Hypnosepolitik: Der Psychiater August Forel, das Gehirn und die Gesellschaft (1870-1920) 9783412218584, 9783412224462

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Hypnosepolitik: Der Psychiater August Forel, das Gehirn und die Gesellschaft (1870-1920)
 9783412218584, 9783412224462

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ZÜRCHER BEITRÄGE ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT, BAND 5

HERAUSGEGEBEN VOM HISTORISCHEN SEMINAR DER UNIVERSITÄT ZÜRICH

HYPNOSEPOLITIK Der Psychiater August Forel, das Gehirn und die Gesellschaft (1870 – 1920)

VON MIRJAM BUGMANN

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2011 auf Antrag von Prof. Dr. Philipp Sarasin und Prof. Dr. Michael Hagner als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Vorderseite: Ausschnitt von der Abbildung aus August Forels Habilitationsschrift »Untersuchungen über die Haubenregion und ihre oberen Verknüpfungen im Gehirne des Menschen und einiger Säugethiere«, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 7 (1877), Tafel VIII (MHIZ PN 31.1:14 (11)). Rückseite: August Forel präsentiert seine entomologischen Forschungen, ca. 1908 (MHIZ PSb Forel). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archivs für Medizingeschichte der Universität Zürich.

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22446-2

Inhalt Einleitung  .. .................................................................................................................. 

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Von der Hirnanatomie zur Psychotherapie

1. Hirnanatomische Forschungen  .......................................................................  1.1 Lehrjahre bei Meynert und Gudden  .. .....................................................  1.2 Forels Beitrag zur Neuronentheorie  .. ...................................................... 

31 31 36

2. Die Wendung zur Psychologie  .. .......................................................................  2.1 Psychologische Therapeutik: Abstinenz, Arbeit und Hypnose  .........  2.2 Einschreibungen: das prägbare Gehirn  .................................................. 

43 43 53

3. Der Hypnotismus  ..............................................................................................  3.1 Charcot und Bernheim: die zwei Richtungen des Hypnotismus  ......  3.2 August Forel als Vertreter von Bernheims Schule  ................................  3.3 Die ärztliche Hypnose-Bewegung  . . .........................................................  3.4 Der Hypnotismus als Weg zum „Unterbewussten“  .............................. 

61 61 65 69 75

4. Bühnenhypnose, Heilmagnetismus und Okkultismus  .. ..............................  4.1 Laienhypnose auf der Bühne  . . ..................................................................  4.2 Die Laienpraktiker des Heilmagnetismus  .. ............................................  4.3 Die okkultistische Herausforderung  . . ..................................................... 

79 80 83 86

5. Karriere und Krise des therapeutischen Hypnotismus  . . ..............................  97 5.1 Kontroverser Hypnotismus  ......................................................................  98 5.2 Entwicklungen der Psychotherapie  .. .......................................................  106 5.3 Hypnosetherapie in den Lazaretten des Ersten Weltkrieges  ..............  112 Hypnotismus im Burghölzli

6. Die ferngesteuerte Klinik  .................................................................................  6.1 Kontrolle ist besser: die Klinik-Hierarchie  . . ..........................................  6.2 Die Patientinnen und Patienten  ..............................................................  6.3 Das Wartpersonal  . . .....................................................................................  6.4 Experimentieren, therapieren und regulieren  .......................................  6.5 Weibliche Körper unter Kontrolle  . . ........................................................ 

119 119 123 129 133 140

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Inhalt

7. Professor Forels therapeutische Hypnosen  .. ..................................................  7.1 Der Hypnotismus als psychiatrische Behandlungstechnik  . . ...............  7.2 Diagnose, Geschlecht, Klasse  . . .................................................................  7.3 Alkoholiker, Perverse und Hysterikerinnen  ..........................................  7.4 Hypnotisierte Männer und therapieresistente Frauen?  ....................... 

145 145 150 154 181

8. Hypnose als performatives Ritual  ...................................................................  8.1 Die Rahmung der Therapie  ......................................................................  8.2 Die Inszenierung der Therapie  . . ...............................................................  8.3 Störungen  ....................................................................................................  8.4 Kontrollversuche  ........................................................................................  8.5 Der Rapport zwischen Hypnosearzt und Patient  .. ............................... 

187 187 190 203 213 223

Das Gehirn und die Gesellschaft

9. Cerebrale Ordnungen  .......................................................................................  9.1 Degenerationsängste, Zivilisationskritik und das Gehirn  .. .................  9.2 Das Verbrechergehirn: Kriminalanthropologie und forensische Psychiatrie  ......................................................................  9.3 Das Geschlecht im Gehirn  .......................................................................  9.4 Das Gehirn als Rassenmerkmal  ...............................................................  9.5 Abnormale Gehirne  . . .................................................................................  9.6 Automatismen, Triebe, Leidenschaft  ...................................................... 

231 233

10. Biopolitische Interventionen  ...........................................................................  10.1 Gehirnhygiene und Reformpädagogik  .. .................................................  10.2 Hypnotismus als Gesellschaftstherapie  ..................................................  10.3 Cerebrale Eugenik  .. .................................................................................... 

261 263 270 275

236 242 247 254 258

Schluss: Das rechte Leben  .. ......................................................................................  283 Dank  ............................................................................................................................  291 Bibliographie  ..............................................................................................................  Ungedruckte Quellen und übrige Archivquellen  ........................................  Amtsdruckschriften und Periodika  ................................................................  Gedruckte Quellen  . . ..........................................................................................  Literatur  .. .............................................................................................................  Internet-Quellen  ................................................................................................ 

293 293 296 296 311 330

Personenregister  . . .......................................................................................................  333

Einleitung Am 13. Januar 1888 meldete sich Georg F. bei der Zürcher Irrenheilanstalt Burghölzli. Freiwillig trete er ein, um sich das „Laster des Trinkens“ abzugewöhnen, vermerkte ein Arzt in der Krankenakte.1 Der 36-jährige Kaufmann hatte sich schon vor seinem Eintritt zu einmonatiger Abstinenz verpf­lichtet und hoffte nun, das Vorhaben mit ärzt­ licher Hilfe umzusetzen. Wenig später hypnotisierte ihn August Forel, der Direktor der Klinik, zum ersten Mal. Wie aus den Eintragungen im Behandlungsjournal der Krankenakte zu folgern ist, entpuppte sich Georg F. als guter Hypnosepatient. Forel hypnotisierte ihn wiederholt und suggerierte ihm, dass er „bei seinem guten Vorsatze, abstinent zu bleiben, verharren und Ekel vor dem Trinken empfinden werde“.2 Die Behandlung scheint erfolgreich verlaufen zu sein, denn am 29. Januar 1888 wurde Georg F. „geheilt“ nach Hause entlassen. Der Arzt hielt anläss­lich des Austrittes fest: „Pat. hatte mit grossem Eifer den Versammlungen des Temperenzvereines beigewohnt. Er tritt mit guten Vorsätzen aus.“ Georg F. blieb seinem Abstinenzvorsatz treu und stand weiterhin mit Forel in Kontakt, wie die Krankenakten zweier anderer Patienten aus dem Jahr 1892 verraten. Diese Patienten schickte Forel „zwecks abstinent­lichen Zuspruchs“ bei F. vorbei.3 Der Westschweizer August Forel (1848 – 1931), dessen Wirken im Zentrum dieser Arbeit steht, war von 1879 bis 1898 Klinikdirektor und Professor für Psychiatrie in Zürich, daneben genoss er als Ameisenforscher, Sexualwissenschaftler und Gehirn­anatom internationales Ansehen. Was im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Psychiater oft nur am Rande erwähnt wird, ist seine Beschäftigung mit dem Hypnotismus. 1888, als Forel Georg F. hypnotisierte, war er in der Anwendung des Hypnotismus noch wenig erfahren. Erst drei viertel Jahre vorher hatte er in Nancy bei Hippolyte Bernheim diese therapeutische Methode kennengelernt, wandte sie in der Folge ausgiebig im Burg­ hölzli an und wurde im Lauf der nächsten Jahre zu einer der zentralen Figuren in der deutschsprachigen ärzt­lichen Hypnosebewegung. Kurz nach seiner Hinwendung zur Hypnosetherapie verabschiedete sich Forel vom hirnanatomischen Labor, das er wie seine Vorgänger am Burghölzli unterhalten hatte. Die Hypnosetherapie zeigt seine Auseinandersetzung mit einer psychologischen Herangehensweise, der er sich wie andere Klinikdirektoren seiner Generation gegen Ende der 1880er-Jahre zunehmend widmete. Corinna Treitel spricht von einem „blossoming of psychological modernism“ um 1900, das auch die Psychiater beeinflusst hatte.4 Gleichzeitig muss diese Neuausrichtung auch 1 StAZH Z 100, KA-Nr. 4591. 2 StAZH Z 100, KA-Nr. 4591, Eintrag vom 19. Januar 1888. 3 Vgl. StAZH Z 100, KA-Nr. 5631, Eintrag vom 1. April 1892, ebenso KA-Nr. 5634. 4 Treitel, A Science for the Soul, S. 30. Vgl. Hagner, Geniale Gehirne, S. 233 f.

8

Einleitung

als Spezialisierungsprozess innerhalb der Medizin und der entstehenden Psychologie gedeutet werden, in der Interessens- und Einflussgebiete abgesteckt wurden. Neben dem Hypnotismus propagierte Forel Abstinenz und Arbeitstherapie als weitere psycho­ therapeutische Mittel. Das neue psychologische Therapieverständnis ging mit einer theoretischen Fundierung einher, die bei ihm aus einer konzeptionellen Mischung aus Bahnung, Hemmung und Vererbung bestand. Das Gehirn war gleichzeitig Sitz der Krankheit und materielle, prägbare Grundlage der psychologischen Beeinflussung. In der Diagnose Georg F.s, dem Alkoholismus, kristallisiert sich Forels sozialhygienisches Engagement. Bereits als Assistent in der Münchener psychiatrischen Klinik mit vielen Alkoholkranken konfrontiert, stieg der Alkohol für ihn in den folgenden Jahren zum „wahren Teufel des neunzehnten Jahrhunderts“ auf.5 Er identifizierte ihn als Verursacher von Geisteskrankheiten, als Schädiger der Keimzellen und dadurch der nachfolgenden Generationen. Der Kampf in der Abstinenzbewegung zur Lösung der „Alkoholfrage“ war die logische Folge seiner gesellschaftspolitischen Anliegen. Der sozialtechnologische Impetus wird in Forels Bestreben zur Heilung der Alkoholiker deut­lich – sie sollten sich in bürger­licher Lebensführung üben, sparsam und fleissig für ihre Familien und die Gesellschaft wirken. In diesem Kontext deute ich Abstinenz und Hypnotismus als biopolitische Interventionsinstrumente, um die Individuen gemäss Forels Heilungsparametern fit zu machen. Hypnose übt auch heute einen grossen Reiz aus. Im Internet wird die Ausbildung zum Showhypnotiseur angepriesen, und verschiedene Anbieter buhlen um Kurs­ teilnehmer für Hypnose-Trainings.6 Auch Hirnforscher beschäftigen sich mit dem Gebiet der Hypnose, wie die mit dem William-James-Preis ausgezeichnete Arbeit des Genfer Neurowissenschaftlers Yann Cojan zeigt.7 Im Bereich der therapeutischen Hypnose existieren in der Schweiz zwei Fachverbände von Ärzten und Psychologen.8 Die Methode wird vor allem bei Phobien, zur Raucherentwöhnung, bei chronischen Schmerzen, Schlafstörungen und Zahnbehandlungen angewendet.9 5 Forel, Die Trinksitten (1891), S. 29. 6 http://www.hypnoselernen.de/showhypnose_hypnoseshow.php und http://www.hypnose. net/ (eingesehen 17. Mai 2011). Der Thematisierungs-Peak aus den 1880er- und 1890er-Jahren im deutschsprachigen Raum bleibt allerdings ungeschlagen (vgl. https://books.google.com/ ngrams/, eingesehen 12. August 2014). In den Archives of General Psychiatry ergeben sich für die Zeit von Juli 1959 bis April 2011 30 Treffer zum Stichwort „Hypnosis“. 25 der Treffer entstammen den 1960er-Jahren (vgl. http://archpsyc.ama-assn.org/, eingesehen 21. April 2011). 7 Cojan et al., The Brain under Self-Control, S. 862 – 875. Vgl. dazu Wilhelm, Die Hypnose, S. 46. 8 Ärzte organisieren sich in der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Hypnose (SMSH), mehrheit­ lich Psychologen in der Gesellschaft für klinische Hypnose Schweiz (GHypS). Vgl. http://www. smsh.ch und http://www.hypnos.ch. 9 Vgl. Lanfranconi, Reiz der geheimnisvollen Hypnose, S. 40; Ebell und Schuckall (Hg.), Warum therapeutische Hypnose?

Einleitung

9

Abb 1 August Forel präsentiert seine entomologischen Forschungen, ca. 1908 (MHIZ PSb Forel).

Forels Anwendung der Hypnose lässt sich in seine breitere Beschäftigung mit dem Gehirn einordnen. Seine Auseinandersetzung mit dem mensch­lichen Gehirn lag anfäng­lich ganz in der Tradition der damals vorherrschenden Gehirnpsychiatrie, die hauptsäch­lich anatomisch-pathologisch arbeitete, doch dem Forschungsgegenstand Gehirn begegnet man auch in diesbezüg­lich mehr oder weniger offensicht­lichen Arbeitsgebieten Forels wie zum Beispiel den Sexualwissenschaften. Gleichzeitig lässt sich Forels Beschäftigung mit dem Gehirn in einem spezifischen Denkstil verorten, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in überlappenden wissenschaft­lichen und sozialreformerischen Diskursen entwickelte. In seinem Testament, anläss­lich seiner Beerdigung von Sohn Oscar vorgelesen, wies Forel auf die Bedeutung des Gehirns für seine Arbeit hin: Nach den Ameisen, die ihn Arbeit und Altruismus gelehrt hätten, und nach Charles Darwin, der ihn die Artentwicklung gelehrt habe, hätte ihn das Studium des Gehirns und des Hypnotismus über „die wahre mensch­liche Psychologie und über die Wirk­lichkeiten des Lebens“ aufgeklärt.10 Das Gehirn übte eine grosse Faszination auf Forel aus. Es erscheint in seiner Arbeit gleichsam als Steuerungszentrale und Kern des Menschseins, in dem die „Wirk­lichkeiten des Lebens“ verborgen sein sollten; als ein Gral, der Gesundheit, Kraft und das weitergehende Leben der nachfolgenden Generationen verspricht.

10 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 291 f.

10

Einleitung

Themenfelder Forels vielseitiges Wirken reichte über die Psychiatrie hinaus und prägte verschiedene Aspekte der Schweizer Sozialpolitik und Wissenschaftsgeschichte. Der öffent­liche Umgang mit dem grossen Schweizer Universalgelehrten oszilliert zwischen Verehrung und Ablehnung. Im Jahre 1976 wurde Forel mit der Abbildung auf der Schweizer Tausendernote als bedeutender Ameisenforscher und Hirnanatom gewürdigt, und noch in den „1980er und beginnenden 90er Jahren“ erstrahlte er als „Wissenschaftsikone […] in fast makellosem Glanz“.11 In den 1990er-Jahren erregte seine zentrale Rolle bei der Etablierung eugenischer Massnahmen in der Psychiatrie zunehmend Aufmerksamkeit, was dazu führte, dass sein Wirken kritischer beurteilt wurde. Die vorliegende Studie setzt sich mit einem zentralen Themenbereich von Forels Arbeit auseinander, und zwar seiner intensiven Beschäftigung mit dem mensch­lichen Gehirn, die seine wissenschaft­ lich aktive Zeit von 1870 bis 1920 prägte. Dem Forschungsgegenstand Gehirn begegnet man in diversen Arbeitsgebieten Forels, ob im Bereich der Alkoholabstinenz, der Eugenik, der Entomologie oder der Sozialpsychiatrie. Meine These ist, dass das „Gehirn“ das thematische Scharnier darstellt, das seine verschiedenen Arbeitsgebiete miteinander verbindet. „Gehirn“ steht hier in Anführungs- und Schlusszeichen, weil es nicht um das eigent­liche biologische Objekt Gehirn geht, sondern „Gehirn“ eine Chiffre darstellt, die mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen ist und je nach Redezusammenhang für „bestimmte Leitvorstellungen instrumentalisiert“ wird.12 Das „Gehirn“ wird in Forels Reden zu einem gewichtigen Argument, um bestimmte Vorstellungen zu begründen und durchzusetzen. Es geht darum zu zeigen, wie er dem Gehirn in verschiedenen Schaffensphasen Bedeutungen zuschrieb und wie diese Recodifizierungen auf grössere Diskurse verweisen. Wie Michael Hagner feststellt, wurde das Gehirn durch das Lokalisationsparadigma in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum idealen Organ, in das kulturelle Werte und Symbole eingeschrieben werden konnten: „Das Gehirn wurde zum Schauplatz der Gefechte zwischen hohen Absichten und niederen Trieben, sitt­licher Vernunft und egoistischer Genusssucht, mög­licher Höherentwicklung und unaufhaltsamer Degeneration.“13 Diese diskursive Kultivierung des Gehirns lässt sich auch in Forels Arbeiten finden, ob in brachialer eugenischer Rhetorik, wenn er die Ansicht vertritt, dass die Kulturwerte des „Vollmenschen“ „in erster Linie auf dem Erbwert der Gehirneigenschaften“ beruhten,14 oder etwas subtiler, wenn er davon spricht, dass „unsere mensch­liche Kultur und ihr Fortschritt oder Rückschritt vom mensch­lichen Gehirn und seiner Thätigkeit getragen wird“.15 11 12 13 14 15

Tanner, Auguste Forel als Ikone der Wissenschaft, S. 84. Hagner, Moderne Gehirne, S. 9. Vgl. Hagner, Gehirnführung, S. 180. Forel, Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 23. Forel, Die Alkoholfrage als Kultur- und Rassenproblem (1902), S. 3.

Einleitung

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Um die Chiffre „Gehirn“ in Forels Werk zu entziffern, untersuche ich drei thema­ tische Schwerpunkte seiner Arbeit. Zuerst wird sein Beitrag zur Hirnforschung behandelt. Ganz einer damaligen Psychiaterkarriere entsprechend, beschäftigte sich Forel im Labor mit dem Gehirn. Im Verlauf der 1880er-Jahre änderte sich jedoch seine Arbeitsweise. Er kehrte dem hirnanatomischen Labor je länger, je mehr den Rücken zu und befasste sich mit Neuerungen im psychologisch-psychotherapeutischen Bereich. Wie sahen diese neuen therapeutischen Herangehensweisen aus? Wie untermauerte Forel diese neuen Zugänge theoretisch? Zweitens wird Forels Anwendung des Hypnotismus untersucht, hauptsäch­lich während seiner Tätigkeit im Burghölzli. Der Hypnotismus ist im Zusammenhang mit der Bedeutung des Gehirns interessant, weil er für Forel ein wichtiger Bereich war, um die Gehirntätigkeiten zu erforschen, genauer noch, um mehr über die Verbin­dung von Ober- und Unterbewusstsein – wie er es nannte – zu erfahren. Daneben sah er den Hypnotismus als wichtige Methode, um bestimmte Krankheitsbilder zu therapieren. Wie sah die Anwendung des Hypnotismus unter Forel im Burghölzli aus? Wer wurde hypnotisiert? Wie liefen diese Hypnotisierungen ab? Welche Hindernisse stellten sich dieser Therapieform entgegen? Wie entwickelte sich diese psychotherapeutische Technik, die in Wissenschaft und Öffent­lichkeit heftig debattiert wurde? Drittens wird der Zusammenhang von Gehirn und Gesellschaft beleuchtet. Im Zentrum steht die Frage, welche Bedeutung Forel dem Gehirn im Rahmen gesellschaft­licher Themen zuwies. In welchen thematischen Zusammenhängen wurde das Gehirn als Referenzobjekt angeführt und zur Durchsetzung bestimmter Vorstellungen als wirkungsmächtiges Argument instrumentalisiert? Das Gehirn als Locus, wo die mensch­liche Persön­lichkeit mit ihren Stärken und Schwächen eingeschrieben ist, war für Forel eng mit sozialpolitischen Interessen und eugenischen Absichten verschränkt. Das Gehirn diente ihm als Massstab, der die Menschheit grundsätz­ lich zäsierte und ordnete. Welche Parameter waren hier besonders wirksam? Auf diesem zäsierenden Wissen basierten Forels Handlungsanleitungen, mittels derer er die Gesellschaft formen wollte. Welche sozialtechnologischen Instrumente zog er heran, um auf die Menschen respektive die Gehirne einzuwirken? Meine These ist, dass seine wissenschaft­liche Auseinandersetzung mit dem mensch­lichen Gehirn, beispielsweise mittels Hypnosetherapie oder durch das Verfassen forensischer Gutachten, zentral durch seine sozialpolitischen Interessen geleitet wurde. Die Funktionen des Gehirns und deren Beeinflussung sah er als Schlüssel zu sozialen Reformen. Sie bildeten den Reflexionsrahmen für seine medizinischen und gesellschaftspolitischen Interventionen, die er in konkrete Anleitungen zur korrekten Lebensführung übersetzte. In diesem Zusammenhang deute ich auch die Hypnosetherapie als biopolitisches Instrument, um Individuen entsprechend seiner Heilungsmassstäbe auszurichten. Der Blick auf die drei unterschied­lichen Thematisierungskontexte

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Einleitung

ermög­licht die Karriere des Gehirns in Forels Arbeit zu verfolgen. Wie sich zeigen wird, lösten sich die verschiedenen Kontexte nicht diachron ab, sondern überlappten sich vielmehr mit unterschied­licher Thematisierungsdichte. Forschungsstand Forels Bekanntheit korrespondiert nicht mit der historischen Aufarbeitung seiner wissenschaft­lichen Tätigkeit und deren Wirkungsgeschichte.16 Verschiedene kürzere Studien widmen sich Einzelaspekten von Forels Arbeit: Sarah Jansen untersucht die Verbindung von Psychiatrie, Entomologie und Sexualreform, Chantal Ostorero analysiert Forels Geschlechterverständnis, Urs Germann untersucht den Zusammenhang von Alkoholproblematik und Eugenik und geht in seiner Dissertation zu Psychiatrie und Strafjustiz auch auf Forels Engagement im Rahmen der Schweizer Strafrechtsreform ein.17 Giorgio Bomio und Frank Preiswerk beleuchten ebenfalls Forels Wirken im Bereich der Kriminalpolitik näher; die medizinhistorische Dissertation von Peter Zürner widmet sich der biologischen Psychiatrie Forels und deren Zusammenhang mit eugenischen Postulaten, und meine Lizentiatsarbeit untersucht die diskursiven Ausgrenzungsmechanismen in Forels Schriften.18 Aktuelle Arbeiten an der Universität Zürich widmen sich Forels Auseinandersetzung mit der Abstinenz und der Eugenik.19 Verschiedene Studien im Bereich der Psychiatriegeschichte betonen, dass Forel ein führender und einflussreicher Vertreter der Eugenikbewegung mit starker Ausstrahlung auf seine Schüler und Nachfolger war. Willi Wottreng vermittelt ein facettenreiches Bild der Arbeit von August Forel und Eugen Bleuler, den beiden Direktoren des Burghölzli, und erreichte mit seiner medienwirksamen Arbeit ein breites Publikum.20 Wottrengs Text wurde zum Auslöser für Thomas Huonkers im Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich verfassten Bericht, der die Kooperation von städtischer Fürsorge und Psychiatrie beleuchtet.21 Das ­Forschungsprojekt 16 Zur Biografie Forels vgl. Walsers Überblick, der aber dessen eugenisches Engagement aus­ blendet (Walser, Einleitung, S. 11 – 42), und Wettleys Biografie, die diesen Aspekt bereits 1953 thematisierte (Wettley, August Forel). 17 Jansen, Ameisenhügel, Irrenhaus und Bordell; Ostorero, Les rapports sociaux de sexes; ­Germann, „Alkoholfrage“ und Eugenik; ders., Psychiatrie und Strafjustiz. 18 Bomio, Auguste Forel et le droit pénal; Preiswerk, Auguste Forel (1848 – 1931); Zürner, Von der Hirnanatomie zur Eugenik; Bugmann, Keine Barbareninvasion mehr von aussen zu befürchten; dies. und Sarasin, Forel mit Foucault. 19 Kuhn, Wider den Alkoholteufel; Iso, Fremdkörperkonzepte. Vgl. auch die Beiträge zur Klinik­ geschichte des Burghölzli in Rössler, Danuser (Hg.), Burg aus Holz. 20 Wottreng, Hirnriss. 21 Huonker, Anstaltseinweisungen. Huonker beurteilt Forel als Pionier bezüg­lich der Etablierung von sozialdarwinistischen und rassistischen Theorien innerhalb schweizerischer Institutionen

Einleitung

13

unter der Leitung von Jakob Tanner und Marietta Meier untersuchte das Ausmass der Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie des Kantons Zürich auch während Forels Direktionszeit.22 Breiter angelegte Studien zur Psychiatriegeschichte der Schweiz zeigten, wie sich Forels eugenische Konzepte in der psychiatrischen ­Praxis durchsetzten.23 In den letzten Jahren sorgte die Diskussion um den Umgang mit der Büste Forels, vorgängig positioniert im Kollegiengebäude der Universität Zürich, für Aufregung.24 In der Geschichtsschreibung der Hirnforschung und des Hypnotismus wird Forel als wichtiger Exponent genannt, allerdings ohne vertiefte Auseinandersetzung mit seinen Beiträgen in diesen Feldern.25 Bis jetzt konnte das Bild des Eugenikers Forels nicht mit dem erfolgreichen Hirnforscher in Verbindung gebracht werden. Die vorliegende Arbeit versucht, hier eine Lücke zu schliessen und einen kritischen Forschungsbeitrag zu leisten, um Forels Wirken und dessen Ausstrahlung besser einordnen zu können. Durch die Fokussierung auf das Objekt „Gehirn“ soll der Zusammenhang seiner naturwissenschaft­lich-medizinischen Forschungen mit seinen sozialpoli­tischen und sozialtechnologischen Denkansätzen und Praktiken erhellt werden. Es geht nicht darum, das Bild eines „guten“ oder eines „bösen“ Forels zu zementieren, sondern vielmehr seine Ambivalenzen historisch zu plausibilisieren.26

(ders., Diagnose: „moralisch defekt“, S. 80 f.). 22 Tanner, Meier, Hürlimann, Bernet, Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970. Vgl. weiterführend Meier, Bernet, Dubach, Germann, Zwang zur Ordnung. 23 Wecker, Frauenkörper; dies., Eugenik; Aeschbacher, Psychiatrie und „Rassenhygiene“; ­Tanner, Diskurse der Diskriminierung; ders., Eugenik und Rassenhygiene; ders., „Keimgifte“ und „Rassendegeneration“; Sarasin, Eugenik und Familie; Dubach, Verhütungspolitik. 24 Vgl. Leist (Hg.), Auguste Forel – Eugenik und Erinnerungskultur. Die Büste wird nun in der Kunstsammlung des Kantons Zürich gelagert. 25 Neben Forels Experimenten zum Verlauf von Nervenfasern wird vor allem sein Beitrag zur Neuronentheorie rezipiert. Z. B. Kuhlenbeck, August Forel; Clarke und O’Malley, The Human Brain and Spinal Cord, S. 104 – 109; Finger, Origins of Neuroscience, S. 45 f.; Shepherd, ­Foundations of the Neuron Doctrine, S. 111 – 117; Breidbach, Nervenzellen oder Nervennetze; Meyer, Historical Aspects of Cerebral Anatomy. Auch in den kulturhistorischen Arbeiten Michael Hagners zur Hirnforschung kommt Forel zur Sprache (z. B. Hagner, Gehirnführung). Zum Hypnotismus vgl. Gauld, A history of hypnotism; Mayer, Mikroskopie der Psyche; Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten. Spezifisch zu Forel vgl. Bugmann, „Naturwissenschaft­liche Experimentalmethode“ und Psycho­therapie; dies., Überwachen und regulieren. 26 Jakob Tanner weist darauf hin, dass sich in Forels Werk die Inkonsistenzen dessen ausdrücken, was man als „Dissonanzen der Moderne“ bezeichnen könne (Tanner, Auguste Forel als Ikone der Wissenschaft, S. 93). Vgl. zu Forels scheinbar gegenläufigen Orientierungen ebd., S. 93 f.; ders., „Keimgifte“ und „Rassendegeneration“, S. 249 f.

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Einleitung

Quellen Grundlage meiner Arbeit bildet neben Korrespondenzen, Manuskripten und anderen Archivquellen eine grosse Auswahl von Publikationen Forels, hauptsäch­lich aus der Zeit von 1873 bis 1912, seiner wissenschaft­lich produktivsten Zeit.27 Im Archiv für Medi­ zingeschichte der Universität Zürich lagert der Nachlass Forels, der neben Manuskripten, Publikationen und Urkunden auch viele Briefe an ihn umfasst, welche Hinweise zur personellen Vernetzung und zu seiner therapeutischen Praxis geben. Thematisch stehen seine Schriften zur Hirnanatomie, zum Hypnotismus und zur wissenschaft­ lichen Psychologie allgemein im Zentrum meiner Arbeit. Um den Zusammenhang der naturwissenschaft­lichen Forschungen Forels mit seinen gesellschaftspolitischen Konzepten aufzuzeigen, ziehe ich auch Texte aus den Sexualwissenschaften und der Kulturreform bei. Besonders das aus einem Artikel in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft hervorgegangene Lehrbuch Der Hypnotismus, seine Bedeutung und seine Handhabung von 1889 bildet eine aufschlussreiche Quelle. Ursprüng­lich 88 Seiten umfassend, wurde nur zwei Jahre später die zweite Ausgabe gedruckt, inzwischen schon auf 172 Seiten angewachsen, und bis 1923 erschienen insgesamt zwölf Auflagen. Der Hypnotismus war eine von Forels bekanntesten und auflagenstärksten Publikationen.28 Der Titel des Buches erfuhr mehrere Erweiterungen, welche die Entwicklung des Themas widerspiegeln. Ab 1902 erschien der Begriff „Psycho­therapie“ im Titel, in der Ausgabe von 1919 wurden die „Psychanalyse“ und die Telepathiefrage im Untertitel erwähnt.29 Mit dem Untertitel „Lehrbuch für Studierende sowie weitere Kreise“ wurde ab der achten und neunten Auflage von 1919 einerseits die Konzeption als vermittelndes, pädagogisches Medium dargelegt, anderseits direkt die gewünschte Leserschaft angesprochen. Richard Semon nannte Forels Lehrbuch einen „Leuchtturm und Wegweiser“;30 Sigmund Freud war überzeugt, dass es „für lange Zeit eine hervorragende Stelle in der deutschen Literatur über Hypnotismus

27 Forels publizistischer Nachlass ist umfangreich. Nach Rolf Meier beträgt die Gesamtzahl seiner Schriften 1155 Veröffent­lichungen, darunter 591 Monografien und wissenschaft­liche Aufsätze sowie 564 Zeitungsartikel (Meier, August Forel, S. 9). 28 Forel, Der Hypnotismus (1889). Bei der dritten Auflage von 1895 übernahm Oskar Vogt einen Grossteil der Überarbeitung, danach nahm sich Forel wieder dieser Aufgabe an (vgl. Forels Briefe an Vogt vom 4. und 28. Januar 1902, MHIZ PN 31.2:4405 – 06, und die Vorworte der jeweiligen Auflagen). Die sexuelle Frage war mit 17 Auflagen im Zeitraum von 1905 bis 1942 noch auflagenstärker als Der Hypnotismus. 29 Die achte und neunte Ausgabe von 1919 hatte Forel grundlegend überarbeitet. So hatte er die Terminologie Semons und den Okkultismus eingeführt, den Begriff des Unterbewussten überarbeitet und ein Kapitel über die Psychoanalyse ergänzt (vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 276). 30 Richard Semon an Forel, Brief vom 21. Februar 1907, in: Walser, August Forel, S. 388.

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behaupten“ werde.31 Auch Max Dessoir zeigte sich in einem Brief an Forel begeistert über die Lektüre der Erstausgabe: „[I]ch kann Ihnen nur offen wiederholen, dass es für die Praxis und eine erste Belehrung unübertreff­lich geeignet ist. Die Kürze der Darstellung, die vielen Abteilungen, die hochwichtige Hervorhebung der ‚Routine‘ […] – kurz, dies und noch mehr machen das kleine Buch zu einem überaus nütz­lichen Helfer, der nicht verfehlen wird, sich wirksam zu erweisen.“32 Auch die beiden andern grossen Monografien Forels, Hygiene der Nerven und des Geistes im gesunden und kranken Zustande von 1903 und Die sexuelle Frage von 1905, sind zentrale Quellengrundlagen meiner Arbeit.33 Die vielen Vortragspublikationen Forels zu Hypnotismus, Gehirnhygiene, medizinischer Psychologie und Kulturreform geben weiter Aufschluss über die Forschungsfragen. Einen besonders wichtigen Diskussionszusammenhang der Hypnoseärzte bildete die Zeitschrift für Hypnotismus, die Forel 1892 zusammen mit Jonas Grossmann und andern Exponenten der Hypnosebewegung gründete.34 Herausgeber waren 20 namhafte Mediziner und Psychologen, die der therapeutischen Ausrichtung Bernheims nahestanden. Die Zeitschrift wurde zu einer wichtigen Plattform, um die Bewegung zu organisieren und inhalt­lichen Austausch zu ermög­lichen. Die Mehrzahl der Artikel behandelt theoretische und methodische Fragen über den Hypnotismus, daneben werden Fallgeschichten ausgebreitet, die das breite Indikationsspektrum der Hypnose aufzeigen. Den zahlreichen Fallgeschichten kam in den ersten Jahren der Zeitschrift eine wichtige Funktion zu, um die Ärzte von der empirischen Absicherung der Hypnosetherapie zu überzeugen. Auch das von der Öffent­lichkeit damals besonders beachtete Thema Hypnose und Verbrechen und der Zusammenhang von Hypnotismus und Geisteskrankheiten (vor allem Hysterie) wurden besprochen, um sich deut­lich von Jean-Martin Charcots Ausrichtung des Hypnotismus abzugrenzen. Disziplinäre Fragen, physiologische Themen, Nachrufe und ein grosser Rezensionsteil zur Fachliteratur ergänzten den Inhalt. Die Zeitschrift hatte jedoch andauernd Schwierigkeiten, genügend Artikel zu finden; mehrmals wurden der Name und das Programm geändert, um den Autoren- und

31 Freud, Rezension (orig. 1889), S. 125. Georg Ringier schwärmte in seiner Rezension geradezu über die zweite Auflage des Lehrbuchs, die in der Zeitschrift für Hypnotismus erschien (vgl. Ringier, Der Hypnotismus, 1893). Gemäss Schröder war Forels Lehrbuch eines der ersten zum Thema, und er habe sich grosse Verdienste um die Verbreitung des Hypnotismus in der deutschsprachigen Medizin erworben (Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 24 und S. 26). 32 Max Dessoir an Forel, 20. Juni 1889 (MHIZ PN 31:2.844). 33 Forel, Hygiene der Nerven und des Geistes (1903); ders., Die sexuelle Frage (1905). Auch diese Monografien adressierte Forel direkt – Die sexuelle Frage war „für Gebildete“, und Hygiene der Nerven und des Geistes richtete sich an „gebildete Laien und Studierende“. 34 Gauld, A history of hypnotism, S. 344; Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 46 – 48.

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Leserkreis zu erweitern.35 1902 wurde die Zeitschrift unter der Führung des Arztes und Hirnforschers Oskar Vogt programmatisch zum Journal für Psychologie und Neu­ rologie umbenannt, was nach Teichler den Assimilationsprozess der Hypnose­therapie in ein sich erweiterndes Spektrum ärzt­licher Psychotherapie veranschau­liche.36 Für die quantitative und qualitative Analyse der Hypnoseanwendungen Forels habe ich Krankenakten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) beigezogen. Diese Akten, Teil des Bestandes, der von der PUK dem Staatsarchiv des Kan­ tons Zürich übergeben worden war, konnten nur mit Bewilligung der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich und der Klinikleitung eingesehen werden.37 Um die Behandlungspraxis Forels zu analysieren sowie Entwicklungstendenzen erkennen zu können, habe ich die Jahre 1888, 1892 und 1895 ausgewählt und alle 581 Neueintritte dieser drei Jahrgänge erfasst.38 Den eigent­lichen Kern der Krankenakten bildete die Kranken­geschichte, welche handschrift­lich von den Ärzten geführt wurde und in nach Datum geordneten Einträgen vom Zustand und der Behandlung des Patienten berichtete. In einigen Krankenakten der analysierten Jahrgänge finden sich auch Selbstzeugnisse von Patientinnen und Patienten, nament­lich tagebuchähn­liche Notizen oder auf Forels Wunsch angefertigte Lebensläufe und Erfahrungsberichte. Aufschlussreich sind die vier Selbstzeugnisse meines Samples, die den Hypnotismus thematisieren.39 Eine Patientin verfasste – wohl auf Forels Aufforderung – eine kurze Übersicht über ihre Behandlung mit dem Titel „Mangelhafte Notizen über die

35 Oskar Vogt löste 1895 Jonas Grossmann als Redaktor ab, änderte den Namen der Zeitschrift und definierte eine Ausweitung des Programms. Aus der Zeitschrift für Hypnotismus, Sugges­ tionstherapie, Suggestionslehre und verwandte psychologische Forschungen wurde ab dem vierten Band von 1896 die Zeitschrift für Hypnotismus, Psychotherapie sowie andere psychophysiologische und psychopathologische Forschungen (vgl. Vogt, Zum Programm, 1895). 36 Teichler, „Der Charlatan“, S. 54. Nur vereinzelte Artikel im Journal für Psychologie und Neu­ rologie befassten sich mit Hypnotismus. Okkultistische Phänomene wurden noch marginaler behandelt. 37 Zur Wahrung des Datenschutzes wurden die Anonymisierung der Patientennamen in den Veröffent­lichungen und die Löschung der erhobenen personenbezogenen Daten nach Projektabschluss verfügt. 38 Das Jahr 1888 wählte ich als Ausgangspunkt, da Forel im Frühjahr 1887 neu die Hypnosetechnik erlernt hatte. Danach wurden die Jahre bis zu seinem Rücktritt im Jahr 1898 im Vierjahresabstand bestimmt. Da Forel 1896 während mehrerer Monate auf Reisen war, habe ich stattdessen 1895 gewählt. Ich danke Marietta Meier von der Forscherinnen- und Forschergruppe zu den Zürcher Zwangsmassnahmen für die Weitergabe ihrer Datenmaske, die mir eine wertvolle Grundlage zur Erstellung meiner Datenbank bot. 39 Maike Rotzoll hält fest, dass die Überlieferung von Ego-Dokumenten „bedingungslos dem Urteil der Sammelwürdigkeit durch den Arzt unterliegt“ (Ralser, Tagungsbericht Psychia­ trische Krankenakten als Material der Wissenschaftsgeschichte).

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Wirkung der Hypnose“;40 ein Patient verfasste einen Bericht über den Verlauf seiner Morphiumsucht sowie den Entzug im Burghölzli, wobei er den Hypnotismus kurz streifte.41 Weiter fanden sich zwei Krankenakten, die Briefe zum Thema enthielten. Der erste, ebenfalls morphiumsüchtige Patient schickte Forel vor seinem Eintritt einen Fragenkatalog zur Hypnosetherapie und schrieb ihm während seines Aufenthaltes im Burghölzli einen weiteren Brief, worin er die Effektivität des Hypnotismus anzweifelte und um Abbruch der Therapie bat.42 Der zweite Patient bat einen Bekannten, ihn aus dem Burghölzli zu holen, da er unter dem „teuflischen Druck“ des Hypnotismus leide und deswegen mit Suizid drohte.43 Um die Befunde aus der Analyse der Krankenakten einordnen resp. ergänzen zu können, wurden weitere Komplementärquellen des Burghölzli beigezogen, so Kopialbücher, Jahresberichte, Reglemente, Instruktionen und unpublizierte Akten aus dem Verwaltungsbestand.44 Im Jahr 1998 klagten Ulrike Hoffmann-Richter und Asmus Finzen, dass Krankenakten als historische Quellen wenig bearbeitet würden und die Methodendiskussion begrenzt sei.45 Dies hat sich inzwischen geändert: Die Krankenakte als historische Quelle wurde in den letzten Jahren zunehmend beachtet.46 Hervorzuheben ist besonders das Projekt zur Aufarbeitung psychiatrischer Zwangsmassnahmen von 1870 bis 40 StAZH Z 100, KA-Nr. 4655. 41 StAZH Z 100, KA-Nr. 4741. 42 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679. 43 StAZH Z 100, KA-Nr. 6522. Im Behandlungsjournal finden sich keine Angaben zu einer tatsäch­lich erfolgten Hypnotisierung des Patienten. 44 Vgl. Beddies, Zur Methodologie der wissenschaft­lichen Auswertung psychiatrischer Krankengeschichten. 45 Hoffmann-Richter und Finzen, Die Krankengeschichte als Quelle, S. 280. 46 Vgl. Ledebur, Schreiben und Beschreiben; Dietrich-Daum und Taddei, Tagungsbericht Werkstattgespräch; Ralser, Tagungsbericht Psychiatrische Krankenakten als Material der Wissenschaftsgeschichte. In England arbeitete beispielsweise Jonathan Andrews zu den Krankenakten der Patienten des Gartnavel Royal Asylum in Glasgow (Andrews, Case Notes). In Deutschland gibt es mehrere Forschungsprojekte (u. a. Beddies und Dörries, Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin 1919 – 1960). Von 2002 bis 2006 lief das Projekt Wissenschaft­liche Erschliessung des Aktenbestandes R179 der NS-„Euthanasie“ von Gerrit Hohendorf, Maike Rotzoll, Petra Fuchs u. a. (vgl. Cottebrune, Tagungsbericht Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion T4 und ihre Opfer). Ein Projekt unter der Leitung von Albrecht Hirschmüller hat die Erschliessung und wissenschaft­liche Auswertung des Binswanger-Archivs der 1980 geschlossenen Klinik Bellevue zum Ziel (vgl. http://www.iegm.uni-tuebingen.de/index.php?option=com_content&task=view&id=42&Itemid=91, eingesehen 2. Juni 2011). Eine Monografie über den ersten Untersuchungszeitraum ist erschienen (Moses und Hirschmüller, Binswangers psychiatrische Klinik Bellevue in Kreuzlingen). Gemäss Meier et al. entdeckten die Schweizer Sozialhistoriker/innen die psychiatrischen Krankenakten erst in den letzten zehn Jahren (Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 31).

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1970, das im Auftrag des Kantons Zürich durchgeführt wurde.47 Dem Forschungsinteresse stehen jedoch die Einsichtsbestimmungen entgegen, da die Krankenakten nur mit Bewilligung einsehbar sind.48 Die Krankenakten stellen ein unmittelbares Zeugnis des Behandlungsalltags dar und sind daher äusserst aufschlussreiche Quellen, die allerdings einige Schwierig­ keiten bergen. Hervorgehoben werden muss, dass sie einem administrativen, institutionellen Entstehungskontext entstammen, der die Aufschreibpraxis bestimmte.49 Die Kranken­geschichten geben „nicht den ganzen Krankheits- und Behandlungsverlauf wieder, sondern nur das, was man als relevant erachtet und deshalb dokumentiert hat“.50 Alltäg­liches wurde nicht festgehalten.51 Erschwerend wirkt auch, dass Therapiebeginn, -verlauf und -ende häufig ungenau dokumentiert wurden. Auch in meinem Sample kam mehrmals vor, dass sich die Angaben zur Hypnosetherapie mit einem Eintrag wie „Wird seit einigen Tagen hypnotisiert“ erschöpften. Viele Krankengeschichten enthalten allgemein nur spär­liche Eintragungen, und wenn ein Eintrag folgt, lautet er kurz „status ibidem“ (Zustand unverändert).52 Weiter fallen die summarischen Einträge auf, welche die Ärzte beim Austritt des Patienten rückblickend über dessen gesamten Klinikaufenthalt schrieben. Ebenso stellt sich die Frage der Autorschaft, da wie erwähnt die Krankengeschichten von den behandelnden Ärzten ohne Signatur geführt wurden. Weiter wird meist nicht angegeben, wer die Behandlung der Patienten durchführte. Auf einer quantitativen Ebene geben die Krankenakten Aufschluss über das Ausmass von Forels Hypnoseanwendungen. Die Anwendungen können weiter hinsicht­lich Geschlecht, Schichtzuge­ hörigkeit, Alter und Diagnose der Kranken ausgewertet werden. Die Krankenakten 47 Das Projekt stand unter der Leitung von Jakob Tanner und Marietta Meier (Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970). Die Forschungen wurden von 2003 bis 2006 im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 51 Integration und Ausschluss weitergeführt (vgl. Meier et al., Zwang zur Ordnung). 48 Vgl. Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 31. 49 Vgl. Andrews, Case Notes, S. 265; Hoffmann-Richter, Das Verschwinden der Biographie in der Krankengeschichte, S. 205; Braslow, Mental Ills and Bodily Cures, S. 8; Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 89 – 92. 50 Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 32. 51 Vgl. Dörries, Akten und Computer, S. 207. 52 Als Beispiel erwähne ich den Fall des 31-jährigen Dienstmädchens Paula G., das an Wahnideen litt und von Juni 1888 bis Januar 1895 im Burghölzli untergebracht war. Für die Jahre 1891 und 1892 finden sich je drei Eintragungen; 1892 lauten zwei der drei Einträge „Stat. idem.“ (StAZH Z 100, KA-Nr. 4717). Urs Germann spricht in diesem Zusammenhang von Kadenzmustern, d. h. von den Mustern von Dichte und zeit­lichen Abständen der Eintragungen, die von Nähe und Distanz zu den Patienten/-innen berichten (vgl. Dietrich-Daum/Taddei, Tagungsbericht Werkstattgespräch).

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geben auch Auskunft über Biografie und Anamnese der Patienten, über das Diagnose­ system einer Klinik und deren therapeutische Kultur, über Einstellungen der Behandelnden zu den Patienten, über Interaktionen auf der Abteilung, über das Pflegepersonal usw.53 Die Krankenakten sind „surviving artefacts of the interaction between physicians and their patients in which individual personality, cultural assumptions, social status, bureaucratic expediency, and the reality of power relationships are expressed“,54 so die Formulierung von Guenter Risse und John Warner. Ebenfalls werden Praktiken zur Erkenntnisgewinnung ersicht­lich, da die Forschungen respektive die Publikationen der Ärzte oft auf den Krankenakten basierten. Auch Forel generierte seine klinischen Erkenntnisse aus der Arbeit mit den Patientinnen und Patienten. Er nahm die Akten wieder aus dem Archiv, um sie für Publikationen zu verwenden, erkundigte sich bei einem ehemaligen Patienten Jahre nach dessen Entlassung aus der Klinik nach seinem Gesundheitszustand und verwendete einige Patientinnen und Patienten als Fallgeschichten in seinem Lehrbuch.55 Insgesamt jedenfalls besitzen die Krankenakten eine materielle Ausstrahlung, der man sich nur schwer entziehen kann. Nach unzähligen Lektüren von Forels Texten ist man als Leserin plötz­lich mit den Menschen konfrontiert, die sich hinter seinen „Fällen“ verbargen. Dabei wird auch deut­lich, dass gerade anhand der Krankenakten die Menschen, die Forels Untersuchungs- und Interventionsobjekte bildeten, als handlungsfähige Wesen erkennbar werden.56 Methodische Überlegungen Im Zusammenhang mit dem Fokus auf das historische Objekt Gehirn ist auf den kulturgeschicht­lichen Ansatz hinzuweisen, der die Dinge in ihrer Materialität und Kontextgebundenheit ernst nimmt. Dieser wurde von der Wissenschaftsforschung gefördert, die bereits seit den 1980er-Jahren ihren Fokus auf die Praxis der Wissen­schaften und damit auch auf die wissenschaft­lichen Objekte richtete und 53 Vgl. Hoffmann-Richter und Finzen, Die Krankengeschichte als Quelle, S. 296. 54 Risse und Warner, Reconstructing Clinical Activities, S. 189. 55 Vgl. zu diesem Prozess der Wissensgenerierung Ledebur, Schreiben und Beschreiben. So basierte Forels Artikel Durch Spiritismus erkrankt und durch Hypnotismus geheilt (Zeitschrift für Hypnotismus 3, 1894, S. 229 – 236) auf einer Krankenakte meines Samples (StAZH Z 100, KA-Nr. 6393). Vgl. zur Klinik als Ort der medizinischen Forschung Lachmund, Der abgehorchte Körper, S. 98 – 100. Zur nachträg­lichen Erkundung StAZH Z 100, KA-Nr. 4809. Als Fallgeschichte im Lehrbuch siehe die „tobsüchtige“ Patientin, die im Burghölzli ein Kind gebar und bei der dank hypnotisierter Wärterin der Geburtsbeginn nicht verpasst wurde (StAZH Z 100, KA-Nr. 5759; Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 102 f.). 56 Darauf verweist Jakob Tanner im Schlusswort in: Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 206; vgl. auch Nolte, Gelebte Hysterie, S. 22 – 28; dies. und Fangerau, Einleitung, in: dies. (Hg.), „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 9 f.

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deren kontextspezifische Gegebenheit und Einbindung in die wissenschaft­lichkulturelle Praxis der Erkenntnisfindung thematisierte.57 So kommen beispielsweise das Fieberthermometer, aber auch „natür­liche“ Objekte wie Partikel des Cytoplasmas zu ihrer eigenen Geschichte.58 Diese Kulturgeschichte der Dinge wurde in den Arbeiten Michael Hagners auch auf das Gehirn angewendet.59 Das Gehirn ist damit keine ahistorische „natür­liche“ Entität, sondern gleichzeitig „natür­liches“ und „kulturelles“ Objekt, das Gegenstand „von Praktiken, Deutungen, Bewertungen und Symbolisierungen geworden ist, die mindestens ebensoviel über die Zeit aussagen, in der diese Zuordnungen geschehen sind, wie über das Organ selbst“.60 Dieser Zugang ist für meine Fragestellung bedeutsam, um den kulturellen Resonanzraum zu verstehen, der sich öffnet, wenn Forel in verschiedenen Redezusammenhängen vom Gehirn spricht und je nach Kontext unterschied­liche cerebrale Attribuierungen wichtig werden. Gemäss der genannten wissenschaftshistorischen Ausrichtung rückt mein Untersuchungsfokus auf die lokale Erzeugtheit der wissenschaft­lichen Erkenntnisse Forels. Wissen, auch naturwissenschaft­liches Wissen, wird „zunächst [als] ein kontingentes und lokal beschränktes Phänomen“ verstanden.61 Ich interessiere mich in diesem Sinne weniger für die theoretischen Inhalte seiner Arbeit als vielmehr für das Spektrum seiner Aktivitäten, die mit der Erkenntnisproduktion verbunden sind. Für die Untersuchung der Hypnotisierungen umfasst dies die experimentelle und thera­peutische Anwendung der Hypnose in der damaligen Irrenheilanstalt Burg­ hölzli, wobei das soziale und räum­liche Setting als zentral für die Durchführung der Hypnose­sitzungen angesehen wird.62 Andreas Reckwitz betont in seiner Definition sozialer Praktiken das praktische Wissen und Können, die Materialität der Praktiken sowie Routine und Unbe­ rechenbarkeit als Grundelemente.63 Diese drei Grundelemente lassen sich unschwer 57 Vgl. Latour, Science in action; ders. und Woolgar, Laboratory Life; Rheinberger, Toward a History of Epistemic Things. Weiter gehen Latour, Michel Callon und John Law mit ihrer Aktor-Netzwerk-Theorie, wo das Materielle zu handlungsfähigen Akteuren wird und die Gleichwertigkeit von mensch­lichen und nicht mensch­lichen Akteuren betont wird. Vgl. Law und Hassard (Hg.), Actor Network Theory and after; Hagner, Die Welt als Labor und Versammlungsort; Sch­lich, Wissenschaft; Felt, Nowotny und Taschwer, Wissenschaftsforschung, S. 134 – 141. 58 Hess, Gegenständ­liche Geschichte?; Rheinberger, Cytoplasmic Particles; Schnalke, Einführung. 59 Vgl. u. a. Hagner, Ecce Cortex; ders., Geniale Gehirne. 60 Hagner, Der Geist bei der Arbeit, S. 9. 61 Sch­lich, Wissenschaft, S. 121. 62 Vgl. Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 13 – 17; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 168, S. 222 – 226 und S. 251 – 253. 63 Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 294.

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in den Hypnotisierungen Forels erkennen. Wissen, Takt und Geschick waren zentrale Faktoren seiner Handlungsanleitungen.64 Ebenfalls elementar ist der zweite Punkt von Reckwitz, die Materialität von Praktiken. Forels Praxis war ganz direkt in einem körper­lichen Objekt, dem Gehirn, verankert und arbeitete mit dem Einsatz des eigenen Körpers und jenem des Patienten. Ein weiterer Aspekt der Körper­ lichkeit der Praktik beinhaltet, „dass ihr Vollzug für die Umwelt wahrnehmbar eine skillful performance darstellt“.65 Der dritte Punkt von Reckwitz nennt Routine und Subversion als Charakteristika von sozialen Praktiken und Performances.66 Für die Performance als spezifische Praktik ist zentral, dass die „Bedeutung im Augenblick des Äusserns, Aufführens oder Sich-Verhaltens selbst hervorgebracht, also stets neu in actu, im Zusammenspiel aller Beteiligten generiert“ wird.67 Der Ethnologe Milton Singer führte in den 1950er-Jahren den Begriff der kulturellen Performance ein und definierte ihn wie folgt: „[E]ach performance has a definitely limited time span, a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of performance.“68 Singer betonte, dass eine Performance ein begrenzter Akt sei, der mit Akteuren und Zuschauern an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Anlass stattfinde. Klar geregelte Aktivitäten machen die Performance aus. Allerdings wird regelmässig wie bei Reckwitz darauf hingewiesen, dass trotz des eingeübten, programmierten Verhaltens die Performances sich nicht identisch wiederholen lassen. Wie Richard Schechner schreibt: „[E]very performance is different from every other. […] Not only the behavior itself – […] but also the specific occasion and context make each instance unique.“69 Die Subversivität der Performance wurde vor allem von Judith Butler im Bereich der Gender Studies analysiert.70 Dass neben dem routinierten, planmässigen Ablauf den Hypnotisierungen auch ein unberechenbares subversives Moment innewohnt, verraten die Geschichten von nicht erfolgreichen Hypnotisierungen. Dieses unkontrollierbare Element ist m. E. für die Analyse der Hypnotisierungen als performative Praxis bedeutend. Hier öffnen sich auch für die Patientinnen und Patienten Spielräume, wie weiter unten gezeigt wird.

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Vgl. dazu beispielsweise Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 188 – 211. Reckwitz, Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken, S. 45. Vgl. Möhring, Performanz und historische Mimesis, S. 267. Martschukat und Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“, S. 27 (Hervorhebung im Original). 68 Singer (Hg.), Traditional India, zitiert in: Carlson, Performance, S. 13. Vgl. Wulf und Zirfas, Performative Welten, S. 27. 69 Schechner, Performance Studies, S. 23. Vgl. auch Rao und Köpping, Einleitung, S. 2. 70 Möhring, Performanz und historische Mimesis, S. 258 f. Vgl. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution.

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Die Hypnosetherapie als performatives Ritual Vor allem der performative Ritualbegriff eignet sich, um den Praxis-Charakter der Hypnotisierungen und deren transformativen Gehalt zu fassen.71 In der performance­ orientierten kulturwissenschaft­lichen Erweiterung des Ritualbegriffs werden neben der Transformationskraft der Aufführungscharakter und die Inszenierung betont. Dies zeigt sich beispielsweise in der Definition von Erika Fischer-Lichte: „Unter Ritualen verstehen wir eine bestimmte Gattung von Aufführungen, die der Selbstdarstellung und Selbstverständigung, Stiftung bzw. Bestätigung oder auch Transformation von Gemeinschaften dienen und unter Anwendung je spezifischer Inszenierungsstrategien und -regeln geschaffen werden.“72 Speziell die Verlaufsanalyse von Ritualen, basierend auf der Arbeit von Victor Turner, beeinflusste die Methodenbildung der Performance Studies.73 Turner sah Rituale als gesellschaft­liche Phasen, durch die Veränderungen der gesamten Gesellschaft, aber auch einzelner Individuen durchgeführt und angenommen werden, und verstand sie als „symbolisch-expressive, kultische Handlungssequenzen“, die mit Bedeutung aufgeladen waren. 74 Für ihn stand der Transformationsaspekt des Rituals im Zentrum. Ausgehend von dem Werk Les rites de passage (1909) des französischen Volkskundlers Arnold van Gennep, entwickelte Turner eine Verlaufsanalyse des Rituals. Van Gennep unterteilte die Übergangsriten, die den Übergang von einem sozialen Zustand in den andern regelten, in drei Phasen. Am Anfang steht die Trennungsphase, in welcher das rituelle Subjekt aus dem früheren sozialen Status herausgelöst wird. Darauf folgt die 71 Vgl. Wulf/Zirfas, Performative Welten, S. 9 – 32; Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“; Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 111 – 115. Das Ritual war in der Ethnologie ursprüng­lich eng mit der sakralen Sphäre verbunden, dagegen wird in der neueren Ritualforschung der Ritualbegriff auf verschiedene soziale Sachverhalte bezogen. Er wird heute „von vielen für jedes formalisierte Verhalten verwendet, das im Charakter autori­ tativ und in der Gestalt ‚traditions-gleich‘ ist“ (Rao/Köpping, Einleitung, S. 1). Neben der ethnologischen Ritualforschung erwiesen sich vor allem die Theaterwissenschaften und die Linguistik als wichtige Triebkräfte für die kulturwissenschaft­liche Auseinandersetzung mit Performance (Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 121 – 127; Fischer-Lichte, Grenzgänge und Tauschhandel). In der Forschung wird heute die Vielfalt der Ansätze betont (Wulf/Zirfas, Performative Welten, S. 8; Belliger und Krieger, Einführung, S. 9; Wulf, Ritual). 72 Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual, S. 47. 73 Schechner, Performance Studies, S. 50, und Rao/Köpping, Einleitung, S. 7. Als Klassiker werden Turners Texte The Ritual Process, Structure and Anti-Structure (Chicago 1969; Das Ritual, Struktur und Antistruktur, Frankfurt 1989) und From ritual to theatre, the human seriousness of play (New York 1982; Vom Ritual zum Theater, Der Ernst des mensch­lichen Spiels, Frankfurt/ New York 1989) genannt. Stanley Tambiah wies bereits 1979 auf den performativen Charakter des Rituellen hin und unterschied verschiedene Aspekte des Performativen (Tambiah, A Performative Approach to Ritual). 74 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 112.

