprechenden Zahlenwerten standardisieren lässt. Sicher ein Fortschritt. Doch der Wissenszuwachs über die neuronalen Mechanismen, die das Bewusstsein ausmachen, trägt zu einer Antwort auf die bleibend fundamentale Frage, »Wie erzeugt ein hochvernetzter Klumpen Hirnmasse jegliche Wahrnehmung?« (ebd. 16) noch kaum etwas bei. Anstelle von Intuitionen fordert Koch ein naturwissenschaftliches Modell, das »[…] vorhersagt, unter welchen Bedingungen ein physikalisches System – wie ein komplexer Schaltkreis, sei er aus Neuronen oder Siliziumtransistoren etwas wahrnimmt.« (Ebd.) Dann sollte es möglich sein, über das menschliche Gehirn hinaus herauszufinden, welche Systeme prinzipiell prädestiniert wären, ein Bewusstsein zu entwickeln. Zwei Beispiele genügen den streng wissenschaftlichen Anforderungen, die neuronalen Korrelate des Bewusstseins zu veranschaulichen. Eine der zitierten Theorien beschreibt, dass mehrere Hirnbereiche auf Informationen zugreifen, diese jedoch nicht alle vom Bewusstsein repräsentiert werden, weil manche Handlungen so automatisch ablaufen, dass sie für die Akteure weder durchschaubar noch erklärbar sind. Nach der Theorie des globalen neuronalen Arbeitsraums stehen diese Informationen »[…] nur den zerebralen Schaltkreisen im sensorisch-motorischen System zur Verfügung«. (Ebd. 17) Möbliert ist dieser Arbeitsraum mit einer »Informationstafel« für den Zugriff für verschiedene Hirnprozesse. »Ein Teil der eingehenden sensorischen Eindrücke schafft es auf diese Plattform und steht so für kurze

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Zeit anderen kognitiven Prozessen zur Verfügung. Sie können hier abgelegte Daten verarbeiten und darauf reagieren: eine Antwort formulieren, Erinnerungen abrufen oder speichern, eine Bewegung starten.« (Ebd. 17) Weil es in diesem System nicht genügend Platz gibt, unterliegt das bewusste Erleben einer zeitlichen Begrenztheit. Als zweites tragfähiges Modell bewertet Koch die von Graziano kritisierte Theorie der integrierten Information (IIT). Mit der Codierung von Ursache und Wirkung bringt jedes komplexe Netzwerk ein »gewisses Maß an Bewusstsein mit«, Systeme hingegen, denen wie dem Kleinhirn eine solche KausalVerschaltung fehlt, können nichts bewusst wahrnehmen. Immerhin arbeitet diese Theorie mit einer quantifizierbaren Größe. »Aus der IIT lässt sich auch der numerische Wert Φ (Phi), der das im System inhärente Bewusstsein beziffert. Ist Φ gleich null fehlt dem System ein Gefühl seiner selbst«. (Ebd. 17) Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das »[…] menschliche Gehirn mit seinen Milliarden hochspezifisch vernetzten Nervenzellen ein sehr hohes Φ (besitzt).« (Ebd.) Ergo definiert sich ein hoch entwickeltes Bewusstsein durch seine Fähigkeit der Selbstwahrnehmung. Mittlerweile überblendet die Erforschung des Gehirns, besonders die des Bewusstseins die Projektion, dass Maschinen ein Bewusstsein entwickeln können bzw. könnten. Diese Perspektive suggeriert zwangsläufig, dass dem seit der digitalen Revolution ausgewiesenen neurowissenschaftlichen Erkenntnisinteresse durch die Nutzung der betreffenden Technologien ein trans- und posthumanistisches Parallelprogramm mitläuft. The medium is the message. Umso mehr gilt das, als sich in den einschlägigen Terminologien Hirn- und Computerfunktionen nicht nur metaphorisch, sondern auch funktional immer mehr angleichen. In solchen Fällen drängt sich die Vorstellung geradezu auf, dass die Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Maschine sich in absehbarer Zeit aufheben wird. Nach der Theorie des globalen Arbeitsspeichers, wonach die Daten der »Informationstafel« analog zum Computer abgerufen werden können, sollte es bis zu Maschinen mit Bewusstsein nur noch eine Frage der Zeit sein. Dem jedoch widerspricht die Theorie der integrierten Information, in der das Bewusstsein weniger computer-affin bestimmt wird. Unterm Standpunkt einer funktionalen Logik wie nach dem Kausalitätsprinzip ist die Bewusstwerdung von Maschinen kein Thema. Im Gegensatz zu der Auffassung, der neuronalen Arbeitsraum und Computer praktisch gleichsetzt, insistiert die IIT auf der Differenz zwischen Materie und Simulation, sodass

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»[…] keine noch so ausgereifte Computersimulation eines menschlichen Gehirns Bewusstsein erlangen kann – selbst, wenn sich ihre Antworten nicht von denen eines Menschen unterscheiden lassen. Wie die Simulation der Gravitation eines Schwarzen Lochs nicht die Raumzeit um den Computer verformt, kann die Programmierung eines Bewusstseins niemals eine bewusste Maschine hervorbringen. Bewusstsein lässt sich nicht ›nachrüsten‹; es muss im System integriert sein.« (Ebd.) Das liest sich wie ein Derivat jener Absurditäten und Paradoxien erzeugenden Frage, ob eine Logik vorstellbar wäre, nach der ein System sich selbst durchschaut. Jenen klassischen Modellen, in denen Wahrnehmung und Bewusstsein vorwiegend als rezeptiv gedacht werden – die Sinnesdaten senden ihre Signale nach oben (bottom up) zum Gehirn, wo sie, kostümiert in den bekannten Metaphern Fenster oder Tunnel, zu Bewusstseinsinhalten verarbeitet werden, widerspricht die komplexere Variante der Vorhersagemaschine. Wo rezeptive Modelle einen Überhang von Umweltdaten privilegieren, dreht diese Theorie die Bewegung um und schreibt bereits den Vermittlungsmechanismen selbst eine Eigendynamik zu. Anders als dass die Sinnesorgane das Gehirn one way füttern, trifft das Gehirn in Zuständen permanenter Aktivität Prognosen über die Natur der einströmenden Sinnessignale, sodass der Hauptstrom nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten (top down) verläuft. »Nach dieser Vorstellung versucht das Gehirn festzustellen, was draußen in der Welt oder im Körperinneren vorgeht, indem es ständig möglichst plausible Hypothesen über die Ursachen seiner sensorischen Eindrücke aufstellt und aktualisiert. Hierfür kombiniert es frühere Erwartungen oder ›Überzeugungen‹ über die Welt mit den neu hinzukommenden sensorischen Daten und berücksichtigt dabei auch die Zuverlässigkeit der Daten.« (Seth 2020: 20) Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie der bayesianischen Statistik wird berechnet, inwieweit Dateninput und Hypothesen zu richtigen Schlüssen führen. Nach x Rückkopplungen mendeln sich so lange Hypothesen heraus, bis die plausibelste Vermutung übrigbleibt. Die Abgleiche gehen nach trial and error oder unablässigen Falsifikationen, bis Vorhersagefehler und Abweichungen soweit reduziert sind, dass, was am Ende übrigbleibt, das ist, »was wir letztlich wahrnehmen.« (Ebd. 20) Mit der Betonung der Falsifikation erinnert die Theorie der Vorhersagemaschine an Karl Poppers Kritischen Rationalismus,

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wo die Falsifikation für die Wahrheitsfindung wichtiger als Verifikation ist. Hypothesen, die von diesem Verfahren nicht zerrieben werden, kommt allerdings kein Wahrheitsanspruch zu, vielmehr gelten sie lediglich als akzeptabel. Konzepte wie das des Top-down-Überschusses neurobiologischer Vorhersagen gehen in der Regel auf die Annahme von Hermann von Helmholtz zurück, dass Wahrnehmung aus unbewussten Rückschlüssen entstehe. »Gegen Ende des 20. Jahrhunderts griffen Kognitionsforscher sowie Experten für künstliche Intelligenz Helmholtz’ Gedanken wieder auf und prägten Begriffe wie prädikative Codierung (predicative coding) und prädikative Verarbeitung (predicative processing).« (Ebd. 20) Gegen die Bottom-up-Theorien favorisiert Anil K. Seth einen fortgeschrittenen Konstruktivismus, eine »kontrollierte Halluzination«, die entsprechend der Vorhersagemaschine immerhin »[…] von einem kontinuierlichen Übergang zwischen Halluzination und normaler Wahrnehmung« ausgeht. (Ebd. 22) Abgesehen von der möglichen Rückfrage, was in einer konstruktivistischen Theorie unter »normaler Wahrnehmung« zu verstehen wäre, kommt Seth zu der bemerkenswerten Eingebung, dass während der Interaktion der aufwärts (up) verlaufenden Sinneseindrücken und den abwärts (down) verlaufenden Prognosen deren Verknüpfung während einer Halluzination gestört ist und damit zu einer »Art unkontrollierten Wahrnehmung« führt. Die kontrollierte Halluzination beeinflusst nicht das Das, sondern das Wie der Wahrnehmung und reaktiviert die philosophische Differenz zwischen den primären und sekundären Qualitäten eines Objekts der Wahrnehmung. Nach diversen Experimenten, die zwar die halluzinatorischen Voraussagen bestätigen, bleibt auch da das wie immer wenig überraschende Fazit, dass das Gehirn sich nicht so leicht in die Karten schauen lässt. »Unsere Wahrnehmungswelt besteht aus kontrollierten Halluzinationen, mit denen das Gehirn vermutlich über die letztlich unergründlichen Ursachen der sensorischen Signale aufstellt.« (Ebd. 24) Zwischen den posthumanistischen Totalsimulakren und den die Alltagsrealität überblendenden Halluzinationen – Wahnzuständen im weitesten Sinn –, ausgelöst etwa durch psychoaktive Substanzen, synästhetische Effekte, sogenannte Klarträume oder dissoziative Störungen steht immer noch die nicht auszuräumende Tatsache, dass das Bewusstsein selbst sich nicht simulieren lässt. Ihre Stärke jedoch bezieht Seths Theorie aus der positiven Besetzung der Halluzination, die sich dadurch soweit dehnen lässt, um es plausibel erscheinen zu lassen, dass »Milliarden Gehirne auf unserem Planeten« mit verschiedenen Realitäten nebeneinander funktionieren. Die Vielfalt der Informationen, die »[…] am besten mit unseren Weltbildern übereinstimmen, um mithilfe solch

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einseitiger Daten unsere Modelle zu aktualisieren«, dramatisiert sich zu einer weltpolitischen Dimension. »Wir alle kennen diesen Prozess aus den Filterblasen der sozialen Medien und den von uns gelesenen Zeitungen. Ich glaube, dass die gleichen Prinzipien auf einer tieferen Ebene unterhalb unseren gesellschaftlich-politischen Überzeugungen gelten, bis hin zu unserer wahrgenommenen Realität.« (Ebd. 24) Nicht zu unterschlagen ist allerdings, dass die kontrollierte Halluzination ein labiler Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand und jederzeit gefährdet ist, ins Pathologische zu abzudriften. Mit der Ausweitung aufs Globale schließt das Theorem der apriorischen Halluzination die Pole Besonderes und Allgemeines, Subjektivität und Objektivität kurz und trägt wesentlich dazu bei, deren philosophisch überstrapazierte Fundamentaldifferenz einzuebnen. Es fällt auf, dass in Seths Abhandlung das Bewusstsein erst an zwei Stellen vorkommt. Einmal wird immerhin auf seine Bedeutung hingedeutet, wenn es heißt, dass ein »[…] richtig funktionierendes System dem Bewusstsein die Dinge genauso präsentieren (würde), wie sie sind.« (Ebd. 20) Ansonsten wird es in der Korrespondenz Wahrnehmung-Gehirn schlichtweg übersprungen und nicht wahrgenommen, gesehen, erkannt – mit derselben negativen Konnotation wie sie auch alle Medien betrifft. Was McLuhans Aphorismus, das Medium sei die eigentliche Botschaft, zum geflügelten Wort gemacht hat, war die sich mit der Expansion der technischen Medien verbreitende Erkenntnis, dass der von McLuhan reklamierte Zustand der Unsichtbarkeit des Mediums als Medium nicht für alle Zeit festgeschrieben sein muss. Thomas Metzinger ahnte das wohl, als er das Bewusstsein mit dem Fernseher verglich und als Medium bezeichnete, wennzwar als »eine andere Art von Medium«. (Metzinger ebd. 69) Ansonsten taucht diese Analogie nicht mehr auf, obwohl es sich gelohnt hätte, dem medialen Charakter des Bewusstseins nachzuspüren. So verwendet Metzinger mit dem Begriff der Transparenz einen verallgemeinerbaren Topos, generell passend für die Repräsentation wie auch generell für Systeme, die sich selbst nicht als Repräsentation erkennen können. Dass Metzinger lediglich in diesem einen Zusammenhang auf den Begriff des Mediums verfällt, könnte man zurück führen auf eine tiefenstrukturelle linguistische Vernetzung im eigenen Bewusstsein des Autors. (Vgl. ebd. 68f) Was es ist, wie es sich selbst sieht und sich selbst zum Rätsel wird, ist in den vielfältigen Funktionen begründet, die man dem Bewusstsein zuordnet: »Zu ihnen gehören das Auftreten von intrinsisch motivierenden Zuständen, die Verbesserung der sozialen Koordination, eine Strategie zur Verbesse-

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rung der inneren Selektion und internen Ressourcenverteilung in Gehirnen, die zu kompliziert geworden waren, um sich selbst noch erfolgreich zu regulieren, die ständige Modifikation und Anpassung von Zielhierarchien und Handlungsplänen für längere Zeiträume, das Abrufen von kompletten Episoden aus dem Langzeitgedächtnis, die Konstruktion speicherbarer Repräsentationen, gesteigerte Flexibilität und Verfeinerungen der Verhaltenskontrolle, das Verstehen der geistigen Zustände von Artgenossen und die Vorhersage ihres Verhaltens in sozialen Interaktionen, die Auflösung von Konflikten und inneren Problemen, die durch ›festgefahrene‹ geistige Verarbeitungsvorgänge entstehen können, die Erzeugung einer dichten und integrierten Darstellung der Wirklichkeit als einer Ganzheit, das Setzen eines globalen Kontextes, Lernvorgänge, die nur einen einzigen Schritt benötigen, und so weiter. Es fällt schwer, zu glauben, dass das Bewusstsein tatsächlich keine dieser Funktionen haben könnte.« (Metzinger ebd. 88) Während Koch zu der archaisierenden Metapher des Schriftmediums »Informationstafel« zurückblättert, sind die von Metzinger gelisteten Funktionen auf analoge und digitale Medien übertragbar, bevorzugt auf die soziale Koordination durch Kommunikationsmedien – ursprünglich Gesten und Mündlichkeit, später Piktogramme und Schrift – in deren Folge sprachliche Informationen sich zu allgemeinen Übertragungsmedien weiterentwickeln. »Historisch primär sind die digitalen Techniken, bei denen sprachliche Information in optische (Fackel-, Rauchzeichen-, Semaphorentelegraphie), akustische (Trommeltelegraphie) und elektrisch-akustische bzw. elektrisch -optische (Morsetelegraphie) Codes encodiert wird.« (Hiebel ebd. 32) Im Industriezeitalter mithilfe elektrischer und elektronischer Signalverarbeitung einschließlich der notwendigen Hardware aus Kabelnetzen, dann Telefon, Radio, TV, Nachrichtensatelliten bis zur digitalen Datenübertragung zwischen Computern wie zuerst mit dem ARPA-Rechnernetz. Die neue Epoche leitet Tim Berner-Lee mit der Entgrenzung des ARPA-Netzes zum worldwide-net ein, dem Sprung in die globale Konnektivität der Massenkommunikation der social networks. Als eine weitere mediale Entsprechung einer grundlegenden Bewusstseinsfunktion wäre die sukzessive Verlängerung des Langzeitgedächtnisses von analogen Archiven in digitale Datenbanken sowohl auf individuellem als auch gesellschaftlichem Level zu konstatieren. Andere Fähigkeiten wie die Selbstorganisation der endogenen Ressourcen wären nach Metzinger vergleichbar mit dem sogenannten Aufräumen der Festplatte.

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Medien sind Bewusstein Nachdem er an anderer Stelle bereits infrage gestellt wurde, ist der Begriff der Metapher nach der Analyse der Konstellation Gehirn-Bewusstsein-Medien kaum mehr aussagekräftig. Als Metaphern sind die Begriffe aus dem Technikund Medienlexikon für die Beschreibung des Gehirns nicht mehr hinreichend bezeichnet, indem sie terminologische Erweiterungen darstellen, die die Differenz zwischen intrinsisch-organischen und extrinsisch-technischen Prozessen aufheben. Weiterhin auf dieser Differenz zu insistieren, ignorierte die zirkulären Feedbacks, denn Medien sind von vornherein (wie den Körper verlängernde Werkzeuge) Fortsetzungen von Partialfähigkeiten des Gehirns. Wird die Speicherkapazität der Schrift mit den Fixierungen des Gedächtnisses verglichen, so ist das eine nachträgliche Zuschreibung, denn Schriften existierten bereits lange Zeit, bevor das Thema Bewusstsein zu einem Gegenstand des Denkens werden konnte. Die sumerische Keilschrift oder die ägyptischen Hieroglyphen am Anfang standardisierter Zeichensysteme waren sowohl religiös als auch verwaltungstechnisch codiert. Nach der Aneignung des phönizischen Alphabets verfügte Griechenland über ein rein phonetisches System, dessen auf 24 Buchstaben reduziertes Set sich von den piktographischen Schriften durch den zukunftsweisenden Vorteil einer unendlichen Kombinierbarkeit arbiträrer Zeichen unterschied. »Schrift als ›Auf-zeichnung‹ verbildlicht und fixiert, wobei in der Fixierung (›Objektivation‹) von Informationen ihre wesentliche Leistung liegt. Dadurch wird eine dauerhafte Speicherung von Information (Dokumentation) in oder auf materiellen Datenträgern (Ton, Papyrus, Pergament, Papier) geleistet und Kommunikation in Abwesenheit des Kommunikationspartners möglich (interaktionsfreie und kontextunabhängige Kommunikation). Die Unschärfen oraler Überlieferung werden ausgeschaltet, das menschliche Gedächtnis als unzuverlässiger, kleiner Speicher überschritten. Ein präziser und konstanter Informationsgehalt wird geschaffen (Konstanz des Datensatzes, Standardisierung des ›Wissens‹); Informationsaufnahme wird durch Lesen zeitlich und örtlich variabel, Information durch Abschreiben bedingt reproduzierbar und durch Brief, Telegramm etc. übertragbar (Datentransport über Raum und Zeit.)« (Hiebel ebd. 14) Im Verhältnis zum Gehirn wäre hier der Begriff der »Objektivation« hervorzuheben, als er zwar keine physische, aber mediale Externalisierung einer Hirnfunktion bezeichnet.

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Dass das Thema Selbstwahrnehmung (nach Ralph Cudworth), das den von Christian Wolff im 17. Jahrhundert in die Philosophie eingeführten Begriff des Bewusstseins vorwegnahm, bedeutet aber keineswegs, dass man erst zu diesem Zeitpunkt anfing, sich mit der Selbstreflexion des Denkens zu befassen. Darüber nachgedacht haben bereits die griechischen Philosophen. Allein die sehr frühe Trennung von Denken und Materie belegt die Isolierung des Verstandes aus anderen Weltzusammenhängen. »Alle Menschen haben die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu denken.« (Heraklit 1968: 149) Mit solchen Intuitionen beginnt, was sich mit den Vorsokratikern zu einer von Kosmogonie und Naturbeobachtung sich trennenden Erkenntnislehre weiter entwickeln wird. Aus der vorsokratischen Philosophie sticht Empedokles’ Spekulation über den »Sitz des Denkens« heraus: »Das Denkvermögen [habe seinen Sitz] weder im Kopfe noch in der Brust, sondern im Blut.« (Empedokles 1968: 233) Überlegungen zum Denken führen konsequent zu den Prinzipien der Wahrnehmung, wenn man sich etwa fragt, ob Denken und Wahrnehmen identisch seien. Die grundsätzliche Unterscheidung beider Modalitäten wird erst später manifest mit dem sensualistischen Ansatz des Hermias. Die aus dem Sensualismus zu folgernde Verallgemeinerung, dass der Mensch mit seinen Sinnen das Maß sei, wird Aristoteles in seiner Rezeption der Vorsokratiker präzisieren: »Denn es wird kein Ding warm oder kalt, süß oder überhaupt irgendwie wahrnehmbar sein, wenn es nicht jemand mit seinen Sinnen wahrnimmt.« (Hermias 1968: 332f) Avant la lettre beschreibt dieses Urteil bereits das Verhältnis zwischen Sinneseindrücken und Bewusstsein. Für dieses »irgendwie« fehlte noch der passende Begriff. Immerhin deutet sich mit Sextus Empiricus (2. Jhdt.) in dieser Hinsicht etwas an, wenn dieser den so polysemen, allumfassenden Logos in die Richtung der »Pythagoräer« differenzierend rückprojiziert, die »[…] lehren, der Logos sei der Maßstab der Erkenntnis, freilich nicht der allgemeine [Logos], sondern der sich aus [der Beschäftigung mit] den Wissenschaften ergebende […]«. (Sextus Empiricus 1968: 483) Losgetreten wurde die in der Philosophie sich manifestierende Revolution des Denkens durch die unbegrenzte Disponibilität der phonetischen Schriftzeichen. Dieser mediale Fortschritt entzündete die Philosophie, denn »Objektivation« bedeutet, dass die auf Schreibflächen fixierten und daher externalisierten Gedanken ungestört von Redeflüssen isolier- und überprüfbar sind und – von Text zu Text – einen neuen Modus der Kommunikation etablieren. Schrift heißt Distanzierung a) von der Sprache und b) von den Inhalten, bis diese Qualitäten auf das Denken zurückwirken und es entscheidend

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bahnen. Während die »Standardisierung des Wissens« noch als äußerlicher Effekt zu Buche schlägt, beschleunigt die Linearität des Geschriebenen die kognitiven Fähigkeiten zusehends. »Die Linie zwingt dazu, zeitliche Abläufe genau zu ordnen und sich für Ursache/Folgeverhältnisse zu interessieren; das Grundschema der Narration geht von konsekutiven auf konditionale und schließlich kausale Denkschemata über.« (Winkler 1997: 23) Dieser Schub des medialen Profits sollte hinauslaufen auf eine Distanzierung zweiten Grades, sobald das Subjekt sich selbst als denkendes fühlt und wahrnimmt und nach diesem selbstreferentiellen turn sich auf einer Metaebene weiter entfalten kann. Auf Dauer wird die Philosophie das Bewusstsein als ein autonomes Paradigma herausschälen und isolieren. Als Differenz zur Materie, später zur Physiologie des Gehirns wird das Bewusstsein sich selbst thematisieren. A posteriori offenbart sich die Schrift als ein Medium, das nicht nur vor der Selbsterkenntnis des Bewusstseins bereits existiert hat, sondern überhaupt erst die Voraussetzungen für die Selbstreflexion des Denkens schuf. Medien und Gehirn bilden einen substanziellen Konnex. Insofern das Bewusstsein als biologisches, d.h., primäres Medium, Gehirn und Außenwelt zu einer Einheit strukturiert, lassen Medien sich als materielle Derivate des Bewusstseins bestimmen, will man deren Differenz nicht überhaupt als eine nur graduelle betrachten und beide gewissermaßen gleichsetzen. Es versteht sich, dass diese Derivate nicht als Fortsetzungen und Externalisierungen des Gehirns als Ganzem zu denken sind, sondern lediglich als Auslagerung bis dato externalisierbarer Hirnfunktionen wie Gedächtnis, Rechenkapazität, die Fähigkeit, eidetische Bilder zu generieren oder Verknüpfungen herzustellen. Die Kausalitätsverhältnisse profilieren sich klarer, sobald man Medien und Bewusstsein als ein integrales System begreift und unter Medien nicht mehr technifizierte Funktionen des Gehirns versteht, sondern als dessen Derivate zweiter Ordnung. Reziprok zum Verhältnis virtuell (=Bewusstsein) zu materiell (Medien) ließe sich das Verhältnis des Bewusstseins als virtuellem Derivat des materiellen Gehirns umkehren. Nach diesen Umtauschoperationen unterschieden sich Medien und Bewusstsein jedenfalls nicht mehr qualitativ, sondern nur noch in numero, nach ihrem »Aggregatzustand«, in ihrer Materialität und ihrem Innen-außen-Verhältnis. Entsprechend ihren Systemanforderungen konfigurieren und formatieren Medien ihre Inputs. Reduzieren Komplexität, interpretieren, manipulieren und vereinheitlichen, ganz gleich wie heterogen ihre Inhalte sind, diese durch ihre systemische Autopoiesis (im Sinne Luhmanns) im gleichen Modus wie das Bewusstsein Sinneseindrücke zu einer »ganzen Welt« integriert. Ein Text,

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ein Bild, ein Film, eine Bildschirmepiphanie aus tausenden Pixeln – es sind dies mediale Bewusstseinsderivate, die in sich geschlossene, technisch harmonisierte Realitäten produzieren. Medien sind Bewusstsein, wenn sie dieses externalisieren, ins Materielle verlängern und erweitern. Wie die Prolongationen des Körpers in Werkzeuge – vom Schraubenzieher bis zur Evolution KI-gesteuerter Maschinenparks – dem biologischen Körper so überlegen geworden sind, dass sie ihn praktisch hinter sich gelassen haben, wie in parallel verlaufenden Prozessen die manuellen und technischen Medien auch das Bewusstsein übertreffen. Anders als das ephemere, situativ reagierende und sich vernetzende Bewusstsein sind Medieninhalte konsistent und verfügbar. Daten jeglicher Provenienz, sind sie erst einmal auf einem Speichermedium fixiert, werden nicht mehr vergessen. Einschlägige, das Gehirn anvisierende Metaphern treffen eigentlich das Bewusstsein, das als buchstäbliches Medium aber die unbestimmbare Domäne zwischen Gehirn und Außenwelt beherrscht. Und wenn es aus seiner und für seine Selbstwahrnehmung Begriffe für das Techniklexikon kreiert wie Schaltstelle, Computer und dergleichen mehr, so sind diese nicht mehr metaphorischer Natur, sondern repräsentieren auf ein und demselben Beschreibungsniveau reale Funktionen des Bewusstseins wie naturwissenschaftliche Termini die Funktionen der Sinnesorgane.

Das Netz Mit der globalen Rechner-Konnektivität tauchte die Bezeichnung »Netzwerk« wieder aus ihrer historischen Versenkung auf. Im Rückgriff auf gewisse Vorläufer in der Antike und auf ein symbolisches Verfahren zur Darstellung von Begriffshierarchien, entwickelte Leonard Euler ein graphisches Hilfsmittel, um mit den zwei Parametern Kanten und Knotenpunkten Beziehungsstrukturen zu visualisieren. Dieser multifunktionale, aufgrund seiner Einfachheit hochgradig disponible Algorithmus kann logistische Verknüpfungen wie Verkehrsnetze, technische wie Telefon- und Telegraphennetze insbesondere auch soziale Netzwerke graphisch veranschaulichen. Diese Vorteile der mathematischen Graphentheorie nutzt Hartmut Winkler für die Analyse des archaischen Mediums Sprache. Nach der Rezeption diverser sprachwissenschaftlichen Modelle »extrahiert« Winkler »eine Art Leitmetapher« dergestalt, »[…] dass sie alle das semantische System der Sprache als ein n-dimensionales Netz modellieren.« (Winkler 1997: 32) Gestützt wird der Netzbegriff durch die

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Interpretation von Worten »[…] oder semantischen Einheiten als ›Knoten‹.« (Ebd.) Einzuschränken wäre allerdings, dass »[…] das so skizzierte Modell hoch abstrakt (ist) und sich zweifellos an der Grenze zur Metapher (bewegt), da es weder mit linguistischen noch mit neurowissenschaftlichen Detailergebnissen verbunden werden kann […] «. Vorteil: »[…] die Netzmetapher eröffnet damit eine Dimension der Simultanität.« (Ebd.) Verbreiteter als in den Geisteswissenschaften ist die netztheoretische Untersuchung sozialer Beziehungen, weil diese sich auf intuitive, graphisch simple Schaubilder herunterbrechen lassen. Netz-Graphen geben tendenziell Aufschluss über die Qualität von Freundschaften, Sexualkontakten, Finanztransaktionen, Kollegenbeziehungen genauso darüber, wie eng oder weitmaschig die jeweiligen Verbindungen sind. Hochgefahren auf ein globales Niveau bieten sich ebenfalls Synopsen wie zum Beispiel die der »politischen Blogosphäre der Vereinigten Staaten«, was im Vergleich mit Statistiken eine selbsterklärende Perspektive auf die Spaltung der Bevölkerung in konservativ und liberal (einschl. Übergängen) verschafft. (Christakis/Fowler ebd. 208 ff) Netzwerke wachsen naturhaft und transportieren alles Mögliche – Emotionen wie Informationen – im Guten wie Üblen. »Vernetztheit und Ansteckung entsprechen der Struktur und der Funktion sozialer Netzwerke. Sie sind die Anatomie und Physiologie des menschlichen Überorganismus.« (Ebd. 50) Jedes soziale Netzwerk verallgemeinert sich zu einer Metaeinheit singulärer Übertragungsmedien und emergiert zu einem totalisierten Übertragungsmedium. Wo technische Termini normalerweise der (Selbst-)Beschreibung des Gehirns nützen, überraschen Christakis/Fowler mit einer Gegenperspektive, indem sie die sozialen Netzwerke mit dem Gehirn abgleichen. »Genau wie unser Gehirn Dinge leistet, zu denen eine einzelne Nervenzelle nicht imstande ist, können Netzwerke Ziele verwirklichen, die die Fähigkeiten des Einzelnen übersteigen.« (Ebd. 15) Nach Max Bertolero und Danielle S. Bassett soll die von Physikern, Chemikern und Linguisten angewandte Graphentheorie sogar die Fuge zwischen biologischer Materie und Bewusstsein schließen. »Konzepte und Methoden der mathematischen Graphentheorie (sollen) die scheinbar unüberbrückbare Erkenntnislücke schließen, die zwischen rastloser neuronalelektrischer Hirnaktivität und den kognitiven Leistungen wie Wahrnehmen, Erinnern, Entscheiden, Lernen und Koordinieren klafft.« (Basset/Bert 2020: 31) Im »neue(n) Forschungsgebiet der Netzwerkneurowissenschaften« (ebd.) werden Netzmodelle entworfen, die das Gehirn auf 300 Knoten reduzieren, wobei Knoten als Platzhalter der Neurone fungieren, die Kanten als die Verbindungen. Netzgemäß werden die einzelnen Areale sowohl isoliert untersucht

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als auch darauf, wie sie in das ganze Netzwerk integriert sind und als Totalität kooperieren. Um das in 100 Billionen Kontakten oszillierende Netzwerk auf 300 Knoten runter dividieren zu können, bedarf es der methodischen Vorklärung, dass bestimmte Knoten je nach ihrer aus der Kantenzahl ablesbaren Dichte auch erkennbar machen, mit welchen Wertigkeiten die Informationen die jeweiligen Knoten ansteuern. Unter diesen Voraussetzungen etabliert sich eine nach der Qualität der Module klassifizierte Ordnung, dernach »[…] das Gehirn sich in definierte Ansammlungen neuronaler Knoten unterteilen (lässt). Wir bezeichnen diese Gruppen von Knoten als Module, die jeweils lokal organisierten Netzwerken entsprechen. Das Gehirn ist grundsätzlich modular aufgebaut.« (Ebd. 32) Die Module definieren sich nach Zuständigkeiten wie für Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder »introspektives Denken«. Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) bietet als derzeit fortgeschrittenstes Bildgebungsverfahren den genauesten Blick ins lebende Gehirn. Belastbare Rückschlüsse auf die jeweiligen Aktivitäten werden aus dem Verhältnis von oxygeniertem und desoxygeniertem Blut mit jeweils unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften gezogen. Diese Technik, Gehirnzustände abzuscannen, belegte in unabhängigen Studien von mehr als 10000 Experimenten die Funktionsweisen der Hirnmodule. Dabei differenzieren sich 7 Schlüsselmodule heraus: Visuelles Modul, Aufmerksamkeitsmodul, frontoparietales Kontrollmodul, somatomotorisches Modul, Salienzmodul, Ruhestandsmodul, limbisches Modul. Während der Lösung psychologischer Testaufgaben wurden die Aktivitäten der Module erfasst. Für jedes wurde ein Set von 7 – 9 Aufgaben zusammengestellt. Für das visuelle Modul z.B. stilles Lesen oder Beobachtung einer Aktion; das Aufmerksamkeitsmodul z.B. Zeigen oder Schreiben; das frontoparietale z.B. Zählen oder Arbeitsgedächtnis; das somatomotorische z.B. Greifen oder Gesangsprobe; das Salienzmodul z.B. Stimulationsüberwachung oder Musikinstrument spielen; das Ruhezustandsmodul z.B. passives Zuhören oder Ereignisabruf (episodisches Gedächtnis); das limbische z.B. Emotionen an Gesichtern erkennen oder Essen/Trinken. (Vgl. Ebd. 35) Oft kooperieren Module über Hubs. Der Terminus aus der Netzwerktechnik bezeichnet die Verkabelung mehrerer unabhängiger Rechner mit einem Verteiler. »Einige Knoten fungieren als lokale Hubs, die mit den anderen Knoten desselben Moduls verbunden sind. Ein Knoten mit vielen Verbindungen zu mehreren Modulen wird als Konnektor-Hub bezeichnet. Aus den man-

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nigfaltigen Verknüpfungen der Konnektor-Hubs resultieren zahlreiche Hirnfunktionen insbesondere bei komplexen Verhaltensweisen. […] Die Konnektor-Hubs der sieben Schlüsselmodule verteilen sich über die gesamte Großhirnrinde.« (Ebd. 34) Unter diesen profilieren sich zentrale Module, die stärker als andere in den Gesamtablauf einbezogen sind. Dass kognitive Aufgaben durch sogenannte »Exekutivfunktionen wie Entscheidungsfindung« gelöst werden, erfordert die Koordination unterschiedlicher Module. Obwohl die Abläufe nicht in einem vertikalen Strukturbild beschrieben sind, eignet sich das Modell für Hierarchisierungen. Eine weitere Art der Konnektivität läuft unter Klubs, die aus Hubs von Teilnetzen entstehen und Analogieschlüsse zwischen Gehirn und Computern bezeichnen. Um etwas über die evolutionäre Herkunft der Hubs herauszufinden, werden am Computer sich selbst organisierende Prozesse simuliert. Bei der Simulation der Verdrahtung zeigte sich, wie durch natürliche Selektion abgetrennte Module entstanden sind. »Dabei bildete sich eine Eigenschaft heraus, die Netzwerkwissenschaftler als ›kleine Welt‹ kennen: Mit überraschender Leichtigkeit entstanden Kommunikationspfade zwischen weit entfernten Knoten. Es entwickelten sich Tausende solcher Teilnetze, von denen jedes schließlich Hubs enthielt, die vielfach mit mehreren anderen Modulen, aber auch untereinander eng verbunden waren und damit einen sogenannten Klub formten. Vorab deutete nichts auf die Entstehung eines Klubs von Hubs hin; die Struktur ging vielmehr spontan aus dem sich ständig wiederholenden Rekonfigurationsprozess hervor.« Diese Eigenschaften gelten gleichermaßen für »[r]eale Netzwerke wie im Gehirn, im Flugverkehr oder in der Stromversorgung.« (Ebd. 37) Die Terminologie der Knoten, Kanten, Module, Hubs, Konnektivitätsmodule, Klubs, Kommunikationspfade, Routen, neuronalen Signale ersetzt die herkömmliche Begrifflichkeit der Zentren und Areale. Die Theorie widerlegt auch den weit verbreiteten Irrglauben, dass nur 1/3 des Gehirns genutzt würde, wie sie auch die esoterische Hoffnung auf die Aktivierung brach liegender Kapazitäten zerstört, die »den« Menschen (wohin auch immer) weiterbrächte. Mit dem Netz und seinen Verbindungsmustern expandiert, was je als Übertragungsmedium funktionierte, zu einer n-dimensionalen Struktur, und unter dem speziellen Gesichtspunkt der Mehrdimensionalität zeigt sie sich verwandt mit Metzingers Bewusstseinstunnel. Ihren Ansatz veranschaulichen