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Schwellen- bzw. Umwandlungsphase, in welcher die Novizen aus ihren vorherigen sozialen Bindungen gelöst sind. Die Schwellenphase, die Turner nach van Gennep als liminale Phase bezeichnete, definierte er als „Bereich der Ambiguität, eine Art sozialen Zwischenstadiums“.75 Im Schwellenzustand sind gewohnte Alltagsregeln ausser Kraft gesetzt und soziale Normen infrage gestellt. Für Turner war zentral, dass die liminale Phase ein kreatives Moment für die gesellschaft­liche Entwicklung besass.76 In der das Ritual abschliessenden Angliederungsphase werden die Subjekte in eine neue gesellschaft­liche Position aufgenommen. Neben der Transformationskraft und der Inszenierungsstruktur wird bei den kulturwissenschaft­lichen Ritualtheorien die Rahmensetzung der Performance betont.77 Gregory Bateson wies auf die Wichtigkeit metakommunikativer Aussagen hin, die eine bestimmte Aktivität in einem bezeichneten Rahmen situieren und lesbar machen. Diese Rahmensetzung wird „durch die Zustimmung aller Beteiligten an der Durchführung des Rituals und die Übereinkunft über seine spezifischen Inszenierungsregeln vorgenommen“.78 Der Ablauf und die Ausgestaltung des Rituals unterliegen einer bestimmten Dramaturgie, die den Teilnehmenden bekannt ist. Neben der sprach­lichen Ebene der Inszenierung sind auch körper­liche Aspekte wie Gestik und Mimik zentral. Bei den Hypnotisierungen beispielsweise war die Inszenierung durch sprach­liche, aber auch mimische und gestische Elemente bestimmt. So befahl Forel mit lauter Stimme, schaute die Patientinnen und Patienten durchdringend an und legte seine Hand auf. Ebenfalls mussten sie auf sein Geheiss bestimmte Bewegungen ausführen, die ihnen die Wirksamkeit der Hypnose körper­lich erfahrbar machten und gewissermassen in den Körper einschrieben. Gleichzeitig können Forels Aussagen während der Hypnotisierungen als performative Sprechakte im Sinne von John Austin verstanden werden.79 Eingebettet in einem konventionalisierten Verfahren – der Therapiesitzung –, äusserte eine spezifische Person – Forel – bestimmte Wörter. „Schlafen Sie!“, ist der offensicht­lichste Befehl in einer langen Reihe.80 Der Erfolg dieser Äusserungen war direkt mit der Sprecher­ position und klar bestimmten Umständen verbunden. Wie Austin betont, gehört zum erfolgreichen Sprechakt ein „üb­liches konventionelles Verfahren“, während dessen 75 Turner, Das Liminale und das Liminoide, S. 35. 76 Ebd., S. 69. 77 Rao/Köpping, Einleitung, S. 6. Zum Begriff der Rahmung Bateson, The Message „This is Play“; ders., A Theory of Play and Fantasy. 78 Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual, S. 48. 79 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 107; Carlson, Performance, S. 76. Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte. 80 Zu Sprechakten im Zusammenhang mit Menstruationssuggestionen Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 268.

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„bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Wörter“ äussern.81 Bei rituellen Handlungen – Austin nennt als Beispiele die Taufe oder die Heirat – kommt solchen illokutionären Sprechakten eine zentrale Bedeutung zu. Die performativen Aussagen „begleiten und steuern rituelle Handlungen und verbinden sich mit den anderen körper­lichen Aspekten von Ritualen und Ritualisierungen“.82 Die performative Perspektive auf das Ritual eignet sich meiner Ansicht nach sehr gut zur Analyse der Hypnotisierungen. Nach Rahmung, Inszenierung, Transformation und Handlungsspielräumen der Beteiligten zu fragen, ermög­licht, die Dynamik der Therapiesituation zu fassen. Die Hypnosetherapie musste innerhalb eines bestimmten Rahmens nach definierten Regeln ablaufen. Bei der Inszenierung gilt es, ein Augenmerk auf den körper­lich-materiellen Charakter zu richten, da diese sinn­liche Ebene für die Wirkung zentral war. Um Faktoren der Rahmensetzung und Inszenierungsstruktur der Hypnotisierungen besser erkennen zu können, hilft eine Zerlegung der Hypnosetherapie in verschiedene Phasen, inspiriert durch Victor Turners Modell der Übergangsrituale. Zwar mussten alle „Ritualteilnehmer“ Forels Durchführung akzeptieren und authentisieren. Doch durch den performativen Charakter der Hypnose­ therapie, genauer das nicht gänz­lich identisch zitierbare Skript und die verschiedenen anwesenden Teilnehmer, erhielt die Situation eine Eigendynamik, die Forel nicht vollständig kontrollieren konnte. Er war sich dessen bewusst, wie er im Editorial der neu gegründeten Zeitschrift für Hypnotismus schrieb: „Beim Hypnotisiren weiss ich […] genau, wie und was ich suggerire, nicht aber ganz genau wie der Hypnotisirte die Suggestion auffassen und ausführen wird.“83 Einige Patientinnen und Patienten nahmen ihre Handlungsspielräume wahr und kamen Forels Skript in die Quere. Sie weigerten sich, in die Therapie einzutreten, erzwangen deren Abbruch oder behaupteten retrospektiv, sie hätten simuliert. Im Zentrum meiner Untersuchung steht Forels Arbeit, doch dass sich diese direkt auf andere Menschen auswirkte, sollte keineswegs vergessen werden. Ich spreche nicht von einer eigent­lichen Patient’s view, doch indem ich die Hypnosetherapie als performativen Akt verstehe, kann dem persistenten Schweigen der Patientinnen und Patienten in den Quellen entgegengetreten werden. Das performative Ritual besitzt subversives Potenzial, da Forel nicht alle Faktoren der Situation beherrschen konnte. Die Patientinnen und Patienten werden dadurch nicht als passive Erduldende wahrgenommen, sondern als Akteurinnen und Akteure mit spezifischen Handlungsspielräumen.84 In 81 Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Zweite Vorlesung, S. 64 f. Siehe auch Martschukat/­Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“, S. 4. 82 Wulf/Zirfas, Performative Welten, S. 29. 83 Forel, Suggestionslehre und Wissenschaft (1893), S. 24. 84 Vgl. zur Patient’s view in der Psychiatriegeschichte Nolte/Fangerau, Einleitung, S. 9 f., und in der Medizingeschichte allgemein Wolff, Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung; als

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diesem Kontext bilden die Krankenakten eine wertvolle Quelle, da sich die Ärzte darin explizit über die Verhaltensweisen der Kranken äusserten.85 In Einzelfällen geben Selbstzeugnisse der Kranken Aufschluss zu ihrer Haltung gegenüber den Hypno­ tisierungen. Widerständigkeiten werden jedoch auch „zwischen den Zeilen“ deut­lich, wenn beispielsweise in den Krankengeschichten die Hypnosetherapie kommentarlos abbricht. Auch Forels Publikationen können, gegen den Strich gelesen, einiges über widerspenstige Patientinnen und Patienten verraten, wenn er beispielsweise zu Rechtfertigungen ausholt und „unheilbare“ Fälle begründet. Die Haltung der Patien­ tinnen und Patienten muss jedoch vorsichtig gedeutet werden. Ihre Zeugnisse und Reaktionen bleiben in einen bestimmten institutionellen Zusammenhang und ein asymmetrisches Machtverhältnis eingebettet. Gleichzeitig standen Forel beträcht­ liche Ressourcen zur Verfügung, um seine Deutung der Geschehnisse durchzusetzen. Die Kranken konnten ihre Version der Dinge nur begrenzt zur Geltung bringen.86 In der Mediävistik, wo „Gesten, Rituale und Inszenierungen spätestens seit den 1990er Jahren Hochkonjunktur“ haben, werden auch performanztheoretische Ansätze rezipiert.87 Im Gegensatz dazu ist in der historischen Forschung zur Neuzeit der Perfor­ mative Turn nur wenig aufgenommen worden. Auch in der Geschichtsschreibung des Hypnotismus ist die performanceorientierte Perspektive bisher nur am Rande rezipiert worden. Andreas Mayer fokussiert in seiner Arbeit Mikroskopie der Psyche anschliessend an praxisorientierte Ansätze aus der Wissenschaftsforschung auf die Durchführung der Hypnotisierungen in einem spezifischen sozialen und materiellen Setting.88 Damit greift er auch Fragen der Inszenierung auf, so beispielsweise wie die Hypnoseärzte das materielle Arrangement des Behandlungszimmers in der Privat­ praxis als mög­lichst hypnosebegünstigend vorsahen.89 Auch Emese Laffertons Studie zu Richard von Krafft-Ebings Hypnotisierungen von Ilma S. thematisiert die Praktiken und den fortlaufenden Aushandlungsprozess während der Hypnosetherapie und zeigt überzeugend die sich verschiebenden Kräfteverhältnisse und die Handlungsräume der Patientin auf.90 Im Bereich zeitgenössischer Psychotherapie manifestiert sich Klassiker gilt Roy Porters Text Patient’s view, Doing Medical History from Below (1985). 85 Auf die Aussagemög­lichkeiten der Krankengeschichten bezüg­lich der Handlungsspielräume der Patienten/-innen weisen auch Tanner und Nolte hin (vgl. Tanner, Schlusswort, S. 206; Nolte, Gelebte Hysterie, S. 26). 86 Vgl. dazu Tanner, Der „fremde Blick“, S. 50 f. 87 Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“, S. 12. Vgl. zur Rezeption der Ritualforschung und allgemeiner des Performative oder Practical Turn in der Geschichtswissenschaft Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 128 – 130; Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“, S. 11 – 25, mit ausführ­lichen Literaturangaben. 88 Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 15 f. 89 Ebd., S. 185 – 187. 90 Lafferton, Hysteria and hypnosis as ongoing processes of negotiation.

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der Einfluss der Performance Studies direkter. Richard Schechner nannte schon 1973 Psychotherapie als einen Bereich, wo Performance-Theorie und Sozialwissenschaften zusammentreffen.91 Auch Marvin Carlson betont, dass in den 1980er- und 1990er-­ Jahren der Einfluss von Psychologie und Psychotherapie für Performance-Theoretiker sehr wichtig war.92 Die aktuelle Hypnose-Forschung hat den Begriff des Rituals aufgenommen und eine Nummer ihrer Zeitschrift Hypnose und Kognition dem Thema „Therapeutische Rituale“ gewidmet.93 Allerdings wird hier nicht auf einer Metaebene das gesamte therapeutische Setting als Ritual thematisiert, sondern der Einbezug von spezifischen Ritualen in die Psychotherapie behandelt.94 Grundsätz­lich schwierig bei der Orientierung am Performative Turn ist, dass der Grossteil der historischen Quellen normativen Charakter hat und gleichzeitig das Ereignishafte nur medial zu erfassen ist.95 Die Angaben zum Verlauf der Hypnosesitzungen stammen hauptsäch­lich aus der Feder Forels. Wie bereits erwähnt, bilden deshalb die Krankenakten eine unverzichtbare Quelle, da ihre Textur einen Blick auf die zeit­liche und ört­liche Dramaturgie ermög­licht und Widerstände fassbar werden. Forel war sich, wie ich zeigen werde, der performativen Wirkung der Therapie durchaus bewusst. In actu wirkte er auf die Gehirne seiner Patientinnen und Patienten ein und versuchte gewissermassen, die cerebralen Prägungen umzuschreiben. Gleichzeitig vollzogen die Hypnotisierten im besten Fall vor Publikum eine Wandlung von krank zu gesund. Forel selbst liess sich nicht von jemand anders hypnotisieren. Auch in diesem Bereich gab er das Heft nicht aus der Hand, sondern blieb Meister über die eigenen Hirnwindungen und nahm die Analyse seines cerebralen Zustands selber vor. So berichtete er von einer erfolgten Autohypnose, wo er sich trotz hypnoseähn­lichem Zustand – immer noch ganz Wissenschaftler – von aussen beobachtete, und auch als er Jahre später einen Hirnschlag erlitt, analysierte er sein Verhalten danach selber.96 Sein eigenes Gehirn lieferte er erst posthum fremdem Zugriff aus und b­ eauftragte mit 91 Carlson, Performance, S. 11. 92 Ebd., S. 32. Auch in umgekehrter Richtung funktionierte der Austausch, indem Psychothera­ peuten beispielsweise Theatermodelle gebrauchten, da sie den Einfluss der Performance auf die Bildung und Adaption von sozialen Rollen positiv beurteilten. So wies beispielsweise Jacob Levy Moreno mit seinem Konzept des Psychodramas auf den kathartischen Effekt des Rollenspielens für die Patienten hin (ebd., S. 41 – 43). 93 Hypnose und Kognition, Zeitschrift für die Grundlagen und klinische Anwendung von ­Hypnose und kognitiver Psychologie, Band 12, Heft 1, April 1995. 94 Vgl. Fourie, Die Attribution von Bedeutung und das Ritual der Hypnose; Vandermeersch, Psychotherapeutische Rituale. 95 Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“, S. 27; Möhring, Perfor­ manz und historische Mimesis, S. 267. 96 Forel, Eine Beobachtung von Autohypnose (1889), MHIZ PN 31.4:4; ders., Subjektive und induktive Selbstbeobachtung (1915); ders., Ergänzungen (1924).

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der Sectio seines Gehirns seinen langjährigen Weggefährten, den „ganz hervorragenden Hirnanatomen“ Oskar Vogt.97 Aufbau der Arbeit Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil beschreibe ich Forels Auseinandersetzung mit dem Gehirn am anatomischen Schneidetisch und seine Hinwendung zur Psychotherapie, hauptsäch­lich mittels Hypnotismus. Es wird der Frage nachgegangen, wie und warum sich Forel im Lauf der 1880er-Jahre immer mehr von der hirnanatomischen Arbeitsweise abwandte und dafür neue therapeu­tische Wege beschritt. Diese Wende wird im Kontext der damaligen psychia­ trischen Therapiesituation und theoretischer Konzeptualisierungen beschrieben, die seine Entwicklung beeinflussten. Im dritten Kapitel wird Forels bevorzugte psycho­therapeutische Disziplin, der Hypnotismus, eingeführt und Forels Rolle in der ärzt­lichen Hypnosecommunity beschrieben. Die gefähr­liche Nähe des ärzt­lichen Hypnotismus zu Bühnenhypnose, Laienpraktiken und Okkultismus ist Gegenstand des vierten Kapitels. Die Hypnoseärzte verdankten der Bühnenhypnose und dem Okkultismus einerseits die breite Bekanntheit des Hypnotismus und griffen auf deren performativ wirksames Repertoire zurück. Anderseits jedoch gefährdete die Nähe zu den okkulten Praktiken ihre wissenschaft­liche Anerkennung und erforderte eine dezidierte Abgrenzung, welche die Hypnoseärzte lautstark vornahmen. Im fünften Kapitel zeichne ich die weitere Karriere des therapeutischen Hypnotismus von 1900 bis etwa 1920 nach. Kontroversen und psychotherapeutische Weiterentwicklungen prägten diese Phase, doch auch ein Comeback der Hypnose, das diese im Zusammenhang mit der Behandlung sogenannter Kriegsneurosen zur Zeit des Ersten Weltkriegs erlebte. Der zweite, umfassendste Teil befasst sich mit Forels Hypnoseanwendung in der Zürcher Irrenheilanstalt Burghölzli. Das sechste Kapitel beschreibt das institutionelle Setting, das Forels Hypnoseanwendung prägte. Das klinische Umfeld bot ganz bestimmte soziale und räum­liche Bedingungen, die es ihm ermög­lichten, weitgehend uneingeschränkt seine therapeutischen Bestrebungen zu verfolgen. Speziell gehe ich auf das Pflegepersonal ein, da dieses bei seinen Hypnose-Anwendungen eine besondere Rolle spielte. Im siebten Kapitel werden die therapeutischen Anwendungen des Hypnotismus im Burghölzli, basierend auf der Auswertung von Krankenakten, genauer untersucht. Nach der quantitativen Analyse nach Anteilen von Diagnosen, Geschlecht und Schicht werden die Anwendungen der Hypnosetherapie in den drei Diagnosekategorien Alkoholismus, Sexualpathologie und Hysterie untersucht und im damaligen Fachdiskurs kontextualisiert. 97 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 166; ders., Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 13; Hagner, Geniale Gehirne, S. 256, S. 262 f.

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Danach folgt im achten Kapitel eine qualitative Analyse der Hypnotisierungen, welche die Faktoren von Gelingen und Scheitern der Therapie untersucht. Die Hypno­ tisierungen werden als performative Rituale betrachtet, indem das Augenmerk auf die spezifischen Rahmenbedingungen und die Inszenierungsstruktur gerichtet wird. Das Kapitel abschliessend, wird der Fokus auf das Unvorhersehbare und Unberechenbare der Hypnotisierungen gelegt und nach den Handlungsräumen der Patientinnen und Patienten gefragt. Der dritte Teil der Arbeit wendet sich vom mikroskopischen Blick auf die konkrete Hirntherapierung mittels Hypnotismus ab und stellt Forels Beschäftigung mit dem Gehirn in einen breiteren gesellschaftspolitischen Zusammenhang. Im neunten Kapitel werden mittels einer Analyse von Forels Interessensgebieten verschiedene zeitgenössische Diskurse aufgezeigt, in denen das Gehirn prominent verhandelt wurde. Ich argumentiere, dass das Gehirn neben der Thematisierung in degenerativen und zivilisationskritischen, in kriminalanthropologischen und kolonialen Redezusammenhängen auch zu einem wichtigen Parameter in der eugenischen Argumentation wurde. Weiter zeige ich, wie Forel die Menschheit nach cerebraler Verfassung ordnete, gänz­lich überzeugt, sich auf wissenschaft­lich legitimierte Ordnungen zu stützen. „Rasse“, Geschlecht und bestimmte Vorstellungen von Gesundheit erweisen sich als zäsierende Faktoren, wie sich zeigen wird. Das zehnte und letzte Kapitel widmet sich den sozialtechnologischen Eingriffen Forels, die mit dem Gehirn als Interventionsorgan verbunden waren. Obwohl er eine düstere Bestandesaufnahme der Gesellschaft machte, war sein Glaube an die Wissenschaft ungebrochen, und er war überzeugt, dank wissenschaft­licher Zugriffe korrigieren zu können. Seine Sozialtechnologie des Gehirns äusserte sich dreigestaltig, so in erster Linie als Gehirnhygiene, der er sich um die Jahrhundertwende zuwandte. Zweitens lässt sich der Hypnotismus, so meine These, als sozialtechnologisches Instrument deuten, in dem er die Gehirnbahnungen des Individuums umschrieb. Abschliessend beschreibe ich auch Forels eugenische Bestrebungen als Instrument, um via Keimbahnen das Gehirn ins Visier zu nehmen.

1. Hirnanatomische Forschungen Zu Beginn seiner Burghölzli-Jahre verbrachte August Forel viel Zeit im hirnanato­ mischen Laboratorium. Wie schon während der Assistenzzeit in München bei Bernhard von Gudden hielt er sich eine Menagerie von Kleintieren wie Kaninchen, Meerschweinchen und Tauben, die früher oder später auf dem Schneidetisch landeten. Im Mai 1880 begann er Versuche an einem neugeborenen Kaninchen mit dem Ziel, Ursprung und Verlauf des Hörnerven zu erhellen.98 Während der Operation durchbohrte er das linke Felsenbein des Schädels, um danach den Hörnerven des Tieres zu zerstören. Der Eingriff verlief erfolgreich: Das Kaninchen blieb – anders als seine Leidensgenossen, die jeweils nur kurz überlebten – bis am 12. November des Jahres am Leben, allerdings beeinträchtigt: „Es trug stets den Kopf horizontal gedreht, das rechte Auge und das rechte Ohr nach oben […] gewendet, frass auch in dieser Lage. Reizte man es etwas, so verlor es das Gleichgewicht und drehte sich um seine Längsaxe von rechts nach links, indem die Beine der rechten Seite den Boden verloren.“99 Nach dem Tod des Tieres wurde das Gehirn entnommen und gehärtet. Gut fünf Jahre später nahm Doktorand Bronislaus Onufrowicz die Sektion des Gehirns vor, um die Gewebeveränderungen zu untersuchen. Forel beschrieb kurz im Neurologischen Centralblatt, dass ein bestimmter Teil des Sehnerven geschwunden, sogenannt atrophiert sei, dagegen andere Strukturen nicht verändert seien. In einem zweiten Artikel zu denselben Experimenten folgerte er daraus, dass der teilweise Schwund dieses Gewebes darauf hinweise, dass damit der Kern des Hörnerven gefunden sei.100

1.1 Lehrjahre bei Meynert und Gudden Mit dieser Art von Experimenten knüpfte Forel direkt an seine Assistenzzeit bei Gudden an. Bereits als Student hatte er dessen Bekanntschaft gemacht, als dieser in Zürich von 1869 bis 1872 die neu eingerichtete Professur für Psychiatrie innehatte und 1870 im neu eröffneten Burghölzli die Direktion übernahm, bevor er nach 98 Forel, Vorläufige Mittheilung über den Ursprung des Nervus acusticus (1885). Zu weiteren Kaninchenexperimenten vgl. XII. Versammlung der schweizer. Irrenärzte, abgehalten in St. Urban am 2. und 3. September 1881, Vortrag von Herrn Prof. Forel, Separatabdruck aus dem Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte (1882), MHIZ PN 31.4:2. 99 Forel, Vorläufige Mittheilung über den Ursprung des Nervus acusticus (1885), S. 1. 100 Forel und Onufrowicz, Weitere Mittheilung über den Ursprung des Nervus acusticus (1885). Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 124.

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München ging.101 Von 1872 bis 1877 arbeitete Forel in der Münchener Kreis-Irrenanstalt als Guddens Assistent. Dieser widmete sich viel lieber dem Laboratorium als seinen Patienten und tat sich als besonders eifriger Experimentierer an Tieren hervor.102 Berühmt wurde er für die bereits erwähnte experimentelle Methode zum Nachweis von Faserverbindungen im Zentralnervensystem. Schon 1849 hatte er mit der Arbeit an Gehirnen neugeborener Tiere begonnen und die Methode zur Verfolgung der Verläufe und Ursprünge der Nervenfasern perfektioniert.103 Die sogenannte Gudden’sche Atrophie- oder Exstirpationsmethode sah vor, dass dem neugeborenen Tier ein Hirnnerv an dessen Austrittsstelle vom Gehirn ausgerissen wurde. Man liess das Tier einige Wochen am Leben, und während dieser Zeit wurden der Ausfall an Funktionen und die anatomischen Folgen studiert, „welche die von dem exstirpirten Theile functionell abhängigen Gebilde erleiden“.104 Das Experiment endete mit der Tötung des Tieres und der Sektion des Gehirns. Beim erwachsenen Tier konnte der Verlauf sowie der Ursprung der Fasern mikroskopisch verfolgt werden, da diese atrophierten. Während seiner Assistenzzeit in München erarbeitete Forel die Grundlagen seiner Habilitationsschrift.105 Gudden betraute ihn zuerst hauptsäch­lich mit Aufgaben im hirnanato­mischen Laboratorium. So übte er sich in der Anfertigung von Hirnschnitten der Haubenregion mit 101 Die Zürcher Professur für Psychiatrie war im deutschsprachigen Raum eine der ersten (­Berlin 1864, Göttingen 1866, Wien 1870 und 1875, Heidelberg und Leipzig 1877, Bonn 1881; vgl. Hirschmüller, Freuds Begegnung mit der Psychiatrie, S. 29). Gudden hinterliess auf Student Forel einen karriereweisenden Eindruck (vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 51). Zum Wirken Guddens in Zürich vgl. Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 408. 102 Vgl. Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 102. Guddens Führung der psychiatrischen Klinik beurteilte Forel als unordent­lich und inkonsequent (Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 76). Dagegen machte sich Gudden einen Namen als Verfechter des No-Restraint-Systems (Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 64). 103 Gudden, Experimentaluntersuchungen über das peripherische und centrale Nervensystem (1870). Vgl. Clarke/O’Malley, The Human Brain and Spinal Cord, S. 854. Gudden wurde kritisiert, weil er viele seiner Ergebnisse nicht veröffent­licht hatte. Wie Forel 1891 festhielt, war der Grund, dass Gudden „nicht leicht und nicht gern“ schrieb (Forel, Ueber das Verhältnis der experimentellen Atrophie, orig. 1891, S. 208). Nach dem Tod Guddens veröffent­lichte Hubert Grashey einige seiner Schriften (Bernhard von Gudden’s gesammelte und hinterlassene Abhandlungen, Wiesbaden 1889). 104 Forel, Vortrag über die Resultate und die Bedeutung der Gudden’schen Exstirpationsmethode (1880), S. 1. 105 Forel, Untersuchungen über die Haubenregion (1877). Die Zeitschrift Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten war 1868 von Wilhelm Griesinger gegründet worden, um die Gebiete von Psychiatrie und Neurologie gemeinsam zu bearbeiten. Gudden gehörte zu den Herausgebern des Archivs, welches bis in die 1880er-Jahre zur renommiertesten deutschen Zeitschrift des Fachgebietes geworden war (Hirschmüller, Freuds Begegnung mit der Psychiatrie, S. 46).

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dem Ziel, diese Hirngegend umfassend topografisch darzustellen. Das Material für die Arbeit bestand aus zwei fortlaufenden Querschnittserien durch mensch­ liche Gehirne, die eine mit 708, die andere mit 608 Schnitten, einer sagittalen Schnittreihe aus 230 Schnitten sowie einigen Schnittreihen durch Affen-, Hunde-, Kaninchen-, Maulwurf- und Rattenhirne. Forels Arbeit trug zwar wenig Neues zur Kenntnis der Hirnstruktur bei, aber seine zahlreichen Beobachtungen zu histologischen Details und seine umfassende Besprechung vorgängiger Befunde hatten einigen Einfluss, wie Alfred Meyer in seiner historischen Studie zur Hirnanatomie festhielt,106 und als Folge seiner detaillierten Beschreibung der Haubenregion wurde eine Region dieser Hirnstruktur als „Campus Foreli“ bezeichnet.107 Weiter wird ihm zugeschrieben, die Begriffe medial, lateral, dorsal und ventral als Erster systematisch eingeführt und verwendet zu haben.108 Forel zeigte sich in der Habili­tationsschrift überzeugt, dass der „rein anatomische Weg“ keine neuen Erkenntnisse zur Hirnorganisation mehr zulassen würde. Stattdessen betonte er, dass hier physiologische Experimente erfolgversprechender seien, und hob die Gudden’sche Methode hervor – den Ansatz, den er in seiner weiteren Laufbahn als Hirnforscher gewinnbringend anwandte.109 Zur Anfertigung der Präparate hatte Gudden zusammen mit einem Instrumentenbauer ein Schneidegerät entwickelt, das Forel gebrauchen konnte und dessen Weiterentwicklung er vorantrieb, wie er in der Autobiografie schrieb.110 Dank dieses Mikrotoms hätte nun die Schnittmethode „nahezu den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht“.111 In der Habilitationsschrift distanzierte sich Forel deut­lich

106 Meyer, Historical Aspects of Cerebral Anatomy, S. 46 f. 107 Dejerine (in Zusammenarbeit mit Augusta Marie Dejerine-Klumpke), Anatomie des centres nerveux (1895), S. 337 („champ de Forel“); vgl. August Forel, in: Grote (Hg.), Führende Psychiater in Selbstdarstellungen (1930), S. 60; Meyer, Historical Aspects of Cerebral Anatomy, S.  70 f. 108 Shepherd, Foundations of the Neuron Doctrine, S. 114; Meyer, Historical Aspects of Cerebral Anatomy, S. 47. Vgl. zur Definition der Begriffe Forel, Untersuchungen über die Hauben­region (1877), S. 17. 109 Vgl. Forel, Untersuchungen über die Haubenregion (1877), S. 13 und S. 93. 110 Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 73 f.; ders., Untersuchungen über die Hauben­ region (1877), S. 1 – 6. Forel fertigte Hirnschnitte an, die nach seiner Aussage „in die Tausende“ gingen: „[S]o gelang es mir, eine erste feine mikroskopische Schnittserie durch das ganze mensch­ liche Gehirn anzufertigen, was bis jetzt noch nie geschehen war.“ Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 74 (Hervorhebung im Original). Stingelin zweifelt an der Aussage Forels (Stingelin, Die Seele als Funktion des Körpers, S. 103). Ein Mikrotom zur Anfertigung von Gewebeschnitten wurde bereits in den 1840er-Jahren durch Charles Morgan Topping eingeführt (Shorter, The History of the Doctor-Patient Relationship, S. 788). 111 Forel, Untersuchungen über die Haubenregion (1877), S. 10.

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Abb 2 Abbildung aus August Forels Habilitationsschrift „Untersuchungen über die Haubenregion und ihre oberen Verknüpfungen im Gehirne des Menschen und einiger Säugethiere“, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 7 (1877), Tafel VIII (MHIZ PN 31.1:14 (11)).

von seinem ersten Lehrmeister, dem Wiener Hirnanatomen Theodor Meynert. Bei Meynert, dem „grössten lebenden Gehirnforscher“, hatte er 1871/72 sieben Monate in der Landesirrenanstalt in Wien verbracht und an der hirnanatomischen Disser­ tation über den Thalamus opticus gearbeitet.112 Meynert gilt als „Gründerfigur“ der Hirnwissenschaften und wird auch als „prophet of things to come“ beschrieben, der neben Forel weitere, später bekannte Schüler wie Paul Flechsig, Carl W ­ ernicke und Sigmund Freud hatte.113 Im Zentrum von Meynerts Interesse standen die morphologische Differenzierung einzelner Hirnareale und deren Verknüpfungen. Er erkannte, dass durch Färbung der Schwannschen Scheiden der Verlauf der Nervenfasern im Gehirn darstellbar war, und setzte als einer der Ersten die 112 Forel, Beiträge zur Kenntniss des Thalamus opticus (1872); vgl. zu Forels Wiener Aufenthalt ders., Rückblick auf mein Leben (1935), S. 63 – 65. 113 Hagner, Gehirnführung, S. 183; Papez, Theodor Meynert, S. 64; Hirschmüller, Freuds Begegnung mit der Psychiatrie, S. 93 – 115; Stockert-Meynert, Theodor Meynert und seine Zeit. Für eine Zusammenfassung der wissenschaft­lichen Leistungen Meynerts vgl. Lesky, Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert, S. 373 – 381.

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mikroskopische Methodik ein.114 Bekannt wurde er für seine Schichteneinteilung des Cortex. Resultat seiner Untersuchung war die erste detaillierte Darstellung der Hirnrinde, die für die weiteren histologischen Cortexstudien funda­mental war.115 Seine Darstellung zeigte die morphologische Differenzierung einzelner ­Hirnareale auf und beschrieb zugleich deren Verbindung zu anderen Arealen des Cortex und zu subcortikalen Nervengewebebereichen.116 Meynert unterschied zwei Typen von Nervenfasern, einerseits die später so genannten Projektionsfasern, welche den Cortex mit den andern Hirnteilen verbanden, anderseits die Assoziationsfasern, welche die Cortex-Areale untereinander verknüpften.117 Dies war ein früher Versuch, rein anatomische Beschreibungen hinter sich zu lassen und nach funktionellen Einheiten zu suchen, indem sich Meynert auf die Bündelung und Verbindung der Assoziationsfasern konzentrierte und diese für das materielle Substrat intelligenter Leistungen hielt.118 Da er nur in der Grosshirnrinde Assoziationsfasern ausmachen konnte, definierte er ausschliess­lich die Grosshirnrinde als Trägerin der höheren Hirnfunktionen, wobei die Fasern für ihn die Voraussetzung zu höheren Leistungen wie Intelligenz, Geist und Moral darstellten.119 Neben den anatomischen Erkenntnissen, von denen sich Forel allerdings später distanzierte, waren es vor allem diese Entwürfe zur „Einheit von Gehirn und Seele“, die Forel für Meynert einnahmen.120 Dieser habe „höhere Synthesen“ gewagt und sich nicht mit Detailstudien

114 Das Mikroskop setzte sich als neuroanatomisches Instrument in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Vgl. Breidbach, Die Materialisierung des Ichs, S. 203. Im Gegensatz zu Forel stand Meynert noch kein Mikrotom zur Verfügung, und er fertigte die Schnitte mittels eines Rasiermessers von freier Hand an. Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 63 f.; ­Hagner, Gehirnführung, S. 184. 115 Seine Resultate zum Cortexaufbau veröffent­lichte er im Artikel Der Bau der Gross-Hirnrinde und seine ört­lichen Verschiedenheiten, nebst einem pathologisch-anatomischen Corollarium, in: Vierteljahresschrift für Psychiatrie 1 (1867), S. 77 – 93, S. 198 – 217 und 2 (1868), S. 88 – 113. Vgl. Clarke und O’Malley, The Human Brain and Spinal Cord, S. 433. 116 Breidbach, Die Materialisierung des Ichs, S. 204. Weiter sind drei Strukturen des Zentralnervensystems nach Meynert benannt, so das Meynert’sche Bündel (Fasciculus retroflexus), die Meynert’sche Schicht (Pyramidenzellschicht der Grosshirnrinde) und die Meynert’sche Haubenkreuzung (Decussatio tegmenti dorsalis), vgl. Hirschmüller, Freuds Begegnung mit der Psychiatrie, S. 109. 117 Hagner, Gehirnführung, S. 184. Seine Resultate zum Aufbau und den Verknüpfungen innerhalb der weissen Substanz publizierte Meynert in Salomon Strickers Handbuch der Lehre von den Geweben des Menschen und der Thiere, Bd. 2, Leipzig 1872, S. 694 – 808 (vgl. Clarke und O’Malley, The Human Brain and Spinal Cord, S. 602). 118 Hagner, Geniale Gehirne, S. 197 f. 119 Borck, Fühlfäden und Fangarme, S. 151 f. 120 Forel, Gehirn und Seele (1894), S. 14.

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zufriedengegeben.121 Wie Forel Jahre später in der Autobiografie festhielt, zweifelte er jedoch bereits im Wiener Laboratorium an Meynerts Ansichten zum Verlauf von bestimmten Faserverbindungen: „Sowohl in der Vorlesung Meynerts als in seinem Laboratorium musste ich bald eine neue Enttäuschung erleben. […] Je länger, je mehr verlor ich den Glauben an seine hirnanatomischen Schemata und die von ihm behaupteten Faserverbindungen des Gehirns. […] [D]as, was Meynert sah, konnte ich immer nicht sehen.“122 In der Habilitationsschrift fünf Jahre später kritisierte er Meynert für dessen Beschreibung von spezifischen Faserverläufen und Zugehörigkeiten von Hirnstrukturen.123 Auch anläss­lich der Verteidigung seiner Habilitation formulierte er eine These, die direkt gegen seinen ehemaligen Lehrer gerichtet war: „Die Verbindungen der Theilungsäste der Nervenzellenfortsätze mit den Nervenfasern im Centralnervensystem der Säugethiere sind noch unbekannt.“124 Besonderer Kritikpunkt Forels war, dass Meynert „das Sichere und das Unsichere, das Hypothetische und das Thatsäch­liche“ miteinander vermischt und fehlende Belege mit Schemata ersetzt habe.125 Damit kam Forel zum Kernpunkt seines hirnanatomischen Dilemmas, das ihn in den folgenden Jahren beschäftigte.

1.2 Forels Beitrag zur Neuronentheorie In einer Festschrift für Albert von Kölliker und Karl Wilhelm von Nägeli plädierte Forel für einen neurowissenschaft­lichen Methodenpluralismus und berichtete ausführ­lich von Experimenten, die er mittels Guddens Exstirpationsmethode durchgeführt hatte. Er kritisierte wiederum Meynert und andere, die bestimmte Faserverläufe beschrieben hatten: „Was die Hirnanatomen immer irre führt, sind einfach Bilder […]. Man 121 Forel, Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 4. Wie James Papez seiner biografischen Beschreibung Meynerts als Thema voranstellte: „Erst seit Meynert ist das Gehirn beseelt.“ (Papez, Theodor Meynert, S. 64). 122 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 64. 123 Vgl. Forel, Untersuchungen über die Haubenregion (1877), S. 21 f. und S. 96. 124 Thesen zur Erlangung der Venia legendi in der medicinischen Facultät der Ludwig-­ Maximilians-Universität München, 2. März 1877, MHIZ PN 31.4:1 (Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 81). 125 Forel, Untersuchungen über die Haubenregion (1877), S. 14. Er selber sah sich ganz den Tatsachen verpf­lichtet: „Mein leitender Gedanke [für seine Forschungen, M. B.] […] war stets die strenge Vermeidung aller Schemata und jedes Hinausgehen über das streng Thatsäch­liche, da ich diese beiden Fehler als den wundesten Punct der Hirnanatomie betrachte.“ (ebd.) Später entzweite das Thema des Hypnotismus die beiden noch zusätz­lich, und Hypnose-Gegner Meynert diskreditierte seinen ehemaligen Schüler als „süd­lichen Forel“ (vgl. Freud, Rezension, 1889, S. 126 f.).

Forels Beitrag zur Neuronentheorie

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vergisst immerwährend, dass die scheinbare Kontinuität von Fasern auf einem Schnitt in der Regel keiner wirk­lichen histologischen Kontinuität entspricht […]. Wie klar und einfach werden diese nebelhaften Ansichten durch v. Guddens Verfahren widerlegt.“126 Doch auch Forel liess sich von hirnanatomischen Bildern in der Erkenntnisfindung leiten. Ab 1885 befasste er sich mit den Forschungen von Camillo Golgi, der eine neue Färbemethode entwickelt hatte, bei welcher durch die Behandlung mit Salzen und einer Silbernitratlösung Gewebepräparate erstellt werden konnten, in welchen die Nervenzellen und deren Verzweigungen sich äusserst scharf als dunkle Figuren vor hellem Hintergrund abzeichneten.127 Forel schickte Assistenzarzt Eugen Bleuler ins Labor, um mit Golgis Reazione nera zu arbeiten. Ein damals dominierendes Thema unter den Hirnanatomen war der Aufbau der Nervenelemente des Nervensystems. Die Retikularisten gingen von der Annahme aus, dass die einzelnen Nervenfasern über Anastomosen – natür­liche Verbindungen – miteinander verwachsen waren. Die Gegner dieses neuronalen Faserkontinuums (retrospektiv als „Neuronisten“ bezeichnet) postulierten dagegen, dass die Zellen und deren Fasern über noch nicht bekannte Kontaktstellen miteinander verbunden waren, jedoch nicht kontinuier­lich ineinander übergingen.128 Forel, der selber im Jahr 1881 noch explizit von Anastomosen gesprochen hatte, begutachtete nun 1885 im hirnanatomischen Labor des Burghölzli die Präparate, die Bleuler mittels Golgis Färbetechnik angefertigt hatte.129 Den Blick auf die Präparate deutete er retrospektiv als Erleuchtungsmoment: Er sah, wie es auch schon Golgi postuliert hatte, die blinde Endung der Dendriten, doch anders als dieser konnte er das Anastomosennetz der Axone nicht erkennen. In seiner Autobiografie schrieb er dazu: „Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und intuitiv stellte ich mir die Frage: ‚Aber warum suchen wir denn immer nach Anastomosen? Könnte nicht eine einfache intime Berührung der Nervenzellen den funktionellen Zusammenhang der Nervenleitung ebenso gut bewerkstelligen wie eine direkte Kontinuität?‘“130 In Kombination mit den Befunden, die er mit Guddens Degenerationsmethode erarbeitet hatte, brachte ihn dies dazu, eine neue Theorie zu formulieren, die er unter dem Titel Einige hirnanatomische Betrachtungen und Ergebnisse im Januar 1887 im Archiv für Psychiatrie veröffent­lichte.131 Darin betonte er, dass die Feinheit der „Teilästchen des 1 26 Forel, Ueber das Verhältnis der experimentellen Atrophie (orig. 1891), S. 221 f. 127 Breidbach, Nervenzellen oder Nervennetze, S. 92. 128 Vgl. zur Diskussion über Syncytium oder Zellverband Shepherd, Foundations of the Neuron Doctrine und Breidbach, Nervenzellen oder Nervennetze. Eine Sammlung von Quellen zu dieser Auseinandersetzung findet sich in Clarke und O’Malley, The Human Brain and Spinal Cord. Seit den 1950er-Jahren – seit dem Gebrauch des Elektronenmikroskops – ist sicher, dass sich das Nervengewebe aus Neuronen als separaten Einheiten aufbaut. 129 Vgl. XII. Versammlung der schweizer. Irrenärzte (1882). 130 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 129. 131 Forel, Einige hirnanatomische Betrachtungen und Ergebnisse (1887).

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Nervenfortsatzes“ verunmög­liche zu entscheiden, ob sie nun ineinander übergingen oder nicht. Zur Beweisführung bemühte er ein Bild aus der Botanik: „Wenn die Aeste der Bäume verschiedener Nervenelemente derart ineinandergreifen, wie sie es thatsäch­ lich thun, so dürfte dies zur Uebertragung von Reizen völlig genügen. Die Elektricität giebt uns so zahlreiche Beispiele ähn­licher Uebertragungen ohne directe Continuität, dass es sich wohl beim Nervensystem auch so verhalten könnte. Ich möchte vermuthen, dass alle Fasersysteme und sogenannte Fasernetze des Nervensystems nichts anderes sind, als Nervenfortsätze von je einer bestimmten Ganglienzelle. […] [Der Nervenfortsatz] giebt seine Fibrillen […] stets schliess­lich in Form stark verästelter, ineinander greifender, aber nirgends anastomosirender Bäume ab.“132 Kurz darauf stellte er an der Wintersitzung der Gesellschaft der Zürcher Ärzte vom 29. Januar 1887 seine Ergebnisse vor und folgerte, dass die Nervenelemente wahrschein­lich nicht kontinuier­lich verbunden seien, sondern die Reizübertragungen „durch grosse Nähe resp. Contiguität geschehen dürften“.133 Hauptsäch­lich für diese Erkenntnis, die gerade dadurch zustande kam, dass er etwas nicht sah, aber auf seinen Experimenten basierend formulierte, ging Forel schlussend­lich in die Annalen der Neurowissenschaften ein.134 Praktisch gleichzeitig wie Forel kam der Basler Anatom Wilhelm His durch seine embryogenetischen Befunde zum selben Schluss.135 Damit waren die Grundsätze der späteren Neuronentheorie klar formuliert. Da His’ Artikel einige Monate vor demjenigen Forels erschien, gilt er als „Entdecker“ des Neurons. Dies ärgerte Forel anfäng­lich, und er betonte immer wieder, wie His und er unabhängig voneinander praktisch gleichzeitig zu jenen Schlüssen kamen, welche die Neuronentheorie begründeten.136 Allerdings wurden ihre Erkenntnisse zunächst nicht rezipiert; erst als kurz darauf Santiago Ramón y Cajal zum gleichen Resultat kam und seine Präparate 1889 auf dem Kongress der Deutschen Anatomischen Gesellschaft präsentierte, wurden die Hirnanatomen darauf aufmerksam. Danach publizierte Albert von Kölliker Ramón y Cajals Resultate, und Wilhelm von Waldeyer fasste 1891 schliess­lich die Ergebnisse zur Entwicklung der Neurohistologie programmatisch zusammen und führte den Begriff „Neuron“ respektive Neuronentheorie ein.137 1 32 133 134 135

Ebd., S. 5. Forel, Ueber die Verbindungen der Elemente des Nervensystems, (orig. 1887), S. 197. Rolf Meier schrieb von einer „Sternstunde der Hirnforschung“ (Meier, August Forel, S. 57). His, Zur Geschichte des mensch­lichen Rückenmarkes und der Nervenwurzeln (1886). Vgl. Breidbach, Nervenzellen oder Nervennetze, S. 89 f. Als dritter publizierte 1887 der Norweger Fridtjof Nansen seine Ansichten über die Nervenzelle als abgeschlossene Einheit (Shepherd, Foundations of the Neuron Doctrine, S. 117 – 126). 136 Forel, Ueber das Verhältnis der experimentellen Atrophie (orig. 1891), S. 210; ders., Einige Worte zur Neuronenlehre (1905). 1 37 Vgl. Shepherd, Foundations of the Neuron Doctrine, S. 178 – 193; Finger, Minds Behind the Brain, S. 197 – 215; Breidbach, Nervenzellen oder Nervennetze, S. 96 f.

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Forel fühlte sich um die Anerkennung seiner Erkenntnisse geprellt und beklagte wiederholt, dass seine Arbeiten von den Hirnanatomen nicht genügend rezipiert und gewürdigt worden seien.138 Ein Blick in zeitgenössische Publikationen zeigt jedoch ein anderes Bild. So erwähnte Albert von Kölliker Forel in einer Reihe mit His und Ramòn y Cajal, und auch dieser nannte ihn wiederholt in seinem histolo­ gischen Standardwerk Histologie du système nerveux de l’homme et des vertébrés.139 Auch Joseph Jules Dejerine führte Forel in seinem anatomischen Lehrbuch immer wieder an, so zur Entwicklung des Mikrotoms, der Entwicklung der Neuronentheorie und als Namensgeber verschiedener hirnanatomischer Strukturen,140 und schliess­lich rezipierte auch der Anatom Ernst Ziegler Forels frühe hirnanatomische Arbeit von 1877 über Hirnveränderungen bei Tollwut.141 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Forels Arbeiten im Bereich der Hirnforschung nicht marginal waren. Er arbeitete zu allen drei Gebieten, die damals das Forschungsfeld der Hirnforschung bestimmten – so erstens angeleitet von Meynerts Theorie der Fasersysteme, die bereits über die Hirnanatomie hinausgehend auf funktionelle Einheiten verwies, zweitens mittels Guddens Exstirpationsmethode, die Anatomie und Physiologie verband, und drittens zur Neuronentheorie. Obwohl sich Forel, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, von der Hirnanatomie abwandte und andere Arbeitsgebiete favorisierte, kann nicht von einem Bruch in seiner Arbeit gesprochen werden. Anders als beispielsweise Emil Kraepelin, der sich explizit von der Anatomie verabschiedete, blieb die Hirnanatomie Grundlage seiner psychologischen Weiterentwicklungen.142 Die 138 Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 130; ders., Ueber das Verhältnis der experimentellen Atrophie (orig. 1891), S. 210; ders., Ueber die Theorie der Neuronen (orig. 1892), S. 237; ders., Einige Worte zur Neuronenlehre (1905). Forel war ein „gebranntes Kind“. So war er überzeugt, dass ihm Wladimir Bechterew 1885 die Erkenntnis des Ursprungs des Hörnerven gestohlen hatte, da er seine Befunde in einem Artikel an das Neurologische Zentralblatt gesandt hatte, wo Bechterew als Mitarbeiter tätig war und kurz danach behauptete, das Gleiche wie Forel herausgefunden zu haben (Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 124 f.; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 369). 139 Kölliker, Erinnerungen aus meinem Leben (1899), S. 233 und S. 246; Ramòn y Cajal, Histologie du système nerveux de l’homme et des vertébrés, Bd. 1 (orig. 1909, spanisch 1899), S. 81 (zur Neuronentheorie) und Bd. 2, S. 448 (Erwähnung des „Champ de Forel“), S. 813 („Fornix longus de Forel“). Vgl. auch Ramòn y Cayal, Recollections of my life (orig. 1937), S. 334 – 338, S. 485, zu seiner Begegnung mit Forel im Jahr 1899 anläss­lich der gemeinsamen Reise an die Clark University in Worcester, USA. 140 Dejerine, Anatomie des centres nerveux (1895), S. 10, S. 29, S. 176 – 178, S. 233 („région sous-thalamique de Forel“), S. 337 („champ de Forel“), S. 629 („commissure de Forel“), S. 641 („faisceau thalamique de Forel“), Bd. 2, Paris 1901, S. 327 („faisceau lenticulaire de Forel“) usw. 141 Ziegler, Lehrbuch der allgemeinen und speciellen pathologischen Anatomie (orig. 1883), S. 383. 142 Zu Kraepelin vgl. Hagner, Gehirnführung, S. 179; zu Freud Métraux, Metamorphosen der Hirnwissenschaft; Guttmann und Scholz-Strasser (Hg.), Freud and the neurosciences.

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Abwendung von der Hirnanatomie hatte auch ganz praktische Gründe, da sich die langwierigen hirnanatomischen Untersuchungen nicht mit der Arbeitsbelastung der Klinik in Einklang bringen liessen. „Mit schwerem Herzen“ habe er das „Laboratorium, diese Stätte stiller wissenschaft­licher Arbeit“, fast ganz den andern überlassen, hielt Forel bedauernd in seiner Autobiografie fest.143 Er vergab weiterhin – allerdings mit deut­lich abnehmender Tendenz – hirnanatomische Dissertationsthemen und stand auch selber noch ab und zu im Labor.144 Doch Forel hatte Hirnanatomie unter einem funktionellen Blickwinkel betrieben; Hirnforschung war für ihn eine multiperspektivische Unternehmung, wie der neurobiologische Methodenkanon zeigt, den er 1907 erläuterte. Dort fanden die Hirnanatomie und auch die Histologie des Nervensystems einen prominenten Platz, und anders als 1891 betonte er 1907 auch die notwendige Integration von physiologischer Psychologie und von Psychologie allgemein – zu der er auch Hypnotismus und Psychoanalyse zählte – in den Methodenkanon der Neurobiologie.145 In diesem späten Text, in dem er das Feld der Neuro­biologie absteckt, wird deut­lich, dass es ihm nicht nur um die Beschreibung von Faserverläufen ging, sondern ihn vor allem die Ausprägung des Nervensystems in diachroner Perspektive interessierte. Beispielsweise sollte die vergleichende Anato­ mie zeigen, wie die Entwicklung des Grosshirns kulturelle Diversifizierung ermög­ lichte, und die Nervenpathologie nachweisen, wie gesellschaft­liche Faktoren wie etwa Alkoholkonsum irreparablen neurologischen Schaden verursachten, der sich in folgenden Generationen weiter manifestierte.146 Die Neurobiologie wurde geradezu 143 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 155. 144 Im medizinhistorischen Archiv der Universität Zürich liegen Übersichten vor zu den Arbeiten, die unter Forels Leitung in den Jahren 1883 – 87, 1892 – 96 und 1897 – 99 entstanden sind. Für die Jahre 1883 bis 1887 wurden von fünf Arbeiten drei zu hirnanatomischen Themen geschrieben (Bronislaus Onufrowicz, Experimenteller Beitrag zur Kenntnis des centralen Ursprunges des Nervus acusticus, Diss. Berlin 1885; Wladislaus Onufrowicz, Das balkenlose Mikrocephalengehirn Hofmann, Ein Beitrag zur pathologischen und normalen Anatomie des mensch­lichen Grosshirnes, Diss. Berlin 1887; Pericles Vejas, Experimentelle Beiträge zur Kenntnis der Verbindungsbahnen des Kleinhirns und des Verlaufs der Funiculi graciles und cuneati, in: Archiv für Psychiatrie 1, 1885, S. 200 – 214). Für die Jahre 1892 bis 1896 sind es von sieben Arbeiten drei (Adolf Meyer, Über das Vorderhirn einiger Reptilien, Diss. Leipzig 1892; Aimé Mercier, La Diminution de poids du Cerveau dans la Paralysie Générale, Basel/Leipzig 1895; Jean Nötzli, Ueber Dementia senilis, Diss. Basel 1895). Von 1897 bis 1899 ist nur noch eine von acht Arbeiten der Hirnanatomie gewidmet (Arnold Brehm, Über die Todesfälle und Sectionsbefunde der Zürcherischen kantonalen Irrenheilanstalt Burghölzli vom 17. März 1879 bis 17. März 1896, Diss. Zürich 1897). Die Hirnsektionen wurden fast alle von Forel vorgenommen (Brehm, Über die Todesfälle, 1897, S. 55). 145 Forel, Ueber das Verhältnis der experimentellen Atrophie (orig. 1891), S. 206 f.; ders., Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 5 – 13. 146 Vgl. zu Forels Vererbungsvorstellungen Kap. 2. 2.

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als Schlüssel zum Wohl der mensch­lichen Kultur dargestellt. Sie war nach Ansicht Forels die „Wissenschaft des Mensch­lichen im Menschen“ und damit die Grundlage des kulturellen Fortschritts.147 So war Forel begeistert von Oskar Vogts Gründung einer Neurologischen Centralstation, die sich eine ebensolche multiperspekti­vische Erforschung der Neurobiologie zum Programm gemacht hatte.148 Bereits in der Arbeit Gehirn und Gesittung seines Lehrers Meynert aus dem Jahr 1888 hatte die kulturelle Cerebralisierung durchgeschienen, als dieser in seinem Konzept der Persön­ lichkeitsentwicklung die Assoziationskomplexe der Hirnrinde als das zivilisierte, sekundäre Ich definiert, dagegen das primäre Ich in die entwicklungsgeschicht­lich älteren Hirnteile eingeordnet hatte. Zusätz­lich führte Meynert einen politischen Vergleich an, der die hierarchischen Verhältnisse zwischen Hirnrinde und untergeordneten Hirnteilen darstellen sollte.149 In Forels hirnanatomischen Texten finden sich keine solchen unmittelbaren politischen Analogien von Gehirn und Staat. Der kulturelle Resonanzraum wird hingegen in späteren Texten Forels erkennbar, wo das Gehirn zur Zeitmaschine wird. Die unterschied­lich entwickelten Hirngebiete besitzen eine evolutionäre Dimension, und Forel betont den Primat des Nerven­ systems über alles andere: „Das Nervensystem überragt an Wichtigkeit alle Gewebe des Körpers. Es ist der Mensch im Menschen; alles andere ist nur niedrige, vegetative Schale oder Hilfsmaterial.“150 Doch wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, reichte die Faszination für das mikroskopierte cerebrale Nervengewebe nicht mehr aus, um die ihn beschäftigenden gesellschaft­lichen Probleme zu lösen.

1 47 Forel, Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 14. 148 Vgl. Vogt, Ueber die Errichtung neurologischer Centralstationen (1902); Forel, Zur Frage der neurologischen (hirnanatomischen und psychologischen) Centralstationen (1902). Vogt (1870 – 1959) gründete 1898 die Neurologische Centralstation in Berlin, die ab 1902 Neurobio­ logisches Laboratorium der Universität genannt wurde. Dieses Laboratorium wiederum wurde 1915 zur Forschungsstätte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung umbenannt. Vgl. Schulze, Hirnlokalisationsforschung in Berlin, S. 60. 149 Hagner, Gehirnführung, S. 186. Zu Paul Flechsigs Analogie von Gehirn und Monarchie ders., Geniale Gehirne, S. 204 f. 150 Forel, Einige Worte zur Neuronenlehre (1905), S. 236. Nur kurz sei noch erwähnt, dass er auch Metaphern aus dem organischen und technischen Bereich zuzog, um die Funktionsweise des Nervensystems zu verdeut­lichen, die aber auch epistemisch konstitutiv wirkten (vgl. ­Hänseler, Metaphern unter dem Mikroskop). So sprach er von Nervenfortsätzen, die in Form „stark veräs­telter Bäume“ sich verzweigten (Einige hirnanatomische Betrachtungen und Ergebnisse, 1887, S. 5); von „Polypenarmen der Nervenzelle“ (Gehirn und Seele, 1894, S. 15); von den ­Nerven als „Telegraphendrähten“ (Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler, 1908, S. 4), von „Depeschen“, die niedergelegt, kombiniert und weiterspediert werden (Hygiene der Nerven, 1922, S. 70). Auch Wilhelm His gebrauchte das ältere Bild des Telegraphensystems (vgl. Breidbach, Nerven­zellen oder Nervennetze, S. 119 f.).

2. Die Wendung zur Psychologie Wie vielen andern Psychiatern seiner Zeit waren Forel die Grenzen der hirnanato­ mischen Laborforschung für die Therapie deut­lich geworden. Den Klinikern standen nur beschränkte Behandlungsmethoden zur Verfügung. Wiederholt beklagte er die therapeutische Trostlosigkeit der Psychiatrie, wie Unterassistent Fritz Brupbacher berichtete: „Ach, was mache ich da für eine Arbeit. Ich bewache Irre. Das könnte ­Feinäugle (der Portier) grad so gut machen.“151 Gleichzeitig war das Feld psychiatrischer Therapeutik aber auch in Bewegung. Eine neue Generation von Klinikdirektoren war am Werk, die sich nicht mit der Arbeit im hirnanatomischen Laboratorium begnügte. Einige wandten sich der Neurologie als neuem Spezialgebiet der Medizin zu, andere der Experimentalpsychologie und dritte dem Hypnotismus. Auch neue diagnostische Techniken fanden in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ihren Weg in die psychiatrischen Untersuchungszimmer.