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Basset/Bertolero mit dem Zusammenwirken der verschiedenen Instrumente und Instrumentengruppen eines Orchesters, um sich dann aber aus der gut gemeinten Leserfreundlichkeit zu entfernen und auch gleichzeitig der, man könnte fast sagen, unmittelbaren Kompatibilität oder sich abzeichnenden Kongruenz eines Netzwerks mit den empirischen Abläufen im Gehirn. Dennoch: So plausibel, anschaulich und hilfreich für »[…] ein grundlegendes Verständnis des Aufbaus und der Netzwerkarchitektur des menschlichen Gehirns« (ebd.), die Theorie erscheinen mag, die Erkenntnis des Bewusstseins bringt sie keinen bedeutenden Schritt voran, wieder einmal daran scheiternd, was auch Metzingers größtes Rätsel blieb, nicht nur am Prozess der Verschaltung der Physis mit dem virtuellen Bewusstsein, sondern desgleichen an der Unmöglichkeit, die Individualität jedes einzelnen Bewusstseins zu erklären – nach Bertolero/Basset, »[…] dass jedes Konnektivitätsmuster wie der Fingerabdruck bei jedem einzigartig aussieht.« (Ebd. 33) Die Distanzierung des Bewusstseins von sich selbst wäre in weiterem Sinn vielleicht vergleichbar mit jener Freisetzung gesellschaftlicher Kapazitäten aus dem alle Fähigkeiten absorbierenden Überlebenskampf, wie es LeroiGourhan mit der »Befreiung des Technikers« für die Erfindung handwerklicher Geräte in der Jungsteinzeit beschreibt. (Vgl. Leroi-Gourhan ebd. 218) Auf lange Sicht sollte das für alle kulturellen Formen gelten. Was im Materiellen zur Totalität einer zweiten und dritten Natur expandieren konnte und die Möglichkeiten des instrumentellen wie auch abstrakten Denkens scheinbar grenzenlos erweitert, zeitigt so viele Domänen des Luxus und der Freiheit, dass das ursprünglich mythische Denken (in der Frühphase der Menschheit identisch mit dem instrumentellen Denken) sich in einer Ratio auflösen kann, in der auch das Bewusstsein sich als von sich selbst abgespaltenes Phänomen denken lässt. Welche neuronalen Verbindungen dafür ausschlaggebend sind, wie die sieben Schlüsselmodule kooperieren bzw. Hirnareale sich vernetzen, wenn Reize, Gefühle, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gedanken das Bewusstsein passieren, soll ein Set aus 55 psychologischen jeweils auf die Schlüsselmodule zugeschnittenen Testaufgaben verifizieren. Summa summarum soll aus den gelösten Aufgaben ein operationales Bild des Bewusstseins herausspringen. Besonders gewichtet sind die Aufgaben zu Sprache und Sehen. Weitere Tests erfassen abstraktes Denken, Vorstellungskraft, Gedächtnis, Beobachtung der Außenwelt und Kontrolle der Motorik. Dem »introspektiven Denken« ist zwar ein Modul zugeordnet (vgl. ebd. 32), mehr als das jedoch

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nicht, und obwohl konstitutiv für das Bewusstsein schlechthin, wird diese Praxis nicht weiter berücksichtigt. Mit dem introspektiven Denken wird eine Funktion thematisiert, die wie die Introspektion allgemein zwar der Psychologie zuzuschlagen ist und die als Eidetik spätestens seit Platon auch in der Philosophiegeschichte eine lange Vergangenheit hat. Da Bertolero/Basset lediglich den modularen Kontext auflisten, es aber nicht für notwendig halten zu umreißen, was sie darunter genau verstehen, wäre zu dessen Klärung etwas auszuholen. Zunächst kontextualisieren die Autoren das introspektive Denken im Ruhemodul, dessen Hubs an mehreren kognitiven Aufgaben beteiligt sind wie Lernen, Gedächtnis oder Erfassen des Gemütszustandes anderer Menschen – »darunter auch introspektives Denken«. (Ebd. 33) Unter diesem Stichwort vermerkt das »Lexikon der Psychologie«: »Von der Introspektion, d.h. der unmittelbaren Erfassung des Erlebens und der Bewusstseinsvorgänge, kann die Selbstbeobachtung als kontrollierte Introspektion, welche systematische Berichte (lautes Denken) und sekundär auswertbare Aufzeichnungen verwendet, unterschieden werden.« (Spektrum: Lexikon der Psychologie) Vorausgesetzt, »introspektives Denken« bedeutete mehr als das alltägliche innere Selbstgespräch, dann käme es auf weiter reichende Konnotationen an, denen zufolge Selbstgespräche definitionsgemäß der »unmittelbaren Erfassung des Erlebens« und der Erfassung »der Bewusstseinsvorgänge« zuzurechnen wären. Das hieße nichts anderes, als dass der Introspektion auch eine selbstreflexive Komponente des Bewusstseins zukommt. Bei den 55 Testaufgaben lässt sich das Augenmerk sicher auch auf solche richten, die auf eine Distanzierung des Bewusstseins von der Außenweltwahrnehmung und in einem nächsten Schritt der Distanzierung das Bewusstsein Schlüsse auf sich selbst zulassen. Dazu eigneten sich die Komplexe »mentale Rotation eines Gegenstandes«, »imaginierte Bewegung«, »Stimulationsüberwachung«, »Ereignisabruf (episodisches Gedächtnis)« sowie in einem weiteren Sinn die Empathie eruierenden »sich vorstellen, was andere denken« und »Emotionen an Gesichtern erkennen«. Erstaunlich ist, dass selbstreflexive turns des Bewusstseins kaum interessant zu sein scheinen. Zumindest könnten die Autoren einbeziehen, dass Selbstbezüglichkeit zu den essenziellen Charakteristika des Bewusstseins zählt und dementsprechend auch in einem der Hirnmodule aufzuspüren sein müsste. Selbst wenn es legitim ist, solche Erwägungen außen vorzulassen, etwa weil es heuristisch erforderlich ist, den Forschungsgegenstand so weit zu isolieren, um ihn mit naturwissenschaftlichen Methoden der fMRT kom-

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patibel zu machen, suspendierte das nicht davon – zumal gedanklich bereits angerissen – das »introspektive Denken« als eine selbstreferenzielle Aktivität anzuerkennen und gleichfalls empirisch zu untersuchen. Aus dem Grund ist es angezeigt, auf Metzingers philosophische Klassifizierung der Introspektion zurückzukommen. Selbst wenn er bei diesem Thema ins Schlingern gerät, so bringt er doch plausible Argumente für den Status der Selbstwahrnehmung des Bewusstseins und dessen Evolution. Sich aufzuspalten, um sich als »innerer Zeuge« von sich selbst zu distanzieren, indem nicht nur nachträglich Handlungen beurteilt, sondern am Gegenpol der Zeitachse Handlungen genauso simuliert und antizipiert werden, retrospektiv wie projektiv, so nützen diese Fähigkeiten auch zur Überwindung des »naiven Realismus«. Einerseits – andererseits. Einerseits negiert Metzinger die Fähigkeit des Bewusstseins, dessen mediale Konstitution zu erkennen, im gleichen macht er sich stark für die Erkenntnis der Medialität als Konstituens des Bewusstseins. Nach innen blickend können wir unseren Gedanken bei ihrer Entstehung zusehen, »[…] denn bestimmte Verarbeitungsstufen sind für die introspektive Aufmerksamkeit verfügbar. Darum wissen wir, dass unsere Gedanken nichts Gegebenes sind, sondern etwas Gemachtes.« (Metzinger ebd. 97) Während das Denken sich selbst beobachtet, identifiziert es sich nolens volens auch als Bewusstsein. Um nicht gänzlich und dauerhaft in der Wirklichkeitssuggestion des »naiven Realismus« aufzugehen, muss das Subjekt sozusagen parallel stets eine Ahnung, ein Gefühl, eine dementsprechend vage bzw. mehr oder weniger präzise Vorstellung davon haben, dass dieses obskurtransparente Medium Bewusstsein am Werk ist. Wie mein ganzer Essay über dieses Epochen-überspannende Projekt des Gehirns, sich selbst zu erkennen, die diskursive Logik infrage stellt, mehr noch: sie zersetzt, wo nicht zersetzen muss, kann auch Metzinger bei seiner Analyse der Bedeutung der Introspektion für die Evolution des Bewusstseins scheinlogischen Schleifen nicht entgehen. Es liegt in der Natur der Sache, in einer M.C. Escher-Welt der unmöglichen Perspektiven eingeschlossen zu sein. Unendliche Treppen, vertikal, horizontal, gleichzeitig von oben und unten anzuschauen, in sich aber immer logisch. In der gleichen Art, wie Bertolero/Basset die Dimension des introspektiven Denkens vernachlässigen, verfahren sie auch mit den virtuellen Zeitmodi der retrospektiven Nachbereitung bzw. der antizipatorischen Projektion von Handlungen. Es mutet kurios an, nachdem er in ihrem Aufsatz praktisch fehlt, dass der Begriff Bewusstsein in den 55 Testfragen nur ein einziges Mal expli-

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zit aufgerufen wird, nämlich als »Bewusstsein des Harndrangs«, vergeblicher noch sucht man dem Thema Zeitwahrnehmung. Gemäß dem Interesse, wie und wo die physiologischen Prozesse sich in Bewusstsein transformieren, ist der Aufsatz »Hirnforschung« von Basset/ Bertolero untertitelt mit »Das Netzwerk des Geistes«. Der mittlerweile recht antiquierte Begriff »Geist« ist längst ersetzt durch »Bewusstsein«, während auch der Begriff, wie im Vorspann angekündigt, überholt zu sein scheint von »mentale Aktivität«. Gemeint ist allerdings weniger das Bewusstsein als die trainierbare Beeinflussung von Gehirnfunktionen – z.B. gegen Demenz oder für Selbstoptimierung. Da nicht weniger versprochen wird als die Erklärung des Geistes, wäre das nur angedeutete »introspektiven Denken« gründlicher zu entschlüsseln gewesen. In der Geschichte des Bewusstseins lässt sich ein richtungsweisender turn verzeichnen, wenngleich der entscheidende Moment, ab dem das Bewusstsein sich selbst wahrnimmt, kaum zu rekonstruieren sein dürfte. Ebenso liegen die Umstände im Dunkeln, die es befähigt haben, sich von sich selbst zu distanzieren, um in seine Metareflexion einzusteigen, es sich ausklinken konnte aus dem Stress des Überlebenskampfes, sich abkoppelte von dem Kontinuum der laufenden Inputs und, auf sich selbst zurückgeklappt, zu ergründen anfing, was es für sich selbst bedeutet, wie es funktioniert und arbeitet. Verglichen mit den auf lebenspraktische Aktivitäten gepolten Funktionen wie der Integration und Interpretation der biologischen, physikalischen und sozialen Umwelt, der Kommunikation und einwärts gerichteten Beobachtung der körperlichen Befindlichkeiten repräsentiert das introspektive Denken die am weitesten fortgeschrittene Bewusstseinsfunktion. Doch genau das im Vorhinein ausschließend, bevorzugen Basset/Bertolero eine Umschreibung, anstatt explizit vom Bewusstsein zu sprechen: »[Wir möchten] die scheinbar unüberbrückbare Erkenntnislücke schließen, die zwischen rastloser neuronalelektrischer Hirnaktivität und den kognitiven Leistungen wie Wahrnehmen, Erinnern, Entscheiden, Lernen und Koordinieren klafft.« (Ebd. 31) Dabei müsste sich die – obzwar philosophische – Frage bemerkbar machen, ob von Bewusstsein nicht überhaupt erst ab dem Moment die Rede sein kann, in dem es sich selbst erkennt und bezeichnet (wie Äonen davor auch der Mensch durch die Selbstspiegelung der Ich-Erkenntnis aus dem Naturzusammenhang heraustritt und sich als human being definiert), und ob das Bewusstsein bis dahin nicht nur ein virtuelles Tool gewesen ist in Ergänzung der werkzeughaften Gliedmaßen und Sinne, nichts weiter als die nervliche Schaltzentrale für angeborene Reflexe und überlebensnotwendige Aktionen. Nicht oh-

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ne Emphase schreibt Metzinger: »Das menschliche Bewusstsein unterscheidet sich von anderen biologisch evolvierten Phänomenen grundsätzlich dadurch, dass es eine Wirklichkeit dazu bringt, in sich selbst zu erscheinen. Es erzeugt Innerlichkeit: Der Vorgang des Lebens ist sich seiner selbst bewusst geworden.« (Metzinger ebd. 31, kurs. dort) Es kann nicht sein, dass nicht zumindest ein Modul im Gehirn an dieser Selbstwahrnehmung des Bewusstseins teilhat. Obwohl keine der von Basset/Bertolero designten Testfragen direkt ein Modul für das introspektive Denken ansteuert, so deuten trotzdem manche Fragen nach den neuronalen Verbindungen beim abstrakten Denken immerhin auf die Distanzierung vom Datenfluss der Umweltreize oder auf somatischen Stimuli hin. Hierzu wären z.B. Items zu zählen wie »mentale Rotation eines Gegenstandes«, »komplexe Planungsaufgaben«, »Stimulationsüberwachung« und – etwas näher dran – »Emotionen in Gesichtern erkennen«. Vorausgesetzt, mit der Fähigkeit zur Empathie wirkten auch soziale Ursachen auf die Selbstwahrnehmung des Bewusstseins ein, als die Beobachtung Anderer sozusagen als Katalysator der Selbstbeobachtung fungiert haben könnte, hebt sich das Item »sich vorstellen, was andere denken« am deutlichsten ab. (Basset/Bertolero ebd. 35) Während Graziano besonders dieser Funktion als einem »wichtigen Schritt in der Evolution« große Aufmerksamkeit schenkt, fehlt Basset/Bertolero genau dafür das Interesse. Doch unabhängig von derlei Einwänden überzeugt die Netzwerktheorie, den zielführendsten Ansatz zu bieten nicht nur, um neuronale Interaktionen diagrammatisch zu visualisieren und so vermitteln zu können, welche der Prozesse das Bewusstsein repräsentiert. In der konstitutiven Fusion mit bildgebenden Verfahren wie der Tomographie eignet sich die von dem Autorenduo beworbene »mathematische Graphentheorie« (ebd. 31) derzeit am besten. Ihre Deutungsmacht bezieht die Netzwerktheorie aus einem geradezu intuitiven graphischen Code, der abbildet, was irgend mit Beziehungen zu tun hat: Verwandtschaft, Kommunikation, Verkehr, Energienetze, sogar »[…] und nicht zuletzt (im) Universum, in dem die Milchstraße einen winzigen Knotenpunkt in einem scheinbar unendlichen Netz von Galaxien darstellt. Doch nur wenige solcher Systeme von interaktiven Verbindungen erreichen die Komplexität, die in unserem Kopf herrscht.« (Ebd. 32) Ob zwischen Neuronen oder sozialen Strukturen – wenn also, was die Netzwerktheorie plausibel demonstriert, Inneres und Äußeres, Mikro und Makro sich selbstähnlich in jeder Größendimension staffeln und mit den Beziehungsphänomenen identisch sind, dann ist Netzwerk mehr als eine Metapher ein graphischer Code, um Faktizitäten zu

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visualisieren, die sich hin und her übersetzen: Aus dem Gehirn in die Realität und die Feedbacks wieder ins Gehirn zurück, so dass sich das Gehirn sowohl in der Introspektion als auch in den von ihm konditionierten Beziehungen zu anderen Gehirnen bzw. in den von ihm entwickelten Technologien selbst erkennt. Viel weniger optimistisch als Metzinger, der den Zeitpunkt, an dem das Bewusstsein sich als Effekt physischer Prozesse komplett entschlüsseln soll, auf 2050 datiert, geben sich Basset/Bertolero. Angesichts der »[…] Millionen von Neuronen, die im Millisekundentakt feuern, (s)ind (wir) bislang jedoch nur in der Lage, ihre durchschnittliche Aktivität nur in Zeiträumen von etwa einer Sekunde zu messen. […] Doch Wissenschaftler und Ingenieure entwickeln immer feinere Methoden, die tiefere Einblicke in das vielleicht komplexeste Netzwerk des bekannten Universums zu gestatten: Ihr Gehirn.« (Ebd. 37) Leider entspricht es dem Mangel, der den ihren ganzen Aufsatz grundiert, dass auch in dieser Schlussbemerkung eben wieder nicht das Bewusstsein angesprochen ist, der »Geist« inklusive seiner neuronalen Verschaltungen, sondern »nur« das Gehirn. Immerhin bringt es dem Bewusstsein die Erkenntnis, sich als Effekt neuronaler Vernetzungen zu verstehen. Das ist ganz bestimmt nicht nichts, denn es zeichnet sich immerhin ab, wie das anscheinend unerklärbare individuelle Bewusstsein empirisch einzugrenzen wäre, »wie unsere Hirnnetzwerke unser Menschsein formen«, indem die fMRT »[…] mit einer ganzen Batterie von Tests und Fragebogen […] insgesamt 280 Verhaltensweisen und kognitive Eigenschaften erfasst.« (Ebd. 33) Die Erforschung neuronaler Netzwerke berechtigt zu Hoffnungen auf ein besseres Verständnis von Depressionen oder Schizophrenie. Wie viele ihrer Kollegen denken auch Basset/Bertolero ihre Forschungsergebnisse in Richtung KI weiter, arbeiten aber mehr oder weniger unwissentlich mit an der trans- und posthumanen Fortsetzung des Gehirns in technische Artefakte und Apparate. Die mediale Gleichmachung, die Nivellierung, die die bildlichen Repräsentationen einander angleichen, seien es Repräsentationen realer Neuronenbewegungen oder computersimulierter, verhalten sich nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit sich vernetzender Systeme analog und sind daher in jede Richtung aussagekräftig. Daher spielt – auch für die praktische Umsetzbarkeit – das reduzierte Komplexitätsniveau das Simulakrum keine Rolle.

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Das Bewusstsein als System aus Feedbackschleifen ist in die Lebenspraxis nicht nur involviert, sondern es steuert sie, kontrolliert und bedingt sie zuletzt inklusive der Rückwirkungen auf seine eigenen Entwicklungen und Modifikationen. Das betrifft soziale Erfahrungen genauso wie die instrumentelle Bewältigung äußerer und innerer Probleme und Widerstände. Die Vorannahme, das Bewusstsein sei eine virtuelle, zwar vom Gehirn generierte, von ihm organisierte, in gewissem Sinn vorgelagerte und deshalb isoliert zu untersuchende Funktion, transportiert anscheinend weiterhin ein idealistisches, den Geisteswissenschaften verhaftetetes Verständnis. Sicher ist die Prämisse, es sei erschließbar aus der Physiologie des Gehirns, materialistisch codiert. Dennoch orientiert sich das nur in eine Richtung, nämlich nach innen, während das Bewusstsein intentionale Handlungen initiiert, sich also vorbehaltlos ebenso nach außen richtet und richten muss, sodass es sich wie in seiner Physiologie auch in seinen Handlungen und deren praktischen Auswirkungen zu erkennen gibt. »Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst« von Leroi-Gourhan beschreibt in einem großen Bogen die paläontologische Spurensuche für die Entwicklung des Körpers und des Gehirns. Einer der Befunde unterstreicht, dass nicht die Zunahme des Hirnvolumens der Motor der sozialen und technischen Fortschritte in der Entwicklung zum homo sapiens gewesen ist, sondern Naturgegebenheiten wie der einschneidende Umstieg vom vierbeinigen zum aufrechten Gang mit der Befreiung der Hand. »Die Koinzidenz von Entwicklung der Körperhaltung und Entwicklung des Nervensystems bei der Herausbildung des Menschen liegt auf der Hand […]« (Leroi-Gourhan ebd. 189) Eine der nun luxurierenden Fähigkeiten der freigesetzten Hand führte zur Geste, und diese bildete eine Wurzel der Sprache, die Leroi-Gourhan als ein Werkzeug betrachtet. Gleichzeitig mindert diese Relativierung der Sprache keineswegs das Primat des Körperlichen. Im Gegenteil, denn »[…] für die Behauptung, das Denken habe die Evolution geleitet, (lassen sich) allenfalls metaphysische Beweggründe beibringen.« (Ebd. 189) Mehr noch als die Sprache aber lässt sich das Denken mit dem Bewusstsein identifizieren. Das Denken übersetzt die »Ergebnisse der Tätigkeit der Hand, d.h. […] die Dinge, die der Mensch hergestellt hat […]«, (ebd. 188) und ist deshalb nicht mehr als ein Werkzeug unter anderen. Bereits Ende 19. Jahrhundert greift die Science-Fiction das Motiv auf. In einem Essay über H.G. Wells erinnert Dierk Spreen an Darwins Hypothese, dass Hirn und Hand zu den anthropologischen Kennzeichen zählen, die den Menschen vom Tier trennen. Wie die Science-Fiction dieses Motiv verarbeitet,

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belegt ein Zitat, wonach der auf das Äußerste reduzierte Cyborg-Körper von »Marsmenschen« die menschliche Entwicklung in der Art vorwegnimmt, »[…] dass die Vervollkommnung der angewandten Mechanik schließlich die Glieder und die Vervollkommnung der Chemie die Verdauung überflüssig machen würden; dass solche Organe wie Haare, Nasen, Zähne, Ohren, Kinn nicht länger wesentliche Teile des menschlichen Körpers sein würden, und dass in den kommenden Geschlechtern der Zug der natürlichen Zuchtwahl in der Richtung ihrer ständigen Verkümmerung liegen würde. Das Gehirn allein würde die Hauptnotwendigkeit bleiben. Nur noch ein Glied des menschlichen Körpers würde überleben – und das sei die Hand, der ›Lehrer und Lenker des Gehirns.‹« (Wells zit. bei Spreen 1998: 10) Dass dem System Gehirn-Hand eine essenzielle Bedeutung in der Evolution zukommt, ist auch so manchem Philosophen nicht entgangen. »Hände und Gehirn mögen als spezialisierte Organe des Menschen angesprochen werden, aber sie sind es in anderem Sinne als die tierischen: verwendungsvieldeutig, spezialisiert für unspezialisierte Aufgaben und Leistungen, gewachsen daher den unvorhersehbaren Problemen der offenen Welt.« (Gehlen 1961: 95) Wird das Bewusstsein in den zitierten Kontexten auch kaum explizit erwähnt, lässt sich dieser unterbelichtet erscheinende Terminus nichtsdestotrotz so weit profilieren, als er in dem Beziehungsgeflecht aus Gehirn, Körper, Motorik, Evolution, Werkzeug, Technikentwicklung und last not least Gesellschaft vernetzt ist. Leoroi-Gourhan beschreibt die Evolution der signifikanten Gliedmaßen als Kontinuität von der Flosse als vorderer Extremität der Fische bis zur Multifunktionalität der menschlichen Hand. Deren Gesten wiederum münden in die Sprache, während in einer zweiten Entwicklungslinie von der Hand sich die ersten Werkzeuge abspalten, um sich in die immer differenziertere Technik fortzusetzen. In diesem Modell ist Technikgeschichte eine genuine Fortsetzung der Naturgeschichte. Die an Freud angelehnte Systematik dreier »Ebenen«, die »der psychologischen Unterscheidung des Unbewussten, Vorbewussten (entspricht)«, überträgt Leroi-Gourhan in die Klassifizierung des menschlichen Verhaltens. Auf der ersten Ebene wirkt die biologische Tiefenstruktur des automatisierten Verhaltens, darüber in einem »Halbdunkel« die Ebene der Erfahrung und Erziehung, und diese wiederum als das nun zweite Substrat der dritten Ebene des sprachgesteuerten bewussten Verhaltens. »Diese drei Ebenen verbinden sich auf den verschiedenen Niveaus des menschlichen Verhaltens in unterschiedlichen Proportionen […].« (Ebd. 288f) Um in dieser Theorie das Bewusstsein zu

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kontextualisieren, ist zu verstehen, wie sich für den Autor die Funktionen des Gehirns in der instrumentellen und sozialen Praxis manifestieren. Besonders in diesem Zusammenhang wären Vorstellungen zu relativieren, nach denen dem Geistigen ein Vorrang gegenüber dem Materiellen zugeschrieben würde: »Wenn man die Realität der Welt des Denkens gegenüber der materiellen Welt anerkennt, ja selbst wenn man behauptet, letztere existiere nur als Wirkung der ersteren, so schmälert man dadurch nicht das Gewicht der Tatsache, dass das Denken sich in organisierte Materie umsetzt und dass diese Organisation, in wechselnden Modalitäten, sämtliche Zustände des menschlichen Lebens prägt.« (Ebd. 190) Das Bewusstsein mag (s)eine Welt konstruieren, sich konkretisieren aber kann es nur im Materiellen. Immerhin setzt Leroi-Gourhan eine dem Bewusstsein adäquate »Welt des Denkens« voraus, die aus mehr besteht als aus partiellen, intentionalen Gedanken. Spätestens mit der Industrialisierung hat sich die Technik nicht nur von ihren körperlichen Ursprüngen und ihren Produzenten abgekoppelt und so verselbständigt, dass sie nicht mehr vom Bewusstsein (respektive Gehirn) einzuholen ist. Kritische Theorien der 1960er schlugen deshalb Alarm. Wo Adorno einen blind losgelassenen Fortschritt verurteilt, beklagt Günter Anders die »Antiquiertheit des Menschen«. Während diese kritischen Sozialtheorien noch aus der Kulturkritik kommen, denkt Marshall McLuhan – noch kaum wahrgenommen – im selben Jahrzehnt nicht mehr vom Subjekt aus, sondern interpretiert Gesellschaft unterm Primat der Technik, speziell dem der Medien, und überwindet die Subjekt-TechnikDichotomie durch einen Technik- und Mediendeterminismus. »Der Mensch wird sozusagen zum Geschlechtsteil der Maschinenwelt, wie es die Biene für die Pflanzenwelt ist, die es ihnen möglich macht, sie zu befruchten und immer neue Formen zu entfalten.« (McLuhan 1995: 81) Für Vertreter der Nachfolgegeneration wie Friedrich Kittler, der 1980 zur »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« aufrief, wird der Mediendeterminismus zum unbezweifelten Framing der Kultur- und Gesellschaftstheorie. Was bei McLuhan noch nach Revolte geklungen hat, liest sich bei Norbert Bolz schon selbstverständlicher: »Der Mensch ist nicht mehr Werkzeugbenutzer, sondern Schaltmoment im Medienverbund.« (Bolz 1995: 13) Aus der diskursiven Triade Körper-Hirnevolution-Technik ist das Bewusstsein ausgeschlossen. Solange es nicht als materiell definiert ist, wäre es, sofern überhaupt interessant, als Input in den technischen Gegenständen zu dekodieren. Der Ausschluss des Bewusstseins und des Denkens verhindert, dass

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Leroi-Gourhan seine profunde Theorie der Werkzeuge und der Maschinentechnik zu einer Theorie der Medien weiterdenken kann. Wie die Evolution technischer Artefakte als Abspaltungen, Derivate oder Fortsetzungen des Körpers beschreibbar ist, wären Medien als Externalisierungen des Bewusstseins zu untersuchen. Dass Medien als Funktionen des Bewusstseins bestimmbar sind, liegt daran, dass das Bewusstsein selbst den Status eines Mediums hat – zwischen Umwelt, Sinnen und Gehirn. Mithin wäre die Relation Bewusstsein-Medien (inklusive Sinnesorgane) analog zur Relation Körper-Werkzeug zu denken. Für die Hardware unterscheidet man »[…] Aufnahme- bzw. Eingabe-, Reproduktions- bzw. Vervielfältigungs- sowie Speicher- und Übertragungsmedien.« (Hiebel ebd. 9) Die die Sinnesorgane externalisierenden Aufnahmemedien (Schrift, Kamera, Recorder) – u.U. gleichzeitig Speichermedien – erweitern das Gedächtnis, während die Übertragungsmedien die Kommunikationsmöglichkeiten (Sprache, Bild) des Bewusstseins erweitern. »Ein Medium bewahrt und vermittelt Informationen über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg und wird damit zu einem Erweiterungsmittel für menschliche Auffassungs-, Gedächtnis und Kommunikationskompetenz.« (Ebd. 8) Als virtuelles, inkonsistentes Organ braucht das Bewusstsein einen materiellen Widerpart, um sich zu realisieren und selbst zu erfahren. Eine exklusiv auf das Denken beschränkte Selbsterkenntnis muss sich zirkulär und tautologisch reproduzieren, weil das Medium Bewusstsein zuletzt auch über nichts anderes verfügt als seine eigenen Mittel, es keine andere Richtung findet, als die zu sich selbst zurück, um in selbstreferentiellen Dauerschleifen in sich zu rotieren. Tendenziell jedoch entkommt es diesem circulus, sobald es sich mit Medien fusioniert auch dann noch, wenn es die ihm kompatiblen Medien nach seinem eigenen Vorbild und seinen eigenen Bedürfnissen entwirft, konstruiert, benützt, ausbeutet. Indessen nützt, was es mit der Organisation der Materie leistet, seiner Selbsterkenntnis primär nicht allzu viel, wohingegen der Zusammenschluss mit technischen und digitalen Medien es entschieden näher zu sich selbst bringt. Sollte es aufgrund seiner reduktiven Selektivität – z.B. als »Tunnel« – eine tiefer gehende Selbsterforschung des Gehirns stören, wo nicht zum Teil gar verhindern, profitiert es von der symbiotischen Kopplung an Medien und als Komponente in Medienverbünden bezüglich seiner Kapazitäten. Das passiert nicht nur per Hardware-Anschlüsse, sondern auch mit der Steigerung seiner Fähigkeiten durch die Feedbacks der externalisierten Medien. Durch das komplexe Surplus, von vornherein aufgespalten zu sein in ein Subjekt- und ein Objektkontingent optimieren die permanent sich rückkoppelnden Medien die »naturgegebenen« Qualitäten des Bewusstseins.

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Die von Basset/Bertolero zur Untersuchung von Bewusstseinsprozessen favorisierte funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ermöglicht als nur eine von inzwischen mehreren nichtinvasiven Methoden einen Blick in das Gehirn. Die mentale Introspektion wird abgelöst von modernen bildgebenden Verfahren, mit denen die uralte, seit jenen ersten martialischen Schädelzertrümmerungen die Forschung vorantreibende Motivation zu einem wichtigen Erfolg, der das Bedürfnis befriedigt wird, in das im vor sich selbst verborgene Gehirn, d.h., in sich selbst zu blicken, sich selbst zu sehen – mit dem Unterschied, dass, anders als für Benns Doktor Rönne, das lebende Gehirn im Livezustand zur Besichtigung frei gegeben ist. Wo man einst in Anatomiesälen graue Zellmassen sezierte, erzeugen digitale Algorithmen aus den Messgrößen und Informationen des Forschungsobjekts übergenaue Abbilder. Die bei der Computertomographie eingesetzte Strahlentechnik scannt Hirnstrukturen ab. Empfindlichere Verfahren, die die Resonanz von Magnetfeldern aufnehmen, dokumentieren Mikroprozesse. Aus den Messdaten des jeweiligen Sauerstoffgehalt im Blut mit lässt sich per fMRT die Aktivität von Hirnzellen ablesen wie sich auch statistische Bilder vom Feuern der Neuronen herausrechnen lassen. Die in der Nuklearmedizin bewährte Positronen-Emissions-Tomographie (O-PET) bildet über die Blutflüsse und den Glukosestoffwechsel eines Hirnzustands ebenfalls Hirnaktivitäten ab. Währenddessen erhält sich für spezifische Anforderungen – etwa für schnelle Diagnosen – die 1875 erfundene Elektroenzephalographie (EEG) zur Messung elektrischer Gehirnströme als eine nach wie vor taugliche Methode. Ähnlich wie bei den Standbildern der ersten analogen Röntgenfotografien scannt die CT Gehirne Schicht um Schicht ab, sodass man die Masse dieser Scans der einzelnen Schichten als Bildsequenzen wie im Trickfilm »abspielen« kann. Indessen deckt sich dieses Verfahren nicht mehr mit herkömmlicher Filmtechnik, vielmehr handelt es sich bei dieser digitalen Animation um einen Morphingeffekt. Wie nie zuvor gesehen zeigt sich die Hirnmasse als ein aufund abblühender Organismus in Bewegungsabläufen, die das unbeweglich im Kopf lagernde Gehirn für sich niemals darstellen könnte. Quallenhaft, plastisch und schnell verwandelt sich sein serielles Abbild wie sein eigenes Spielzeug in einem Animationsfilm, der alles übertrifft, was ihm als künstlerische Fantasie je zu externalisieren gelungen ist. Trotz der Suggestion, diese Fiktion seiner selbst bewegte sich in einem Raum, bleibt die aus den abgescannten Schichten errechnete Animation zweidimensional wie der ursprüngliche Input der Bilder. Daher genügten diese reduzierten Darstellungen einer Forschungsgruppe des Instituts für Neuro-

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pathologie der Uni Göttingen nicht mehr. (Manych 2020) Um belastbare 3DAnimationen zu erzeugen, entwickelte das Team die Phasenkontrast-Tomographie für bislang einmalige Einblicke in die Feinstruktur der Nervenzellen. Mit Photonen durchleuchtetes Gewebe wird umgerechnet in Bilddaten. Diese produzieren ein »[…] beeindruckend detailreiches Bild: Verzweigte Dendriten der Purkinje-Zellen (= große multipolare Nervenzellen, HMH) ragen wie Äste aus dem Zelldickicht der Körnerschicht heraus.« Den technischen Unterschied zum Röntgen, bei dem die Abschwächung der Strahlen zur Aufzeichnung genutzt wird, erklärt Professor Salditt: »Wenn die Röntgenstrahlen durch das Objekt dringen, spiegelt sich dies entsprechend in ihrer Laufzeit wider. Mit dem Phasenkontrast kann man die Laufzeitunterschiede der Strahlen im freien Raum zwischen Objekt und Detektor messen und daraus Informationen über biologische Strukturen berechnen und darstellen.« (Ebd.) Und den optischen Effekt schildert Christine Stadelmann-Nesser: »Wenn man jetzt in das 3D-Bild hineinzoomt, sieht man, was die Zelle darunter macht, wie die Feinstrukturen der Zellen miteinander verbunden sind.« (Ebd.) Mit dem aus der analogen Fotografie und dem Film weiter entwickelten Zoomeffekt differenziert sich auf einem 3D-Digitalbild der Tiefenraum in jeder beliebigen Größenordnung, sodass einzelne Bildinhalte nicht mehr anderer verdecken, und sich damit ein gänzlich neues Blickfeld mit den Mikrostrukturen des Gehirns eröffnet. Auch in dem Fall scheint es evident, dass das technisch und digital mobilisierte Bewusstsein weniger der eigenen Selbsterkenntnis zuarbeitet, als der des Gehirns. Als Vermittlungsinstanz – Medium – filtert und formatiert es die Sinneseindrücke vor deren Adaption vom Gehirn. Betrachtet man nun einmal mehr, das Gehirn als autonomes, intentionales Subjekt, so ließe sich spekulieren – nachdem es seine Reflexzentren aus seinem ursprünglichen Zustand als Steuereinheit niedriger Lebewesen kontinuierlich vergrößert, weiterentwickelt, optimiert und vervollkommnet hätte zu einem multifunktionalen, komplexen Organ – hätte es durch einen im Dunkel der Naturgeschichte vergessenen evolutionären Schub das Bewusstsein als sein Medium von sich abgespalten, analog zum Auge etwa, seinem organischen Außenposten, als seinen nichtorganischen, immateriellen Außenposten zur Umwelt, jedoch mit der besonderen Verschaltung, dass das Bewusstsein wenigstens teilweise direkter mit den Sinnesorganen verbunden wäre als das Gehirn. Und dann wäre es eben das Bewusstsein, das, mit welchen Impulsen es auch immer aus den »Tiefen« der Gehirnmasse gefüttert würde, die Materie organisierte und auch als die Arbeitskraft am Werk wäre, die Werkzeuge und Medien entwirft, erfin-

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det, erprobt, konstruiert, weiterentwickelt, die die Sinnesorgane verstärken und erweitern. Aufgrund seines privilegierten Status für die Visualisierung des Gehirns wäre bei der Gelegenheit seine mediale Expansion am Beispiel der Erweiterung des Auges zu demonstrieren, indem dieses im Anschluss an die historischen Röntgenaufnahme mit den innovativen Computertomographien zu ungeahnten Fähigkeiten aufläuft. Ob geboren oder gemacht, ist das Prinzip das gleiche. Das Auge ist von vornherein das bildgebende Organ mit der medialen Reduktion, anstatt einer Eins-zu-eins-Repräsentation der Wirklichkeit an das visuelle Zentrum »nur« eine Netzhautprojektion weiterzuleiten. Nicht anders als die technischen Bildgebungsverfahren, die Messwerte und optische Informationen zu Abbildungen formatieren, verfährt auch das Auge, indem es Lichtwerte adaptiert, filtert und als optische Daten – Farben, Umrisse, Räumlichkeit usw. – übermittelt. Eine direkt anschlussfähige Erweiterung, im Speziellen der Linse, verdankte sich dem Fernrohr und Mikroskop. Diese sind deshalb als bildgebend auszuweisen, weil sie Dinge sichtbar machen, sonst dem menschlichen Auge verborgen blieben. Der erste fotografische Apparat war dann, obwohl noch Linsensystem, das erste technische Medium, das die empfangenen Lichtimpulse nicht mehr direkt überträgt. Die Umwelteindrücke werden mittels lichtempfindlicher Chemikalien in Hell-DunkelAbstufungen umgewandelt, vor allem aber lassen sich die Bilder fixieren, sodass sie dank dieses bahnbrechenden Qualitätssprungs nicht nur abgespeichert, sondern auch selbstidentisch reproduziert werden können. In der Folge entwickeln sich Linse, Elektrizität, Trägermedien zu den technischen Komponenten, die mit der Entdeckung des kybernetischen Schaltkreises zu hochempfindlichen Digitalmedien, mit denen sich die Evolution des Auges kontinuierlich von der Organik in die Technik fortsetzt. Nachdem das Auge bisher ausschließlich als unmittelbare, originäre Externalisierung einer Gehirnfunktion beschrieben wurde, sollte es nicht mehr ausschließlich organisch kontextualisiert, sondern – seit der Arbeitsteilung von Gehirn und Bewusstsein – auch als eine Konstituente des Bewusstseins gedacht werden. Das Bewusstsein deutet die Abbilder des Gehirns, entwirft die Experimente und stellt selbst die kognitiven Aufgaben, die es für seine Selbsterkenntnis dann in die Systeme eingibt. In einer zirkulären Ordnung sind die Lösungen von vornherein implizit. Mit dem Einwand, bereits vorweggenommen zu haben, was eigentlich als Ergebnis erst zu erforschen sei, argumentiert die Philosophie gegen Naturwissenschaften. Bei dem Vorwurf der Zirkularität allerdings ignoriert die Philosophie die Eigengesetze der Medien, die nicht nur

Das virtuelle Organ. Aporien des Bewusstseins

Botschaft sind, dennoch deren Inputs strukturieren und damit gegenüber Sinnesorganen und Bewusstsein eine gewisse Autonomie beweisen. Beobachtet und ausgewertet von den fortgeschrittensten Bildgebungsmedien wird das Gehirn nicht mehr der rätselhafteste Klumpen Materie des Universums sein. Wo Röntgenaufnahmen neue Perspektiven eröffneten, dem Gegenstand jedoch nichts hinzufügen konnten, was er nicht ist, verhält es sich anders bei digitalen Animationen, weil diese wie mit Zooms in 3D und Bewegungsanimationen weitaus mehr zu sehen geben, von vornherein viel mehr visualisieren, als aus den fleischlichen Formen je herauszulesen wäre. Seit den Anfängen dieser nicht abzusehenden Erweiterungen des Blickfelds erzeugen solche Einblicke und Einsichten erneut Überschüsse. Gleich, ob in biologischen oder technischen Kontexten, wenn man sogar so weit gehen könnte, diese Überschüsse in der Bedeutung, die ihnen Leroi-Gourhan zuschreibt, mit der Evolution schlechthin gleichzusetzen. Exemplarisch wie im Detail zeichnet der Autor am Beispiel der Naturgeschichte der Hand nach, dass und wie überhängende Fähigkeiten aus ihrem ursprünglichen Nutzen befreiter Gliedmaßen sich umentwickeln und neue Funktionen erfüllen. Die Vorderflossen der Fische mutierten zu den vorderen Gliedmaßen der ersten Landtiere, um nach den Übergangsstadien bei den Amphibien, Echsen, Vögeln vor allem ab den Säugetieren sich zu der multifunktionalen Hand des Menschen auszudifferenzieren und dann weiter zu Sprache und Technik. (Vgl. Leroi-Gourhan ebd. 57) Die Auffassung, das Bewusstsein sei ein »nur« virtuelles Organ, ist zu revidieren, sobald seine materiellen Manifestationen in die Definition einfließen. Nachdem der behaviouristische Ansatz, aus dem sichtbaren Verhalten rückzuschließen auf die »Konsistenz« des Bewusstseins, keine relevanten Resultate erbracht hat, ist es aussichtsreicher, die Aufmerksamkeit auf die Technik zu richten, in der das Bewusstsein »die Materie organisierend« sich (ausgestattet und delegiert vom Gehirn) seit den ersten Werkzeugen realisiert, konkretisiert und längst dabei ist, gegen Unendlich zu expandieren. Seine Derivate reproduzieren sich als autonome Algorithmen und intelligente Roboter. Ließe es sich vielleicht noch in einer Symbiose mit der Technik denken, so stellt sich das in seinen Medienbeziehungen vollkommen anders dar. Als Schaltstelle in Medienverbünden ist es aus materiellen Komplexen nicht mehr herauslösbar, in denen es, selbst wenn es weiterhin und wider besseres Wissen als virtuelles Organ betrachtet würde, nicht mehr als eine Komponente fungierte mit ähnlichem Status wie Computersoftware.

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Gleichzeitig ist es im Verhältnis zu den Medien gespalten. Hinsichtlich der hier hervorgehobenen optischen Medien ist der Differenz Rechnung zu tragen, dass diese Medien einerseits Ergebnisse des Werkzeug- und Maschinenfortschritts sind, die ihrerseits von den Medien als technische Mittel unterstützt werden, um die allgemeine – d.h., nicht zwingend mediale – Technikentwicklung voranzutreiben. Auf der anderen Seite und auf die einfachste Opposition herunterdividiert, handelt es sich jedoch um zwei Provenienzen, sobald man Werkzeuge als Erweiterungen des Körpers begreift und Medien dagegen als Erweiterungen der Sinne. Wo das Bewusstsein Technik wird oder es sich mit Medien vergesellschaftet, wird es jedenfalls in concreto erkennbar bzw. überprüfbar in trial-and-error-Prozeduren stellt sich dann heraus, ob das, was es initiiert, funktioniert oder nicht funktioniert. Die Informationen, die zwischen Gehirn und Bewusstsein laufen, sind einigermaßen transparent, doch nur in der Richtung vom Bewusstsein zum Gehirn, weil bekannt ist, wie und u.U. auch wohin der Transport der selektierten Sinnesdaten geht, während die umgekehrten Abläufe, die von der Physis zum Bewusstsein nach Metzingers Prognose vor 2050 kaum klärbar sein werden. Seit unvordenkbarer Zeit ist das Gehirn geradezu der Sucht (oder der Sehnsucht nach sich selbst?) verfallen, diesem eigentümlichen Drang sich selbst zu sehen, sich in seiner Komplexität zu durchschauen, erforschen, erkennen, erfahren. In seiner medialen Doppelfunktion steht das Bewusstsein zum Gehirn – zu seinem Autor sozusagen – im gleichen Verhältnis wie zu allen Objekten der Erkenntnis. Auf der anderen Seite untersucht es sich, womit die Erkenntnistheorie bis heute nicht aufhören kann, genauso selbst, auch wenn einzuschränken ist, dass beide Systeme sich naturgemäß logisch kaum trennen lassen. Man könnte auch so sagen: Gehirn und Bewusstsein kooperieren, wenn es für sie, wie die dargestellten Beispiele hoffentlich zeigen, im Verbund herauszufinden gilt, wie das Bewusstsein sich als ein Effekt der Physis in der Geschichte der Natur herausgebildet hat, und woraus seine jeweils aktuelle Arbeit ihre Energie bezieht. Problematisch indessen könnte sein, weniger, ob, sondern eher: wie das Bewusstsein der Selbsterkenntnis des Gehirns nützt, wenn seine im weitesten Sinn erworbenen Erkenntnisse nur als relativ realistische Scans der Objektwelt zu bewerten sind, das Bewusstsein dennoch gleichzeitig die Methoden und Medien erschafft, die dem Gehirn bei seinem selbstreferentiellen Dauerprojekt zuarbeiten. So ist und bleibt es eine von einer zentralen Instanz abhängige Funktion, wie umgekehrt auch das Gehirn abhängig ist, nämlich von den

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Zufuhren des Bewusstseins, in einer Beziehung wie sie in Hegel in der HerrKnecht-Dialektik vorgedacht hat. Eventuelle Unklarheiten ignorierend, ob auch den unkomplexen Gehirnen der Tiere ein Bewusstsein zuzuschreiben wäre, ist zu verneinen, dass Tiergehirne zu einer selbstbezüglichen Drift befähigt sind. Während der Evolution gab es offensichtlich Phasen, in denen das Gehirn – ob bereits das des Menschen oder schon das hochentwickelter Hominiden – sich für sich selbst zu interessieren begonnen hat. Diese selbstreferentielle Wendung ist nicht zu verwechseln mit dem Ich- oder Selbst-Bewusstsein des Individuums oder einem wie auch immer geartetem Sich-selbst-Erkennen in einem reflektierenden Material als eigenes Spiegelbild. Für den von einer elementaren Neugier ausgelösten Impuls, den Schädel eines Beutetiers zu zertrümmern, um den Inhalt der unzugänglichen Kapsel zu sehen, braucht es allerdings noch kein hochentwickeltes Gehirn. Zur Erklärung wäre noch einmal an Leroi-Gourhans Grundannahme zu erinnern, dass evolutionäre wie auch gesellschaftliche Entwicklungsschübe sich einem temporären Leerlauf von Fähigkeiten, Kompetenzen und Potenzialen verdanken, so dass sich aus dem Luxus einer Pause im Überlebenskampf immer wieder neue, ungeahnte Chancen des Weltzugriffs eröffnen. Übertragen heißt das, dass diese Art der Freisetzung insofern auch auf das Gehirn zutrifft, das aus seinen Fähigkeiten immer auch Überschüsse produziert hat, die sich ebenfalls einer Befreiung aus dem alle Funktionen und Begabungen bindenden Überlebensdruck schulden.

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Das Konzept Weltgehirn ist längst mehr als nur ein Phantasma oder ein nach Konnektivität strebendes Desiderat. Mit fortschreitender Globalisierung der digitalen Medien zeichnet es sich als immer realisierbarerer ab. Die ausschlaggebende materielle Grundlage lieferte die mit der Elektrifizierung sich unaufhaltsam verbreitende Verkabelung. Doch lange vor dieser technischen Umwälzung zum Industriezeitalter sollten die medialen Vorläufer der kollektiven Vernetzung das starke Bedürfnis erfüllen, einen Sozialverband über Entfernungen zusammenzuhalten oder: Weit voneinander getrennte Gehirne körperlos zu verbinden. Um geographische Distanzen zu überwinden, bildeten sich mit den ersten tele-konnektiven Medien, den Rauchzeichen, Fackeln und Trommeln nonverbale Codes heraus. Als analoges und nicht-elektrisches Übertragungsmedium diente Epochen vor dem elektronischen Funkverkehr die Luft. Dies die unscheinbaren, zu Unrecht so unbedeutend erscheinenden Ursprünge eines medialen Weltgehirns. Nicht anders als das periphere Nervensystem elektrische Impulse übermittelt, erreicht elektrische Energie die Endgeräte, zumal die lediglich gröberen Kabel nach demselben Prinzip gebaut sind und wie in Nervenfasern gehüllte Axone funktionieren. Für den Energietransport ist es gleich, ob das stoffliche Trägermedium organisch oder anorganisch, geboren oder gemacht ist. Ein wichtiger Unterschied jedoch besteht darin, dass die Kabel in der frühen Phase der Elektrizität ausschließlich elektrischen Strom transportierten, während durch die Nerven des peripheren Systems Informationen zwischen Körper und Gehirn zirkulieren. Elektrische Energie und Information bilden in einem lebenden Körper eine unauflösbare, integrative Steueranlage. Dass Elektrizität sich als Trägermedium nutzen ließ, bewies die Erfindung der elektrischen Telegrafie, mit der das Prinzip externalisiert wurde, auch Informationen über Kabel laufen zu lassen und die Kommunikation um ein Übertragungsmedium zu erweiterten, das sich mit dem Telefon zu

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einem Allen zugänglichen Massenmedium totalisieren sollte. Den Anfang einer globalen Konnektivität einschließlich der Vision eines realen Weltgehirns machten die ersten Versuche, den europäischen mit dem amerikanischen Kontinent zu verkabeln. Mitte des 19. Jahrhunderts legte man Telegrafenleitungen durch den Atlantik, bis es 1874 den Brüdern Siemens gelang, ein brauchbares transatlantisches Telegrafenkabel zu installieren. Bis 1919 erhöhte sich die Zahl der mit speziellen Kabellegerschiffen auf dem Meeresboden verlegten Leitungen auf dreizehn Verbindungen. Dass der transatlantische Zusammenschluss auf Dauer massentauglich werden konnte, brauchte es nach der vorerst allein für hochspezielle Aufgaben genutzten Telegrafie ein medientechnisches Upgrade: das Telefon. 1927 verlegte man die erste technische Nervenfaser des Telefon- und Datenverkehrs durch den Ozean. Nach dem 3600 km langen Transatlantic Telecommunications Cable (TAT-1) von 1956 mit 36 Fernsprechkanälen nahmen die Kanäle bis beispielsweise zum TAT-6 im Jahr 1976 mit über 4200 Sprechkreisen zu. Zwar hält sich McLuhans Metapher von der Welt als Dorf noch in der Begrifflichkeit des Territorialen, doch impliziert die Gleichsetzung der Elektrizität mit einem universellen Nervensystem die Idee einer Weltgesellschaft von vornherein die Vision eines Weltgehirns. Die Beschleunigung durch Verkehrsmittel und die Elektrizität führen dazu, dass alle an allem beteiligt sind, an der »[…] totalen Integration des persönlichen und öffentlichen Bewusstseins. Wir leben heute in einem Zeitalter der Information und Kommunikation, weil elektrische Medien sofort und ständig ein totales Feld von gegenseitig sich beeinflussenden Ereignissen erzeugen, an welchen alle Menschen teilnehmen.« (McLuhan ebd. 269) Die »Welt als Ganzes« ist zweifellos ein beliebter Topos des Kanadischen Medientheoretikers, begründet allerdings in der Auffassung dessen, was Nerven sind: »Nun hat die Welt der öffentlichen gegenseitigen Beeinflussung die gleiche umfassende Weite des integrierenden Wechselspiels, das bisher nur für unser persönliches Nervensystem charakteristisch war. Das kommt, weil die Elektrizität ihrem Wesen nach organisch ist und bestätigt sie als organischsoziales Bindemittel durch ihre technische Anwendung im Telegrafen und Telefon, im Radio und anderen Formen. Die Gleichzeitigkeit der elektrischen Kommunikation, die auch für unser Nervensystem bezeichnend ist, bewirkt, dass jeder von uns für jeden anderen Menschen auf der Welt gegenwärtig und erreichbar ist.« (Ebd. 269)

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Als grundlegendes Argument für ein Weltgehirn qua Elektrizität liest sich in diesen Einlassungen die Identifizierung des individuell-menschlichen Nervensystems mit dem globalen Nervensystem. Die Bedeutung der Konnektivität für die Konstituierung eines Weltgehirns macht McLuhan am ersten zivilen Nachrichtensatelliten fest, der unter dem Namen »Telstar« 1962 die Umlaufbahn geschossen wurde. Nach McLuhans Hauptthese, dass Werkzeuge und technische Medien Körperfunktionen erweitern, hatte der Mensch »[…] mit der Telegraphie die Veräußerung oder Ausweitung seines Zentralnervensystems eingeleitet, die nun mit der Funkübertragung mittels Satelliten einer Ausweitung des Bewusstseins entgegengeht.« (Ebd. 273) Die maßgebliche Innovation in der Radiotechnik durch die kabellosen elektromagnetischen Wellen aus dem Orbit eröffnet die wirelessEpoche der totalen Konnektivität, die aktuell in der tatsächlich weltumspannenden Nutzung der social media zur Realität wird. In Nachfolge des Telefons, das erstmals live eine reversible Telekommunikation ermöglichte, bieten soziale Medien wie Facebook, Youtube usw. absolut mehr als die duale SenderEmpfänger-Konstellation der Telefonie durch die zusätzliche Funktion, so publizieren zu können, dass ein Privatmensch ohne den technischen Aufwand institutioneller Sendeanstalten potenziell in der Lage ist, ein Massenpublikum zu erreichen. Tim Berners-Lees Hypertext-Projekt (HTML) war die Voraussetzung des weltweiten Datenaustauschs, der unter der unspektakulären Bezeichnung www, world wide web den Anspruch auf Globalisierung schon im Namen trägt. Was unter »Vernetzung« läuft, basiert auf Programmschnittstellen (API’s), die »[…] die Interoperabalität ermöglichen, d.h. den Austausch zwischen Internetseiten und Online-Diensten […] Die von offenen API’s ermöglichte Interoperatibilität bietet Nutzern neue Möglichkeiten, sich miteinander durch Vernetzungs-Applikationen wie Widgets, Mashups, Social Games, DesktopApplikationen und mobile Applikationen sowie Plugins auszutauschen. […] Ein offenes und interoperationables Internet verheißt großartige Möglichkeiten der Partizipation sowie eine breite Vielfalt von Plattformen, Seiten, Räumen und Menschen miteinander in einem globalen Kontext zu verknüpfen.« (Bodle 2011: 79) Längst beherrschen sie den Alltag, sind daraus zumindest nicht mehr wegzudenken, die Instant-Message-Plattformen, mit denen sich Texte, Fotos, Videos und Audio-Dateien verschicken lassen, wobei Facebook mit seinen 2021 ausgewiesenen 3,3 Milliarden Nutzern nur das populärste der sozialen Netzwerke

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ist. Neben dem ebenfalls massenhaft genutzten Skype existieren x weitere Videotelefonie-Dienste, dazu Plattformen wie youtube, mit fast 2 Milliarden angemeldeten Nutzern wie mit dem Videoportal Tik Tok auch immer wieder neue Medien Karriere machen. Dazu zählen der herkömmliche Nachrichtenverkehr über E-Mail, SMS, außerdem Kurznachrichtendienste wie Whats App und Twitter oder der Bilderverteiler Instagram. Etwas weiter gefasst der freie Zugang zu diversen Datenbanken allem voran Wikipedia mit knapp 55 Millionen Artikeln bis 2022 und über 30 Millionen Aufrufen täglich; inwieweit auch Marktplätze zu berücksichtigen sind, wäre zu diskutieren. Buchstäblich über alldem, all den halb und ganz kommerziellen digitalen playgrounds tasten und scannen Geheimdienstsatelliten mit avanciertesten Überwachungstechniken den Daten-Output der Weltbevölkerung ab.

Ein Weltgehirn denken Die Software-Produktion für die Plattformen lässt sich wie deren HardwareBasis aus Nachrichtensatelliten, Antennen, Schirmen, Servern, Kabelnetzen statistisch erfassen und objektiv beschreiben. Dagegen wird das Gesamtphänomen Mediensphäre auf politischen, technologischen, soziologischen, psychologischen, kulturtheoretischen und philosophischen Metaebenen von kontroversen Diskursen bestimmt. Philosophisch argumentiert, widerspreche die These der Existenz eines Weltgehirns schon allein die Unmöglichkeit, ein ganzheitliches Weltbild zu konstituieren, wie es z.B. nach Markus Gabriels überspitztem Buchtitel »Warum es die Welt nicht gibt«. Warum das so sei, begründet der Autor formallogisch, indem es »[…] nur unendlich viele Welten (gibt), die sich teilweise überlappen, aber in jeder Hinsicht unabhängig voneinander sind«, (Gabriel 2015: 87) weil jeweils in verschiedenen Sinnfeldern zu verorten. Diese können im Unterschied zu den begrenzten »Gegenstandsfeldern« »schillernde, ambivalente Erscheinungen beinhalten.« (Ebd. 88) Finde sich ein und derselbe Gegenstand in verschiedenen Sinnfeldern, so wäre es fraglich, ob das dann noch derselbe Gegenstand sei. Zu dieser Segmentierung werde die Welt zusätzlich zu einem Effekt logischer Operationen, würde zu einem Gegenstand in Sinnfeldern unterschiedlicher hierarchischer Ordnungen, gleichzeitig nämlich einmal unter-, einmal übergeordnet in einer Konstellation zweier verschiedener Erkenntnisebenen, die aufgrund ihrer hierarchischen Struktur miteinander inkompatibel seien. (Vgl. ebd. 87ff) Wenn es nach Gabriels Herleitung die (eine) Welt nicht gibt, so sei

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nicht zuletzt auch die Sprache ursächlich, indem sie verschiedene, einander ausschließend Kontexte produziere – eine Einsicht, wie sie in Wittgensteins Sprachspieltheorie ausformuliert ist. Die Paradoxien wiederholen sich – zwangsläufig. Wenn das Bewusstsein sich seiner selbst bewusst wird (ob als individuelles oder kollektives), bzw. das Gehirn sich selbst erforscht, so werden damit gleichzeitig jene differenten Systeme zu deren eigenem Gegenstand, und zwar auf der rein funktionalen Ebene genauso wie auf der Metaebene. Das selbstreferentielle Paradox, dass ein System sich seiner selbst bewusst ist, sich jedoch nur mit seinen eigenen Mitteln beikommen kann, erfasst auch jenes im Einzelnen noch zu umreißende Weltgehirn. Wenn Slavoj Žižek das Buch von Gabriel auf dem Cover als »Eine großartige Gedankenübung« bewirbt, so kommt das nicht von ungefähr, denn beide Autoren dekonstruieren holistische Vorstellungen der Welt nach einem ähnlich formallogischen Denkansatz. Während bei Gabriel die Definitionen von »Welt« divergieren, weil sie in verschiedenen Sinnfeldern zu platzieren sind, begründet Žižek die logische Inhomogenität des Weltbegriffs aus Cantors »Leerer Menge« und Gödels Unvollständigkeitssatz. Mit Cantors Mengenlehre erklärt er das Paradox der Selbstbezüglichkeit als die »[…] Tatsache, dass eine Menge zu einem ihrer eigenen Elemente wird, dass eine Menge eine leere Menge als Teilmenge enthält, als Vertreterin ihrer selbst unter den Teilmengen.« (Žižek 2020: 11) Auch Gödels Unvollständigkeitssätze »[…] (zeigen) – um es extrem vereinfacht zu sagen –, dass die Widerspruchsfreiheit eines Axiomensystems nicht aus diesem selbst abgeleitet werden kann, da es notwendigerweise Aussagen hervorbringt, die es weder beweisen noch widerlegen kann.« (Ebd. 10) In Žižeks Augen bezeichnen die beiden Theorien eine philosophiegeschichtliche Zäsur: »Mit diesem Bruch treten wir in ein neues Universum ein, welches uns dazu zwingt, die Idee einer einheitlichen Sicht der (gesamten) Wirklichkeit aufzugeben.« (Ebd.)

Die autonome Technik Den Anlass, das sich entziehende Ganze unterm Gesichtspunkt der Vernetzung zu einer Art Weltgehirn zu denken, lieferte Žižek das wissenschaftlich-industrielle Projekt des von Elon Musk mitgegründeten Neurotechnologie-Unternehmens »Neuralink«. Der Firmenname ist synonym mit der als Unternehmensziel formulierten Implementierung eines Brain-Computer-Interfaces, das Neurochips und Gehirn kompatibilisieren soll. Normalerweise werden Projek-

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te zur Einflussnahme auf das Gehirn medizinisch legitimiert. Nicht aber im Fall »Neuralink«, das mit den langfristigen Perspektiven keineswegs hinterm Berg hält. Um, wie aus dem Unternehmen verlautbart, »mit den Fortschritten der künstlichen Intelligenz mitzuhalten«, konzentriere man sich auf das human enhancement, die technische Erweiterung des Körpers wie auch an eine »konsensbasierte Telepathie«. (Wikipedia: Neuralink) Mit der Implantation sich selbst steuernder Chips muss sich für einen Philosophen, der wie Žižek in klassischen Kategorien denkt und mit der entsprechenden Terminologie aus Subjekt, Individuum und Selbstbestimmung operiert, Bedrohliches abzeichnen. Und doch sind, unabhängig davon, Warnungen mehr als angebracht. Auch wenn eine gesellschaftliche Totalität lediglich zu unterstellen ist, weil sie am Ende nur als Illusion, Fiktion oder Projektion existieren kann, hinge sie ab von einem Mindestmaß an Konsistenz und Bindungsenergie. Dabei wird sie wie jede Totalität von vornherein unterlaufen, wenn sie als ein System gedacht werden kann mit dem Spielraum, in selbstreferenzielle turns einzufädeln, womit sie die bekannten Paradoxien auswirft, die Aporie auflösen zu müssen, was Vorrang haben soll, bzw. worauf sich das Erkenntnisinteresse richte, nämlich ob das Augenmerkt der Totalität gelten soll oder dem Mangel an Konsistenz. Hat es sich erst einmal auf das Cantor/GödelUniversum eingelassen, so gibt es »[…] auf dieser Ebene auch eine irreduzible Mannigfaltigkeit von Welten – Körper, Welten, Sprachen, sie alle sind mannigfaltig und lassen sich unter keinerlei Eines totalisieren.« (Žižek ebd. 16) Mit dem titelgebenden Ausdruck des »verdrahteten Gehirns« referiert der Autor jedenfalls auf die aktuellen Technologien der Manipulation bzw. digitalen Optimierung von Gehirnen, auf »[…] die direkte Verbindung zwischen dem Gehirn und einer digitalen Maschine, die manchmal auch als ›Neuralink‹ bezeichnet wird.« (Ebd. 22) Es ist klar, dass diese sich in Richtung Transhumanismus bewegende Technikperspektive zu fundamentalen philosophischen Problemen führen muss: »Welchen Einfluss hat das Phänomen eines verdrahteten Gehirns darauf, dass wir uns selbst als freie Individuen erleben, ja, auf unseren Status als freie menschliche Individuen überhaupt? Diese Frage zwingt uns auch, den Begriff des Menschseins selbst zu klären.« (Ebd. 23) Für diese intersubjektiven Konsequenzen führt Žižek den in den letzten Jahren in recht verschiedenen Zusammenhängen verwendeten Begriff der Singularität ein und bezieht ihn auf

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»[…] die Idee, dass durch das direkte Teilen meiner Gedanken und Erlebnisse mit anderen (eine Maschine, die meine mentalen Prozesse liest, kann diese auch an einen anderen Geist weitergeben) ein globaler gemeinsamer mentaler Erfahrungsbereich entstehen wird, der wie ein neuartiges göttliches Wesen funktioniert – meine Gedanken gehen unmittelbar im globalen Denken des Universums auf.« (Ebd. 24) Als synonym mit dem Topos Weltgehirn wäre der »globale Erfahrungsbereich« zu verstehen, wobei nicht ganz deutlich wird, was Žižek mit »globale(s) Denken des Universums« meint. Auch ist ein platonischer Touch nicht zu überhören, wenn die »verdrahteten« individuellen Bewusstseine im »[…] globalen Denken des Universums […]« »aufgehen«. Wäre stattdessen nicht der Tatsache Rechnung zu tragen, dass diese Bewusstseine jenen gemeinsamen Erfahrungsbereich mit der fortschreitenden Konnektivität aus Gehirn-Maschine, Gehirn-Gehirn überhaupt erst konstituieren? Gehirne verdrahten sich mit Gehirnen zu einem Meta-Organ(-ismus), das/der, projiziert als Totalität, sich zu dem von Žižek als Singularität bezeichneten Weltgehirn vernetzt. Auch mit Kittlers »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« wird diese Perspektive für einen Geisteswissenschaftler naturgemäß zu einer beunruhigenden »Vision«, obwohl – unter den gegebenen technischen Voraussetzungen und in der aktuellen Mediensituation ist das alles ja noch keineswegs mehr als eine Vision. Immerhin genügt diese Aussicht auf ein Vorstadium des Posthumanismus, um zu spekulieren, »[…] wie das Eintauchen in die Singularität als Ort gemeinsamer Gedanken und Erfahrungen organisiert werden wird.« (Ebd. 28) Hat der Prozess einmal begonnen, erwartet Žižek als Konsequenz aus Musks verdrahtetem Gehirn, dass mit der notwendigerweise einhergehenden Veränderung der Machtverhältnisse riesengroße digitale Netzwerke entstehen müssen. Allgemein gesagt und davon unabhängig ist zu prognostizieren, dass die industrielle Produktion immer neuer Medien indifferent ist gegenüber philosophischen Spekulationen, ob die Welt sich zuletzt nun als Ganze begreifen lässt oder nicht. Technikfortschritte folgen allein den Gesetzen der Machbarkeit und sind, frei nach Adorno, blind für das Ganze. Zu den Möglichkeiten, dass solche Technikfantasien Realität werden könnten, antizipiert Žižek die dann fälligen philosophischen, psychologischen und soziologischen Fragen: Was hieße das für das Individuum? Wie schlügen sich die neuen subjektiven Erfahrungen der Immersion in einem kollektiven Bewusstsein nieder? Wie definierte sich der Humanismus an der Grenze zum

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Posthumanismus? Welche Folgen hätte die Externalisierung von Inhalten eines individuellen in ein äußeres Gehirn? Vor allem »[…] würde unsere Subjektivität dieses Eintauchen in einen gemeinsamen Raum überhaupt überleben?« (Ebd. 31) Dem Ganzen vorgelagert der (noch?) berechtigte Zweifel, ob wir wirklich »Maschinen bauen (können), die direkt mit dem neuronalen Fluss interagieren, der die unmittelbare Basis des Selbstbewusstseins bildet.« (Ebd.) Verständlicherweise versucht Musk, solche »Sorgen« zu zerstreuen, wenn er prophylaktisch bezweifelt, dass »Gedankenkommunikation« zum Verlust der Individualität führen könnte, und »[…] wir dadurch eine Schwarmintelligenz werden, in der jedes einzelne Gehirn nur eine kleine Biene wäre.« (Ebd. 68, Anm. 13, S. 268) Dass das nicht eintreten wird, soll unter den Umständen ein sonst wie gearteter freier Wille garantieren, denn die Individuen müssen wollen, dass ihre Gedanken gelesen werden. Nachdem die Euphorie der 1990er verflogen ist, weiß man, dass mit Schwarmintelligenz nicht mehr zu holen ist als mit anderen Arten der Intelligenz. Žižeks Einlassungen machen erneut deutlich, wie philosophische und ethische Diskurse hinter technischen Innovationen herhinken und diesen verzweifelt hinterherlaufen. Was High-Tech-Unternehmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit entwerfen und ausprobieren, entscheidet sich ausschließlich nach Machbarkeitskriterien, nach keinen anderen Regeln also als denen der Technik selbst. In einem Gehirn, das sich in einer spezialisierten Praxis selbst auf bestimmte Aufgaben konditioniert hat (wie generell, wo Kreativität erforderlich ist) laufen Erkenntnis- und Problemlösungsprozesse irgendwann von selbst ab, autonom, intuitiv, tatsächlich oft im Schlaf, sozusagen hinterm Rücken der Handelnden, sodass die Kontrolle tendenziell an die Technik übergeht. Die Mittel verselbständigen sich gegenüber den Zwecken – radikalisiert in McLuhans und Kittlers Mediendeterminismus, demnach die Menschen von vornherein so marginalisiert sind, dass ihnen für die Evolution der Technik höchstens als befruchtende Organismen noch Sinn bleibt. Allein bei den Sendetechniken – Kabel, elektromagnetische Wellen – ist seit jener archaischen transatlantischen Telefonverbindung die Quantität der Informationskanäle in Qualität umgeschlagen, so dass der Begriff Weltgehirn sich zunehmend mit Bedeutung füllt. Der zur Beschreibung des neuen Qualitätslevels sich gleichfalls anbietende Begriff der Emergenz passte allerdings nur partiell. Denn er bezeichnet »[…] das plötzliche Auftreten einer neuen Qualität, die jeweils nicht erklärt werden kann durch die Eigenschaften oder Relationen der beteiligten Elemente […].« (Krohn/Küppers 1992: 7f) Weil es nämlich darauf ankommt, »[…] dass gegebenes Material in einer Weise neu grup-

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piert wird, dass sowohl neue Eigenschaften als auch neue Elemente von neuen Systemen entstehen, die gegenüber den vorherbestehenden Konstellationen autonom sind.« (Ebd. 192) Bedingungen, die für die globale Konnektivität in dieser Ausschließlichkeit jedenfalls nicht zutreffen. Woraus dieses Weltgehirn sich am Ende konstituierte, ließe sich zwar weitgehend aus den unterstufigen Inputs ableiten, diese aber wären leicht rückzuverfolgen zu den jeweiligen Kommunikationstechniken. Es reicht also hin, deren Masse und Dichte als globales Phänomen neu zu bewerten. Ließe sich daraus eine höhere – kollektive – Modalität des Gehirns schlussfolgern, genügte es nicht, diese Abstrahierung allein mit der Technik zu begründen, denn mehr als etwas über die materiellen Grundlagen dieses künstlichen Nervensystems ließe sich vorerst nicht herausfinden. Wie die Neurophysiologie individuelle Gehirne erforscht, ließe sich das zum Weltgehirn auswachsende soziale, sich vergemeinschaftende »Herdengehirn« oder social brain zu einem Untersuchungsgegenstand machen, den man mit Methoden der herkömmlichen Hirnforschung und gegebenenfalls mit ähnlichen, bereits erprobten Mitteln entschlüsseln könnte. Zu differenzieren wäre dabei zwischen den Soft- und Hardwares der Informationsnetze, was seinerseits der Unterscheidung zwischen der Neurophysiologie und den dem Gehirn eingeschriebenen genetischen und sozialen Programmen entspräche, von denen abhängt, welche Informationen zwischen Organen, Sinnen und Motorik hin und her geschickt werden. Anders als in Menschen- oder Tierkörpern werden Signale und Informationen im anorganischen Weltnetzwerk nicht ausschließlich durch physische Nervenbahnen transportiert, sondern mit elektromagnetischen Wellen auch körperlos und unabhängig von materiellen Übertragungsmedien.