2.1 Psychologische Therapeutik: Abstinenz, Arbeit und Hypnose Wie Engstrom festhält, war das Potenzial der hirnanatomischen Forschung überschätzt worden.152 Zwar konnten Hirnbereiche und Faserverläufe beschrieben werden, doch für die Behandlung der Hirnkranken brachten diese Erkenntnisse keinen Fortschritt. Forels Direktorium im Burghölzli fällt in die Phase des sogenannten therapeutischen Nihilismus.153 Damit wird in der Psychiatriegeschichte die Periode von 1870 bis zum Ersten Weltkrieg bezeichnet, als mit abnehmender Tendenz Isolierungen, Deckel­bäder, Zwangsjacken und Zwangsernährung dominierten.154 Daneben wurden Arbeitstherapie und Medikamente verordnet, die jedoch „eher zur allgemeinen Beruhigung und Appetitanregung als zur spezifischen Therapie der Geisteskrankheiten“ dienten.155 Ackerknecht hält fest, dass der Anstaltspsychiater des Jahres 1900 zwar über bessere Klassifizierungs- und Prognosemög­lichkeiten verfügte, die Behandlungsmethoden 151 152 153 154

Brupbacher, 60 Jahre Ketzer (orig. 1935), S. 59. Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 123. Vgl. Lesky, Die Wiener medizinische Schule, S. 146 f. Meier, Zwang und Autonomie in der psychiatrischen Anstalt, S. 73. Vgl. zu den verschiedenen Phasen innerhalb der Psychiatriegeschichte Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie, S. 101 – 105; Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 86 – 107. 155 Meier und Bernet, Grenzen der Selbstgestaltung, S. 39. So wurden beispielsweise Sulfonat bei Schlafstörungen (StAZH Z 100, KA-Nr. 4741 und 4853) und Brom bei Epilepsie angewandt (StAZH Z 100, KA-Nr. 5785 und 6432).

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jedoch immer noch „ärm­lich“ waren 156, und Germann diagnostiziert der damaligen „Anstaltspsychiatrie“ eine „therapeutische Ratlosigkeit“.157 Forel hatte während seiner Assistenzzeit bei Gudden in München gearbeitet, der sich als Verfechter des No-Restraint einen Namen gemacht hatte.158 Er selber äusserte sich ebenfalls wiederholt als Anhänger des Verzichts auf mechanischen Zwang. So stellte er in der Psychiatrievorlesung, die er in den 1870er-Jahren in München hielt, den Medizinnovizen auch das System des No-Restraint vor. Nach diesem Konzept dürften Isolierung, „Bierabzug“ und Zwangsjacke noch eingesetzt werden, dagegen seien „Zwangsstühle, Rad, Schrank, zwangsweise gegebene kalte Bäder und Duschen, Schläge jeder Art“ verboten.159 Auch im Burghölzli, wo durch Wilhelm Griesingers Planung und durch das erste Direktorium Guddens schon eine Tradition des Verzichts auf Zwangsmassnahmen angelegt war, knüpfte Forel an diese Strömung an.160 In der Instruktion für das Wartpersonal legte er grosses Gewicht auf die korrekte Behandlung der Kranken. Wie ein Blick in die jähr­lichen Rechenschaftsberichte zeigt, wurden diesbezüg­liche Fehler geahndet und die betreffenden Pflegerinnen und Pfleger entlassen.161 Allerdings verrät die Lektüre der Jahresberichte und der Krankenakten, dass zum therapeutischen Spektrum unter Forel neben Isolierung und Zwangsjacken auch kalte Duschen und Deckelbäder gehört hatten.162 Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war davon geprägt gewesen, neue Zugänge zum Verständnis psychischer Krankheiten zu finden.163 Die anatomisch ausgerichtete Hirnpsychiatrie Meynerts und Guddens hatte keine Klassifikation der Geisteskrankheiten geliefert und auch im therapeutischen Bereich keine Fortschritte erzielt. Basierend auf der psychophysiologischen Lehre Gustav Theodor Fechners, hatte Wilhelm Wundt die experimentalpsychologischen Methoden weiterentwickelt 1 56 Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie, S. 81. 157 Germann, „Alkoholfrage“ und Eugenik, S. 146. 158 Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 408; Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 64. Die Debatte um die Behandlung gemäss No-Restraint wurde 1860 im deutschen Sprachraum nach der deutschen Publikation von The Treatment of the Insane without Mechanical Restraints von John Conolly (orig. 1856) angeheizt (Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 61). 159 Vgl. Notizen zu einer Psychiatrie-Vorlesung, S. 31 (MHIZ PN 31.1:16). 160 Zu Griesinger und der Burghölzli-Planung vgl. Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 379 f.; zu Griesinger und No-Restraint Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 61 – 65. 161 In den Jahresberichten wurden die Gründe der Entlassungen jeweils in der Rubrik Personal­ nachrichten angegeben. Misshandlungen und rohe Behandlungen von Kranken gehören (neben Unfähigkeit, schlechter Aufführung und Urlaubsüberschreitung) zu den meistgenannten Gründen. 162 Vgl. zum Beispiel Rechenschaftsbericht 1883, S. 9, Rechenschaftsbericht 1895, S. 9 f.; StAZH Z 100, KA-Nr. 4601 und 4677. 163 Vgl. Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 121 – 146.

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und damit die Grundlage für klinische Untersuchungen auch innerhalb der Psychia­ trie geliefert.164 Besonders Emil Kraepelin versuchte, die Psychophysik im Bereich der Psychiatrie zu verankern und formulierte ein nosologisches System der Geisteskrankheiten, das er erstmals in seinem Psychiatrie-Lehrbuch von 1896 erläuterte.165 Die bereits früher von Griesinger propagierten Wachabteilungen, wo die Patientinnen und Patienten konstant überwacht wurden, dienten der wissenschaft­lichen Analyse des Patientenverhaltens.166 Parallel zu den diagnostischen Entwicklungen formulierten einige Wissenschaftler Theorien und Therapieansätze im Bereich der medizinischen Psychologie. In diesem Zusammenhang sind die Hypnosestudien der 1880er-Jahre von Jean-Martin Charcot und Hippolyte Bernheim zu nennen, die Arbeiten von Pierre Janet, der als Begründer der kathartischen Therapie gilt, und die Entwicklung der kathartischen Therapie und der Psychoanalyse durch Josef Breuer und Sigmund Freud.167 Neue Therapieansätze im Burghölzli Forels fast 20-jähriges Direktorium von 1879 bis 1898 wird in der Geschichte des Burghölzli als „gesegnete und glanzvolle Epoche“ gefeiert.168 Wie unter vielen seiner Klinikkollegen veränderte sich die Behandlungspraxis auch unter Forel. Neben den inhalt­lichen Schwierigkeiten der hirnanatomischen Forschungen konnte er auch die aufwändigen hirnanatomischen Untersuchungen nicht mehr mit seinem Arbeitspensum als Klinikdirektor und Psychiatrieprofessor vereinbaren. Wie bereits beschrieben, brach Forel nicht komplett mit der Hirnanatomie, doch der psychothera­ peutische Aspekt rückte auch bei ihm ins Zentrum. Neben dem Hypnotismus, der weiter unten ausführ­lich behandelt wird, bildeten Arbeitstherapie und Alkoholab­ stinenz die Pfeiler seiner therapeutischen Arbeit. Manfred Bleuler spricht von einem historischen Umschwung, der durch diese psychischen Beeinflussungen markiert worden sei, und sieht als entscheidende therapeutische Wendung, als sich Forel vom 164 Vgl. zu Fechner Arendt, Gustav Theodor Fechner; Fix und Altmann (Hg.), Fechner und die Folgen ausserhalb der Naturwissenschaften; zu Wundt Hothersall, History of Psychology, S. 115 – 138; Benetka, Denkstile der Psychologie, S. 62 – 100; Rieber und Robinson (Hg.), Wilhelm Wundt in History. 165 Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 140 f. Die Anwendung der psychophysischen Methoden verlief für Kraepelin jedoch nicht wunschgemäss. Die experimentellen Methoden wie zum Beispiel die Reaktionszeitmessungen waren in der Psychiatrie nicht anwendbar. Vgl. van Bakel, „Ueber die Dauer einfacher psychischer Vorgänge“. 166 Vgl. Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 129 – 135. 167 Siehe zu Janet Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie, S. 87 – 89; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 449 – 560. 168 Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 414. Ellenberger schreibt, dass das Burghölzli dank Forels Reformen Weltruf erlangt habe (Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 394).

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„toten Hirn“ dem „kranken Menschen“ zugewendet habe.169 Der Umbruch wird im Jahresbericht des Burghölzli von 1887 deut­lich, wo neben den Arbeitstagen der Patien­ tinnen und Patienten, seit 1885 aufgeführt, nun erstmals auch die Hypnosetherapie und die Abstinenz erwähnt werden.170 Arbeitstherapie: der „rechte definitive Lebenszweck“ Dass sich Arbeit therapeutisch nutzen lasse, war nicht Forels Erfindung. Schon im Rahmen des Traitement moral des frühen 19. Jahrhunderts wurde die Ansicht vertreten, dass Beschäftigung positiv auf die Kranken wirken konnte, und auch in der deutschen Anstaltspsychiatrie war die Patientenarbeit gängig. 171 Wie Bleuler festhält, war die Arbeitstherapie schon bei der Anstaltsplanung bedacht worden. Doch anfäng­lich wurde sie eher als Unterhaltung der Patienten denn als genuin thera­ peutisches Mittel angesehen und erst unter Forel intensiviert.172 Während Forels Amtszeit erhöhte sich der Anteil der beschäftigten Patientinnen und Patienten von einem Drittel auf die Hälfte.173 In den Wärterinstruktionen aus dem Jahr 1879 wies er auf die Wichtigkeit der Beschäftigung hin: „Die Beschäftigung der Kranken gehört zu den wichtigsten gegen die Geisteskrankheiten in Anwendung kommender Heilmittel.“174 G ­ leichzeitig wurden die Oberwärterinnen und Oberwärter sowie das 169 Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 396 und S. 399. Hans W. Maier, Nachfolger von Eugen Bleuler als Direktor des Burghölzli, nannte Forel in seiner Rede am Dies academicus von 1932 anläss­lich der Enthüllung von Forels Büste „einen der Gründer der modernen wissenschaft­ lichen Psychotherapie“ (Ansprachemanuskript, UAZ AB.1.0265). 170 Vgl. Rechenschaftsbericht 1885, S. 35 f.; Rechenschaftsbericht 1887, S. 6 und S. 9. 171 Vgl. Germann, Arbeit als Medizin, S. 202. 172 Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 395 f. Als Schweizer Pionier der Patientenarbeit gilt Heinrich Schiller, der sich in der Irrenanstalt Wil seit den 1890er-Jahren damit beschäftigte (vgl. Germann, Arbeit als Medizin, S. 204). Schiller war 1888/89 Volontärarzt am Burghölzli und verfasste unter Forel eine hirnanatomische Dissertation (M. H. Schiller, Sur le nombre et le calibre des fibres nerveuses du nerf oculomoteur commun, chez le chat nouveau-né et chez le chat adulte, in: August Forel, Gesammelte hirnanatomische Abhandlungen, München 1907, S. 199 – 201, orig. 1889, zur Anstellung Schillers Verzeichnis der Aerzte, MHIZ PN 31.1:33). Paul Julius Möbius’ Publikation Ueber die Behandlung von Nervenkranken und die Errichtung von Nervenheilstätten (Berlin 1896) hatte das Interesse vieler Psychiater auf das Thema Patienten­ arbeit gelenkt, so auch von Henri Monnier, der unter Forel zum Thema dissertierte (Über die Behandlung von Nervenkranken und Psychopathen, 1898). Das Konzept der „aktiveren Krankenbehandlung“, das der deutsche Psychiater Hermann Simon in den 1920er-Jahren formuliert hatte, wurde in der Schweiz bis in die Nachkriegszeit breit rezipiert (vgl. Germann, Arbeit als Medizin, S. 196; ders., Arbeit, Ruhe und Ordnung). 173 Germann, Arbeit als Medizin, S. 204. 174 Instruktion für das Oberwartpersonal der Irren-Heilanstalt Burghölzli (vom 14. Juni 1879), § 21 (StAZH III Go 1, Fasz. 2).

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ihnen untergeordnete Wartpersonal dazu angehalten, mit gutem Beispiel voranzugehen, um zu zeigen, „dass von Gesunden wie Kranken die Arbeit als ehrend und nütz­lich gesucht und nicht gemieden werde“.175 Forel überwies geeignete Patientinnen und Patienten an Adolf Grohmann, der in Zürich an der Hegibachstrasse 52 eine Beschäftigungsanstalt für Nervenleidende mit Gärtnerei und Tischlerei betrieb.176 Die Kommentare von Forels Nachfolger Eugen Bleuler im Jahresbericht von 1898 verdeut­lichen, dass die Durchführung der Beschäftigungstherapie in der Klinik wegen der mangelnden Arbeit und der ungenügenden Betreuungssituation erschwert wurde.177 Die psychotherapeutische Wirkung der Beschäftigung erklärte Forel gehirnphysiologisch. Das Gehirn arbeite auf falschen Bahnen, die „natür­lichen Anlagen darben“: „Wie eine durch Gewitter in Verwirrung gerathene telephonische Centralstation, muss das Neurocym des Gehirnes wieder ins Geleise kommen.“178 Dies konnte nach seiner Ansicht nicht einfach durch handwerk­liche Arbeit gelingen, sondern musste an die Persön­lichkeit des Kranken angepasst werden. Eine seiner Patientinnen, ein gebildetes „Fräulein“, zu Hause weniger begabt eingeschätzt als ihre Geschwister, wurde immer „hysterischer“. Auf Anweisung Forels wurde ihr sehn­licher Wunsch, Krankenpflegerin zu werden, erfüllt – und sie wurde gesund. Der „rechte definitive Lebenszweck“ müsse für den Kranken gefunden werden, folgerte Forel: „Man wird sich dann oft wundern, alle psychopathologischen Störungen wie durch einen Zauber schwinden, und aus dem unglück­lichen, unfähigen Nervenkranken einen thatkräftigen, leistungsfähigen, bedeutenden, vollwerthigen Menschen entstehen zu sehen, der durch Arbeitsleistung sogar seine Mitmenschen in Erstaunen setzen kann.“179 Abstinenz: die Heilung vom Alkohol Als zweiter wichtiger Pfeiler der psychotherapeutischen Arbeit Forels wird die Durchsetzung der Abstinenz zur Heilung der Alkoholabhängigkeit genannt.180 Während des 19. Jahrhunderts stieg der Pro-Kopf-Konsum an Alkohol konstant an und manifestierte sich dramatisch in verschiedenen „Schnapswellen“, die gemäss Jakob Tanner jedoch keine empirischen Befunde widerspiegeln, sondern vielmehr 175 Instruktion für das Oberwartpersonal (1879), § 21. Vgl. auch Instruktion für das Wartpersonal der Irren-Heilanstalt Burghölzli (vom 14. Juni 1879), § 22 (StAZH III Go 1, Fasz. 2). 176 Vgl. Forel, Zur Behandlung der Psychopathen (1894); Monnier, Über die Behandlung von Nervenkranken und Psychopathen (1898); Grohmann, Technisches und Psychologisches in der Beschäftigung von Nervenkranken, (1899); ders., Entwurf zu einer genossenschaft­lichen Musteranstalt (1899). 177 Rechenschaftsbericht 1898, S. 17. 178 Forel, Bemerkungen zu der Behandlung der Nervenkranken (1902), S. 5. 179 Ebd., S. 4. 180 Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 396. Vgl. auch Kuhn, Wider den Alkoholteufel.

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eine Thematisierungskonjunktur darstellen.181 Die zweite grosse Schnapswelle der 1870er-Jahre stand im Zusammenhang mit der raschen Industrialisierung, spezieller auch der Liberalisierung der Volkswirtschaft, die in der Bundesverfassung von 1874 proklamiert wurde und eine zunehmende Anzahl Wirtshäuser und Verkaufsstellen von Alkoholika zur Folge hatte.182 Der hohe Alkoholkonsum und dessen gesundheit­liche und soziale Folgen beschäftigten auch die Psychiater. Während der Assistenzzeit in München übernahm Forel die Abteilung der unruhigen Männer und wurde mit den Folgen des Alkohol­ konsums konfrontiert: „[M]ir [dämmerte] zum ersten Male die Alkoholfrage auf. Ich sah fortwährend die Alkoholiker in der Anstalt selbst sich berauschen und die Deliranten nach ihrer Entlassung sofort wieder in der ersten besten Kneipe sich krank trinken.“183 Im Burghölzli traf er die gleiche Situation an, wobei unter seinen Patientinnen und Patienten die Alkoholabhängigen mit gegen 20 Prozent einen beträcht­lichen Anteil ausmachten.184 Die Begegnung mit dem Schuhmacher Jakob Bosshardt, dem Vorsteher der Neumünster-Sektion des Blauen Kreuzes in Zürich, veranlasste ihn, 1886 selber abstinent zu werden.185 Den Alkoholikern, die mit Delirium tremens oder sonstigen Folgeerscheinungen des Alkoholkonsums in die Klinik eintraten, verschrieb er ab Herbst 1886 totale Abstinenz. Laut ­Friederike Oberdieck, die unter Forels Leitung eine Dissertation über die Behandlung des Alkoholismus verfasste, wurde damit die „neue, bessere Zeit“ in der Alkoholismustherapie eingeläutet.186 Forel war von den Ergebnissen der neuen Behandlungsmethode begeistert, wie sein Kommentar im Jahresbericht von 1888 zeigt: „Die consequent durchgeführte totale Entziehung der alkoholischen Getränke bei allen Fällen von Delirium tremens und andern alkoholischen Psychosen während ihres ganzen Anstaltsaufenthaltes bewährt sich vortreff­lich. […] Sie blühen dann auf, fast vom ersten Tage an, beim Wasserregime.“187 Auch ausserhalb der Alkoholismus­ behandlung führte Forel im Burghölzli zunehmend ein Abstinenz-Regime ein. Ab 1894 wurde der Alkohol bei sämt­lichen Kranken gestrichen – mit Hilfe einer neu 181 Vgl. Tanner, Alkoholismus, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 2. 6. 2009, http:/www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16558.php; ders., Die „Alkoholfrage“; Germann, „Alkoholfrage“ und Eugenik, S. 145. Vgl. auch Gusfield, Benevolent Repression. 182 Tanner, Die „Alkoholfrage“, S. 151 f. 183 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 77. 184 Vgl. Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 99. 185 Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 126 f. und S. 141. Gemäss Spode könnten eher Abstinenzversuche in England für Forels Entschluss Vorbild gewesen sein (Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 222). 186 Oberdieck, Beitrag zur Kenntniss des Alkoholismus und seiner rationellen Behandlung (1897), S. 4. 187 Rechenschaftsbericht 1888, S. 8 f.

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angeschafften Limonadenmaschine, wie Forel im Jahresbericht von 1894 berichtete.188 Auch beim Personal schränkte er den Alkoholkonsum ein, indem er im Jahr 1888 die täg­liche Weinration des Wartpersonals von acht auf sechs Deziliter reduzierte.189 Bei gänz­lichem Weinverzicht erhielten die Wärterinnen und Wärter eine „Weinvergütung“.190 Seit den 1880er-Jahren unterstützten europaweit Abstinentenvereine den Durchbruch der wissenschaft­lichen Konzepte zum Alkoholismus.191 1851 wurde der Guttemplerorden in den USA, 1868 in England und 1889 in Deutschland gegründet, und in der Schweiz gründete der Pfarrer Louis-Lucien Rochat 1877 das Blaue Kreuz. Ab 1887 fungierte der Schweizerische Alkoholgegnerverband als Dachgesellschaft und schuf 1902 die Schweizerische Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus. Daneben versuchten Frauenvereine, mittels alkoholfreier Gaststätten den Wirtshäusern die Klientel zu entziehen. In Zürich war der Frauenverein von ­Susanne Orelli ab 1894 tätig.192 Mit üb­lichem Eifer engagierte sich Forel für seine neue Überzeugung und stürzte sich in rege Vortrags- und Publikationstätigkeit.193 Weiter organisierte er 1887 in Zürich einen Internationalen Kongress gegen den Missbrauch geistiger Getränke, gründete 1889 die Internationale Gesellschaft zur Bekämpfung des Alkoholgenusses, 1890 den Alkoholgegnerbund in Zürich (u. a. mit Alfred Ploetz, Eugen Bleuler und Max Bircher), 1891 die Internationale Monatszeitschrift gegen die Trinksitten, trat 1892 dem Internationalen Orden der Guttempler bei und gründete dessen schweizerische Loge Helvetia.194 Weiter unterstützte er 1893 die Gründung der abstinenten Studentenverbindung Libertas.195

1 88 Rechenschaftsbericht 1894, S. 9. 189 Brief Forels an den Sanitätsdirektor des Kantons Zürich vom 13. März 1888, StAZH S 326.1, Fasz. 1. 190 Forel, Der Alcoholgenuss in Irrenanstalten (1892), S. 86. Vgl. den Bericht der Untersuchungskommission an den Regierungsrat, 16. Juli 1897, S. 14 f. (StAZH S 320:1, Fasz. 2). 191 Lengwiler, Zwischen Klinik und Kaserne, S. 257. 192 Vgl. Tanner, Die „Alkoholfrage“, S. 157 und S. 159. 193 Die Auswertung der Bibliografie Forels hat ergeben, dass die Publikationstätigkeit Forels zu den Themen „Alkoholfrage“ und Abstinenz 1891 begann und diese durchgehend bis 1912 zu seinen publizistischen Lieblingsthemen gehörten. Vgl. die Bibliografie von Weber, Bibliographie der Werke von und der wissenschaftshistorischen Schriften zu August Forel. 194 Der International Order of Good Templars wurde 1851 in den USA gegründet und war eine von Geist­lichen dominierte sozialhygienische Bewegung (http://www.iogt.org/wp-content/ uploads/2011/06/History.pdf, eingesehen 11. 8. 2014). Forel spaltete sich 1906 mit antireli­giösen Gesinnungsgenossen/-innen ab und gründete den neutralen Guttemplerorden (IOGTN). Vgl. zum IOGT auch Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 219 – 228. 195 Polivka, Wider den Strom, S. 22.

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Abb 3 August Forel wurde im Oktober 1892 zum Ehrenmitglied ernannt von Helvetia, dem Abstinenten-Verein der schweizerischen Mittelschulen (MHIZ PN 31.1:1076 (1)).

Für seine therapeutischen Bemühungen war 1889 die Eröffnung der Trinkerheilstätte in Ellikon an der Thur besonders wichtig.196 Die Leitung im Hausvatersystem übertrug er Jakob Bosshardt, der ihn selber zum Abstinenten gemacht hatte.197 Bis 1896 präsidierte Forel das Direktionskomitee der Heilstätte, danach übernahm Eugen Bleuler das Präsidium. Neben der Abstinenz wurde in Ellikon auf geordnete Beschäftigung gesetzt. Ordnung, Pünkt­lichkeit und Rein­lichkeit wurden betont, um „den Pfleglingen als Vorbild für die Reorganisation ihres künftigen Familienlebens“ zu dienen.198 Weiteres Standbein der Therapie war die moralische Einwirkung. Dazu gehörte die Belehrung durch Hausvater Bosshardt, wie dem Jahresbericht von 1890 zu entnehmen ist: „Zu gewissen Stunden, besonders Sonntag Nachmittag, werden 1 96 Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 134 – 138, S. 141. 197 Das Hausvatersystem wechselte im Jahr 1975 zur ärzt­lichen Leitung (vgl. http://www.forel-­ klinik.ch/uber-uns/geschichte, eingesehen 1. 8. 2014). Die Änderung des Namens auf „Forel Klinik“ wurde im Jahr 1984 beschlossen und eingeführt. 198 Zweiter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon a. d. Thur über das Jahr 1890, Zürich 1891, S. 9.

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die Kranken vom Hausvater über die schlimmen Folgen des Alkoholismus durch Vorlesen von Abstinenzliteratur und durch Erfahrungen aus dem Leben belehrt.“199 Die Heilung wurde bei den Alkoholikern ganz als Anpassung an die rationale bürger­liche Lebensführungspraxis verstanden, welche durch Fleiss, Sparsamkeit und Mässigung gekennzeichnet war.200 Forel war vom System der Abstinenz und dem Aufenthalt in der Trinkerheilstätte so überzeugt, dass er 1891 anläss­lich eines Vortrags vor dem Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses in Basel forderte, die Trinker auch gegen ihren Willen in die Heilstätte einzuweisen.201 Neben Forel beteiligten sich auch andere bekannte Psychiater am oft fanatischen Kampf gegen den Alkoholismus und setzten sich für die Abstinenzbewegung ein. Kraepelin beispielsweise beschäftigte sich seit etwa 1895 intensiv mit den psychiatrischen Dimensionen der Alkoholfrage und referierte vor Abstinenzvereinen und Schulklassen.202 Ackerknecht begründet dieses Engagement damit, dass damals die Alkoholiker als einzige Gruppe „erfolgreich“ behandelt werden konnten.203 Forels eifriger Kampf, sein rastloses Umherreisen zu Referaten und Logengründungen wird jedoch nur verständ­lich, wenn die „Alkoholfrage“ als Schlüsselbegriff eines sozial­ hygienischen Diskurses gedeutet wird. „Alkoholfrage“ und Degeneration Neben den Psychiatern äusserten sich auch Physiologen, Rassen- und Sozialhygieniker zum Thema Alkoholismus. Gemäss Lengwiler waren für den psychiatrischen Umgang mit Alkohol um 1900 zwei theoretische Konzepte richtungsweisend.204 Im physiologisch-neurologischen Paradigma stand die toxische Wirkung des Alkohols auf Zellstruktur und Nervensystem im Mittelpunkt. Mit diesen Aspekten beschäftigten sich vor allem Physiologen wie Gustav von Bunge und Emil Abderhalden.205 Im zweiten Konzept, dem erbbiologisch-eugenischen Paradigma, stand die Weitergabe der mit dem Alkohol verbundenen Pathologien über die Generationen hinweg im Zentrum.206 1 99 Ebd., S. 9. 200 Heggen, Alkohol und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 183. 201 Forel, Alkohol und Geistesstörung (1891), S. 19. Am gleichen Tag hielt Forel ein Referat an der Versammlung der Schweizer Schutzaufsichts-Vereine für entlassene Sträflinge in Basel, wo er ebenfalls für die Zwangseinweisung plädierte (Forel, Die Errichtung von Trinker-Asylen, 1892, S. 23). 202 Lengwiler, Zwischen Klinik und Kaserne, S. 262. Vgl. weiter Debrunner, Alkoholabstinenz und Psychiatrie, S. 22 – 25. Vgl. zur Verwissenschaft­lichung des Kampfes gegen den Alkohol auch Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 135 – 137 und S. 221 – 223. 203 Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie, S. 76. 204 Lengwiler, Zwischen Klinik und Kaserne, S. 257. 205 Debrunner, Alkoholabstinenz und Psychiatrie, S. 29 – 31. 206 Lengwiler, Zwischen Klinik und Kaserne, S. 257 f.

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Die „Alkoholfrage“ entfaltete ihr diskursives Potenzial auf dem „düsteren Hintergrund“ von Degenerationstheorien und Zivilisationskritik.207 Bereits Benedict Morel, der 1857 seine Degenerationstheorie vorgelegt hatte, hatte Vergiftung, v. a. durch Alkohol, als zentralen Faktor für den degenerativen Prozess identifiziert.208 Für Forel verkörperte der Alkohol den „wahren Teufel des neunzehnten Jahrhunderts“, den er für die Entstehung vieler Geisteskrankheiten verantwort­lich machte.209 Aber nicht nur Gehirn und Körper des einzelnen Alkoholikers waren gefährdet. Auch die „Entartung der Nachkommenschaft“ war nach seiner Ansicht dem Alkohol zuzuschreiben.210 Er war mit Morels Gesetz der Progressivität vertraut, das ausführte, dass sich pathologische Erscheinungen nicht nur weitervererbten, sondern in den folgenden Generationen verschlimmerten. Forel war überzeugt, dass dies auch beim Alkohol der Fall war.211 In seiner Argumentation verschränkten sich „Alkoholfrage“ und Eugenik immer deut­licher. So sprach er 1891 noch vom Alkohol als „Gehirngift“, der das Individuum, das „Mensch­liche im Menschen“ und die „Keime seiner Nachkommenschaft“ zerstöre.212 1908 hatte sich die Rhetorik verschärft, und er sprach vom Alkohol als „Rassengift“.213 Die Rede Forels über Alkoholismus und Keimschädigung in einem biopolitischen Kontext wurde immer wortreicher, und er kam zu einer pessimistischen Diagnose: 207 Tanner, Alkoholismus. Vgl. zum Zusammenhang von Alkoholismus und Degeneration respek­ tive Eugenik Bynum, Alcoholism and Degeneration; Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 135 – 141; speziell zu Forel Germann, „Alkoholfrage“ und Eugenik. 208 Vgl. Bynum, Alcoholism and Degeneration, S. 61; Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 47; Debrunner, Alkoholabstinenz und Psychiatrie, S. 12. Auch der deutsche Arzt und Psychiater Albert Moll (1862 – 1939), Mitstreiter Forels in der deutschsprachigen Hypnosebewegung und bekannter Sexualwissenschaftler, wies auf „Trunksucht“ als erb­lich belastenden Umstand hin, wenn es um die Degeneration des Nervensystems ging (Moll, Die konträre Sexualempfindung, 1893, S. 219). Vgl. zu Moll Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 57 f. und S. 197 – 233; Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 24; Gauld, A history of hypnotism, S. 341. 209 Forel, Die Trinksitten (1891), S. 29. Diese Publikation stellt ein grundlegendes Werk des Absti­nenzgedankens dar (Weber, Der Monismus, S. 106; Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 222). Der publizierte Vortrag erreichte bis 1908 eine deutsche Auflage von 33.000 (Germann, „Alkoholfrage“ und Eugenik, S. 146). 210 Forel, Die Trinksitten (1891), S. 19. Vgl. ders., Die sexuelle Frage (1905), S. 28, S. 272 f. und S. 514. Auch vor den Schutzaufsichts-Vereinen für entlassene Sträflinge im Oktober 1891 hob er die Einwirkungen der Trunksucht auf nachfolgende Generationen hervor (Forel, Die Errichtung von Trinker-Asylen, 1892). 211 Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 47. Vgl. Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen (1880), S. 4, wo er die „erb­liche Degeneration in Säuferfamilien“ über vier Generationen bis zum „Erlöschen der Familie“ Morel nachbetete. 212 Forel, Alkohol und Geistesstörung (1891), S. 7 und 9. 213 Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908), S. 29. Von Rassengift sprach vor allem der Physio­ loge Rudolf Wlassak (vgl. Tanner, „Keimgifte“ und „Rassendegeneration“, S. 253).

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„Unsere ganze arische Rasse siecht geradezu mehr oder weniger an chronischem Alkoholismus.“214 Seine Wortwahl veranschau­licht, so Tanner, dass der „Alkoholismus […] in der eugenischen Problematisierung einen eminenten Symbolwert [hatte], weil er für die progressive Akkumulation von Erbschäden und sozialen Pathologien stand“.215 Gleichzeitig stand Forel mit der Abstinenz ein sozialhygienisch wertvolles Instrument zur Verfügung. Mit der Alkoholenthaltung habe sich ihm „eines der besten Mittel enthüllt, in verhältnismässig kurzer Zeit eine vernünftige, fortschreitende Veredelung unserer Rasse zu erreichen, wodurch ich wieder Vertrauen und Zuversicht in die Menschheit gewann“.216 Durch die Einrichtung der Trinkerheilstätte Ellikon sollten der „mensch­lichen Gesellschaft nicht nur einzelne sonst verloren gewesene Glieder, sondern dadurch zugleich deren ganze Familie“ wiedergegeben werden.217

2.2 Einschreibungen: das prägbare Gehirn Forels neues Therapieverständnis fand sich auch in einer veränderten theoretischen Konzipierung wieder, welche die psychologische Ebene einbezog. Seine psychologisch-psychotherapeutische Schaffensphase begann im Jahr 1884, wenn man sich auf seine Publikationstätigkeit abstützt.218 Am 11. Dezember 1884 referierte er im Zürcher Rathaus über das Gedächtnis und dessen „Abnormitäten“ und räsonnierte über den Zusammenhang von Bewusstsein und Gehirn.219 Gestützt auf das Werk Les maladies de la mémoire des französischen Psychologen Théodule Ribot, beschrieb er das Modell eines biologischen Gedächtnisses, das auf der Nerventätigkeit basierte.220 Weiterer wichtiger Bezugspunkt war die Arbeit des deutschen Physiologen Ewald Hering, der 214 Forel, Alkohol und Geschlechtsleben (1905), S. 9. Vgl. ders., Die Alkoholfrage als Kultur- und Rassenproblem (1902); ders., Der soziale Fortschritt unserer Rasse und der Guttemplerorden (o. J.; 1902 – 1905); ders., L’alcoolisme comme question sociale (1910); ders., Alkohol und Keimzellen (Blastophthorische Entartung), Sonderdruck aus der Münchener Medizinischen Wochenschrift 58 (1911). 215 Tanner, „Keimgifte“ und „Rassendegeneration“, S. 256. 216 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 292. 217 Erster Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon a. d. Thur über das Jahr 1889, Zürich 1890, S. 4. 218 Walser, Einleitung, S. 26. 219 Forel, Das Gedächtniss und seine Abnormitäten (1884). Vgl. ders., Rückblick auf mein Leben (1935), S. 121. 220 Ribot, Les maladies de la mémoire (1881); ders., Das Gedächtnis und seine Störungen (1882). Für Ribot war das Gedächtnis ein biologischer Fakt, formiert durch ein Ensemble von dynamischen, stabilen Assoziationen (Gasser, La notion de mémoire organique dans l’œuvre de T. Ribot, S. 302).

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das Gedächtnis als „eine allgemeine Funktion der organisierten Materie“ definierte.221 Erlebnisse und Tätigkeiten hinterliessen nach dieser Theorie dynamische Spuren auf der organischen Grundlage, die durch wiederholte Tätigkeit verstärkt, durch Untätigkeit schwächer wurden.222 Die „höchst zutreffende Analogie“ von Gedächtnis und Vererbung bei Ribot und Hering nahm Forel gerne auf und postulierte, dass die Vererbung „sozusagen ein organisches Artgedächtniss“ sei.223 Gedächtnis und auch Vererbung würden beide „eine verborgene dynamische Spur in derselben [der Materie, M. B.] […] hinterlassen, um mittelst dieser Spur sich später in ähn­licher Weise wie das erste Mal zu wiederholen. Diese Spuren heissen beim Gedächtniss Erinnerungsbilder, bei der Vererbung erb­liche Anlage oder Keimanlage.“224 Die Vorstellung eines organischen Gedächtnisses, das sich weitervererbte, basierte auf Jean-Baptiste de Lamarcks Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften. Durch die ständige Akkumulierung von Eindrücken respektive Spuren wurde der Körper des Individuums, so Otis, zu einem „record, a palimpsest, perhaps, of its interaction with its environment, in its own lifetime, in its grandparents’ lifetimes, and in the lifetimes of its distant ancestors“.225 Am Rande erwähnte Forel vor dem Zürcher Rathauspublikum die phylogene­ tische Entwicklung der Gehirnorganisation und sagte, dass „Klarheit und Intensität der Bewusstseinsthätigkeit in der Thierreihe“ mit der „Gehirnorganisation“ sinken würden.226 Die „Menschenreihe“ allerdings fragmentierte er noch nicht nach ihrer Gehirnorganisation, eine Auslassung, die er später wortreich nachholte.227 Das phylogenetische Gehirn Zehn Jahre nach Das Gedächtniss und seine Abnormitäten trat Forel am 26. September 1894 mit dem Vortrag Gehirn und Seele vor die Jahresversammlung der Gesell­ schaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien.228 Thema des Referats war das Verhältnis physischer und psychischer Erscheinungen. Er positionierte sich als Gegner einer dualistischen und als Anhänger einer identistischen oder monistischen Sichtweise auf Körper und Geist respektive Seele: „Seele [muss] als die ganze, im Licht 221 Vgl. Herings gleichnamige Publikation Ueber das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie, Wien 1870. Zu Hering auch Köck, Zur Geschichte des Instinktbegriffs, S. 225. 222 Forel, Das Gedächtniss und seine Abnormitäten (1884), S. 12. 223 Ebd., S. 14. 224 Ebd., S. 30 f. 225 Otis, Organic Memory, S. 6. 226 Forel, Das Gedächtniss und seine Abnormitäten (1884), S. 30. 227 Vgl. Forel, Methoden und Sinn der vergleichenden Psychologie (1913), S. 108. Vgl. Kap. 10. 228 Forel, Gehirn und Seele (1894). Diese Schrift fand ein grosses Publikum. Im Ersterscheinungsjahr wurde sie viermal aufgelegt, bis 1922 erfuhr sie 13 Auflagen (Walser, Einleitung, S. 27 f.).

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unserer uns bekannten inneren Bewusstseinsspiegelung erscheinende Grosshirn­ thätigkeit definirt werden.“229 Sich auf Karl Friedrich Burdach als „erhabene Leuchte der Wissen­schaft“ stützend, hatte er schon zwei Jahre vorher im Editorial der neuen Zeitschrift für Hypno­tismus seine Ansichten betreffend der Einheit von Gehirn und Seele dargelegt.230 Anders als 1884 sprach er 1894 nur noch am Rand von Gedächtnis. Mittels einer Mischung von Neuronentheorie, monistischer Weltanschauung und psychophysischen Konzepten wie Sigmund Exners Bahnung und Hemmung sowie von Instink­ten und plastischen Fähigkeiten wollte er das Bewusstsein theoretisch fassen.231 Mit der Hervorhebung der Instinkte und der plastischen Neurokymtätigkeit deutete er bereits darauf hin, dass es ihm nicht mehr primär um das Funktionieren der Gehirnnerven ging, sondern ihn die Herkunft des Lebens auf phylogenetischer Skala interes­sierte. Je nach Ausbildung von Instinkten und plastischen Fähigkeiten reihten sich nach Forels Ansicht die Lebewesen in eine Scala naturae ein.232 Zwischen Mensch und Tier bestanden diesem Konzept nach nur graduelle Unterschiede, wie er vor seinem Wiener Publikum betonte: „Doch ist der Unterschied zwischen der Plasticität der Seele eines Insectes und derjenigen eines Orang-Utangs unend­lich viel grösser, als der Unterschied zwischen der Plasticität der Seele eines Orang-Utangs und derjenigen eines Menschen, besonders noch einer niederen Menschenrasse.“233 In diesem Zusammenhang ist auch Forels Engagement für die vergleichende Psychologie, respektive die Tierpsychologie zu deuten, da er sich von der Kenntnis der Gehirnphysiologie Aufschluss über die phylogenetische Entwicklung der betreffenden Art versprach. Seine umfassenden Arbeiten in diesem Bereich behandelten bevorzugt das Insektenreich, das er als Forschungsgegenstand auch seiner Leserschaft ans Herz legte: „Höchst interessant […] ist die Psychologie der Insekten, die ich jedem besonders empfehle.“234 Die Untersuchung der Sinne, der Instinkte und 229 Forel, Gehirn und Seele (1894), S. 12. Im Gegensatz zur identistischen Sichtweise stand der psychophysische Parallelismus, eine Vorstellung vertreten vom bekannten Hirnforscher John Hughlings Jackson (1835 – 1911) (vgl. Breidbach, Die Materialisierung des Ichs, S. 301). Forel sprach sich sowohl gegen den Dualismus als auch gegen den psycho-physischen Parallelismus aus (vgl. Forel, Die psycho-physiologische Identitätstheorie, 1906). 230 Forel, Suggestionslehre und Wissenschaft (1893), S. 2; ders., Über unser mensch­liches Erkenntnisvermögen (1915). Auch in monistischen Netzwerken engagierte sich Forel, zum Beispiel als Gründungsmitglied des Deutschen Monistenbundes 1906, und publizierte in deren Vereinszeitschrift Der Monismus und den Monistischen Monatsheften. Vgl. Weber, Der Monismus, S. 112. 231 Vgl. Hagner, Gehirnführung, S. 177. 232 Vgl. dazu Gould, The mismeasure of man. Die Vorstellung einer Scala naturae geht auf Aristoteles zurück (Mosse, Die Geschichte des Rassismus, S. 30 f.). 233 Forel, Gehirn und Seele (1894), S. 28. 234 Forel, Die Psychologie der Tiere (1910), S. 32. Vgl. ders., Das Sinnesleben der Insekten (1910); ders., Le monde social des fourmis (1921 – 1923).

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der individuellen Anpassungsfähigkeit der Tiere sollte Kenntnisse über ihre Entwicklungsstufe generieren. Allgemein gelte, dass die Gehirnmasse proportional zur Intelligenz des Tieres sei.235 Von der „Urpsychologie der einfachen Zelle“ bis hin zur „höchsten Psychologie des Menschen“ erstrecke sich die ganze Stammesentwicklung der Lebewesen.236 Die höchste psychologische Entwicklungsstufe hatten nach der Theorie des organischen Gedächtnisses die Europäer erreicht. Als wichtiges Verbindungsglied auf der Scala naturae waren sie verbunden „to past life forms, to which they were superior, as well as to future ones, destined to be greater still“.237 Aber auch das Gehirn des europäischen Menschen unterschied sich nach Forel bezüg­lich automatischen und plastischen Fähigkeiten. Dominierende Automatismen wurden zur Chiffre für „niedrigere Gehirnentwicklung“.238 Die niedrigere Gehirnentwicklung interpretierte er später in anderen – sexualwissenschaft­lichen, kulturreformerischen und eugenischen – Redezusammenhängen als Ursache von Kontrollverlust, Impulsivität und Willensschwäche. Versöhnt mit Weismann: Semons Mnemetheorie Für Forels Verständnis von Psychologie und Physiologie sowie der Vererbungsvorgänge war das Werk des deutschen Biologen und Mediziners Richard Semon (1858 – 1918) zentral. 1904 legte Semon im Werk Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens eine Weiterentwicklung der Spurentheorie von Hering und Ribot vor.239 Das nach Forels Ansicht „epochemachende“240 Werk sieht Otis als späten Versuch, wie Hering Erinnerung mit Vererbung gleichzusetzen und dies mit der neuen Experimentalbiologie wie etwa Mendels Genetik in Einklang zu bringen.241 Um die Prozesse von Erinnerung und Vererbung zu beschreiben, führte Semon eine neue Terminologie ein. Mit dem Begriff Engramm benannte 235 Forel, Methoden und Sinn der vergleichenden Psychologie (1913), S. 105. Vgl. zum Zusammenhang von Gehirnmasse und Intelligenz beim Menschen Kap. 9. 236 Forel, Die Psychologie der Tiere (1910), S. 35. 237 Otis, Organic Memory, S. 25. Otis weist darauf hin, dass die Theorie des organischen Gedächtnisses für rassistische Ideen verwertbar war. Jene, die von der Entwicklungslinie abwichen, konnten als Repräsentanten tieferer Entwicklungsstufen angesehen werden (ebd., S. 39). Cesare Lombrosos Atavismustheorie basierte auf dieser Logik (vgl. Kap. 9. 2). 238 Forel, Gehirn und Seele (1894), S. 28. 239 Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip (1904), und ders., Das Problem der Vererbung „erworbener Eigenschaften“ (1912). Vgl. dazu Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 217 f.; ders., Der Hypnotismus (1919), S. 3 – 7; ders., Richard Semon’s Mneme (1905). Zu Semons Theorie und deren Rezeption Schacter, Forgotten Ideas; Florey, MEMORIA, S. 176 f.; Otis, Organic Memory, S. 27 – 30. 240 Forel, Richard Semon’s Mneme (1905), S. 196. 241 Otis, Organic Memory, S. 27 f.

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er die Gedächtnisspur, unter Ekphorie verstand er die Fähigkeit, die vorhandenen Gedächtnisspuren abzurufen, und mit Mneme schliess­lich bezeichnete er die Summe aller Engramme. Aufgrund eigener Versuche folgerte Semon, dass Engramme vererb­ bar seien.242 Er bemühte sich, sein System mit der Genetik Mendels abzugleichen, indem er die Vererbung der Engramme der Elternteile als dominanten respektive rezessiven Prozess anerkannte.243 Forel war begeistert: Durch diese Theorie würden sich grossartige neue Perspektiven zum Verständnis der Evolution ergeben, war er überzeugt.244 Vormals Anhänger von Lamarcks Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften, war Forel durch August Weismanns Theorie der Kontinuität des Keimplasmas in argumentative Schwierigkeiten geraten.245 Weismann hatte eine Trennung von Keim- und Körperzellen eingeführt und postuliert, dass das Erbmaterial im sogenannten Keimplasma angelegt sei. Nur dieses wurde nach seiner Ansicht an die nächsten Generationen weitergegeben, die Umwelteinflüsse auf die Körperzellen blieben deshalb ohne Einwirkung auf Vererbungsmechanismen. Forel dagegen hatte seinen Kampf gegen den Alkoholismus wissenschaft­lich mit der lamarckis­tischen Ansicht untermauert, dass die Schädigungen der Geschlechtszellen der Elterngeneration direkt auf die Vererbung wirkten, und diesen Vorgang 1903 mit dem Begriff „Blastophthorie“ benannt.246 Diese Theorie verfocht er über Jahrzehnte hinweg vehement. Aber wie er gestand, hatte ihn die Weismann’sche Theorie der Kontinui­tät des Keimplasmas an der Vererbung erworbener Eigenschaften zweifeln lassen. Mit Semons neolamarckistischer Mnemetheorie waren nun seine Zweifel beseitigt und sein Blastophthoriekonzept wieder in Einklang mit dem vorherrschenden Verer­ bungsparadigma zu bringen.247 Forel war begeistert von Semons Theorie, welche 242 Semon betonte, dass seine Theorie nicht alle Evolution erklären könne, und liess Raum für Darwins Vorstellung der natür­lichen Selektion (Otis, Organic Memory, S. 28). Die Anpassung an die Aussenwelt geschehe durch deren auslesende Wirkung, „die durch unablässige Beseitigung von allem weniger gut Angepassten nur dem Passenden die Gelegenheit einer dauernden, d. h. durch Generationen hindurch dauernden Erhaltung gibt.“ (Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip, zit. in: Forel, Richard Semon’s Mneme, 1905, S. 195). 243 Otis, Organic Memory, S. 29. 244 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 4. Gleichzeitig war er froh über die neue Terminologie, da diese den psychologischen wie auch den physiologischen Bereich abdecken würde (Forel, Über unser mensch­liches Erkenntnisvermögen, 1915, S. 10 und S. 16). 245 Vgl. zu Weismann Bowler, On the Origin of Species, S. 97. 246 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 171. Auch in späteren Auflagen von Die Trinksitten integrierte er seine neue Terminologie (Auflage von 1908). Allerdings räumte er 1924 ein, dass die Vererbung nicht sicher sei, sondern „sehr zweifelhaft“ (Forel, Ergänzungen, 1924, S. 164; ders., Warum soll man den Alkohol meiden? 1924, S. 48 f. und S. 66 f.). 247 Forel, Richard Semon’s Mneme (1905), S. 197; vgl. Germann, „Alkoholfrage“ und Eugenik, S. 147, und zu weiteren neolamarckistischen Strömungen Bowler, On the Origin of Species, S. 99 f.

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die mög­liche Vererbung von erworbenen Eigenschaften plausibilisierte: „Nun hat S. in seiner glänzenden Beweisführung den Weg gezeigt, auf welchem solches, wenn auch nur infinitesimal und durch sehr lange Zeiten hindurch wiederholt, doch mög­ lich ist.“248 Eine „kolossal langsame Vererbung erworbener Eigenschaften“ sei so zu erklären, ohne dass Weismanns Theorie des konstanten Keimplasmas Richtigkeit einbüssen würde.249 Dank dieser konzeptuellen Bastelei konnte Forel an der Vorstellung der Vererbung erworbener Eigenschaften festhalten, und damit stand auch das Gefährdungspotenzial des Alkohols „unter neuen wissenschaft­lichen Argumentationsbedingungen für die Rechtfertigung sozialtechnologischer Dispositive und disziplinierender Eingriffe in die Gesellschaft zur Verfügung“.250 Wie in Kapitel 10 gezeigt wird, war Semons Theorie auch im Kontext anderer sozialtechnologischer Interventionsmög­lichkeiten wie beispielsweise des Hypnotismus wichtig für Forel. Im Lehrbuch Der Hypnotismus nahm er die neue Theorie und die Terminologie auf und wurde zum einflussreichen Propagator von Semons Ideen.251 Der Arzt im Urwald: entziffern und einschreiben Wie stützten nun diese theoretischen Grundlagen die praktische Arbeit Forels? Erstens wurden durch die Vorstellung des „Artgedächtnisses“ die Erfahrungen des Individuums und auch seiner Vorfahren im individuellen Körper eingeschrieben. Forel sah das Mass der ausgebildeten Instinkte und plastischen Fähigkeiten als Ausdruck eines bestimmten phylogenetischen Entwicklungsstandes an. Dadurch wurde Geschichte im Körper des Individuums verankert: „By locating memory within the body, within the nervous system, within its component molecules, by wrenching it away from the soul, one made memory potentially knowable.“252 Dieses Palimpsest konnte bei Anwendung der korrekten Methoden gelesen werden. Eine alte Schicht dieser verkörperten Geschichte wurde beispielsweise aus Rückenmark und Ganglien gebildet, die in der phylogenetischen Sprache Forels zu „niederen ­Tieren in uns selbst“ wurden.253 Zweitens boten die theoretischen Grundlagen

2 48 Forel, Richard Semon’s Mneme (1905), S. 197. 249 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 4. 250 Tanner, „Keimgifte“ und „Rassendegeneration“, S. 257 f. 251 In der fünften Auflage von 1907 überarbeitete er das erste Kapitel über das Bewusstsein grundlegend und ergänzte es mit Semons Mnemetheorie. Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1907). 252 Otis, Organic Memory, S. 31 (Hervorhebung im Original). 253 Forel, Die psycho-physiologische Identitätstheorie (1906), S. 123. Der Diskurs über die Temporalisierung des Nervensystems ging jedoch nicht durchgehend mit Abwertungsstrategien einher. Der Einzeller barg nach Forels Ansicht die Mechanik des Lebens, und die stammesgeschicht­ lich älteren Hirnteile wurden in seiner Bewusstseinstheorie zum wichtigen Träger unterbewusster Vorgänge.

Einschreibungen: das prägbare Gehirn

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­ issen, um daraus „Vorschläge zur angemessenen Lebensführung“ abzuleiten.254 Der W Lamarckismus, der phänotypische Merkmale in den Genotyp transferierte, „eignete sich zur Begründung sozialhygienischer Postulate und einer energischen Sozialreform“.255 Forel sah, dem Denkstil der Degeneration entsprechend, zunehmend das „Artgedächtnis“ sich in negativer Weise kumulieren. Dank Semons Theorie mit den neueren Erkenntnissen der Vererbungsforschung versöhnt, diente ihm die Vererbung erworbener Eigenschaften zur Rechtfertigung, um eine „angemessene Lebensführung“ einzufordern.256 Drittens verrät Forels Terminologie, dass ihm das hirnanatomische Skalpell nicht mehr das geeignete Instrument schien, um neues Wissen über das Zusammenwirken von Psyche und Körper zu generieren. Engramme, Assoziationen und Spuren liessen sich nicht anatomisch sezieren. In seiner Schrift Die Aufgaben der Neurobiologie von 1907 entwarf er ein Programm, das auf einen Methodenpluralismus abstützte. Wie ein „Botaniker oder ein Zoologe im Urwald“ müsse der Forscher in das Material „hineinwandern“, um „die Natur und den Zusammenhang ihrer Erscheinungen durch Beobachtungen und Experimente zu erforschen“.257 Dank einem breiten Spektrum von Methoden liess sich diese anspruchsvolle Aufgabe – es ging um nichts weniger als die „Wissenschaft des Mensch­lichen im Menschen“258 – lösen. Neben Histologie, Morphologie, Entwicklungsgeschichte, vergleichender Anatomie und physiolo­ gischer Psychologie betonte Forel die Wichtigkeit der Psychologie und damit auch des Hypnotismus. Er zeigte sich überzeugt, dass man nur mithilfe der Psychologie weiter in die Gehirn-Physiologie eindringen könne.259 Auch seine Themenvergabe bei Forschungsarbeiten zeigte das inhalt­liche Spektrum, das gegen Ende der Burghölzli-­ Zeit von Hirnanatomie und Psychopathologie bis zu Psychotherapie reichte.260 Wo das Skalpell versagte, versprach der investigative Hypnotismus Erkenntnis. Die Engramme, die sich in der Materie eingeschrieben hatten, konnten dank Hypnose entziffert werden. Die Engramme konnten nachträg­lich „mit bewussten Komplexen zur Assoziation“ gebracht werden, war Forel überzeugt.261 Nach den Ansichten Sigmund Freuds und Pierre Janets, dass unterdrückte respektive disso­ ziierte traumatische Erlebnisse Erkrankungen verursachten, kam dem Hypnotismus 2 54 Hagner, Gehirnführung, S. 177. 255 Tanner, „Keimgifte“ und „Rassendegeneration“, S. 257. 256 In Kap. 10 wird auf die gesellschaftspolitischen Implikationen dieses Denkstils eingegangen. 257 Forel, Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 13 f. 258 Ebd., S. 14. 259 Forel, Über unser mensch­liches Erkenntnisvermögen (1915), S. 17. 260 Vgl. dazu Arbeiten unter Forels Leitung 1892 – 1896 und Arbeiten unter Forels Leitung 1897 – 1899 (MHIZ PN 31.4:36 und PN 31.4:37). 261 Forel, Die psycho-physiologische Identitätstheorie (1906), S. 123.

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Die Wendung zur Psychologie

eine zentrale Rolle in der therapeutischen Praxis zu.262 Durch Hypnose konnten diese vergessenen, dissoziierten oder unterdrückten Erlebnisse dem Oberbewusstsein zugäng­lich gemacht und dadurch der Heilungsprozess gefördert werden.263 Diesen Ansatz verfolgte pionierhaft Janet, dessen Behandlungen, wie Leys festhält, häufig darauf basierten „on getting the patient not to remember but to forget the traumatic origin“.264 Auch Forel nannte die traumatische Neurose als Indikation für die Hypnosebehandlung, allerdings wurde er in der Klinik nicht mit vielen solchen Fällen konfrontiert.265 Ausführ­lich beschrieb er den Fall des Patienten Herrn N., der unter „hysterischer Amnesie“ litt und der während Forels lang andauernder Hypnosetherapie Erinnerungen „produzierte“, bis „die letzten Lücken“ ausgefüllt waren: „Die Erinnerung wurde durch Suggestion wieder ekphoriert.“ 266 Herr N. wurde während seiner Therapie zum wichtigen Akteur, um seine eigene Genesung zu erreichen. Das Narrativ seines Lebens war integraler Bestandteil zur Heilung, die durch Aufdeckung verborgener Bewusstseinsschichten gelang. Wie die folgenden Ausführungen zur Hypnosetherapie bei Forel zeigen, war dies nicht der Normalfall. Üb­licherweise nahm Forel den machtvollen, aktiven Part ein und versuchte nicht aufzudecken, sondern mittels autoritativer Befehle dem Gehirn der Patientin und des Patienten neue „Engramme“ ein- und alte umzuschreiben.

262 Im Gegensatz zu Janet wandte sich Freud jedoch um 1896 vom Hypnotismus ab und ent­ wickelte seine Methode der Psychoanalyse (Leys, Trauma, S. 83). 263 Gleichzeitig wurde in der damaligen Diskussion um die Gefähr­lichkeit des Hypnotismus der gegensätz­liche Mechanismus beschrieben. Nach Bernheim konnten unter Hypnose „hallucinations rétroactives“ eingegeben werden (vgl. Kap. 5). Aus diesem Grund bleibt der Hypno­ tismus als Technik zur Aufarbeitung verdrängter Erlebnisse bis heute umstritten. Arbeitsgruppen der American Psychological Association beispielsweise hatten sich 1995 und 1996 gegen den Gebrauch von Hypnosetherapie in diesem Kontext ausgesprochen (vgl. Pintar und Lynn, Hypnosis, S. 148, S. 158). 264 Leys, Trauma, S. 12, S. 105 – 119. Zu Janets Behandlung seiner bekannten Patientin Justine Gauld, A history of hypnotism, S. 375; Pintar und Lynn, Hypnosis, S. 157; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 487 – 527. 265 Bei der Auflistung seiner behandelten Fälle von 1898 bis 1911 erwähnte er auch die trauma­ tischen Neurosen, wovon er zwei Fälle behandelt hatte (Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 210), und nannte die Kriegsneurosen nochmals separat als Behandlungsgebiet des Hypnotismus (ebd., S. 214 f.). Vgl. dazu auch Kap. 5. 3. 266 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 285 – 303, hier S. 302 f. Der Fall wurde von Forels Assistenten Max Naef in der Zeitschrift für Hypnotismus publiziert (Naef, Ein Fall, 1897). Die Eintragungen zu den Hysteriefällen in meinem Sample der Krankengeschichten gehen zu wenig auf die Ursachen der Erkrankung ein, um auf eine traumatische Ätiologie schliessen zu können.