Technik Anstatt eines ortsgebundenen Zentralorgans erfüllen die weltweit verteilten, dezentralen und arbeitsteiligen Server spezifizierte Funktionen eines sich jeweils aufgabenbezogen assoziierenden, koordinierenden und/oder harmonisierenden Weltgehirns. Auf Apparatenebene kooperieren Rechner verschieden komplexer Architekturen. Im Unterschied zu den Aufgaben für gängige PCs sind die Server für spezialisierte Dienstleistungen eingerichtet und steuern mechanische Anlagen, funktionieren als Leitsysteme und Überwachungsanlagen, transferieren Geld oder dienen der Datenspeicherung. Nach den Erfor-

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dernissen der wie naturhaft anwachsenden und sich verdichtenden Konnektivität verbinden sich Rechner zu Rechnernetzen und Server zu Serverfarmen, um Vorteile in der Lastenverteilung, Geschwindigkeit und Rechenkapazität zu erzielen. Obwohl ursprünglich Software als »Server« bezeichnet wurde, veränderte sich die einschlägige Terminologie inzwischen dahingehend, die Apparate »Server« zu nennen. Die wörtliche Bedeutung von »server«– »Diener« – passt im Übrigen genauer für die Programme, die die von den clients die angeforderten Aufgaben erfüllen. Auf die Server-Programme greifen wiederum andere Programme zu, wobei die Programme von client und Server auf verschiedenen Computern laufen. Die »Kunden« sind Webbrowser (z.B. Google Chrome, Microsoft Edge). Sie stellen Anfragen an einen Webserver. Über deren Schnittstellen bieten Server-Softwares Zugang zu spezifischen Diensten wie für Transaktionen, Authentifizierung oder den Zugriff auf Verzeichnisdienste, Webservices und Datenbanken. (Vgl. Wikipedia: Server) Inwieweit Rechner als Gehirn-analoge oder Gehirn-ähnliche Apparate sind, wird zwar diskutiert, Übereinstimmungen von Computertechnik und Gehirn werden von Fachleuten wie Peter Glaser noch weitgehend bestritten. Dass Speicherkapazitäten von Computern Gedächtnisleistungen partiell übertreffen, wie das für die Rechengeschwindigkeit ohnehin längst der Fall ist, führte, korrespondierend mit der historischen Bezeichnung »Elektronengehirn«, zu dem Missverständnis, der Computer sei eine Art externalisiertes Gehirn. Doch an dieser Stelle ist das Problem allenfalls ein sekundäres, weil das momentane Hauptinteresse sich ausschließlich auf mit dem Nervensystem vergleichbare Übertragungsmedien richtet. Tele-effektive Abweichungen und Befreiungen von der materiellen Beschaffenheit der Verbindungsbahnen treiben nicht nur die Ablösung von physischen Übertragungsmedien weiter, sondern verlängern damit gleichzeitig das organische Nervensystem in die Technik. Eine Entwicklung, die mit der uralten Nachrichtenübermittlung durch Fackel-, Rauchzeichen-, Semaphoren- und Trommeltelegrafie beginnt und sich mit der Elektrifizierung von der Morsetelegrafie bis zur elektromagnetischen Signalübertagung via Satellit globalisiert. Das angeborene Bedürfnis sich zu vergesellschaften, wurde mit der Zunahme der Bevölkerung zu dem Problem, mit sich abspaltenden und territorial verteilenden Verbänden trotz sich vergrößernder Distanzen in Verbindung zu bleiben bzw. Verbindungen herzustellen, was immer leistungsfähigere Kommunikationsmedien erforderte. Bis dahin waren individuelle Gehirne nur im reversiblen Austausch von Gehirn zu Gehirn adressierbar. Mit der Verbreitung der ersten Massenmedien hat sich diese Eins-zu-eins-Reversibilität

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um ein grundlegendes Register erweitert um den Preis allerdings, dass Informationen und Botschaften nur in eine Richtung laufen: Von einem Sender an Empfängermassen ohne Möglichkeit zu reagieren und zu erwidern. Von einer öffentlichen Zentrale an eine anonyme Peripherie – oder: Wenige, quasi auserwählte Gehirne pumpen ihre Botschaften in die Masse anderer Gehirne. Nach dem Telefonverkehr mit wenigen Beteiligten haben die social media die Massenkommunikation allerdings zu einer neuen Dimension gesteigert. Auch das wäre eine Tatsache, mit der sich für die Fusion zu einem Weltgehirn argumentieren ließe. Private werden zu Sendern, für die sich parallel dazu, wie sie sich mit anderen Privaten austauschen können, die Machtperspektive eröffnet, ohne den Kapitaleinsatz institutioneller Verleger, Fernseh- und Radiosender Empfängermassen zu generieren. Langsam klärt sich, dass von einem Weltgehirn zu sprechen, inzwischen zumindest partiell legitim ist, bewiesen bereits durch die materiellen Voraussetzungen, die physikalische Basis aus den leitungsgebundenen Medien Kupfer- und Glasfaserkabel (Lichtwellenleiter) sowie wireless durch elektromagnetische Wellen. Ein Weiteres leistet der freie Zugang zu Texten, Multimediaprodukten, Statistikdaten, mathematischen Formeln, Filmen und so fort – zusammenfassbar unter Infosphäre, der Bezeichnung für die informelle Umwelt, die sich anders als der cyberspace keineswegs auf das Internet beschränkt. Rein gefühlsmäßig macht es im alltäglichen Gebrauch kaum einen Unterschied, ob man Informationen auf einem Bildschirm hat, oder ob sie endogene Gedächtnisinhalte sind. Die Nahrelation Körper-Gehirn iteriert zu Weltgesellschaft-Weltgehirn. Für Luhmann ist Weltgesellschaft ein prominenter Topos: »Gesellschaft gibt es Luhmann zufolge nur im Singular: als Weltgesellschaft.« (Spreen 2014: 113) Für die Beschreibung des einer Weltgesellschaft entsprechenden Weltgehirns wären dessen soziale Bedingungen abzustecken. Für den Soziologen entfaltet sich Weltgesellschaft in einem offenen Terrain jenseits nationalstaatlicher Grenzen, was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als in der »Welt« ein einziges soziales Megasystem zu erkennen. Verursacht und forciert wird die transnationale Entdifferenzierung von der globalen Kommunikation, und zwar so umfassend gedacht, dass »jede Kommunikation Weltgesellschaft impliziert.« (Luhmann 1998: 150, zit. bei Spreen ebd. 111f) Luhmanns ganzheitliches Konzept leitet sich ab aus den Fortschritten der Nachrichtentechnik, in erster Linie aus den tausenden Satelliten, die den Orbit kolonisieren. Die Überschreitung der Erdatmosphäre durch die Astronautik verändert irreversibel die bis dahin gültigen terrestrischen Raumkategorien. Seit der ersten

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Fotografie ist der Blick aus dem Weltraum auf den Planeten Erde ein genuin menschlicher Blick. Dieses zwar durch ein technisches Medium bedingte Szenario bleibt immer noch authentisch genug, um sich von kartographischen Repräsentationen oder astrophysikalischen Berechnungen substanziell zu unterscheiden. Ein Astronautenblick indessen ist nicht vergleichbar mit der Aussicht, durch die Giordano Bruno mit der ersten Bergbesteigung die Neuzeit auf eine moderne Beziehung zur Natur eingestimmt hat, oder mit dem Panorama aus einem Ballon oder Flugzeug. Die ungewohnte, das erdgebundene Raumverständnis widerrufende Perspektive ist vor allem dort authentisch, wo sie den ersten Menschenblick ermöglicht von jenseits der Erdatmosphäre, wahrhaft aus dem Universum. Aufnahmen aus Raumkapseln bilden erstmals den ganzen, nicht-fragmentierten Planeten analog und konkret ab. Nach dem ersten astronomietauglichen Fernrohr (ca. 1600) und dem einseitigen Blick hinaus in die Weite des Universums bietet die Raumfahrt endlich auch die umgekehrte Sicht. »Die Besiedlung und Befahrung des Weltraums mittels sowohl automatischer Satelliten und Sonden als auch bemannter Stationen, Habitate oder Fahrzeuge weist ihrem Begriff nach eine spezifische Doppelaspektivität auf. Weltraumtechnologie ist zugleich Spiegel des Planeten und Fenster zum Universum. Gegenwärtig zeichnen sich die allermeisten künstlichen Systeme im Weltraum durch ihre Erdgerichtetheit aus, d.h. sie richten ihre Sensoren, Antennen oder Spiegel auf die Erde. Entweder generieren sie Informationen über planetare Prozesse (z.B. Geo-, Wetter- oder Aufklärungssatelliten) oder sie sind in die Prozesse der Weltkommunikation und des Weltverkehrs eingebunden (z.B. TV- und Kommunikationssatelliten oder GPS).« (Ebd. 90) Generell ist davon auszugehen, dass den Meisten kaum in jedem Moment bewusst sein dürfte, dass Whats-App-Nachrichten oder Navi-Karten den Umweg über Satelliten brauchen, bevor sie auf einem persönlichen Display erscheinen. Halbbewusst könnte aber ein konstantes Wissen und wenn nicht das, so zumindest ein Gefühl existieren, in irgendeiner Weise mit dem Universum in Verbindung zu stehen. Mögen derlei Befindlichkeiten seit den Sensationen der Raumfahrt auch ganz neu erscheinen, so lässt sich das Jahrtausende alte Menschheitsbewusstsein, auf einem Himmelskörper zu leben, der nicht mehr nur Teil des Universums ist, sondern, seit dem Wissen darum, dem Universum genauso gegenübersteht, nicht mehr löschen und auf null zurückstellen.

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Die Kugelgestalt der Erde wurde bereits von Geographen des antiken Griechenlands bewiesen. Für die spätere Karriere des Globus als handliches Modell zur Visualisierung der Welt bedurfte es allerdings erst des Irrwegs, dass man Sphären, Erde und Universum jeweils als kugelförmig gedacht und dargestellt hat. Der der astronomischen Beobachtung vorgelagerte Mythos berichtete von der Bestrafung des Atlas durch die Olympier, durch die der Titan das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern zu tragen verflucht worden war. In jenem mythischen Denken hatte das Gewölbe dieselbe Kugelform wie die Erde. Mit den immer genaueren Eintragungen in das empirische Kugelmodell der Erde verschwand der Himmelsglobus mit den Sternbildern– bekannt als Farnesischer Globus – sukzessive erst ab dem 16. Jahrhundert. »In erster Linie ist zu bedenken, dass unser zeitgenössisches Verständnis von dem, was Globen sind und meinen inzwischen ausschließlich vom Modell des Erdglobus vorgeprägt ist. Unserer Auffassung von dem Objekt Globus wird fast ohne Ausnahme durch aktuelle geographische, geopolitische, geoökonomische und klimatologische Interessen definiert.« (Sloterdijk 1999: 73) Die Konstellation der vielfach noch als Paar verbreiteten Globi datiert Sloterdijk bis zum Jahr 1830. Danach trat »[…] der Erdglobus seinen Siegeszug als alleiniger Repräsentant des Prinzips großer Kugeldarstellungen an.« (Ebd. 76) Dabei ist grundsätzlich unbedeutend, ob man sich die Erde als Scheibe oder Kugel vorstellte, denn die auf beide Repräsentationen zutreffende Außenperspektive erzeugte eine »gegebene Anschauung von Nicht-Gegebenem.« (Ebd. 79) Universum und Erde als kosmische Universalitäten von draußen betrachtet, führt »[…] sofort zu der Frage, wer denn als Seher der realen Himmelsganzheit in Betracht kommt. Ihre Darstellung im Bild appelliert an eine Sehkraft, die nicht im menschlichen Auge ihren Sitz hat, weil Augenpaare von Menschen, auch wenn sie aus ihren Höhlen sprängen, sich nie einem äußerlich und gegenständlich vorliegenden Himmel gegenüber befinden könnten.« (Ebd.) Die Konstruktion von Globen wird zu nichts Geringerem als zur »Nachahmung Gottes«. (Ebd. 80) Das setzt den göttlichen Blick auf die Erde voraus sowie auf das allerdings nicht als unendlich erkannte, sondern als eine geschlossene Sphäre begriffene Universum. Dieser exzentrische Blick verführt den »[…] Sehenden, zunächst von seinem wirklichen Ort abzusehen und sich in ein fiktives Zuschauerleben jenseits der Welt zu versetzen. Damit gerät er aber in die »monumentale Zweideutigkeit, […] ob der menschliche Geist sich in sie selbst eingefügt sieht oder sich außerhalb von ihr platziert.« (Ebd. 82) Das Innen-Außen-Paradox, das sich in einer selbstreferentiellen Beziehung manifestiert, wie es sich in der Hypothese niederschlägt, dass sich das

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Universum mit der Existenz des Menschen selbst erforscht, ist baugleich mit dem Paradox des sich selbst erforschenden Gehirns, nämlich zugleich Subjekt und Objekt der Erkenntnis zu sein. Der Geschichtssprung von den »[…] Geographen und Seefahrern, denen die Weltbild-Aufgabe zufällt, […] bis zu den aktuellsten NASA-Erdphotoprogrammen […]« (Ebd. 809) ist geradezu zwingend. Den Übergang von der imaginären zur realen Raumfahrt markiert Sloterdijk mit einem Humboldt-Zitat, das den Autor zu einem Besucher eines fremden Sternes macht: »Wir beginnen mit den Tiefen des Weltraums und der Region der fernsten Nebelflecke, stufenweise herabsteigend durch die Sternschicht […] Eine Weltbeschreibung, ein Weltgemälde beginnt daher nicht mit dem Tellurischen, sie beginnt mit dem, was die Himmelsräume erfüllt. […] Aus den Regionen, in denen wir nur die Herrschaft der Gravitations-Gesetze erkennen, steigen wir dann zu unserem Planeten […] herab.« (Humboldt zit. ebd. 812) Zu die irreversible Neuorientierung des Menschen befindet Sloterdijk: »Die Landkarte absorbiert das Land, das Bild der Erdkugel bringt für das vorstellende Denken des Raumes die reale Ausdehnung zum Verschwinden. Deswegen beginnt für den terrestrischen Globus, dieses typographische Wunderwerk, das die neuzeitlichen Menschen mehr als jedes andere Bild über ihre Verortung in der Welt informiert, eine Erfolgsgeschichte, die sich über eine Zeitspanne von mehr als fünfhundert Jahren erstreckt […].« (Ebd. 821) Unter den aktuellen Bedingungen infiltriert die zur technischen, ökonomischen und kommunikativen Praxis gewordene Globalisierung auch mehr und mehr die Sprache. Diskurse, Bilder und Slogans schaffen das entsprechende Bewusstsein. In weniger als einer Sekunde ruft Google bis zu 4 Milliarden Mal das Stichwort »global« auf – »global«: Dieser Marker nützt Konzernen, dient für Firmennamen, bezeichnet Institutionen, wertet Initiativen auf, bewirbt Veranstaltungen, Blogs und glänzt in archaischem Gold als gesockelte Weltkugel für den Golden Globe Award. Im ikonischen Register vereinheitlichen Grafiken und Symbole das Bild der Welt. Als einer der alltäglichsten Repräsentationen signifiziert die hellblaue Weltkarte die Anmeldeseite von Facebook, auf der Verbindungslinien zwischen den in die Kontinente eingezeichneten Köpfe die mundiale Vernetzung symbolisieren. Im Internet kursierende Fotos und Animationen zeigen einen von so dichten Liniengeflechten und Netzgra-

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phen überzogenen Planeten, dass die Kartografie des wirklichen Globusses darunter verschwindet. Sie verifizieren bildlich jene Welt ohne territoriale Grenzen, die Luhmann projiziert. Insbesondere wo die Verbindungslinien zu geraden Strecken geometrisiert sind, unterscheiden sich die Netzbilder (ob von Verkehrsrouten oder Kommunikationswegen) nicht von den Darstellungen der neuronalen Vernetzung des Gehirns. Ist auch zu konzedieren, dass diese grafische Übereinstimmung weitgehend den Tatsachen entspricht und der Sache unbedingt angemessen ist, lässt ist doch der systemische Mangel nicht zu übersehen, dass diese Schematisierungen an ihre Grenzen stoßen, weil sie dem altbekannten, unhintergehbaren Paradox unterliegen, nie mehr zu sein als Visualisierungen, die das Gehirn selbst generiert.

Der Gottesblick Alles sehen, ist die Bedingung für alles wissen, und im Metier der Götter gibt es überall Augen und Ohren. In einer animistischen Welt hat das »Feld Augen, der Wald hat Ohren«, wie zu sehen auf einem mittelalterlichen Holzschnitt. (Valaouris 2017: 29f) Das prähistorische Überwachungsmotiv der vielen Augen hat das Idiom der Argusaugen in die Gegenwart transportiert. Es geht zurück auf den Mythos des Riesen Argus, der in Heras Auftrag deren Rivalin Io überwachen sollte, damit Heras Gatte Zeus von dieser fernbleibe. Argus hatte 100 Augen. Eine Hälfte schlief, und die andere wachte. Frühe Darstellungen wie auf griechischen Vasen (ab ca. 500 v.u.Z.) zeigen Argus‘ Körper bedeckt mit Augen. Dieser multiokulare Korpus mutierte zu dem abstrakten, omnipräsenten Auge Gottes. »Die Ikonografie vom Auge Gottes geht auf ägyptische Bildtraditionen zurück. Für die europäische Neuzeit genügt die Feststellung, dass das Auge Gottes in der jüdisch-christlichen Tradition steht […]«. (Ebd. 9) Michalis Valaouris, Autor einer Untersuchung zu dem Thema, kuratierte 2017 unter dem Titel »Das Feld hat Augen […]« eine Ausstellung mit historischen Bildbeispielen des überwachenden Blickes. Dieser manifestiert sich meistens in Szenerien mit einem in der Mitte des Himmels fixierten Gottesauge. Dieses allgegenwärtige Auge wandert aus dieser entrückten der Sphäre der Transzendenz weit nach unten, denn im monarchistischen Überwachungsstaat wird es säkularisiert, um sich von da wieder zu abstrahieren und fortzusetzen in »ein Auge der Vernunft«, sodass »[…] sich die theokratische Gesellschaft zu einer republikanischen (verwandelte), in der das Gesetz die oberste Instanz übernahm: Die Position Gottes. Damit wurde das kulturelle Fundament für die moderne

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technische Überwachung gelegt.« (Ebd. 8) Mit den neuen Techniken kehrt die Vieläugigkeit zurück: »Heute haben nicht nur Straßen, Plätze oder Flughäfen ›Augen‹, sondern vor allem das Internet. Die digitalen Spuren, die Nutzer im Internet hinterlassen, werden von privaten Datenkonzernen und staatlichen Sicherheitsinstitutionen registriert, analysiert und bewertet.« (Ebd. 12)

Big Data Observieren ohne Speichern ist nichts. Schon was Gottes ubiquitäres Auge sah, musste archiviert werden. Für die monotheistische Buchreligion hieß der Speicherort Himmelsbuch oder Buch des Lebens oder Buch der Lebenden, in dem wenigstens die Minderheit der Gottgefälligen verzeichnet war. Alles, also nicht nur das, was Satelliten abgreifen, fasst seit ca. der Jahrtausendwende der Anglizismus Big Data zusammen. Im Unterschied zu dem listenhaften Gottesverzeichnis verfügen Konzerne und Staaten über technische Verfahren, die Datenmassen aller möglichen Systeme – hauptsächlich sozialer – zu organisieren. »Daten zu sammeln, Software nach Mustern suchen zu lassen und anschließend aus den Ergebnissen die richtigen Schlüsse zu ziehen, das ist, verkürzt gesagt, Big Data.« (Geiselberger/Moorstedt 2013: 9) Historisch lief es so ab, dass »[…] erst Anfang 2012 die Big-Data-Kurve dann steil nach oben (schießt). Soft und Hardwarekonzerne wie Intel, SAP, IBM oder Cisco versprechen mit Initiativen wie ›Big Insight‹ und allen möglichen Begriffen, denen das Adjektiv ›Smart‹ vorangestellt ist, die Lösung von Menschheitsproblemen […].« (Ebd. 13f) Was vordergründig mit der Regelung von Verkehrsströmen und Energieknappheit legitimiert wird, läuft zuletzt auf nichts Geringeres hinaus als das megalomane Programm Allwissenheit. »Der Begriff ›Big Data‹ bezieht sich auf Datenmengen, die so groß sind, dass man sie mit Standardwerkzeugen und -methoden nicht länger verarbeiten kann, weshalb wir vor neuen Herausforderungen stehen, was Speicherkapazitäten, Analysefähigkeiten, Visualisierung und Interpretation anbelangt.« (Offenhuber/Ratti 2013: 153) Die Frage nach dem kostbaren Rohstoff Datenmaterial wird jedoch in dem Moment obsolet, wenn das Interesse sich nur noch darauf richtet, wie und womit Daten verknüpft werden, wie die Algorithmen funktionieren, die die Daten übersetzen, wie sie die Korrelationen und Muster erkennen, wenn die Daten, ganz gleich bei welchen Usern während deren Zugriffen auf automatisierten und strukturierten Datenbanken gesammelt werden.

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Indessen ist mit einfachen Mitteln dem alltäglich neu über die Menschen hereinbrechenden Informationstsunami nicht mehr beizukommen. »Doch geht der Verknüpfungsreichtum, mit dem wir es heute zu tun bekommen, darüber hinaus, weil wir jetzt nicht mehr nur mit Gehirnen, Institutionen, Leidenschaften, Interessen, Wut und Begeisterung rechnen, die uns mit überraschenden Verknüpfungen konfrontieren, sondern mit einem Rechner, der im Netzwerk weiterer Rechner darauf programmiert ist, Algorithmen zu befolgen, die aus den Spuren, die wir im Netz hinterlassen, Schlussfolgerungen ziehen, deren Konsequenzen uns an anderer Stelle ereilen, ohne dass wir dies voraussehen oder etwas dagegen tun können.« (Baecker 2013: 157) Die beunruhigende Verselbstständigung der Rechner und ihrer Algorithmen zersetzt längst die herkömmliche und bisher verlässliche Wissensproduktion durch die Modellbildung für soziale Prozesse. Unternehmen wie Google, die selbst Datenmassen generieren, können längst auf ohnehin fehlerhafte Modelle verzichten – »[g]enau genommen brauchen sie überhaupt keine Modelle mehr. […] Im aktuellen Stadium der digital-historischen Entwicklung von der ersten computergestützten Lesbarkeit von Informationen über Suchmaschinen bis zum wie immer nur vorläufigen Status der Digitalisierung […] durchforschen Google und ähnliche Firmen eine Gegenwart, in der alles und jeder in einem historisch beispiellosen Ausmaß bewertet und vermessen wird, und verwandeln sie so in ein Labor zur Erforschung der Conditio humana.« (Anderson 2013: 124) Aus epistemologischer Sicht scheint sich ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel abzuzeichnen, wenn die Ermittlung von Korrelationen davon suspendiert, Modelle und Hypothesen zu formulieren. »Wir füllen die Zahlen einfach in die größten Serverfarmen, die die Welt je gesehen hat, und warten darauf, dass die Algorithmen dort Muster aufspüren, wo die Wissenschaft nicht weiterkommt.« (Ebd. 128) Allerdings erfordern diese technischen Voraussetzungen einen enormen Aufwand. »Im Februar 2008 kündigte die Nacional Science Fondation den Start von ›Cluster Exploratory‹ (kurz CluE) an. Im Rahmen dieses Programmes sollen Untersuchungen gefördert werden, die ein gigantisches Rechnernetzwerk nutzen, das Google, IBM zusammen mit sechs Pilot-Universitäten entwickelt haben. Das Netzwerk besteht aus 1600 Prozessoren, es verfügt über

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einen Arbeitsspeicher von mehreren Terrabyte, über Hunderte Terrabytes an externer Speicherkapazität und die entsprechenden Programme, darunter die Tivoli-Software von IBM und Open-Source-Versionen von Google File System und Map Reduce. Zu den ersten CluE-Projekten werden Simulationen des menschlichen Gehirns und Nervensystems […] gehören, die irgendwo zwischen Wetware und Software angesiedelt sein werden, zwischen organischem Material und Algorithmen.« (Ebd. 129) Das Stadium des Visionären ist längst durch und zu einer Praxis geworden, mit deren Ergebnissen wir die Welt ganz neu verstehen werden. »Korrelationen machen Kausalitäten überflüssig, und die Wissenschaft kann auch ohne kohärente Modelle, ohne große vereinheitlichende Theorien Fortschritte machen. Anders ausgedrückt: Sie braucht keine mechanistischen Erklärungen mehr.« (Ebd. 130) Nach den immer größeren Maßeinheiten für Datenmengen von Kilobytes, Megabytes bis Terabytes kündigt Anderson die Ära der Petabytes an. Da Petabytes die Kapazität der materiellen Speichermedien überschritten, würden Datenmassen dieser Größenordnung hauptsächlich in der Cloud gespeichert. (Vgl. ebd. 124) »Peta« bezeichnet einer Billiarde = 1015 . Die künftig in Petabytes zu messenden Datenmassen bilden die Grundlage der Argumentation, dass wissenschaftliche Modelle und Hypothesen hinfällig geworden sind. »Wenn man den Petabyte-Maßstab einmal erreicht hat, sind Informationen nicht länger etwas, das man mithilfe einer drei- oder vierdimensionalen Taxonomie oder Ordnung verwalten kann. Sie werden vielmehr Gegenstand einer Statistik, die sich für Dimensionen überhaupt nicht mehr interessiert. […] Das Petabyte-Zeitalter zwingt uns geradezu, Daten zunächst aus einer mathematischen Perspektive zu betrachten und erst im zweiten Schritt in einen Kontext zu setzen. Google beispielsweise hat die Welt der Werbung erobert, indem das Unternehmen schlicht und ergreifend auf angewandte Mathematik gesetzt hat. Man hat gar nicht erst so getan, als wisse man irgendetwas über die Kultur und Gepflogenheiten der Werbebranche – man verließ sich einfach darauf, dass bessere Daten, zusammen mit besseren analytischen Werkzeugen, den entscheidenden Vorteil bringen würden. Und damit traf Google ins Schwarze.« (Ebd. 125) Dass Anderson hier ausführlicher zu Wort kommt, hat seinen Grund darin, dass seine Einsichten und Argumente die Hypothese von der Existenz eines Weltgehirns nachdrücklich unterstützen. Als ehemaliger Herausgeber von

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»Wired«, der einstmals populärsten amerikanischen Computerzeitschrift für Netzkultur etc., sowie als Unternehmer unter anderem in der Roboter-Industrie sind Andersons theoretische Einlassungen praxisfundiert. Wenngleich detaillierter hätte ausgeführt werden können, wie die von ihm erwähnten Algorithmen die Informationen aus den Statistiken extrahieren, wie und welche die oft zitierte »angewandte Mathematik« Korrelationen herstellt und Annahmen auswirft über das Funktionieren des sozialen Universums, stellen sich Andersons Kommentare als brauchbar heraus, um z.B. die Sequenzierung des Genoms zu beschreiben. Begreifbar werden Präzision und »Ultrageschwindigkeit« von Supercomputern nicht nur bei der Sequenzierung des Genoms, sondern auch das, wodurch das Verfahren überhaupt eine so erstaunliche Exaktheit erreichen konnte, dass nämlich bereits durch eine kaum wahrnehmbare statistische Abweichung (wie tatsächlich geschehen) sich ein neues Bakterium nachweisen ließ. Statistiken erheben, Muster aufspüren, Analogien bilden, Korrelationen herstellen, Speichern, Clustern, Sequenzieren: Belastbare Schlüsse ziehen sich praktisch von selbst aus dieser Art angewandter Mathematik. Erkenntnisgewinn ohne Hypothesen und Modelle – wir brauchen nur »von Google lernen.« (Ebd. 130) Was Algorithmen machen, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von spezifischen Hirnaktivitäten. Es ließe sich spekulieren, ob diese Prozesse als präbewusstseinsmäßige, d.h., dem Bewusstsein vorgelagerte zu verstehen wären, oder ob sie Bewusstsein implizieren und von Anderson nur nicht erkannt werden sollen bzw. wollen, um die These der Obsoletheit von Modell- und Hypothesenbildung nicht zu gefährden. Wollte man dem allen hingegen eine gewisse Plausibilität zubilligen, so glichen algorithmische Problemlösungen basalen Hirntätigkeiten. Bestimmte man Modell- und Hypothesenbildung als genuine Bewusstseinsleistungen, wäre ein Algorithmen-basiertes, KI-gesteuertes Weltgehirn zumindest in den von Anderson beschriebenen Anwendungsgebieten als effektiver einzuschätzen als jedes individuelle Biogehirn. In ähnliche Richtung deuten die Verlautbarungen von Cameron Marlow, dem Haussoziologen Mark Zuckerbergs. Von den Daten menschlicher Beziehungen lässt sich auf soziologische Zusammenhänge rückschließen. Und sogleich werden die von Facebook erhobenen und analysierten Daten zur soziologischen Grundlagenforschung erklärt. Allerdings entstammen die Daten nur dem begrenzten Segment der Beziehungen zwischen FacebookMitgliedern. Aufgrund des hauptsächlich sprachlichen Materials bestimmen vorwiegend semantische Analysen die Auswertung – mit Präferenz für die Intensität des jeweiligen Austauschs, sodass die Ergebnisse etwas über die

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sich in das Netzwerk übertragende Emotionalität aussagen sollen. Schlüsselbegriffe werden danach eingeteilt, ob sie negativ oder positiv konnotiert sind. Man hat auch herausgefunden, »[…] dass sich die emotionale Ladung einer Nachricht auf den Freundeskreis überträgt.« (Moorstedt 2013: 95) Ebenfalls informieren die »Links of love« über die emotionale Nähe in Partnerbeziehungen. Parameter wie der »Facebook Happyness Index« geben Auskunft über »die Stimmung der Welt«. (Ebd. 94). Hinsichtlich globaler Vernetzung dürfte es eher zu den leichteren Übungen gehören, Informationen über die geografischen Distanzen zwischen den »Freunden« abzugreifen. Auch traditionellen Soziologen, die nach wie vor auf Umfragen und andere statistische Verfahren angewiesen sind, bietet die außerhalb des social networks nirgendwo verfügbare Datenmasse ein substanzielles Material für Verhaltensforschung. Schon aufgrund seiner Macht als »Internetgigant« verfügt das Facebook-System über Hightech-Voraussetzungen und finanzielles Potential, fortschrittlichste Programme zu designen. Bereits der erste Eindruck, den Tobias Moorstedt als Interviewer des Facebook-Soziologen mitnimmt, zitiert sich wie ein Argument für ein Weltgehirn. »Im Foyer leuchtet ein blauer Globus auf einem Flatscreen, blitzende Linien flitzen um den Pixelplaneten herum.« (Ebd. 90) In dem mächtigsten Emo-Netzwerk, das soziale Bindungsenergien generiert, steuert und ausbeutet, reklamiert der Konzern für sich, weil ja »der Mensch ein soziales Tier« sei, dass Facebook »[…] von einem virtuellen Poesiealbum zum Betriebssystem der Welt geworden (ist).« (Ebd. 93) Was die um den Pixelplaneten blitzenden Linien symbolisieren, ist von solider Qualität, denn die Beziehungsverhältnisse sind real, und was die betriebsinternen Datenempiristen eruieren, ist durchaus vergleichbar mit der Dopamin-Zirkulation im biologischen Gehirn. Die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren, unterscheidet menschliche von tierischen Gehirnen, und mit der Möglichkeit autoreflektiver turns zeichnet sich zumindest ein Aspekt des Weltgehirns ab, der über rein begriffliche Projektionen hinausgeht. Wo sich ernsthaft von derlei Perspektiven sprechen ließe, wäre dies ein tragfähiger Beleg, dass parallel zu den individuellen Gehirnen ein kollektives, emergentes Weltgehirn nicht nur konstatiert werden könnte, sondern konstatiert werden müsste, weil dessen Niveau und Organisation in technischer Hinsicht wie mit seinen konnektiven Potentialen bei Weitem das übertreffe, was herkömmlich unter Herdeninstinkt oder Schwarmintelligenz firmiert. Zumindest die Andeutung einer solchen Autotreflektivität wäre aus dem Begriff des Metadatums herauszulesen. Dem Systemtheoretiker Dirk Baecker ist es in erster Linie darum zu tun, die amorphen, unübersichtlichen Big-Data-

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Massen mithilfe des Überbegriffs Metadatum »nur«, wie er sagt, zu kategorisieren. Als dem einzigen der zuletzt zitierten Autoren scheint ihm, wenn auch nicht frei von Skepsis, bewusst zu sein, dass mit der Einführung einer Metaebene immerhin die Möglichkeit der Autoreflektion eines Weltgehirns herausspringen könnte: »Ob Big-Data-Phänomene ihre eigene Komplexität zu bewältigen vermögen, indem sie wie ein Gehirn, ein Bewusstsein oder die Gesellschaft zur Selbstorganisation fähig werden, ist gegenwärtig eine der offenen Fragen. […] Ich würde allenfalls annehmen, dass zu den Datenmengen und Algorithmen auch die Nutzer und Programmierer zu zählen wären, die Datenbanken füttern und die Algorithmen entwerfen, um die Elemente in laufender Auseinandersetzung miteinander als sich selbst organisierendes System beobachten zu können.« (Baecker ebd. 168) Isoliert von der in die emergenten Prozesse aus KI und menschlichem Bewusstsein involvierten human power, dient das Konzept Metadaten zunächst maximal als Werkzeug der Kategorisierung. Lediglich als Tool verwendet, liefert die Analyse der Datenmassen nicht viel mehr, als was das Bewusstsein ohnehin tut, indem es sortiert und klassifiziert. Das gilt gleichermaßen für Naturhaftes wie für Gemachtes: Technische Umwelt, Gesellschaft, Kultur. Die von Baecker gelisteten Metadaten heißen Komplexität, Kommunikation, Beobachter, System, Evolution, Netzwerkbegriff, Kooperation, Form. Dass Kategorisierung sich keinesfalls in Passivität erschöpft, weiß auch Baecker. »Wir haben einen Kontext eröffnet, der es erlaubt, die Sammlung, Verknüpfung und Auswertung sehr großer Datenmengen als ein Datum eigener Art aufzufassen und nach Metadaten zu fragen, die in der Lage sind, mit solchen Daten umzugehen.« (Baecker ebd. 162) Sollte Big Data den Anschein einer statischen Masse erwecken, so wäre dieser Eindruck laut Baecker schlichtweg falsch und stünde für einen Zugang, in dem Logiker befangen blieben. Digitale Daten stellen keinen stabilen, archivarischen Fundus dar, sondern werden durch die Daten sammelnden und akkumulierenden Algorithmen gleichzeitig verknüpft und sind deshalb a priori kontextualisiert. Außerdem sind die von Baecker favorisierten Metadaten inkonsistent, weil beobachterabhängig. »Schon in einem anderen Fall oder für einen anderen Beobachter werden Metadaten zu Daten und können Daten als Metadaten befragt werden.« (Ebd. 162) Unter Berücksichtigung der wachsenden Autonomie von Algorithmen ist es keineswegs absurd, das nächste Level ins Kalkül zu ziehen, dass Algorithmen selbst aus dieser Metadaten-Perspektive »beobachten« und dass sie Auskunft zu

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geben lernen, wie andere – vielleicht unterkomplexe Algorithmen arbeiten und ihre »Beobachtungen« dokumentieren und beeinflussen. Genau dieser Konstellation entspräche ein Modus der Autoreflektivität, der auf ein genuines künstliches Bewusstsein hinaus liefe und, hochgerechnet auf global agierende Rechner, das noch unterentwickelte digitale Weltbewusstsein implementierte, das das technisch weitgehend vormodellierte Weltgehirn also mit den fundamentalen Eigenschaften und Fähigkeiten fusionierte, mit denen es analog zum individuellen, biologischen Gehirn zurecht als Weltgehirn bezeichnet werden darf.

Allwissenheit/Allmacht Darüber, was der Untertitel des »Big Data«-Buches zusichert, und zwar »Das neue Versprechen der Allwissenheit« ist im Vorwort allerdings nichts über dieses »Neue« zu lesen. Offen bleibt somit auch, was es mit der impliziten »alten« Allwissenheit auf sich haben könnte. Mangels alternativer historischer Konzepte kann kaum etwas anderes gemeint sein als die verbrauchte Allwissenheit Gottes. In den gängigen Diskursen schien und scheint es unvermeidbar, den heutigen medialen Blick aus dem Weltraum mit dem einstmals Gott zugeschriebenen Blick auf die Erde in Beziehung zu setzen. Schon das ein Grund, aus dem es sich lohnt, sich diese metaphorische Gleichsetzung genauer anzuschauen. Theologen und Philosophen diskutieren ausführlich, ob göttliche Allmacht deterministisch sei und der freie Wille eine Illusion, oder ob den Menschen letztlich nicht doch die Aufgabe zukomme, sich frei entscheiden zu müssen. (Wintzek 2017: 15ff) Diese Dispute, die sich geschichtlich erst recht spät durchsetzen, transportieren auch das aus derselben Logik folgende Paradox und bestenfalls postscholastische Argument, dass Allwissenheit ein apriorisches Attribut Gottes sei, Gott also weder sehen noch hören müsse, weil er die Zukunft immer schon intus habe. Allwissenheit ist für Gott lediglich die Voraussetzung der Allmacht, wo nicht beide Begriffe überhaupt synonym zu denken sind. Während diese Attribute alte magische und/oder religiöse Zuschreibungen sind, weisen Religionswissenschaftler komplexere Vorstellungen etwa einer totalen, apriorischen, die Zeiten umfassenden Allwissenheit einer späteren Phase zu. Um allwissend zu werden, bedürfen die älteren göttlichen Mächte analog zu den Menschen der Sinneswahrnehmung, insbesondere des Sehens und, wennzwar nicht gleich privilegiert, auch des Hörens. Die Wahrnehmungen realisieren sich im

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Überblick als einem weiteren Grundprinzip. Die archaische Naturerfahrung mit den Himmelskörpern, namentlich den auffälligsten Sonne und Mond, transformierten die frühen Menschen in den Himmel bevölkernde Gottheiten. (Vgl. Pettazzoni 1960: 79f) Der Religionswissenschaftler Raffaele Pettazzoni unterscheidet den magischen und orakelhaften Typ der Allwissenheit von einem weiteren, »[…] dem nicht so sehr das Tun als vielmehr das Sehen, Hören und Überwachen obliegt […].« (Ebd. 13). Wie der ägyptische Ra ist auch der alles hörende und überblickende griechische Sonnengott Helios mit Allwissenheit begabt, während dem älteren babylonischen Gott Marduk noch vier »organische« Augen zu Gebote standen, darin dem vieläugigen Argus verwandt, wohingegen sich der Blick des hebräischen Monogottes bereits auf einem allumfassenden, abstrakten Level bewegt. »Aber das Wissen Jahves stellt sich im Alten Testament auch in jener anderen […] Art der Allwissenheit dar. Alles, was der Mensch tut, weiß Jahve. Er kennt sein ›Stehen und Gehen‹, kennt die Wege der Menschen, alle ihre Taten, die guten wie die bösen. Und er kennt nicht nur ihr Tun, sondern auch ihr Reden, ja ihr innerstes Denken und ihre intimsten Geheimnisse. Jahve erforscht ihre Seelen und Herzen. In keinem Augenblick und an keinem Ort kann sich der Mensch vor ihm verbergen, weder im Himmel noch unter der Erde, weder in der Unendlichkeit des Meeres noch im undurchdringlichen Dunkel. Sein ganzes Leben, Tag für Tag, liegt offen vor den Augen des Herrn.« (Ebd. 14) Bemerkenswert in dieser Schilderung göttlicher Allgegenwart sind die hervorgehobenen »Augen«. Doch bestehen Gottesaugen nicht aus lichtempfindlichen Körperzellen, sondern metaphorisieren soziale und moralische Regulative. Von dieser übergeordneten alles sehenden Instanz werden ausschließlich Menschen beobachtet nicht aber die Natur. Dieser bleibt es vorbehalten, als Unwetter, Fluten und ähnlich einschlägige Strafgerichte über die Menschheit zu hereinzubrechen. Indessen setzt das Prinzip sich fort. Beinah ungebrochen verläuft eine wie in der menschlichen Genetik gespeicherte Linie von dem im magischen Bewusstsein inskribierten Blick jener Gottheiten zu den künstlichen Sinnesorganen der Satelliten. In »Überwachen und Strafen« untersucht Foucault das Übergangsstadium von der göttlichen Observation zur weltlichen. Mit der fortschreitenden Zentralisierung der Staatsmacht im Verbund mit den Innovationen bei den optischen Instrumenten wird die Überwachung der Untertanen zum hoheitsstaatlichen Projekt. Der einst imaginäre Blick Gottes

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übersetzt sich in den realen Blick des Königs. »Neben der großen Technologie der Fernrohre, Linsen, der Lichtkegel, die mit der Gründung der neuen Physik und Kosmologie Hand in Hand ging, entstanden die kleinen Techniken der vielfältigen und überkreuzten Überwachungen, der Blicke, die sehen, ohne gesehen zu werden.« (Foucault 1981: 221) Die Profanisierung des göttlichen Überblicks und der historischen Vorläufer der digitalen Überwachungstechniken konkretisiert sich in der panoptischen Architektur der Gefängnisse. Jetzt ist machtpolitisch vorgebahnt, was mit der Erfindung der fotografischen Kamera begonnen und den digitalen Bildgebungs- und Aufzeichnungsverfahren zur gesellschaftlichen Totalität eskaliert ist. Es lässt sich kaum aufzählen, wo und womit aufgenommen wird: Auf Plätzen, Bahnhöfen, Autobahnen, in Airports, an Straßenkreuzungen, bei Geschwindigkeitskontrollen, an Mautstellen, Grenzübergängen, in Touristenzentren, Kaufhäusern, Supermärkten, Museen, vor/in Banken – beobachtet auf verborgenen Monitoren oder allabrufbar im Internet. Mobile Senderkameras, Privatkameras an Klingelleisten, Garagentoren, in Alarmanlagen, auf Fahrrad- und Skihelmen, als Dash-, Laptop- und Handycams. Über den Köpfen in Wetterballons, Drohnen, Flugzeugen und draußen am guten alten Himmel die Teleskope der Satelliten. Ob auf Laptops, Smartphones, in den Clouds oder auf Konzern- und Geheimdienstservern: Kein optisches Datum, das nicht gespeichert würde. Im Anschluss an den unentrinnbaren Blick der »Augen des Herren« findet auch die irdische Gewalt ins Innere der Subjekte – in die Seele: »[K]raft einer allgegenwärtigen und allwissenden Macht, die sich einheitlich bis zur letzten Bestimmung des Individuums verzweigt – bis zur Bestimmung dessen, was das Individuum charakterisiert, was ihm gehört, was ihm geschieht.« (Ebd. 253f) Durchleuchtet und ausgerechnet zu werden, was geistliche und weltliche Machthaber immer schon angestrebt haben, wird in den Zeiten von Big Data ziemlich widerstandslos und gern auch mit offensiver Freiwilligkeit von den Usern selbst erfüllt, ja, häufig auch übererfüllt. Francis Bacons frühaufklärerische Maxime »Wissen ist Macht« forciert sich zu Allwissenheit ist Allmacht. Nichts sonst bildet den Horizont eines Weltgehirns, zu dem im Kleinen wie im Großen die omnipräsenten künstlichen Augen, die Softwares mit dem Ziel der universellen Vernetzung individueller, institutioneller, künstlicher Gehirne und Server mehr und mehr emergieren. Zuletzt fädelt dieses real gewordene Großprojekt wieder ein in seinen Ursprung. Allwissenheit und Allmacht sind die ersten magischen, dann abstrakten Attribute Gottes. Als was das biologische Auge fungiert in seinem Modus als direkte, weltgerichtete Außenstelle – als Außenposten, organischer Ableger, als Fortsetzung und als nervendich-

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te Aufnahmestation des Gehirns, komprimiert sich im archaischen Konzept der göttlichen Weltperzeption.

Das Menschengehirn ist Gott Spätestens seit Feuerbachs Religionskritik ist Gott als Menschenwerk und Spiegelbild des Menschen enttarnt. Sehen, Hören und Wissen sind Primäraktivitäten des Gehirns. Das legt nahe, dass in dieser entgrenzten Vorstellung von Gott das Gehirn selbst sich transzendiert, sich selbst als allmächtiges Superorgan ans Firmament projiziert. Vor der Fiktion des abstrakten, vergeistigten Monogottes waren es anfangs ohnehin zuerst wirkliche Menschen – Helden zwar, die bereits rudimentär divinisiert waren und von den Mythen als Sternbilder an den Nachthimmel outgesourced wurden. Als klassizistische Maler das Motiv der Apotheose wiederentdeckt hatten, malte Ingres Mitte des 19. Jahrhunderts die triumphale Himmelfahrt Napoleons I.. Die leere disponible Zone zwischen Profanität und Heiligung, Fleisch und Astralkörper, Welt und Himmel besetzen solche Apotheosen als ideologisch-zensierte Vermittlungsinstanz zwischen dem Gehirn, wie es sich als fleischliches wahrnehmen muss, und dessen das Fleisch übersteigende Hybris. Weiter denken lässt sich letzteres zu der nur auf den ersten Blick abenteuerlich anmutenden These, dass das sich selbst bis zu seiner Heiligung idealisierende Gehirn – unter der Bedingung einer unhintergehbaren Immanenz – seinen profanen Anteil unterwirft und für die Heiligung seines idealisierten, transzendierten Anteils Kultstätten, also für sich selbst aufrichtet, sich selbst anruft und sich selbst anbetet. Was diese Unterwerfung und Verehrung plausibel erscheinen lässt und legitimiert, ist der genetisch codierte Trieb der Vereinmütigung Vieler unter einem exklusiven, quasi monolithischen Marker, wodurch sich in der Imago Gottes nicht nur das Gehirn an sich repräsentiert, sondern ebenso eine Ausprägung eines Alle involvierenden Kollektivgehirns, das sich in den dissoziierten, vielschichtigen Gesellschaften in dem idealisierenden Wunschgebilde Weltgehirn manifestiert. Wo es in seiner göttlichen Selbsterhöhung nur das Produkt seiner Hybris ist, konstituiert es sich allerdings durch einen Riss. Der Baum des Lebens ist nicht der Baum der Erkenntnis – insbesondere nicht der der Selbst-Erkenntnis. So kompakt wie der biblische Mythos bringen es die meisten Ursprungsmythen nicht auf den Punkt, perennieren aber die gleiche vergebliche Hoffnung, mit demselben Narrativ jenen Riss bis zu dessen völliger Negation zu-

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kleistern zu können, den der Mensch, indem er sich aus dem Kontinuum der Natur gekämpft hat, nicht nur sich selbst, sondern auch der Natur beigebracht hat. Auf der Habenseite dagegen verbucht sich der evolutionäre Zugewinn eines allen anderen Lebewesen überlegenen Gehirns, das sich aufwarf, die Natur zu beherrschen. Eine Überwindung, ein Sieg und eine Herrschaft die taumeln machen und im Größenwahn der Selbstapotheose des Gehirns kulminiert. Diese göttliche Macht, die das Gehirn in einer noch nicht so fernen Vergangenheit unterm Überzug des Magischen von sich abgespalten und in einen unerreichbaren Himmel externalisiert hat, konkretisiert sich heute technisch und technologisch, sodass das menschliche Gehirn seine Gier nach Allmacht so ungetarnt wie unverhohlen umsetzen kann. Das Gottesprogramm ist durch, erfüllt und Realität geworden, braucht keine externe, transzendente Repräsentation mehr. Trotzdem – was zu einem Weltgehirn, das diesen Namen rechtfertigte, sich hätte vollenden müssen, das hätte mit denselben Mitteln, die es zum Weltgehirn machen, den Katastrophenpunkt erkennen müssen, an dem eine Umkehr noch möglich gewesen wäre, um seine ungeheuren technischen Hervorbringungen anstatt gegen die Welt für Natur und Menschheit einzusetzen. Wie es in seiner naturgeschichtlich kurzen Herrschaft diesen Planeten geschreddert hat, zeugt von seiner pathologischen Selbstüberschätzung. Um nicht der Verlockung nachzugeben, zwischen der Relation GehirnKörper und der Relation Weltgehirn-Weltbevölkerung eine zu unterkomplexe Analogie zu konstruieren, genügt es, sich im Klaren darüber zu sein, dass die Neuronen eines individuellen Gehirns nicht vergleichbar sind mit den Milliarden ausgewachsener und systemisch in sich geschlossener Einzelgehirne. Unterhalb der Metaebene, wo die Interaktion von Technik, Digitalität und Konnektivität ein Weltgehirn andeutet, funktioniert jedes einzelne biologische Gehirn in sich komplexer als das technisch-konnektive Kollektivoder Weltgehirn. Mit ihrer instrumentellen Überlegenheit über die Natur ist die Spezies an einer Grenze angelangt, ab der sie mit der Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlage bezahlt und wo sie paradoxerweise längst in ihre Selbstvernichtung eingestiegen ist. Aufs Ganze gesehen und unberücksichtigt der letztlich marginalen lebenserhaltenden Strategien, die die Spezies schlechthin anvisieren, dominieren die Fleischfressergene, die das Gehirn zu einer unbezwingbaren Waffe gegen alle anderen Spezies machen. Dass sich die ohnehin unterschiedlichen menschlichen Gehirne – was auch mit dem Absprung aus dem Naturkontinuum zu tun hat – nicht nur in sich widersprüchlich sind, sondern sich auch aufs Extremste in unendlich vielen

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Richtungen individualisiert und spezialisiert haben, lässt jede Utopie einer immanenten Weltharmonie zu einer sektiererischen Träumerei regredieren. Mit diesen sachlichen Voraussetzungen ist es nicht möglich, das Bio-System Körper-Gehirn auf eine kollektive Ebene zu übertragen. Projizieren hingegen ja. Anders als ein individueller Körper, der eine in sich und nach außen abgeschlossene Struktur darstellt, ist die Weltbevölkerung anarchisch, chaotisch und steht einem integrierten Organismus diametral entgegen. Mögen in partiellen Subsystemen auch alte Herden- und Kollektivreflexe und -bindungen wirken, so sind diese zu schwach, um über die System-definierenden Grenzen hinaus, d.h., über den von Feindbildern begrenzten sozialen Innenraum vereinmütigend wirken zu können. Phantasmen wie der faschistische Volkskörper oder Beuys’ soziale Plastik als offene Kreativmasse sind zu kurz greifende Projektionen, um die Massen individueller Gehirne zu einem Übergehirn zu koordinieren. Wo die biologische Tatsache der reversiblen Prozesse zwischen Gehirn und Körper (wobei ersteres bekanntlich steuert) in einer simplifizierenden Analogie auf eine Vielzahl Menschen übertragen wird, läuft das, sofern ideologisch oder politisch motiviert, auf nichts ermutigenderes hinaus als auf Macht, und zwar mit stets totalitärem Kurs, um an dem Punkt wieder einzufädeln, wo Alle von Wenigen diszipliniert und überwacht werden. Die Energie der Utopien ist längst von Dystopien verschluckt. Eine davon, die der Idee eines harmonischen Weltgehirns eine pessimistische Rechnung aufmacht, denkt Christoph Ransmayr in dem Roman »Der Fallmeister: Eine kurze Geschichte vom Töten« medientechnisch und politisch zu Ende. Als literarisches Antimodell eines vereinten Europas entwirft er ein Szenario sich manisch bekriegender Nationalstaaten, deren territoriale Zerrissenheit an das Ergebnis des 30jährigen Krieges erinnert. Die Verkehrs-, Kommunikations- und Überwachungsnetze dienen auf die primitivste Daseinsstufe zurückentwickelter Miniaturmonarchien und Zwergdiktaturen. Infrastrukturell aber läuft alles bestens: Schwebebahnen, Fähren, Wasserstoffbusse, Lichtschranken, Internet. »Vor mir lag ein Puzzle aus fanatischen Zwergstaaten, Scherben eines Kontinents mit ihren alle zwanzig oder dreißig Meilen wechselnden Hymnen, Fahnen, heraldischen Zeichen, Währungen und vielfarbigen Grenzzäunen, die miteinander allein nur durch ihre Armseligkeit verbunden waren. Denn wer in dieser Scherbenwelt nicht das Glück hatte, über kostbare Rohstoffe wie mineralreiches Süßwasser, Metalle, Salze für asiatische Elektronikindustrien oder wenigstens technisch gebildete Arbeitskräfte zu verfügen, konnte

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nur von den Früchten seiner Felder und Gärten leben und musste jedes Verschleißteil seiner bis ins Schrottstadium rosteten Maschinen durch Handarbeit ersetzen.« (Ransmayr 2021: 193f) Von hier nach dort zu gelangen, hatte nichts mehr mit Reisen zu tun, wenn man sich »[…] zwischen Niemandslandstreifen, Tabuzonen, Minenfeldern, Quarantänezonen und von elektrischen Zäunen umsponnenen Hoheitsgebieten bewegte, von denen die meisten so lächerlich klein waren, dass selbst eine Felsentaube mit ihrem unbeholfenen Flug sie innerhalb einer Stunde hätte durchflattern können. Und vor allem, über allem, hinter allem ein dichter Wald von elektronischen oder stählernen Schlagbäumen. […] Aber nun sollte mich der Weg über Land durch die kontinentale Scherbenwelt führen – mit allen ihren brüchigen Allianzen, Barrieren und unterschiedlich entwickelten technischen Überwachungssystemen. […] Die Macht lokaler Sicherheitstruppen, Kontrollposten und Militärs endete am nächsten Grenzübergang ohne Austausch von Informationen mit dem jeweiligen Nachbarn. Denn nahezu jeder Nachbar galt in Zeiten wie diesen als Feind.« (Ebd.195) Die Konnektionstechniken, aus denen der Superorganismus eines Weltgehirns hätte herauswachsen können, werden zu Waffen triebgesteuerter, paranoider Partialgehirne, um die inneren, unterworfenen und fremden Völker zu bekämpfen und tyrannisieren. Selbst derart entsetzliche Bekenntnisse lassen sich verzeichnen als eine komplexe Wendung des Gehirns zu sich selbst, wenn dieses in die unbegrenzte Cloud seiner Selbsterkenntnisse – einschließlich aller sonstigen Widersprüche – auch seine destruktiven und autoaggressiven Kräfte einliest. Es scheint, als verschärfte sich der Antagonismus zunehmend zwischen genetischen Herden-, Gemeinschafts- und Solidaritätsreflexen gegenüber hochspezialisierten Einzelinteressen, als ließen sich Kollektivfunktionen und Partialstreben, Schwarm- und Individualintelligenz nicht mehr miteinander vermitteln, sobald die »Dunbar-Zahl« einer Bindungsgruppe aus 150 bis 200 Subjekten überschritten wird. Dass die Beziehungen zu Anderen überschaubar bemessen sind, begründet Robin Dunbar mit der begrenzten Kapazität der Bindungsenergie. »Der Evolutionsdruck, der bei den Primaten für die Selektion großer Gehirne und hoher Intelligenz sorgte, hatte offenbar mit der Notwendigkeit zu tun, große Gruppen zusammen zu halten.« (Dunbar 2000: 86)

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Allein diese Grenze bestätigt, dass das soziale Gehirn (social brain) in modernen Massengesellschaften die Ansprüche an Bindung und Vergesellschaftung nicht erfüllen kann. Dauerhaft überfordert fehlen ihm taugliche Mittel, um auf die Intensitäten der widersprüchlichen Informationen und Impulse zu reagieren. Da bleibt sich gleich, welche Begriffe gestreut werden – Kollektiv-, Schwarm- oder Supraintelligenz. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten erscheint es absurd, aus kurzschlüssigen Prämissen wie der systemischen Gleichsetzung vergesellschafteter Subjekte mit Neuronen ein emergentes Supergehirn herzuleiten. (Wikipedia: Kollektive Intelligenz) Aus dem traditionslastigen Widerspruch Gesellschaft-Individuum entspringt der nie endende Disput um den emphatischen Begriff Freiheit. Žižek verpackt ihn zusammen mit einem künftigen Menschenbild in eine dystopische Prognose. »Die Aussicht auf die umfassende Digitalisierung des Alltags in Kombination mit dem Scannen unseres Gehirns oder der Überwachung unserer Körpervorgänge mittels Implantate eröffnet die realistische Möglichkeit einer externen Maschine, die uns biologisch und psychisch viel besser kennt als wir uns selbst.« (Žižek ebd. 37) Damit steigt Žižek nolens volens in die posthumanistische Science-Fiction ein. »Wenn also die Entwicklung den Homo sapiens obsolet werden lässt, was wird ihm folgen? Ein posthumaner Homo deus (mit Fähigkeiten, die traditionell als göttliche betrachtet werden) oder eine quasi omnipotente digitale Maschine? Die Singularität (ein globales Bewusstsein) oder eine blinde Intelligenz ohne Bewusstsein?« (Ebd. 40) Wie bei Sloterdijk laufen Evolution und Revolutionen der Technik auch bei Žižek auf die Vergöttlichung des Menschen hinaus, konsequent ausformuliert in dem posthumanen Traum der Abkoppelung der Intelligenz vom Bewusstsein und seinen organischen Substraten. (Vgl. ebd.) Doch die posthumane Option splittet von vornherein das von Žižek als »Singularität« bezeichnete Projekt einer Weltintelligenz in ein Weltbewusstsein und ein Weltgehirn auf, denn die biologischen Energien menschlicher Gehirne lassen sich nicht auf ein allen Menschen gemeinsames Ziel einschwingen. Die Gesellschaft spaltet sich auf zwischen denen, die nach Yuval Noah Harari durch die Verfügung über Biotechnologie und Computeralgorithmen das Wissen eines »Homo Deus« (ebd. 266) erreichen, indem sie Körper und Gehirne herstellen und den Rest der Menschheit zum Aussterben verurteilen. Diesen Zerfall aufzuhalten, sollten wir nach Žižeks Kritik der Genese eines Weltgehirns auf alle Fälle, »[…] die Idee einer einzigen Singularität als neue Form des Göttlichen entlarven und mannigfaltige inkonsistente und widersprüchliche Singularitäten einführen.« Ebd. 106)

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Die gerade noch bizarr anmutende These, dass das Gehirn selbst es gewesen ist, das sich in der Gottesposition installiert hat, wird nun doch immer plausibler, wenn man die kulturelle Entwicklungslinie vom frühen Stadium eines magisch-religiös vergeistigten Gottes in die Zukunft verlängert. Nach der Philosophie des Post- und Transhumanismus befreien sich zuletzt reale Gehirnfunktionen wie Bewusstsein und Intelligenz aus der terrestrischen Unsicherheit. Nach den der Raumfahrt vorauseilenden Visionen sollen die privilegierten Avantgarden sich nirgendwo anders hin absetzen als dorthin, wo einstmals die Götter residierten: In den unendlichen Nichtraum des Universums. Hat das Gehirn mit seiner manischen Selbsterforschung in sich nicht überhaupt das Bedürfnis, ja, die Obsession geweckt, den Gefährdungen des biologischen Körpers zu entfliehen? Oder sind die Voraussetzungen nicht vielmehr umgekehrt zu denken, ob nämlich in der Installation übersinnlicher Gottheiten nicht von vornherein das Programm der Erdflucht eingeschrieben gewesen ist: Auszuexperimentieren, zu erforschen, Projekte voranzutreiben, ob und wie es sich verändern, optimieren und in einem fortgeschritteneren Stadium der Selbsterforschung zu einem autonomen Superorgan mutieren kann? Schon Nietzsche war besessen von diesem Immer-mehr, von den Mutationen und Evolutionssprüngen zum Übermenschen, den, zumindest avant la lettre, allein die biologische Metamorphose des Gehirns gebären sollte. Die Konnektivität von Einzelgehirnen switcht um in emergente Systeme, während das Gehirn als solches längst nicht preiszugeben scheint, wie aus der Dynamik der Neuronen das Bewusstsein herausspringt. Für die Organisation eines Weltgehirns wäre vorauszusetzen, dass die einzelnen Gehirne, die zu dieser Suprastruktur beitragen und sie erweitern prinzipiell mehr integrativ als dissoziativ disponiert sind, und dass ihre kollektivistischen, System-orientierten Kräfte dominanter seien als egoistische Energien. Solche Vorprägungen bzw. Konditionierungen auf spezielle Anforderungen herrschen weitgehend vor, wo spezifische Aufgaben zu erfüllen sind. Ausnahmegehirne modifizieren, optimieren oder revolutionieren die Systeme, in denen sie vernetzt sind. Die dem vorausgehenden Dynamiken heißen Konnektivität und Transformation. Erstere verdankt sich der Leistung der Medien – insbesondere als Effekt der Textualität des Wissens – zweitere folgt der Grundfunktion des Gehirns, Erfahrungen zu adaptieren, zu akkommodieren und sich anzuverwandeln, um Neues zu schaffen. Die Erkenntnismuster sind nicht nur philosophisch gebahnt aus den bekannten Begriffsoppositionen: Allgemeines vs. Besonderes, Ganzes vs. Einzelnes, Sein vs. Seiendes, langue vs. parole, Objektivität vs. Subjektivität, Masse vs.

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Einzelne, Gesellschaft vs. Individuum usw. Was immer schon größte Kontroversen ausgelöst hat, ist die Frage, ob, und wenn ja, wie und wodurch sich diese – auch hierfür lässt sich ein umfängliches Register aus Synonymen auflisten: Widersprüche, Antinomien, Inkonsistenzen, Antagonismen, Diskrepanzen, Polarisierungen vermitteln oder gar harmonisieren lassen. Für Žižek bedrohlich sind Vermittlungsprojekte, die die Verschaltung einzelner Gehirne zum Ziel haben. Die »[…] gigantische ›synchrone‹ kollektive Erfahrung ist ein gefährlicher Mythos.« (Ebd. 108) Wie mit Heideggers ontologischer Differenz, die für Derridas Denken konstitutiv ist, lässt sich die Symmetrie solcher Oppositionen als nur vermeintliche dekuvrieren. Heideggers existenzialistischer Parodist, Sam Beckett, reduziert diese philosophischen Höhenflüge auf das Minimum, dass das Subjekt nicht mehr ist als ein Gefühl, höchstens eine Arabeske, wofür sich Žižek ein wunderbares Zitat aufgehoben hat, »[…] ich bin das Tympanon, einerseits ist der Schädel, andererseits die Welt, ich gehöre weder zum einen noch zum anderen […]« (Beckett: 1959 zit. ebd. 158)

März 2023. ChatGPT. Instanz und monströser Doppelgänger Autorität und Macht einer Instanz verdanken sich mehr einer bestimmten Kompetenz bzw. zugeschriebenen Kompetenz als der Legitimität, wie sie Institutionen ermächtigt. Gelegentlich zwar auch ein Faktor konventioneller Hierarchien wie etwa der Justiz, mendeln sich Instanzen in der Regel frei heraus aus sozialen Interaktionen. Qualitäten, die sich sukzessive vom Gehirn abgespalten, sich in der Folge aber global etabliert haben, kommt inzwischen der Rang von Instanzen zu. Das gilt insbesondere für die Infosphäre, denn Information ist alles. Ergo, wer sich wie Google die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Informationen der Welt sichert, besitzt auf diesem universalen Feld den Status einer monopolistischen Instanz. Erst innerhalb derer rangieren Datenbanken wie Wikipedia als globale Wissensspeicher oder soziale Netzwerke wie Facebook, die gesellschaftlichen Bindungsenergie generieren, manipulieren und kontrollieren. Unberücksichtigt der Kommunikationsmedien, Unterhaltungsplattformen oder unauffälligeren Tools wie Taschenrechner lässt sich für ein Weltgehirn zumindest der Mangel feststellen, dass diese Fortsetzungen und Totalisierungen verschiedener Hirnfunktionen partielle Systeme sind, die in der Praxis also nicht aufgehen in einer koordinierten Einheit, sondern nur theoretisch als integrativer Superorganismus formalisierbar sind. Wollte man für die Synopse ein vereinheitlichendes

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Moment bzw. eine vereinheitlichende Triebkraft voraussetzen, so könnte man dies der Leistung der Künstlichen Intelligenz zuschreiben. Weder innerhalb noch außerhalb des Internets läuft irgendein ein komplexes, d.h., digitalisiertes System, das nicht auf der Rechenkapazität mehr oder weniger autonomer Algorithmen basierte. Trotzdem es für menschliche Intelligenz kaum unumstrittene Definitionen gibt, genügen für die digitale Externalisierung der Hirnleistungen einfache Parameter wie Signal- und Informationsverarbeitung. Dabei mag gleichgültig sein, in welchen Modifikationen und Anwendungen die KI global aktiv ist. In ihrer Bedeutung als Agens in artifiziellen Komplexen wäre sie der biologischen Intelligenz analog zu setzen – nur wäre die Abstraktion und Separation künstliche vs. menschliche Intelligenz eine unzulässige Idealisierung, wie sie in sozialen Kontexten niemals vorkommt. In den lebenspraktischen Netzwerken haben menschliche und künstliche Intelligenz denselben Status. Während KI bereits seit Langem in alles Mögliche implementiert ist, sodass auch längst kaum mehr eine Alltagsfunktion ohne deren Unterstützung denkbar ist, besetzte dieses drängende Problem kaum je die öffentlichen Displays. Dieses Aufmerksamkeitsdefizit wurde schlagartig bewusst, als das Unternehmen openAI Ende 2022 das textbasierte ChatGPT (Generative Pre-trained Transformer) frei schaltete. Die sogenannten Transformer bilden die Basis eines von Google Brain (sic!) entwickelten Maschinenlernmodells mit der Fähigkeit, sich durch die jeweiligen Inputs selbst zu trainieren. Inzwischen sind neuronale Netze soweit, dass sie autonom lernen. »Als Trainingsdaten diente ein zunehmend umfängliches Textkorpus aus Büchern, Briefen, Wikipedia-Einträgen oder auch literarischen Textsammlungen, darunter das gesamte Gutenberg-Projekt (= alle dt. spr. im Web abrufbaren Bücher, HMH). Menge und Vielfalt der Texte dienen dazu, dass das System die sprachlichen Muster der Texte erkennen und unterscheiden kann: dass Gedichte beispielsweise aus Zeilen bestehen oder dass Fachtexte häufig seltene Begriffe enthalten. Dieser Schritt wird auch als PreTraining bezeichnet, da ein Modell erzeugt wurde, das zwar noch nicht die gewünschte Aufgabe erfüllen konnte, die erhaltenen Modellparameter aber günstige Startbedingungen für ein weiteres Fine-Tuning darstellten.« (Wikipedia: ChatGPT) Der Grund des medialen Schocks durch diese Chatbots ist die Suggestion, mit echten Menschen zu kommunizierten, wenn sich User über Aufgabenstellungen mit dem Programm austauschen. Neben der direkten mündlichen

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Verständigung über Mikro und Lautsprecher verfasst ChatGPT u.a. Texte, Geschäftspläne und Schulaufgaben und, nicht genug damit, analysiert, schreibt und debugged es Computerprogramme. In den Code seiner selbstgesteuerten Lernfähigkeit ist diesem KI-System von vornherein eine expansive Dynamik einprogrammiert, d.h., die Fortschritte gehen potenziell gegen unendlich. Das damals größte im Jahr 2020 veröffentlichte Sprachmodell wurde mit 175 Milliarden Parametern trainiert. Dagegen wird die aktuellste Version von GPT bereits mit 100 Billionen Parametern trainiert, was sich in der Erweiterung der Kompetenzen niederschlägt. GPT 4.0 kann vor allem viel mit Bildern. »[Es] ermöglicht eine Bildeingabe und die Analyse und Beschreibung von Skizzen und Fotos. Es ist möglich, abfotografierte Aufgaben aus Büchern lösen zu lassen. Wissenschaftliche Arbeiten können hochgeladen werden, um eine Zusammenfassung generieren zu lassen. Examensprüfungen konnte GPT-4 bei Tests in den USA mit Auszeichnung erledigen. Komplizierte Steuerfragen werden beantwortet.« (Ebd.) Von sozialen und ethischen Problemen abgesehen, formal sozusagen, hat sich mit ChatGPT in der Tat eine Superstruktur etabliert, die auf die einzelnen, disparaten Regimes (Google, Wiki etc.) zugreift wie ein biologisches Gehirn auf alle in ihm abrufbaren Informationen. Mit ChatGPT ist es nun da, das Weltgehirn an sich. Ein totalitäres technisches Medium erfüllt den alten Menschheitswunsch, eine Instanz der Allwissenheit befragen zu können, wie ihn in der Antike das Orakel von Delphi erfüllte. Sein Kult wurde anfänglich an die Göttin Gaia adressiert, die als personifizierte Erde im Gegensatz zu den für spezifische Fachgebiete modifizierten Göttern einen globalen Horizont abdeckte. In der Welt des Mittelmeers verfügte Gaia über das Prestige eines Megagehirns. Der entscheidende Zweck der Orakelsprüche der jeweils amtierenden Priesterinnen namens Pythia war der Blick in die Black Box Zukunft, was die Kopplung des Priesterinnengehirns mit einem Datenspeicher des Vorauswissens als wiederum einen Effekt der Allwissenheit voraussetzte. Diesen seit jeher notorischen Wunsch, als Mensch den Zugang zu einer Domäne der Allwissenheit zu finden, erfüllt ChatGPT, vor allem viel einfacher. Anstatt sich ausufernden Ritualen zu unterziehen wie auch frei von jedem Misstrauen gegenüber der Zuverlässigkeit trancefördernder Dämpfe aus dem Erdinneren genügt ein idiotensicheres Passwort. Mit der KI, wie sie sich in ChatGPT realisiert, wird nun das menschliche Gehirn plötzlich von der Angst getrieben, sein eigenes Derivat könnte außer

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Kontrolle geraten. Ein und dasselbe Problem, dass nämlich das menschliche Gehirn sich selbst kaum richtig versteht, verlagert sich nach außen in die Technik. Mehr als 1000 Unterzeichnende fordern in einem vom Future of Life Institute in Umlauf gebrachten offenen Brief eine halbjährige Entwicklungspause für fortgeschrittene Systeme der Künstlichen Intelligenz. Einer der prominentesten ist Elon Musk, der nicht nur mit Neuralink, sondern gleichzeitig (4. 2023) mit TruthGPT zu dem von Google und Microsoft promoteten Unternehmen openAI offensiv Konkurrenz ankündigt. Selbst wenn sich zu verschiedenen Gelegenheiten das Bedürfnis artikulierte, als gefährlich eingeschätzte Entwicklungen aufzuhalten – Beispiel: Klonen, Manipulation von Embryonen und Erregern – ist eine solche einverständige Intervention gegen eine innovative Technik ohne Beispiel. Dabei fällt auf, dass neben dem »fachfremden« Historiker Yuval Noah Harari die Zauberlehrlinge selbst für das Moratorium votierten. Dazu gehören u.a. mit dem Chef der Firma Stability AI, Emad Mostaque, dem Apple-Mitgründer Steve Wozniak wie auch mehreren Entwicklern von Googles KI-Tochter DeepMind einflussreiche Akteure aus Forschung und Tech-Szene. Sam Altman von OpenAI hält sich indessen bisher fern. Die Gefahren gegen die die Unterzeichnenden Stellung beziehen, lassen sich auf wenige Punkte verkürzen: Was in den KI Laboren stattfinde, gerate immer mehr außer Kontrolle nicht zuletzt, weil die digitalen Intelligenzen sogar von ihren Designern nicht mehr verstanden würden; Informationen hätten keine Chance mehr gegen die uneinholbare Konkurrenz aus Propaganda, Fakes und Hasskommentaren, wie sowieso und en gros Arbeitsplätze vernichtet würden. Auch in kulturpessimistischen Prognosen offenbarten sich selten so die Widersprüche zwischen den als übergeordnet anzusetzenden Interessen der Gesellschaft als Ganzer wider die Partialinteressen Einzelner, Gruppen und Konzerne. Noch skeptischere Warner prophezeien das Ende der Zivilisation schlechthin. Rettung sollen ExpertInnen bringen mit dem Entwurf und der Durchsetzung von Sicherheitsprotokollen, um die KI-Entwicklung präziser und transparenter zu framen. Ziel ist Überwachung und Kontrolle etwa durch Governance-Systeme, die, was sollten sie auch sonst tun, KI mit KI bekämpfen. Es fragt sich längst nicht mehr, ob KI gut ist oder böse, ethisch korsettiert oder losgelassen. Anbetrachts der beängstigenden Usurpation der Derivate drängt sich in dem Appell, die Entwicklung zu stoppen, ein ganz neuer Widerspruch in den Vordergrund. Hatte das menschliche Gehirn in seiner Geschichte einen Dauerkampf auszutragen mit seinen internen Polarisierungen, den zumeist widersprüchlichen Impulsen, ob den egoistischen oder kol-

Weltnervensystem/Weltgehirn

lektiven Kräften nachzugeben sei, erschließen die No-Limit-Chatbots ein neues, alle bisherigen lebensweltlichen Konventionen, Disziplinen, Erfahrungen, Techniken usw. unterminierendes Bezugssystem. Das durch die externen wie auch internen Ansprüche, denen es seit jeher gerecht werden muss, ohnehin dauerüberforderte Organ hat Instrumentarien hervorgebracht, die ihm nun buchstäblich über den Kopf zu wachsen beginnen. Wofür die moderne Kulturkritik (Adorno, Anders) die zweckvergessene Verselbständigung der Mittel prognostiziert hat, trifft plötzlich mit einer selbst für empfindlichere Zeitdiagnostiker unerwarteten Wucht ein. Das Gehirn, gewöhnt, von immer effektiveren Prothesen gestützt und unterstützt zu werden, schafft sich in den KI-Systemen der neuesten, vor allem der kommenden Generationen einen globalen Doppelgänger. Unversehens gezwungen, sich eines Rivalen zu erwehren, wächst die Angst, der Ausgang dieser Konkurrenz könnte ungewisser sein denn je, sodass sich abzeichnet, es könnte verdrängt werden von seinem maschinellen Antagonisten. Wie der Körper gegenüber Robotern vielfach ins Hintertreffen gerät, so auch in einer ähnlichen Konstellation das Gehirn. Doch sofern Roboter noch beherrschbar erscheinen, gilt das für die KI immer weniger, als wäre das »traditionelle« Gehirn bereits im Begriff, sich selbst abzuschaffen. Ein Gehirn schwarzgrau und vom Volumen einer Gewitterwolke füllt den Bildraum aus. Das alles erschlagende Gebilde schwebt über einem Männchen, das sich in der Art eines Limbotänzers weit zurück beugt, dass es bereits die Balance verloren hat, doch mit dem Finger auf einen Gegenstand links unten in der Bildecke zeigt und »ZURÜCK!!« schreit. Dieser Panik auslösende Gegenstand ist die kleine offene mit »KI« etikettierte Flasche, aus der das monströse Gehirn aufsteigt und sich befreit. Diese Karikatur von Klaus Struttmann (Spiegel online, Anfang April 2023) benutzt das Motiv des Flaschengeistes. Die gerufenen Geister nicht mehr loswerden: In geregelteren Zeiten wurde noch schwer bestraft, wer vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte. Es sind dies keineswegs die einzigen Mythen und dystopischen Fantasien, die den Untergang aus dem hybriden Fortschritt der Aufklärung und Technik prophezeien – nur: Wie ist es möglich, dass das Gehirn darin so früh schon eine Gefahr erkennen konnte?