3. Der Hypnotismus In der autobiografischen Rückschau zieht sich das Thema Hypnotismus wie ein roter Faden durch Forels Leben. Es beginnt mit den Erzählungen seiner Mutter über die „magnetischen Kuren“ des Grossvaters.267 Knapp zwei Jahrzehnte später weckten 1885 die Versuche Charcots sein Interesse, ein eigener Hypnoseversuch schlug jedoch fehl.268 Die Lektüre von Hippolyte Bernheims Buch De la suggestion et de ses applications à la thérapeutique ein Jahr später führte Forel zum erleuchtenden Moment: „Mit einem Schlag wurden mir die bisherigen Rätsel und Widersprüche klar.“269 Der Hypnotismus schien ihm Fragen zur Beziehung von Gehirn und Seele, von Gehirnphysiologie und Psychologie, zu beantworten. Innert kürzester Zeit wurde Forel zum geübten Hypno­tiseur, und Gerhart Hauptmann kam zum Schluss, dass er neben Bernheim „der grösste Vertreter der Hypnose in der Wissenschaft“ sei.270 Sein Ruf eilte ihm voraus: Die Patientinnen und Patienten reisten extra nach Zürich ins Burghölzli, um sich von Forel hypnotisieren zu lassen,271 die Zuhörerschaft drängte sich in den Vorlesungssaal, wenn er über den Hypnotismus referierte und Hypnotisierungen vornahm.

3.1 Charcot und Bernheim: die zwei Richtungen des Hypnotismus Die wissenschaft­liche Geschichte des Hypnotismus begann Ende des 18. Jahrhunderts mit dem deutschen Arzt Franz Anton Mesmer, der seine Patientinnen und Patienten in Hypnose versetzte und deren Wirkung einem besonderen Fluidum, dem „tierischen Magnetismus“, zuschrieb.272 Der englische Arzt James Braid führte Mitte des 19. Jahrhunderts den Begriff des Hypnotismus ein, sprach sich gegen die Fluidumtheorie aus 2 67 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 47. 268 Ebd., S. 125. 269 Ebd., S. 132. Gleichzeitig erschien am 1. Januar 1887 im Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte ein Bericht von Paul-Louis Ladame über die Versammlung der Association française pour l’avancement des sciences im August 1886 in Nancy, wo ausführ­lich über den therapeutischen Hypnotismus debattiert wurde und den Forel wohl aufmerksam gelesen hatte. Vgl. Ladame, L’Hypnotisme au Congrès de Nancy. 270 Hauptmann, Das Abenteuer meiner Jugend, S. 776. 271 Vgl. zum Beispiel StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, 4853, 5785, 5798. Auch Hausärzte schickten geeignete Patienten/-innen für die Hypnosebehandlung zu Forel (KA-Nr. 4839, 5732, 5839). 272 Vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 95 – 113; Gauld, A history of hypnotism, S. 1 – 22.

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Der Hypnotismus

und vertrat dagegen ein gehirnphysiologisches Konzept.273 Nachdem umherziehende Bühnenhypnotiseure im deutschsprachigen Raum das Interesse der Öffent­lichkeit und der Wissenschaftler auf den Hypnotismus gelenkt hatten, wandten sich gegen Ende der 1870er-Jahre hauptsäch­lich Physiologen der experimentellen Erforschung dieser Phänomene zu.274 Zentral für die medizinische Auseinandersetzung waren die beiden Richtungen des Hypnotismus, die sich im Verlauf der 1880er-Jahre in Frankreich herausbildeten. An der Klinik Salpêtrière in Paris entwarf der berühmte Neurologe Jean-Martin Charcot die Theorie des „Grand hypnotisme“.275 Sein Vortrag zum Thema im Jahr 1882 an der Académie des sciences markierte einen wichtigen Schritt hin zur universitären Anerkennung des Hypnotismus. Die zweite Richtung, die für das psycho­logisch-therapeutische Verständnis des Hypnotismus den entscheidenden Impuls gab, entstand in Nancy um Ambroise-Auguste Liébeault und Hippolyte Bernheim.276 Eine Flut an Publikationen zum Thema folgte in den beiden Jahrzehnten von 1880 bis 1900. Max Dessoir veröffent­lichte 1888 die Bibliographie des modernen Hypnotismus mit 812 Titeln, die Neuauflage zwei Jahre später umfasste gemäss Ellenberger bereits 382 zusätz­liche Titel.277 Zwischen den beiden Konzepten von Charcot und Bernheim gab es grundlegende Differenzen.278 So definierte Charcot die Hypnose als pathologischen Zustand, der eng mit der Hysterie verbunden und deshalb für die therapeutische Anwendung nicht geeignet sei. Er setzte deshalb den Hypnotismus an der Salpêtrière nicht thera­ peutisch ein, sondern hypnotisierte hysterische Patientinnen als Versuchspersonen im Rahmen seiner Experimentalforschung.279 Charcots praktische Demonstrationen waren weltberühmt und zogen ein grosses Publikum an. Gemäss seiner Theorie war der Hypnotismus durch die drei aufeinanderfolgenden Stadien Katalepsie, Lethargie 273 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 131 f. 274 Vgl. dazu Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 19 f. 275 Jean-Martin Charcot (1825 – 1893), Hirnphysiologe und Professor für Pathologie, wurde 1862 an die Pariser Salpêtrière berufen und war dort ab 1882 Leiter der grössten psychiatrisch-neuro­ logischen Klinik Europas. Vgl. Didi-Huberman, Invention de l’Hystérie; Finger, Minds Behind the Brain, S. 177 – 196; Goetz, Bonduelle und Gelfand, Charcot. 276 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 22. Ambroise-Auguste Liébeault (1823 – 1904) war Landarzt in der Nähe von Nancy; Hippolyte Bernheim (1840 – 1919) war Professor für innere Medizin. 277 Dessoir, Bibliographie des modernen Hypnotismus (1888); Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1016; Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 27. 278 Vgl. zur Unterscheidung und dem Disput der beiden Ausrichtungen u. a. Gauld, A history of hypnotism, S. 327 – 336; Nicolas, L’Hypnose; Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 65 – 88; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 996 – 1026. 279 Vgl. zu Charcot Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 19 – 63; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 143 – 160; Gauld, A history of hypnotism, S. 306 – 318.

Charcot und Bernheim: die zwei Richtungen des Hypnotismus

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und Somnambulismus geprägt, die jeweils charakteristische Symptome aufwiesen.280 Die Hypnotisierung der Patientinnen wurde in Charcots Schule als „ein rein physikalisch-physiologisches Verfahren aufgefasst“.281 Mittels Fixation, der älteren Hypno­ setechnik Braids, brachte Charcot die Patientinnen in den hypnotischen Zustand. Die Patientinnen wurden auch durch mechanische Reize wie elektrisches Licht oder durch den Ton einer Klanggabel in Hypnose versetzt.282 Durch Anblasen oder Druck auf die Eierstöcke liess er sie wieder aufwachen. Bernheim entwickelte eine grundsätz­lich andere Theorie und Methodik des Hypno­tismus.283 Für ihn entsprach die Hypnose einem schlafähn­lichen Zustand, der bei allen Personen durch Suggestion hervorgerufen werden konnte. Unter Sugges­tion verstand er die konkrete Eingebung einer Vorstellung in den Geist des Patien­ten. Daneben lehnte er die drei Stadien des grossen Hypnotismus von C ­ harcot ab und übernahm stattdessen die Einteilung Liébeaults, welche die hypnotische Beeinflussung in sechs Stufen unterteilte, und erweiterte diese auf neun Stufen.284 Angeregt durch die Lektüre von Liébeaults Du sommeil et des états analogues von 1864, verfasste Bernheim das Buch De la suggestion et de ses applications à la théra­ peutique, das im Jahr 1886 neben Forel auch einem breiteren Publikum bekannt wurde.285 In Nancy gaben sich in der Folge die ausländischen Ärzte die Türklinke Bernheims in die Hand, so auch Forel, der einer seiner glühendsten Anhänger wurde. Sigmund Freud, der von Oktober 1885 bis Februar 1886 bereits bei Charcot geweilt hatte, reiste angeb­lich auf Vermittlung Forels im Juli 1889 zu Bernheim.286 Allerdings beklagte sich Bernheim im Sommer 1889 bei Forel, dass der Zustrom der

280 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 145, S. 155 f. und S. 997. Pierre Janet kritisierte dieses Dreiphasenmodell Charcots. Gemäss Janet waren die drei Stadien Ergebnis des Trainings, das Charcots Patientinnen durch regelmässige Hypnotisierungen bekamen. Die Mitarbeiter Charcots übten mit Patientinnen, führten diese Charcot vor und wagten nicht, diesem zu widersprechen. Zusätz­lich wurden die Fälle in Anwesenheit der Patientinnen besprochen. Eine Atmosphäre psychischer Suggestion habe sich zwischen Charcot, seinen Mitarbeitern und den Patientinnen entwickelt, so Janet (ebd., S. 156). 281 Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 32. 282 Ebd., S. 45 f. 283 Vgl. zu Bernheim Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 137 – 143; Gauld, A history of hypnotism, S. 319 – 352. 284 Vgl. Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 7 – 15. 285 Sigmund Freud übersetzte 1888 das Buch ins Deutsche (Die Suggestion und ihre Heilwirkung, 1888). 286 Vgl. Editorische Vorbemerkungen, Sigmund Freud, Rezension von Auguste Forel, Der Hypnotismus (1889), in: Angela Richards (Hg.), Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt/M. 1987, S. 123 – 139, hier S. 123. Bernheim berichtete Forel am 30. Juli 1889: „Le Docteur Freud est actuellement à Nancy […] c’est un charmant garçon.“ (MHIZ PN 31.2:128).

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Der Hypnotismus

französischen Ärzte ausbleibe: „Seuls les français ne viennent pas, ils restent sous la suggestion charcotique et sous la sainte peur de l’hypnotisme.“287 Im Gegensatz zu Charcots experimentell ausgerichteter Laborhypnose stand bei Bernheim die therapeutische Anwendung im Vordergrund. Als Hauptanwendungsgebiete der hypnotischen Therapie propagierte er organische Erkrankungen des Nervensystems, „hysterische Affectionen“, Neurosen, funktionelle Lähmungen, Störungen der Verdauungsorgane, verschiedenartige Schmerzen und Menstrua­ tionsbeschwerden. Auch bei Sexualstörungen und Genussmittelerkrankungen wie Alkoholismus und Morphinismus wurde Hypnosetherapie angewendet.288 Bernheim und seine Anhänger waren vom Heilerfolg ihres Verfahrens überzeugt und priesen ihre hohen Heilungsquoten immer wieder an.289 Auch die Methodik der beiden Schulen unterschied sich grundlegend. Im Gegensatz zu Charcots mechanischer Induzierung der Hypnose privilegierte Bernheim das Sprechen des Arztes. Mittels leiser, monotoner Sprechweise, teilweise durch Gesten ergänzt, sollte der Patient eingeschläfert werden.290 Wie Ellenberger festhält, zeigte schon der Erste internationale Kongress über Hypno­tismus im August 1889 in Paris, dass die Schule Charcots ihre Blütezeit hinter sich hatte. Der Kongress wurde von Bernheim und seinen Anhängern dominiert, und ausser Gilles de la Tourette und Pierre Janet beteiligte sich praktisch niemand von Charcots Gefolgschaft an den Diskussionen.291 Bis zum plötz­lichen Tod ­Charcots im Jahr 1893 verloren dessen Ansichten über Hypnose noch weiter an Terrain.292 In der Zeitschrift für Hypnotismus, die der Schule von Nancy nahestand, verfasste der Redaktor Jonas Grossmann einen kurzen Nachruf auf Charcot und hob dessen Verdienste für die Neurologie und Pathologie hervor. Obwohl ihm im Bereich des Hypno­tismus „nicht vergönnt [war], das reine Licht der Wahrheit zu schauen“, dankte ihm Grossmann, „den Hypnotismus zum Gegenstand wissenschaft­licher Forschung“ gemacht zu haben.293

287 Bernheim an Forel, 19. Juni 1889 (MHIZ PN 31.2:127). 288 Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 177 – 402; Gauld, A history of hypnotism, S. 476 – 492. 289 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 205 – 210; Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 190. 290 Vgl. Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 189 f.; Gauld, A history of hypnotism, S. 324 f.; Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 69 f.; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 168. 291 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1013. 292 Vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1015 – 1026. 293 Grossmann, Jean Martin Charcot (Nachruf ) (1893), S. 391 f. Vgl. zu Charcots Nachrufen Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1025.

August Forel als Vertreter von Bernheims Schule

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3.2 August Forel als Vertreter von Bernheims Schule Mitte der 1880er-Jahre beschäftigte sich Forel ausführ­lich mit dem Hypnotismus und las begeistert Bernheims De la suggestion et de ses applications à la thérapeutique. Auf die Anfrage Forels, ihn in die Geheimnisse der Hypnosebehandlung einzuweihen, reagierte Bernheim positiv: „Vous serez le bienvenu, […] je me ferai un plaisir de vous montrer ce que nous faisons en matière d’hypnotisme.“294 Im Frühling 1887 reiste Forel nach Nancy, um Bernheims Hypnotisierungsmethode zu erlernen. Diesen Besuch deutete er rückblickend als erhellenden Moment: „[A]lles wurde mir sonnenklar, und es fiel mir geradezu wie Schuppen von den Augen.“295 Neben der therapeutischen Bedeutung sah er im Hypnotismus eine „naturwissenschaft­liche Experimentalmethode“ für die Psychologie, von der er sich Aufschluss über verschiedene Bewusstseinszustände erhoffte.296 Durch den Hypnotismus versprach er sich die naturwissenschaft­liche Anbindung der Psychologie und deren Anerkennung durch die Mediziner. Diesen Punkt betonte Forel immer wieder: Ihm war klar, dass die Profi­ lierung der Psychologie innerhalb der Medizin nur über eine naturwissenschaft­liche Fundierung gelingen konnte, gleichzeitig sollte diese Anbindung den Hypnotismus von den Laienpraktiken des Heilmagnetismus fernhalten.297 Zurück am Burghölzli, begann er gleich, die neuen Techniken bei Patientinnen und Patienten sowie dem Personal anzuwenden. Forel wurde zu einer zentralen Figur in der deutschsprachigen Hypnosebewegung; unermüd­lich setzte er sich in der folgenden Zeit dafür ein, der Hypnosetherapie zum Durchbruch zu verhelfen. Schon im Sommer 1887 publizierte er im Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte einen Artikel, wo er über seine ersten therapeutischen Versuche berichtete und für den Hypnotismus warb.298 Im folgenden Jahr schliess­lich machte sich Forel einen Namen als vehementer Propagator des Hypnotismus. Er griff in wissenschaft­liche Kontroversen ein, verfasste auf Anregung des Juristen Karl von Lilienthal in der Zeit­ schrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft einen Aufsatz über den Hypnotismus und referierte an der Versammlung des ärzt­lichen Centralvereins in Olten über die Bedeutung des Hypnotismus für die ärzt­liche Praxis.299 Auch die Jahresversammlung 2 94 Bernheim an Forel, 23. Februar 1887 (MHIZ PN 31.2:116). 295 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 133. 296 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 152. Vgl. ders., Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S.  12 f. 297 Vgl. dazu Kap. 4. 298 Forel, Einige therapeutische Versuche (1887). 299 Ders., Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888); ders., Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) (1888); ders., Der Hypnotismus und seine strafrecht­liche Bedeutung (1888); ders., Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888).

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Der Hypnotismus

Abb 4 Hippolyte Bernheim lud August Forel im Februar 1887 zu einem Besuch nach Nancy ein (MHIZ PN 31.2:116).

der renommierten Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte von 1890 nutzte er, um für den Hypnotismus zu werben.300 Forels Kernanliegen in diesen Referaten war, den Hypnotismus so schnell wie mög­lich in die Medizin zu integrieren und das Feld nicht den „Schäferknechten und Consorten“ zu überlassen. Der Hypnotismus, der „im höchsten Grade unsere Anschauungen über die Psychologie, über die Physiologie des Grosshirns zu vervollständigen im Stande ist“, müsse einer strengen wissenschaft­lichen Prüfung unterzogen werden.301 An der Universität nutzte er seinen Einfluss auf die zukünftige Generation von Medizinerinnen und Medizinern. Ab dem Wintersemester 1887/88 hielt er jähr­lich eine Vorlesung zum Thema Hypnotismus und suggestiver Therapie, die er mit Patientenvorführungen ergänzte.302 Neben der 3 00 Ders., Zur suggestiven Therapie (1890). 301 Ders., Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 4. 302 Vgl. zur Vorlesung Forels Bugmann, Der „Hexenmeister“ vom Burghölzli. Die Behandlung der Patienten/-innen im Rahmen der Vorlesung entwickelte sich zur eigent­lichen Sprechstunde (vgl. Kind, Die Psychiatrische Universitätspoliklinik Zürich, S. 67). Vgl. zum viel beachteten Beginn seiner Vorlesung Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 138 f. Eine Übersicht der Lehrveranstaltungen Forels findet sich im Nachlassverzeichnis Forel des Archivs für Medizingeschichte der Universität Zürich.

August Forel als Vertreter von Bernheims Schule

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Abb 5 August Forel suchte im Tagblatt der Stadt Zürich vom 19. Mai 1893 Probandinnen und Probanden für die Hypnosebehandlung in der Vorlesung (Zentralbibliothek Zürich UZ 1: dk).

Lehraufgabe war dies eine Mög­lichkeit, Patientinnen und Patienten ambulant zu behandeln, da zusätz­lich zu den Kranken und den Angehörigen des Pflegepersonals der Klinik einige Personen für die Behandlung in der Vorlesung aus der Stadt angereist kamen. Im Tagblatt der Stadt Zürich rief Forel in Inseraten „geeignete Fälle“ auf, sich „in Verbindung mit dem Unterricht“ poliklinisch behandeln zu lassen.303 Auch die untergebenen Ärzte konnten sich dem Hypnoseregime am Burghölzli nicht entziehen und wandten die Hypnosebehandlung teilweise selber an. Hier muss besonders Ludwig Frank erwähnt werden, der als Volontär- und Assistenzarzt von April 1888 bis Januar 1891 im Burghölzli tätig war, mit Forel viel über Hypnotismus diskutierte und zeitlebens mit ihm freundschaft­lich verbunden blieb.304 Auch an interessierte Besucher gab Forel die Technik weiter. So besuchte ihn beispielsweise 1894 Oskar Vogt im Burghölzli, der sich für seine hypnotischen Demonstrationen interessierte.305 Auf verschiedene Anfragen hin überarbeitete Forel seinen Text aus der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft und veröffent­lichte 1889 auf 88 Seiten Der Hypno­tismus, seine Bedeutung und seine Handhabung. Diese Publikation wurde in den folgenden Jahren mehrfach aufgelegt. Im Zusammenhang mit Forels Engagement 303 Inserat im Tagblatt der Stadt Zürich vom 10. Mai 1893, S. 3. Geeignete Beschwerden waren nach Forel Bleichsucht, Neuralgien, Störungen der Verdauung und der Menstruation, rheuma­ tische und andere Schmerzen, Lähmungen und Schlaflosigkeit. 304 Vgl. Frank, Forel als Lehrer, und ders., Forel als Mensch (MHIZ PN 31.1:1251 und PN 31.1:1252). Frank war von 1890 bis 1905 Leiter der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen, danach frei praktizierender Nervenarzt in Zürich (Kuhn, Geschichte und Entwicklung der Psychiatrischen Klinik, S. 100 und S. 113). 305 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 166.

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Der Hypnotismus

Abb 6 August Forels Werk „Der Hypnotismus“ erschien erstmals im Jahr 1889 und wurde in den folgenden Jahren im deutschsprachigen Raum mit diversen Neuauflagen zum einflussreichen Lehrbuch (Zentralbibliothek Zürich KZ 548).

für die Hypnosebewegung ist auch die Zeitschrift für Hypnotismus zu nennen, die er 1892 mitbegründete.306 Obwohl die Zeitschrift andauernd gegen den Mangel an Beiträgen kämpfte und mehrmals den Namen änderte, kam ihr eine wichtige Rolle zu, um die Hypnosebewegung zu organisieren und eine Plattform zum inhalt­lichen Austausch zu bieten.

306 Gemäss Gauld zeigt sich anhand der Beiträge der Zeitschrift, wie sich das Epizentrum des Hypno­tismus von Frankreich nach Deutschland verschoben hatte (Gauld, A history of hypnotism, S. 344). Vgl. zur Zeitschrift auch Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 46 – 48.

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3.3 Die ärzt­liche Hypnose-Bewegung Während Gauld im Hinblick auf die Entwicklung in Frankreich zwischen 1880 und 1900 von den goldenen Jahren des Hypnotismus spricht, gewann die hypnotische Bewegung in den deutschsprachigen Ländern erst um 1888 und 1889 an Einfluss.307 Neben Forel tat sich besonders der deutsche Arzt und Psychiater Albert Moll als Wortführer für den Hypnotismus hervor und betonte, die hypnotische Behandlung nach der Lehre Bernheims in Deutschland eingeführt zu haben.308 Sein Buch Der Hypnotismus erschien wie Forels Lehrbuch im Jahr 1889, und Moll amtete als Mitherausgeber der drei ersten Nummern der Zeitschrift für Hypnotismus. Die Ausrichtung Bernheims fand im deutschsprachigen Raum zahlreiche Anhänger, die mit der neuen Methode experimentierten und dafür warben. Schröder schätzt, dass die Hypnose-Bewegung im deutschsprachigen Raum über 100 Mitglieder und Sympathisanten umfasste, diese jedoch „belächelte Aussenseiter der etablierten Medizin“ blieben.309 Mehrheit­lich standen die Ärzte dem Hypnotismus skeptisch gegenüber; die Nähe zu Laienpraktiken, angeb­liche medizinische, juristische oder ethische Gefahren und verfahrensimmanente Schwierigkeiten waren die Kritikpunkte, welche die Diskussion bestimmten.310 Die Schweizer Ärzte schienen dem Hypnotismus – ähn­lich wie später der Psycho­ analyse, wie Walser festhält – wohler gesinnt gewesen zu sein als ihre deutschen Kolle­ gen.311 Im November 1887 stellte Forel seinen Kollegen der Gesellschaft der Ärzte in Zürich einige hypnotische Fälle vor, ohne kontroverse Reaktionen auszulösen, und als er im Oktober 1888 an der Versammlung des ärzt­lichen Centralvereins über „Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus“ referierte, zeigte sich das Fachpublikum gemäss dem Bericht im Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte vom Thema gefesselt, folgte „athemlos diesen staunenerregenden wunderbaren Dingen“ und belohnte seine Ausführungen mit „rauschendem Beifall“.312 3 07 Vgl. Gauld, A history of hypnotism, S. 341 f. 308 Moll, Ein Leben als Arzt der Seele (1936), S. 30; ders., Der Hypnotismus (1889). Forel empfahl Molls „vorzüg­liches Werk“ über den Hypnotismus im Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte (Forel, Neuere Werke über Hypnotismus, 1889). 309 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 45. 310 Teichler, „Der Charlatan“, S. 56 – 63. Vgl. zu den Kontroversen um den Hypnotismus Kap. 4 und 5. 311 Walser, Einleitung, S. 27. Im Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte finden sich ab 1887 vereinzelte Artikel über den Hypnotismus, und vor allem Forel und Georg Ringier taten sich als Rezensenten der Fachliteratur hervor. Kontroverse Diskussionen blieben im Correspon­ denz-Blatt grösstenteils aus. 312 Vgl. Vereinsbericht Gesellschaft der Ärzte in Zürich, in: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte 6 (1888), S. 181 – 183; Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888),

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Abb 7 Einladung zur Versammlung des ärzt­lichen Centralvereins 1888 in Olten, wo August Forel über „Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus“ referierte (MHIZ PN 31.1:178).

Auch an der Versammlung des Vereins in Zürich zwei Jahre später führte er seinen Kollegen anläss­lich der Besichtigung des Burghölzli mehrere hypnotisierte Wärterinnen und Wärter vor, ohne kontroverse Reaktionen auszulösen.313 Mit Georg Ringier und Ludwig Frank hatte Forel engagierte Mitstreiter an seiner Seite, und Fachkolle­ gen schickten ihm ihre Patientinnen und Patienten zur Hypnosebehandlung ins Burghölzli, so auch Constantin von Monakow, der in Zürich eine Praxis führte.314 S. 733. An der Jahresversammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte von 1887 referierten Forel (Einige therapeutische Versuche, 1887) und ein Dr. Burckhardt über den Hypnotismus, beide auf der Linie Bernheims. Vgl. den Vereinsbericht im Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte 18 (1887), S. 562 – 564. 313 Versammlung des ärzt­lichen Centralvereins in Zürich, in: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte 13 (1890), S. 430. 314 Monakow, Rämistrasse 27, Zürich überwies Forel 1890 Patienten/-innen zur Suggestivbehandlung. Vgl. Walser, August Forel, S. 243 f.; Brief Monakows an Forel vom 22. Sept. 1890, MHIZ

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Abb 8 Teilnahme-Diplom August Forels des Congrès international de psychologie physiologique, der während der Weltausstellung 1889 in Paris stattfand (MHIZ PN 31.1:1124).

Für die Vernetzung und die Institutionalisierung der Hypnosebewegung waren neben der Zeitschrift für Hypnotismus auch die internationalen Hypnosekongresse zentral, die seit 1889 stattfanden. So gaben sich im August 1889 in Paris während der Welt­ausstellung Psychologen und Mediziner ein Stelldichein. Vom 6. bis 10. August fand der Erste Internationale Kongress für Psychologie statt, parallel dazu vom 8. bis 12. August der Erste internationale Kongress für Hypnotismus, woran neben Forel u. a. Bernheim, Liébeault und Freud teilnahmen. Wie erwähnt, waren an diesem Kongress die Anhänger Bernheims bereits tonangebend.315 Auch an den folgenden Kongressen für Psychologie versuchten die Hypnoseärzte, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen und die Anbindung an die akademisch sich etablierende Psychologie zu erreichen. 1892 fand der nächste Internationale PN 31.2:2985; StAZH Z 100, KA-Nr. 4627. 315 Teilnehmer gemäss Angaben in der Editorischen Vorbemerkung von Freud, Rezension (1889), S. 124. Vgl. Forels „Diplôme de participation“ vom Congrès International de Psychologie Physio­logique, 6. November 1889 (MHIZ PN 31.1:1124). Vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1010. Forel gehörte zusammen mit Liébeault, Bernheim, Dejerine und Janet dem Tagungskomitee an und referierte über Halluzinationen bei Geisteskranken und den Unterschied zu jenen bei Hypnotisierten. Vgl. Bérillon, Premier congrès international de l’hypnotisme expérimental et thérapeutique (1889).

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Kongress für Psychologie unter der Leitung von Henry Sidgwick in London statt,316 1896 unter der Leitung der Professoren Carl Stumpf und Theodor Lipps mit dem Generalsekretär Albert von Schrenck-Notzing in München.317 Der Münchener Kongress zählte rund 500 Teilnehmende und 176 Referierende, neben Forel auch Janet und den schwedischen Hypnosearzt Otto Wetterstrand. Der vierte Kongress im Jahr 1900 fand wiederum in Paris statt, zeitgleich wurde der Zweite Internatio­ nale Kongress für Hypnotismus abgehalten.318 Zur Gründung einer fachärzt­lichen Spezialorganisation der Hypnoseärzte kam es jedoch nicht, und die von Forel angeregte Gründung der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie im Jahr 1909 stand bereits im Kontext eines erweiterten psycho­ therapeutischen Verständnisses.319 Als Höhepunkt in der Entwicklung der Hypnosetherapie bezeichnet Gauld die Gutachtensammlung über die „Bedeutung der hypnotischen Suggestion als Heilmittel“, die 1894 vom Berliner Nervenarzt und Redaktor der Zeitschrift für Hypnotis­ mus Jonas Grossmann organisiert wurde.320 Anlass der Sammlung der „wissenschaft­ lichen Unbedenk­lichkeitserklärungen“321 war die stark eingeschränkte Anwendung der Suggestivtherapie in Russland, gleichzeitig war in Frankreich den Militärärzten

316 Siehe Sperling, Der internationale Congress für experimentelle Psychologie (1893). Forel nahm an diesem Kongress wohl nicht teil, da er weder in Sperlings Bericht genannt wird noch die Tagung in seiner Autobiografie erwähnt. 317 Am Münchener Kongress hielt Forel auf Anfrage Schrenck-Notzings ein Referat zum Thema „Der Unterschied zwischen der Suggestibilität und der Hysterie, Was ist Hysterie?“, vgl. Zeitschrift für Hypnotismus 5 (1897), S. 89 – 94. Vgl. die Korrespondenz von Schrenck-Notzing an Forel in: Walser, August Forel, S. 317 – 319. Zum Münchener Kongress auch Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1031 – 1033. 318 Vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1030. Forel scheint nicht teilgenommen zu haben, da sich keine Erwähnung in seiner Autobiografie und auch kein Referat finden liessen. 319 Siehe Teichler, „Der Charlatan“, S. 54 f. In England dagegen existierte die British Hypnotic Society, wo Forel Ehrenmitglied war (Urkunde vom 23. Sept. 1889, MHIZ PN 31.1:1071). Ansätze zu einer fachärzt­lichen Organisation im deutschsprachigen Bereich sieht Teichler in der Gesellschaft für Experimental-Psychologie Berlin (gegründet 1888) und in der Gesellschaft für wissenschaft­liche Psychologie München (gegründet 1886/87). Diese Gesellschaften widmeten sich jedoch hauptsäch­lich der experimentellen Erforschung des Hypnotismus und okkulter Phänomene (Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 44). Vgl. zur Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie Kap. 5. 320 Gauld, A history of hypnotism, S. 352. Siehe Grossmann, Die Bedeutung der hypnotischen Suggestion (1894). Dazu Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 48 f., und Teichler, „Der Charlatan“, S. 56. 321 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 49.

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das Hypnotisieren verboten worden.322 In dieser „letzten konzertierten Aktion der Hypno­sebewegung“323 äusserten sich viele bekannte Exponenten der Hypnosebewegung, so auch Bernheim, Eugen Bleuler, Albert Eulenburg, Forel, Janet, Richard von Krafft-Ebing, Moll, Schrenck-Notzing und Wetterstrand. Grossmann zeigte sich im Vorwort überzeugt, dass die „Waffe der therapeutischen Erfolge“ die Suggestionstherapie „unfehlbar zum Siege führen“ werde und dass die Regierungen ihr Unrecht einsehen würden.324 Gemäss Teichler verdeut­lichte die Gutachtensammlung auch, dass die Hypno­seärzte ähn­liche Restriktionen im Deutschen Reich befürchteten. Dass diese Ängste nicht unbegründet waren, zeigten der Auftrag des Reichsinnenministeriums von 1895, ein Gutachten zur Hypnose zu erstellen, und der preussische Ministerialerlass von 1902, der die Gefahren der Hypnose im Zusammenhang mit einem mög­ lichen Verbot thematisierte. Die preussischen Ärztekammern, 1902 zur Stellungnahme aufgefordert, äusserten sich unterschied­lich, vor allem die Berlin-Brandenburgische Kammer unter der Leitung des Berliner Psychiaters und Neurologen Emanuel Mendel lehnte den Hypnotismus als Heilverfahren ab. Die Behörden anerkannten jedoch in der Folge die relative Ungefähr­lichkeit des Hypnotismus und sahen von Einschränkungen der ärzt­lichen Handhabung ab.325 Obwohl institutionell nur lose vernetzt, standen die Hypnoseärzte über die Landesgrenzen hinweg in regem Austausch. Wie unter Wissenschaftlern damals üb­lich, pflegte Forel eine intensive Korrespondenz.326 Mit Bernheim, Liébeault, Vogt, Moll, Schrenck-Notzing, Wetterstrand, Dessoir, Frank, Dumeng Bezzola und anderen besprach er Behandlungsmethoden und spezifische Krankheitsfälle und tauschte mit ihnen die neuesten Publikationen aus.327 Den Briefpartnern das eigene Porträtfoto zu schicken, war ebenfalls gebräuch­lich, wie ein Blick in Forels Fotoalben zeigt.328 322 323 324 325

Grossmann, Vorwort des Herausgebers (1894), S. IX. Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 48. Grossmann, Vorwort des Herausgebers (1894), S. VIII und XIII. Vgl. Teichler, „Der Charlatan“, S. 61 – 63. Forel reagierte in der Münchener Medizinischen Wochenschrift auf das Gutachten der Berlin-Brandenburgischen Ärztekammer (vgl. Forel, Die Hypnose vor der Ärztekammer, 1903). 326 Vgl. die umfangreiche Korrespondenzsammlung in Forels Nachlass im Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich. 327 Frank beispielsweise gab Forel Tipps zur psychotherapeutischen Behandlung (MHIZ PN 35.2:101.2, S. 4, Brief vom 25. Januar 1911). Von Moll gibt es zwischen 1889 und 1890 relativ viel Korrespondenz, danach nimmt sie ab. 1894 hatten die beiden eine Auseinandersetzung über „Privatirrenanstalten“ (vgl. MHIZ PN 31.2:2961 und PN 31.2:2962). Danach sind nur noch zwei Postkarten vorhanden: Forel schickte Moll noch die dritte Auflage seines Lehrbuchs, worauf sich Moll bedankte (MHIZ PN 31.2:2963). 328 Vgl. MHIZ PN 31.1:1064, 31.1:1065 und 31.1:1066 b.

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Der Hypnotismus

Abb 9 August Forel sammelte die Porträtfotos der Fachkollegen in seinem Fotoalbum. Auf dieser Seite sind die Hypnoseärzte Ambroise-Auguste Liébeault und Hippolyte Bernheim aus Nancy sowie Jonas Grossmann aus Berlin zu sehen (MHIZ PN 31.1:1066).

Der Hypnotismus als Weg zum „Unterbewussten“

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Die Hypnoseärzte wiesen sich auch gegenseitig Patientinnen und Patienten zur Behandlung zu; so überwies Forel Kranke an Schrenck-Notzing nach München, an Wetterstrand nach Stockholm, an Frank nach Münsterlingen und an Bezzola in die Trinkerheilstätte Schloss Hard nach Ermatingen.329 Eine bekannte Patientin beispielsweise war Fanny Moser (geborene Baronin von Sulzer-Wart), die bereits im Jahr 1889 bei Freud in Wien geweilt hatte und 1894 auf Anraten Forels zu Wetterstrand nach Stockholm reiste, um sich von diesem hypnotisch behandeln zu lassen.330 Die Ärzte besuchten sich auch gegenseitig.331

3.4 Der Hypnotismus als Weg zum „Unterbewussten“ Wie bereits angetönt, kam dem Hypnotismus eine grosse Bedeutung zu, um „Engrammen“ auf die Spur zu kommen und diese ins Gehirn einzuprägen. Erinnerungsschichten, die dem Bewusstsein nicht direkt zugäng­lich waren, konnten so erschlossen und aufgelöst werden. Forels Verständnis für die Mechanismen des Hypnotismus und den hypnotischen Zustand basierte auf einem bestimmten Konzept des Bewusstseins. Ellenberger beschreibt als eines der Hauptmerkmale der ersten dynamischen Psychiatrie, zu der er den Hypnotismus zählt, dass ein neues Modell der mensch­lichen Psyche entwickelt wurde, das auf der Dualität der „bewussten“ und der „unbewussten“ Psyche beruhte.332 329 Vgl. Walser, August Forel, S. 236 f., S. 330 f. (Briefe Schrenck-Notzings an Forel, MHIZ PN 31.2:3652, PN 31.2:3654, PN 31.2:3682); Brief Forels an Ludwig Frank vom 16. Januar 1912 (MHIZ PN 35.2:95); zu Forel und Bezzola vgl. Müller (Hg.), August Forel und Dumeng Bezzola. 330 Wetterstrand berichtete Forel im Brief vom 18. November 1894 über die Behandlung Mosers (MHIZ PN 31.2:4522). Freud, der bei Fanny Moser auf Anregung von Josef Breuer zum ­ersten Mal die kathartische Methode angewendet hatte, veröffent­lichte 1895 ihren Fall unter dem Pseudonym „Emmy von N.“ in den Studien über Hysterie. Vgl. zu Moser Informationen im Artikel zur gleichnamigen Tochter: Oscar Wanner, Fanny Moser, http://www.stadtarchiv-schaffhausen.ch/fileadmin/Redaktoren/Dokumente/Moser_Fanny.pdf (eingesehen 11. August 2014). Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 668 f.; ders., L’histoire d’„Emmy von N.“. Vgl. zur Behandlung Mosers durch Freud Brodmann, Zur Methodik der hypnotischen Behandlung (1898), S. 234. 331 Forel besuchte 1890 nach der Teilnahme an einem Abstinentenkongress Wetterstrand in Stockholm, um dessen Behandlungsmethode kennenzulernen (Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 149). Wetterstrand seinerseits besuchte Forel 1896 in Zürich (MHIZ PN 31.2:4525). Moll kündigte in einem Brief vom 1. Juli 1891 seinen Besuch bei Forel an (MHIZ PN 31.2:2956). Delboeuf besuchte Forel 1891 (Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 151), Charles Lloyd Tuckeys Besuch bei Forel fand zwischen 1888 und 1890 statt (Tanner, Sigmund Freud und die Zeitschrift für Hypnotismus, S. 79), Bernheim besuchte Forel 1893 in Zürich (Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 162). 332 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 163.

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Der Hypnotismus

Im Jahr 1889 erschien Pierre Janets Doktorarbeit L’automatisme psychologique mit den Ergebnissen seiner jahrelangen Forschungsarbeiten, die „von Anfang an als ein Klassiker der psychologischen Wissenschaft begrüsst“ wurde.333 Janet gebrauchte darin den Begriff „subconscient“ – unterbewusst – wohl als erster Autor, wie er immer wieder betonte.334 Im gleichen Jahr wie Janet publizierte Dessoir sein Werk Das Doppel-Ich, in dem er ein Konzept des Dipsychismus entwickelte. Er konzipierte die mensch­liche Persön­lichkeit als aus mindestens zwei Sphären bestehend, die er als Ober- und Unterbewusstsein bezeichnete.335 Basierend auf dem Dipsychismus, entwickelte auch Freud das erste Konzept des Unbewussten als Gesamtheit der verdrängten Erinnerungen.336 Im Referat Das Gedächtniss und seine Abnormitäten vertrat Forel 1884 ein dipsychisches Modell, benutzte jedoch den Begriff des Unbewussten. Auch im Lehrbuch von 1889 sprach er noch von „unbewusster Grosshirnthätigkeit“.337 Im selben Jahr las 333 Ebd., S. 491. Forel wies im Vorwort der zweiten Auflage des Lehrbuchs auf Janets L’automa­ tisme psychologique als „wichtige, interessante Studie“ hin (Forel, Der Hypnotismus, 1891, S. X), bezog sich aber in der Folge äusserst selten auf Janet. So erwähnte er beispielsweise „eingeklemmte Affekte“, die Nervenstörungen hervorrufen könnten, und erwähnte Breuer, Freud und Vogt, nicht aber Janet (ders., Der Hypnotismus, 1919, S. 34 f.). Ein Grund für diese Nichterwähnung könnte gewesen sein, dass Janet, der ab 1890 klinische Forschung bei ­Charcot an der ­Salpêtrière betrieben hatte, für Forel wie für andere Anhänger Bernheims zu stark mit Charcots Lehre assoziiert wurde. Am Kongress für physiologische Psychologie von 1889 hatte sich Janet mit Bernheim über die Hypnotisierbarkeit von Nichthysterischen gestritten, wobei Janet die Charcot’sche Position vertrat, dass dies nicht mög­lich sei (Peter, Stimmen der Vergangenheit, S. 55). Später änderte Janet seine Meinung und wandte die Hypnose auch bei nicht hysterischen Patienten/-innen an (vgl. zur Nichtrezeption Janets Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 557 – 560). Forel und Janet trafen sich vermut­lich am Inter­ nationalen Kongress für Psychologie in München im August 1896, wo beide referierten. Im Jahr 1910 standen sie miteinander in direktem Kontakt, da Janet auch Gründungsmitglied der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie war (vgl. die Liste der Gründungsmitglieder, MHIZ PN 31.1:304). An der Tagung der Gesellschaft vom 7. und 9. August 1910 in Brüssel nahm Janet jedoch nicht persön­lich teil, sondern liess seinen Vortrag Les Problèmes de la Suggestion verlesen (vgl. Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie, Erste Jahresversammlung in Brüssel am 7. und 8. August 1910, in: Journal für Psychologie und Neurologie 17, 1911, S. 323 – 331). Zusätz­ lich ist ein Brief Janets an Forel aus dem Jahr 1910 erhalten (MHIZ PN 31.2:2260). 334 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 489. 335 Dessoir, Das Doppel-Ich (1889). Vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 213 – 217; Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 22. 336 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 217. Später wechselte Freud zu einem polypsychischen Modell der mensch­lichen Persön­lichkeit, als er sein dreiteiliges Modell IchEs-Überich einführte (ebd.). 337 Forel, Das Gedächtniss und seine Abnormitäten (1885), S. 5 f.; ders., Der Hypnotismus (1889), S. 88. Auch Bernheim benutzte den Begriff unbewusst (Bernheim, Die Suggestion und ihre

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er Dessoirs Doppel-Ich und war begeistert: „eine vorzüg­liche psychologische Studie, im klaren, wissenschaft­lichen Geist der vorurtheilsfreien Prüfung geschrieben“.338 In der Folge übernahm er dessen Begriff des Unterbewussten und lehnte fortan den Begriff des Unbewussten vehement ab. Er war überzeugt, dass das Oberbewusstsein nur einen bestimmten Teil der Hirntätigkeit wiedergab, wie er in einer Einführungsschrift über medizinische Psychologie festhielt: „[L]es états de la conscience ne nous donnent qu’une synthèse très incomplète et partielle de ce qui se passe dans notre cerveau. […] [U]ne grande partie du travail cérébral ne franchit pas le seuil de la c­ onscience. Ces dynamismes dits inconscients, ou mieux subconscients, echappent à la fois à l’examen subjectif et à l’étude objective au moyen des sens.“339 Im Unterbewusstsein liefen Tätigkeiten ab, „deren Introspektion für gewöhn­lich mit unserem Wachbewusstsein nicht associiert, d. h. überhaupt nicht verbunden oder nur nicht erinner­lich verbunden erscheint“.340 Ober- und Unterbewusstsein unterschied Forel weiter in verschiedene Bewusstseinsstufen, die er nach dem Grad der Lebendigkeit und der Intensität der Aufmerksamkeit definierte.341 Forel und seinen Fachkollegen schien der Hypnotismus der richtige Weg, um das Un- respektive Unterbewusste zu erforschen. Wie er schrieb, bedeuteten die Erscheinungen des Hypnotismus „geradezu ein Spiel zwischen dem ‚Bewussten‘ und dem scheinbar ‚Unbewussten‘ in unserer Seele. Nichts ist aber geeigneter, als gerade dieses Spiel, um den Beweis zu liefern, dass der Ausdruck ‚unbewusst‘ inkorrekt ist und der Realität nicht entspricht.“342 Durch die hypnotischen Experimente sei nachweisbar, dass die „unbewusst“ erscheinenden Gehirnvorgänge auch „bewusst“ seien.343 Unter Hypnose verstand er einen veränderten Zustand der Gehirntätigkeit, der mit dem gewöhn­lichen Schlaf verwandt sei.344 Im hypnotischen Schlaf würden die Tätigkeiten des Zentralnervensystems dissoziiert oder gehemmt, die bei normalem Bewusstsein miteinander verbunden seien. Forel formulierte keine ausführ­liche Theorie Heilwirkung, 1888, S. 114 und S. 116). 338 Forel, Neuere Werke über Hypnotismus (1889), S. 502. In der zweiten Auflage des Lehrbuchs von 1891 übernahm Forel Dessoirs Begriff des Unterbewusstseins (vgl. Forel, Der Hypnotismus, 1891, S. 6 f.). Mit Dessoir stand er seit Herbst 1888 in brief­lichem Kontakt und war ab Frühjahr 1889 Ehrenmitglied in dessen und Molls Gesellschaft für Experimental-Psychologie (MHIZ PN 31.2:838 – 861). 339 Forel, Leçon d’introduction (1898), S. 7 (Hervorhebung im Original). 340 Forel, Monismus und Psychologie (1903), S. 2; vgl. auch ders., Nochmals das Bewusstsein (1895). 341 Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 8 f. 342 Ebd., S. 1. 343 Forel, Die psycho-physiologische Identitätstheorie (1906), S. 123. Vgl. ders., Rückblick auf mein Leben (1935), S. 155. 344 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 46. Vgl. zur Analogie von Schlaf und Hypnose bei Forel Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 200 f.

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zum hypnotischen Schlaf, sondern knüpfte an Bernheims theoretische Ausführungen an.345 Er betonte, „dass die Hemmung, resp. die momentane functionelle Lähmung der automatischen dynamischen Associationen des Grosshirns dabei eine Hauptrolle spielt, wie sie zweifellos eine solche bei unserem normalen Schlaf, bei unserem Traumleben spielt. […] Gerade aber die Thatsache, dass die vielbefahrenen gewohnten Bahnen sich im Hemmungszustand befinden, erleichtert die Mög­lichkeit der Betretung neuer Bahnen.“346 Im Unterschied zum normalen Schlaf würden in Hypnose die „Träume des Schlafenden von einem Anderen dirigirt“.347 Den hypnotischen Zustand unterschied Forel in drei Grade. So sprach er von Somnolenz (leichte Beeinflussung), Hypotaxie (leichter Schlaf ) und Somnambulismus (tiefer Schlaf ).348 Für die hypnotische Therapie war nach seiner Ansicht der hypnotische Schlaf am wirkungsvollsten, da in jenem der Dissoziationszustand des Gehirns erhöht sei.349 Anders als Bernheim, der in der theoretischen Anbindung seines Vorgehens vage blieb, stützte sich Forel auf ein physiologisch orientiertes Modell. Zur theoretischen Fundierung des Hypnotismus führte er Oskar Vogts Ausführungen als „einen der besten Versuche zur Erklärung der Hirndynamik“ an und referierte diese ausführ­lich in seinem Lehrbuch, wobei er nach 1904 Vogts theoretische Überlegungen mit der Lehre Semons ergänzte.350 Forels Definition des Begriffs Psychotherapie von 1908 zeigt die weiterhin enge Anbindung an die Neurobiologie. Diese Heilmethode würde die „natür­liche Nervenwelle“ nutzen, um heilend zu wirken: „Der Ausdruck Neurotherapie […] wäre daher eigent­lich adäquater.“351 Die Integration in das universitäre Medizincurriculum konnte dank der Fundierung des Hypnotismus als „wissenschaft­ liche Experimentalmethode“352 nur noch eine Frage der Zeit bleiben, dachte er. Wie sich zeigen würde, war dies eine verfrühte Hoffnung. 345 Vgl. Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 114 – 144; Gauld, A history of hypnotism, S. 543 – 551; Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 183. 346 Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 16. 347 Forel, Einige therapeutische Versuche (1887), S. 1. Im Gegensatz zu Bernheim, der später dem hypnotischen Schlaf den Rücken kehrte und nur noch Wachsuggestion anwandte, vertraute Forel weiterhin auf die Hypnose (Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 81). Vgl. Gauld, A history of hypnotism, S. 543 – 551; Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie (1912), S. 282 – 284. 348 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 104 f. 349 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 729. 350 Vgl. Vogt, Zur Kenntniss des Wesens und der psychologischen Bedeutung des Hypnotismus (1895 und 1896); Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 158 – 175. Vgl. zu den verschiedenen Hypnose-Theorien Gauld, A history of hypnotism, S. 537 – 558. 351 Forel, Zum heutigen Stand der Psychotherapie (1908), S. 266. Vgl. zu Forels Engagement zur Integration des Hypnotismus in die Schulmedizin z. B. ders., Die Stellung der Neurologie (1910). 352 Forel, Suggestionslehre und Wissenschaft (1893), S. 29.

4. Bühnenhypnose, Heilmagnetismus und Okkultismus Forels Hypnotisierungen hinterliessen bei den Anwesenden grossen Eindruck. G ­ erhart Hauptmann berichtete von seinem Besuch im Burghölzli: „Wir haben von ihm wahre Wunder gesehen.“353 Der Protokollant eines Vortrages von Forel hielt fest, dass die anwesenden Ärzte „atemlos diesen staunenerregenden wunderbaren Dingen zugehorcht“ hatten,354 und Patientinnen und Patienten erzählten von den „wunder­baren Kuren des Herrn Direktor“.355 Auch Forel bemerkte hin und wieder, dass er als Hexenmeister und als Zauberer wahrgenommen wurde.356 Die Rezeption des Hypno­tismus in der Öffent­lichkeit war stark durch diese Kategorien geprägt, wie auch kontroverse Bemerkungen aus dem Zürcher Kantonsrat über Burghölzli-­ Angestellte als „Medien“ zeigen.357 Victor Turner fragte, weshalb man „beinahe überall auf der Welt Schwellensitua­ tionen und -rollen magisch-religiöse Eigenschaften“ zuschreibe.358 In Schwellensituationen wurden vertraute Normen überschritten und aufgehoben. Auch die Hypnose wurde von vielen als magischer Zustand verstanden. Es ging bei den Hypnotisierungen um grundsätz­liche Fragen: Ging das Individuum geheilt aus dem hypnotischen Zustand hervor? Konnte es wieder in die ihm zugedachte Rolle innerhalb der Gesellschaft zurückkehren? Im hypnotischen Zustand selber schienen die gesellschaft­lichen Ordnungsmuster in der Schwebe. Dass die Patientinnen und Patienten als „anderer Mensch“ aus der Sitzung hervorgingen, vom Kranken zum Gesunden transformiert, verstärkte Forels Ruf als Hexenmeister und Zauberer. Obwohl Forel bei jeder Gelegenheit die wissenschaft­liche Fundierung des Hypno­ tismus betonte, bestimmte das magische Element die Rezeption des Hypnotismus ebenfalls. Dieses Kapitel analysiert den ärzt­lichen Hypnotismus im Kontext der damaligen Diskussionen über Bühnenhypnose, Heilmagnetismus und Okkultismus, wobei das Zauberhafte und Nichtfassbare die Schnittmenge dieser Themen bildete. Diesen Effekt nutzten die Hypnoseärzte, um die Wirkung ihrer Methode zu verstärken und in der Öffent­lichkeit mehr Anklang zu finden. Wie nachfolgend gezeigt wird, gefährdete jedoch die Nähe zu den okkulten Praktiken ihre Anerkennung durch die Wissenschaft und erforderte eine dezidierte Abgrenzung, welche die Hypnoseärzte engagiert vornahmen. 353 354 355 356 357 358

Hauptmann, Das Abenteuer meiner Jugend (1942), S. 776. Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 732. Forel, Durch Spiritismus erkrankt (1895), S. 233. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 133 und S. 141. Vgl. Verhandlungen des zürcherischen Kantonsrathes (1892). Turner, Liminalität und Communitas, S. 255.

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4.1 Laienhypnose auf der Bühne Die magische Ausstrahlung des ärzt­lichen Hypnotismus konnte an die damals viel diskutierten öffent­lichen hypnotischen Bühnenvorstellungen anknüpfen. Seit 1879 war der dänische Bühnenhypnotiseur Carl Hansen (1833 – 1897) in deutschen Städten unterwegs und zog mit seinen Aufführungen die Aufmerksamkeit der Öffent­ lichkeit, aber auch von Wissenschaftlern und Ärzten auf sich.359 Wegen dessen grossen Einfluss spricht Gauld von einer eigent­lichen „Hansen-Phase“ im deutschsprachigen Raum, die er von 1879 bis 1885 datiert.360 In Zürich scheint Hansen nicht aufgetreten zu sein.361 Dagegen trat im Juli 1886 der belgische Bühnenhypnotiseur Donato in der Kronenhalle und der Tonhalle auf und zog das Interesse der Öffent­lichkeit auf sich.362 Donato war im Winter 1880/81 bereits in der Westschweiz auf Tournee gewesen, und es grassierte nach seinen Auftritten „ein wirk­liches ‚magnetisches Fieber‘ “, wie Gilles de la Tourette berichtete.363 In Zürich nahm er vor „zahlreichem Publikum“, hauptsäch­lich Studenten und wenigen Studentinnen, „einige[n] ältere[n] Herren, Mediziner[n], Berichterstatter[n] der Presse“364 hypnotische Experimente vor und versetzte das Publikum in Begeisterung, was es mit „lebhafte[n] Beifallsbezeugungen“ ausdrückte.365 Die Neue Zürcher Zeitung schlug in ihrem Bericht einen kritischen Ton an, der die vorherrschende Stimmung von Behörden und Wissenschaftlern zu diesem Thema widerspiegelte: „Wenn wir kurz zusammenfassen sollen, was wir von solchen Produktionen halten, so ist es mit zwei Worten geschehen. Unverstand und Geschmacklosigkeit des Publikums, dessen Nerven nach derbem Kitzel verlangen, charlatanische Ausbeutung der Dummheit in salonfähigem Gewand, das sind die Ingredienzien, mit denen Donato rechnet und bei denen er vermuth­lich seine Rechnung findet. In einer gebildeten Stadt, die der Sitz wissenschaft­licher Anstalten 359 Vgl. Teichler, „Der Charlatan“, S. 32 und S. 70 f.; Mayer, „Sicherheit ist nirgends“, S. 110 f.; ders., Mikroskopie der Psyche, S. 114 – 116. 360 Vgl. Gauld, A history of hypnotism, S. 302 – 306. 361 In der Neuen Zürcher Zeitung findet sich kein Bericht über eine Vorführung Hansens, dagegen wird erwähnt, dass er in Deutschland sein „Wesen“ treibe (vgl. Rubrik Ausland, Neue Zürcher Zeitung, 25. Mai 1887, S. 2). 362 Vgl. zu Donato Mayer, „Sicherheit ist nirgends“, S. 110. Donatos richtigen Namen gibt Mayer mit Alfred d’Hondt an (Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 114). 363 Tourette, Der Hypnotismus (1889), S. 345; Ladame, La nécessité d’interdire, S. 35. 364 Rubrik Lokales, Neue Zürcher Zeitung, 7. Juli 1886, S. 2. 365 Rubrik Lokales, Neue Zürcher Zeitung, 4. Juli 1886, S. 2. Allerdings war die Vorstellung Donatos im kleinen Tonhallesaal laut Neue Zürcher Zeitung nicht mehr so gut besucht wie die erste in der „Kronenhalle“. Darauf gab Donato eine weitere Vorstellung mit ermässigtem Eintrittspreis (vgl. Neue Zürcher Zeitung, 7. Juli 1886, S. 2). Erstaun­licherweise erwähnt Forel die Vorführungen Donatos nirgends.

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ist, sollten solche Schaustellungen einfach unmög­lich gemacht werden.“366 Die Auftritte der Bühnenhypnotiseure wurden als gefähr­lich erachtet, und nach Auftritten Hansens in Österreich und Donatos in Italien wurden die Bühnenhypnotisierungen dort verboten. Auch in vielen Bundesstaaten des Deutschen Reiches wurden öffent­ liche Veranstaltungen mit Hypnotismus oder Magnetismus im Lauf der 1880er- und 1890er-Jahre untersagt,367 und in der Schweiz erliessen verschiedene Kantone Verbote.368 Den Anfang der 1880er-Jahre in Europa herumziehenden Bühnenhypnotiseuren kam jedoch eine grosse Bedeutung zu, um den Hypnotismus einer breiten Öffent­ lichkeit bekannt zu machen.369 Sie lockten Menschenmassen in ihre Vorstellungen und weckten das Interesse von Wissenschaftlern und Ärzten, sich mit dem Hypnotismus zu beschäftigen.370 Die Präsenz der Bühnenhypnotiseure war für die Hypnoseärzte eine zweischneidige Angelegenheit. So profitierten die Hypnoseärzte einerseits von der Bekanntheit der Bühnenmagnetiseure. Sie griffen auf deren Repertoire zurück und nutzten so die Ausstrahlungskraft dieser Demonstrationskultur. Das „magnetisierte“ Wasser war das häufigste Mittel, um in der Tradition des Magnetismus die magnetische Kraft zu übertragen.371 Auch Forel benutzte diesen Trick und vertraute auf den Placeboeffekt. 366 Rubrik Lokales, Neue Zürcher Zeitung, 7. Juli 1886, S. 2. Ein Leser forderte darauf ein behörd­ liches Verbot solcher Schaustellungen (vgl. Leserbrief, Neue Zürcher Zeitung, 11. Juli 1886, S. 2). 367 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 458 – 460; Teichler, „Der Charlatan“, S. 189 (Preussen 1881, Sachsen 1888, Bayern 1893, Mecklenburg-Schwerin 1894, Hessen 1896, Baden 1903). In der Weimarer Republik wurde das Verbot öffent­licher Veranstaltungen mit Hypnose oder Magne­tismus erneuert (Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 148). 368 In der Neuen Zürcher Zeitung berichtet ein Leserbriefschreiber von einem Verbot in der Stadt Basel (Neue Zürcher Zeitung, 11. Juli 1886, S. 2). Auch der Kanton Neuenburg verbot Anfang 1887 solche Darstellungen (vgl. Rubrik Kantone, Neue Zürcher Zeitung, 9. Februar 1887, S. 2). Moll schreibt, dass im Kanton Aargau ein Verbot erlassen wurde (Moll, Der Hypnotismus, 1907, S. 460). Für Zürich ist weder auf städtischer noch auf kantonaler Ebene eine einschlägige Bestimmung zu Hypnose-Schaustellungen auffindbar. Auf städtischer Ebene bildete die Allgemeine Polizeiverordnung der Stadt Zürich vom 7. Mai 1885 die recht­liche Grundlage, um Schaustellungen je nach Zuträg­lichkeit für das Publikum zu erlauben oder zu verbieten. 369 Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 137. 370 Ellenberger betont, dass für die Fortentwicklung der dynamischen Psychiatrie das Auftreten grosser professioneller Hypnotiseure wichtig war (vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 137). Der englische Arzt James Braid wurde beispielsweise durch eine Vorstellung des Magnetiseurs Lafontaine angeregt, mit dem Hypnotismus zu experimentieren. In Chemnitz habe Hansen das Interesse von Weinhold geweckt, in Breslau von Heidenhain und Berger, in Berlin von Preyer und Eulenberg, in Würzburg von Rieger, in Leipzig von Möbius und Wundt, in Wien von Krafft-Ebing und Benedikt (Gauld, A history of hypnotism, S. 281 und S. 302 f.). 371 Teichler, „Der Charlatan“, S. 86.