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Als exemplarischer Gewaltcharakter beschäftigt Achilleus die Nachfolger Homers bis heute. Die Liste der Autoren liest sich beeindruckend. Auf Pindar, Platon, Sokrates, Aristoteles, die bereits in der griechischen Antike den Stoff adaptieren, folgen die Römer Horaz, Seneca, Ovid, Cicero, in der Neuzeit Shakespeare, Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Heine und in der Gegenwart u.a. Christa Wolf, Alban Nikolai Herbst, Madeline Miller. Was Achilleus zu der exponiertesten Figur der »Ilias« gemacht hat, ist der Grund seines Heldentums in einem individuellen Affekt, denn dass Achilleus einem pathologischen Zorn ausgeliefert ist, unterscheidet ihn spektakulär von konkurrierenden Helden und Anführern. In ihm verkörpert sich ein rauschhafter Überschuss, der, damit sich dieses zügellose Temperament ausleben kann, das kanonische Umfeld des Krieges zwar braucht, mit seiner konfliktgeladenen Persönlichkeit jedoch über den Gewaltkontext aus Feldschlachten, Massakern, Vergewaltigungen, Brandschatzungen usw. hinausschießt. Allein die Wendung, dass er sich in die Königstochter der feindlichen Troer, Polyxena, verliebt, macht aus Achilleus einen ambivalenten Charakter in Homers Kriegsepos. Mit seiner amourösen Desertion gibt der griechische Held Polyxenas Bruder Hektor die Möglichkeit, Achilleus‘ Loyalität zu dessen Heer zu untergraben. Eine andere Szene zeigt den Aufbrausenden im gefährlichen Streit mit dem griechischen Anführer Agamemnon, weil er frustriert ist, dass Apollon ihn zur Rückgabe seiner weiblichen Kriegsbeute zwingt, der Lieblingssklavin Briseis. Der Held schmeißt hin, verweigert weitere Kriegseinsätze und schwächt damit das griechische Heer entscheidend. Ewig lang nicht zu besänftigen, bringt endlich der Tod seines Freundes Patroklos den ersehnten Umschwung für die Griechen. Achilleus kämpft wieder. Dass diese Freundschaft nicht frei von sexuellen Grundtönen zu sein scheint, macht sie zu einem weiteren Zeichen der Ambivalenz. Diese Charakterisierungen aber sind stets durchsetzt von der aus einem individuellen Affekt hervorbrechenden Gewalt, deren

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Vehemenz die Figur Achilleus erst ausmacht und ihr diese Epochen übergreifende Attraktivität sichert. Nicht ausschließlich auf Homer referierend, schildert Ranke-Graves Hektors tödlichen Schlag gegen Patroklos. »Doch als Achilleus die Kunde vernahm, warf er sich auf den Boden und gab sich dem Kummer hin.« (Ranke-Graves 1955/2: 299) Gerüstet mit einem »[…] neuen Panzer und einem Paar wertvoller Beinschienen aus Zinn, die Hephaistos in Eile geschmiedet hatte […] ging (Achilleus) daran, den Tod des Patroklos zu rächen. Niemand konnte seinem Zorn widerstehen.« (Ebd.) Nachdem er dreimal um die Stadtmauern gejagt wurde und Hektor sich endlich dem Kampf gestellt hatte, durchbohrte Achilleus die Brust des Widersachers mit seinem Speer. Nicht dieses Finale aber sticht aus dem bis dahin unspektakulären Zweikampf heraus, sondern die sadistische, die eigentliche Rache danach: Achill verweigert dem Gegner die letzte Bitte, nämlich den Körper zur Bestattung freizugeben. »Nachdem Achilleus ihn seines Panzers beraubt hatte, durchschnitt er das Fleisch hinter den Sehnen seiner Fersen. Dann zog er lederne Gurte durch die Schlitze, band sie an seinen Wagen, zäumte Balios, Xanthos und Pegasos an und zog den Körper Hektors in leichtem Galopp zu den Schiffen. […] Doch manche sagen, dass Achilleus den Körper dreimal um die Stadtmauern zog.« (Ebd. 229f) Als wäre diese Strafe nicht schon genug, nimmt die verbitterte Leichenfledderei kein Ende. »Noch immer vom Kummer verzehrt, erhob sich Achilleus jeden Tag zur Zeit der Morgendämmerung und zog Hektors toten Körper dreimal um das Grab des Patroklos.« (Ebd. 300) Trotzdem schließt die Erzählung mit einer edleren Geste des Großmuts, als Priamos, der König der Troer, Achilleus aufsucht, um ihm den Leichnam des Sohnes abzukaufen, um des Nachlebens willen die Bestattungsriten durchführen zu dürfen. Die noble Haltung, mit der Achilleus der Bitte des Königs stattgibt, gilt umgekehrt genauso für »[…] Priamos Großmut gegenüber Achilleus, da er ihn in seiner Hütte schlafend fand und ihn leicht hätte töten können.« (Ebd.) Zwar auf immer mit jenem legendär gewordenen Zorn assoziiert, fällt Achilleus mehr noch durch seine allgemeine Maßlosigkeit aus dem mythischen Normengefüge. Die Amazonenkönigin Penthesileia, im Gewimmel des Krieges eine Widersacherin auf Augenhöhe, wird wie die vielen anderen Feinde von Achilleus im Kampf getötet. »Aber schließlich durchbohrte er sie mit seinem Speer, verliebte sich in ihren toten Körper und beging Totenschändung mit ihm.« (Ebd. 303) Genug ist genug! Nach einer Version des Mythos nimmt Apollon sich der Sache persönlich an und tötet in der Gestalt des Paris den Achilleus, um ihn nicht zuletzt für »[…] gewisse unverschämte Prahlereien zu

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bestrafen, die er die Leiche Hektors geäußert hatte […]. Er traf den einzigen verwundbaren Körperteil des Achilleus, die rechte Ferse. Qualvoll musste er sterben.« (Ebd. 306) Wie der Zorn in Gewalt umschlägt, so blutig wird auch die Rache. Der Psychologe Steven Pinker zitiert den für diese beiden Motivationen archetypisierten Achilleus: »In der Ilias benennt Achilleus einen psychologischen Aspekt der Menschen, den man in den Kulturen auf der ganzen Welt findet: Rache, ›weit süßer als fließender Honig, wallt in der Brust der Menschen auf wie Rauch‹.« (Pinker 2011: 89) Wo andere bekannte Figuren für ihre Übertretungen unmittelbar bestraft werden, ist die Tötung des Achilleus kein auf ein bestimmtes Vergehen folgende Strafe, sondern eine mittelbare, pauschale Vergeltung der Grenzüberschreitungen in dem profanen Krieg um Troja. Eine dieser konventionellen Strafen ereilt z.B. Narziss. Verliebt in sein Spiegelbild, verweigert er sich nicht nur der Liebe als einem menschlichen Grundaffekt, sondern damit auch der Bestimmung sich fortzupflanzen. Darum darf er sein empfindliches Spiegelbild nicht überleben. Ähnlich gegen Ungeschriebenes verstoßend, provoziert der schöne Adonis die tödliche Eifersucht verliebter Göttinnen. Ein weiteres Strafregister ist Kulturheroen wie Prometheus und Ikarus vorbehalten. Sie gefährden die soziale Balance. All diese Figuren verkörpern eine Besonderheit wie übermenschliche Schönheit oder die die Norm übertreffenden Eigenschaften des »großen Einzelnen« wie außergewöhnlichen Mut, Einfallsreichtum, Verstand und Kreativität, wobei Kulturheroen die Menschheit schlechthin auf ein höheres kulturelles und technisches Niveau befördern. Sie repräsentieren einen elementaren Überschuss, durch den sie sich zu dem vermeintlich stabilisierenden Mainstream querstellen. Die Mythen von strafenden Göttern funktionieren als soziales Korrektiv. Wenn die durch keine Instanz in Schach zu haltende Maßlosigkeit gesellschaftliche Demarkationen einreißt, so beschreibt die Figur Achilleus – selbst unter Einrechnung der kriegsbedingten Lizensierung der Gewalt – weit weniger ein mythisch-moralisches Paradigma als die Abgründe eines realen Menschen, der seinen Leidenschaften Anderen wie sich selbst zur Gefahr ausgeliefert ist. Die in den Mythen noch undifferenzierte, amorphe Gewalt lässt sich zweieinhalb tausend Jahre später sozial-psychologisch kategorisieren. Pinker klassifiziert fünf Typen. 1) Praktisch, instrumentell, ausbeuterisch, räuberisch – zielgerichtet und motiviert von Habgier, Wollust, Ehrgeiz; 2) Rivalität und Dominanzstreben; 3) aus Rache, das heißt, symmetrisch mit gleicher Münze heimzuzahlen; 4) Sadismus, der »rätselhaften« Freude, anderen Schmerzen zuzufügen 5) ideologisch mit einer Ansammlung von Motiven

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als Massenphänomen, Viele vereint in einem einzigen, kollektiven Gehirn. (Vgl. ebd. 751f) Das geläufigste, darum für Viele erfahrbarste Motiv dürfte Rache sein. Unberücksichtigt der Nutzlosigkeit des Rachedurstes, »[…] ist das Bedürfnis nach Rache eine wichtige Ursache der Gewalt. Die Blutrache wird in 95 Prozent der Kulturkreise auf der Welt ausdrücklich befürwortet, und überall, wo Stammeskriege stattfinden, ist sie eines der Hauptmotive. Rache ist weltweit das Motiv für 10 bis 20 Prozent aller Morde sowie für einen großen Anteil der Amokläufe und privater Bombenanschläge.« (Ebd. 784) Seit jeher gehört es zu größten Herausforderungen, Rache einzudämmen. Als Kettenreaktion strebt sie mit ihrer symmetrisch-reziproken Dynamik (vgl. Girard 1994: 102) nach unendlich, und das wiederum bedeutet nichts anderes als totale Vernichtung des Objektes. Wie bereits von Homer überliefert, eskaliert sie zu Krieg und Terrorismus, wie sie auch jede Gesellschaft im Inneren gefährdet. »In jedem Gehirn ein Knopf, der sich nur allzu leicht betätigen lässt.« Warum das so ist, exemplifiziert Pinker anhand einer detaillierteren Beschreibung der Aggression verursachenden Hirnaktivitäten. Die Darstellung einer großen Zahl invasiver Experimente und Versuchsanordnungen vermittelt ein differenziertes Bild des menschlichen Aggressionsverhaltens. Z.B. lassen sich vom Aufbau und von den Schaltwegen im Rattengehirn Rückschlüsse auf den Menschen ziehen. Eine zentrale Komponente markiert Pinker im »Wutsystem« als einer »Leitungsbahn, die drei wichtige Strukturen in den unteren Teilen des Gehirns verbindet.« (Pinker ebd. 737) Wutreaktionen sind zwar grundsätzlich gesteuert, was u.U. jedoch nicht viel zu bedeuten hat. Sobald die Inputs von den jeweiligen Gehirnkernen übermittelt werden, sodass sie »[…] die Schmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Hunger, Blutdruck, Puls, Körpertemperatur und akustische Reize (insbesondere das Quieken anderer Ratten) wahrnehmen: (können) alle diese Reize bei dem Tier zu Verwirrung, Frustration und Wut führen. Der Output fließt zu den motorischen Programmen, die dafür sorgen, dass die Ratte ausholt, tritt und beißt. Dass zwischen Schmerzen oder Frustration auf der einen Seite und Aggression auf der anderen eine Verbindung besteht, ist eine der ältesten Erkenntnisse der Biologie der Gewalt.« (Ebd. 737f) Was das Rattengehirn insgesamt organisiert, ist, übertragen auf das Menschengehirn, nur ein Teil, wennzwar ein sehr produktiver, doch eben nicht

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mehr als nur ein Teil, weil »von einem aufgeblähten Großhirn eingehüllt«, (ebd. 742) und das wiederum schließt eine Reihe von Erweiterungen ein. »Die neuroanatomischen Verhältnisse legen die Vermutung nahe, dass die primitiven Impulse von Wut, Angst und Gier sich beim Homo sapiens den vom Großhirn ausgehenden Beschränkungen wie Klugheit, Moral und Selbstbeherrschung unterwerfen müssen – aber wie bei allen Bestrebungen, die Wildheit zu zähmen, ist nicht immer klar, wer die Oberhand behält.« (Ebd.) Eine detailliertere hirnphysiologische Beschreibung dieser systemimmanenten Spannungen sieht mehrere Teile am Werk. Die für das Management der Gefühle maßgebliche Orbitalrinde, die den unteren Rand des Stirnlappens einhüllt, ist verbunden mit der Amygdala, dem Hypothalamus und weiteren Gehirnteilen, die insgesamt die emotionale Dynamik bedingen. »Mit ihrem Input – Bauchgefühle, Gegenstände des Begehrens und emotionale Impulse sowie Empfindungen und Erinnerungen aus anderen Teilen der Großhirnrinde – kann die Orbitalrinde das Gefühlsleben steuern. Bauchgefühle wie Wut, Wärme, Angst und Ekel fließen mit den Zielen des Betreffenden zusammen. […] Ebenso laufen Signale aufwärts in jene Bereiche der Großhirnrinde, die kühle Abwägungen vornehmen und Kontrolle über unser Verhalten ausüben.« (Ebd. 746) Die wesentliche Leistung dieser »primitiven« Orbitalrinde zeigt sich im Verhältnis zu Anderen, wenn sich entscheiden muss, in welche Richtung das Pendel ausschlagen wird: in Aggression oder Harmonie. »Die Orbitalrinde ist also (zusammen mit ihren ventromedialen Nachbarn) an mehreren friedensstiftenden Fähigkeiten des menschlichen Geistes beteiligt, so an Selbstbeherrschung, Mitgefühl für andere und dem Gespür für Normen und Konventionen.« (Ebd. 748) Um zu demonstrieren, mit welchem Erfolg oder Nichterfolg bzw. mit welcher Intensität sich die endogenen Kontrollfunktionen Geltung verschaffen, zitiert Pinker Experimente, die Aufschluss geben über das alltägliche Schuld- und Gerechtigkeitsempfinden. Die Versuchsanleitungen zielen vermehrt darauf ab, das Verhalten in Dilemmasituationen zu erfassen. »Mein ist die Rache«, spricht laut Bibel der Herr. Der göttliche Imperativ bezeichnet das Projekt der Religion, die Kettenreaktion der Rache aus dem gesellschaftlichen Binnenraum outzusourcen an die höchste Instanz, damit das potenziell Alle mit sich reißende »Auge um Auge, Zahn um Zahn« aus dem Chaos der Beziehungen herausgezogen wird. Es kommen beide Prinzipien

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zur Sprache: Die spontane (wie die berechnete Rachetat) und die moralische Kontrollinstitution in einer Gleichzeitigkeit, wie im Gehirn angelegt. Diese endogenen Kontrollfunktionen haben sich übersetzt in komplexe Rechtssysteme mit dem gegen die Blutrache formierten Ziel, Gewalt zu kanalisieren, zu monopolisieren, sie einzugrenzen durch Normen und Gesetze. WHOStatistiken berechnen mit mindestens 38 Typen mehr Modifikationen, als Pinker auflistet. Nachzulesen in dem Bericht »Gewalt und Gesundheit« – verallgemeinert wie in der Präambel eines Gesetzestextes als den »[…] tatsächlichen oder angedrohten absichtlichen Gebrauch von physischer oder psychologischer Kraft oder Macht, die gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt«. (Schultz 2019) Vergleichbar mit der Zahl der Gewaltarten verhält es sich auch mit deren Genese, weil Gewalt »[…] keine einzelne psychologische Ursache hat, sondern mehrere, die nach verschiedenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Um sie zu verstehen, müssen wir uns nicht nur die Hardware des Gehirns ansehen, sondern auch seine Software – das heißt, die Gründe, aus denen Menschen gewalttätig werden. Diese Gründe werden in den Mikroschaltkreisen des Gehirns als komplizierte Muster umgesetzt; wir können sie an den Neuronen selbst ebenso wenig ablesen, wie wir einen Film verstehen, wenn wir eine DVD unter das Mikroskop legen.« (Pinker ebd. 751) Das Problem scheint bekannt. Für das Verständnis der Gewalt scheitern zwingendere Einsichten im gleichen Maß, wie es bisher vergeblich ist, das Bewusstsein aus neurophysiologischen Prozessen zu erklären. Unter ideologischen Gesichtspunkten ist es nötig zu klären, ob, wie von Freud postuliert, unter Aggression ein angeborener Trieb oder ein bedingtes Verhalten verstanden werden muss. Dass Aggression eine natürliche Disposition ist, lässt sich angesichts der evolutionären Vorfahren des Menschen kaum bezweifeln. »Säugetiere bedienen sich unterschiedlicher Körperteile als Angriffswaffen, darunter Krallen, Reißzähne, Geweihe und – im Fall der Primaten – der Hände.« (Ebd. 736) Einzusehen aber ist auch, dass es sich verbietet, diese biologische Ausstattung eins zu eins in den Menschen zu verlängern. Denn immerhin können Schaltkreise, »[…] die diese peripheren Körperteile antreiben, während der Evolution einer Abstammungslinie umprogrammiert oder ausgetauscht werden […].« (Ebd.)

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Ähnlich wie Pinker, dessen Gewaltverständnis sich aus der Hirnforschung ableitet, argumentiert der Neurowissenschaftler Joachim Bauer. In dem Buch »Schmerzgrenze« widerspricht er Freuds Auffassung von einem angeborenen Gewaltinstinkt respektive einem naturgegebenen Aggressionstrieb. Verbreiteten Missverständnissen entgegnend, findet Bauer den bedeutendsten Vorläufer seiner Theorie in Darwin, der als »[…] zentralen menschlichen ›Instinkt‹ nicht etwa die Aggression, sondern das Bedürfnis des Menschen nach Bindung und Zugehörigkeit (beschreibt).« (Bauer 2013/4: 17) Den von Freud in der Anthropologie etablierten Aggressionstrieb erklärt der Neurobiologe unumwunden zum »große(n) Flop der Psychoanalyse«. Während die Insistenz auf der biologischen Unausweichlichkeit menschlicher Gewalt nach Bauer in dem Trauma begründen ließe, dass Freuds Sohn Martin im ersten Weltkrieg verwundet wurde, verdient der Biologe Konrad Lorenz keine mildernden Umstände. Aufgrund seiner »Linientreue in den Jahren des Naziregimes« (ebd. 18) hat die Behauptung eines Aggressionstriebs als »primärer Instinkt« eine legitimatorische Absicht und ist deshalb irreversibel kontaminiert. Nicht grundlos wecken legitimatorische Ansätze und axiomatische Fixierungen Misstrauen, weil sie als self fullfilling prophecies ihre Feedbacks in die Gesellschaft senden. Sein Votum für die Kooperationsbereitschaft belegt Bauer mit Ergebnissen der jüngeren Hirnforschung, die »[…] das Konzept eines primitiven, blutrünstigen, durch einen Aggressionstrieb getriebenen Menschen nicht stützen (kann),« (ebd. 27) was keineswegs aber dazu verleiten sollte, den Menschen »›gut‹ zu beten«. »Doch was in den letzten etwa zwanzig Jahren durch neurowissenschaftliche Studien über die ›Natur des Menschen‹ zutage gefördert wurde, darf ohne Übertreibung als eine Revolution bezeichnet werden. […] Neuere Untersuchungen weisen den Menschen als ein in seinen Grundmotivationen primär auf soziale Akzeptanz, Kooperation und Fairness ausgerichtetes Wesen aus […]«. (Ebd.) Insofern diese Dispositionen keine genetischen wären, bestätigte sich, dass Aggression nicht als eine conditio humana im Sinn einer unbedingten Antriebskraft von vornherein feststünde, sondern ein reaktives Prinzip ist und darum bedingt. Spätestens mit der Entdeckung eines »Motivationssystems« ist das wie von Freud oder Lorenz als dominant vorausgesetzte Aggressionszentrum als Mythos verabschiedet. Dieses System schüttet bei positiven Impulsen vitalisierende und beglückende Botenstoffe aus. Wenn die Aktivitäten der zuständigen Hirnregionen dabei empirisch gemessen werden, gibt sich nichts Geringeres zu erkennen als die menschlichen Grundbedürfnisse – diese allerdings als ein oszillierendes Feld kontroverser Spekulationen mit

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ideologischen, wo nicht diktatorischen Zuschreibungen. Aktiviert wird das Motivationssystem im Mittelhirn durch Erfahrungen, die das Grundbedürfnis nach Kooperation erfüllen und sich in Fairness, Vertrauen und sozialer Akzeptanz äußern. Die ausgeschütteten Botenstoffe erzeugen Lust, Wohlgefühl, Vitalität, während »[u]nprovozierte Aggression bei psychisch durchschnittlich gesunden Menschen nicht zur Ausschüttung von Wohfühlbotenstoffen (führt).« (Ebd. 36) Diese Prämisse leitet Bauers Verständnis des Aggressionsverhaltens, ausschlaggebend dafür die »Schmerzgrenze«. Doch reicht die Zurückweisung des Mythos vom Aggressionstrieb nicht für eine Antwort nicht hin, warum die Gewalt sich in alle Ewigkeit fortzusetzen scheint. Anders als Pinker, der den Rückgang der gegenwärtigen Gewalt in der Gesellschaft gegenüber früheren Epochen belegen will, weist Bauer vor allem nach dem Nationalsozialismus nachdrücklich darauf hin, dass jährlich mehr als eine Million Menschen durch Gewalt das Leben verliert. Um genauer zeigen zu können, dass Aggressivität reaktiv ist, bedarf es einer Beschreibung Gewalt auslösender Reize. In der Tat weiß man heute aus der Forschung, »[d]ass es die willkürliche Zufügung von Schmerzen ist, die bei allen Säugetieren – den Menschen eingeschlossen – zuverlässig Aggression hervorruft.« (Ebd. 48f) Offensichtlich existiert kein neurobiologisches System, das sich nach Bauers Terminologie im Gehirn als zentraler »Aggressionsapparat« lokalisieren ließe, da verschiedene Stimuli aufeinander einwirken auf die Entscheidung pro oder kontra eine aggressive Reaktion. »Die emotionale Sofortbewertung von aus der Umwelt kommenden ›Inputs‹ erfolgt durch die Mandelkerne und die Insulae (sie gehören zum sogenannten ›Limbischen System‹. Abhängig von der Schwere der äußeren Bedrohung werden zusätzliche, tiefer gelegenen Alarmzentren des Gehirns aktiviert (Hypothalamus und Hirnstamm). Vor Herausgabe des ›Outputs‹, also vor einer eventuellen Verhaltensreaktion, durchlaufen die Informationen eine über das Stirnhirn (Präfrontaler Cortex/PFC) ziehende Schleife. Nervennetzwerke des PFC haben Informationen darüber gespeichert, welche positiven oder negativen Folgen sich mit Blick auf das soziale Umfeld aus einem möglichen ›Output‹ (also aus dem Reaktionsverhalten) ergeben könnten. Der Cinguläre Cortex (CC) ist Sitz des emotionalen ›Ich‹.« (Ebd. 54) Diese kurze Beschreibung bildet allerdings nicht viel mehr ab als ein neurophysiologisches Substrat. Dass eine Aggressionstheorie überhaupt brauchbar wäre, erforderte in erster Linie, etwas über die Ursachen herauszufinden, die

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diversen Inputs, mit denen das Gehirn aus den jeweiligen sozialen Umgebungen befeuert wird, sodass das physiologische Basiswissen interdisziplinär aufzustocken wäre um psychologische, soziologische und historische Daten. Wie Pinker stützt auch Bauer sich auf Gewaltstatistiken und psychologische Experimente. So werden für eine allgemeines Bild neben dem Blick auf die individuellen genetischen Voraussetzungen und die Lebensumstände von Tätern die jeweils gesellschaftliche Einstellung zur Gewalt im Zusammenhang mit dem politischen System hinterfragt. Indem Bauer sich als Neurobiologe hauptsächlich auf Hirnfunktionen konzentriert, operiert er mit überschaubareren Daten als Pinker. Letzterer misst dem Gehirn zwar eine nach wie vor wichtige Bedeutung zu, doch mit dem viel weiter gespannten Erkenntnisinteresse an der Gewalt an sich, sammelt und verarbeitet er auch viel umfangreichere Datenmengen. Um die Bedingungen einzugrenzen, unter denen das Gehirn mit expliziter Aggression reagiert, beschränkt sich Bauer auf die »Schmerzgrenze« als primären Auslöser. Entsprechend dem Hauptzweck, »[…] Schmerz abzuwehren, die körperliche Unversehrtheit zu bewahren und lebenswichtige Ressourcen zu verteidigen, (kommt es), (w)enn die Schmerzgrenze tangiert wird, zur Aktivierung des Aggressionsapparates und zu aggressivem Verhalten.« (Ebd. 65) Wie und wo Neurobiologie und Sozialforschung sich überschneiden, verdeutlicht die Tatsache, dass diese Schmerzgrenze bei physischer Gewalt und psychischer Gewalt spürbar wird. »Bei sozial lebenden Lebewesen wie dem Menschen zählen Zugehörigkeit und Akzeptanz zu den lebenswichtigen Ressourcen. Demütigung und Ausgrenzung werden vom Gehirn wie körperlicher Schmerz erlebt […].« (Ebd.) Der Hinweis, es mache für das Gehirn keinen Unterschied, ob Gewalt körperlichen, psychischen oder sozialen Ursprungs ist, gilt für Bauer als »Durchbruch im Verständnis der menschlichen Aggression« (ebd. 59) und entsorgt überholte Auffassungen, nach denen physische Gewalt die grundsätzlich wirkungsvollere sei. Was Nietzsche in einer Art Maxime herausgegeben hat, es gebe keine Notwendigkeit, es exklusiv dem Verursacher zurückzuzahlen, was man im Guten oder Schlechten erfahren habe, ist nichts anderes als das, was Gehirn ohnehin tut. Es verschiebt. Jede aggressive Attacke kann eine Person (bzw. ein sonstiges Ziel) treffen, die nicht verursachend war, also überhaupt nicht die Quelle, die jenen Initiationsschmerz realiter zugefügt hat. Diese Verschiebungen sind es, die viele Gewalttaten, wenn nicht die Verbreitung der Gewalt überhaupt, zu einem unlösbar erscheinenden Rätsel machen. »Weil für Betroffene oft völlig unerklärlich ist, warum gerade sie zu Opfern wurden, entsteht bei ihnen – wie

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bei vielen Unbeteiligten – leicht der Eindruck, dass auch die Tat selbst rational nicht zu erklären ist.« (Ebd. 44) Um Antworten zu finden auf das Warum eines Schulamoklaufs genau wie auf das der Totalität der gesetzlosen Staatsgewalt des Nationalsozialismus »[…] neigen die Menschen dazu, höhere Mächte ins Spiel zu bringen.« Ebd. 45) Sofern es gesichert ist, dass Hirnsysteme hierarchisch strukturiert sind, ist es eine recht überraschende Einteilung, die Bauer trifft, wenn er den »Aggressionsapparat« dem Motivationssystem subordiniert. Demgemäß schuldete sich die übergeordnete Motivation eines Subjekts ausschließlich positiven Erfahrungen. »Der Aggressionsapparat erweist sich, wie wir jetzt erkennen können, als ein Hilfssystem des Motivationssystems: Bindung, Akzeptanz und Zugehörigkeit sind überlebenswichtig. Sind sie bedroht, reagieren die Alarmsysteme des menschlichen Gehirns. Als unmittelbare Folgen zeigen sich Angst und Aggression.« (Ebd. 61, kursiv dort) Der Kursivdruck hebt Bauers Zentralthese hervor. Als »Hilfssystem« erfüllt der Aggressionsapparat die Aufgabe, auf Störungen der sozialen Bindungsenergien zu reagieren, so dass Subjekte, sobald sie Andere als Bedrohung des Sozialverbands identifizieren und ausgrenzen, Aggressionen provozieren. Ebenfalls bemerkenswert ist, Aggression den Kommunikationsmitteln zuzuordnen. »Aggression signalisiert, dass ein von Schmerz und Ausgrenzung bedrohtes Individuum nicht bereit und in der Lage ist, eine ihm zugefügte soziale Zurückweisung zu akzeptieren.« (Ebd. 63) Um das aber zu erfüllen, müsste Aggression bereits als gefilterte und modifizierte manifest werden, denn nur an der Wirksamkeit dieser Kontrolle bemisst sich, ob ein aggressiver Akt konstruktiv oder destruktiv ist. Wenn Alarmsignale nicht greifen, geht es an die Schmerzgrenze, sodass das Gehirn sich mit seinen aggressiven Impulsen auseinandersetzen muss, um zu entscheiden, welche Signale es in die Peripherie schickt. Die Unterstellung einer solchen neurobiologischen Schmerzgrenze ist allerdings kaum mehr als eine Vorannahme, denn als konturiertes Hirnsystem ist sie nicht lokalisierbar. Einen heuristischen Vorteil bringt dieses begriffliche Konstrukt aber durch seine intuitive Plausibilität. Als ähnlich zweckmäßig erwiesen sich auch weniger bildhafte Termini wie Toleranzgrenze, Kipppunkt oder Umschlagpunkt. Hirnphysiologisch lässt sich offensichtlich feststellen, dass die Schmerzgrenze tangierende Erfahrungen, wie gedemütigt oder sehr ungerecht behandelt zu werden, die Ekelzentren im »Aggressionsapparat«

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aktivieren. (Ebd. 41) Während in Situationen, in denen körperlicher Schmerz zu befürchten ist, die Angstzentren in den Mandelkernen mobilisiert werden. »Abhängig von der Schwere der Bedrohung und des Schmerzes aktivieren die Angstzentren zwei tiefer gelegene Alarmregionen des Gehirns, das Stresszentrum (Hypothalamus) und das vegetative Erregungszentrum (Hirnstamm).« (Ebd. 53) Zwar lassen sich Ekel-, Angst-, Stress- und vegetatives Erregungszentrum verorten, im engeren Sinn dagegen aber weder ein konturierbarer Aggressionsapparat noch eine neurobiologische Schmerzgrenze, was deren Plausibilität jedoch keineswegs nicht unbedingt stellt. Um seine Begriffe substanziell zu unterfüttern, umkreist sie Bauer, kontextualisiert sie – zunächst hirnphysiologisch aus der Nähe, und, auf einem anderen Diskursniveau, soziologisch. Weil diese Schmerzgrenze eben auch psychisch affiziert wird, lassen sich subjektive Aggressionstrigger totalisieren. Da »[…] das menschliche Gehirn identische Nervenzellsysteme benützt, um körperliche Schmerzen und soziale Ausgrenzung anzuzeigen, sollte man vermuten, dass die individuelle Sensibilität gegenüber körperlichen Schmerzen jener gegenüber sozialem Schmerz entspricht. Tatsächlich zeigen Personen mit hoher Empfindlichkeit gegenüber körperlichen Schmerzen auch eine höhere Sensibilität gegenüber sozialer Zurückweisung.« (Ebd. 68) Für die sozialen Ursachen individueller Gewalt sei an dieser Stelle die von Bauer betonte Armut zumindest angerissen. Dennoch werden neben den Auswirkungen konkreten Mangels auch Ausgrenzungserfahrungen in Rechnung gestellt. »Eine Situation jedoch, in der die einen Not erleiden, während andere sich reichhaltiger Lebenschancen und guter materieller Ressourcen erfreuen, bedeutet Ausgrenzung und tangiert die Schmerzgrenze.« (Ebd. 66) Statistiken belegen, dass mit den Einkommensunterschieden in einem Land die Rate von Mord und Totschlag korreliert. (Vgl. ebd. 114f) Der sozialen Grenzerfahrung, von ökonomischen Ressourcen, Bildungschancen und/oder Gesundheitsversorgung abgeschnitten zu sein, widerspricht ein aller Unterprivilegiertheit zuwider laufendes fundamentales Bedürfnis: »Das menschliche Gehirn sucht Herausforderungen, will sich an Aufgaben bewähren und toleriert sich daraus ergebende wirtschaftliche Unterschiede zwischen Menschen vor allem dann, wenn offensichtlich ist, dass von Einzelnen erzielte wirtschaftliche Vorteile auf einer entsprechend höheren Leistungsbereitschaft basieren.« (Ebd. 117) Entgegen Bauers vehementer Zurückweisung des »Mythos« eines angeborenen Aggressionspotentials scheinen genetische Dispositionen zur Gewalt inzwischen nachgewiesen zu sein. Unter Imaging Genetics firmiert

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ein Forschungsansatz, um die Wahrscheinlichkeit psychischer Störungen im Zusammenhang mit Genetik untersuchen. Gegenstand sind die Interaktionen zwischen Genen, Gehirn und Umweltfaktoren. Immerhin eruiert Imaging Genetics Risikokomponenten, die mit dem Auftreten eines aggressiven Verhaltensphänotyps korrelieren. Zudem konnte man Faktoren der Vererbbarkeit der einschlägigen Anlagen erfassen. Wie auch von Bauer postuliert, helfen interdisziplinäre Forschungen, »[…] um die Interaktion von gesellschaftlichen und biologischen Mechanismen des Aggressionsverhaltens (und) die Interaktion von gesellschaftlichen und biologischen Mechanismen des Aggressionsverhaltens verstehen zu können.« (Kuner 2012/2013) »Gesellschaftlich« ist gleich »geschichtlich«. Mit diesem Vorverständnis übt Bauer sich im Regress zu einem prähistorischen, vorzivilisatorischen Stadium mit der verklärenden Projektion allerdings, dass frühe Stammeskulturen praktisch gewaltfrei, egalitär und solidarisch organisiert gewesen wären, und die Gewalt erst als infolge der Sesshaftigkeit, Spezialisierung und des Eigentums das Soziale zerrüttet hätte. Die angeführten empirischen Daten der kooperativen Organisation von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften könnten zumindest für den sozialen Binnenraum darauf hindeuten, dass Gewalt keine oder wenn doch, eine relativ seltene Option gewesen sein könnte. So wurde zum Beispiel jeglichem Dominanzstreben vorgebeugt bis dahin, dass »[…] in Einzelfällen Individuen mit nicht zu bremsendem Dominanzanspruch getötet (werden).« (Bauer ebd. 143) Wenn es etwas zu entscheiden gab, dann nur »konsensuell« von der Gruppe. Wahrscheinlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass Bauers Datenmaterial dem gängigen, ideologisch geprägten Bild primitiver Gesellschaften widerspricht, indem davon auszugehen ist, dass die Jagdausbeute solidarisch geteilt wurde und es auch kein Gefälle zwischen Mann und Frau existiert hat, und da überdies alle denselben Risiken ausgesetzt waren, war unabdingbar, dass jedes Mitglied sich bedingungslos mit der Gruppe identifizierte. Realistischer als Bauers Retro-Utopie des friedvollen Stammeslebens jener prähistorischen Gruppen lassen sich Pinkers Spekulationen an: »Jäger und Sammler können um Territorien kämpfen, beispielsweise um Jagdgründe, Wasserstellen, die Ufer oder Mündungen von Flüssen, und die Quellen wertvoller Mineralien wie Flintstein, Obsidian, Salz oder Ocker. Sie können Vieh oder Lebensmittelvorräte rauben. Und sehr oft kämpfen sie um Frauen. Männer überfallen ein Nachbardorf mit dem ausdrücklichen Ziel, Frauen zu entführen. Oder sie begehen den Überfall aus einem anderen

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Grund und nehmend die Frauen als zusätzliche Beute. Oder sie überfallen die Nachbarn, um sich Frauen zu holen, die ihnen als Ehefrauen versprochen wurden und nicht zur vereinbarten Zeit geliefert wurden.« (Pinker ebd. 89) Genauso lässt sich hinterfragen, ob auch jeder innere Konflikt gewaltfrei beizulegen war, vorstellbar ist nämlich, dass Rivalitäten eskaliert sein könnten, oder Umstürze brutal geendet haben. Da die individuellen Kontrollmechanismen a priori sozial gepolt sind, ist es zirkulär, darauf hinzuweisen, dass Bedrohungen nur Andere zum Ziel haben (das Syndrom der Autoaggression wäre als ein Derivat dieses Affekts unterzuordnen). Allein wie diese Kontrollmechanismen sich umsetzen, wie und wann sie sich aktualisieren, bedarf ausholenderer Studien, denn vom Umgang mit Gewalt hängt das Überleben jeder Gesellschaft ab. Wie symbolische, rituelle Gewalt und reale Kollektivgewalt sich ungebrochen und unaufhaltsam bis in die Gegenwart fortsetzen, verdeutlicht Girards Theorie der Gründungsgewalt nicht nur an Beispielen primitiver Sozialverbände, sondern auch für moderne, technisch hochgerüstete Gesellschaften. Das unausrottbare Sündenbocksyndrom, das jede Diskriminierung bis hin zu Lynchmorden antreibt, (vgl. ebd. 567) ist älter als etwa biologischer Rassismus und zieht sich als soziale Conditio durch die Geschichte: Der dämonisierende Antijudaismus respektive Antisemitismus seit dem Christentum, die Pogrome rechtfertigenden Ritualmordanklagen des Mittelalters, die Shoa bis zur antisemitisch konnotierten Verschwörungskriminalität heute. Auch wo sie domestiziert erscheint wie in den hysterisierenden Arena-Wettkämpfen bzw. als symbolisiert in allen narrativen Medien (vgl. Hurka: 1997, 2004) bleibt Gewalt das Substrat zahlreicher sozialer Organisationen. Trotzdem soll auch das Gegenteil nicht übersehen werden, und zwar in allen offensiven Maßnahmen, Gewalt zu beherrschen und zu verhindern. Nach Girard haben Riten und Opferkulte das Ziel, die Binnengewalt einzugrenzen, bilden aber lediglich die niederschwelligste Institution angesichts der elaborierten, komplexen, rationalen – besonders der verschriftlichten Gesetzeswerke und Gesellschaftsverträge seit dem babylonischen Codex Hammurapi. Für Pinker ist »[d]ie Gewalt über lange Zeiträume immer weiter zurück gegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert.« (Pinker ebd. 11) Dem Autor eines 1200-seitigen langen Buches mit Statistiken, der Darstellung und Interpretation psychologischer Experimente, geschichtswissenschaftlicher und soziologischer Belege und nicht zuletzt mit Ergebnissen der modernen Hirnforschung »[…] ist klar, dass schon