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So verabreichte er einem 51-jährigen Bahnarbeiter, bei dem Hysterie diagnostiziert wurde, jeden Abend ein Glas magnetisches Wasser, dank dem der Patient bestens durchschlief.372 Ebenso findet sich Hansens Repertoire kataleptischer Posen und verschiedener Halluzinationen in Forels Hypnoseanwendungen wieder.373 Auf der andern Seite war die Nähe zu den Bühnenhypnotiseuren den Hypnoseärzten nicht geheuer. Innerhalb der Ärzteschaft als Aussenseiter positioniert, standen sie unter wissenschaft­lichem Legitimationsdruck, welcher sich auch in ihrer vehementen Abgrenzung zur „Halbwelt“ der Bühnenhypnotiseure äusserte. Zwar hielten sie Hansen und dessen Weggefährten zugute, dass sie das Interesse von Wissenschaft und Medizin auf den Hypnotismus gelenkt hatten, wie Moll in Der Hypnotismus über die Bühnenhypnotiseure festhielt: „Mögen diese Männer auch durch egoistische Motive zu ihren Schaustellungen veranlasst worden sein, so haben sie doch durch diese der Wissenschaft einen grossen Dienst geleistet.“374 Später sah er in den Bühnenhypnosen einen Nachteil für die wissenschaft­liche Etablierung des Hypnotismus: „Die Schaustellungen haben zwar früher die Vertreter der Wissenschaft auf den Hypnotismus aufmerksam gemacht, heute jedoch sind sie eher geeignet, von der wissenschaft­lichen Beschäftigung mit diesem Gebiete abzuhalten, da sie die Hypnose zum Gegenstande der Neugier degradieren, nicht aber zu einem solchen der Forschung erheben.“375 Die Hypnoseärzte unterstützten deshalb die behörd­lichen Bemühungen um Verbote der Bühnenhypnotiseure und traten auch in Gerichtsverhandlungen als Gutachter auf. 376 Am ersten Kongress für therapeutischen Hypnotismus von 1889 in Paris forderten sie in einer gemeinsamen Resolution, dass die öffent­lichen hypnotischen Schaustellungen durch die Behörden verboten werden sollten.377 Noch 1907 äusserte sich Moll aus moralischen und gesundheit­lichen Gründen energisch gegen die öffent­lichen Schaustellungen durch Laien.378

3 72 StAZH Z 100, KA-Nr. 6388. 373 Vgl. zu Hansens Repertoire Gauld, A history of hypnotism, S. 303. 374 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 460. 375 Ebd., S. 458. 376 Teichler, „Der Charlatan“, S. 177. Auch Anhänger Charcots wie Gilles de la Tourette und PaulLouis Ladame sprachen sich für ein Verbot der Bühnenhypnose aus (vgl. Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 125 – 128; Bérillon, Premier congrès international, 1889, S. 28 – 38). 377 Bérillon, Premier congrès international (1889), S. 44; Peter und Revenstorf, Hypnose in Psychotherapie, S. 136. 378 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 460.

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4.2 Die Laienpraktiker des Heilmagnetismus Ein noch schwierigerer Schauplatz für die Hypnoseärzte war die Auseinandersetzung mit den Heilmagnetiseuren. Neben der Naturheilkunde und der Homöopathie hatte sich bis zur Jahrhundertwende der Heilmagnetismus zur dritten grossen Strömung der Laienmedizin entwickelt.379 Im Deutschen Kaiserreich wurde in der Reichsgewerbeordnung von 1871 die Heilkunde aufgenommen und dadurch auch die Praktizierung des Heilmagnetismus durch Laien freigegeben. Der Heilmagnetismus fand breite Anwendung; allein in Berlin wurden 1907 97 Magnetiseure gezählt, und die Gruppe der Laienbehandler wies im Gegensatz zu den Hypnoseärzten auch einen hohen Organisationsgrad auf.380 In der Schweiz war die Ausübung der ärzt­lichen Praxis dagegen kantonal geregelt; so war sie im Kanton Zürich beispielsweise den Ärzten vorbehalten.381 Die Hypnoseärzte kritisierten die Laienbehandler und deren Praktiken als „needless mystification of hypnosis and a threat to their monopoly over its use“.382 Sie unterzogen verfahrenstechnische Aspekte, die Heilerfolge und die theoretischen Interpretationen des Heilmagnetismus einer kritischen Betrachtung.383 Die Hypnoseärzte argumen­tierten, dass der Magnetismus durch die neue Lehre des Hypnotismus überholt worden sei. Auch Forel deutete die Fluidumtheorie als wissenschaft­lich veraltet: 379 Teichler, „Der Charlatan“, S. 133. Vgl. die detaillierte Studie Teichlers zu Entwicklung und Auseinandersetzung von Heilmagnetismus und ärzt­lichem Hypnotismus. 380 Zur Ausbreitung Teichler, „Der Charlatan“, S. 107 f. Die geschätzte Zahl von 100 deutschsprachigen Hypnoseärzten war einiges kleiner (ebd., S. 48). Zur Organisation Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 143; Teichler, „Der Charlatan“, S. 119 und S. 134. Die Heilmagne­tiseure gründeten im Jahr 1887 die Vereinigung deutscher Magnetopathen. 381 1904 wurde in einer Volksabstimmung die Initiative über die „Freigabe der arzneilosen Heilweise“ im Kanton Zürich deut­lich verworfen. In den 1920er-Jahren war die „Kurpfuscher-Frage“ in der Schweiz besonders viel diskutiert. So wurde 1925 im Kanton Zürich wieder über eine „Kurpfuscher-Initiative“ abgestimmt. Der Kanton Glarus führte ein Verbot der „Kurpfuscherei“ ein. Danach blieb nur noch der Kanton Appenzell Ausserrhoden, der die Kurierfreiheit beibehielt. Aussergewöhn­lich war die Situation in Baselland, wo zum Schrecken von Politik und Presse im August 1924 eine Volksinitiative angenommen wurde, welche die Freigabe der ärzt­lichen Praxis forderte. Dieser Volksentscheid erregte schweizweit grosses Aufsehen, wie Zeitungsartikel zeigen („Ein schwarzer Abstimmungstag“, Basler Vorwärts, 18. Aug. 1924; „Le triomphe des charlatans, mèges et guérisseurs“, Impartial Chaux-de-Fonds., 22. Aug. 1924; „Ein Sieg des Kurpfuschertums“, Thurgauer Tagblatt, 19. Aug. 1924, vgl. im Medizinhistorischen Archiv der Universität Zürich die Alternativmedizin-Sammlung, MHIZ AM 03.02.004 und AM 03.02.006). 382 Wolffram, The Stepchildren of Science, S. 109. 383 Vgl. Teichler, „Der Charlatan“, S. 137 – 144. In der Zeitschrift für Hypnotismus erschien zwar kein Artikel zum Thema Heilmagnetismus, aber Publikationen dazu wurden fleissig rezensiert.

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Abb 10 Inserat zur Volksabstimmung über die Initiative „Freigabe der arzneilosen Heilweise“ (MHIZ AM 03.02.006). Die Initiative erhitzte im Herbst 1904 im Kanton Zürich die Gemüter und wurde in der Volksabstimmung deut­lich abgelehnt.

„Die Mesmer’sche Lehre des animalen Magnetismus, d. h. eines Fluidums, das vom Magnetiseur in den Magnetisirten übergeht, darf wohl als überwundener Standpunct, als Missverständnis übergangen werden, obwohl dieselbe bei Unwissenden und in unklaren Köpfen heute noch allenthalben spukt.“384 Für ihn war offensicht­lich, dass auch der Heilmagnetismus „nichts anderes als missverstandene, unbewusste Sugges­ tion“ sei.385 Moll, der sich ausgiebig mit dem Heilmagnetismus auseinandergesetzt hatte, kam aufgrund eigener Experimente zum selben Schluss: „Die Magnetopathen glauben durch Heilerfolge das Bestehen des Tierischen Magnetismus zu erweisen [sic!], übersehen aber dabei, dass es sich bei den Heilungen teils um Suggestionswirkungen, teils um spontane Besserungen des Leidens handelt.“386 Dezidiert lehnten die Hypnoseärzte die Ausübung des Magnetismus und des Hypnotismus durch Laien ab und forderten Einschränkungen respektive ein Verbot des Heilmagnetismus.387 384 Forel, Suggestionslehre und Wissenschaft (1893), S. 21. Vgl. ders., Der Hypnotismus (1919), S. 46 – 49. 385 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 728. 386 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 511. 387 Teichler, „Der Charlatan“, S. 165 und S. 203. Z. B. Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 342.

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Forel wies darauf hin, dass „[u]nkundige Aerzte und alle Laien […] mit Hypnotismus dem Nervensystem schaden [können], besonders hysterische Anfälle und dergl. provoziren“.388 Auch Krafft-Ebing war der Ansicht, dass nur der „sachverständige Arzt“ hypno­tisieren dürfe.389 Die Abwehrhaltung der Hypnoseärzte gegenüber den Laienpraktikern im Bereich des Heilmagnetismus und des Hypnotismus ist nur verständ­lich, wenn man sie im Kontext der Ende des 19. Jahrhunderts vehement debattierten „Kurpfuscherfrage“ deutet, die mit dem ärzt­lichen Professionalisierungsprozess im Zusammenhang stand. Der Konflikt zwischen Ärzten und Heilmagnetiseuren trage, so Teichler, repräsentative Züge hinsicht­lich der gesamten Kurpfuscherproblematik, bei der es um die Abgrenzung der Ärzte von den Laienbehandlern und um die Durchsetzung wissenschaft­lich anerkannter Heilverfahren gehe. Die Heilmagnetiseure traten als medizinische Laien auf, die ein Heilverfahren anwendeten, das konträr zu damaligen naturwissenschaft­lichen Paradigmen stand; weiter waren sie eine zahlenmässig starke und gut organisierte Laiengruppe.390 Die Situation der Hypnose­ärzte dagegen war prekär: Innerhalb der Ärzte-Gemeinschaft waren sie Aussenseiter, wurden immer wieder angegriffen und kämpften um die wissenschaft­liche Anerkennung ihres Heilverfahrens. Ihre Kritik an der Laienpraxis „muss man auch vor dem Hintergrund des Versuchs sehen, die Hypnose in der Schulmedizin zu etablieren, der auf ein ärzt­liches Behandlungsmonopol abzielte“.391 Für die ärzt­lichen Gegner des Hypnotismus war dessen Nähe zu den Heilverfahren der Laienpraktiker ein gefundenes Fressen, um ihn zu diskreditieren. Die Hypnoseärzte grenzten sich vehement gegen die Laien und deren „unwissenschaft­liche“ Methoden ab. Forel warf den Heilmagnetiseuren vor, den „Nimbus des Mystischen“ bewahren zu wollen und deshalb wissenschaft­liche Erklärungen abzulehnen.392 Den bekannten Heilmagnetiseur Willy Reichel griff er direkt an und bezeichnete dessen Werk Der Heilmagnetismus als „unverdau­lichen Unsinn“.393 Moll, Schrenck-Notzing und andere traten wie schon bei der Bühnenhypnose auch bei Prozessen gegen Heilmagnetiseure vor Gericht als Gutachter auf, um deren Wirken zu beurteilen. Dadurch versuchten sie ebenfalls, ihre Expertenposition im Bereich des Hypnotismus zu stärken.394 388 Forel, Gutachten (1894), S. 52. Siehe ders., Zu den Gefahren und dem Nutzen des Hypnotismus (1889), S. 6; ders., Zum heutigen Stand der Psychotherapie (1908), S. 268. 389 Krafft-Ebing, Gutachten (1894), S. 66. 390 Teichler, „Der Charlatan“, S. 30 und S. 136. 391 Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 145. 392 Forel, Über die neueste Magnetismus-Litteratur (1893), S. 153. 393 Ebd., S. 154. Zu Reichel vgl. Teichler, „Der Charlatan“, S. 121. 394 Teichler, „Der Charlatan“, S. 177.

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4.3 Die okkultistische Herausforderung Noch von einer weiteren Seite geriet der therapeutische Hypnotismus in Verteidigungsnotstand. Nicht nur Heilmagnetiseure bestellten therapeutisch das gleiche Feld und benutzten eine ähn­liche Terminologie. Auch die Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen gewordenen okkultistischen Strömungen wie Mediumismus, Spiritismus, Telepathie und Hellseherei bedrohten den Kompetenzbereich der Hypnotiseure und rückten deren Praktiken in ein Umfeld, von dem sich die Hypnose­ ärzte so dringend abgrenzen wollten.395 Um 1900 wurden zahlreiche okkultistische Gesellschaften und Klubs gegründet, und viele populäre Schriften erschienen, die für ein breites Publikum erschwing­lich waren. Ein zeitgenössischer Beobachter schätzte, dass in Berlin um 1900 mindestens 600 Medien ihre Dienste anboten.396 In Laienkreisen kam es teilweise zu einer Verbindung von Heilmagnetismus und Spiritismus, so beispielsweise bei Willy Reichel, der sich bei der Diagnosefindung sogenannter Heilmedien bediente. Allerdings stand er mit diesen Praktiken am Rand der Gemeinde der Heilmagnetiseure.397 Das Verbot der öffent­lichen Aufführungen von Hypnotismus und Magnetismus, das in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg erneuert wurde, konnte dem Interesse an Veranstaltungen im psychischen Grenzbereich nicht Einhalt gebieten. Wolf-Braun spricht für die deutsche Zwischenkriegszeit von einer „okkulten Welle“ respektive „Hochphase des Hypnotismus“.398 Der Spiritismus hatte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts, von Amerika ausgehend, nach Europa ausgebreitet.399 Nach einer ersten kurzen Welle des Tischrückens in der Mitte des 19. Jahrhunderts erregten in den 1870er-Jahren die Versuche des Astrophysikers Karl Friedrich Zöllner mit dem Medium Henry Slade grosse Aufmerksamkeit.400 Zöllner, der die mediumistischen Erscheinungen Slades spiritistisch erklärte, 395 Okkultismus wird meist als Sammelbezeichnung für verschiedene Gebiete verwendet, die sich mit dem „Geheimnisvollen, mit Erscheinungen, die sich auf der Basis des aktuell anerkannten Wissensstandes nicht erklären lassen, mit so genannten übersinn­lichen Phänomenen und Erfahrungen, die im Bereich des Transzendenten anzusiedeln sind“, befassen. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 23. 396 Treitel, A Science for the Soul, S. 57 – 59. 397 Teichler, „Der Charlatan“, S. 90 und S. 121. 398 Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 148. 399 In der Literatur wird die Geburtsstunde des modernen Spiritismus auf 1848 datiert, als eine Familie im nordamerikanischen Hydesville angeb­liche Geister-Klopfgeräusche gehört hatte. In den USA wuchs der Spiritismus innerhalb weniger Jahre zu einer mächtigen Bewegung an. Vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 37; Treitel, A Science for the Soul, S. 37; Parot, Le bannissement des esprits, S. 421 f.; Linse, Geisterseher und Wunderwirker, S. 55. 400 Vgl. zum Tischerücken Treitel, A Science for the Soul, S. 30 f., zu Zöllners Versuchen ebd., S. 3 – 20, und Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 40 f.

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stiess allerdings auf entschiedene Ablehnung der Wissenschaftler. Dennoch waren die okkulten Phänomene zunehmend Gegenstand wissenschaft­licher Untersuchung. Viel beachtet wurden Janets Versuche mit Léonie, die er aus der Ferne hypnotisierte.401 Auch in England gab es eine intensive Beschäftigung mit dem Spiritismus, an der sich bekannte Wissenschaftler beteiligten.402 Im deutschsprachigen Raum manifestierte sich die wissenschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Okkultismus durch die Gründung zweier Gesellschaften etwa zehn Jahre nach Zöllners Experimenten. 1886/87 wurde in München unter der Leitung des Philosophen Carl du Prel und von Albert von Schrenck-Notzing die Psychologische Gesellschaft gegründet. Ein Jahr später entstand in Berlin die Gesellschaft für Experimen­ tal-Psychologie (GEP), deren bekannte und besonders aktive Mitglieder Max Dessoir und Albert Moll waren. Die beiden Gesellschaften teilten das Ziel der wissenschaft­ lichen experimentellen Erforschung der okkulten Phänomene und bemühten sich, diese theoretisch zu erklären.403 Auch Forel wurde von seinen Berliner Kollegen in die Aktivitäten des Vereins einbezogen. Dessoir fragte ihn im März 1889 an, ob er neben Frederic Myers, Charles Richet und Cesare Lombroso ebenfalls Mitglied der GEP werden wolle, und wenig später wurde er offiziell zum Ehrenmitglied ernannt.404 Dessoir und Moll konzentrierten sich auf Hypnotismus, Telepathie und Mediumismus. Sie sahen die Erforschung des Unterbewussten als Aufgabe der GEP und versprachen sich davon neue Erkenntnisse für die Psychologie.405 Allerdings stiessen sie mit diesem Ansinnen auf den Widerstand der Experimentalpsychologen, die um ihre eigene wissenschaft­liche Anerkennung fürchteten und ihre Glaubwürdigkeit gefährdet sahen. Wilhelm Wundt beispielsweise war ein vehementer Gegner des Hypnotismus.406 401 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 458 f. Um den Versuchen Janets beizuwohnen, reisten beispielsweise Charles Richet aus Paris und auch eine Delegation der englischen Society for Psychical Research an (ebd., S. 459). 402 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 41. In Frankreich erschien bereits ab 1851 die Zeitschrift La table parlante, und Publikationen zum Thema mehrten sich. 403 Ebd., S. 42. Vgl. Kurzweg, Die Geschichte der Berliner „Gesellschaft für Experimental-­ Psychologie“. 404 Vgl. die Briefe Dessoirs an Forel (MHIZ PN 31.2:839 – 841). 405 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 44 f. 406 Wundt, Hypnotismus und Suggestion (1892); Wolffram, Parapsychology on the couch, S. 257; dies., Stepchildren of Science, S. 98 – 100; Wolf-Braun, Zur Rezeptionsgeschichte der Parapsychologie, S. 410 f. Wie zerbrech­lich die Beziehung zwischen Experimentalpsychologie und Hypnotismus war, zeigt auch ein Anliegen Dessoirs. In einem Brief von 1892 bat er Forel, bei der geplanten neuen Zeitschrift für Hypnotismus auf den Untertitel „experimentelle Psychologie“ zu verzichten, um Wundt nicht zu verärgern (Walser, August Forel, S. 280 f.). Dessoir setzte sich durch: Der erste Jahrgang der Zeitschrift erschien 1892 unter dem Titel Zeitschrift für Hypnotismus, Suggestionstherapie, Suggestionslehre und verwandte psychologische Forschungen.

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Für ihn und andere Experimentalpsychologen war die physiologische Psychologie nur auf psychologische Phänomene mit materieller Basis anwendbar, wie zum Beispiel Reaktionszeit, Aufmerksamkeitsspanne und Sinnesempfindungen. Denk- und andere mentale Vorgänge sollten nach seiner Ansicht ausserhalb des Anwendungsbereichs der experimentellen Forschung bleiben.407 Dessoir prangerte die Ignoranz der Wissenschaftler wiederholt an, und Forel stimmte ihm zu: „[D]ie Vertreter der Wissenschaft [haben] unrecht, wenn sie das Gebiet des sogenannten Okkultismus u. dgl. einfach vornehm ignorieren. […] Sie haben vielmehr die unangenehme und ausserdem sehr schwierige Pf­licht, angeb­liche Tatsachen auf ihre Richtigkeit zu prüfen und den so vielfach auf Abwege geratenen Laien die Augen zu öffnen.“408 Die Hypnoseärzte setzten sich ausführ­lich mit okkulten Phänomenen auseinander. Im Journal für Psychologie und Neurologie erschienen immer wieder Aufsätze, die sich mit Hellseherei beschäftigten.409 Vor allem die Gedankenübertragung war für die Hypnoseärzte das „Experimentum crucis“, da auch in Hypnose Phänomene auftraten, die an Telepathie erinnerten.410 Auch Forel verschloss sich dem thematisch nahen Feld des Okkultismus nicht und bildete sich anläss­lich der Auftritte eines „sogenannten Gedankenlesers“, der in Zürich „Furore“ machte, seine Meinung. Als sein Freund Otto Stoll wenig später dessen hellseherische Fähigkeiten durch unbewusste Muskelbewegungen der Versuchsperson erklärte, mokierte sich Forel über die Reaktion des enttäuschten Publikums.411 Doch er brachte der Telepathie auch ernsthaftes Interesse entgegen: „Ein noch unerklärter Rest angeb­licher Erscheinungen, die aber doch heute nicht von vornherein als wissenschaft­lich unmög­lich erklärbar bezeichnet werden dürfen, bleibt selbst dann noch übrig, wenn man die Fluidumlehre, den Spiritis­mus und den Okkultismus samt allen Wundern der Magie als Unsinn, Betrug 407 Treitel, A Science for the Soul, S. 44. 408 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 50. Siehe auch ders., Psychenergie, Eine Mög­lichkeitshypothese des Hellsehens (1922), S. 225 f. 409 Satzinger, Die Geschichte der genetisch orientierten Hirnforschung, S. 109. Die Okkultisten und Spiritisten hatten sich ihrerseits immer für die Forschungsergebnisse des Hypnotismus interessiert, wie Artikel in der Zeitschrift Sphinx zeigen (Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 33). 410 Wolf-Braun, Zur Rezeptionsgeschichte der Parapsychologie, S. 405; Wolffram, The Stepchildren of Science, S. 83. 411 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 122. Forel hatte auch in publizistischen Belangen keine Berührungsängste. So veröffent­lichte er die 10./11. Auflage des Hypnotismus im Nirwana-­ Verlag für Lebensreform, dessen Publikationspalette viele Schriften zu Okkultismus, aber auch Sexualität, Nudismus und Astrologie umfasste. Zwei Jahre später wechselte er jedoch für die nächste Auflage wieder zu seinem Traditionsverlag Ferdinand Enke, Stuttgart, der viele medizinische Schriften in seinem Programm führte (z. B. auch Dessoir). Gemäss Treitel zeigen das breite Angebot des Nirwana-Verlags und dessen gute Zugäng­lichkeit, wie der deutsche Okkultismus zu einer breiteren Konsumkultur gehörte (Treitel, A Science for the Soul, S. 75).

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und Täuschung verwirft.“412 Im Journal für Psychologie und Neurologie entwickelt er wenig später die Theorie der „Psychenergie“ zur Erklärung telepathischer Erscheinungen: „Warum sollte das, was uns undurchdring­lich erscheint, nicht an und für sich, durch andere uns noch unbekannte Energien, durch Elektronen und andere Reize, die von nah und fern zu uns gelangen, doch durchdrungen werden?“ Nur die Überschätzung der Wissenschaft könne dazu verleiten, diese Frage zu verneinen. „Warum könnten die vielgestaltigen Reize […] nicht auch ausnahmsweise durch unseren Schädel hindurchdringen, und die Neuronen unserer Hirnrinde treffen […]? Warum könnte eine solche Willenskonzentration auf bestimmte Wahrnehmungskomplexe […] die letzteren nicht mittels einer uns noch unbekannten Energieform von einem Gehirn in das andere (dasjenige des überempfind­lichen Mediums) ausnahmsweise überstrahlen lassen können?“413 Auch Dessoir wies wiederholt auf Versuche hin, die seines Erachtens für die Mög­lichkeit von Telepathie sprachen.414 Dessoir plädierte vehement für die wissenschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Okkultismus und führte für diese Studien 1889 den Begriff Parapsychologie ein.415 Der Begriff bezeichnete nach seiner Definition einen neuen Wissenschaftszweig für Forscher, die paranormale Erscheinungen experimentell untersuchten und sich einem wissenschaft­ lichen Zugang verpf­lichtet fühlten.416 Zusammen mit Moll tat er sich als kritischer Beobachter von mediumistischen Darbietungen hervor. Sie konzentrierten sich vor allem beim Publikum auf psychologische Faktoren wie Konzentrationsfähigkeit, visuelle Illusionen und Erwartungshaltungen und untersuchten, wie die Medien sich diese zunutze machten. Dessoir trat auch als Gutachter in Prozessen gegen Medien auf, so zum Beispiel im viel beachteten Prozess gegen das „Blumenmedium“ Anna Rothe, der 1903 in Berlin stattfand.417 Die Verbindung zwischen Parapsychologie und Hypnotismus wurde bei den internationalen Kongressen für Psychologie deut­lich, wo die Parapsychologie von 1889 bis 1905 in den Sektionen für Hypnotismus vertreten war.418 So plädierte Charles Richet 1892 am internationalen Kongress für Psychologie in London dafür, dass die transzendentale Psychologie wie Hellsehen, Gedankenübertragung usw. das Recht habe, „ein 412 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 54. Ab der 8./9. Auflage seines Lehrbuches im Jahr 1919 spiegelt sich das Thema der Telepathie auch im Untertitel („Ihre psychologische, psychophysiologische und medizinische Bedeutung mit Einschluss der Psychanalyse, sowie der Telepathiefrage“). 413 Forel, Psychenergie (1922), S. 225 f. 414 Dessoir, Vom Jenseits der Seele (1931, orig. 1917), S. 116. Auch Bernheim, Freud, Loewenfeld und Moll schlossen die Mög­lichkeit von Telepathie nicht grundsätz­lich aus (Wolf-Braun, Zur Rezeptionsgeschichte der Parapsychologie, S. 416). 415 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 69. Vgl. auch Grossmann, Vom Jenseits der Wissenschaft. 416 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 70. 417 Vgl. Dessoir, Vom Jenseits der Seele (1917), S. 170 – 177. Zum Fall Rothe ausführ­lich Treitel, A Science for the soul, S. 165 – 191; Wolffram, Parapsychology on the Couch, S. 243. 418 Vgl. Parot, Le bannissement des esprits, S. 428 – 435.

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Object für wissenschaft­liche Forschung“ innerhalb der Psychologie zu sein.419 Die Palette der Referate am Londoner Kongress war breit: So referierten unter anderen Hermann Ebbinghaus zur Theorie des Farbensehens, Hugo Münsterberg über die psychophy­ sischen Grundlagen der Gefühle, Augustus Waller über die funktionellen Attribute des zerebralen Cortex und Eleanor Sidgwick über Gedankenübertragung. Am vierten Kongress im Jahr 1900 in Paris brach der Streit um die Spiritisten jedoch auf, wobei Vogt und Ebbinghaus die Spiritisten heftig kritisierten.420 Die Diskussion endete mit dem Beschluss, Spiritismus und Telepathie am nächsten Kongress nicht mehr zu behandeln. Kurz danach gründete Julian Ochorowicz in Paris das Institut psychologique interna­ tional, wo sich die Spiritismus-Forschenden fortan versammelten, um den Spiritismus weiterzuentwickeln.421 Parot hält fest, dass die Gründung dieses Instituts entscheidend war: „[E]lle ‚permet‘ d’une certaine façon la séparation des spirites et des psychologues en constituant un lieu destiné à analyser le problème de leurs éventuels liens.“422 Auch Moll setzte sich, wie bereits erwähnt, ausgiebig mit okkulten Phänomenen und den Spiritisten auseinander. Schon in jungen Jahren hatte er die Begegnung mit Okkultisten gesucht und an spiritistischen Sitzungen teilgenommen. Doch er kriti­ sierte den Okkultismus je länger, desto heftiger.423 So betonte er 1907 im Vorwort von Der Hypnotismus, dass er „[t]rotz vieler Bemühungen […] bei Innehaltung der wissenschaft­lichen Bedingungen niemals auch nur das mindeste von okkulten Phänomenen“ gesehen habe, „die Annahme eines Tierischen Magnetismus, einer Telepathie, eines Hellsehens usw. erwies sich bei allen diesen Untersuchungen als überflüssig“.424 Schrenck-Notzings Materialisationsphänomene Besonders nahe kamen sich Hypnotismus und Okkultismus im Mediumismus von Albert von Schrenck-Notzing, der sich seit den späten 1880er-Jahren mit okkultistischen Fragen befasste und um die Jahrhundertwende zu einem der bekanntesten Erforscher des Okkulten avancierte.425 So berichtete er Forel 1890 über eine Reise mit 19 Sperling, Der internationale Congress für experimentelle Psychologie in London (1893), S. 25. 4 420 Vogt sah die Spiritisten als Bedrohung für Wissenschaft und Hypnotismus (Parot, Le bannissement des esprits, S. 433). 421 Das Institut wurde kurz nach der Gründung zu Institut général psychologique umbenannt (ebd., S. 435). 422 Ebd., S. 435. 423 Moll, Ein Leben als Arzt der Seele (1936), S. 90 – 116; Wolffram, Parapsychology on the couch, S. 237. 424 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. VI. Molls Buch nahm den Begriff Okkultismus in der vierten Auflage von 1907 im Untertitel auf: Mit Einschluss der Hauptpunkte der Psychotherapie und des Okkultismus. 425 Vgl. Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 24; Wolffram, The Stepchildren of Science, S. 131 – 189.

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Myers und J. Héricourt ins Erzgebirge, wo sie „auf einem Bauernnest nach allen Regeln der Kunst die Medien […] auf ihre sogenannten ‚spiritistischen‘ Manifestatio­ nen hin“ durchgeprüft hätten: „Allein es gelang uns, bis zur Evidenz den Beweis zu liefern, dass und wie die Erscheinungen von den Personen durch manuelle Geschick­ lichkeit gemacht werden.“426 Trotzdem war Schrenck-Notzing überzeugt, dass okkulte Erscheinungen nicht auf Betrug basierten, und wandte sich je länger, je mehr der Erforschung mediumistischer Sitzungen zu. Mit der Publikation seines Werks Mate­ rialisationsphänomene geriet er 1914 definitiv ins Abseits bei seinen ehemaligen Hypnose-Weggefährten, mit denen er schon früher bezüg­lich der Therapierbarkeit von Sexualpathologien uneinig gewesen war.427 Auf über 500 Seiten beschrieb er in diesem Buch die Sitzungen, die er mit dem Medium Eva C. von 1909 bis 1913 durchgeführt hatte.428 Eva C. war ein „physikalisches“ Medium, da sie einzelne Körperteile oder unbekannte Substanzen, die Schrenck-Notzing „Teleplasma“ nannte, „aus dem Nichts heraus sichtbar“ machen konnte.429 Nach der Hypnotisierung produzierte Eva C., begleitet von Röcheln, Stöhnen und Pressen, jeweils ein teleplastisches Gebilde, das sich von schleierartigen Geweben „hin zu ausdifferenzierten, flächenhaften und sogar plastischen Formen [entwickelte], in denen mensch­liche Gliedmassen, Gesichter und in seltenen Fällen ganze Fantomgestalten zu erkennen waren“.430 Schrenck-Notzing berichtet über die Sitzung vom 30. Dezember 1911: „Kaum hatte ich meinen Platz rechts vom Medium eingenommen, als schon eine weisse, doppelt handgrosse Masse auf ihrem Schoss sichtbar wurde. Während der nun folgenden 20 Minuten dauerten die psychophysischen Anstrengungen fort. Die Substanz änderte ihren Platz und wir erblickten sie bei der nächsten Exposition auf Evas Kopf.“431 Schrenck-Notzing fühlte sich bei der Durchführung seiner Experimente wissenschaft­ lichen Standards verpf­lichtet.432 Als er „nicht ohne Bedenken“ seine vierjährigen Beobachtungen der Experimente mit Medium Eva C. veröffent­lichte, gab er zwar zu, dass diese „noch nicht den Anforderungen der exakten naturwissenschaft­lichen Methoden“ genügten.433 Er ahnte wohl, wie heftig die Kritik seiner Zeitgenossen sein würde, und versuchte, seine Sitzungen wissenschaft­lichen Standards entsprechend darzustellen. Zur „objektiven Feststellung“ dokumentierte er die Sitzungen mittels Fotografie und schrieb Protokolle 26 Walser, August Forel, S. 248 f. 4 427 Vgl. zu den Unstimmigkeiten über die hypnotische Therapierbarkeit von Sexualpathologien Kap. 7. 3. 428 Parot, Le bannissement des esprits, S. 438. 429 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 36. 430 Fischer, In der Dunkelkammer eines Medienforschers, S. 137. 431 Schrenck-Notzing, Materialisations-Phänomene (1914), S. 225. 432 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 24. 433 Schrenck-Notzing, Materialisations-Phänomene (1914), S. VII.

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der Sitzungsverläufe.434 Die Fotografien und die Sitzungsbeschreibungen dienten ihm dazu, die Echtheit der teleplastischen Phänomene gegen den Vorwurf des Betrugs zu verteidigen. Weiter wurden der Raum und das Medium vorgängig rigorosen Kontrollen unterzogen: „Vor der Sitzung genaue Besichtigung des Versuchsraumes. Boden massiv (keine Versenkung). Mit der Hand wird überall untersucht, ob an der Fixierungsstelle des Teppichs etwa irgendwelche Stoffe versteckt sind. […] Die Untersuchung erstreckt sich auch auf den Schrank, den Stuhl usw.; trotz sorgfältiger Prüfung nichts Verdächtiges, das zur künst­lichen Inszenierung der Erscheinungen hätte dienen können.“435 Vor und nach der Sitzung wurde auch das Medium untersucht. Schrenck-­Notzing berichtet darüber rückblickend: „Die grösste Sorgfalt verwendeten die Teilnehmer regelmässig auf die Vor- und Nachkontrolle des Mediums; eingehende Untersuchung der Körperhöhlen, Genitalien, Rectum, Mundhöhle.“ Während der Sitzung waren die Hände des Mediums zudem „in optischer und taktiler Kontrolle“.436 Diese Kontrollen verängstigten Eva C., wie ein Teilnehmer der Sitzungen, der Nervenarzt Walter von Gulat-Wellenburg, anläss­lich seiner Beschreibung der Nachkon­ trolle des Mediums festhielt: „[Sie] wird völlig nackt ausgezogen und wird ihr wieder Mund, Nase, Rachen, Ohren, die aufgelösten Haare, Achselhöhlen […] untersucht und gleichzeitig durch Einführung eines Fingers in die Scheide festgestellt, dass sie auch dort nichts verborgen haben kann. Während dieser gynäkologischen Untersuchung gerät sie in ängst­liche Erregung und weint reich­liche, echte Tränen.“437 Diese Untersuchung von Eva C., die in massiver Weise ihre Integrität und auch das damalige Sittengefühl verletzte, hatte jedoch keine heftigen Reaktionen zur Folge. Die Bedenken Schrenck-Notzings erwiesen sich trotz seiner Bemühungen um wissenschaft­liche Beweisführung als berechtigt, wie zum Beispiel Thomas Manns Kommentar zeigt. Die Veröffent­lichung des Buches rief, so Mann, einen „voll ausgewachsenen öffent­lichen Skandal“ hervor: „Aus der offiziellen Gelehrtenwelt hagelte es Proteste gegen soviel Verirrung, Leichtgläubigkeit, Dilettantismus und Schwindel. Das Publikum […] hielt sich den Bauch vor Lachen.“438 In der Tagespresse, in Fachzeitschriften und Broschüren wurde Schrenck-Not 434 Ebd., S. IX. Von 1903 bis 1913 fertigte er während der mediumistischen Sitzungen gegen 1000 Fotografien an (Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 77). Wie auf dem Titelblatt der ersten Auflage von 1914 angekündigt, enthielt der über 500 Seiten starke Band 150 Abbildungen, die zweite Auflage von 1923 bereits 275 Abbildungen. 435 Schrenck-Notzing, Materialisationsphänomene (1914), S. 62 f. 436 Albert Schrenck-Notzing, Die Entwicklung des Okkultismus zur Parapsychologie in Deutschland, Aus dem Nachlass herausgegeben von Gabriele Freifrau v. Schrenck-Notzing, Leipzig 1932, S. 16, zitiert in: Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 73. 437 Gulat-Wellenburg wird zitiert in Schrenck-Notzing, Der Kampf um die Materialisationsphänomene (1914), S. 33. 438 Mann, Okkulte Erlebnisse (1924), S. 201. Siehe Fischer, In der Dunkelkammer eines Medienforschers, S. 137.

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zing kritisiert und dem angeb­lichen Medium Betrug vorgeworfen.439 Die Hypnoseärzte grenzten sich lautstark von Schrenck-Notzings Experimenten ab. Für Moll, der sich durch den gemeinsamen Kampf für den Hypnotismus mit Schrenck-Notzing „stark verbunden fühlte“,440 markierte die Publikation zu den Materialisationsphänomenen eine Zäsur in ihrem Verhältnis: „Seitdem Freiherr von Schrenck-Notzing sein Buch über die Materia­lisationen seines Mediums, die Eva C., veröffent­licht hatte, war ich dauernd mit ihm und den Okkultisten in heftiger Fehde. So etwas von Unwissenschaft­lichkeit ist mir nicht wieder begegnet.“441 Auch die Kontrollmassnahmen Schrenck-Notzings wurden von den Kritikern skeptisch beurteilt. Dessoir sah die Psychologie der Sitzungsteilnehmer als Schwachpunkt: „[E]s ist stets im Auge zu behalten, dass die technischen Vorbereitungen, Hilfsmittel und Geschick­lichkeiten nur einen Teil des Ganzen ausmachen; die psychologischen Bedingungen sind stets mittätig und meist bedeutungsvoll. Was selbst den Wissenden rein technisch unbegreif­lich scheint, findet seine Erklärung in Mängeln der Beobachtung, Lücken der Erinnerung und zahllosen ähn­lichen Umständen, die ihrer Natur nach nur schwer für den Einzelfall nachzuweisen sind.“442 Er war überzeugt, dass die Medien durch Lärm und Konversation die Fähigkeit der Teilnehmenden manipulierten, sich lange konzentrieren zu können, die Atmosphäre des verdunkelten Raums die Wahrnehmung erschwerte und die Erwartungshaltung der Zuschauer sie durch Phantasie ergänzen liess, was nicht ihren Vorstellungen entsprach. Zusätz­lich würden sich die nachträg­lichen Erzählungen wegen mangelhafter Erinnerung der Sitzungsteilnehmer als unpräzis erweisen.443 Auch Forel ging auf das kontrovers diskutierte Buch des „früher nicht ohne Urteil arbeitende[n] Dr. von Schrenck-Notzing“ ein: „So viel Lärm dieses Buch verursachte, so rasch wurde auch der Schwindel des ‚Mediums‘ entlarvt, das einfach in der Dunkelkammer Stoffe und auf Stoff erzeugte Bilder verschluckte und dann wieder herauswürgte oder mit anderen Kniffen Dr. von Schrenck zum Narren hielt.“444 Die Materia­ lisationsphänomene bedeuteten für ihn den „Gipfelpunkt des Unsinns dualistischer 439 Zum Beispiel Kemnitz, Moderne Mediumforschung (1914); als Reaktion darauf Schrenck-­ Notzing, Der Kampf um die Materialisationsphänomene (1914). 440 Moll, Psychologie und Charakterologie der Okkultisten (1929), S. 4. 441 Moll, Ein Leben als Arzt der Seele (1936), S. 115 f. 442 Dessoir, Vom Jenseits der Seele (1931), S. 365. 443 Vgl. Dessoir, Vom Jenseits der Seele (1931), S. 340 f. und S. 367; Wolffram, Parapsychology on the couch, S. 245. 444 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 49 f. Er war überzeugt, dass sich Schrenck-Notzing „von einem hysterischen schwindelsüchtigen ‚Medium‘ betrügen“ lasse. „Die früheren besseren Arbeiten des Verfassers der angeb­lichen ‚Materialisationsphänomene‘ sollten jedoch nicht darunter leiden dürfen.“ (ebd., S. 342). Vgl. auch Forel, Eine Frage an Herrn Dr. A. Freiherr von Schrenck-Notzing (1914), S. 1224 f.

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Vorstellungen“: „Um die Echtheit eines stofflosen (energielosen) Geistes darzutun, will man ihn stoff­lich (energiehaltig) machen!“445 Das Interesse an Schrenck-Notzings Experimenten blieb jedoch gross. Anfang der 1920er-Jahre führte er in seinem Haus in München Sitzungen mit den Medien Willi und Rudi Schneider durch, die auf grosses Echo in Wissenschaftler-, Künstlerund Schriftstellerkreisen stiessen. So nahm beispielsweise auch Thomas Mann an vier Sitzungen teil, über die er fasziniert Berichte verfasste.446 Auch als 1923 die zweite Auflage von Schrenck-Notzings Materialisationsphänomenen erschien, brachen die Diskussionen um (betrügerische) Medien nicht ab.447 Wie Molls Analyse Psychologie und Charakterologie der Okkultisten von 1929 schon im Titel verrät, wandten sich die Kritiker des Okkultismus zunehmend der Demontage ihrer Gegner zu: „Das Rätsel, weshalb die ‚junge parapsychologische Wissenschaft‘ nicht weiter vordringt, ist sofort gelöst, wenn man ihre Hauptführer ansieht.“448 Molls polemische Kritik fokussierte sich auch posthum vor allem auf Schrenck-Notzing: „Ein Mann, der Fastnachtsscherze als Wissenschaft hinnahm, der die Faschingsvermummungen hysterischer Weiber und anderer Medien als Transfiguration oder Teleplasma und als Produkt des Unbewussten der Welt aufoktroyieren wollte, muss auch nach dem Tode wahrheitsgemäss beleuchtet werden.“449 Die Kapiteltitel Molls wie „Affekteinstellung der Okkultisten“, „fehlende Methodik“ oder „Oberfläch­lichkeit, Gedankenlosigkeit, Leichtgläubigkeit der Okkultisten“ machen deut­lich, dass er die Arbeit der Parapsychologen als unwissenschaft­ lich brandmarkte. Im letzten Kapitel, überschrieben mit „Zur Psychopathologie der Okkultisten“, pathologisierte er seine Gegner, indem der intellektuelle Gegner zum Objekt psychologischer Analyse wurde.450 Die Parapsychologen reagierten auf solche Anwürfe, und auch Schrenck-Notzing spielte auf einer ähn­lichen Klaviatur wie Moll und attestierte seinen Gegnern eine „fanatische Negativgläubigkeit“.451 445 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 49. 446 Die Berichte Manns veröffent­lichte Schrenck-Notzing in Experimente der Fernbewegung (Telekinese) im psychologischen Institut der Münchener Universität, Stuttgart 1924, S. 253 – 262. Dazu Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 115 f. Dessoir nahm im April 1925 an zwei Sitzungen Schrenck-Notzings mit Rudi Schneider teil, die jedoch ergebnislos verliefen: „So begnügte ich mich mit dem mageren Trost, dass an diesen beiden Abenden jedenfalls nicht geschwindelt wurde.“ Dessoir, Vom Jenseits der Seele (1931), S. 304. 447 1925 erschienen als Teil der Trilogie Der Okkultismus in Urkunden, von Max Dessoir herausgegeben, Der physikalische Mediumismus von W. von Gulat-Wellenburg und Die intellektuellen Phänomene von Carl v. Klinckowstroem und Hans Rosenbusch. Auf diesen Angriff reagierte Albert von Schrenck-Notzing mit Die physikalischen Phänomene der grossen Medien (1926). 448 Moll, Psychologie und Charakterologie der Okkultisten (1929), S. 4. 449 Ebd., S. 4. 450 Vgl. dazu auch Wolffram, Parapsychology on the couch, S. 251 f. 451 Schrenck-Notzing, Die physikalischen Phänomene der grossen Medien (1926), S. 6.

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Umkämpfte Grenzbereiche Die These von James Webb, dass der Okkultismus als kulturhistorisches Phänomen nur ein „antimodernes Kontrastprogramm“ sei, erweist sich als überholt.452 Ulrich Linse deutet ihn wie den Heilmagnetismus und den Hypnotismus als „aktuelle Bearbeitung“ von um 1900 fragwürdig gewordenen Auffassungen zu „Körper/ Materie und Seele/Geist, Krankheit und Gesundheit, Tod und Leben, Individualität und Gemeinschaft, geschlechtsbedingten Rollen und künstlerischer Produktion“.453 Wie Pytlik schreibt, verliert das Forschungsgebiet des Okkultismus seine Kuriosität, wenn man bedenkt, dass „eine Reihe der Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten technischen Errungenschaften auf dem Wirken unsichtbarer Kräfte und Energien beruht, die grosse räum­liche Distanzen überwinden und Grenzen der Materie durchdringen“.454 Telegrafie, Röntgenstrahlen und Elektrizität schlugen sich nicht nur in den Wahnideen von Psychiatriepatientinnen und Psychiatriepa­ tienten nieder, sondern beflügelten auch die wissenschaft­liche Phantasie bezüg­lich Grenzüberschreitungen von Zeit und Raum. Die „Entdeckung des Unbewussten“455 stellte zusätz­lich die Vorherrschaft der Vernunft infrage. Auch Forel war diesen Erforschungen der sinn­lichen Grenzbereiche gegenüber nicht abgeneigt, wie sein Konzept der „Psych­energie“ zeigt. So betonte er, dass die mensch­lichen Sinne „offenkundig sehr beschränkt“ seien. Die Menschen besässen keinen Sinn für Elektrizität, mittels „X-Strahlen“ könne man durch die Haut fotografieren, und die Ameisen besässen zusätz­lich einen topochemischen Geruch.456 Daraus folgerte er, dass telepathische Übertragungen nicht ausgeschlossen werden könnten. Treitel sieht die heftig geführte Auseinandersetzung um den Okkultismus als Ausdruck eines grösseren Kampfes um die Psychologie: „[T]he occult sciences turned out to sit squarely in the middle of what was rapidly becoming a war zone. This was the no man’s land of late-nineteenth-century psychological thought, a territory in which philosophers, psychologists, physiologists, physicists, psychiatrists, doctors, clerics, educators, spiritualists, and ordinary lay people were all staking their claims.“457 Aus diesen Auseinandersetzungen gingen die Hypnoseärzte nicht als Sieger hervor. Die Nähe zu Bühnenhypnose, Heilmagnetismus und Okkultismus war ein willkommener Anlass für die Gegner des Hypnotismus, diesen zu verunglimpfen, wie das folgende Kapitel zum weiteren Karriereverlauf des Hypnotismus zeigt.

452 Vgl. Webb, The Age of the Irrational. 453 Linse, Geisterseher und Wunderwirker, S. 21. 454 Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 13 und S. 195. 455 So betitelte Ellenberger sein Übersichtswerk zur Geschichte der dynamischen Psychiatrie. 456 Forel, Psychenergie (1922), S. 225. 457 Ebd., S. 20 f.

5. Karriere und Krise des therapeutischen Hypnotismus

Der Hypnotismus schrieb im Bereich der Medizin keine Erfolgsgeschichte, wie es sich Forel gewünscht und in den 1880er-Jahren noch prognostiziert hatte.458 Um 1900 verblasste die Ausstrahlung der Hypnosetherapie allmäh­lich. Ellenberger spricht von einer „plötz­lichen und irrationalen“ Ablehnung des Hypnotismus, die auf dessen Hochphase folgte.459 Als Symptom dieser Entwicklung gilt, dass die beiden führenden Zeitschriften zum Thema Hypnotismus ihren Namen änderten. So wurde die Revue de l’hypnotisme 1900 in die Revue de psychothérapie et de psychologie appliquée umbenannt, und aus der Zeitschrift für Hypnotismus wurde 1902 das Journal für Psychologie und Neurologie.460 Vom erweiterten inhalt­lichen Programm des Journals für Psychologie und Neurologie erhoffte sich Redaktor Oskar Vogt eine Steigerung des Artikeleingangs.461 Fallgeschichten sollten nun zugunsten des Ausbaus des wissenschaft­lichen Programms in den Hintergrund treten.462 Nach Vogts Vorstellung sollte der Ausbau der Psychopathologie vorangetrieben, die „Wechselbefruchtung […] zwischen Psychologie, Anatomie des Nervensystems und Physiologie desselben“ gefördert und die Neurologie stärker berücksichtigt werden.463 Der Niedergang des Hypnotismus war allerdings weniger abrupt, als ­Ellenberger glauben machen will. Der zweite internationale Kongress für Hypnotismus im Jahr 1900 in Paris hatte immer noch viele Teilnehmer, und die Anzahl der Artikel zum Thema im Index Medicus nahm von 1903 bis 1914 nur langsam und unregelmässig ab.464 Doch tatsäch­lich kehrten nach 1900 viele der Methode den Rücken und experimentierten mit neuen Verfahren im Bereich der Psychotherapie wie etwa Wachsuggestion, Psychagogik und Psychoanalyse. Auch Vogts Diagnose von 1902 zur Verfassung des Hypnotismus weist in diese Richtung. Er zeigte sich überzeugt, dass sich der Hypno­tismus nicht mehr ausbreiten werde, betonte jedoch dessen historische

58 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 134. 4 459 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 254. 460 Gauld interpretiert die Namensänderung als Zeichen und teilweise auch Ursache des beginnenden Niedergangs des Hypnotismus (Gauld, A history of hypnotism, S. 559). 461 Vgl. den Brief Vogts an Forel in: Walser, August Forel, S. 339 f. Es erschienen nur noch vereinzelt Artikel zum Thema Hypnotismus im Journal für Psychologie und Neurologie. 462 Vogt, Zur Erweiterung unserer Zeitschrift (1902), S. 377. Das Journal diente auch als Organ von Vogts neu gegründetem Neurobiologischen Laboratorium (ebd., S. 379). 463 Vogt, Zur Erweiterung unserer Zeitschrift (1902), S. 379; ders., Psychologie, Neurophysiologie und Neuroanatomie (1902), S. 1. 464 Gauld, A history of hypnotism, S. 559.

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Gesamtbedeutung für die Medizin, da er auf den „weiten Umfang psychischer Einwirkung“ aufmerksam gemacht habe.465

5.1 Kontroverser Hypnotismus Wie bereits erwähnt, standen auch in den 1880er- und 1890er-Jahren die meisten Ärzte dem Hypnotismus ablehnend gegenüber. Die Laienpraxis und die angeb­liche Gefähr­lichkeit des hypnotischen Zustandes bestimmten die kritischen Argumente.466 Die Nähe des Hypnotismus zur Laienpraxis dominierte schon die Kontroverse, die Molls Vortrag vom 26. Oktober 1887 in der Berliner Medizinischen Gesellschaft ausgelöst hatte.467 Seinem Referat schlug fast vollständige Ablehnung entgegen. Die Argumente der Hypnosegegner lassen sich zwei Positionen zuordnen, wie die Kritik von ­Emanuel Mendel und Carl Anton Ewald beispielhaft zeigt. Auf der einen Seite wurde der Hypno­tismus aus moralisch-ethischen Gründen abgelehnt.468 Seine Effektivität wurde aus dieser Warte nicht bestritten, sondern die Anwendung gerade deswegen verurteilt. Der Argumentation Charcots folgend, hob Mendel hervor, dass „Nervöse […] durch Hypnosebehandlung noch nervöser, Nichtnervöse nervös gemacht“ würden.469 Aus den gleichen Gründen lehnten auch Moriz Benedikt, Otto Binswanger und Paul Dubois die Hypnosetherapie ab. Auf der andern Seite übten die Hypnosegegner Kritik an der Besonderheit des hypnotischen Zustandes und wiesen den Hypnotismus als „falsches Wissen“ zurück. Dieser Gruppe lässt sich beispielsweise Theodor Meynert zuordnen, der den Hypnotismus als „experimentell erzeugten Blödsinn“470 betitelte. Auch Ewald lehnte die Hypnosebehandlung grundsätz­lich ab und kritisierte deren Nähe zur Laien­praxis: „Eine ärzt­liche Behandlung ist das nicht; zu einer ärzt­lichen Behandlung gehört ärzt­liche Kunst und ärzt­liches Wissen, aber etwas, was jeder Schäferknecht, was jeder Schuster und Schneider machen kann, […] kann man doch nicht mit dem Namen ärzt­liche Behandlung belegen.“471 In die Kontroversen, die in Deutschland die Gemüter erhitzten, schaltete sich auch Forel ein und publizierte in der Münchener Medizinischen Wochenschrift und andern Periodika.472 So reagierte er auf den Vorwurf 65 Vogt, Zur Erweiterung unserer Zeitschrift (1902), S. 378. 4 466 Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 138 f.; Peter, Stimmen der Vergangenheit. 467 Nach Moll war dies der erste Vortrag im Deutschen Reich über Suggestionstherapie in der Tradition Bernheims (Moll, Ein Leben als Arzt der Seele, 1936, S. 30). 468 Vgl. Bugmann, „Naturwissenschaft­liche Experimentalmethode“ und Psychotherapie, S. 53 – 55. 469 Moll, Ein Leben als Arzt der Seele (1936), S. 42. 470 Forel, Zu den Gefahren und dem Nutzen des Hypnotismus (1889), S. 9. 471 Moll, Ein Leben als Arzt der Seele (1936), S. 31. 472 Die Münchener Medizinische Wochenschrift gehörte neben der Deutschen Medizinischen Wochen­ schrift und der Berliner Klinischen Wochenschrift zu den führenden Fachzeitschriften im Deutschen

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Ewalds und nutzte die Gelegenheit, auf die Herkunft mancher medizinischer Mittel aus der „rohen Empirie“ hinzuweisen, betonte jedoch gleichzeitig, dass zur korrekten therapeutischen Anwendung der Hypnose medizinisches Wissen und psychologische Kenntnisse nötig seien.473 Er grenzte dadurch den Hypnotismus explizit von der Laienpraxis ab und forderte, die Medizin müsse end­lich die wissenschaft­liche Prüfung des Hypnotismus vornehmen. In seinen Verteidigungsschriften führte er jeweils ausführ­ lich Beispiele erfolgreicher Behandlungen an, um die Leserschaft vom Anwendungsspektrum und dem therapeutischen Nutzen zu überzeugen.474 Auch Wien war Schauplatz von Kontroversen, die das Schicksal des therapeu­ tischen Hypnotismus entscheidend beeinflussten. Nachdem schon Meynert über den Hypnotismus hergezogen war, lösten die Experimente Krafft-Ebings im Jahr 1892 einen handfesten Skandal aus.475 Krafft-Ebings Hypnotisierung einer Frau, deren suggestive Begabung von einem Laienhypnotiseur „entdeckt“ worden war, zog heftige Kritik auf sich. Neben der Auswahl der Probandin wurde seine Beweisführung kritisiert, die sich auf Aussagen ihrer Familie stützte. Besonders Charcots Anhänger Moriz Benedikt zog gegen Krafft-Ebing in die Schlacht.476 Diese öffent­lich geführte Auseinandersetzung blieb für die therapeutische Anwendung des Hypnotismus in Wien nicht ohne Auswirkungen. In der Folge liessen sich viele der gebildeten Patienten, welche die Kontroversen über den Hypnotismus genau mitverfolgt hatten, von Freud, Breuer, Krafft-Ebing und Schnitzler nicht mehr mit Hypnosetherapie behandeln.477 Doch die mög­liche Verwendung des Hypnotismus zu kriminellen Zwecken ­zwischen 1885 und 1900 beschäftigte das öffent­liche, medizinische und literarische Reich (vgl. Jeschal, Politik und Wissenschaft deutscher Ärzte im Ersten Weltkrieg, S. 8). 473 Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 4. Er nahm auch sonst in der Münchener Medizinischen Wochenschrift Stellung zu Polemiken um den Hypnotismus. Vgl. ders., Hypnotismus und Hysterie (1894); ders., Die Hypnose vor der Ärztekammer (1903). Vgl. Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 138; Teichler, „Der Charlatan“, S. 59. Vgl. zu Ewalds Angriff auch Moll, Ein Leben als Arzt der Seele (1936), S. 31; Wolffram, The Stepchildren of Science, S. 91 f. 474 Auch auf die Angriffe des Internisten Hugo von Ziemssen, Mitherausgeber der Münchener Medizinischen Wochenschrift und Leiter einer bekannten Münchener Klinik, reagierte Forel umgehend. Vgl. Ziemssen, Die Gefahren des Hypnotismus (1889); Forel, Zu den Gefahren und dem Nutzen des Hypnotismus (1889); ders., Zur Hypnose als Heilmittel (1894); ­Grossmann, Zur Hypnose als Heilmittel (1894). 475 Vgl. Mayer, „Sicherheit ist nirgends“, S. 116 – 124; Lafferton, Hysteria and hypnosis as ongoing processes of negotiation, S. 191 f.; Oosterhuis, Stepchildren of nature, S. 123. Krafft-Ebing publizierte als Reaktion Beschreibungen seiner Experimente (Krafft-Ebing, Hypnotische Experimente, 1893). 476 Vgl. Benedikt, Hypnotismus und Suggestion (1894), S. 74 – 84. Im Wiener Tagblatt vom 17. Juni 1893 bezeichnete er die Experimente Krafft-Ebings als „dummen Schwindel“ (Krafft-Ebing, Hypnotische Experimente, 1893, S. 29). Vgl. zu Benedikts Urteil über Simulation Kap. 8. 4. 477 Mayer, „Sicherheit ist nirgends“, S. 122 f.

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Interesse viel stärker. Romane nahmen das Motiv des hypnotischen Verbrechens auf und beflügelten die Fantasie der Öffent­lichkeit.478 Das „Schreckgespenst des hypnotischen Verbrechens“479 war auch Thema einer lebhaften wissenschaft­lichen Debatte, wie sich am ersten internationalen Kongress für Hypnotismus vom 8. bis 12. August 1889 in Paris zeigte. Die Teilnehmer stritten sich nach einem Referat Paul-Louis Ladames, und im Verlauf der Diskussionen wurden erste ethische Richtlinien verabschiedet, die ein Verbot öffent­licher Hypnosedemonstrationen und die Forderung nach der Integration des Hypnotismus in die medizinische Praxis beinhalteten.480 Die Vertreter von Charcots und Bernheims Hypnotismuslehre hoben unterschied­ liche Gefahrenaspekte hervor. So waren Charcot und seine Schüler überzeugt, dass Hypno­se eng an den Zustand der Hysterie gekoppelt war und deshalb die Gefahr bestand, dass durch Hypnose eine latent vorhandene Hysterie ausgelöst werden könnte.481 Diese Ansicht teilten viele Psychiater und Nervenärzte, so auch Mendel und Hugo von Ziemssen, die mit Moll und Forel im Streit lagen. Auch Otto Binswanger war der Ansicht, dass die Hypnose „eine künst­lich erzeugte Nervenerkrankung sei“.482 Bernheim dagegen betonte moralische und juristische Aspekte. Die hypnotische Suggestion unterdrücke jeden Widerstand des hypnotisierten Subjekts und habe „gleichsam wie ein Einbrecher in Abwesenheit der Hausbewohner freien Spielraum“.483 Im Gegensatz zu Charcot, der abstritt, dass ein Verbrechen in Hypnose mög­lich sei, bejahte er diese Option. Eine Person könne in Hypnose sexuell missbraucht werden, ohne sich danach daran zu erinnern, oder mittels posthypnotischer Suggestion zu einem Verbrechen angestiftet werden, dass sie bei Bewusstsein nie ausführen würde. Er verg­lich den hypnotisierten Menschen mit einem „Automaten“, der von einem fremden Willen beherrscht werde.484 478 Zum Beispiel Jules Claretie, Jean Mornas (1885), Guy de Maupassant, Le Horla (1887), Carl du Prel, Das Kreuz am Ferner (1890), Paul Lindau, Der Andere (1893). Vgl. Andriopoulos, Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien, S. 143 – 145. 479 Albert von Schrenck-Notzing, Die gericht­lich-medizinische Bedeutung der Suggestion, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 5 (1900), S. 1 – 36, zitiert in: ­Andriopoulos, Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien, S. 134. 480 Bérillon, Premier congrès international (1889), S. 44. Ladame referierte über „La nécessité d’interdire les séances publiques d’hypnotisme“ (ebd., S. 28 – 38). 481 Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 145. Charcot befürchtete, dass die verbreitete Anwendung des Hypnotismus diese kranken Neigungen freisetzen und dadurch die Masse an Nervenkranken stark zunehmen würde (vgl. Harris, Murder under hypnosis, S. 206). 482 Binswanger, Gutachten (1892), S. 4. 483 Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 146. 484 Allerdings hält Bernheim fest, dass der Somnambule auch als „Automat“ seine Individualität bewahre und auf die Suggestionen so reagiere, „wie er sie versteht“ (Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung, 1888, S. 57). Vgl. auch Andriopoulos, Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien, S. 138 f.

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Forels Aussagen zum Thema Willenlosigkeit waren widersprüch­lich, da er sie je nach Zusammenhang zuspitzte oder abschwächte. So behauptete er in Der Hypno­ tismus zum Thema Hypnotisierbarkeit, dass „[i]n wenigen Sekunden […] vorübergehend ein leicht suggestibler Mensch […] zur relativ willenlosen Puppe eines anderen Menschen werden“ könne.485 Als er im Kapitel „Hypnotismus und Psycho­therapie“ Paul Dubois’ Vorwurf konterte, die Hypnotiseure würden Kranke zu willenlosen Maschinen machen, hielt er mit Nachdruck fest: „Kein einziger meiner Kranken und der Kranken meiner hypnotisierenden Kollegen wird zu unserer willenlosen Maschine.“486 Auch im Gutachten, das er für die Gutachtensammlung von Karl Emil Franzos verfasst hatte, relativierte er: „Der Hypnotisierte ist eben kein einfacher Automat, oder er ist es nur zum Teil; sein eigenes Denken kann sich viel mehr wehren, als man meint.“487 Ein ungarischer Gerichtsfall des Jahres 1894 beschäftigte die europäischen Hypnose­ experten und die Öffent­lichkeit.488 Im Zentrum dieses Falles stand die Frage, wo die Grenzen der Macht einer Person über den Geist einer anderen Person waren. Eine junge Frau diagnostizierte in Hypnose die Lungenkrankheit eines Patienten, brach danach zusammen und starb. Vor Gericht wurde geklärt, ob der Hypnotiseur für den Tod von Ella Salamon verantwort­lich war. Zwar wurde er freigesprochen, doch als direkte Konsequenz des Falles wurde der Gebrauch des Hypnotismus in Ungarn stark eingeschränkt. Die Urteile der Hypnoseexperten über diese Vorfälle variierten stark. Bernheim verneinte eine direkte Verbindung zwischen dem Tod Salamons und der Hypnose, Krafft-Ebing machte einen psychischen Schock für ihren plötz­ lichen Tod verantwort­lich, und Forel sah bei dem „äusserst suggestiblen Mädchen“ die Autosugges­tion der „schreckhaften Vorstellung der kranken Lunge“ am Werk.489 Nach 1885 kam es zu einer Flut wissenschaft­licher Publikationen, die sich mit der Mög­lichkeit krimineller Suggestionen befassten.490 Auch die kanonischen Lehr­ bücher Forels, Molls und Leopold Loewenfelds widmeten der Frage der kriminellen 85 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 80. 4 486 Ebd., S. 251. 487 Forel, Gutachten (1892), S. 51. Auch Krafft-Ebing relativierte am gleichen Ort, dass die Hypnotisierten „keineswegs so willenlos und bestimmungsfähig“ seien, wenn es um die Ausführung eines Verbrechens ginge (Krafft-Ebing, Gutachten, 1892, S. 96). 488 Vgl. Lafferton, Death by hypnosis. 489 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 331; Lafferton, Death by hypnosis, S. 68. 490 Andriopoulos, Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien, S. 139 f. U. a. Heinrich Obersteiner, Der Hypnotismus mit Berücksichtigung seiner klinischen und forensischen Bedeutung, Wien 1887; Forel, Der Hypnotismus und seine strafrecht­liche Bedeutung, 1888; Carl du Prel, Das hypnotische Verbrechen und seine Entdeckung, München 1889; Jean Crocq, L’hypnotisme et le crime, Brüssel 1894; Schrenck-Notzing, Die gericht­lich-medizinische Bedeutung der Suggestion, 1900.

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Verwendbarkeit der Hypnose eigene Kapitel.491 Auf der einen Seite wurde befürchtet, dass Hypnotisierte Opfer von verbrecherischen Übergriffen werden könnten. Wie Forel schrieb, standen vor allem sexuelle Verbrechen im Zentrum, wo die hypnotisierte Frau in somnambulem Zustand vom Hypnotiseur sexuell missbraucht wurde und sich im Wachzustand nicht mehr an das Geschehene erinnern konnte.492 Auf der anderen Seite wurde das Gespenst von ferngesteuerten Tätern in Hypnose heraufbeschworen: Dank posthypnotischer Suggestionen würden die Opfer zu Tätern werden und jedes ihnen suggerierte Verbrechen begehen. Als Termineingebungen, sogenannte „suggestions à échéance“, konnten den Hypnotisierten Taten suggeriert werden, die sie erst später ausführen würden. Für Forel war dies strafrecht­lich von „ungeheurer“ Wichtigkeit: „Man kann die Gedanken und Entschlüsse der Hypnotisierten im v­ oraus für eine bestimmte Zeit bestellen, wo der Hypnotiseur nicht mehr zugegen ist.“493 Auch die nach Bernheim „Hallucinations rétroactives“ genannten Erscheinungen verunsicherten die Experten, da hier die juristischen Verfahren im Kern gefährdet schienen. Vor Gericht konnten Zeugenaussagen gefälscht werden, indem vorgängig mittels Suggestion Erinnerungen eingegeben worden waren, die nicht tatsäch­lich Erlebtem entsprachen. Forel nannte diese Art der Suggestionen „suggerierte Erinnerungsfälschung“ und sah in ihnen wie Bernheim eine Gefahr für die strafrecht­lichen Verfahren.494 Die Intensität der wissenschaft­lichen Debatte über die kriminellen Suggestionen war jedoch umso erstaun­licher, so Andriopoulos, „wenn man das Fehlen ‚realer Fälle‘ bedenkt, die durch den Hinweis auf eine sich genauer Kenntnis entziehende Dunkelziffer, auf inszenierte Simulationen ‚hypnotischer Verbrechen‘ sowie auf literarische Fallgeschichten ersetzt werden“.495 491 Forel, Der Hypnotismus (1889), Kapitel „Die strafrecht­liche Bedeutung der Suggestion“, S. 67 – 80; Moll, Der Hypnotismus (1889); Loewenfeld, Der Hypnotismus (1901). 492 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 322. Harris berichtet vom frühen Fall des Zahnarztes Paul Lévy, der 1878 angeb­lich eine Frau unter Hypnose sexuell missbraucht hatte (Harris, Murder under hypnosis, S. 217 – 219; Lafferton, Death by hypnosis, S. 68; vgl. Tourette, Der Hypnotismus, 1889, S. 336 – 343). 493 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 131 f. 494 Ebd., S. 142 – 144. Vgl. Gauld, A history of hypnotism, S. 503. 495 Andriopoulos, Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien, S. 148. Die Hypnoseärzte besprachen jeweils ein bestimmtes Repertoire einer Handvoll Fälle in ihren Publikationen. Vgl. Gauld, A history of hypnotism, S. 498 – 500; Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 334 – 342. So zum Beispiel den Fall Sauter aus dem Jahr 1899, gemäss Schrenck-Notzing der erste Fall, wo ein Angeklagter freigesprochen wurde, der unter suggestivem Einfluss einer andern Person straffällig geworden war (Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 339; Schrenck-Notzing, Der Fall Sauter, 1900). Tourette berichtete von einem Fall, der sich 1880 in La Chaux-de-Fonds zugetragen haben soll. Unter Hypnose sei die Zürcherin Marie F. vergewaltigt worden, was sie nach sechs Monaten Schwangerschaft bei den Behörden anzeigte. Die Klage wurde

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Zur Zeit der hitzigen Diskussionen waren es vor allem zwei Gerichtsfälle, welche die beiden häufig diskutierten Figuren der mög­lichen Täterin unter suggestivem Einfluss und des hypnotisierten Opfers abdeckten. 1890 stand in Paris Gabrielle ­Bompard vor Gericht, die behauptete, ihr Geliebter habe sie unter suggestiven Einfluss gebracht und ihr eingegeben, einen Mann in ihre Wohnung zu locken und zu töten.496 Der Gerichtsprozess gegen Bompard wurde zu einer direkten Auseinandersetzung zwischen den Hypnoseschulen Charcots und Bernheims. Der Jurist Jules Liégeois, ein Schüler Bernheims, war davon überzeugt, dass Bompard unter dem Einfluss ihres Geliebten gestanden hatte. Die Gerichtspsychiater aus Paris, die der Schule Charcots nahestanden, beurteilten Bompards Zustand dagegen als „petite hystérie“ und folgerten, dass sie bei vollem Bewusstsein gehandelt habe. Deren Gutachten überzeugte die Richter, und sie verurteilten Bompard zu einer Gefängnisstrafe von 20 Jahren. Forel äusserte sich ebenfalls zu diesem Fall und ging wie Liégeois davon aus, dass die Angeklagte mög­licherweise unter suggestivem Einfluss gehandelt hatte.497 Auch der Fall Czynski, der sich Mitte der 1890er-Jahre in München zugetragen hatte, erweckte grosses öffent­ liches Aufsehen.498 Angeb­lich hatte Czynski eine wohlhabende Frau unter seinen suggestiven Einfluss gebracht und in einer gestellten Hochzeitszeremonie geheiratet, weiter wurde ihm sexueller Missbrauch der Frau vorgeworfen. Verschiedene Gutachter, darunter Schrenck-Notzing, kamen zum Schluss, das Opfer habe unter suggestivem Einfluss gestanden; auch Forel nahm „gewaltigen suggestiven Einfluss“ an.499 Wie schon beim Fall Bompard ging das Gericht nicht auf die Suggestivwirkung ein und verurteilte Czynski nur wegen des Tatbestands der Scheinehe. Die Hypnoseärzte setzten sich ausführ­lich mit den juristischen Implikationen des Hypnotismus auseinander.500 Die Positionen Charcots und Bernheims unterschieden abgewiesen, da der Tatbestand nicht bewiesen werden konnte (Tourette, Der Hypnotismus, 1889, S. 345 – 350). 496 Harris, Murder under hypnosis, S. 197 f. 497 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 327. Er nahm insofern den Standpunkt des Gerichtes ein, indem er Bompard als „zweifellos ethisch defektes, hysterisches Subjekt“ einschätzte. Weiter verurteilte er jedoch die „Absurdität der gericht­lichen Logik“, die aus dieser Diagnose keine Unzurechnungsfähigkeit folgerte. 498 Vgl. Peter/Revenstorf, Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin, S. 139 f.; Grossmann, Der Prozess Czynski (1895); Schrenck-Notzing, Zum Fall Czynski (1895); Grossmann, Zum Fall Czynski (1895). 499 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 329 f. 500 Vor allem Schrenck-Notzing beschäftigte sich mit der strafrecht­lichen Bedeutung des Hypno­ tismus und veröffent­lichte die bekannten Fälle in seinem 1900 erschienenen Aufsatz Die gericht­lich-medizinische Bedeutung der Suggestion. Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 334 f. und S. 341. In der Zeitschrift für Hypnotismus erschienen einige Buchbesprechungen und Artikel zum Thema, z. B. Liégeois, Der Fall Chambige (1893); Delboeuf, Die verbrecherischen

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sich markant. So waren die Anhänger Bernheims überzeugt, dass Verbrechen in Hypnose mög­lich wären, was andere Hypnoseärzte, die der Ausrichtung Charcots nahestanden, verneinten. Liégeois war überzeugt, dass jeder kriminelle Akt, sogar Mord, jemandem suggeriert werden könnte.501 Dagegen bestritten Charcot, sein Assistent Gilles de la Tourette und auch Joseph Delboeuf, der in anderen Fragen den Nancyer Positionen nahestand, die Mög­lichkeit krimineller Suggestionen.502 In der Gutachtensammlung von Franzos gingen die Ansichten zur Mög­lichkeit krimineller Suggestionen auseinander. Otto Binswanger und Friedrich Jolly sprachen sich dagegen aus, Forel und Eulenburg vertraten die Meinung, dass hypnotische Verbrechen mög­lich seien. Übereinstimmung herrschte, dass die Bedeutung krimineller Suggestionen „masslos überschätzt“ würde.503 In seinem Lehrbuch vertrat Forel eine gemässigte Position. Er schwächte Liégeois’ Position ab und warf seinem Kollegen Delboeuf vor, den Ernst der Lage zu verkennen.504 Nach seiner Ansicht trüge der Hypnotisierte den grössten Schutz vor Missbrauch in sich selber. Manchmal erwache er unverhofft, und die Amnesie sei nicht vollständig: „Alle Eindrücke, die sein Gehirn während der Hypnose erhielt, sind eben darin geblieben. Nur ein hemmender Bann verhindert, dass sie bewusst werden; und dieser Bann kann leicht gehoben werden.“505 Zur wissenschaft­lichen Untermauerung ihrer Thesen stellten die Hypnoseärzte Versuche mit hypnotisierten Personen an und suggerierten ihnen, ein Verbrechen zu begehen. Auch Forel bemühte sich, experimentelles Wissen zu generieren, wie die juristische Bedeutung des Hypnotismus zu bewerten sei. In seinen Vorträgen und Vorlesungen gehörten Kriminalsuggestionen zum gängigen Repertoire. So hypnotisierte er vor dem Zürcher Juristenverein einen 70-jährigen Mann und suggerierte ihm: „Gerade vor uns steht da ein böser Kerl, ein schlechter Halunke; den wollen wir umbringen; da haben Sie ein Messer (ich gebe ihm ein Stückchen Kreide in die Hand); er steht gerade vor Ihnen, stechen Sie ihn in den Bauch!“506 Der Mann stach in die Luft und war nach dem Aufwachen immer noch sehr aufgeregt. Probandinnen wurde oft suggeriert, sich auszuziehen, um die Mög­lichkeit von sexuellem Missbrauch

Sugges­tionen (1894); Schrenck-Notzing, Das angeb­liche Sitt­lichkeitsvergehen des Dr. K. (1899). 5 01 Harris, Murder under hypnosis, S. 210. Vgl. zu Liégeois Gauld, A history of hypnotism, S. 497. 502 Andriopoulos, Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien, S. 146; Gauld, A history of hypnotism, S. 500 f. 503 Franzos, Vorwort des Herausgebers (1892), S. XXVIII. Vgl. zu Franzos’ Sammlung ­Andriopoulos, Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien, S. 148 f. 504 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 319. 505 Bei einigen Somnambulen sei dieser Schutz nicht mehr vorhanden (ebd., S. 321). 506 Ebd., S. 324.

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auszuloten.507 Auch Forel nahm dieses Experiment vor. In Anwesenheit eines Juristen hypnotisierte er eine junge Frau: „In der Hypnose gab ich ihr nun die Suggestion, sich vollständig bis über den Nabel vor diesem fremden Herrn und in meiner Gegenwart zu entblössen, was sie auch sofort, ohne Zögern, ohne die Spur eines Affektes zu zeigen, tat. Ich war selbst darüber verblüfft.“508 Auch Bernheim, Schrenck-Notzing und andere inszenierten ähn­liche Experimente, um dem Publikum die Tragweite krimineller Suggestionen vorzuführen. Forel war sich des heiklen Terrains bewusst und erklärte, er habe diesen Versuch „nur mit grossem Widerwillen und der Sache zulieb gemacht, denn derartige Experimente grenzen an das Unerlaubte“.509 Die Experimente waren jedoch unter Fachkollegen umstritten. So hielt etwa Otto Binswanger fest, dass die Hypnotisierten mit einem Papiermesser den Widersacher zwar niederstechen würden, allerdings im vollen Verständnis, eine „erfundene Strafhandlung“ zu begehen.510 Tourette bezeichnete die Experimente als „Laborato­ riumsexperimente“ ohne wissenschaft­lichen Wert,511 und Delboeuf nannte die Versuche „arrangierte Dramen“.512 Auch Freud meldete starke Vorbehalte an und bemerkte in seiner Rezension von Forels Hypnotismus: „Es ist frei­lich nicht schwer, im Laboratorium Scheinverbrechen von guten Somnambulen begehen zu lassen; wie weit aber deren Bewusstsein, dass es sich nur um ein Experiment handelt, die Ausführung des Verbrechens erleichterte, muss man nach der scharfsinnigen Kritik, die Delboeuf an den Versuchen Liégeois’ geübt hat, dahingestellt sein lassen.“513 Forel hinderten diese grundsätz­lichen Schwierigkeiten der Experimentalsituation nicht, Schlüsse betreffend der strafrecht­lichen Bedeutung des Hypnotismus zu ziehen. Er folgerte, dass die strafrecht­liche Gefahr des Hypnotismus „ungeheuer reduziert“ sei, da der Hypnotisierte unlautere Absichten des Hypnotiseurs wittere und dadurch seine Suggestibilität verliere.514 Ruth Harris argumentiert, dass das Gerichtsverfahren um Bompard über die Frage nach ihrer individuellen Schuld hinausging und Ängste offenlegte, die sich um Moral, Degeneration und Sozialhygiene drehten. Diese vielschichtigen Ängste wurden nach Ansicht Harris’ verbunden durch die Befürchtung, dass „rational, moral, and social processes were to be potentially bypassed through

507 Gemäss Gauld waren diese Experimente Bestandteil des Salpêtrière-Repertoires und wurden von den Anhängern Bernheims weiterentwickelt (Gauld, A history of hypnotism, S. 499). 508 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 325 f. 509 Ebd., S. 325 f. Vgl. auch Wettley, August Forel, S. 70 f. 510 Binswanger, Gutachten (1892), S. 10. 511 Andriopoulos, Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien, S. 150 f. 512 Delboeuf, Die verbrecherischen Suggestionen (1894), S. 192. 513 Freud, Rezension (1889), S. 138 f. 514 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 328.

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the ease with which hypnotism could open the Pandora’s Box of the unconscious and its drives“.515 Der Hypnotismus schien das bürger­liche Individuum und die Gesellschaft im Kern zu gefährden – er hatte geradezu das rationale Selbst im Visier. Von den einen wurde er als krankmachend verschrien und als Ursache von Hysterie und Nervenkrankheit verurteilt. Die andern sahen den selbst bestimmten freien Willen gefährdet. Ob Opfer oder Täter unter Suggestionswirkung, das Individuum war nicht mehr „Herr“ über sich selbst, die eigenen Taten und Gedanken. Neben dem Individuum gefährdete der Hypnotismus auch die Keimzelle der Gesellschaft, die bürger­liche Familie. So zeigte der Fall Czynski, dass jeder geübte Mann die Tugendhaftigkeit einer Frau bedrohen konnte. Auch die Theorien zur Massenpsychologie, die gleichzeitig formuliert wurden, standen mit dem Hypnotismus in Zusammenhang.516 Die Masse sei suggestibel, die Anführer wirkten „wie magnetisch“.517 Das Bestreben der Hypnoseärzte, das Treiben der populären Bühnenhypnotiseure zu verbieten, muss in diesem Kontext gelesen werden. Hypnose war effizient und potenziell gefähr­lich und musste deshalb in berufene Hände gelegt werden. Die Diskussionen um die Manipulierbarkeit von hypnotisierten Personen halfen nicht, den Hypnotismus therapeutisch zu etablieren, sondern waren vielmehr einer der Faktoren, die zum Niedergang des therapeutischen Hypnotismus beitrugen.

5.2 Entwicklungen der Psychotherapie Trotz vielversprechender Neuerungen wie beispielsweise der hypnotischen Katharsis von Janet, Breuer und Freud oder der partiellen Hypnose Vogts lehnte die breitere Ärzteschaft den Hypnotismus weiterhin ab.518 Die Diskussionen am Treffen der Inter­ nationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie in München

515 Harris, Murder under hypnosis, S. 231. 516 1895 erschien La Psychologie des foules von Gustave Le Bon, der als Begründer der Massenpsycho­ logie gilt. Le Bon wies auf die Analogie des kollektiven und des hypnotischen Zustandes hin. Vgl. Moscovici, Das Zeitalter der Massen, S. 109 – 121; Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 242. 517 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 320. Forel schätzt Napoleon I. als „grossen Hypnotiseur von Natur“, und auch Jeanne d’Arc habe „intensiv suggestiv“ beeinflusst (ebd., S. 217 f. und S. 342). 518 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 254. Vgl. Vogt, Zur Kenntniss des Wesens und der psychologischen Bedeutung des Hypnotismus (1895/1896). Zu Vogts Methode Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 205 – 213.

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Abb 11 August Forels Notizen zur Gründung des Vereins für wissenschaft­liche Psychotherapie (MHIZ PN 31.1:312 (4)). Die Inter­ nationale Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie wurde im September 1909 in Salzburg gegründet.

im Jahr 1911 können dazu dienen, den Puls der Hypnosebewegung zu nehmen.519 Forel hatte im Jahr 1909 die Gründung der Gesellschaft angeregt, um die Kräfte zu bündeln, die sich für die Förderung der Psychologie und der Psychotherapie im Lehrbereich der medizinischen Fakultäten einsetzten.520 Wie das Spektrum der Mitglieder zeigt, stand die Gesellschaft bereits im Kontext einer breiteren psychotherapeutischen Entwicklung. Neben Karl B ­ rodmann und Oskar und Cécile Vogt fungierten auch Bernheim, Janet und die jungen Psychoanalytiker Hans von Hattingberg und Leonhard Seif auf der Liste der

519 Gauld nimmt die Diskussionen des Treffens als Anlass, eine Abschlussszene der Hypnotismusbewegung zu beschreiben (vgl. Gauld, A history of hypnotism, S. 567 – 573). 520 Internationaler Verein für medizinische Psychologie und Psychotherapie (1909), S. 144 (inkl. Statuten). Die Gesellschaft wurde am 22. September 1909 in Salzburg gegründet. Den Vorsitz teilten sich bis 1913 Bernheim und Vogt, 1913 übernahm Bleuler die Leitung. Von 1910 bis 1913 wurden jähr­lich Kongresse durchgeführt (Brüssel 1910, München 1911, Zürich 1912, Wien 1913). Vgl. Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 95 – 97; Forel, Zum heutigen Stand der Psychotherapie (1908).

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Gründungsmitglieder.521 Schon nach kurzer Zeit bestimmten jedoch die Unstimmigkeiten zwischen der älteren Generation und den jungen Psychoanalytikern die Diskussionen.522 An der ­Jahresversammlung in München im Jahr 1911 war der Puls der Hypnosebewegung zwar noch spürbar, doch die Bewegung war stark unter Druck der Befürworter der Psychoanalyse aus dem deutschsprachigen Raum und der Befürworter der Wachsuggestion aus Frankreich geraten.523 Die Mitglieder stritten sich in München über verschiedene Aspekte der Hypnose: ob Schlaf- oder Wachzustand geeigneter sei für die Suggestion, über Simulation, über die Wirksamkeit der Hypnose an sich. Dass die Meinungen nicht in Übereinstimmung gebracht werden konnten, zeigte der Schlagabtausch zwischen den Freudianern und der alten Garde. Ernest Jones erklärte beispielsweise, „dass die Hypnose schäd­lich sein kann und zwar deswegen, weil sie zwar die Krankheitssymptome heilt, aber an Stelle derselben die psychisch-sexuelle Abhängigkeit des Hypnotisierten von dem Hypno­tiseur treten lässt […] Da nun eine bessere Methode existiere, die Psychoanalyse, ist die Hypnose nicht mehr anzuwenden.“524 Für das folgende Jahr wurde das Treffen der Gesellschaft in Zürich vorbereitet. Wie ein Brief Forels an Ludwig Frank im Vorfeld der Tagung von 1912 zeigt, beschäftigte ihn die Auseinandersetzung mit den Psychoanalytikern: „Wenn nun gerade diese beiden Herren Seif und Johns uns überhaupt mit ihren sex. ‚Expectorationen‘ verschonen würden, so dürfte dies eher ein Gewinn für unsere Sache sein.“ Vorträge von Bleuler und Maier über die Freud’schen Theorien sollten die Diskussion in vorhersehbare Bahnen lenken und ein klug gewählter Vorsitz die Diskussionen leiten. Weder Bernheim – „dem nicht gewachsen“ – noch Vogt – „zu affectbeladen“ – schienen Forel dafür geeignet zu sein.525 Der Zwist konnte nicht beigelegt werden, wie die Diskussionsprotokolle der Tagung von 1912 zeigen; unweiger­lich kam die Aufspaltung der Gesellschaft in den Jahren des Ersten Weltkrieges.526

521 Vgl. die Liste der Gründungsmitglieder der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psycho­ logie und Psychotherapie im Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich (MHIZ PN 31.1:304). Vgl. zur Beteiligung der Psychoanalytiker auch Tanner, Sigmund Freud, S. 93. Freud und Jung berieten sich in mehreren Briefen, ob sie sich an der Gesellschaft beteiligen sollten. Auf Anraten Seifs entschlossen sie sich zu einem Beitritt. Vgl. McGuire und Sauerländer (Hg.), Sigmund Freud C. G. Jung Briefwechsel, S. 274, S. 277 f., S. 283, S. 285 und S. 289. 522 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1078 f. 523 Gauld, A history of hypnotism, S. 572. 524 Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie (1912), S. 293. 525 Brief von August Forel an Ludwig Frank vom 18. März 1912 (MHIZ PN 35.2:98). 526 Vgl. Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psycho­ therapie (1913), S. 89 – 228.

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Der therapeutische Hypnotismus geriet jedoch nicht nur von Gegnern oder „abgefallenen Jüngern“ unter Druck, auch zentrale Exponenten der Bewegung trugen zur „Verwässerung“ bei.527 So verzichtete Bernheim selber je länger, je mehr auf Hypnose und verfocht die Ansicht, dass die gleichen Wirkungen durch Suggestion im Wachzustand erreichbar seien. Forel bedauerte diese Entwicklung an der Zusammenkunft der Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie in München: „Il est très regrettable que celui qui a autrefois si admirablement défini et éclairé la notion de suggestion en arrive à peu près à la renier.“528 Zunehmend wurde auf den Begriff der Suggestion verzichtet und stattdessen der neuere Ausdruck „Psychotherapie“ gebraucht.529 Der holländische Hypnosearzt ­Frederik van Eeden erweiterte bereits 1892 in der ersten Nummer der Zeitschrift für Hypnotismus den Begriff Suggestion als „jeden Impuls, der von der Psyche eines Menschen auf die eines andern ausgeht“. Psychotherapie nannte er „jedes Heilverfahren, welches sich psychischer Agentien bedient, um eine Krankheit vermittels Einwirkung auf die psychischen Functionen zu heilen“.530 Forel nahm den Begriff der Psycho­ therapie in der vierten Auflage von Der Hypnotismus auf und fügte ein neues Kapitel „Hypnotismus und Psychotherapie“ hinzu. Seine Definition der Psychotherapie zeigt eine enge Anbindung an die Neurobiologie.531 Eeden betonte, dass die Hypnotismusbehandlung nur bei Patienten aus der Unterschicht wirke: „Die gebildeten Klassen widerstreben der Psychotherapie, weil sie in ihr immer ein permanentes oder wenigstens gelegent­liches Attentat auf ihren freien Willen sehen.“ Bei gebildeten Patienten müsse deshalb auf die Autorität bei den Suggestionen verzichtet werden.532 Als wichtiger Behandlungszweig, der zur grossen Bewegung wurde, ist hier die Psychoanalyse zu nennen. Zuerst noch hypnotische Zustände mit dem kathartischen Verfahren verbindend, wandte sich Freud später vom Hypnotismus ab und entwickelte sein eigenes Theorien- und Methodengebäude.533 Einige der Hypnoseärzte setzten sich mit den psychoanalytischen Behandlungsmethoden auseinander, so zum Beispiel 527 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1026. 528 Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie (1912), S. 276. 529 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1026. Frederik van Eeden betont, bereits 1889 den Begriff „Psychotherapie“ eingeführt zu haben, erwähnt jedoch, dass die „Priorität der Nomenklatur“ Hack Tuke gebühre (Eeden, Die Grundzüge der Psychotherapie, 1893, S. 53). 530 Eeden, Die Grundzüge der Psychotherapie (1893), S. 56; vgl. ders. Die Grundzüge der Sugges­ tionstherapie, (1893). 531 Forel, Zum heutigen Stand der Psychotherapie (1908), S. 266. 532 Eeden, Die Grundzüge der Psychotherapie (1893), S. 63 – 65. Er verwendete absicht­lich nicht den Begriff Hypnotismus, sondern benutzte den Begriff (suggestive) Psychotherapie (ebd., S. 53 f.). 533 Vgl. zum Verhältnis der frühen Psychoanalyse und der Hypnoseforschung Mayer, Mikroskopie der Psyche.

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Frank, der eine abgeänderte Version der kathartischen Methode Freuds und Breuers anwandte.534 Auch Forel äusserte sich nicht immer so polemisch zur Psychoanalyse, wie ein erster Blick auf seine Texte vermuten lässt, und versuchte, gewisse Elemente davon in seine eigene Arbeit zu integrieren.535 Bei der Nennung psychologischer ­Forschungsmethoden zählte er 1907 die Psychoanalyse selbstverständ­lich dazu: „In neuerer Zeit hat sich noch die Psychoanalyse im Sinne Freuds, Jungs, Bezzolas und Franks hinzugesellt und sich ihrer ersten (Freudschen) Schlacken entledigt.“536 In der sechsten Auflage von Der Hypnotismus von 1911 nahm er auf Anregung Franks ein Kapitel zur Psychoanalyse auf und ging auf Freuds Theorien ein.537 Ein Exemplar dieser Auflage sandte er an Freud, der über die Lektüre jedoch nicht erbaut war, wie sein Kommentar an seinen Schüler Sándor Ferenczi zeigt: „[W]as aber drin über Psychoanalyse steht, ist in bedauer­licher Weise schwachsinnig und vertritt die ganz und gar nicht schwachsinnigen Tendenzen von Frank und O. Vogt, deren grosse – mir unbekannte – Verdienste, es sind schwäch­liche Nachzügler, weiter nichts, er nicht genug zu rühmen weiss. Seine Argumente z. b. gegen die Sexualität sind wirk­lich betrübend für einen Mann, der ein dickes Buch über die sexuelle Frage geschrieben hat. Es hat mich ausnahmsweise einmal verstimmt.“538 Als sich die Mitglieder der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie 1911 über die Wirksamkeit von Hypnotismus und Psychoanalyse stritten, griff Forel vermittelnd ein und hob hervor, dass er in einigen Fällen hypnotisch und psychoanalytisch behandelte: „Ich bin der Ansicht, dass diese beiden Methoden einander vorzüg­lich ergänzen […] Es fällt mir nicht ein, gegen die Psychoanalyse zu sprechen; ich habe

534 Frank, Zur Psychoanalyse (1908); ders., Die Psychanalyse (1910); ders., Affektstörungen (1913); ders., Die psychokathartische Behandlung nervöser Störungen (1927). Vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1080; Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 221 – 224. 535 Forel und Freud scheinen auch korrespondiert zu haben (vgl. Freud, Rezension, 1889, S. 123 und S. 126). Leider finden sich weder in den Nachlässen Forels (MHIZ) noch Freuds Korrespondenzen (Freud Collection, Library of Congress Washington DC). Auch am Ersten Inter­ nationalen Kongress für Hypnotismus 1889 in Paris waren sich die beiden begegnet, und Freud fungierte bei den drei ersten Nummern der Zeitschrift für Hypnotismus als Mitherausgeber. Die beiden trafen sich 1894 nochmals an der Naturforscherversammlung in Wien, wo Forel das Referat Gehirn und Seele hielt und Freud als Schriftführer der neurologischen Sektion fungierte. Vgl. zum Kontakt von Freud und Forel Tanner, Sigmund Freud, S. 77 – 94. 536 Forel, Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 13 (Hervorhebung im Original). 537 Vgl. den Brief von Ludwig Frank an August Forel vom 25. Januar 1911 (MHIZ PN 35.2:101.2, S. 1 f.); Forel, Der Hypnotismus (1911), S. 189 – 205. Forel ging auch auf die Arbeiten von C. G. Jung und Alfred Adler ein. 538 Brabant, Falzeder und Giampieri-Deutsch (Hg.), Sigmund Freud Sándor Ferenczi Briefwechsel, S. 384.

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einen grossen Respekt vor ihr und betrachte sie als eine grosse Bereicherung unseres therapeutischen Schatzes.“539 Etwas pointierter im Hinblick auf die „Freud’schen Schlacken“ äusserte er sich in seiner Autobiografie: „So sehr ich mit Frank und andern das Wahre an der kathar­ tischen Methode Breuers anerkannte, so scharf musste ich die Uebertreibung Freuds über Säuglingssexualität, Traumdeutung usw. abweisen.“540 An der Seite von Dumeng Bezzola stritt sich Forel 1907 mit Bleuler und Jung über den Freud’schen Sexualbegriff und echauffierte sich gegenüber Frank, der vermittelnd eingreifen wollte: „Mit dieser Kombination von Grössenwahn, Eigendünkel und Schweinerei genannt Freud, Jung und Cie, will ich nichts zu tun haben.“541 Er kam in seinem Lehrbuch-Kapitel zur Psychoanalyse zum Schluss, dass in Freuds Schriften „interessante Ideen und vielfach richtige Keime vorliegen“.542 Er wies jedoch wiederholt darauf hin, dass die „Wurzel“ der Psychoanalyse in der Suggestionslehre von Liébeault liege, kritisierte Freud, dass er die Arbeiten seiner Vorgänger ignoriere, und wandte sich entschieden von der sexuellen Ätiologie der Neurosen und Freuds Vorstellungen zur infantilen Sexualität ab.543 Neben der Hypnosetherapie und der Psychoanalyse entwickelten sich andere psychotherapeutische Methoden; eine frühe Form war das automatische Schreiben, das Pierre Janet anwendete, und es wurden auf der Basis der Suggestionsmethode neue Ansätze entwickelt, so zum Beispiel von Emile Coué, dessen Methode der Autosuggestion sich gemäss Moll „epidemisch“ ausbreitete.544 Andere Ärzte entwickelten ein neues psychotherapeutisches Konzept, das den Fokus auf eine „pädagogisch rationale Grundnote“ legte.545 Eine wichtige Figur dieser rationalen Psychotherapie

539 Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie (1912), S. 292 f. 540 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 24. Auch Moll äusserte sich kritisch über die Freud’sche Psychoanalyse (vgl. Moll, Ein Leben als Arzt der Seele, 1936, S. 54 f.). 541 Brief an Ludwig Frank vom 15. November 1907, in: Müller, August Forel und Dumeng Bezzola, S. 64. Frank bedauerte, dass sich Forel zu einer Polemik gegenüber Bleuler und Jung verleiten lassen habe (Walser, August Forel, S. 393). Bezzola, unter Frank von 1901 bis 1908 Leiter der Trinkerheilstätte Schloss Hard, stand in engem fach­lichen Austausch mit Forel. Forel schickte Bezzola wiederholt Patienten zur Alkoholentwöhnung und zur psychoanalytischen Behandlung. Beim bevorstehenden Abgang Bezzolas von Schloss Hard befürchtete Forel, „jemand von der Jung-Freud-Klicke von Burghölzli“ könne ihn ersetzen, „dann wäre es aus mit meiner Verbindung mit Schloss Hard“ (Müller, August Forel und Dumeng Bezzola, S. 64). 542 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 234. 543 Ebd., S. 221 und 225 f. Forel wollte genau wissen, wem das Verdienst bei der kathartischen Methode zukam, und fragte bei Breuer nach (vgl. Breuers Antwort in: Walser, August Forel, S. 395 – 397). 544 Vgl. Moll, Ein Leben als Arzt der Seele (1936), S. 50 f. 545 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 62.

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war der Berner Arzt Paul Dubois. 1888 noch zu Besuch bei Bernheim, wendete er danach dessen Behandlungstechniken einige Zeit an, wurde jedoch später zu einem der heftigsten Kritiker des Hypnotismus.546 Seine Methode der Persuasion, die er im Werk Les psychonévroses et leur traitement moral von 1904 darlegte, war eine der bekanntesten Aufklärungs- oder Überzeugungstherapien. 547 In seiner Thera­ pie sollte der Wille des Patienten gestärkt werden, um das Ziel der Gesundung zu erreichen und unerwünschte Verhaltensweisen zu vermeiden sowie Affekte unter Kontrolle zu halten. Gewünschter Endeffekt von Dubois’ Programm war die permanente Selbsterziehung.548 Auf seine Publikationen reagierten die Hypnoseärzte heftig. Sowohl Bernheim wie auch Forel griffen Dubois vehement an und warfen ihm vor, den suggestiven Faktor seiner Behandlung zu verkennen: „Herr Dubois beschimpft den Hypnotismus, bzw. die Suggestion, während er tatsäch­lich von A bis Z nichts anderes als Suggestion unter etwas anderer Form und, vor allem, unter einem anderen Namen: ‚Persuasion‘ betreibt!“549 Dubois gelang es trotz erfolgreicher Praxis und ausgedehnter Publikationstätigkeit nicht, eine eigene psychotherapeutische Schule zu begründen.

5.3 Hypnosetherapie in den Lazaretten des Ersten Weltkrieges Trotz aller Schwierigkeiten erlebte der Hypnotismus während des Ersten Weltkriegs eine Renaissance. Gemäss dem deutschen Kriegssanitärbericht von 1914 bis 1918 wurden 613.047 Kriegsteilnehmer wegen Krankheiten des Nervengebietes in Lazaretten behandelt.550 Die sogenannten Kriegszitterer, Kriegs- oder Schreckneurotiker litten an „Lähmungen, dauerndem Erbrechen, Taubheit, zeitweiliger Stummheit, Blindheit,

546 Gauld, A history of hypnotism, S. 566. Dazu auch Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 250 – 255. Vgl. zu Dubois Müller, Paul Dubois und die Entwicklung der Psychotherapie; ders., „Sie müssen an Ihre Heilung glauben!“; Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 72 – 75. 547 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 72. Dubois selber sprach nicht von Persuasions­ methode, sondern von „rationeller Psychotherapie“ (Müller, „Sie müssen an Ihre Heilung glauben!“, S. 59). Weitere Hauptwerke von Dubois sind De l’influence de l’esprit sur le corps (1901), L’éducation de soi-même (1908) und Raison et sentiments (1910). 548 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 74 f. 549 Forel reagierte geradezu allergisch auf Dubois’ Ausführungen und dessen Kritik am Hypnotismus (vgl. Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 250 – 254, hier S. 252). Siehe auch Bernheim, Psychothérapie, suggestion et persuasion (1905). 550 Wolf-Braun, „Was jeder Schäferknecht macht“, S. 147.

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Delirien und Zittern“.551 Zunehmend wurden die Erkrankungen der Kriegsneurotiker als „wunschbedingte, hysterische Symptombildung ohne körper­liche Grundlage“ gedeutet, und „die therapeutische Antwort darauf war die Anwendung einer Zwangstherapie“.552 Die Psychiater wurden für den Dienst in den Nervenlazaretten und den Spezialabteilungen für Kriegsneurotiker der Universitätsnervenkliniken eingezogen. Karl Heinz Roth nennt die Behandlung der vielen Kriegsneurotiker in den Lazaretten den Beginn der „Ära der modernen psychiatrischen Folter“.553 So wurden u. a. die Isolationshaft – das „Dauerlangweilen“ Otto Binswangers – oder die „Sinustherapie“ von Fritz Kaufmann praktiziert, um die Soldaten wieder „frontverwendungsfähig“ zu machen.554 Bei der Kaufmann-Kur wurden die Patienten mittels elektrischer Ströme „in etwas drastischer Weise“ stimuliert, wie Ellenberger festhält.555 Im Lauf des Krieges wurden diesen „aktiven Heilverfahren“ zunehmend psychotherapeutisch ausgerichtete Behandlungsmethoden zur Seite gestellt. Max Nonne, Leiter der Neurologischen Klinik in Hamburg Eppendorf, ehemals assoziiert mit der Zeitschrift für Hypnotismus, verfasste im Handbuch der ärzt­lichen Erfahrun­ gen im Weltkriege 1914/1918 den Artikel über „Therapeutische Erfahrungen an den Kriegsneurosen“.556 Darin hob er neben der Kaufmann’schen Methode die therapeutischen Erfolge hervor, die mit Hypnotismus erzielt worden waren. Er betonte, dass die „an Befehlsautomatie gewöhnten Soldaten in 80 – 90% der Fälle“

551 Kaufmann, „Widerstandsfähige Gehirne“, S. 206 f. 552 Ebd., S. 214 f. Gleichzeitig wurden die Kriegsneurotiker im psychiatrischen Diskurs als „minderwertiges Menschenmaterial“ stigmatisiert (ebd., S. 218 – 220). 553 Roth, Die Modernisierung der Folter, S. 15. 554 Ebd., S. 16. Diese „Auswüchse der ‚aversiven Neurotikertherapie‘ “ wurzelten, so Schröder, in einer innerfach­lichen Tradition, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts elektrische Ströme zur Wiederbelebung von Körpergliedern eingesetzt hatte (Schröder, Der Fachstreit um das Seelen­ heil, S. 77). 555 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1109. Tatsäch­lich gab es auch Todesfälle durch die Kaufmann-Kur (Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 172; Roth, Die Modernisierung der Folter, S. 16). Die Militärärzte, die während des Kriegs Elektrotherapie angewendet hatten, wurden später heftig angegriffen. In Österreich wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, die frühere Militär-Psychiater befragte, darunter auch Julius Wagner-Jauregg. Freud verfasste ein Gutachten über die Behandlungen. Vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 1125 – 1128. 556 Nonne war nicht Mitherausgeber der Zeitschrift für Hypnotismus, wurde aber in den ersten drei Ausgaben „unter Mitwirkung von“ genannt. Er publizierte keine Artikel in der Zeitschrift, mehrere seiner Arbeiten wurden aber darin besprochen (vgl. Zeitschrift für Hypno­tismus 7, 1898, S. 186, 348 und 353). Ebenfalls stand er von 1889 bis 1891 in Briefkontakt mit Forel (MHIZ PN 31.2:3051 – 3056). Er scheint auf Empfehlung Forels bei Bernheim vorgesprochen zu haben (vgl. Nonnes Brief an Forel vom 13. Februar 1889, in: Walser, August Forel, S. 218).

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Karriere und Krise des therapeutischen Hypnotismus

hypnotisierbar seien.557 Nach der hypnotischen Behandlung in den Speziallazaretten kamen die Soldaten zur vier- bis sechswöchigen Nachbehandlung, die aus Exerzieren und Arbeitsdienst bestand, bis sie wieder in den Militärdienst zurückgeschickt wurden. Nonne präsentierte überragende Heilungsquoten. So habe er 80% der Kriegsneurosen geheilt und 15% gebessert, nur 5% der Fälle seien unverändert geblieben.558 Auf die „absolute Überlegenheit des Arztes“ legte Nonne grosses Gewicht. In seiner eigenen Behandlungspraxis verlieh er diesem Punkt wie folgt Nachdruck: „Ich habe die Kranken sich stets ganz nackt ausziehen lassen, denn ich finde, dass dadurch das Gefühl der Abhängigkeit bzw. der Hilflosigkeit erhöht wird.“559 Die Erniedrigung der Soldaten war jedoch noch nicht ausgeschöpft, und einige Militärärzte ergänzten die hypnotische Therapie mit repressiven Massnahmen wie zum Beispiel Zwangsexerzieren bei Gehstörungen.560 Die meisten Militärärzte scheinen Nonnes hohe Heilungsquoten nicht erreicht zu haben. Roth hält fest, dass die gängige Hypnose- und Suggestionsbehandlung bei den Kriegsneurotikern meist gescheitert war und deshalb modifizierte Hypnosetechniken angewandt wurden.561 Um den Kriegsneurosen Herr zu werden, wurden in Speziallazaretten für Kriegsneurotiker Psychoanalytiker in leitender Funktion angestellt.562 Ernst Simmel war psychoanalytischer Autodidakt, der erst im Krieg mit der Praktizierung der Methode begann.563 Zur Behandlung der Kriegsneurotiker wandte er als Mischform von Hypnotismus und Psychoanalyse die analytisch-kathartische Methode an. In Hypnose versetzt, durchlebte der Patient die Kampfsituation erneut. So fragte Simmel den hypnotisierten Soldaten, der nach dem Fronteinsatz an einer Schüttellähmung des Armes litt: „Zum Teufel, so können Sie doch gar nicht kämpfen! Ihr rechter Arm schüttelt ja immerzu. Warum denn?“564 Mit einer anderen Reaktion sollte der Patient das Erlebte integrieren, um wieder für den erneuten Fronteinsatz bereit zu werden. Simmel ergänzte diese Therapie mit „wachanalytischer Aussprache und Traumdeutung“.565 Wie er anläss­lich des Internationalen Psycho­ 5 57 Nonne, Therapeutische Erfahrungen an den Kriegsneurosen (1922/1934), S. 109. 558 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 214 f. 559 Nonne, Therapeutische Erfahrungen an den Kriegsneurosen (1922/1934), S. 109 f. 560 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 169 f. 561 Roth, Die Modernisierung der Folter, S. 28. 562 Karl Abraham war Leiter der psychiatrischen Station beim Armeekorps in Allenstein, Sándor Ferenczi Chefarzt der Nervenabteilung im Maria-Valerie-Barackenspital in Budapest und Ernst Simmel Oberarzt und Leiter des Lazaretts für Kriegsneurotiker in Posen (Roth, Die Moderni­ sierung der Folter, S. 17). 563 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 174 f. 564 Ernst Simmel, Zweites Korreferat, in: Sándor Ferenczi et al. (Hg.), Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen, Leipzig/Wien 1919, S. 29 f., zitiert in: Roth, Die Modernisierung der Folter, S. 21 f. 565 Roth, Die Modernisierung der Folter, S. 28.

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analytischen Kongresses im September 1918 in Budapest referierte, konnte er durch diese Methodik „durchschnitt­lich in zwei bis drei Sitzungen eine Befreiung von den kriegsneurotischen Symptomen“ erreichen.566 Auch Freud nahm im Einleitungsreferat am Budapester Kongress den Hypnotismus zur Behandlung der Kriegsneurotiker wieder auf, allerdings der „strengen, tendenzlosen Psychoanalyse“ klar untergeordnet: „Wir werden auch sehr wahrschein­lich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reich­lich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, und auch die hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegsneurotiker wieder eine Stelle finden.“567 Wie Hagner festhält, standen die somatisch geeichten Neuropsychiater angesichts der Heilungen der Kriegsneurotiker mittels Hypnose „blamiert und ratlos“ da. Umso lautstarker sei dagegen die sozialpathologische Klassifizierung der Kriegsneurotiker ausgefallen, auch durch Nonne.568 Die Rehabilitierung des Hypnotismus während des Ersten Weltkriegs nahmen Moll und Forel mit Genugtuung zur Kenntnis. Wie Moll retrospektiv über diese Zeit festhielt: „Überall wurde hypnotisiert; wo man nur konnte, suchte man die Nervenärzte dafür zu interessieren.“569 Forel stellte mit einer gewissen Schadenfreude fest, dass die Kriegsneurosen mit Hypnose therapiert wurden und ehemalige Gegner des Hypnotismus wie der Internist Adolf von Strümpell sich vom „Saulus zum Paulus“ wandelten.570 Nonne ging so weit, den Ersten Weltkrieg sogar als Hypnoseexperiment „grössten Stils“ zu deuten: „Der Krieg hat in Form eines Experimentes grössten Stiles gezeigt, dass die Hypnose in der Hand des Erfahrenen ein sehr brauchbares, durchaus ungefähr­liches, überaus wirksames Mittel ist, um funktionelle, motorische und sensible Reiz- und Lähmungssymptome bei Neuro­ tikern zu beseitigen; er hat die Vorurteile beseitigt, die aus früheren, reklameartig die Hypnose betreibenden Zeiten dem Verfahren noch anklebten.“571 Schröder spricht von einer Phase der Wiedergutmachung, die der Hypnotismus um 1920 durchlief, da die praktischen Erfolge während des Ersten Weltkriegs zu einer Verbesserung seines Rufs innerhalb der Ärzteschaft beigetragen hatten.572 Forel verfolgte die wechselhafte Konjunktur des Hypnotismus über gut drei Jahrzehnte von 1887 bis 1920 nicht gleich aktiv. Nach seinen Zürcher Streitjahren 5 66 Simmel, Zweites Korreferat, S. 43, zitiert in: Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 176. 567 Sigmund Freud, Wege der psychoanalytischen Therapie, Ansprache vor dem Fünften Internationalen Psychoanalytischen Kongress, in: Internationale Zeitschrift für ärzt­liche Psychoanalyse 5 (1919), S. 68, zitiert in: Roth, Die Modernisierung der Folter, S. 31. 568 Hagner, Moderne Gehirne, S. 18. 569 Moll, Ein Leben als Arzt der Seele (1936), S. 43. 570 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 215 – 217. 571 Nonne, Therapeutische Erfahrungen an den Kriegsneurosen (1922/34), S. 112. 572 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 181 f.

empfing er von 1898 bis 1911 in seinem Haus in Yvorne und Chigny weiterhin Klien­ tel zur Hypnosebehandlung. Nach seinem Hirnschlag im Jahr 1912, der eine bleibende Lähmung des rechten Armes und Sprachstörungen zur Folge hatte, konnte er die Suggestionstherapie nicht mehr anwenden.573 Ein publizistischer Verfechter des Hypnotismus blieb er jedoch zeitlebens und überarbeitete sein Lehrbuch Der Hypno­tismus noch mehrmals.

573 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 211. Er führte Buch über seine Privatpatienten/-innen, wie die Statistik über die behandelten Fälle im Lehrbuch zeigt (ebd., S. 205 – 210).

6. Die ferngesteuerte Klinik Die Hypnotisierungen Forels fanden hauptsäch­lich im klinischen Umfeld des Burg­ hölzli statt. Die verschiedenen Rollen der Beteiligten, die Arbeitsteilung und die Organisationsroutine in der Klinik bestimmten Ablauf und Ausgang der Hypnotisierungen grundsätz­lich. Forel stand an der Spitze eines hierarchischen Systems und führte die Klinik mittels Überwachung und Kontrolle. Neben den Patientinnen und Patienten spielten Angehörige des Pflegepersonals eine besondere Rolle in Forels Hypnose-Anwendungen. So unternahm er seine ersten Hypnoseversuche mit einer Wärterin, und aus seinen Publikationen zu schliessen, waren in den Jahren von 1887 bis 1897 besonders viele Wärterinnen unter den Hypnose-Probandinnen.574 Die verschiedenen Anwendungsgebiete des Hypnotismus beim Wartpersonal, die sich mit Experimenten, Therapie und Regulierung umschreiben lassen, standen im Kontext der Anstaltsordnung, um neben der Überwachung der Patientinnen und Patienten auch jene der Angestellten zu verstärken.

6.1 Kontrolle ist besser: die Klinik-Hierarchie Das Burghölzli war 1870 als Heilanstalt mit einem Bettenbestand von 250 eröffnet worden, komplementär zur 1867 bezogenen Pflegeanstalt Rheinau.575 Nach Bernhard von Gudden, Gustav Huguenin und Eduard Hitzig übernahm Forel 1879 die Leitung des Burghölzli und wurde zum Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich ernannt. Da die Amtszeit seines Vorgängers von Streitereien mit dem damaligen Burg­ hölzli-Verwalter geprägt gewesen war, machte Forel seine Anstellung direkt von der Unterstellung der Verwaltung unter die ärzt­liche Direktion abhängig, was ihm vom Zürcher Regierungsratspräsidenten Zollinger gewährt wurde.576 In der Folge hatte er auch die Führung über das Pflege- und Verwaltungspersonal inne und genoss innerhalb 574 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 125. Dieser Versuch anfangs der 1880er Jahre war jedoch nicht erfolgreich, und er wagte sich erst nach dem Besuch bei Bernheim im Jahr 1887 wieder ans Hypnotisieren. 575 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 49 f.; Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 377 – 387; Steinbrunner, Spitalarchitektur und Medizin im Zürich des 19. Jahrhunderts, S. 62 – 94; Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (Hg.), Burghölzli-­ Museum, S. 16. Bis 1914 wurde die Klinik Irrenheilanstalt Burghölzli genannt, von 1915 bis 1965 Heilanstalt Burghölzli, ab 1966 Kantonale Psychiatrische Universitätsklinik. Vgl. die entsprechenden Jahresberichte. 576 Forels Brief an Zollinger vom 17. November 1879 (StAZH S 320:1); Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 63; Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 109 – 111.

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Die ferngesteuerte Klinik

Abb 12 Der Regierungsrat des Kantons Zürich berief August Forel am 16. August 1879 zum ordent­­lichen Professor für Psychiatrie und psychiatrische Klinik und zum Direktor der Irrenheilanstalt Burg­hölzli (MHIZ PN 31.1:947).

der Klinik eine uneingeschränkte Machtposition; seine Verfügungsmacht über die Patienten war beinahe grenzenlos. Die Klinikhierarchie war in Reglementen und Instruktionen für das Personal festgeschrieben.577 An der Spitze der Hierarchie stand 577 Reglement für die kantonale Irrenheilanstalt „Burghölzli“ bei Zürich (vom 22. November 1879), in: Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich, 20. Band, Zürich 1883, S. 104 – 113; Instruktion für das Wartpersonal (1879); Instruktion für das Oberwartpersonal (1879); Zusätze und Erläuterungen zur Instruktion für das Wartpersonal der Irrenanstalt Burghölzli

Kontrolle ist besser: die Klinik-Hierarchie

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Forel als A ­ nstaltsdirektor und Professor der Psychiatrie, als sein Stellvertreter amtete der Sekundararzt. Diesem wiederum unterstanden der Assistenzarzt und der Volontärarzt.578 Zusätz­lich weilten im Burghölzli als universitärem Ausbildungsort auch studentische Unterassistenten. Ein Oberwärter und eine Oberwärterin leiteten das den Ärzten untergebene Pflegepersonal, und Forels Klinikführung wurde von einer Aufsichtskommission verfolgt, die vom Vorsteher der Sanitätsdirektion präsidiert wurde. Die hierarchische Ordnung reichte bis zur Unterbringung und dem Mahlzeitensystem. Seiner institutionellen Position entsprechend, war Forels Wohnung im zweiten Stock in unmittelbarer Nähe der Erste-Klasse-Patienten eingerichtet, und das Speise-Regulativ sah vor, dass die Ärzte die Mahlzeiten der ersten Klasse, die Oberwärterin und der Oberwärter jene der zweiten Klasse, die Wärter und Wärterinnen schliess­lich das Essen dritter Klasse erhielten.579 Lückenlose Kontrolle und Übersicht über die Vorkommnisse innerhalb der Klinik waren Forels grösste Anliegen. Mittels verschiedener Überwachungstechniken kontrollierte er Angestellte und Patienten. Im Zentrum der Überwachungshierarchie stand der Wachsaal, wo Patienten untergebracht wurden, die als selbstgefähr­lich galten oder an akuten Erkrankungszuständen wie Epilepsie, Aufregung oder Fieber litten. Die Einrichtung von Wachsälen war von Wilhelm Griesinger bereits in den späten 1860er-Jahren propagiert worden, um die Patientinnen und Patienten konstant zu beobachten und dadurch auf Isolierung und andere Zwangsmittel verzichten zu können.580 Forel standen je ein Wachsaal auf Frauen- und Männerseite zur Verfügung.581 Die Zusammenführung der Patienten im Wachsaal verlief jedoch nicht problemlos – Kranke und Angestellte klagten über die Unruhe, wodurch sie „in dem für sie so nothwendigen Schlaf beeinträchtigt werden“.582 Trotz Lärms schlief das Wartpersonal auch ab und zu ein, was mit Busse geahndet wurde.583 Mit der ab 1888 praktizierten Hypnotisierung der Nachtwachen perfektionierte Forel die konstante Überwachung und wollte

578

579 5 80 581 5 82 583

(gutgeheissen von der Aufsichtskommission der Irrenheilanstalt Burghölzli am 20. Mai 1880), MHIZ PN 31.4:2. Der Sekundararzt hatte die erste Klasse der Patientinnen und Patienten unter sich. Der Assistenzarzt war für die Frauenabteilung zuständig, der Volontärarzt für die Männerabteilung. Vgl. den Bericht der Untersuchungskommission (1897), S. 26 f. Reglement (1879), S. 111; Speise-Regulativ für die Irrenheilanstalt Burghölzli von 1907, S. 1, StAZH S 321.1. Vgl. Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 64, S. 132 – 135. Forels Nachfolger Eugen Bleuler nannte bei seinem Amtsantritt die Wachsaal-Ausstattung des Burghölzli einen „empfind­lichen Mangel“ (Rechenschaftsbericht 1898, S. 22). Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose (1898), S. 222. Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 3; Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose (1898), S. 209.