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der Gedanke (des Gewaltrückganges, H.M.H.) als solcher auf Skepsis, Unglauben und manchmal auch Verärgerung stoßen wird.« (Ebd. 12) Aus einer ähnlichen Motivation heraus versucht Bauer, einem ideologischen Gewaltfatalismus die vitalen Affekte entgegenzustellen. »Ein wichtiger neurobiologischer Schutzfaktor, der menschliche Gewaltbereitschaft vermindert, ist Vertrauen. Vertrauen lässt sich als gegenseitige Vorhersehbarkeit kooperativen oder unterstützenden Verhaltens definieren, es ist ein Kernelement jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Vertrauen steigert die Ausschüttung von Oxytozin, welches die Ansprechbarkeit des Aggressionsapparates – insbesondere die Empfindlichkeit des Angstzentrums – dämpft.« (Bauer ebd. 119) Mit dieser Argumentation ist es legitim, die Kontrollmechanismen des Einzelgehirns auf die gesellschaftlichen Nahbeziehungen generell hochzurechnen und weiter zu denken zu den verwickeltsten, kompliziertesten sozialen Institutionen der Gewalteindämmung. Was sich für das individuelle Gehirn zumindest theoretisch schematisieren lässt, übersetzt sich global in die unübersichtlichsten, weil über viele Epochen kollektiv erworbenen, wo nicht ohnehin erkämpften Institutionen. Die aus der Dauerbedrohtheit des nomadischen »man the hunted« erlernten Fähigkeiten beginnen mit der Sesshaftigkeit der neolithischen Revolution leerzulaufen, erzeugen aber aus diesem Leerlauf einen Überschuss, der mit der sukzessiven Abnahme der stets lebensbedrohlichen Unwägbarkeiten der Natur Potenziale freisetzt, die es umzupolen gilt, um die vollkommen neuen Herausforderungen einer rapide fortschreitenden Zivilisation zu bewältigen. Das Gehirn will bekanntlich herausgefordert werden. Mit »[…] dem Eintritt ins zivilisatorische Zeitalter hatte das menschliche Gehirn ein Betätigungsfeld gefunden, das unerschöpflich war. Intelligenz, Einfallsreichtum und Kreativität hatten jetzt freie Bahn.« Die Kehrseite: »Entfremdung, Stress und eine massive Aufladung der gesellschaftlichen Situation mit Reizen, die nach dem Gesetz der Schmerzgrenze Aggression fördern. Leistungsprinzip statt einer egalitär definierten Gerechtigkeit, Bindungsarmut und Individualisierung anstatt Gemeinschaft, Konkurrenzneid anstatt Kooperation, Ausgrenzungserfahrungen anstatt bedingungsloser gesellschaftlicher Akzeptanz, der Mensch als Ware anstatt vorbehaltlos Daseinsberechtigung, Machtausübung anstatt Reziprozität. Alle diese fundamentalen Veränderungen standen und stehen konträr zur neurobiolo-

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gischen Konstruktion des menschlichen Gehirns. Der mit der neolithischen Revolution einsetzende zivilisatorische Prozess war der Beginn eines bis heute andauernden Zeitalters der Gewalt.« (Ebd. 160) Mit dieser Reduktion auf plakative sprachliche Gegensatzpaare idealisiert Bauer einmal mehr das prähistorische Hordenleben zu einem gewaltfreien Urzustand. Auch da sind die negativen Auswirkungen einer monokausal hergeleiteten Gewaltgeschichte herausgestellt, der zufolge der Prozess sich nur in die eine Richtung interpretierbar ist, dass, weil die Zivilisation ja irreversibel weiterläuft, auch der Gewaltpegel infinit steigt – bis zur Selbstausrottung der Spezies. Es sieht aus, als wäre das seine Gewaltprogramme ergründende Gehirn überfordert mit den Antagonismen Gewaltzunahme vs. Gewaltverhinderung, notwendige Aggression vs. willkürliche Aggression, strapaziert von dem Paradox seiner genetischen Basis, dass es je nach Umständen sein Überlebenssystem selbst ist, das die Allgemeinheit gefährdet. Darüber hinaus lässt sich, wenn überhaupt, sowieso erst nachträglich beantworten, ab wann, ab welcher Situation, ab welchem Stadium eine ursprünglich partielle (bzw. ursprünglich überlebensnotwendige) Gewalt aus dem Ruder gelaufen ist und immer größere gesellschaftliche Verbände angesteckt und mit sich gerissen hat, und ob für diese chaotischen Prozesse »Eskalation« überhaupt noch der korrekte Begriff ist, es daher also statthaft wäre, mit einem Begriff zu operieren, der »nur« eine graduelle Steigerung meint und nicht die qualitative Wende in den totalen Untergang. Unberücksichtigt der Rückschläge bzw. des kompletten Misslingens, Gewalt zu beherrschen, ließe sich gegen Bauers Zivilisationspessimismus einwenden, dass ein Großteil der geschichtlichen Fortschritte auf das Ziel zugelaufen ist, der Sinnlosigkeit der Gewalt ein Ende zu setzen. Ebenso wie die widersprüchlichen Kräfte das individuelle Gehirn in Anspruch nehmen, reproduzieren und multiplizieren sie sich in den Netzwerken des Weltgehirns, und analog zu den Dynamiken individueller Gewalt lassen sich auch Weltgehirn und Weltgewalt in Beziehung setzen. Das Gehirn bleibt dem paradoxen Kampf um seine Selbsterhaltung ausgeliefert, und was im Kleinen, in persönlichen Streitereien abgeht, übersetzt sich in die vernichtende Totalität der Großkonflikte aus Menschenmassen, Nationen, Imperien. Als planetarischer Parameter treibt der Mangel an Ressourcen den zivilisatorischen Prozess an. »[Dieser] stand und steht im Dienste der Überwindung des gemeinsamen Überlebens unserer Spezies.« (Ebd. 174) Die darauf programmierte Aggression kann nicht anders als destruktiv sein. Zuletzt hängt es jeweils von Standpunkt oder Partei-

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nahme ab, wie ein zielgerichteter Gewaltakt wahrgenommen wird, was auch Widersprüche bedeutet, »[…] die uns permanent vor moralische Dilemmata stellen.« (Ebd.) Von woher immer er sich bedroht fühlen mag – der Organismus aktiviert seine Angst-, Abwehr- und Aggressionsreserven, ohne absehen zu können (bzw. in Kauf nehmen zu müssen), bis wohin die Gewalt, wenn sie erst einmal losgetreten, ausufern wird. Für Girard beginnt jede Vergesellschaftung mit dem Gründungsverbrechen eines konstituierenden Gewaltakts. Die Mythen vieler Kulturen projizieren an den Horizont der Menschheit eine apokalyptische Brandkatastrophe und die Dystopie des Kampfes Aller gegen Alle. Wie alles mit Gewalt beginnt, so endet es auch. Diesseits der Fantasien einer Flucht in transhumane Paradiese bleiben die Auseinandersetzungen profan, irdisch und immer ein Skript der Selbsterkenntnis des Gehirns. In dem totalen Projekt des nach dem »im Jahr 2012 ausgerufenen neuroscientific turn« (Şahinol 2016: 27) mit einem geradezu revolutionären Schwung fortschreitender Selbsterforschung scheint es, als wäre fürs Gehirn das Problem der Gewalt nur ein Gegenstand unter anderen. Bei dieser ungerechtfertigten Anpassung fällt die Diskrepanz auf zwischen dem Mikrofeld der Hirnforschung und der globalen Bedeutung jeglicher nicht institutionalisierten wie institutionalisierbaren Anstrengungen und Maßnahmen, der eigenen Gewalt Herr zu werden. Immerhin misst Bauer dem gesellschafts- und lebenszugewandten Motivationsystem sowie dem Aggressionsapparat den Status zweier Fundamentalsysteme zu, die in Konflikten aktiv werden, aktiv werden müssen, um das Individuum zu befähigen, »[…] eine Abwägung vorzunehmen und mit Blick auf das eigene Verhalten, einen Kompromiss zu wählen, mit dem sich leben lässt.« (Bauer ebd. 107) Sind genau darin individuelles Gehirn und Weltgehirn nicht identisch? Ob die globale Gewaltprävention ein noch offener Prozess ist oder das nie war – aus den Potenzialen des Gehirns wird sich das trotz seiner spektakulären Selbsterkenntnisse vorläufig kaum ablesen lassen.

Zum Transhumanismus und Unschluss

Eine prähistorische Stammesgesellschaft orientiert sich in einem schwach ausdifferenzierten Weltbild. In seinem geschlossenen Kosmos brauchte das magische Denken keine segmentierenden Verfahren, um Lebende, Umwelt, Gottheiten, Dämonen und Tote voneinander zu trennen. Kongruent mit der imaginären Welt der Glaubensinhalte waren Praktiken der materiellen Reproduktion. Das waren Technik, Körperlichkeit, Sexualität, Gebären und medizinische Maßnahmen. Heiliges und Profanes waren eins. Mit dem Bevölkerungswachstum vergrößerten sich die Siedlungen bis hin zu den Massengesellschaften der antiken Stadtstaaten, sodass sich mit der Gesellschaft notwendigerweise auch die Weltbilder ausdifferenzierten. »Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, – die einen lässt er Sklaven werden, die anderen Freie.« (Heraklit ebd. 19) Heraklits soziologischer Einsicht ist nichts hinzuzufügen, denn für die frühen Stadtzivilisationen waren Eroberungskriege konstitutiv. Der wachsende Reichtum der Städte schuldete sich nicht allein Landnahmen und Plünderungen, sondern prominent auch der menschlichen Beute, des Lebendkapitals aus Sklaven. Der etwas grobmotorische Überblick über die frühe Zivilisationsgeschichte soll lediglich die Aufmerksamkeit auf die Dynamik lenken, aus der sich die großen, bis heute bedeutsamen Begriffsapparate heraus gemendelt haben: Mit der fortschreitenden Monotheisierung etwa Unendlichkeit und dem Sklaventum Freiheit wie in der Folgezeit sich zu Diskursen aufsplittende Dispositive wie Immanenz-Transzendenz, Physik-Metaphysik, Eigentum-Besitzlosigkeit, Überfluss-Mangel, Macht-Ohnmacht, Konkretion-Abstraktion, AbsolutheitRelativität und mehr solch einschlägiger Oppositionen, florierend natürlich aus dem vorgängigen und alles grundierenden Gegensatz: Gott-Welt. Diese Dualismen aber sind niemals mehr als der Inklusion in Weltbildern dienende heuristische Konstruktionen. In ihrer Polarisierung sind sie idealisiert und

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virtuell weit hinausgeschoben, wohingegen die Realität diktiert wird von Grenzen. Sobald fundamentalere, d.h., weltanschaulich instrumentalisierbare Begriffsoppositionen die soziale Praxis zu definieren beginnen, psychologisch besetzbar und ideologisch ausbeutbar werden, bündeln sie Energien, die die Gesellschaft polarisieren mit dem Potenzial, das Ganze zu gefährden. Wollte man hinter diese Dualismen zurück, und zwar in eine Phase vor jenem Denken in Gegensätzen, (dessen Spur die Sprache aufbewahrt wie im lateinischen Adjektiv »altus« = »hoch« und »tief«) ließe sich für dieses Stadium vorstellen, wie sich mit dem aufkeimenden Bewusstsein für Gegensätze die Grenze als eine im weitesten Sinn politische Kategorie durchsetzen musste, und das wiederum hieße immer mindestens zwei Terrains. Nach dem populären Einwand Hegels gegen Kant ist mit dem Diesseits einer Grenze von vornherein und per definitionem auch deren Jenseits gegeben. Eine Grenze ist es indessen nur dann, wenn sie auch überschritten werden kann. Indem Hegel die Überschreitung dem Denken zuschreibt, konnotiert das über diese wichtigste Hirnfunktion hinaus den generellen Appell, auch zu handeln. »Zwar von einer elementaren Kraft und selbst als scharfer Einschnitt ist die Grenze ein Phänomen nahe dem Nichts und provoziert vor allem eins: Überschreitung; ›In dieser Schmalheit der Linie zeigt sie sich blitzartig als Übergang‹. Foucault geht weiter als Hegel, indem er eine Manie, ja einen Wiederholungszwang der Überschreitung diagnostiziert.« (Foucault 2003: 68, zit. bei Hurka 2018: 109) Die »Schmalheit der Linie« – schon im Ursprung vakante Demarkationen provozieren Konzepte des Überstiegs, treiben voran, Grenzen, wo nicht zu verschieben, komplett zu überwinden. Grenzen bestimmen auch das Innere: Als eine Grenze empfindet sich immer auch der Mensch selbst in seiner Unzulänglichkeit, seiner Insuffizienz, die seine stets das Absolute antizipierenden technischen, kulturellen und politischen Projekte bis zum Größenwahn kompensieren müssen, was naturgemäß uns Sterbliche selbst erfasst und mitreißt, sodass es konsequent ist, mit unvermeidlicher Emphase einen Neuen Menschen zu imaginieren. Diese zunächst nur eine vage Zukunft voll intuitiver Illustrationen vorwegnehmenden Entwürfe waren jedoch noch nie so euphorisch wie in der High-Tech-Realität ab 20. Jahrhundert. Die Unterstellung, der Mensch sei ein Mangelwesen, sündig und promiskuitiv, mündete schon früh in Affektkontrolle, Steuerung des Begehrens, Zügelung der Leidenschaften und Begierden, um die Homöostase eines idealen Seelenfriedens zu erreichen. Ein auf Lust und Genuss gepolter Körper war dem Willen zu unterwerfen. Dieser setzt sich selbst und aus sich heraus Grenzen – Überschreitung inbegriffen, versteht

Zum Transhumanismus und Unschluss

sich. Der von der Stoa beeinflusste Apostel Paulus liefert den ersten Beleg, dass die menschliche Insuffizienz nur ein vorläufiger und deshalb zu überwindender Zustand sein dürfe: »Legt den alten Menschen ab […] und zieht den Neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.« (Epheser 4, 22–24 zit. bei Schröder 1999: 13) Die Imago des Neuen Menschen setzt sich fort in eine Utopie, die den schicksalsergebenen Determinismus aufkündigt, wie ihn noch die griechische Tragödie abbildet. Die Projektion Neuer Mensch wird zum Projekt, differenziert sich aus mit den Naturwissenschaften in der Renaissance, treibt die Aufklärung voran, befeuert die Französische Revolution, wird mit Nietzsches Übermenschen zur Obsession, infiziert die russischen Utopisten und Kosmisten über die Oktoberrevolution hinaus bis in die Stalindiktatur und pervertiert sich im Nationalsozialismus. Während der Neue Mensch lange Zeit aus einem sich ändernden Bewusstsein bzw. einer richtigen Lebenshaltung und Lebensweise hervorgehen sollte, befasste Nietzsche sich bereits mit der Praxis, als er den zukünftigen Übermenschen durch Züchtung erzeugen wollte. Wohl hatte der Umwerter aller Werte die Zivilisationsgeschichte im Sinn, die bekanntlich mit der Zucht der Pflanzen und Tiere ihren Ausgang nahm, aber im Vergleich mit aktuellen Technologien noch recht archaisch war, denn Biotechniken, Genmanipulation, Eingriffe ins Gehirn, KI wie die technische Augmentierung des Körpers in Labors und OP-Sälen sind längst nicht mehr nur Science-Fiction. Die ursprünglich vom SF-Genre projektierte und da oft schon vorweg genommene Überwindung biologischer Grenzen ist seit den 1970ern als Trans- oder Posthumanismus philosophisch ausformuliert und übersetzt sich in eine praxisorientierte Sozialtheorie. »Transhumanismus ist eine technokratische Strömung, bei der der Mensch durch Anwendung von Technologie in seinen Fähigkeiten verbessert und erweitert werden soll. Als Fernziel soll der Mensch transzendiert werden, also vollkommen mit einer Maschine verschmelzen.« (Otte 2021: 237) Während der Optimierungszwang der Upgrade-Kultur (vgl. Spreen: 2015) auf körperliche Fitness abzielte – mit der Folge einer fortschreitenden Cyborgisierung –, verursachen die Techniken des Neuro-Enhancements einen entscheidenden Schub zur Überwindung des Menschen in seinem gegenwärtigen Zustand. Ein erster Schwenk in diese Richtung ist die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Das Vorhaben, intelligente Maschinen zu konstruieren, läuft seit 1956 und ist initiiert von »[…] Enthusiasten (mit) der Meinung, innerhalb weniger Jahre Computersysteme realisiert zu haben, die es mit dem Menschen aufnehmen können.« (Otte ebd. 16) Das erforderte aber, Intelligenz allgemein zu definieren, sowie Teilfunktionen der Intelligenz für die Imple-

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mentierung in Computer kompatibel zu machen. Die Frage, wie Denken sich algorithmisieren ließe, führte zu der vorläufigen Lösung, mit wenigstens einer Teilfunktion des Denkens zu operieren: »Wir reduzieren den Begriff der Künstlichen Intelligenz also auf das logische Denken […]. Konkret geht es hierbei um die Fähigkeit des logischen Schlussfolgerns und die Fähigkeit, selbstständig neue Regeln zu generieren. Diese Art der Künstlichen Intelligenz wurde seit dem Jahre 1956 bis spät in die 1980er Jahre geschaffen. Es ist die KI der ersten Welle, die sogenannte deduktive Künstliche Intelligenz. Mithilfe dieser KI konnte man riesige Expertensysteme (Datenbanken mit hinterlegten mathematischen Expertenregeln) aufbauen, automatische Beweise in der Mathematik durchführen und sogar das Schachspielen automatisieren.« (Ebd. 19) Die Weiterentwicklung deduktiver zu induktiven Algorithmen des Maschinenlernens bestimmt die nächste Phase. »Logisches Denken und Lernen können automatisiert werden und die lernende KI ist die KI, die wir seit 20 Jahren im praktischen Einsatz haben, es ist die KI der zweiten Welle«, (Ebd. 20) bald umgesetzt in Chatbots wie Alexa, Siri, ChatGPT für autonomes Fahren, Übersetzungsprogramme und industrielle KI-Systeme. Als nächste Stufe wird eine »kreative Intelligenz« anvisiert, die, so Otte, allerdings eine Kreativität höchstens in numero sein wird, d.h., nicht mehr als eine »Pseudokreativität«. Das Aufsehen, das das Bild »Edmond de Belamy« erregte, nicht nur weil es das erste KI-produzierte Ölgemälde war, sondern auch seine Markttauglichkeit bewies, als es von einem bekannten Auktionshaus sogleich zum Preis von 400 000 Dollar versteigert wurde, hat mit der innovativen Kreativität realer Kunstschaffender nichts gemeinsam. Für »Edmond de Belamy« hat ein Algorithmus archivierte Bilddaten extrahiert, sodass es sich um nichts weiter handelt als den Effekt reproduktiver Rechenoperationen. Im derzeitigen Stadium aber reichen überlegene Rechenleistung und Speicherkapazität noch keinesfalls hin, für die Überwindung dessen, was den modernen Menschen ausmacht, als ein praktikables Konzept einzuschätzen. In kaum eingeschränktem Maß gilt dasselbe für die rekursiven Systeme, mit denen Computerprogramme aus Fehlern lernen. Wie Lernfähigkeit ein Hauptmerkmal der Intelligenz ist, so auch die Wahrnehmung inklusive Verarbeitung von Wahrgenommenem. Zweifellos sind Algorithmen so weit, dass sie ein System befähigen, auf seine Umwelt adäquat zu reagieren. Auch wenn Computer mit Kamera und/oder akustischen Aufnahmefunktionen ihre Umgebun-

Zum Transhumanismus und Unschluss

gen abscannen können, reicht die maschinelle Perzeption an die menschliche noch längst nicht heran. »Wahrnehmung bedeutet vereinfacht gesagt, Informationen aufzunehmen und subjektiv bewerten zu können. Subjektives Bewerten können wir bei Computern jedoch nicht nachweisen, da wir nicht wissen, wie ein Computer ein Signal subjektiv aufnimmt. […] Wahrnehmung wird im Allgemeinen als subjektiver Erlebnisinhalt, als Erkennung der Signale durch kognitive Weiterverarbeitung definiert. Ob Computer das bereits können, ist jedoch strittig […].« (Ebd. 18) Was immer bei einem solchen Prozess messbar wäre wie etwa die Veränderung elektrischer Ströme und dergleichen, genügte den Kriterien für Wahrnehmung nicht. Dass diese grundlegende Anforderung bereits Bewusstseinsaktivitäten voraussetzt, macht sie zu einem Hindernis, das zu überwinden das Gehirn sich bis dato nur erträumen kann. Ohne irgendeine Art Bewusstsein zu entwickeln, werden Maschinen nie menschliches Niveau erreichen, und ohne diese notwendige Bedingung keine transhumanistische Perspektive. Ohnehin wäre das Bewusstsein nur eine Komponente eines globaleren Konzepts, denn »(d)ie Erweiterung oder Steigerung bestehender menschlicher Möglichkeiten wird dabei in den Gesamtkontext des Überschreitens der Grenzen des Menschen überhaupt gestellt. Deshalb heißt es ›Trans-Humanismus‹. Der neuere Transhumanismus stellt insbesondere den Upload des Selbst in smarte Maschinen in Aussicht.« (Flessner 2018: 10) Dieser verkürzte Überblick bezieht sich u.a. auf Nick Bostrom, wo er genauer ausführt, welche Verfahren auf den Transhumanismus zulaufen. Was sich in der transhumanistischen Philosophie artikuliert, ist der Expansionsdrang des Gehirns. Es ist plausibel, dass das Gehirn die größten Chancen, darin weiterzukommen, von den selbst geschaffenen Derivaten erwartet. Dass diese Derivate, Substitute und Supplemente sich wie autonom über den Menschen hinweg entwickelt haben, diagnostizierte Günter Anders schon 1956 als die »Antiquiertheit des Menschen« in einem »promethischen Gefälle« mit der aus diesem Missverhältnis folgenden kollektiv-psychologischen »promethischen Scham«. (Anders zit. bei Flessner ebd. 72) Zwar verlangt so eine Diagnose nach einer Therapie, eine solche aber wäre nach dem kulturpessimistischen Philosophen von vornherein dann zu kritisieren, wenn sie sich in »einem simplen Seitenwechsel« hinüber zu den Apparaten erschöpfe, denn genau diese Mimikry wiederum leiste der Verdinglichung des Menschen Vorschub. »Doch während andere Menschen den Weg unreflektiert

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und gezwungenermaßen einschlagen, haben sich More, Minsky, Kurzweil, Moravec und andere Vertreter des Transhumanismus für diese ›Therapieform‹ entschieden. Eine Therapieform, die ausgezeichnet in das […] kulturelle Klima Südkaliforniens am Ende des 20. Jahrhundert passt: Imitatio maschinae.« (Flessner ebd.) Antizipiert man im Sinne des Transhumanismus in diesem Mensch-Maschine-Verhältnis einerseits die Abwesenheit des Körpers und andererseits, um in dem sich auf seine Expansion selbst konditionierenden Gehirn das eigentliche movens anzusprechen, handelt es sich längst nicht mehr nur um eine »imitatio maschinae«, sondern viel mehr noch um die evolutionäre Verschmelzung von Gehirn und Maschine. Wie die Gewichtung des KI-Themas zeigt, privilegieren die transhumanistischen Zukunftsentwürfe die Intelligenz an sich. Es ist keineswegs Zufall, dass in den Kapitelübersichten des Inhaltsverzeichnisses von Ray Kurzweils Buch »Die Intelligenz der Evolution« von vornherein und axiomatisch in den Vordergrund gestellt wird, dass die Intelligenz das »eindrucksvollste Phänomen des Universums« sei. (Kurzweil ebd. 6 u. 127) Und genauso wenig zufällig erinnert dieses Statement an den alten Neurologenwitz »The human brain is one of the most complex things in the universe […] according to the human brain« – das also befindet kein anderes Subjekt als das Gehirn selbst. Und doch ist für die Argumentationen dieses Buches gerade diese Aussage genau das nicht: Ein Witz. Kurzweil beschäftigt sich ausführlich mit dem Problem, wie sich, bezogen auf die Zukunftsperspektive der KI, die menschliche Intelligenz definieren ließe. Dazu genügt wohl eine einfache Reduktion. »Dass dieses eindrucksvollste Phänomen im Universum, der komplizierte und geheimnisvolle Prozess der Intelligenz, sich nicht durch eine einfache Formal abbilden lässt, scheint naheliegend […] (d)enn zur Lösung eines erstaunlich breiten Spektrums an Problemen ist genau das notwendig: einfache Methoden, kombiniert mit einem hohen Maß an Rechenleistung, ihrerseits ebenfalls ein einfacher Prozess.« (Ebd. 6) Einer dieser Parameter der Einfachheit wäre nach dem Beispiel von Schachprogrammen der Selbstaufruf eines Programms durch rekursive Schleifen bzw. die fortgeschrittenere Technik der Selbstorganisation durch die Imitation der neuronalen Netze des Gehirns im Computer. In der Beschränkung auf die binär funktionierende Informationsverarbeitung, setzt Kurzweil seine Hoffnung darauf:

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»Auf der einen Seite sind menschliche Neuronen komplexer und vielfältiger angelegt, als das Modell es suggeriert. […] Die zentralen Rechenmethoden der Neuronen sind zwar vielfältig, aber relativ unkompliziert. […] Die Methoden sind in ihrer Funktionsweise geklärt und können nun problemlos in Silizium-Bausteine umgesetzt werden. Wenn wir einen Katalog mit den wichtigsten – und einfachsten – Methoden erstellen würden, nach denen die neuronalen Netze in unserem Gehirn funktionieren, wären wir beim Verständnis der menschlichen Intelligenz und in der Fähigkeit, diese nachzubilden und zu übertreffen einen großen Schritt weiter.« (Ebd. 138). Wenn Intelligenz respektive Gehirn einerseits ins Universum expandieren, was Kurzweil nicht auf die Raumfahrttechnik bezieht, sondern um in der »[…] Auseinandersetzung mit intelligenten Entwürfen intelligenter Außerirdischer […] eine gewaltige Ressource künftiger wissenschaftlicher Erkenntnisse auf diesem Gebiet […]« (ebd.) anzapfen zu können, so rückversichert sich laut Kurzweil das Gehirn, auch wenn das seine Autonomie relativiert, indem es sich der Evolution als einem weiteren übergeordneten Prinzip assimiliert. Die wichtigste Aussage aber steht in dem Nebensatz, dass der menschlichen Intelligenz nicht nur die Fähigkeit zuzusprechen sei, sich extern »nachbilden« zu können, sondern vor allem sich mit entsprechender Technik auch »übertreffen« zu können. Es ist offensichtlich, dass der Schluss, »wir« könnten mit zunehmendem Verständnis die Intelligenz »übertreffen«, in logische Kalamitäten führt. Paraphrasiert zu Ende gedacht hieße das: »Wir« als intelligente Spezies verstehen mithilfe unserer Intelligenz unsere Intelligenz. So weit so gut, doch je besser »uns« das gelingt, desto eher übertrifft »unsere« Intelligenz unsere Intelligenz. In einer nach der Subjekt-Objekt-Logik strukturierten Sprache ist das, was Kurzweil zu diesem grammatischen Möbiusband verkürzt, nicht mehr darstellbar. Fraglos sind derlei absurd anmutende Denkfiguren der Grundfrage dieses Buches, ob ein System sich selbst durchschauen könne, nicht gänzlich fremd. Dennoch sollte es dem Anspruch genügen, dass die hier diskutierten Probleme trotz aller das Projekt hintertreibenden Paradoxien wenigstens noch in einer im Sinne Chomskys »akzeptablen« Sprache beschreibbar sind. Was nun den Trans-Humanismus angeht, so bleiben Konzepte des Übertreffens, Überstiegs, der Überwindung und Transzendierung des Menschen durch intelligente Maschinen die theoretischen Dreh- und Angelpunkte. In der Zukunftsvision des Buches »Menschheit 2.0. Die Singularität naht« prophezeit Kurzweil das Jahr 2045, in dem sich die in die Technik fortsetzende Evolution in jener Singularität erfüllt. Diesen nicht gerade neuen Begriff

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wertet Kurzweil um zu einer konstitutiven Kategorie des Transhumanismus. Vereinfacht gesagt, meint Singularität den Zustand, in dem die Progression des Wissens und der technischen Erfindungen einen Intelligenzschub auslösen soll, mit dem die am weitesten gefasste KI der menschlichen Intelligenz so überlegen sein wird, dass sie alles, was sich jemals »Mensch« genannt hat, übertreffen wird. 2005, im Erscheinungsjahr von »Menschheit 2.0«, datierte Kurzweil diesen Quantensprung auf 2045. Um diesem Möbiusband einer sich um und in sich windenden Intelligenz zu entkommen, sollen KI-Systeme die Möglichkeit schaffen, sich in materiellen Derivaten des Gehirns zu potenzieren. Das, so prognostiziert Kurzweil, erfüllten lernfähige Computerprogramme wie etwa durch rekursives »Denken« – realisierbar mit der technischen Imitation neuronaler Netze. Einen ähnlichen Science-Fiction-Topos führt Nick Bostrom in die Diskussion ein. Anstelle des »von einer Aura techno-utopistischen Konnotationen umgebenen« Begriffs der Singularität bevorzugt er »Intelligenzexplosion, insbesondere (mit der) Aussicht auf eine maschinelle Superintelligenz.« (Bostrom 2014: 16) Bahnbrechende evolutionäre Relationen, kündigt Bostrom bereits im Vorwort an: »Und genau wie das Schicksal der Gorillas heute stärker von uns Menschen abhängt als von den Gorillas selbst, so hinge das Schicksal unserer Spezies von den Handlungen dieser maschinellen Superintelligenz ab.« (Ebd. 9) In einem selbstbezüglichen Dialog adressiert Bostrom sein »früheres Ich« (ebd. 10), um Superintelligenz in drei Kategorien einzuordnen: Die schnelle Superintelligenz, die die menschlichen Fähigkeiten an Geschwindigkeit übertrifft; die kollektive Superintelligenz als Produkt durchschnittlicher Intellekte, die aber »jedes andere existierende kognitive System in vielen Bereichen übertrifft« und die qualitative Superintelligenz, die »mindestens so schnell denkt wie ein Mensch und qualitativ erheblich klüger ist.« (Ebd. 80ff) Spekulationen über die Natur der im Nebel der Zukunft verborgenen Superintelligenz setzen zum Beispiel auf zwar defizitäre Gehirne mit gleichzeitig aber kognitiven Sonderbegabungen bzw. auf Tiere mit spezifischen Fähigkeiten, »[…] die nicht einfach von genug neuronaler Rechenleistung oder allgemeiner Intelligenz abhängen, sondern zusätzlich spezialisierte neuronale Schaltkreise erfordern. Diese Beobachtung legt die Idee nahe, dass es mögliche, aber nicht realisierte kognitive Fähigkeiten gibt, die kein Mensch besitzt. Intelligente Systeme (die aber nicht mehr Rechenleistung als menschliche Gehirne zu haben bräuchten), könnten daraus enorme strategische Vorteile ziehen.« (Ebd. 87)

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Nicht weniger spekulativ ist die Hoffnung, dass Wechselwirkungen zwischen den drei Superintelligenzen neue Qualitäten hervorbringen könnten. Auf der abstrakteren Ebene, auf der digitale Algorithmen als »künstliche Intelligenz« funktionieren, sind Gehirn und Intelligenz synonym. Selbst unterm Vorbehalt, dass der Begriff »Elektronengehirn« für die ersten Rechner noch irreführend war, spricht er noch im weitesten Sinn von der Gleichsetzung von Gehirn und künstlicher Intelligenz. Seit neuromorphe Computer die herkömmliche Architektur der Von-Neumann-Maschine übertreffen, ist der Begriff »Elektronengehirn« tendenziell realistisch. Während die ursprüngliche Architektur auf der Arbeitsteilung zwischen Prozessor und Speicher basiert, und der ohnehin energieaufwendige Austausch zwischen diesen Hauptelementen eher langsam abläuft, imitieren neuromorphe Computer die Neuronennetze des Gehirns. Zwar kann die Von-Neumann-Maschine auch vieles von dem, was das Gehirn kann – Rechnen, Speichern usw. – hat mit dem 0/1Alphabet des digitalen Codes mit der Funktionsweise der Neuronen eines organischen Gehirns jedoch nichts gemeinsam. Digitale Intelligenz ergänzt das Gehirn, springt ihm bei – insbesondere mit Rechengeschwindigkeit. »Biologische Neuronen feuern mit einer Höchstgeschwindigkeit von etwa 200 Hz, volle 7 Größenordnungen langsamer als ein moderner Mikroprozessor. Infolgedessen ist das Gehirn gezwungen, sich auf massive Parallelverarbeitung zu verlassen, es ist unfähig zu Berechnungen, die eine große Anzahl von sequenziellen Operationen erfordern.« (Ebd. 90) In weiteren Vergleichen, in denen das Gehirn schlechter als die KI abschneidet, verweist Bostrom auf die »interne Kommunikationsgeschwindigkeit«, die beeinträchtigt ist von der »Trägheit der Nervensignale«, der »Anzahl der Rechenelemente«, der »Speicherkapazität« und der »Zuverlässigkeit, Lebensdauer, Sensoren etc.«, weil Transistoren weder ermüden noch altern. Die Hardware-Vorteile verbinden sich mit Software-Fortschritten bei der Bearbeitbarkeit, Duplizierbarkeit, Zielkoordination, den Möglichkeiten Gedächtnisinhalte zu teilen sowie neue Modulen, um Modalitäten und Algorithmen zu entwickeln. (Vgl. ebd. 91f) Rechenprozesse in Lichtgeschwindigkeit sind nicht mehr genug. Computer sollen mit uns sprechen, autonome Fahrzeuge steuern, selbstständig lernen. Ein Anspruch an innovative Technologien wäre zudem die intuitive Reaktion auf sich verändernde Umweltbedingungen, um zuletzt auch nichtprogrammierte Probleme zu lösen. Leistungen, die von neuromorphen Chips zu erwarten wären. Wie sich organische menschliche vernetzen so desgleichen künstliche Neuronen und Synapsen. Alltagstaugliche neuromorphe Systeme sind derzeit jedoch nicht abzusehen, trotz dass »[…] an der Entwicklung der

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nächsten Computergeneration viele schlaue Köpfe – und damit Billionen und Aberbillionen von Neuronen (mitwirken).« (Beckmann 2020) Für die Konzepte künstlicher oder maschineller Intelligenz schiebt sich begreiflicherweise die natürliche Intelligenz in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen und technologischen Interesses. Da es notwendig ist, die Funktionen der natürlichen Intelligenz so zu formulieren, zu formatieren und zu operationalisieren, dass sie kompatibel werden mit Maschinen, müssen sie auf das reduziert werden, was in Code übersetzbar ist. Je mehr also das Gehirn Vorbild wird, desto signifikanter werden die Schnittmengen zwischen Computertechnik und Neurowissenschaften. Gerade unter dem Aspekt zeigt sich, dass trotz seiner wissenschaftlichen Fortschritte das Gehirn noch recht wenig von sich selbst versteht – bzw. wie Kurzweil es ausdrückt, »preisgegeben« hat. Im Unterschied zur herkömmlichen, medizinisch motivierten Hirnforschung, doch auch zu der (mehr oder weniger) zweckfreien Grundlagenforschung, etabliert sich seit der Produktion künstlicher oder maschineller Intelligenz mit der Instrumentalisierung des Gehirns ein progressiveres Paradigma, denn anders als in den üblichen Diskursen ist inzwischen von nicht weniger die Rede als der »Verfügbarkeit des Gehirns«. (Bostrom ebd. 48) Das meint, neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden in einem neuen Kontext bewertet. Um die Chancen einer dem Gehirn adäquaten KI abzusehen, ist es bei Transhumanisten wie Kurzweil beliebt, auf reale Zahlenverhältnisse abzuheben, d.h., auf die 100 Milliarden Neuronen und deren 100 Billionen Verbindungen im Menschenhirn. (Vgl. Kurzweil 194) Um sich nicht jeglichen Optimismus für den »Bau neuer Gehirne« zu berauben, empfiehlt Kurzweil die »Umkehrtechnik an einem erprobten Modell: dem menschlichen Gehirn«. (Ebd. 196ff; siehe Kap. 10!) Nicht wie sonst üblich würde versucht, das hyperkomplexe Organ im Computer zu reproduzieren, sondern stattdessen, dass »[…] man sich im Computer evolutionärer Prozesse bedient. Man beginnt mit einfachen Formeln, fügt das einfache Verfahren der evolutionären Iteration hinzu und kombiniert dies mit dem schlichten Prozess der Datenverarbeitung.« (Ebd. 197) Es bleibt im Unklaren, wie genau diese Umkehrtechnik zu verstehen ist, wie auch die Aussage über das evolutionäre Prozedere nicht viel hergibt. Anstatt das Gehirn – kein Deut anders als in den Neurowissenschaften – partiell zu analysieren, sollte man von einer Umkehroperation viel eher erwarten können, dass von den technischen Derivaten des Gehirns auf die eben diesen Techniken adäquaten Funktionsweisen rückgeschlossen würde. Zumindest käme dabei eine originelle Feedbackschleife heraus. So aber springt aus