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Die ferngesteuerte Klinik

dadurch auch die Schlafprobleme von Patienten und Angestellten lösen, wie weiter unten dargelegt wird. Neben dem Überwachungsmoment hatte der Wachsaal auch eine wichtige psycholo­g ische Funktion für die Therapie. Durch den dauernden Bettaufenthalt materialisierte sich für die Patienten das Krankheitsgefühl, und in der daraus folgenden Krankheitseinsicht sahen die damaligen Psychiater einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Heilung.584 Zur „Überwachung der Überwachung“ führte Forel einen Kontrollapparat ein, den das Wartpersonal während des Nachtdienstes mindestens jede Viertelstunde drücken musste.585 Weitere Kontrollinstrumente waren Visiten und Rapporte.586 Forel machte alternierend mit dem Sekundararzt täg­lich eine Visite durch die Männer- oder die Frauenseite, die auch bei grosser Arbeitsbelastung stattfand.587 Auf täg­liche Stabs­visiten verzichtete er und führte diese einmal wöchent­lich durch.588 Die Wärterinnen und Wärter wurden während der Visiten über das Verhalten der Kranken befragt, und beim täg­lichen Rapport berichteten die Ärzte über die einzelnen Patienten.589 Wie Frank und Brupbacher betonten, war die Beziehung Forels zu seinen Assistenzärzten von Autorität, aber auch Kollegialität geprägt.590

584 Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 133. Die (fehlende) Krankheitseinsicht wurde in vielen Kranken­akten thematisiert (z. B. StAZH Z 100, KA-Nr. 5627, 6434 und 6484). 585 Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 12. 586 Vgl. Forels Angaben im Bericht der Untersuchungskommission (1897), S. 26 f., StAZH S 320.1, Fasz. 2. 587 Vgl. Frank, Forel als Lehrer, S. 1; Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 104. 588 Bericht der Untersuchungskommission (1897), S. 27. Fritz Brupbacher berichtet von der ­grossen Montagsvisite, bei welcher Forel mit den Ärzten und Unterassistenten „alle interessanten neuen Fälle anschaute“ (Brupbacher, 60 Jahre Ketzer, S. 60). 589 Wenn die Ärzte nicht nach Forels Gusto gehandelt hatten, drückte sein affektives Naturell durch, wie Brupbachers Beispiel zeigt. Forel sprach zwei Wochen nicht mehr mit ihm, weil er entgegen seiner Weisung einem Drogenabhängigen auf Entzug ein Narkotikum verabreicht hatte (Brupbacher, 60 Jahre Ketzer, S. 59). 590 Brupbacher beschreibt Forel als charismatische Persön­lichkeit, die man entweder hasste oder vergötterte. Er zeichnet ihn als gleichzeitig systemlosen und zielbewussten Lehrer, autoritär und unprofessoral, „er kochte ständig – sein Hirn war wie ein Dampfkessel, der immer unter Hochdruck steht […] Ein ständig Aufgewühlter, der alle aufwühlte, die in seine Nähe kamen.“ (Brupbacher, 60 Jahre Ketzer, S. 59 – 62). Vgl. auch Frank, Forel als Lehrer, S. 5.

Die Patientinnen und Patienten

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6.2 Die Patientinnen und Patienten Beim Eintritt in die Klinik liessen die Eintretenden ihre gewohnte soziale Rolle hinter sich und wurden in der Anstaltsordnung zu Patientinnen und Patienten. Der Eintritt in die Klinik war im Sinn von Foucaults Heterotopiebegriff mit bestimmten Riten verbunden, und man konnte nur mit „einer gewissen Erlaubnis und mit der Vollziehung gewisser Gesten“ eintreten.591 So musste der Eintretende einen Arzt-, einen Heimatschein und eine Zahlungsgarantie vorweisen, um aufgenommen zu werden.592 Der Oberwärter respektive die Oberwärterin erstellte beim Eintritt ein Inventar aller mitgebrachten Gegenstände und Kleidungsstücke, nahm Wertgegenstände ab und verwaltete sie während des Klinikaufenthaltes.593 Die sozial besser gestellten Patientinnen und Patienten trugen ihre eigenen Kleider und verfügten so weiterhin über Insignien ihrer sozialen Position, die ärmeren Kranken trugen dagegen meist Kleider, die ihnen von der Klinik zur Verfügung gestellt worden waren.594 Die „zweckmässige Sonderung und Verteilung der Kranken“ galt als wichtiges Mittel zur Integration in die Anstaltsordnung.595 Den Kranken wurde nach den Kriterien Geschlecht, sozialer Status und Krankheitszustand ein Platz in der Anstalt zugewiesen.596 Symmetrisch angeordnet waren ein Frauen- und ein Männer­ trakt, deren einzelne Geschosse dem sozialen Status der Kranken entsprechend unterteilt waren. Die Patientinnen und Patienten der ersten Verpflegungsklasse waren im zweiten, diejenigen der zweiten Klasse im dritten und jene der dritten Klasse im ersten Geschoss untergebracht. In der ersten Klasse hatten die Kranken Anspruch auf ein eigenes Zimmer, in der zweiten auf ein Zweier- bis Viererzimmer, in der dritten Klasse schliess­lich waren die Kranken in grösseren Sälen untergebracht.597 Die Einteilung nach den drei Verpflegungsklassen betonte die sozialen Unterschiede und widerspiegelte dadurch die „Klassenordnung der bürger­lichkapitalistischen Gesellschaft“.598 Die Klassenordnung wurde jedoch „durch eine psychiatrisch-administrative Logik überlagert, die das soziale Verhalten der Kranken als weiteres Kriterium 591 592 593 594 595 596 597 598

Foucault, Andere Räume, S. 44. Reglement (1879), § 2, S. 104. Instruktion für das Oberwartpersonal (1879), §§ 24 und 28, S. 5 f. Die Kranken der dritten Verpflegungsklasse hatten einen „vollständigen, gut erhaltenen Anzug“ mitzubringen, sonstige Kleider erhielten sie in der Anstalt. Vgl. Reglement (1879), § 16, S. 108. August Zinn, Die öffent­liche Irrenpflege im Kanton Zürich, Zürich 1863, S. 15, zitiert in: Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 57. Vgl. Reglement (1879), S. 106. Reglement für die kantonale Irrenanstalt Burghölzli bei Zürich (2. April 1870), Zürich 1870, Beilage III, S. 16, StAZH III Go 1, Fasz. 3. Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 57.

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Abb 13 Die „Irrenheilanstalt Burghölzli“, eröffnet im Jahr 1870, stand von 1879 bis 1898 unter der Leitung von August Forel. Ansicht der Hauptfassade, um 1900 (Baugeschicht­liches Archiv der Stadt Zürich).

berücksichtigte“.599 Die Frauen- und Männertrakte waren horizontal nach „ruhigen“, „halbruhigen“ und „unruhigen“ Patientinnen und Patienten unterschieden. Wer sich nicht passend verhielt, wurde in die nörd­lich gelegenen „halbruhigen“ und „unruhigen“ Trakte verlegt, die wenig bis gar nicht nach Verpflegungsklassen unterschieden waren. Der administrativ-organisatorische Charakter der Anstaltsordnung wird in der Gliederung der Abteilungen deut­lich, die sich am Verhalten und nicht etwa den Diagnosen orientiert.600 Aus dieser Einteilungslogik wird ersicht­lich, dass sich die Lebensbedingungen der Patientinnen und Patienten in der Anstalt stark unterschieden. Jakob Tanner weist auf die divergierenden Erfahrungen der Akteure hin: „Die Ärzte, das Pflegepersonal, die Kranken machen in ein und derselben Anstalt ganz unterschied­liche Erfahrungen. Dies aufgrund ihrer sozialen Stellung, ihrer Rolle im institutionellen Gefüge, aber auch aufgrund der starken Binnendifferenzierung von psychiatrischen Kliniken.“601 Je nach Abteilung, ob erste oder dritte Klasse, ob ruhig oder unruhig, sah das Leben in der Anstalt anders aus. So waren beispielsweise die Besuchszeiten in der dritten Klasse stark

599 Ebd., S. 57. 600 Ebd., S. 60. 601 Tanner, Der „fremde Blick“, S. 65.

Die Patientinnen und Patienten

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eingeschränkt, in der ersten und zweiten Klasse dagegen nicht.602 Auch der Menüplan unterschied sich, und die Zimmerbelegung beschnitt die Intimsphäre der Drittklasspatientinnen und -patienten ganz wesent­lich. Karen Nolte verwendet in diesem Zusammenhang die Begriffe der informationellen, dezisionalen und lokalen Privatheit, um die Einschränkungen, aber auch Handlungsspielräume der Patientinnen differenziert analysieren zu können.603 Die informationelle Privatheit, die das Wissen über die eigene Person bezeichnet, war stark begrenzt. So konnten die Patientinnen die Informationen nicht kontrollieren, die der einweisende Arzt oder die für die Anamnese befragten Personen weitergaben. Auch die Korrespondenz der Kranken nahm den Weg über das Direktionsbüro und unterlag der Zensur.604 Die Handlungs- und Entscheidungsspielräume, die dezisionale Privatheit, waren ebenfalls stark reglementiert, indem Kleidung, Essen, Körperpflege und Beschäftigungen der Bestimmung und Kontrolle von Ärzten und Wartpersonal unterlagen. Die lokale Privatheit war durch einen starken Verlust der Intimsphäre gekennzeichnet. Allerdings muss bedacht werden, dass die Einschränkungen nicht alle Patientinnen und Patienten gleich betrafen und auch nicht von allen gleich einschneidend empfunden wurden.605 Die hierarchisch strukturierte Ordnung der Anstalt mit ihrer konstanten Überwachung verweist darauf, dass das „geordnete Verhalten“ der Patientinnen und Patien­ ten ein Hauptziel der psychiatrischen Behandlung war.606 Darin zeigt sich einerseits das beschränkte therapeutische Angebot der damaligen Psychiatrie, anderseits aber auch der Normalisierungsdruck, der auf die Kranken ausgeübt wurde. Während der Mahlzeiten mussten störende Patienten „schnell und mög­lichst geräuschlos“ entfernt werden,607 Kranke dritter Klasse mussten nach Mög­lichkeit ihr Bett selber machen,608 die Haare mussten „ordent­lich gekämmt“ sein, bei den Frauen „nicht 602 In der dritten Verpflegungsklasse waren Besuche jeweils Sonntag, Dienstag und Freitag von 10 bis 11 Uhr erlaubt, für die erste und zweite Klasse jederzeit mög­lich (Auszug aus dem Reglement, datiert vor der Aufsichtskommission Burghölzli, den 27. März 1882, StAZH S 320:2; diese Bestimmung wurde offensicht­lich nachträg­lich ins Reglement von 1879 eingeführt). 603 Vgl. Nolte, Gelebte Hysterie, S. 66 – 91. 604 Vgl. Instruktionen für das Wartpersonal (1879), S. 7; Reglement (1879), S. 106. Zensurierte Briefe in den Krankenakten zeugen von dieser rigorosen Einschränkung. 605 Vgl. Nolte, Gelebte Hysterie, S. 91. 606 Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 60. 607 Instruktion für das Wartpersonal (1879), S. 5. Vgl. auch Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 6. „Grosse Sorgfalt soll das Wartpersonal darauf verwenden, dass es bei den Mahlzeiten der Kranken anständig zugeht. Kranke, die beim Essen schlechte Gewohnheiten wahrnehmen lassen, sind dem Oberwartpersonale und dem Arzte anzuzeigen.“ 608 Instruktion für das Wartpersonal (1879), S. 6. Zu den Kranken erster und zweiter Klasse finden sich keine Angaben betreffend Betten machen.

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kurz“, bei den Männern „rechtzeitig, aber nicht ganz kurz am Kopfe geschnitten“ sein.609 Forel führte Soirées – die „Mittwochabende des Chefs“ – durch, zu welchen die Angehörigen der Oberschicht eingeladen wurden, um standesgemässes Verhalten zu üben.610 Im geordneten Tagesablauf der Klinik konnten die Patientinnen und Patienten ihre angestammte soziale Rolle proben, um sich auf die Rückkehr in ihr Leben draussen vorzubereiten. Wie im zweiten Kapitel bereits erwähnt, definierte Forel seine Klinikführung und Behandlung der Kranken als fortschritt­liche Psychiatrie, die sich von der alten Anstaltspsychiatrie abgrenzte. Im Reglement des Burghölzli von 1879 wurde die humane, wissenschaft­liche Psychiatrie als Behandlungsbasis festgeschrieben: „Die Behandlung der Kranken hat nach den Grundsätzen der Wissenschaft und Humanität zu erfolgen.“611 Der Umgang des Wartpersonals mit den Patienten wurde in den Instruktionen festgehalten. Jeg­liche Gewaltanwendung gegenüber den Kranken war verboten und hatte die sofortige Entlassung zur Folge. Trotzdem kamen auch Zwangsjacke, Bettgurten und Deckelbad während Forels Amtszeit immer wieder zur Anwendung, wie in den Jahresberichten ersicht­lich ist. Die knappen Platzverhältnisse beeinflussten die Aufenthaltsbedingungen der Patientinnen und Patienten negativ. Das Burghölzli war darauf angewiesen, Kranke, die als unheilbar betrachtet wurden, in die Pflegeanstalt Rheinau transferieren zu können. Dies war jedoch nicht mög­lich, da auch die Pflegeanstalt mit Kapazitätsproblemen kämpfte.612 Der ursprüng­liche Bettenbestand des Burghölzli von 250 wurde erst mit den Umbauten von 1903 und 1909 und dem grösseren Ausbau von 1930 bis 1934 erweitert. Ende 1880 war die Zahl der Kranken auf 319 angestiegen, und am Ende des Jahres 1900 kurz nach Forels Rücktritt war der Patientenbestand bei 391 angelangt.613 Auch Forel klagte während seiner gesamten Amtszeit über die „unerträg­lichen“ Verhältnisse. Die Überfüllung hatte Auswirkungen auf die Unterbringung und Betreuung der Kranken. Besonders die Abteilung der unruhigen Frauen war betroffen, wo wegen der engen Verhältnisse häufiger Isolierungen verordnet wurden und einige Patientinnen und Patienten sogar nicht aufgenommen werden konnten.614 609 Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 5. 610 StAZH Z 100, KA-Nr. 5622 und 5761 (beide 1892). „Bei der Soirée beim Director ziem­lich betrunken […] riecht nach Alkohol.“ (StAZH Z 100, KA-Nr. 5622, Eintrag vom 29. Juni 1892). Die Zuweisung zur Arbeitstherapie kann ebenfalls in diesem konditionierenden Sinne verstanden werden. 611 Reglement (1879), S. 106. 612 Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 52; Bleuler, Geschichte des Burghölzli, S. 384 – 387. 613 Rechenschaftsbericht 1881, S. 3; Bleuler, Geschichte des Burghölzli, S. 387. 614 Rechenschaftsbericht 1880, S. 8. Die Jahresberichte der Anstalt erwähnen die Überbelegung konstant. Der neu angetretene Direktor Eugen Bleuler bezeichnete die Platzverhältnisse als

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Die Verpflegungsklassen waren ganz unterschied­lich ausgelastet. Der Anteil der in der dritten Klasse untergebrachten Patientinnen und Patienten betrug während Forels Amtszeit durchgehend über 74% der gesamthaft untergebrachten Kranken, in der zweiten Klasse zwischen 12 und 19%, und in der ersten Klasse stieg er von 4 bis auf gut 9% an.615 In den genauer untersuchten Jahren 1888, 1892 und 1895 war die erste Klasse mit Anteilen um 9% durchgehend sehr gut ausgelastet.616 Von der Verpflegungsklasse der Patientinnen und Patienten darf jedoch nicht direkt auf die soziale Schichtzugehörigkeit geschlossen werden.617 So hatten zum Beispiel Ausländerinnen und Ausländer ungeachtet ihrer Einkommensverhältnisse die erste Verpflegungsklasse zu bezahlen. Weiter gab es Kranke, die auf die Unterbringung in einer höheren Klasse verzichteten, um ihre Angehörigen nicht mit den hohen Taggeldern zu belasten. Für die Phase von 1870 bis 1915 gehen Meier et al. von einem Unterschichtanteil von 50%, einem Mittelschichtanteil von 40% und einem Oberschichtanteil von 10% aus.618 Um die Anteile der Patientinnen und Patienten nach Diagnosen beurteilen zu können, müssen die historischen Diagnosen in ein klassifikatorisches System eingeteilt werden. Ich stütze mich auf die Einteilung der Studie zu den Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie, welche die historischen Diagnosen den Kategorien schizophrene Erkrankungen, manisch-depressive Krankheiten, organische Psychosen

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Hauptgrund für die „Insufficienz der Anstalt“. Dies sei auch der Grund für die Verschlechterung des Zustandes vieler Kranken (Rechenschaftsbericht 1898, S. 21 f.). Die Anteile sind aufgrund der Angaben zu den jähr­lichen Eintritten in den Rechenschaftsberichten berechnet. Im Jahr 1888 waren 8,9% der aufgenommenen Patientinnen und Patienten in der ersten Klasse untergebracht, 1892 9,6% und 1895 9,3%. Im Jahresbericht von 1888 wird berichtet, dass die erste Klasse „zum ersten Mal seit 11 Jahren […] anhaltend vollbesetzt“ war (Rechenschaftsbericht 1888, S. 13; ebenso Rechenschaftsbericht 1889, S. 13). Im Kanton Zürich gab es viele private Sanatorien, die der wohlhabenden Klientel offenstanden. Die Klinik Schlössli in Oetwil am See existierte ab 1889, die Pflegeanstalt Mönchhof-Kilchberg wurde 1867 gegründet (ab 1905 Sanatorium Kilchberg). Daneben existierten mehrere Kaltwasser-Heilanstalten, z. B. Albisbrunn, die älteste Einrichtung dieser Art in der Schweiz in Hausen am Albis, oder die Kaltwasser-Heilanstalt Bad Buchenthal in Oberbüren (Kanton St.Gallen). Vgl. Rohde, Die Behandlung von Infektionskrankheiten, S. 236; Flechsig, Handbuch der Balneotherapie (1892), S. 330. Vgl. Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 63 – 68. Für ihre Zuordnung haben sie Statuskriterien wie Beruf, Vermögen, Eigentum, Landbesitz, Bildungsstand, Wohngegend usw. berücksichtigt. Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 64 f. Anhand einer Stichprobe stellten sie fest, dass es keine Häufung von Unterschichtsberufen im Burghölzli gab. Es stammten jedoch deut­lich weniger Patientinnen und Patienten aus der Landwirtschaft, dagegen mehr aus der Textilindustrie und dem Berufsfeld „Gastgewerbe, Kultur, Hauswirtschaft“. Dies sehen die Autorinnen als Hinweis für die „Übervertretung der städtischen Unterschicht gegenüber der länd­lichen Unterschicht“ (ebd., S. 66).

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Die ferngesteuerte Klinik

und angeborene Geistesschwäche (inkl. Epilepsie), neurotische Krankheiten, mora­ lische Qualifikationen sowie Genussmittelmissbrauch und dessen Folgen zuordnete.619 Krankheiten wie Hebephrenie, Katatonie, Irresein, Paranoia oder Wahnsinn, die ab 1911 in der neuen Gruppe der Schizophrenien zusammengefasst wurden, waren seit der Gründung des Burghölzli am häufigsten vertreten. Für die Zeit von 1870 bis 1915 betrafen sie rund 40% der Kranken.620 An zweiter Stelle der Diagnosehäufigkeit steht die Gruppe der organischen Psychosen und Geistesschwäche. In Forels Amtszeit erhielten etwa 20% der Patientinnen und Patienten Diagnosen aus dieser Gruppe wie Dementia senilis oder Spätfolgen der Syphilis wie Dementia paralytica und progressive Paralyse. In den drei untersuchten Jahren 1888, 1892 und 1895 ­traten zwölf (Dementia senilis) und 56 (Spätfolgen der Syphilis) Personen mit diesen Krankheitsbildern ein. Ebenso wird in der Studie zu den Zwangsmassnahmen Epilepsie unter diese Kategorie summiert, da die Diagnose selten gestellt wurde. In den drei Stichjahren traten total 24 Patientinnen und Patienten mit Epilepsie (4%) ein. An dritter Stelle stand für die Phase von 1870 bis 1915 die Diagnosegruppe Genussmittelmissbrauch und dessen Folgen mit gegen 20% der Patientinnen und Patienten. Der Grossteil davon litt an Alkoholismus, ein kleiner Anteil war morphiumabhängig. In den drei Stichjahren erhielten 103 der 581 neu aufgenommenen Patientinnen und Patienten eine Diagnose aus diesem Bereich (17,7%). 95 Fälle litten an Alkoholismus und dessen Folgen, die andern acht waren morphiumabhängig.621 Am vierthäufigsten wurden während Forels Amtszeit manisch-depressive Krankheiten diagnostiziert und etwa 15% der Patientinnen und Patienten des Burghölzli dieser Gruppe zugerechnet. Die Gruppe der Neurosen, zu der Hysterikerinnen, Neurastheniker und Hypochonder gezählt wurden, machte rund 4% der Neueintretenden in den drei Untersuchungsjahren aus.622 Die Gruppe der sogenannten moralischen Qualifikationen war in der Phase von Forels Direktorium wenig vertreten. In den drei Untersuchungsjahren traten 20 Patienten und Patientinnen (14 Männer und sechs Frauen) mit Diagnosen aus dieser Gruppe ein, was einem Anteil von 3,4% entspricht. Darunter fielen die damaligen Diagnosen Querulantenwahnsinn, moralische Idiotie, Psychopathie und sexualpathologische Befunde. 619 Vgl. Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 309 – 311. Sie beziehen sich auf die Einteilung in Berrios und Porter (Hg.), A History of Clinical Psychiatry. 620 Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 99. Wenn nicht anders angegeben, habe ich im Folgenden die dortigen Anteile der Phase von 1870 bis 1915 übernommen. Vgl. zu den verschiedenen Diagnosen auch Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 388. 621 Vgl. Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 70; Bleuler, Geschichte des Burghölzlis, S. 388. 622 Dies entspricht den Zahlen für den Zeitraum 1870 bis 1915 (Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 99).

Das Wartpersonal

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Die Kategorien von Kranken und Wartpersonal waren durchlässig, und Forel stellte mehrmals ehemalige Alkoholikerinnen und Alkoholiker als Wartpersonal im Burghölzli ein.623 Forel nutzte die Anstellungen, um Rückfälle zu vermeiden und neue Mitstreiter für die Abstinenz zu gewinnen.624 Er war damit in guter Gesellschaft. Schon Philippe Pinel, der berühmte französische Psychiater, war überzeugt, dass aus geheilten Kranken oft gutes Pflegepersonal würde.625 Allerdings verliefen die Seitenwechsel nicht immer problemlos. So musste ein ehemaliger Patient, den Forel als Verwaltungsgehilfe angestellt hatte, wegen Unred­lichkeiten und „Ungehörigkeiten“ entlassen werden, und die somnambule Luise T., die Wärterinnendienst übernommen hatte, wurde wegen wiederkehrenden Anfällen in den Patientinnenstatus zurückversetzt.626

6.3 Das Wartpersonal Dem Wartpersonal kam bei der Betreuung der Kranken eine wichtige Rolle zu.627 Bei Forels Amtsantritt standen 21 Wärter und 26 Wärterinnen im Dienst.628 Diese entstammten unteren Schichten; so hatten die Wärterinnen der Basler Heil-und Pflegeanstalt Friedmatt vor ihrem Dienst in der Klinik häufig als Dienstmädchen, Schneiderinnen oder Näherinnen gearbeitet.629 In Zürich dürfte die Situation nicht anders gewesen sein. Die ersten Wärterinnen und Wärter, die 1870 im neu eröffneten Burghölzli ihren Dienst antraten, waren „robuste Frauen und Männer aus länd­ lichen Gegenden“.630 Forel äusserte sich nur spär­lich zur Herkunft des Wartpersonals, betonte jedoch wiederholt, dass die „besten Wärter und Wärterinnen […] aus dem Bauernstande“631 stammten: „[D]ie Kinder vom Lande sind besser geartet und in allen Beziehungen durchschnitt­lich gesünder und kräftiger. […] Die Landkinder […] waren anfangs schwerfällig, ungelenkig, zeigten sich aber zusehends brauchbarer

623 Vgl. Erster Jahresbericht der Trinkerheilstätte (1890), S. 10. 624 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 261; vgl. ders., Zur Therapie des Alcoholismus (1888), S. 7; ders., Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 8 – 12. 625 Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie, S. 44. 626 Siehe Rechenschaftsbericht 1897, S. 11. Zu Luise T. StAZH Z 100, KA-Nr. 4601. 627 Vgl. zur Geschichte des Pflegepersonals Braunschweig, „Wir waren wie eine Familie“; Kolling, „Zuverlässig, nüchtern, sauber und gewissenhaft …“; Falkenstein, „Ein guter Wärter ist das vorzüg­liche Heilmittel …“. 628 Rechenschaftsbericht 1880, S. 9. 629 Braunschweig, „Wir waren wie eine Familie“, S. 188. 630 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Burghölzli-Museum, S. 4. 631 Bericht Untersuchungskommission 1897, S. 23.

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und tüchtiger.“ Die Stadtbevölkerung dagegen sei „unbrauchbar“.632 Bis zur Professionalisierung der Ausbildung des Wartpersonals in den 1920er-Jahren wurden die Angestellten von der Oberwärterin und dem Oberwärter angelehrt.633 Wie Eric Engstrom festhält, standen neben den Kranken auch die Angestellten unter dem disziplinierenden Einfluss der Klinik.634 Der Arbeitsalltag des Wartpersonals war durch die Anstaltsordnung bestimmt. Visiten, Rapporte, Reglemente und Instruktionen waren Teil dieser Anstaltsdisziplin. In der Klinikhierarchie nahmen die Wärterinnen und Wärter eine Scharnierstellung zwischen Ärzten und Kranken ein. Dem „wissenschaft­lich gebildeten Irrenarzt“ gegenüber schuldeten sie uneingeschränkten Gehorsam: „[D]as Wartpersonal [muss] unbedingt allen Anweisungen der Aerzte auf das Pünkt­lichste Folge leisten, wenn es auch den Zweck derselben nicht einsieht.“635 Der Oberwärter und die Oberwärterin standen dem Wartpersonal vor, empfingen die Weisungen der Ärzte und gaben sie weiter. Den Anordnungen hatten die Wärterinnen und Wärter „mit Achtung und ohne Widerrede zu gehorchen“.636 Das Wartpersonal wurde wiederholt gemahnt, „mög­lichst viel zu melden“ und „mög­lichst viel zu fragen“.637 Die Meldepf­licht sollte die Kontrolle bis in die Tagesaktivitäten hinein gewährleisten. Das Wartpersonal wurde beispielsweise verpf­lichtet, „von allen ihren [der Kranken, M. B.] widersinnigen Reden und Handlungen, sowie von jeder Veränderung in ihrem Befinden und Benehmen den Aerzten Mittheilung zu machen“.638 Die hierarchische Kontroll-Matrix, welche die institutionelle Ordnung bestimmte, zeigte sich auch bei den Anforderungen, die ans Wartpersonal gestellt wurden: Pf­lichttreu, ehr­lich, fleissig und ordnungsliebend sollten die Wärterinnen und Wärter sein.639

632 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 316. Einer Auflistung hypnotisierter Wärterinnen aus dem Jahr 1888 ist zu entnehmen, dass es sich bei zwei Fällen um „Bauernmädchen“ handelte, in einem Fall ist das Alter mit 19 Jahren angegeben (Forel, Einige Bemerkungen über Hypnotismus [Nachtrag], 1888). 633 Vgl. zur Ausbildung durch das Oberwartpersonal Instruktion für das Oberwartpersonal (1879), S. 3. Eugen Bleuler führte 1901 eine Kenntnisprüfung für neu eintretende Wärterinnen und Wärter ein. 1927 erreichten Bleuler, der Verein der Irrenärzte und die Gewerkschaft VPOD die Einführung einer einjährigen Lehre mit Diplomabschluss. Gleichzeitig wurden auch die Bezeichnungen Pflegerin und Pfleger eingeführt (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Burghölzli-Museum, S. 8). 634 Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 5. Vgl. zur Situation im Burghölzli Bugmann, Überwachen und regulieren. 635 Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 1 f. 636 Ebd., S. 3. Vgl. dazu auch Instruktionen für das Wartpersonal (1879), S. 1. 637 Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 4. 638 Instruktion für das Wartpersonal (1879), S. 4 (Hervorhebung im Original). 639 Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 1. Es gibt auch Geschichten, die von Solidarität untereinander und Ungehorsam gegenüber der Anstaltsordnung berichten: So meldeten beispielsweise

Das Wartpersonal

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Abb 14 Das männ­liche Wartpersonal der „Irrenheilanstalt Burghölzli“, um 1900 (Staatsarchiv des Kantons Zürich, StAZH Z 99.7853).

Das Verhältnis der Wärterinnen und Wärter zu Forel definierte sich, wie Goffman allgemein für hierarchische Beziehungen festhält, über verschiedene Eigenschaften.640 Die hierarchische Position innerhalb des Burghölzli prägte neben der Schichtzugehörigkeit auch Alter und Geschlecht. Forel war nicht nur der autoritäre Direktor, sondern wirkte auch fürsorg­lich „väter­lich“. Ganz dem Bild des gütigen Patrons entsprechend, der seiner Anstaltsfamilie vorstand, setzte er sich für seine Wärterinnen und Wärter ein.641 Das Wartpersonal versuchte gegenüber dem Direktor auch mehrmals, seine Anliegen durchzusetzen. So unterschrieben 1888 19 Wärter eine Petition an die Aufsichtskommission, um gegen die Kürzung der täg­lichen Weinration zu protestieren. Im Wärterinnen ihre Kollegin nicht, die eingesammelte Messer nicht nachgezählt hatte (Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose, 1898, S. 214). 640 Goffman, Interaktionsrituale, S. 328. 641 U. a. setzte er sich beim Regierungsrat für Lohnerhöhungen ein. Vgl. den Brief Forels an die Sanitätsdirektion vom 14. März 1884 (StAZH S 326.1, Fasz. 2). Weiter wurde während Forels Amtszeit ein Pensionsfonds für das Wartpersonal eingerichtet (StAZH S 326.1, Fasz. 6).

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Begleitbrief an Forel äusserten die Petitionäre den „Wunsche Sie werden uns die Sache nicht übel aufnehmen“.642 Als Forel das Ersuchen an den Regierungsrat weitersandte, diskreditierte er allerdings dessen Verfasser in seinem Begleitschreiben als „schlechten Wärter“. Auch zu den Urlaubsbestimmungen, die während Forels Amtszeit jedes Halbjahr drei Tage vorsahen und bei deren Bezug das wöchent­liche Ausgangsrecht während sechs Wochen gestrichen wurde, verfasste das Wartpersonal ein Gesuch, um die Streichung des wöchent­lichen Ausgangs bei Ferienbezug abzuschaffen.643 Die Aufgaben der Wärterinnen und Wärter bestanden „von 1870 bis etwa 1920 […] vor allem im Bewachen, Bändigen und Versorgen“.644 In den Instruktionen und den Zusätzen und Erläuterungen, die Forel 1880 angelehnt an Instruktionen der Irrenanstalten München und Préfargier eingeführt hatte, waren die Rechte und Pf­lichten des Personals festgehalten.645 Neben der Betonung von Gehorsam, Kontrolle und Meldepf­licht nahmen Bestimmungen zu Körperpflege und Kleiderordnung viel Raum ein. Ausführ­lich wurden auch Schlüsselhandhabung, Mahlzeitendienst und Schlafsaalordnung behandelt. In den Instruktionen für das Wartpersonal wurden die Tätigkeiten rhetorisch zu Fragen von heiliger Pf­licht und Ehre aufgewertet. Eingepasst in die hierarchische Ordnung wurde die „reine Wahrheit“ zur „heiligen Pf­licht“ und Ordnung und Rein­lichkeit zur „Frage des Ehrgefühls“.646 Eine Wärterin sollte die Bescheidenheit in Person sein: „rein­lich, aber einfach“ gekleidet, ohne „zeitraubende Frisur“, mit „nüchternem und ehrbarem Lebenswandel“.647 Die Reglemente und Jahresberichte zeugen von den strengen Arbeitsbedingungen, die ihren Tribut forderten. Die täg­liche Arbeitszeit betrug 14 Stunden, das Wartpersonal schlief in den Gängen und in den Krankenzimmern bei unruhigen oder suizidgefährdeten Kranken.648 Ausgänge mussten bewilligt werden, und verheiratete Wärter durften nur einmal wöchent­lich nach Hause gehen. Auch der 642 Brief vom Wartpersonal an Forel vom 11. März 1888 (StAZH S 326.1, Fasz. 1). 643 Ferien wurden aber erst unter Eugen Bleuler 1900 eingeführt (Psychiatrische Universitäts­ klinik Zürich, Burghölzli-Museum, S. 5 und S. 8). Vgl. das Gesuch des Wartpersonals StAZH S 326.1, Fasz. 4. Ob die Wärterinnen und Wärter mit ihrem Ansinnen erfolgreich waren, ist nicht eruierbar. Forels Reaktion auf diese Bitte war nicht auffindbar. 644 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Burghölzli-Museum, S. 4. Vgl. zu den Arbeits- und Lebensbedingungen des Pflegepersonals Braunschweig, „Wir waren wie eine Familie“, S. 187 – 190. 645 Die Instruktionen waren bereits unter seinem Vorgänger Hitzig ausformuliert worden (vgl. Instruktion für das Wartpersonal, 1879; Instruktion für das Oberwartpersonal, 1879; Zusätze und Erläuterungen, 1880). 646 Vgl. Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 2 und 5. 647 Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 2 und 4. 648 Das Externat wurde erst in der Zwischenkriegszeit eingeführt, und bis zum Ausbau des Burg­ hölzli von 1930 bis 1934 schlief das Pflegepersonal oft in den Gängen und den Kranken­zimmern (Bleuler, Geschichte des Burghölzli, S. 383).

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Burghölzli-Skandal, ausgelöst durch eine Artikelserie von Gottlieb Hägi 1894 in der Schweizer Wochen-Zeitung, drehte sich unter anderem um die schlechten Anstellungsbedingungen des Wartpersonals. Hägi kritisierte, dass es wegen der Arbeitsbedingungen viele Stellenwechsel gebe und die Stellen mit ungebildeten und sehr jungen Leuten besetzt würden.649 Tatsäch­lich war die Fluktuation beim Wartpersonal während Forels Amtszeit hoch, vor allem bei den Wärtern gab es viele Wechsel wegen Entlassungen und Kündigungen.650 Am häufigsten wurden Misshandlung von Kranken, Unfähigkeit und schlechtes Benehmen als Entlassungsgründe genannt, bei den Kündigungen waren Krankheit und Heirat die meistgenannten Gründe.651 Auch die Symptome, die Forel beim Wartpersonal durch Hypnose zu heilen versuchte, waren meist durch die Arbeitsbedingungen verursacht. Von den im Jahr 1888 hypnotisierten sieben Wärterinnen klagten fünf über Schlafstörungen, vier über Kopfschmerzen.652 Ob und wie das Wartpersonal an den Hypnosebehandlungen der Kranken beteiligt war, ist durch die Quellen nicht feststellbar. Deut­lich wird jedoch, dass die Hypnotisierungen des Wartpersonals selber im Kontext der Anstaltsordnung eine wichtige Funktion hatten.

6.4 Experimentieren, therapieren und regulieren Die Beispiele in Forels Artikel Der Hypnotismus und seine strafrecht­liche Bedeutung aus dem Jahr 1888 verdeut­lichen die Bedeutung des Wartpersonals für seine frühen Hypnotisierversuche. Von den damals 26 angestellten Wärterinnen versuchte er, 23 zu hypnotisieren.653 Auch noch Jahre später tauchten sie häufig als Fallbeispiele in seinen wissenschaft­lichen Artikeln auf, begleiteten ihn zu Referaten vor Fachpublikum und waren wichtige Protagonisten seiner Hypnotismusvorlesung. In der Vorlesungsreihe des Sommersemesters 1896 waren unter 55 Fällen zehn Angestellte des 649 Meier, Der „Fall Hägi“, S. 241. Vgl. Forels Replik auf die Vorwürfe im Bericht der Untersuchungskommission (1897), S. 21 f. 650 Vgl. die jähr­lichen Rechenschaftsberichte, Rubrik Personalnachrichten. 651 Die Entlassungsgründe sind in der Instruktion für das Wartpersonal (1879, § 14, S. 3) festgehalten: Ungehorsam, schwere Trunkenheit, schlechte Behandlung der Kranken, Unsitt­lichkeit, Verbrechen und Vergehen im Sinne des Strafgesetzbuches. Auch Liebesverhältnisse, „contrair-­ sexuale Sitt­lichkeit“, Briefschmuggel, Alkoholkonsum und Verzehrung der Patientenmahlzeit hatten die Entlassung zur Folge, wie in den Jahresberichten ersicht­lich wird. Weiter wurden in den Rechenschaftsberichten Heimweh, „Missbehagen“, „nach Amerika auswandern“ als Kündigungsgründe genannt (alles mehrfache Nennungen). 652 Forel, Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) (1888). 653 Forel, Der Hypnotismus (1888), S. 21. Vgl. ders., Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) (1888).

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Burghölzli, neben vier Wärtern und drei Wärterinnen kamen zwei Dienstmädchen und der Anstaltsportier zum Einsatz, wie Assistenzarzt Bauer berichtete.654 Forel verfolgte mit der Hypnotisierung des Wartpersonals mehrere Ziele. So wollte er damit zeigen, dass auch „normale Menschen“ hypnotisierbar seien.655 Gleichzeitig konnte er mit ihnen relativ uneingeschränkt hypnotische Experimente durchführen, diverse Beschwerden kurieren und Einfluss auf deren Schlafverhalten während des Nachtdienstes nehmen. Um mit verschiedenen Anwendungen des Hypnotismus zu experimentieren, waren die Wärterinnen und Wärter ideale Versuchspersonen. Wie Forel in seiner Autobiografie festhielt, unternahm er „massenhafte Experimente“ mit dem Wartpersonal.656 Auch die Besucher des Burghölzli versuchte er mit den hypnotisierten Wärterinnen zu beeindrucken, wie Gerhart Hauptmanns Kommentar veranschau­licht: „Die Wärterinnen des Burghölzli, traf er sie in den Gängen, sanken auf seinen Blick in den Schlaf. Standen sie dann wie schlafende Säulen, empfingen sie seine Suggestionen, um dann, erwacht, die absurdesten Dinge auszuführen.“657 Wenn Forel im Lehrbuch verschiedene Erscheinungen des Hypnotismus bespricht, treten Wärterinnen immer wieder als Probandinnen auf. So stellt er die Termineingebung vor, die „suggestion à échéance“, bei welcher der Versuchsperson in Hypnose auf einen bestimmten Zeitpunkt nach dem Erwachen die Ausführung einer Handlung befohlen wurde. Einer Wärterin suggerierte er beispielsweise den Beginn der Menstruation auf Sonntagmorgen: „Sie werden sofort zur Oberwärterin gehen, ihr den Tatbestand zeigen, dann zu mir kommen und es mir melden.“ Wie er weiter berichtet, trat alles wie vorgegeben ein. Diese Erscheinungen wurden im Zusammenhang mit der strafrecht­lichen Bedeutung des Hypnotismus heftig diskutiert.658 Auch Wachsuggestionen, eine Technik, die Bernheim vermehrt propagiert hatte, testete Forel an Wärterinnen, um zu zeigen, dass diese „bei einem grossen Prozentsatz der normalen Menschen“ mög­lich sei.659 Allerdings geht er in Der Hypnotismus nicht auf die Brandblasenexperimente ein, die er an einer Wärterin durchgeführt hatte. Er erwähnt zwar, dass bei „sehr sugges­ tiblen Menschen urticaria-ähn­liche Quaddeln durch einfache Berührung der Haut hervorgerufen werden“ könnten, und beschreibt Wetterstrands Experimente.660 Dass 54 Vgl. Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik (1897). 6 655 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 104. 656 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 133. Diese Versuche erregten „einigermassen Aufsehen“, wie Forel schrieb. Auch Bernheim berichtet von eigenen Versuchen mit einer Wärterin (Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung, 1888, S. 85 f.). 657 Hauptmann, Das Abenteuer meiner Jugend (1942), S. 776. 658 Vgl. dazu Kap. 5. 659 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 134. 660 Ebd., S. 116. Mehr zu solchen Versuchen S. 107 und S. 114; ders., Ueber suggestive Hauterscheinungen (1898).

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er selber solche Versuche an einer Wärterin durchgeführt hatte, kann man in Molls Lehrbuch nachlesen.661 Wie Moll berichtet, war die Probandin eine 23-jährige Wärterin, aus „einfacher Familie vom Lande“ und seit längerer Zeit im Burghölzli angestellt. Forel halte sie für eine „tüchtige, brave Person, die keineswegs zu Betrug geneigt ist“. Er klebte der Wärterin ein gummiertes Etikettpapier auf die Brust und suggerierte, es sei ein Blasenpflaster. Darauf entzündete sich die Stelle unter dem Pflaster und schwoll an, die Haut nässte und eiterte acht Tage lang. Zwei Monate später war die Hautstelle immer noch braun verfärbt. Wie Moll schrieb, wurde die Wärterin mit der Zeit „etwas unwillig und ängst­lich“.662 Dies schien Forel nicht zu kümmern, denn wenige Tage später unternahm er weitere Versuche mit ihr. Mit einem Messer ritzte er ihr auf den Unterarmen Kreuze ein, wobei er wieder Blasenbildung suggerierte. Moll enthielt sich eines Kommentars, teilte aber Forels Überzeugung der Suggerierbarkeit der Blasen nicht und warb stattdessen um Zurückhaltung: „Nicht etwa, weil man das Recht hätte, die suggestive Erzeugung anatomischer Veränderungen als unmög­lich hinzustellen, sondern weil man sie nur dann anerkennen darf, wenn sie einwandsfrei bewiesen ist.“663 Einen Hinweis gibt dieser Bericht bezüg­lich der Widerstandsmög­ lichkeiten des Wartpersonals. Die Wärterin tat zwar ihren Unmut kund, doch Forel setzte die Versuche fort. Auch diverse gesundheit­liche Beschwerden des Personals wie Menstruationsbeschwerden, Zahnprobleme oder Kopfschmerzen versuchte Forel mit Hypnose zu kurieren und behandelte sie bevorzugt als leichte Fälle in der Vorlesung, wie der Übersicht von Bauer zum Sommersemester 1896 zu entnehmen ist.664 Häufig waren die Therapieversuche Forels bei seinen Angestellten im Grenzbereich zum Experiment angesiedelt, wie der Fall eines Wärters zeigt, den Forel in Der Hypnotismus beschreibt. Da der Wärter an Zahnschmerzen litt, sollte der betroffene Zahn schmerzlos entfernt werden. Die Suggestion der Anästhesie gelang nur teilweise, doch wie Forel berichtet, wurde der Zahn dennoch entnommen. Der Wärter erwachte, „schrie, packte die Hand des Arztes und wehrte sich“. Forel hypnotisierte den Wärter anschliessend erneut und suggerierte ihm, dass er vorgängig nichts gespürt habe: „Er bildete sich daher ein, nichts gespürt zu haben, und war sehr froh und dankbar über die schmerzlose Zahnextraktion.“665 661 Moll, Der Hypnotismus (1889), S. 83 – 85. Forel hatte Moll die Veröffent­lichung der Versuche erlaubt. Das Hervorrufen von Brandblasen in Hypnose war umstritten und wurde von vielen bezweifelt. 662 Ebd., S. 84. 663 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 121. 664 Vgl. Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik (1897); Bertschinger, Ein Fall von Scorbut (1897). 665 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 129. Bei der Jahresversammlung der Internationalen Gesell­ schaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie im Jahr 1911 erzählte Forel, er habe bei

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Der Nachtdienst auf der Abteilung der unruhigen Patientinnen und Patienten forderte gesundheit­lichen Tribut beim Personal. Viele klagten über Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Nervosität. Forels bekannteste Anwendung der Hypnose beim Wartpersonal stand denn auch mit dem Nachtdienst in Zusammenhang. 1888 berichtete Forel in der Münchener Medicinischen Wochenschrift erstmals von seiner Idee, hypno­tisiertes Wachpersonal einzusetzen, was er „für die Irrenanstaltspraxis von reellem Werth“ beurteilte.666 Er hypnotisierte die Wärterinnen und Wärter und sugge­ rierte ihnen, sie würden bei den unruhigen und suizidgefährdeten Patientinnen und Patienten schlafen und sofort aufwachen, falls sie ein ungewöhn­liches Geräusch hörten. Das Hypnose-Regime hatte sich in kurzer Zeit im Burghölzli durchgesetzt, wie er zwei Jahre später anläss­lich der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 1890 in Bremen erklärte: „Alle Zellenwärterinnen der Anstalt Burghölzli werden überhaupt durch Hypnose stets gegen Lärm der Kranken unempfind­lich gemacht.“667 Die Wärterin H., die sich besonders gut hypnotisieren liess, setzte er beispielsweise als „schlafende Wache“668 ein. Sie übernahm neben dem Tagesdienst auf der unruhigen Abteilung der Frauen zusätz­liche Nachtwachen. Gemäss Forel dank Hypnose „ohne Ermüdung und ohne jede Beschwerde“.669 Bei seinem späteren Bericht über weitere Hypnotisierungen der Wärterin vermischen sich rationelle Klinikführung und Experiment: „Derselben Wärterin wagte ich noch, trotz ihres schweren Dienstes, während der Erkrankung einer anderen Wärterin, das zweimalige Aufnehmen der Kranken in dem Saal der Unreinen aufzubürgen […] Das Experiment gelang nahezu vollständig.“670 Während der zwei Wochen ihres Extradienstes verschlief H. nur einmal. Auch bei Patientin Emma B. wurde eine „schlafende Wache“ eingesetzt.671 Emma B. wurde am 25. August 1892 an Manie leidend im Burghölzli aufgenommen und war zunehmend verwirrt und gewalttätig. Fünf Monate später notierte der behandelnde Arzt in die Krankengeschichte: „Tumor im Abdomen. Gravidität?!“672 Der Verdacht ungefähr 25 Wärterinnen und Wärtern in Hypnose Zähne gezogen. Vgl. Verhandlungen der internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie (1912), S. 280. 666 Forel, Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) (1888), S. 4. Vgl. Bugmann, Überwachen und regulieren. 667 Forel, Zur suggestiven Therapie (1890), S. 2 (meine Hervorhebung, M. B.). Auch in der Vorlesung propagierte er die „schlafenden Wachen“ (Bauer, Aus der hypnotischen Poli­ klinik, 1897, S. 44). 668 Forel, Zu den Gefahren und dem Nutzen des Hypnotismus (1889), S. 8. 669 Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 12. 670 Forel, Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) (1888), S. 2. 671 StAZH Z 100, KA-Nr. 5759. Vgl. zu diesem Fall Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 102 f.; ders., Rückblick auf mein Leben (1935), S. 161; Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose (1898), S. 214 f. 672 StAZH Z 100, KA-Nr. 5759, Eintrag vom 25. Januar 1893.

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des Arztes bestätigte sich – die Frau, Mutter von elf Kindern, war im sechsten Monat schwanger. Wie Forel festhielt: „Diese Gravidität machte mir Sorgen. Einerseits liess die Brutalität der Kranken keine Mög­lichkeit zu, eine Wärterin des Nachts zu ihr zu tun, anderseits musste ich eine unbemerkte nächt­liche Geburt mit Tod des Kindes befürchten.“673 So kam er auf die Idee, vor der Zellentür der Patientin eine schlafende Wache zu postieren. Der „besten Somnambulen“ unter den Wärterinnen wurde die verantwortungsvolle Aufgabe zugeteilt. Forel hypnotisierte sie und suggerierte ihr, dass sie in der Nacht ausgezeichnet schlafen werde, bei beginnender Geburt jedoch sofort erwachen, den Vorfall der Oberwärterin melden und den Arzt rufen werde. Ab Mitte März 1893 schlief die Wärterin vor der Türe. Am Abend des 6. Mai 1893 untersuchte Sekundararzt Aimé Mercier die Patientin und bemerkte keine Zeichen einer unmittelbar bevorstehenden Geburt, doch in der folgenden Nacht erwachte die Wärterin und tat, wie ihr Forel suggeriert hatte. Als Mercier dazukam, war das Kind bereits geboren: „[A]ls ich kam, war das Kind bereits da […] kräftiger Bube; verlangt nach ihm, sorgt sich um ihn; schimpft aber sonst.“674 Bei ihrer Entlassung gut anderthalb Jahre später konnte sich Emma B. nicht erinnern, dass sie im Burghölzli ein Kind geboren hatte: „Von Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Kind hatte sie keine blasse Ahnung und hielt zunächst unsere bezüg­lichen Erzählungen für Schwindel, um so mehr, da das Kind seither am Keuchhusten gestorben war.“675 Dank ständiger Hypnotisierung schlief die betroffene Wärterin trotz Unruhe der Kranken bestens. Als Walter Inhelder sie einige Jahre später befragte, zeigte sich die starke Abhängigkeit von ihrem Hypnotiseur, als sie erzählte, sie habe nach dem Austritt aus dem Burghölzli „ein Vierteljahr lang wegen Schlaflosigkeit stark gelitten, so dass sie oft den Wunsch hegte ins Burghölzli zu kommen, um sich den verlorenen Schlaf wieder ansuggeriren zu lassen“.676 Inhelder, ehemals Student bei Forel und danach Assistenzarzt in Münsterlingen, befragte anläss­lich seiner Doktorarbeit über die Bedeutung der Hypnose für die Nachtwachen 19 teilweise ehemalige Wärter und Wärterinnen der Klinik und konsultierte die Krankengeschichten der betroffenen Patienten und Patientinnen.677 Die befragten 14 Wärterinnen und fünf Wärter berichteten hauptsäch­lich 73 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 102. 6 674 StAZH Z 100, KA-Nr. 5759, Eintrag vom 6. Mai 1893. 675 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 103. 676 Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose (1898), S. 216. 677 Walter Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose für die Nachtwachen des Wartpersonals, Diss. med. Zürich 1898. Inhelder studierte von 1893 bis 1897 an der Universität Zürich Medizin und war Mitglied der von Forel unterstützten akademischen Abstinentenverbindung ­Libertas (vgl. die Matrikelsammlung der Universität Zürich, http://www.matrikel.uzh.ch/active/static/ index.htm, eingesehen 12. August 2014).

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von Erfolgen der Hypnotisierungen. Als sie vor den Hypnotisierungen bei suizidgefährdeten Kranken geschlafen hätten, hätten sie oft Geräusche überhört und auf der unruhigen Abteilung an Schlafproblemen gelitten. Die Mehrzahl der Befragten schien in den Hypnotisierungen keinen Nachteil zu sehen; von Kritik war nichts zu vernehmen, auch nicht von solchen, die das Burghölzli verlassen hatten. Niemand schien sich dem Hypnose-Ansinnen Forels widersetzt zu haben. Allerdings wurden in den Aussagen der interviewten Wartpersonen auch Zwischentöne hörbar. So berichteten zwei davon, dass sie trotz Hypnose nach nächt­licher Störung längere Zeit nicht mehr einschlafen konnten, andere sagten, dass sie – anders als vor den Hypnotisierungen – bei jedem kleineren Geräusch aufwachen würden. Durchgängig waren es Wärterinnen, die von solchen kleineren Störungen berichteten. Ob sie noch im Burghölzli arbeiteten oder nicht, machte keinen Unterschied: Auch solche, die noch dort arbeiteten, erwähnten diese Probleme. Inhelder berücksichtigte dies in seinem Fazit, betonte jedoch die Vorteile der Hypnotisierungen. So waren sämt­liche Interviewpartnerinnen und -partner überzeugt, „seit sie eine Suggestion erhalten hatten, kein wichtiges Geräusch“ verschlafen zu haben. Dank den Hypnotisierungen stieg folg­lich die Sicherheit der Überwachung. Zusätz­lich hielt Forels Doktorand fest: „Bei keiner der einvernommenen Wartpersonen hörte ich auch nur die geringste Klage, dass sie in Folge dieses Nachtdienstes Morgens weniger munter an die Tagesarbeit gehen als ehedem.“678 Die Reaktionen der Patientinnen und Patienten auf die „schlafenden Wachen“ dagegen sind schwer fassbar. Auf jeden Fall hatten die ferngesteuerten Wärterinnen den Patientinnen Eindruck gemacht, wie Hinweise in Forels Texten verraten. Bei Patientin Dr. L. , die an Melancholie litt und ihrem Leben ein Ende setzten wollte, schlief Wärterin C. und erwachte stets, als die Kranke aufstehen wollte. Forel hielt den Eindruck der Patientin fest: „Die Kranke meint daher, die Wärterin sei verhext.“679 Die Hypnotisierungen des Wartpersonals sind im Kontext der Anstaltsordnung zu deuten.680 So hatten sie überwachenden und disziplinierenden Einfluss auf die Angestellten, besassen einen hohen Rationalisierungsfaktor und beeinflussten gemäss Forel die schwierigen Arbeitsbedingungen des Personals positiv. Überwachung und Disziplinierung standen wie bereits erwähnt im Zentrum von Forels Anstaltsordnung. Neben Wachsaal, Kontrollapparaten, Visitenordnung und Meldepf­licht fügten sich die „schlafenden Wachen“ in sein institutionelles Regime ein. Dank den hypnotisierten Wärterinnen schlossen sich letzte Lücken der Kontrolle, das Verhalten der 678 Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose (1898), S. 220. Inhelder führte selber Kontroll­ experimente durch, mit „unserem Dienstmädchen E. G., das sich dazu willig anerbot“ (ebd., S. 221). 679 Forel, Zur suggestiven Therapie (1890), S. 2; ders., Der Hypnotismus (1919), S. 101. 680 Vgl. dazu auch Bugmann, Überwachen und regulieren, S. 51 – 53.

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Angestellten war vorhersehbar und kontrolliert. Die „Überwachungseffizienz“ konnte dank den „verhexten“ Wärterinnen und Wärtern gesteigert werden.681 Gleichzeitig wurde durch den effizienten Personaleinsatz der ökonomische Aspekt hervorgehoben. Nach dem Nachtdienst konnten die Wärterinnen und Wärter direkt den Tagesdienst antreten, da die Regenerationsphase entfiel. Inhelder zitiert aus einer Krankengeschichte: „Wir sind mit dieser Art der Bewachung [einer suizidgefährdeten Patientin, M. B.], die nun seit vier Monaten dauert, ausserordent­lich zufrieden und fügen hinzu, dass die betreffende Wärterin diesen scheinbar überanstrengenden Dienst ohne jeg­lichen Nachtheil geleistet hat und sich demselben stets gerne unterzieht, indem sie auf die Suggestion hin vorzüg­lich schläft, trotzdem sie die Kranke im Schlaf genau überwacht.“682 Forel betonte, dass die Wärterinnen trotz fehlender Erholungsphase keine Beschwerden hatten: „Wärterinnen, die bis sechs Monate lang ununterbrochen diesen Dienst verrichteten und dabei den ganzen Tag fest arbeiteten, blieben ganz frisch und munter, wohl aussehend und zeigten keine Spur von Müdigkeit.“683 Daraus folgte, dass die Klinik weniger Arbeitskräfte bedürfe, „wenn die näm­lichen ohne Nachtheil im Tag- und Nachtdienst beschäftigt werden können“.684 Neben den anstaltstechnischen Argumenten begründete Forel die Hypnotisierung der Nachtwachen auch medizinisch. Da die Zahl des Wartpersonals nicht erhöht werden konnte, mussten die suizidgefährdeten Kranken bis zur Einführung der „schlafenden Wachen“ im Wachsaal übernachten. Dies war jedoch „in therapeutischer Hinsicht verwerf­lich, da die Patienten wegen der im Wachsaal stets herrschenden Unruhe in dem für sie so nothwendigen Schlaf beeinträchtigt werden“.685 Forel hielt bis zu seinem Abschied vom Burghölzli am Hypnose-Regime fest, wie er in jeder Auflage des Hypnotismus-Lehrbuches betonte: „Zehn Jahre lang führte ich diese Methode konsequent bei allen Wartpersonen der unruhigen Abteilungen durch, die es wollten (es waren fast alle), und seither sind die nervösen Erschöpfungen, Schlaflosigkeiten usw. aus jenem Personal so gut wie verschwunden, während die Überwachung der Kranken an Sicherheit bedeutend zugenommen hat.“686 Obwohl er die positiven Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen des Personals hervorhob, blieb die Fluktuation des Personals auch unter den Hypnose-Anwendungen durchgehend hoch. Dieser Umstand ist schwierig zu deuten, aber festhalten lässt sich, dass die Zufriedenheit des Personals auch mit der Einführung der Hypnotisierungen nicht stieg. 681 Forel betonte, dass die Sicherheit der Überwachung bedeutend zunehme (Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 101). 682 Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose (1898), S. 212. 683 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 101 f. 684 Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose (1898), S. 222. 685 Ebd., S. 222. 686 Forel Der Hypnotismus (1919), S. 101.