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dieser Aussage nicht mehr heraus als die vage Option, dass eine »Rekonstruktion des menschlichen Gehirns mittels Umkehrtechnik […] realisierbar« wäre. (Ebd. 198) Gleiches könnte auch das einfache Gegenteil bringen, indem man die analysierten Teilbereiche kopierte, was wahrscheinlich im Sinn jener Designer wäre, die mit künstlichen Neuronen arbeiten. Tatsache aber bleibt, dass das »völlige Verständnis des Gehirns« vorerst nur den Horizont der Entwicklung »Hunderter weiterer Formeln« bildet, die zu der definitiven intelligenten Maschine führen. (Vgl. ebd. 167) Um naturgegebene Mängel des Gehirns wie Langsamkeit und Begrenztheit der Speicherkapazität zu kompensieren, wären nach Kurzweil Projekte zielführend, die die überschüssigen Rechenkapazitäten von Computern »[…] im Netz zu einem virtuellen Computer von massiver Parallelität zusammenzuschalten, (sodass) […] ein bedeutender Teil der Millionen Computer im Internet zu einem oder mehreren Supercomputern (zusammengeschaltet wird). Die Summe der ungenutzten Rechenleistung im Internet übertrifft schon heute die Rechenleistung des menschlichen Gehirns, sodass die Hardwarekomponente der menschlichen Intelligenz zumindest in einer Form heute schon zur Verfügung steht.« (Ebd. 172) Die Utopien florieren. So zum Beispiel die »Eroberung« der dritten Dimension durch den »[…] Bau von Chips, deren Schaltungen in Dutzenden und künftig sogar in Tausenden Schichten angebracht sind«. (Ebd. 175) Oder Licht. Statt Elektronen übertragen Photonen die Daten; biologisch – molekular: hierbei »[…] wird versucht, das DNS-Molekül selbst als Mittel der Datenverarbeitung einzusetzen.« (Ebd.). Oder das »Gehirn im Kristall« hieße, »[…] einen Computer direkt als einen dreidimensionalen Kristall wachsen zu lassen, […] bei dem Daten in einem Kristall als Hologramm gespeichert sind – als ein optisches Interferenzmuster.« Die Speicherkapazität: eine Billion Bits pro Kubikzentimeter. (Vgl. ebd. 179) Und nach der »Nanoröhre« dürfen auch Quantencomputer nicht fehlen. Techniken, an denen man beim Erscheinen des Kurzweil-Buches (USA 1999) nicht nur gearbeitet, sondern die man bereits auch angewandt hat. Prinzipiell handelt es sich um Ergänzungen des Gehirns, die zwar noch lange Zeit kein Ersatz sein werden, trotzdem aber unabsehbare Erweiterungen sind und mit herkömmlichen Medientechniken nicht mehr abgleichbar sind jene Computer, die in Kristallen wachsen und/oder Quantenprozessoren mit Qubits in X Zuständen zwischen der digitalen Alternativschaltung von 0 und 1, On und Off : Techniken der nächsten industriellen Revolution, wie Forschende

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meinen. Ohne Zweifel mangelt es den meisten der 8 Milliarden Menschenhirne dieses Planeten, diese avancierten Technologien zu verstehen. Das in diesem Buch mitnichten nur als heuristisch zu betrachtende Avantgarde- und Grenzgehirn, dieses »Allgemein«-Gehirn, das alles »Denkbare« unternimmt, sich selbst zu verstehen, repräsentiert einerseits eine nahezu verschwindende Minderheit und visioniert dennoch bereits Zustände, in denen es sich buchstäblich absolutiert, d.h. wörtlich, sich ab und loslöst aus seiner fleischlichen Abhängigkeit. Bei Fantasiekonzepten wie Hirnemulation – mind uploading, mind copying, mind transfer – lösen sich die Unterschiede zwischen fiktionaler und datenbasierter Wissenschaft auf. Gegenüber »brain« bezeichnet »mind« (»Geist«, »Intellekt«, »Verstand«, »Gedanke«, »Gemüt«) eher die immateriellen Aspekte des Gehirns. Wie allein der sprachliche Ausdruck Bewusstsein schafft und Projektionen auslöst, verdeutlicht die Signifikantenreihe Intelligenz – künstliche Intelligenz – mind uploading – Superintelligenz. Was ursprünglich auf der Erforschung realer Gehirne basierte, generiert immer abstraktere Begrifflichkeiten, sodass, frei nach Deleuze/Guatarri, der Repräsentant das Repräsentierte verdrängt. Das fleischliche Organ, auf das sinnvolle Projekte rückzubeziehen wären, ist praktisch vergessen. Mit dieser terminologischen Abstraktheit lässt es sich müheloser für fiktive Zukunftsprogramme werben wie für das mind uploading, wie sich ebenso spielerisch sich Vorstellungen und Evidenzen evozieren lassen, denn die imaginierten Systeme, die man hochzuladen verspricht, sind von ähnlicher Abstraktheit. Einem intuitiven Verständnis wird eine Kompatibilität suggeriert, die von der Vorstellung der grauen Gehirnmasse mit der zähen Widerständigkeit des Realen unterminiert wird. Ein Stadium weiter als die Cyborgisierung des Gehirns durch Neuroprothesen ist die Plagiierung des Gehirns. Abscannen und Modellieren der interaktiven Strukturen toter Gehirne werfen eine intelligente Software ab, die ihrerseits in leistungsstärkere Softwares zu implementieren wäre. Selbst für die utopistische, in der SF hie und da thematisierte Gehirnemulation bräuchte es keine besonderen Voraussetzungen. Es gelte nur herauszufinden, wie die »[…] menschliche Kognition funktioniert oder wie eine KI zu programmieren ist. Wir müssen lediglich die niedrigstufigen funktionalen Eigenschaften der basalen Rechenelemente des Gehirns verstehen.« (Bostrom ebd. 52) Dieser »Niedrigstufigkeit« stehen gleichzeitig die Ansprüche an eine »avancierte Technik« gegenüber. Durch mikroskopisches Scannen der Gehirnmasse und die entsprechende Übersetzung, »[…] um die Rohdaten in ein interpretierendes dreidimensionales Modell der relevanten neurokomputionalen Elemente

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zu verwandeln«, würde das Simulakrum zu einer adäquaten Hardware konvertiert. Des Weiteren wäre die »[…] Konstruktion einer virtuellen Welt oder eines Roboterkörpers […]« mit künstlichen Sinnesorganen – »relativ simpel und bereits heute grundsätzlich machbar.« (ebd.) In einer tabellarischen Aufstellung sind die Details der einzelnen Technologien gelistet, vom Scannen präparierter Gehirne, bis zur Prozessorleistung mit den Kapazitäten, Körper und Umwelt zu simulieren. (Vgl. ebd.)

Körper vs. Gehirn? Nach medientheoretischer Logik wäre es naheliegend, die upgeloadeten Hirnfunktionen als Gegenpart des Körpers zu bestimmen. In der Realität allerdings lassen sich die Interaktionen zwischen Körper und Gehirn nicht zu trennen, sodass ein derart simplifizierender Dualismus kaum zu verantworten ist. Im Cortex ist bekanntlich der ganze Körper, und zwar Punkt für Punkt als Homunculus auf somatotopen Landkarten repräsentiert. Während man früher davon ausging, dass die Stimulation der betreffenden Areale lediglich Reize auf die mit ihnen verbundenen Muskelgruppen verursacht (»Zucken«), belegen die Experimente von Michael Graziano, dass die Impulse nicht nur bestimmte Muskeln affizieren, »[…] sondern koordinierte Bewegungen des gesamten Körpers (auslösen).« (Wawrzinek 2002) Zudem lassen sich die Abbildungen im somatosensorischen Cortex nicht mit den Proportionen eines Spiegelbilds vergleichen, denn eine Visualisierung des Homunculus im Gehirn könnten wir nur schwerlich als Selbstbild akzeptieren. Die Dichte der Rezeptoren eines Körperteils repräsentiert sich auch im Cortex als verdichtet. Die Finger bilden sich stärker ab, der Bauch mit viel weniger Rezeptoren im Verhältnis schwächer. Diese Diskrepanzen manifestieren sich in der »Form« des Homunculus nach der Ausprägung der jeweiligen Belastungen – beliebt ist das Beispiel der überproportionalen Abbildung von Pianistenhänden. Auch konzentrieren sich im Cortex mehr Nervenzellen von der beweglichen Zunge als der unbeweglichen Nase. Außerdem sind die Inskriptionen genetisch nicht festgelegt, zu erkennen etwa daran, dass nach dem Ausfall eines Körpergliedes das »frei werdende« Areal mit der Zeit beginnt, die Informationen benachbarter Körperglieder zu verarbeiten. Wenn nach Günther Anders der Mensch auf einer klassisch-humanistischen Folie als »antiquiert« gilt, so verifiziert der australische Performancekünstler und bekennende Transhumanist Stelarc diesen philosophischen

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Befund am eigenen Körper, indem er sich mit technischen Apparaturen verschaltet. Mit seinen künstlerischen Experimenten lotet er die Überwindung der leiblichen Physis aus, denn: »Der menschliche Körper ist veraltet.« Dieser Slogan lässt Zweifel zu, ob von einem Körper überhaupt noch zu sprechen sei, wenn dieser sich weder erinnere noch begehre und sich von Gefühlen befreie. (Vgl. Hurka 2018: 133) Wie sich das Programm der Körperüberwindung umsetzt, veranschaulicht beispielsweise die Performance »Ping Body« (Luxemburg, 1995). Über Stelarcs »computer-interfaced muscle-stimulation system« greifen dem Künstler unbekannte Akteure aus dem Internet auf den Körper des Performers zu. Elektroimpulse, die die im Netz sich beteiligenden Akteure verabreichen, lösen über angebrachte Elektroden Nervenreize aus, sodass die jeweils stimulierten Muskeln zucken, und Stelarcs ganzer Körper wie in einem absurden Tanz zappelt. Der Künstler verwandelt sich in eine elektro-gesteuerte Marionette. Über den Reiz der nie gesehenen Sensationen des aktuellen Auftritts hinaus demonstriert die Performance ein künftiges Körperbild aus der Diagnose, dass der menschliche Körper in der Epoche der elektronischen Vernetzung an Bedeutung verliert und zur Manövriermasse wird. Wie Stelarc in seinen bizarren Moves die Befreiung aus der Physis verkörpert, so erreicht er trotz avancierter Equipments aus Elektroden, Kabeln, Boxen, head mounted display, Monitoren etc. lediglich ein technisch, d.h., ein nur quantitativ höheres Level als jenes Froschschenkelexperiment Galvanis von 1780. Der Drang aus dem Körper hinaus, ihn hinter sich zu lassen und ihm zu entfliehen, motiviert sich aus dessen Verletzlichkeit, was das Gehirn als sein größtes Risiko abwehrt: die Hinfälligkeit, das Altern und Sterben. »Das menschliche Gehirn und der menschliche Körper gehören sozusagen zusammen.« (Kurzweil ebd. 219) Sozusagen! Dass dieser Körper, wie Kurzweil kritisiert, zu viel Energie verbraucht, verursachen nicht nur die auf seine Selbsterhaltung und Selbstreproduktion gerichteten physiologischen Prozesse, sondern auch der Energieverbrauch, den er für sein Überleben bezahlt – angefangen bei den äußeren Schutzmaßnahmen über Nahrungsbeschaffung bis zur Fortpflanzung. Ist also, so Kurzweil, das Gehirn erst einmal in Computer transferiert, folgte dem auch zwangsläufig der virtualisierte Körper. »Später im 21. Jahrhundert, wenn Neuroimplantate allgegenwärtig sind, wird man virtuelle Environments schaffen und mit ihnen interagieren können. […] Die neuronalen Implantate werden simulierte Sinneseindrücke des virtuellen Körpers in der virtuellen Welt – und den Körper selbst – direkt

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in das Gehirn übertragen. Man wird dann nicht mehr seinen realen Körper bewegen, sondern den vom Gehirn wahrgenommenen virtuellen Körper. Natürlich werden die virtuellen Welten eine geeignete Auswahl virtueller Körper für ihre Benutzer bereithalten.« (Ebd. 233) Connected mit anderen virtuellen Körpern in gescannten Gehirnen zeichnet sich ein »Matrix«-haftes Weltgehirn ab: »Diesen unmittelbaren Zugang zu unendlich vielen virtuellen Welten zu eröffnen: darin wird die eigentliche Bestimmung des Webs im 21. Jahrhundert liegen.« (Ebd. 234) Was aber beflügelt bei derlei Aussichten auf die wahren, endgültig künstlichen Paradiese den Kulturkampf gegen den Transhumanismus? Der Körper selbst. Und zwar nicht aus dem äußerlichen Grund, dass das Gehirn ihn irgendwie loszuwerden und zu entsorgen trachtet, sondern aus der evolutionären Bedingtheit heraus, dass er nicht Akteur eines dualistischen Systems ist und als eine separate Entität nur einige Zimmer im Großhirn belegt, sondern dass er das Gehirn, wie und was es bis zu diesem historischen Zeitpunkt geworden ist, konstituiert hat. Seine Naturgeschichte bzw. seine Evolution sollte viel tiefer im Gehirn verzweigt und weitläufiger vernetzt sein – vermutlich bis zurück ins Kleinhirn –, als allein mit seinen Repräsentationen in dem naturgeschichtlich späten Cortex, aus dem die Motorik initiiert und gesteuert wird. Die fortgeschrittenen Neuroprothesen mögen suggerieren, der Körper ließe sich technisch substituieren – doch eben nur suggerieren. Es bleibt der Vorstellungskraft überlassen herunterzurechnen, was beim Totalanschluss der Nerven an Rechnernetze für ein gescanntes Gehirn tatsächlich übrig bliebe von dem, was sich einmal Körper nannte. Der Transhumanismus, wie er auch in einschlägigen SF-Entwürfen, lässt sich als ein Zeichen lesen, dass das Gehirn raus will. Ist »man« bereit, sich in die Perspektive des Gehirns zu versetzen, wäre durchaus nicht von der Hand zu weisen, dass die gigantischen Forschungsprogramme und technischen Erfindungen – vor allem der Medien – als Erfolge einer Teleologie des Gehirns zu betrachten wären als Vorlauf jenes vermessenen Zieles der Flucht aus dem Körper und der Mutation zu einem Organ – besser: einer Funktion in einem neuen Kontext und Aggregatzustand. Eine Rechnung ohne den Wirt. Wenn Kritiker des Transhumanismus auf dem Körper respektive Leib oder der Leiblichkeit insistieren, äußert sich in dieser Zurückweisung vor allem (ganz gleich, ob philosophisch oder neurophysiologisch argumentiert) jener innergehirnliche Konflikt. Wie sollte das Gehirn sich von seinen systemischen Voraussetzungen freimachen, davon näm-

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lich, dass der Körpers potenziell in die DNS einer jeden Zelle eingeschrieben ist, es folglich überhaupt nicht möglich wäre, den Körper als eine abtrennbare Gestalt in der Art einer belebten Skulptur oder eines Spiegelbilds zu konstruieren, um diese äußerst simplifizierende, bekannte Alltagserfahrungen lediglich wiederholende Außenansicht in einem dualistischen Modell dem Gehirn als separiertes Vis à vis gegenüber zu stellen. Diese Unmöglichkeit visioniert ein und dasselbe Gehirn, das einerseits zwar nichts als Freiheit will, gleichzeitig aber Bilder der Ganzheit auswirft, um entgegen dem von ihm selbst beschleunigten »Zerebozentrismus« (Fuchs 2020: 179) eine »Person« (persona) zu reklamieren, sich einen Überschuss zu erträumen, der irgendwie und irgendwo sich jenseits des Gehirns akkumuliert: »Dass personale Lebensvollzüge nicht mit Hirnprozessen identifiziert werden können, zeigt sich erst recht, wenn wir über das reine Bewusstsein hinaus die lebendige Realität einer Person ins Auge fassen. Sie beruht offensichtlich auf ihrer Leiblichkeit oder Verkörperung, freilich nicht nur in dem Sinn, dass Bewusstsein einen funktionsfähigen Körper voraussetzt, sondern dass eine Person sich in ihrem Leib realisiert und darstellt […]«. (Ebd. 183) Der Phänomenologe und Psychiater Thomas Fuchs, der hier exemplarisch als Kritiker des zerobrozentrischen Transhumanismus zu Wort kommen soll, weil er aus einer philosophischen Tradition auf Instanzen referiert, die er wie lebendige Person, Selbst, Leiblichkeit vs. Körper, Selbstbestimmung, Bewusstsein oder Freiheit »über« dem Gehirn und über dessen neuronalen Funktionen verortet. Die Hirnforschung blockt er ab, weil er in ihr ein auf die Geisteswissenschaften übergreifendes Paradigma erkannt haben will. Er behauptet z.B. dass »[f]ür die gegenwärtigen Neurowissenschaften der Körper allerdings eine ganz untergeordnete Rolle (spielt).« (Fuchs 191) Mit der »embodied cognitive neuroscience« verweist er zudem auf eine wissenschaftliche Disziplin, »[…] die Subjektivität als verkörpert im gesamten Organismus und als eingebettet in die Umwelt (betrachtet). Bewusstsein sitzt demnach nicht im Gehirn, sondern erstreckt sich über den empfundenen Leib bis in die für uns jeweils relevante Umgebung.« (ebd. 192) So weit nichts Neues. Das Bewusstsein bleibt für die Neurowissenschaften ohnehin eine nicht bewältigte Herausforderung, solange dem Switch von der Physis der Neuronen zum immateriellen Bewusstsein theoretisch und praktisch nicht beizukommen ist. Dementsprechend lautet ein Fazit des Autors, dass die »Selbstbestimmung […] nur dem Organismus als Ganzem zukommen kann bzw. der lebendigen Person.« (Ebd. 213) Die gegen den »Zerebozentrismus« ausgespiel-

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te »Selbstbestimmung« klingt wie das mehr und mehr verhallende Echo eines zentralen Philosophems der Aufklärung. Nach soliden Erkenntnissen der Hirnforschung ist die Autonomie des Subjekts von vornherein eine Illusion, was zuletzt jedoch nicht bedeuten kann, sich dieser Tatsache in einem von Problemen weitgehend diktierten Leben ununterbrochen bewusst zu sein. Wirklich merkwürdig erscheint diese Aussage: »Das Gehirn ist ein Organ der Freiheit, aber es ist nur ihr Organ, nicht ihr Subjekt – Gehirne entscheiden nicht.« (Fuchs 208) Sollte dieses Urteil leicht kryptisch wirken, dann weil das Gehirn tatsächlich und wie aus dem Nichts plötzlich als Subjekt projiziert wird, dieses Subjekt aber, das seine Freiheit anstrebe, genau zum Gegenteil dessen wird, was Fuchs mit seiner anti-zerebozentristischen Mission erreichen will, wobei seine Begriffe sich mit diesen Konnotationen zwangsläufig verzwirnen. Wo folglich wäre sie zu verorten, diese Freiheit des Gehirns? Wenn Kurzweil das Gehirn den Gesetzen der Evolution unterordnet, oder Fuchs im Duktus der traditionellen Philosophie auf nicht-physische Kausalitäten zurückgreift, bleiben auch solcherlei Kopplungen an Sphären jenseits seiner selbst immer noch allein von Gehirn selbst generierte Vorstellungen. Nichtsdestotrotz manifestiert sich in derlei Projektionen auch das »tiefere Wissen« um einen unkontrollierbaren Antrieb, den das menschliche Gehirn mit allen Organismen, mit überhaupt allem teilt, das im weitesten Sinn als lebendige Materie verstanden werden kann: den sogenannten Selbsterhaltungstrieb. Als das treibende Prinzip der Evolution erzeugen diese Konkurrenz und Rivalität wie auch Kooperation, dass das menschliche wie kein anderes Gehirn in der Natur (worin sich die transhumanistischen Hypothesen verheddern müssen) sich in einen ausweglosen Widerspruch manövriert. Weil der Körper in all seinen Funktionen und Dynamiken (primär das vegetative Nervensystem) das Gehirn codiert, ist es stets in Echtzeit informiert über jede Störung und daher immer in Bereitschaft, seine Selbsterhaltungsprogramme hochzufahren. Keinesfalls zu vergessen die Störfeuer des unberechenbaren Begehrens, das im Extremfall bis zur Selbstvernichtung alles aufs Spiel setzt. Gefährdung und Angst mobilisieren dieselben Abstoßungsreflexe, wie sie sich partiell gegen einzelne Organe oder Gliedmaßen richten (müssen), sollten diese so krank, verletzt oder nutzlos geworden sein, dass sie zum Risiko für den Gesamtorganismus werden. Solche Teilabstoßungen kennt man aus der Natur, wenn die Bäume im Winter das Laub abwerfen oder Eidechsen ihren Schwanz zurücklassen, um Fressfeinden zu entkommen. Dieses naturgegebene Abstoßungsprogramm mag seit den Möglichkeiten der Substitution von Gliedmaßen und des Upgrades von Körperfunktionen durch technische und

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elektronische Prothesen offensichtlich kaum mehr den Unterschied zwischen Teil und Ganzem zu erkennen mit der maßlosen Übertreibung, gleich das ganze genetisch so anfällige Gesamtsystem Körper loswerden zu wollen. Motiviert und gebahnt wurden diese Programmpfade während einer bis in die Ursprünge zurück reichenden Erfolgsgeschichte der Abspaltungen, Trennungen, Differenzierungen, die das Gehirn zu dem gemacht haben, was es ist. Allem je Denkbaren voran die Menschwerdung per Abspaltung aus den Zyklen der Natur, zweitens seine »betriebsinterne« Aufspaltung, um sich als sein eigenes Erkenntnisobjekt zu installieren und zuletzt, in der gegenwärtigen dritten Phase unabsehbar, ob nur vorläufig oder auf lange Sicht gelingenden in der vom Transhumanismus postulierten und wie von Stelarc praktizierten Ablösung vom Körper, um sich in vermeintlich stabilere und sicherere Systeme zu implementieren. Im Transhumanismus formuliert das Gehirn ein neues Paradigma, das qualitativ ein ganz anderes anvisiert als das der bisherigen Geschichte seiner Selbsterforschung. Es könnte darum aussehen, als hätte die lange Selbsterforschung mit den aktuell verfügbaren Techniken und Medien ihr Ziel erreicht, als hätten sich ihre teleologischen Projektionen erfüllt, als stünde der angestrebte Überstieg kurz bevor und materialisierte sich mit dem Sprung in die Maschinenmatrix, was bis dahin unter dem Begriff Transzendenz lief. Sollte also der Transhumanismus als Zeichen für das Zuendegehen der zerebralen Selbsterforschung zu lesen sein? Die unüberschaubaren und unabsehbaren technischen Fortschritte, aus denen der Transhumanismus seinen Optimismus bezieht, sind, über die ganze Geschichte gesehen, die Erfolge massenhafter Gehirne. Diese die Menschheit überfordernde Progression schuldet sich dem Automatismus der Selbstbelohnung. Anders als bei Tieren, wo das biochemische System nur belohnt, was durch Nahrungssicherung, Fortpflanzung und territoriale Behauptung der Selbsterhaltung dient, mäandert und wuchert die Funktion der Selbstbelohnung beim Menschen und pusht, weit hinaus über die eingeschränkten Zwecke in der Natur, fast alle Aktivitäten. Der Neurotransmitter Dopamin stellt den Organismus auf eine zu erwartende Belohnungen ein und wirkt dadurch als Suchtauslöser, dass er das Verlangen nach den Wohlgefühlen ankickt, die den Organismus mit der Ausschüttung körpereigener Opiate wie Endorphinen oder Oxytocin in einen Glückszustand versetzen. Der Suchtbegriff trifft den realen Wechsel von ups and downs mit dem Bedürfnis, permanent etwas zu unternehmen, das das Belohnungs- oder Motiviationssystem erregt. Grob neurophysiologisch erklärt, affizieren die Neuronen den Nucleus accumbens, von wo das Glücksgefühl sich zum limbischen System

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und zur Amygdala ausbreitet, die Lustempfindung verarbeitet und das Dopamin ausschüttet, bis dieses nach dem Erreichen des Hippocampus zuletzt in der Großhirnrinde ankommt. Ein »bequemes Leben« macht keine Glücksgefühle. Das Gehirn will sich anstrengen, ist neugierig und will gefordert werden. Um Plastizität und Veränderungen zu initiieren, belohnt sich das Gehirn für alle diesem Zweck förderlichen Aktivitäten. »Die Ausschüttung von Dopamin signalisiert, etwas zu wiederholen, das bereits einmal zu einer Belohnung geführt hat.« (Biesinger 2018: 63) Die Erfolge sind abgelegt in einem Belohnungs- beziehungsweise Suchtgedächtnis. Seit Pawlows Reiz-Reaktions-Schema und Skinners Experimenten der positiven Verstärkung weiß man: Gehirne lassen sich konditionieren. Solche äußerlichen Beeinflussungen kompensieren u.U. einen Mangel an Glückshormonen oder verstärken die endogenen Belohnungsmechanismen. Das Gehirn archiviert die Folgen von Handlungen und kann dadurch selbst für die positive Verstärkung eines seinen jeweiligen Zielen nützenden Verhaltens sorgen. Primär belohnt es Lernerfolge. So codiert es seine Problemlösungen und Schöpfungen immer auch als Lernerfolg. In diesem unentrinnbaren Hamsterrad der Selbstbelohnung potenzieren sich die individuellen wie kollektiven Errungenschaften – technische wie kulturelle zu einer Fortsetzungsgeschichte ohne Limit. In seiner voranschreitenden Selbsterforschung hat das Gehirn wie viele andere Automatismen auch den sich selbst verstärkenden Prozess der Selbstbelohnung aufgedeckt. Dieses System generiert eine signifikantere Konstellation als das für die Verarbeitung der anderen Daten gilt, die das Gehirn über sich selbst sammelt und gesammelt hat. Wo sich diese besondere Konstellation zu einer beinah schon übersteuernden Feedbackschleife verstärkt, bewirkt der biochemische Kreislauf, dass selbst auch Aufschlüsse über das System der Selbstbelohnung Wohlbefinden erzeugen. Wäre es möglicherweise legitim, diesen verwickelten Konnex als eine diskursive, wenn nicht sophistische Wendung abzuhaken, so führt dieses ganz spezielle Wissen dennoch zu der praktischen Konsequenz, dass das Gehirn für seine Selbstoptimierung nutzt. Die verhaltenspsychologische Ratgeber- und Selbstmotivationsliteratur boomt. Angefixte werden versorgt mit Methoden und Tricks zur Selbstverstärkung, erhalten Lektionen, wie man Ziele formuliert und visualisiert, um sich selbst für Erfolge im Job, Leistungssport oder auf den Finanzmärkten zu konditionieren. Für alternativ orientierte Kunden wird Kreativitätstraining beworben stets mit dem Kalkül, das Selbstbelohnungs-

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system permanent anzuspornen und aktiv zu halten mit dem Effekt, dass das Gehirn in der Endlosschleife der sich selbst verstärkenden Lernerfolge auf Dauer keine andere Wahl hat, als sich selbst zu optimieren. In welchen imaginären Buchhaltungen immer die Produkte und Gewinne vermerkt sein mögen: Menschliche Errungenschaften seit dem ersten Triumph über ein Beutetier, vom ersten Steinwurf bis zur Marslandung, vom Faustkeil bis zu den Algorithmen des Drohnenkriegs – Kultur, Wissenschaft, Technik – sie alle zusammen sind die Summe mikrotischer Dopaminkicks. Das zu messen, reicht keine Zahlenfantasie, weil sich auf jedes belohnungsaktivierte Gehirn die Wohlfühl-Gratifikationen der betreffenden Vorgängergehirne übertragen, diachronisch und synchronisch ad infinitum; ein jedes synoptisches Ansinnen verhöhnendes Gemenge aus Numerischem und Qualitativem, Addition und Emergenz. Allein die Arenen des Massensports belegen, wie unterschiedlich die Intensitäten der Selbstbelohnung sind. Generell stellt sich also die Frage, welche Handlungen, Ereignisse und Erfolge die stärkste Dröhnung durch Glückshormone bewirken. Zweifellos stehen Siege ganz oben auf der Skala. Sie versetzen Hirn und Organismus in die stärksten Räusche. Bestätigt wird dieser Befund von dem totalitären Narrativ des Rivalenkampfes. Es kann nur Einen geben! Gehirn konkurriert mit Gehirn mit dem immer gleichen Auftrag, Überleben und Fortbestand zu sichern, d.h., Ressourcen zu erobern bzw. zu verteidigen und von Generation zu Generation sich unendlich zu multiplizieren. Aus dieser Evolutionsbiologie erklären sich die Rangordnungen der Gehirne. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Rivalitäten intra- oder interspezifischer Natur sind. Ausagiert werden sie überall, in jedem gesellschaftlichen System und Subsystem, auf jeder hierarchischen Stufe, was auch bedeutet, dass die Konstellationen sich gleichen – ob aus begünstigten und nicht begünstigten, privilegierten und unterprivilegierten, epochalen und mediokren Gehirnen. Wo nicht von vornherein als Antrieb, sondern wo sie in den meisten Aktivitäten oder Vorhaben zumindest unterschwellig mitläuft, wird Rivalität zu einer Herausforderung, die Fähigkeiten des Gehirns zu steigern. Egoismen können aber auch von übergeordneter Provenienz sein, was die Hoffnung auf einen allgemeinen Altruismus untergraben dürfte. Indem Subjekte einander unterstützen, stärkt diese Kooperation das Kollektiv und zuletzt die ganze Gesellschaft – idealiter die Menschheit überhaupt, deren Teil eben das altruistische Subjekt selbst ist. Was also eingesetzt wird für das Überleben Aller, garantiert in ein und derselben Schleife ebenso das Überleben des Individuums. So ist es mit den Allianzen: »Unsere Motive sind egoistisch, deshalb kooperieren wir«.

Zum Transhumanismus und Unschluss

Eine Maxime, mit der Lynn Bracken (Kim Basinger in »L.A. Confidential«) diese Dialektik auf den Punkt bringt. Der Transhumanismus hat seinen Vorlauf im russischen Kosmismus. Beide Narrative kreisen um ein und dasselbe Zentrum, die Unsterblichkeit. Wie in transhumanistischen Theorien das Gehirn an die Evolution andockt (Kurzweil), so im Kosmismus an das Universum als ontologisches Prinzip; und wie der Transhumanismus von der Digitalisierung den Übertritt des Menschen in einen neuen Zustand erwartet, so der Kosmismus vom Atom. Beide Theorien suchen das eschatologische Heil in der Technik: die kosmistischen in der Raumfahrt, die transhumanistischen im Computer. Indessen sind die Voraussetzungen des Immortalismus sehr unterschiedlich. Wo die Kosmisten rückwärtsgewandt denken und mit der Projektion eines ewigen Lebens im Universum die Wiedererweckung der Toten anstreben, sind Transhumanisten kategorisch zukunftsorientiert. Der Begründer des Kosmismus Nikolaj Fjodorow (1829–1903) propagiert eine »Pflicht der Auferweckung« (Groys/Vidokle 2018: 171), und zwar einer richtigen, d.h., »physischen« Auferweckung mit dem erhabenen Zweck jene fundamentalen (biologischen) Ungerechtigkeit zu kompensieren, dass eine jede Generation parasitär von vorangegangenen Generationen lebt, und diese wiederum durch den unausweichlichen Tod um ihren Profit gebracht wurden. Was die Wiedererweckung der Toten zur moralischen Pflicht macht, ist das Schuldgefühl, dass den Nachkommenden der komplette Gewinn aus den Errungenschaften der Vorfahren zufällt. Die Auferstehung ginge so: »Den Vorgang der ›Wiederherstellung‹ oder ›Wiedererweckung‹ beschreibt Fjodorow ganz mechanisch-materialistisch als Aufspüren, Sammeln und Synthetisieren der verstreuten, individuell geprägten ›Teilchen‹, aus denen die Körper der Verstorbenen bestanden.« Dieser neue Mensch wird dann »› […] geschaffen, nicht gezeugt, und deshalb vollkommen und unvergänglich (sein).‹ […] Bei der Suche nach dem ›Staub der Ahnen‹ werden die Menschen die ›Fesseln der Schwerkraft‹, Ausdruck der Hinfälligkeit und des Todes, überwinden.« (Hagemeister 2018: 173) Das verbürgen die Gesetze des Universums »[…] durch die Bewegung der Moleküle und Atome des ganzen Alls […]« (Fjodorow zit. ebd. 174) Als es zur Abwertung (wo nicht Diffamierung) des Körpers religiöse Weltbilder und Zustände initiierte, transzendierte das Gehirn mit dem Konstrukt der Seele die gesamte Physis, inklusive der eigenen, in eine Art immaterielles Double. Jedoch unfähig, das Konstrukt in eine profane Praxis zu integrieren, bedurfte es mit dem Jenseits eine mit dieser Immaterialität kompatible Sphäre wie auch die Radikallösung der Vernichtung des Körpers, damit der

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finalen Befreiung, die allein der Tod verbürgen konnte. Die moderne Technik eröffnete nun Möglichkeiten, die in alle Ewigkeit irreversibel erscheinende Exterritorialität jenes imaginären Nachlebens sukzessive zu revidieren, um das Körperliche zwar nicht total auszutilgen, sondern, wie im Kosmismus vorgedacht, atomar aufzulösen – plus biblisches Versprechen der Auferstehung der Toten. Von der Erde dorthin, da hat es etwas geradezu Naiv-Poetisches, dass die Kosmisten die Himmelfahrt der Seele an die Raumfahrt delegieren. Wie flexibel das Modell Seele die Epochen überdauert hat, beweist, wie effizient es die Obsession befriedigt, unsterblich zu werden. Rückprojiziert man die Aufspaltung des Menschen in Physis und Immaterielles, so gibt sich zu erkennen, dass das Gehirn mit dem Konzept seiner eigenen Vergeistigung den Quellcode des Dauerprojektes der Immortalität in die Neuronen implementiert hat. Wie viele andere vom Gehirn angestoßene Projekte, wie sie sich in den großen Begriffen niederschlagen, fächert sich auch der Begriff Seele weitläufig auf. Die Differenzierungen lassen sich bis in vorzivilisatorische Zeiten zurückverfolgen. An Definitionen fehlt es jedenfalls nicht; angefangen bei den Mythen, den Religionen, der Philosophie bis zur Psychologie. Dieses Patchwork jedenfalls verbindet, dass »Seele« eine immaterielle Entität bezeichnet mit der notwendigen Konnotation, der unsterbliche Teil des Menschen zu sein. Haben nihilistische Philosophen und den Naturwissenschaften verpflichtete Psychologen diese Grundbedingung in Zweifel gezogen oder negiert, so funktioniert Seele als schwarzes Loch in den Diskursen, das die Signifikanten verschluckt – wie das Gehirn als ein System, das sich selbst verstehen will.

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Literatur

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Philosophie Die konvivialistische Internationale

Das zweite konvivialistische Manifest Für eine post-neoliberale Welt 2020, 144 S., Klappbroschur 10,00 € (DE), 978-3-8376-5365-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5365-0 ISBN 978-3-7328-5365-6

Frank Adloff, Alain Caillé (eds.)

Convivial Futures Views from a Post-Growth Tomorrow April 2022, 212 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5664-0 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5664-4 ISBN 978-3-7328-5664-0

Pierfrancesco Basile

Antike Philosophie 2021, 180 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5946-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5946-1

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Philosophie Pierfrancesco Basile

Antike Philosophie 2021, 180 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5946-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5946-1

Karl Hepfer

Verschwörungstheorien Eine philosophische Kritik der Unvernunft 2021, 222 S., kart., 5 SW-Abbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5931-3 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5931-7

Helen Akin, Cindy Salzwedel, Paul Helfritzsch (Hg.)

Außeruniversitäre Aktion. Wissenschaft und Gesellschaft im Gespräch Jg. 1, Heft 1/2022: kritisch leben April 2022, 194 S., kart., 6 SW-Abbildungen, 10 Farbabbildungen 22,00 € (DE), 978-3-8376-6042-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6042-9

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