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Die „verhexten“ Wärterinnen und Wärter waren auch ausserhalb der Klinik ein Thema und wurden im zürcherischen Kantonsrat debattiert. Kantons- und Nationalrat Ludwig Forrer kritisierte, dass im Burghölzli „gegenwärtig eine ungebühr­liche Spezial­neigung für Abstinenz und Hypnotismus“ herrsche, wie die Neue Zürcher Zeitung schrieb: „Der urkund­liche Beweis, dass Angestellte als Medien benutzt werden, liegt nun aber trotz der Ableugnung durch Herrn Professor Forel in der Hand des Redners.“687 Diese Kritik liess Forel nicht auf sich sitzen und antwortete: „Ich habe nun die Suggestion als Heilmittel und in wissenschaft­licher Hinsicht studirt. Bei den von mir hypnotisirten Wartpersonen geschah dies fast durchweg, um sie von verschiedenen Leiden zu befreien (darunter auch von der durch den Lärm der tobenden Kranken verursachten Schlaflosigkeit und Nervosität) sowie um das Personal erschöpfende Nachtwachen zu ersetzen. Einige Wartpersonen, die sich dazu bereit erklärten, […] habe ich allerdings auch zu didaktischen Zwecken demonstrirt.“ 688 Eine weitergehende Kontroverse blieb in der Folge aus. Im Hannoverschen ­Courier erschien 1898 ebenfalls ein Bericht über die hypnotisierten Nachtwachen, der vor allem Inhelder und Forel selber zitierte und die Praxis nicht infrage stellte.689 Trotz dieser Schützenhilfe finden sich keinerlei Hinweise, dass andere Hypnoseärzte die Methode Forels aufgenommen hätten.

6.5 Weib­liche Körper unter Kontrolle Bei der Hypnotisierung des Wartpersonals verfolgte Forel wie beschrieben verschiedene Ziele. Er konnte relativ uneingeschränkt experimentieren, mittels Hypnose gesundheit­ liche Beschwerden kurieren und mit den „schlafenden Wachen“ die Effizienz der Überwachung und Nutzung des Personals steigern. Die geeigneten Wärterinnen und Wärter wurden wiederholt hypnotisiert und traten in Forels Vorlesungen und Publikationen als Paradefälle in Erscheinung. Dass sich 1888 88% der Wärterinnen hypnotisieren liessen, zeigt, dass der Spielraum äusserst beschränkt war, sich dem Direktor zu widersetzen. Allerdings ist es quellentechnisch schwierig, Widerstandsstrategien festzumachen. Neben Molls Hinweis auf eine unwillige Wärterin erzählte Forel weiter von einer Wärterin, die wegen Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit Urlaub verlangte 687 Verhandlungen des zürcherischen Kantonsrathes, Neue Zürcher Zeitung, 12. Januar 1892, S. 1. Forel fand auch Unterstützung im Kantonsrat. Oberst Bleuler-Hüni, Mitglied der Aufsichtskommission des Burghölzli, betonte, dass der Hypnotismus als „medizinische Wissen­ schaft betrieben“ werde, der kritisierende Kantonsrat Forrer sei allgemein ein Gegner des Hypnotismus (ebd.). 688 August Forel, Erklärung, Neue Zürcher Zeitung, 4. Feb. 1892, S. 2. 689 Hypnotisirte Krankenwärter, in: Hannoverscher Courier, 23. Mai 1898 (MHIZ PN 31.3:4).

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und widerstrebend seinen Hypnoseversuchen nachgab.690 Die Handlungsmög­lichkeiten des Wartpersonals waren entsprechend der grossen sozialen Hierarchie sehr eingeschränkt.691 Die Erwartungshaltung des Direktors war bekannt, gleichzeitig standen die „schlafenden Wachen“ unter grossem Druck, in der Überwachung der suizidgefährdeten Patientinnen und Patienten nicht zu versagen. Falls diese sich unter ihren Auspizien das Leben nahmen, hatte dies Konsequenzen für die Angestellten: Entlassung und eventuell strafrecht­liche Verfolgung wurden angedroht.692 Dies schränkte ein Abweichen von Forels Handlungsskript beträcht­lich ein. Forel respektierte bei den Wärterinnen noch weniger als bei den Patientinnen und Patienten die „Territorien des Selbst“693, wie die Brandexperimente zeigen, die von einer massiven Verletzung der Integrität der Wärterin zeugen. In Forels Logik waren diese Versuche nach der vierten Hypnose-Regel seines Lehrers Bernheim gerechtfertigt, die besagte, dass Personen neben therapeutischen auch zu juristischen, wissenschaft­ lichen oder didaktischen Zwecken hypnotisiert werden dürften.694 Auffallend ist der grosse Geschlechterunterschied, der sich in der Hypnoseanwendung beim Personal zeigt. Der Anteil hypnotisierter Wärterinnen ist aufgrund der Auswertung von Forels Angaben markant höher, von hypnotisierten Wärtern schreibt er kaum.695 Auch von Inhelders 19 Interviewpartnerinnen und -partnern waren 14 Wärterinnen.696 Interessanterweise ist dagegen der Männeranteil bei den hypnotisierten Patientinnen und Patienten des Samples fast doppelt so hoch wie jener der Frauen, und Forel betonte wiederholt, dass Männer und Frauen gleich gut durch Suggestion 690 Vgl. Forel, Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) (1888), S. 5 f. Der Urlaub wurde nicht gewährt, die Wärterin war dank Hypnose wenige Tage später „völlig normal“ und konnte ihren Dienst wieder wie gewohnt verrichten. 691 Vgl. zum Zusammenhang von Schicht und Agency resp. Geschlecht und Agency Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 192 – 195. 692 Zusätze und Erläuterungen (1880), S. 11 f. 693 Der Begriff „Territorien des Selbst“ geht auf Erving Goffman zurück (vgl. Nolte, Gelebte Hysterie, S. 66). 694 Die dritte Regel Bernheims, dass niemand gegen seinen vorher ausgesprochenen Willen hypno­ tisiert werden durfte, blendete er dagegen aus. Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 196. 695 Forel, Zu den Gefahren und dem Nutzen des Hypnotismus (1889), S. 9. Im Artikel Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) von 1888 sind von 13 beschriebenen Fällen acht Wärterinnen. Im Artikel Zur suggestiven Therapie beschreibt er die Fälle aus der Vorlesung vom Wintersemester 1889/90. Dort finden sich sechs Wärterinnen und drei Wärter (vgl. Forel, Zur suggestiven Therapie, 1890). Auch im Lehrbuch tauchen Wärterinnen wiederholt bei den Fallbeispielen auf (z. B. Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 105, S. 128 f., S. 136). 696 Inhelder, Ueber die Bedeutung der Hypnose (1898), S. 202. Anders sieht es bei Bauer aus, der die in der Vorlesung des Sommersemesters 1896 hypnotisierten Fälle bespricht. Dort finden sich drei Wärterinnen, zwei Dienstmädchen, vier Wärter und der Anstaltsportier (Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik, 1897).

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Die ferngesteuerte Klinik

zu beeinflussen seien.697 Die Frage bleibt, wie dieser Befund interpretiert werden kann. Einzelne besonders geeignete Wärterinnen kursieren in verschiedenen Publikationen und nehmen dadurch viel Raum ein. Daneben kann die tiefere Fluktuation auf Wärterinnenseite ein Grund sein: Die konstante, vertrauensvolle Beziehung zu Forel stützte den Erfolg der Hypnotisierungen.698 Vielleicht war der Bedarf an „schlafenden Wachen“ bei den Patientinnen tatsäch­lich höher als bei den Patienten. In den Rechenschaftsberichten des Burghölzli finden sich konstant Klagen über die überbelegten unruhigen Frauenabteilungen, wo die Nachtwärterinnen mittels Hypnose doch noch zu Schlaf kommen sollten.699 Zusätz­lich war der Frauenanteil bei den manisch-depressiven Erkrankungen fast doppelt so hoch wie jener der Männer und deshalb der Bedarf an „schlafenden Wachen“ bei suizidgefährdeten Patientinnen erhöht.700 Gleichzeitig war ein bevorzugter Anwendungsbereich der Hypnotisierungen, der sich in den Diagnosen der Krankengeschichten nicht niederschlägt, sich aber in den Texten Forels geradezu als Paradebeispiel entpuppt, per definitionem an das weib­ liche Geschlecht gebunden – die Menstruationsbeschwerden.701 So versuchte Forel öfter, die Menstruationen der Wärterinnen mittels Hypnose unter seine Kontrolle zu bringen. Bei seiner bevorzugten Hypnose-Kandidatin, der Wärterin H., trieb er die Versuche auf die Spitze.702 Ihre „profusen und langdauernden“ Menses sollten hinsicht­lich Beschwerden, Dauer und Blutmenge reguliert werden. Beim dritten Mal gelang alles nach Wunsch, was er auch von der Oberwärterin „genau de visu“ kontrol­ lieren liess. Über diese Regulierungsversuche war er begeistert: „[Der] Erfolg war so klar und eklatant, dass an der Thatsache, dass durch Suggestion sowohl der Eintritt als das Aufhören und die Intensität der Menses wesent­lich beeinflusst werden könne, absolut nicht mehr gezweifelt werden kann.“703 697 Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 5 f. Vgl. dazu Kap. 7. 698 Bei den Wärtern war die Fluktuation mit einer Ausnahme bedeutend höher als bei den Wärterinnen (vgl. Rechenschaftsberichte, Rubrik Personalnachrichten). Im Jahr 1895 traten beispielsweise 31 Wärter und 19 Wärterinnen aus (Rechenschaftsbericht 1895, S. 11). 699 Vgl. zu unterschied­licher Belegung der unruhigen Abteilungen bzw. geschlecht­lichen Doppelstandards in der Psychiatrie Meier, Psychochirurgie, S. 266 – 268; Braslow, Mental Ills and Bodily Cures, S. 158 – 160. 700 In meinem Sample der Jahre 1888, 1892 und 1895 litten von total 246 Patientinnen und 335 Patienten 32 Frauen und zwölf Männer an reaktiven Psychosen, v. a. manisch-depressiven Krankheiten. Auch bei der Stichprobe der Zwangsmassnahmen-Studie überwog der Anteil der Frauen bei diesen Krankheiten um gut die Hälfte (Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 73). 701 Vgl. Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 10 f.; ders., Zur Hypnose als Heilmittel, Separatabdruck aus der Münchener Medicinischen Wochenschrift 8 (1894), S. 4. 702 Vgl. Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 10 f. 703 Forel, Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) (1888), S. 9.

Weib­liche Körper unter Kontrolle

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In Forels Machtübernahme über die Blutflüsse seiner Wärterinnen zeigte sich seine Kontrollfantasie der ferngesteuerten Klinik. Aber auch die Körpersäfte der Wärter, die den Klinikbetrieb stören konnten, fielen in seinen Kompetenzbereich. So wurden beispielsweise bei einem Wärter dessen zu häufige nächt­liche Samenergüsse reguliert, wie Forel zufrieden festhielt: „Pollutionen erfolgen nur ca. alle zwei Monate.“704 Die „schlafenden Wachen“ fungierten als verlängerte Arme respektive das externalisierte Gehirn Forels. Wie Mayer schreibt, habe Forel am radikalsten ein Modell sozialer Autorität installiert, das innerhalb der Technik des Hypnotismus angelegt war.705 Seinen Traum einer lenk- und gestaltbaren Gesellschaft versuchte Forel im Mikrokosmos des Burghölzli umzusetzen.

704 Forel, Zur suggestiven Therapie (1890), S. 2. 705 Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 129.

7. Professor Forels therapeutische Hypnosen Zurückgekehrt vom Besuch Bernheims im März 1887, wandte Forel die neu erworbene Kunst bei Patientinnen und Patienten sowie beim Personal des Burghölzli ausgiebig an.706 Besonders geeignet schien ihm die Hypnotismustherapie bei nervösen Funktionsstörungen. Doch er propagierte den Hypnotismus auch bei Alkoholismus und zur Anästhesie bei kleineren Operationen, bei Menstruations- und Verdauungsbeschwerden, „hyste­ rischen Störungen“, bei Krankheiten im Sexualbereich und „schlechten Gewohnheiten aller Art“.707 Für diese Diagnosen sah er in der suggestiven Therapie „die einfachste, die ungefähr­lichste und die rationellste“ Methode.708 Bei andern Krankheiten verwendete er die Suggestion zur Symptombekämpfung. In der Gutachtensammlung über den Hypnotismus, die Grossmann 1894 publizierte, bewertete Forel die Hypnosetherapie durchwegs positiv: „[I]ch [habe] in der grössten Zahl der Fälle obiger Art überraschend günstige, sehr prompte und anhaltende Erfolge erzielt […], welche diejenigen der von mir früher angewendeten üb­lichen Heilmethoden weit hinter sich lassen.“709

7.1 Der Hypnotismus als psychiatrische Behandlungstechnik Neu vertraut mit dem therapeutischen Hypnotismus war Forel optimistisch, was dessen Anwendungsmög­lichkeit in der psychiatrischen Klinik betraf. So stellte er 1887 fest: „[D]er Hypnotismus ist durchaus nicht erfolglos bei manchen Geisteskrankheiten.“710 Allerdings schränkte er die therapeutischen Erfolgsaussichten im Jahresbericht von 1887 bereits stark ein. Zwar zeigten sich die Geisteskranken hypnotisierbar, doch der therapeutische Erfolg sei stark hinter den Erwartungen zurückgeblieben: „Das einzige, was in manchen Fällen zu erreichen war, waren der Schlaf, der Appetit, die Arbeitsamkeit.“711 Zwei Jahre später betonte er in der ersten Ausgabe von Der Hypno­ tismus, dass „der Director einer Irrenanstalt das denkbarst ungünstigste Feld für die hypnotische Therapie“ habe.712 Seiner Ansicht nach waren geisteskranke Menschen 706 Auch familienintern propagierte er die Hypnosetherapie. So leitete er seine Schwester G ­ abrielle an, die vom Burghölzli nach Vaux zurückgekehrte Mutter zu hypnotisieren (vgl. den Brief Forels an Gabrielle, 22. Februar 1888, in: Walser, August Forel, S. 119 f.). 707 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 200. 708 Forel, Gutachten (1894), S. 51. 709 Ebd, S. 51. 710 Forel, Einige therapeutische Versuche (1887), S. 7. 711 Rechenschaftsbericht 1887, S. 6. 712 Forel, Der Hypnotismus (1889), S. 67.

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Professor Forels therapeutische Hypnosen

nur wenig suggestibel.713 In der Klinik waren viele Kranke untergebracht, die nach Forels Meinung nur schwer­lich durch Hypnotismus therapierbar waren. Wie bereits erwähnt, litten rund 40% der Patientinnen und Patienten an Krankheiten aus dem schizophrenen Formenkreis, und um die 20% erhielten Diagnosen aus dem Bereich organische Psychosen und Geistesschwächen. Diese Patientinnen und Patienten waren gemäss Forel nur in den seltensten Fällen hypnotisierbar, „weil bei ihnen das Instrument der Suggestions-Therapie, das Gehirn, krank und unzugäng­lich ist“.714 Bei verwirrten und sehr aufgeregten Geisteskranken habe er den „fast aussichtslosen Versuch“ des Hypnotismus gar nicht gemacht.715 Für seine Hypnotismusanwendung wirkte zusätz­lich erschwerend, dass er neben seinem Amt keine ärzt­liche Privatpraxis betreiben durfte, wo er zur Hypnosetherapie geeignete Kranke hätte empfangen können.716 Dass er schon im Wintersemester 1887/88 eine Vorlesung zur Hypnosetherapie mit Demonstrationen einführte, hing neben der Lehraufgabe damit zusammen, dass er auf diese Weise Patientinnen und Patienten ambulant behandeln konnte. Die von Forel genannte hohe Anzahl Hypnotisierter kam deshalb zustande, weil er in der Vorlesung pro Semester etwa 50 bis 70 Personen behandeln konnte, die teilweise extra dafür aus der Stadt anreisten. In der Forschung wird davon ausgegangen, dass in den öffent­lichen psychiatrischen Anstalten Hypnose nur bei wenigen Patientinnen und Patienten angewandt wurde.717 Aufgrund von Forels schwieriger Ausgangslage, die er immer wieder thematisierte, könnte man das Gleiche für das Burghölzli erwarten. Dies steht jedoch in eklatanter Diskrepanz zu Forels Aussage, dass er „massenhaft“ Personen hypnotisiert habe.718 Die Durchsicht der Krankenakten von neu eingetretenen Patientinnen und Patienten relativiert diese Aussage zwar, zeigt jedoch auch, dass der Hypnoseeinsatz kein therapeutisches Mauerblümchendasein fristete. Viele Patienten und etwas weniger Patientinnen kamen in den Genuss der neuen Therapie im Burghölzli. Wenn die Suggestionsmethode nicht ausreichte, griff Forel zu weiteren Beeinflussungsmitteln. Wie er im Gutachten an Grossmann 1894 festhielt, sei die Verbalsuggestion „mit der Anwendung suggestiv wirkender Heilmittel (Electricität, 7 13 714 715 716

Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 176. Forel, Gutachten (1894), S. 51. Forel, Einige therapeutische Versuche (1887), S. 3. Gesetz betreffend die kantonalen Kranken- und Versorgungsanstalten (vom 29. Wintermonat 1874), in: Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich, Zürich 1876, S. 47 f. (§ 10), StAZH ZH 210:18. 717 Meier/Bernet, Grenzen der Selbstgestaltung, S. 39; Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 42 – 44. 18 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 133; ders., Der Hypnotismus (1888), S. 4; ders., 7 Gutachten (1894), S. 53.

Der Hypnotismus als psychiatrische Behandlungstechnik

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Abb 15 Vorlesungsmanuskript von August Forel zu seiner Vorlesung „Hypnotismus und suggestive Therapie“ (MHIZ PN 31.1:19.3 und PN 31.1:21.8).

Applicationen diverser Mittel in loco dolente, Badekuren etc.) zu verbinden“.719 Die suggestiven Heilmittel setzte er verschiedent­lich ein, so zum Beispiel beim 41-jährigen Arzt Jakob D., der zum Morphiumentzug ins Burghölzli eingetreten war. Er hatte bereits eine Klinik-Odyssee hinter sich; Aufenthalte in Bendorf, St. Urban und in der Klinik Bellevue bei Robert Binswanger hatten ihn nicht von seiner Sucht befreien können. Der Hausarzt von Jakob D. fragte Forel an, ob er ihn zur Entziehungskur aufnehmen könne, und hielt in seinem Begleitschreiben fest, dass die Abhängigkeit des Patienten dramatisch sei: „Pat. hat nun gestanden täg­lich vier grammes Morphium in c. 120 Einspritzungen zu sich zu nehmen!“720 Nach der sukzessiven Absetzung des Morphiums wurden dem unwissenden Patienten während dreier Wochen „Pseudoinjectionen“ mit Wasser verabreicht. Anscheinend mit Erfolg, da sich der Patient retrospektiv über die Wasserspritzen erstaunt zeigte und die Entzugserscheinungen bereits überstanden hatte. Am 31. Mai 1889 verliess er mit dem ärzt­lichen Entlassungsstatus „geheilt“ versehen das Burghölzli.721 7 19 Forel, Gutachten (1894), S. 51. 720 StAZH Z 100, KA-Nr. 4790, Brief vom 28. Juli 1887. 721 Jakob D. wurde nach elf Jahren rückfällig. Sein Arzt bat Eugen Bleuler im März 1904 um erneute Aufnahme: „17 Anstalten beherbergten ihn und keine brachte Heilung. Erst der Persön­ lichkeit und der ärzt­lichen Kunst Forel’s gelang es, den Patienten im Burghölzli zu heilen. 11 Jahre lang hat die Heilung angedauert, dann kam letztes Jahr ein Rückfall. […] Sein Freund

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Einem melancholischen Patienten, der sich vor der Hypnotisierung ängstigte, wurde ein „Suggestivpulver“ gegen die Schlafprobleme und die Angstzustände verabreicht, ein anderer Patient erhielt jeweils ein Glas „magnetisches Wasser“ als Einschlafhilfe, und bei einem älteren Alkoholiker wurde gegen das chronische Kopfweh suggestive Elektrotherapie angewandt.722 Allerdings schien die Suggestivkraft in diesem Fall nicht zu wirken. Der Patient wurde fast täg­lich „elektrisiert“, wurde jedoch zusehends unzufriedener und „schimpfte, es sei eine Schande, einem nicht einmal in 5 Wochen das Kopfweh wegbringen zu können“. Die Krankengeschichte hält weiter fest, dass er seit einigen Tagen eine steigende Dosis Bromkali bekomme.723 Nach dem suggestiven Misserfolg wurde folg­lich auf konventionelle Medikation zurückgegriffen. Bei allen Schwierigkeiten stellte sich die Frage, bei wem die Hypnosetherapie besonders gut wirkte. Forel und die andern Anhänger von Bernheims Suggestionsmethode bedienten sich einer gebieterischen, befehlenden Suggestion, die „am besten bei Personen [wirkte], die im Leben eine untergeordnete Stellung innehatten und an Gehorsam gewöhnt waren […], oder bei Menschen, deren Willenskraft schwach war, oder die eifrig bestrebt waren, ihren Willen dem des Hypnotiseurs zu unterwerfen“.724 Bernheim selber hielt fest, dass nicht nur „neuropathische Personen, Schwachköpfe und Hysterische“ oder „nur Frauen“ hypnotisierbar seien. Er habe extra Männer ausgesucht, um diese Behauptungen der Schule Charcots zu widerlegen, und kam zum Schluss, dass „Leute aus dem Volke, alte Militärs, Handwerker, kurz Leute mit gefügigen Gehirnen, die an passiven Gehorsam gewöhnt sind, die Suggestion besser aufnehmen als Köpfe mit selbständigen und reichen Gedankengängen, welche häufig selbst unabsicht­lich der Hypnose einen gewissen moralischen Widerstand leisten“.725 Auch Moll schlug in die gleiche Kerbe und behauptete, dass eine gewisse Passivität günstig wirke und deshalb Soldaten „im allgemeinen eine gute Disposition zur Hypnose besitzen. […] Hingegen sind die, die in keiner Weise ihre Aufmerksamkeit konzentrieren können und fortwährend zerstreut sind, kaum zu hypnotisieren.“ Dagegen sei es „ein Irrtum anzunehmen, dass das Weib geeigneter sei als der Mann“.726 Der holländische Hypnosearzt Frederik van Eeden war überzeugt, dass Hypnose und Suggestion nur bei Patienten aus der Unterschicht wirke: „Sie [die gebildeten Leute] und Arzt Dr. O. und ich haben der Familie und dem Patienten geraten, er möchte den Ort wieder aufsuchen, an dem er eine so lange dauernde Heilung gefunden hat […]“ (StAZH Z 100, KA-Nr. 4790, Brief vom 29. März 1904). 722 StAZH Z 100, KA-Nr. 5695, 6388 und 6371. 723 StAZH Z 100, KA-Nr. 6371, Eintrag vom 3. März 1896. 724 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 221. 725 Bernheim, Die Suggestion (1888), S. 6. 726 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 51 f.

Der Hypnotismus als psychiatrische Behandlungstechnik

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wollen nicht kommandirt sein.“727 Die Befehle schienen am besten zu funktionieren, wenn eine grosse soziale Distanz zwischen Arzt und Patient oder Patientin bestand. Auch Forel war der Meinung, dass „die geistig Gesunden mit gesundem Schlaf, die einfachen Leute aus dem Volke […] unbedingt am leichtesten zu hypnotisiren und durch Suggestion zu beeinflussen [sind], und zwar Männer so gut als Frauen“.728 Er betonte, dass ungebildete Menschen leicht hypnotisiert werden könnten – „ohne dass sie immer merken, was man eigent­lich vorhat“.729 Als typisch könnte man die von Forel für die Hypnosevorlesung ausgewählten Fälle annehmen. Dort wollte er die funktionierende Anwendung demonstrieren und wählte deshalb geeignete Versuchspersonen aus. Anhand der Publikation von Volontärarzt Carl Bauer lässt sich die Veranstaltung des Sommersemesters 1896 genauer verfolgen.730 In jenem Semester hypnotisierte Forel 55 Personen vor dem Auditorium, rund die Hälfte davon waren Frauen. Wie jedes Semester waren auch mehrere Angestellte des Burghölzli dabei, die andern 46 Personen waren Patientinnen und Patienten des Burghölzli und ambulant Behandelte.731 Die soziale Distanz wurde also auch bei den im Auditorium Hypnotisierten spürbar. Forel liess sich jedoch von hierarchisch ähn­lich gestellten Patienten nicht aus dem Konzept bringen und hypnotisierte auch die gebildete und sozial besser gestellte Klientel. Die veränderte Beziehungskonstellation berücksichtigte er bei der Hypnosetechnik und wandte eine etwas andere Technik an, um die Patienten mit dem Befehlston nicht gegen sich aufzubringen. Man müsse ihnen mehr erklären, führte er im Lehrbuch aus und gab der Leserschaft die entsprechenden Aussagen weiter: „Ich spreche nicht zu Ihrem bewussten Ich […] sondern zu Ihrem Unterbewussten […] Kümmern Sie sich daher nicht um das, was ich sage, und diskutieren Sie es nicht.“732 Die Patientin und der Patient mussten gehorchen und sich psychisch 727 Eeden, Die Grundzüge der Psychotherapie (1893), S. 62. Eeden folgerte, dass man für gebildete Menschen eine andere psychotherapeutische Methode finden müsse. Es müsse eine nicht autoritäre Methode sein, welche die persön­liche Freiheit unberührt lasse (vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 448). 728 Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 5 f. 729 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 80 f. 730 Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik (1897). 731 Im Wintersemester 1889/90 war der Anteil des Wartpersonals noch grösser. Von den 30 Fällen waren sechs Wärterinnen und drei Wärter (Forel, Zur suggestiven Therapie, 1890). Die in der Vorlesung Hypnotisierten, die nicht dem Personal angehörten, entstammten allen sozialen Schichten. So waren Dienstmädchen, eine Schneiderin, ein Schlosser und ein Älpler dabei, weiter ein Techniker und ein Mathematiker, aber auch ein „sehr gebildeter Kaufmann“ und eine „junge Dame aus gutem Stande“ (Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik, 1897). 732 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 191. Lachmund thematisiert diesen Aspekt der Arzt-Patienten-Beziehung als Teil des Kooperationsproblems. Dazu gehörte, dass der Arzt beispielsweise

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passiv der Willenseinwirkung des Hypnotiseurs hingeben, damit die Hypnotisierung gelang. Auf den ersten Blick könnte man folgern, dass Gehorsam und Passivität als typisch weib­liche Geschlechtsmerkmale auf eine bevorzugte Hypnotisierung von Patientinnen hinweisen würden.733 In eine andere Richtung deuten die Äusserungen Forels, dass Frauen und Männer gleich gut zu hypnotisieren seien, und deren Vertretung in der Hypnosevorlesung. Zum Verhältnis Hypnosetherapie und Geschlecht respektive Schicht könnte man aufgrund dieser Aussagen erwarten, dass Frauen und Männer gleich häufig und die unteren Schichten im Vergleich zu den oberen häufiger hypnotisiert wurden.

7.2 Diagnose, Geschlecht, Klasse Die Frage war, ob sich diese Mutmassungen in der Auswertung der Krankenakten bestätigen liessen. Von den in den Jahren 1888, 1892 und 1895 581 neu eingetretenen Patientinnen und Patienten wurden 63 nachweis­lich der Hypnosetherapie unterzogen, was einem Anteil von 11% entspricht. Der Anteil schwankte leicht über die Jahre. Im Jahr 1888 wurden 15,5% der Neueintretenden der Hypnose unterzogen (32 von total 206 Pat.), im Jahr 1892 waren es noch 8% (16 von total 201 Pat.), und 1895 lag der Anteil bei 8,6% (15 von total 174 Pat.). Unerwartet ist die Verteilung nach Geschlechtern. Der Männeranteil betrug 65% (41 Patienten) gegenüber einem Frauenanteil von 35% (22 Patientinnen). Verg­lichen mit dem Sample von 581 Patien­ tinnen und Patienten, bei dem der Männeranteil 58% ausmachte, ist dieser Anteil überproportional.734 Ebenfalls wurde die Korrelation von Hypnosetherapie und Schichtzugehörigkeit der Patientinnen und Patienten untersucht. Von den Hypnosepatientinnen und -patienten sind demnach 44% zur Unterschicht, 32% zur Mittelschicht und 24% zur Oberschicht zu rechnen.735 Von allen Patienten gehörten etwa 50% der Unterschicht den Redefluss des Patienten unterbrechen und gleichzeitig dessen sozialen Status berücksichtigen musste (Lachmund, Der abgehorchte Körper, S. 41 f. und S. 96 f.). 733 Vgl. auch Meier und Bernet, Grenzen der Selbstgestaltung, S. 40. 7 34 Bei den Neueintritten der drei untersuchten Jahrgänge standen 335 Patienten 246 Patientinnen gegenüber. Anders sah der Geschlechteranteil beim jeweils am Ende des Jahres erfassten Patien­ tenbestand aus, wo während Forels Amtszeit von 1879 bis 1898 der Frauenanteil durchwegs höher war. Untypisch war das Jahr 1893, wo Ende Jahr 184 Männer und 183 Frauen untergebracht waren. Daraus lässt sich schliessen, dass die Männer zwar häufiger eintraten, sich aber kürzer im Burghölzli aufhielten. 735 Bezogen auf die institutionellen Verpflegungsklassen, wurden aus der ersten Klasse 14 Männer und drei Frauen hypnotisiert (total 17; entspricht 27%), aus der zweiten Klasse sieben Frauen und acht Männer (total 15, entspricht 24%) und aus der dritten Klasse zwölf Frauen und 19

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an, diese wurden folg­lich leicht unterproportional hypnotisiert.736 Das gilt auch für die Mittelschichtangehörigen. Sie machten 40% des Gesamtbestands aus, waren bei den Hypnosepatienten jedoch nur mit 32% vertreten. Ganz anders präsentiert sich die Situation bei den Oberschichtangehörigen. Einem Gesamtpatientenanteil von 10% standen 24% bei den Hypnosepatientinnen und -patienten gegenüber. Zusammenfassend kann gesagt werden: Es wurden mehr Männer hypnotisiert, und es wurden proportional mehr Angehörige der Oberschicht hypnotisiert. Dieser Befund weckt Interpretationsbedarf, da er den Aussagen in den Texten Forels und anderer Hypnose­ärzte widerspricht. Die Bedeutung der sozialen Distanz für die erfolgreiche Hypnotisierung wird durch diesen Befund infrage gestellt.737 Gleichzeitig stützen meine Ergebnisse die Resultate der Studie zu den Zwangsmassnahmen in der Z ­ ürcher Psychiatrie insofern, als die Wahrschein­lichkeit für therapeutische Massnahmen bei den Angehörigen der oberen Schichten grösser war als bei denjenigen der Unterschicht.738 Im Anschluss an die nun folgende Auswertung zum Zusammenhang von Diagnosen und Hypnosetherapie werde ich diese Befunde auch unter Einbezug der diagnostischen Kategorien ausführ­licher erläutern. Der Einsatz der Hypnosetherapie hing hauptsächlich von den Diagnosen ab. Es ist nun interessant zu sehen, bei welchen Patientinnen und Patienten Forel im Burghölzli die neu erlernte Therapie einsetzte, trotz der Einschränkungen, die er immer wieder betreffend Kompatibilität von Hypnotismus und Geisteskranken machte. Basierend Männer (total 31, entspricht 49%). Diese Anteile weichen leicht von der Schichtzugehörigkeit ab. Zum Beispiel wurden 44% der Hypnosepatienten der Unterschicht zugezählt, aber die Dritte-Klasse-Patienten machten 49% der Hypnosepatienten aus. Das heisst, dass in der dritten Klasse auch Patientinnen und Patienten der Mittelschicht untergebracht waren. 736 In meinem Sample liess sich die Schichtzugehörigkeit in 169 von 581 Fällen nicht beurteilen. Ich stütze mich für den gesamten Patientenbestand auf die Angaben von Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 64 f. Diese gehen von 50% Unterschicht-, 40% Mittelschicht- und 10% Oberschichtangehörigen aus. Gemäss der Zuteilung der Berufe zu Sektoren war bei den Hypnosepatienten der dritte Sektor (Handel, Dienstleistungen) mit 48% im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (15,8%) stark übervertreten (vgl. Ritzmann, Historische Statistik der Schweiz, S. 396). 17% der Hypnosepatienten waren im ersten Sektor (Landwirtschaft) tätig (im Vergleich zu 42,4% der Gesamtbevölkerung), 29% der Hypnosepatienten waren im zweiten Sektor (Industrie und Handwerk) tätig (im Vergleich zu 41,8% der Gesamtbevölkerung). Bei den Patientinnen ist die prozentuale Berechnung schwierig, da acht von 22 nicht einteilbar waren (sechs Hausfrauen resp. eine ohne Beruf, eine hatte die Lehre abgebrochen). 7 37 Dies entspricht dem Fazit der Studie zu den Zürcher Zwangsmassnahmen. Die Vermutung, „dass bei der Erstellung von Diagnosen und der Verschreibung von Therapien die soziale Distanz zwischen Arzt und Patient eine wichtige Rolle gespielt habe, [erweist sich] als nicht zutreffend“. Tanner, Ordnungsstörungen, S. 289. 7 38 Vgl. Meier, Zwang und Autonomie, S. 79.

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auf der Auswertung der Neuzugänge der drei ausgewählten Jahrgänge, präsentiert sich die Situation wie folgt. Angehörige der Kategorien organische Psychosen und angeborene Geistesschwächen wurden nicht hypnotisiert.739 Nach Forels Ansicht konnten die Paralytiker und die Demenzkranken die Suggestionen gar nicht fassen: „Das Gewebe eines senilen oder progressiv paralytischen Gehirnes ist überall krank.“740 An erster Stelle der Diagnosen bei den Hypnosepatientinnen und -patienten steht die Gruppe Genussmittelmissbrauch und Folgen. 42,8% der hypnotisierten Patientinnen und Patienten waren mit einer Diagnose aus diesem Bereich bedacht worden.741 Herausragend ist vor allem der Anteil bei den Männern, da von den 41 hypnotisierten Patienten 21 Alkoholiker und fünf morphiumsüchtig waren. Bei den Patientinnen präsentiert sich die Situation etwas anders. Es traten in den drei untersuchten Jahren nur 14 Alkoholikerinnen ins Burghölzli ein, aber im Vergleich zu ihren männ­lichen Leidensgenossen wurden sie auch viel weniger hypnotisiert: Nur eine Alkoholikerin wurde nachweis­lich hypnotisiert. An zweiter Stelle der Hypnosediagnosen steht die Gruppe der Neurosen, der Hysterikerinnen, Neurastheniker und Hypochonder zugerechnet wurden. Von den 27 Neueintritten in diesem Feld wurden 14 hypnotisiert, was einem Anteil von 22,2% der Hypnosefälle entspricht. Im Bereich der Neurosen waren die Frauen eher übervertreten, und so entsprach auch ihr Anteil bei den Hypnotisierungen drei Vierteln (neun von zwölf ). Hauptsäch­lich betraf dies Fälle von Hysterie.742 Die Gruppe der manisch-depressiven Krankheiten bildet mit 14,3% die dritthäufigste Diagnosekategorie der Hypnosepatientinnen und -patienten.743 In diesem Bereich wurden sechs Frauen und drei Männer hypnotisiert. Dieser höhere Frauenanteil entspricht auch dem allgemeinen Anteil der Patientinnen bei den reaktiven Psychosen, die vor allem die manisch-depressiven Erkrankungen ausmachen. Allerdings schränkte 739 Vgl. zur Diagnoseneinteilung Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 309 – 311. Allerdings führe ich im Unterschied zu deren Einteilung die Epilepsie nicht innerhalb der Gruppe der angeborenen Geistesschwächen auf, sondern separat, da unter den Hypnosepatientinnen und -patienten vier Epileptiker waren, im Gegensatz zu den Patientinnen und Patienten mit angeborener Geistesschwäche, die alle nicht hypnotisiert wurden. 740 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 186. 741 Oberschicht: vier Alkoholiker, vier Morphiumabhängige; Mittelschicht: sechs Alkoholiker; Unterschicht: zwölf Alkoholiker, ein Morphiumabhängiger. 742 Es waren ein Hypochonder, ein Hysteriker, ein Neurastheniker, sechs Hysterikerinnen, zwei Frauen, die an hysterischem Irresein litten, eine Frau, die an einer hysterischen Psychose litt, und zwei Fälle von Hysteroepilepsie (ein Mann und eine Frau). 743 Hypnotisiert wurden drei Melancholiker, drei Melancholikerinnen, eine Frau, leidend an puerperaler Melancholie, eine Frau mit hysterischer Melancholie und eine Patientin, die wegen eines Suizidversuches eingeliefert worden war. In meinem Sample waren von total 44 Fällen manisch-depressiver Erkrankungen 32 Frauen und zwölf Männer.

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Forel die Einsatzmög­lichkeit des Hypnotismus bei melancholischen Erkrankungen ein. Wenn diese richtig ausgebrochen seien, würde die Hypnose nur selten und nur vorübergehend beruhigend wirken, war er überzeugt.744 Aus dem schizophrenen Formenkreis, der den Hauptanteil von 40% bei den Patien­tinnen und Patienten ausmachte, wurden nur wenige hypnotisiert. Die fünf Fälle entsprechen einem Anteil von 7,9% der Hypnosepatientinnen und -patienten.745 Wie Forel in seinem Lehrbuch festhielt, betrachtete er die Hypnosetherapie bei Kranken, die an Wahnideen und Verfolgungswahn litten, als „sinnlose[n], eventuell sogar schäd­liche[n] Versuch“.746 Mit der Diagnose Epilepsie wurden drei Patienten und eine Patientin hypnotisiert, was 6,4% entspricht. Auch bei dieser Diagnosegruppe war er der Anwendung des Hypnotismus gegenüber kritisch eingestellt. Wetterstrands Sugges­tionserfolge bei Epilepsie zweifelte er an und meinte, es hätte sich wohl eher um Hysterie gehandelt.747 Der Londoner Hypnosearzt Charles Lloyd Tuckey wiederum teilte Forels Skepsis und stellte fest, dass er bei „wirk­licher Epilepsie“ nie Heilung erzielt habe, sondern nur Linderung der Symptome.748 Aus dem Bereich der „mora­ lischen Qualifikationen“ schliess­lich wurden zwei Patienten hypnotisiert, was einem Anteil von 3,2% der Hypnosepatientinnen und -patienten entspricht. Die genaueren Diagnosen in diesem Bereich waren Onanie und „perverser Sexualtrieb“.749 Die sechs Patientinnen mit Diagnosen in diesem Bereich wurden nicht hypnotisiert. 7 44 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 185 f. Vgl. Jong, Die Suggestibilität bei Melancholie (1893). 745 Bei meiner Einteilung gehören drei Patientinnen und zwei Patienten mit den Diagnosen Blödsinn, Paranoia und Wahnsinn dazu. 746 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 186. Allerdings konnte das Verhalten durch Suggestion gebessert werden (vgl. Forel, Durch Spiritismus erkrankt, 1894, S. 235 f.). Schwierig war die Hypnotisierung Paranoiakranker auch deshalb, weil die Inhalte ihrer Wahnsysteme kulturell geprägt waren und zu jener Zeit neben geheimen Telefonapparaten und Kabeldrähten eben auch der Hypnotismus dazu gehörte (vgl. Forel, Suggestibilität und Geistesstörung, 1893, S. 337 f.). In meinem Sample kamen sechs Fälle von hypnotischen Wahnideen vor. Ein Patient behauptete, Forel habe ihn hypnotisiert (StAZH Z 100, KA-Nr. 6342); ein Patient sagte, er leide unter dem Druck des Hypnotis­mus, allerdings ohne Hinweis, ob er tatsäch­lich hypnotisiert worden war (KA-Nr. 6522); eine Patien­tin war überzeugt, sie hätte wegen des Hypnotismus den falschen Mann gehabt, und entwickelte eine starke Abneigung dem Hypnotismus gegenüber (KA-Nr. 4853). Zu den weiteren Fällen vgl. KA-Nr. 5684, 6368 und 6505. Vgl. auch Bleuler, Geschichte des Burghölzli, S. 391; Breuer, Neue Wahnvorstellung. 747 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 184. Zur Hypnotisierung von Epileptikern vgl. Wetterstrand, Gutachten (1894), S. 136. Forel berichtete von einem Epileptiker, bei dem er durch Hypnose den Eintritt eines epileptischen Anfalles verhindern konnte. Vgl. Forel, Die Rolle des Alkohols bei sexuellen Perversionen (1895), S. 182. 748 Tuckey, Gutachten (1894), S. 127. 749 StAZH Z 100, KA-Nr. 4809 und 4654.

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7.3 Alkoholiker, Perverse und Hysterikerinnen Im Folgenden wird die Anwendung der Hypnosetherapie in drei verschiedenen Diagno­sekategorien genauer erläutert. Diese Kategorien fielen einerseits quantitativ bei der Auswertung der Krankenakten ins Gewicht (Alkoholismus und Hysterie), anderseits hatten sie in der Thematisierung im Diskurs eine hohe Frequenz (Sexualpathologie) und waren zusätz­lich ausgeprägt geschlechtsspezifisch markiert.750 Alkoholiker und Morphinisten Mit knapp 43% führten die Erkrankungen im Bereich Genussmittelmissbrauch, hauptsäch­lich Alkoholismus, die Rangliste der Hypnosediagnosen deut­lich an. Der Männeranteil war in dieser Kategorie viel höher als jener der Frauen. In meinem Sample zeigt sich diese Geschlechterdisparität ausgeprägt. Von den 95 Patientinnen und Patienten, die wegen einer Diagnose in diesem Bereich eintraten, waren 81 Männer.751 Untersucht man die Schichtzugehörigkeit der Alkoholiker, so entspricht diese für die drei untersuchten Jahre ungefähr ihrem Anteil an der gesamten Anstaltspopulation. Für die Unterschicht hiess dies, dass auch bei den Alkoholikern ihr Anteil rund 50% betrug. Dieser Befund ist nicht überraschend, „da sich hier bis Mitte der 1950er Jahre hauptsäch­lich der Alkoholismus der Unterschichten abbildet, der vor allem unter Männern verbreitet war“.752 Doch entsprechend ihrem Anteil an der gesamten Patientenanzahl waren Mittel- und Oberschicht unter den Alkoholikern ebenso vertreten. Die „Alkoholfrage“ war bei den Patienten des Burghölzli keine Angelegenheit der Unterschicht.753 Der Mittelschicht lassen sich viele Alkoholiker zurechnen, und von 30 nachweisbaren Oberschichtpatienten meines Samples weilten acht wegen Alkoholismus im Burghölzli. Dazu kommen noch vier wegen Morphium­ abhängigkeit in die Klinik eingewiesene Oberschichtpatienten, was ihren Anteil bei der Gesamtkategorie der Genussmittelerkrankungen weiter erhöht.

750 Vgl. zum Zusammenhang von Diagnose und Geschlecht Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 71. Siehe auch Germann, „Psychopathen“ und „Hyste­ rikerinnen“. 751 In meinen drei Untersuchungsjahren traten 24% der Patienten wegen Alkoholismus und dessen Folgen ein, allerdings nur 5,7% der Patientinnen. 752 Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 100. 753 Die Oberschicht hatte im Unterschied zur Unterschicht eine akzeptanzfördernde Trinktradition und konnte sich bessere Qualität leisten, was wesent­lich für die gesundheit­lichen Folgen war. Zusätz­lich verfügte sie über Definitionsmacht, um aus der „Alkoholfrage“ eine Angelegenheit der Unterschichten zu machen (vgl. Tanner, Die „Alkoholfrage“ in der Schweiz, S. 152). Der Alkoholkonsum der oberen Schichten ist allgemein weniger erforscht (vgl. Barrows und Room, Introduction, S. 10).

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Forel forderte ab Herbst 1886 rigoros Abstinenz bei seinen Alkoholismuspa­ tienten und wandte gleich nach dem Erlernen des Hypnotismus die neue Therapie auch bei den Alkoholikern an.754 Als Paradebeispiel einer erfolgreichen Heilung führte er im Lehrbuch jeweils den Fall eines 70-jährigen Alkoholikers an, der bereits acht Jahre im Burghölzli weilte, als er ihn 1887 – obwohl „längst aufgegeben“ – hypnotisierte. Der „unverbesser­liche Trunkenbold und Lump“ wurde unter Forels Anleitung zu einem der „eifrigsten Abstinenten der Anstalt“.755 Im Jahresbericht von 1887 wurde der erfolgreiche Beginn der Hypnosetherapie bei Alkoholikern kurz vermeldet: „[Wir] hatten […] sehr schöne und dauernde Erfolge bei Alkoholikern.“756 Auch andere Hypnoseärzte berichteten von erfolgreichen Hypnotisierungen bei Alkoholikern.757 In Der Hypnotismus berief sich Forel jeweils auf seinen Arztkollegen Tuckey, der mit The value of Hypnotism in chronic Alcoholism das Standardwerk zur diesbezüg­lichen Anwendung verfasst hatte.758 Wie Forel forderte dieser absolute Enthaltsamkeit. Hauptpfeiler der Alkoholismustherapie waren für Forel die Abstinenz und der Abstinenzverein; als „Hülfsmittel“ propagierte er ab 1887 den Hypnotismus.759 Mittels Suggestion sollten die Patienten von der Abstinenz und dem Eintritt in den Abstinenzverein überzeugt werden. Man müsse „den definitiven und absoluten Abscheu gegen alle geistigen Getränke, die vollständige, lebensläng­liche Enthaltsamkeit derselben und wo 754 Eine Übersicht über die Behandlung der Alkoholiker während Forels Amtszeit gibt die unter seiner Leitung entstandene Dissertation von Oberdieck, Beitrag zur Kenntniss des Alkoholis­ mus u. seiner rationellen Behandlung (1897). 755 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 269. 756 Rechenschaftsbericht 1887, S. 6. Von diesen „wunderbaren“ Erfolgen bei Alkoholikern berichtete Forel auch in: Einige therapeutische Versuche (1887), S. 7. In vielen Fällen erreichte die Hypnosetherapie die dauerhafte Abstinenz nicht. Vgl. Forel, Zur Therapie des Alcoholismus (1888), S. 5. 757 Gauld erwähnt neben Forel Voisin, Ladame, Wetterstrand und Fontan/Ségard (Gauld, A history of hypnotism, S. 485). Siehe auch Ringier, Erfolge des therapeutischen Hypnotismus in der Landpraxis (1891), S. 146 – 162; Tuckey, Gutachten (1894), S. 125 – 129; Wetterstrand, Der Hypnotismus und seine Anwendung in der praktischen Medicin (1891), S. 58 – 62; ders., Gutachten (1894), S. 130 – 141. In der Zeitschrift für Hypnotismus erschienen Artikel und vor allem Buchbesprechungen zum Thema: u. a. Grotjahn, Socialpsychologische Bemerkungen über die Alcohol-Euphorie (1902); Sjöström, Besprechung von Oberdieck (1897); Straaten, Besprechung von Bechterew (1900). 758 Vgl. die Rezensionen dieses Buchs in der Zeitschrift für Hypnotismus: Forel, Ch. Lloyd Tuckey (1893/1897). Tuckey war ebenfalls ein Bernheim-Schüler und fungierte wie Wetterstrand und Ringier, die ebenfalls Hypnosetherapie bei Alkoholismus propagierten, als Mitherausgeber der ersten drei Nummern der Zeitschrift für Hypnotismus. Vgl. den Nachruf zu Tuckey (1855 – 1925) in: The British Medical Journal, 22. August 1925, S. 363 f. 759 Forel, Zur Therapie des Alcoholismus (1888), S. 8 f.

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immer nur mög­lich den Anschluss an einen Abstinenzverein suggerieren“.760 Zusätz­lich suggerierte er ihnen „Vergnügen am soliden Leben“.761 Er war überzeugt, dass man bei vielen Alkoholikern und auch Morphiumsüchtigen „durch Suggestion des Widerwillens gegen das Narkotikum und der totalen Abstinenz desselben fürs ganze Leben Heilung erzielen kann“.762 Dem Abstinenzverein als stützendes soziales Umfeld mit seiner „alkoholfreien suggestiven Geselligkeit“763 schrieb er eine zentrale Rolle für die Genesung zu. Wie bereits erwähnt, besetzen die Genussmittelerkrankungen und deren Folgen bei den Hypnosediagnosen den Spitzenplatz. Vom untersuchten Sample kamen 21 Alkoholiker – Angehörige aller Schichten – in den Genuss einer Hypnosetherapie, meist mit dem Ziel der Abstinenz und damit verbunden dem Eintritt in einen Absti­nentenverein. Auffallend ist, dass die Alkoholikerinnen unterdurchschnitt­lich hypno­tisch behandelt wurden. Von den Alkoholikern wurde ein Viertel nachweis­lich hypnotisiert, von den 14 Alkoholikerinnen dagegen nur eine.764 An der Versammlung der süddeutschen Neurologen und Irrenärzte 1888 in Freiburg, wo er über die Alkoholismustherapie referierte, berichtete Forel von weiteren hypnotisierten Alkoholikerinnen. Von den 24 behandelten Alkoholikern in seiner Präsentation waren drei Frauen, davon wurden zwei hypnotisiert. Eine davon war „eine alte, bereits halb verblödete Schnapstrinkerin“765, die nur schwer hypnotisierbar war und rückfällig wurde. Als Erfolgsbeispiel präsentierte er jedoch die andere Frau, eine ehemalige Patientin, die danach als Wärterin im Burghölzli tätig war. Rückfällig geworden, konnte sie durch Hypnose in ihrem Abstinenzvorhaben gestärkt werden.766 Hinweise, weshalb die Alkoholikerinnen unterdurchschnitt­lich hypnotisiert wurden, gibt es in den Jahresberichten der Trinkerheilstätte Ellikon. Bei der Gründung der Trinkerheilstätte wurde beschlossen, Frauen nur versuchsweise aufzunehmen.767 Die Alkoholikerinnen wurden im Vergleich zu den Alkoholikern als kränker angeschaut und deshalb auch als der Therapie weniger zugäng­lich eingeschätzt. Im 7 60 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 211. 761 Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 9. 762 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 187. 763 Ebd., S. 212 (Hervorhebung im Original). 764 Friederike Oberdieck wertete in ihrer Dissertation die Alkoholismustherapie anhand der Statistiken und der Krankenakten aus. Bei ihrem Patientensample wurden nachweis­lich knapp über 10% der Patienten hypnotisiert; von den 31 Patientinnen wurden drei hypnotisiert, allerdings ohne Erfolg. Vgl. Oberdieck, Beitrag zur Kenntniss des Alkoholismus (1897), S. 35 f. und S. 46. 765 Forel, Zur Therapie des Alcoholismus (1888), S. 6. 766 Der Erfolg wurde gleich im Anschluss an Forels Referat demonstriert und die Wärterin vor versammeltem Ärztepublikum hypnotisiert. Forel, Zur Therapie des Alcoholismus (1888), S. 5 – 10. 767 Fünfter Jahresbericht der Trinkerheilstätte (1894), S. 13.

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Gegensatz zu den Männern, die schnell dem Alkoholgenuss erliegen würden, herrschte der Konsens vor, dass es bei den Frauen „einen recht hohen Grad von Willens- oder Charakterschwäche“ brauche, bis sie zu trinken anfingen. Deshalb sei „die Mehrheit der Trinkerinnen […] auch sonst verkommen“.768 Die versuchte Integration der Frauen in die Anstaltsordnung verlief nicht nach Wunsch. Nach sechs Jahren zog das Direktionskomitee unter Präsident Forel 1893 ein negatives Fazit. Der Grossteil der entlassenen Frauen sei rückfällig geworden: „[K]ein ermutigendes Resultat, besonders wenn man in Betracht zieht, wie viel Mühe sie machten, wie sehr sie die Aufrechterhaltung der Anstaltsdisziplin durch ihr Benehmen, ihre Intriguen und auch durch die blosse Tatsache ihrer Anwesenheit erschwerten.“769 Die bescheidenen Heilerfolge und die gefährdete Ordnung der Trinkerheilstätte gaben den Ausschlag, dass das Direktionskomitee 1895 nach langen Diskussionen entschied, keine Frauen mehr aufzunehmen.770 Auch Morphiumabhängigkeit therapierte Forel mehrmals mit Hypnotismus. Den sukzessiven Morphiumentzug begleitete er mit Hypnosetherapie, um Unwohlsein und Schlafstörungen zu behandeln.771 Zusätz­lich sollte den Patienten zur psychischen Stärkung Abscheu vor dem Morphium und Enthaltsamkeit suggeriert werden. In der Behandlung der Morphinisten schien er sich einen Namen gemacht zu haben. So bat ihn beispielsweise sein Universitätskollege Karl von Lilienthal, seinen Bruder zur hypno­ tischen Behandlung des Morphiumentzugs aufzunehmen.772 Prominenter Anwender der Hypnosetherapie bei dieser Diagnose war Forels Kollege Otto ­Wetterstrand. Im Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte entspann sich 1893 eine kurze Kontroverse über die hypnotische Therapierung Morphiumsüchtiger, als Robert Binswanger die Effektivität von Wetterstrands Morphinisten-Behandlung in Zweifel zog.773 7 68 Ebd., S. 14; vgl. Dritter Jahresbericht der Trinkerheilstätte (1892), S. 7. 769 Fünfter Jahresbericht der Trinkerheilstätte (1894), S. 14. 770 Siebenter Jahresbericht der Trinkerheilstätte (1896), S. 3 und S. 17. Allerdings verfolgte das Direktionskomitee Pläne zur Errichtung einer separaten Anstalt für Alkoholikerinnen. Nach der Abklärung des bestehenden Angebots (in Herzogenbuchsee und Steg-Fischenthal gab es Heilstätten für Frauen) wurde davon abgesehen und dafür der Ausbau der Ellikoner Heilstätte für Männer vorangetrieben. Vgl. Achter Jahresbericht der Trinkerheilstätte (1897), S. 18 f. 771 Vgl. StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, 4741, 5678, 6479 und 6506. Die (bis auf 6506) Oberschichtpatienten blieben für den Entzug mehrere Wochen im Burghölzli. Vgl. Forel, Zur Therapie des Alcoholismus (1888), S. 10; Fulda, Morphinismus geheilt durch Hypnose (1894); W ­ etterstrand, Die Heilung des chronischen Morphinismus (1896). 772 Brief von Lilienthal an Forel vom 2. März 1891 (MHIZ PN 31.2:2490). Wie die weiteren Antworten Lilienthals zeigen, gab ihm Forel eine abschlägige Antwort und empfahl ihm Otto Wetterstrand als Therapeuten (MHIZ PN 31.2:2491 und PN 31.2:2492). 773 Wetterstrand, Der Hypnotismus (1891), S. 62 – 67. Ein Dr. Felix aus Wädenswil reagierte auf Robert Binswangers Über die Erfolge der Suggestiv-Therapie (1892), um Wetterstrands

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Perverse Die sexuellen Perversionen gehörten ebenfalls in das Kompetenzgebiet der Psychiater. Allerdings schienen Patientinnen und Patienten mit Krankheitsformen aus diesem Bereich nicht primär in die psychiatrische Klinik eingetreten zu sein.774 So wurde im hier untersuchten Sample Hypnosetherapie nur zweimal im Bereich der Sexual­ pathologie angewendet. Der zweite Schwerpunkt der Anwendungen wird trotzdem bei dieser Diagnosekategorie gesetzt, da Forel in seiner späteren Privatpraxis viele Patien­ten aus diesem Bereich behandelte und die Therapierung von sexuellen Störungen im Fachdiskurs gewichtig thematisiert wurde.775 Im Folgenden wird zuerst die allgemeine Thematisierung der Therapierung in diesem Gebiet durch die Hypnoseärzte erläutert, und in einem zweiten Schritt wird auf die dominanten Diagnosen Onanie und Homosexualität eingegangen. In Grossmanns Gutachtensammlung über den Hypnotismus finden sich auffallend viele Gutachten von Ärzten, die sich im Bereich der Sexualwissenschaften einen Namen gemacht hatten. Neben Forel traten Krafft-Ebing, Moll und Eulenburg als Fürsprecher für den therapeutischen Einsatz des Hypnotismus auf.776 Krafft-Ebing, dessen Werk Psychopathia sexualis (1886) gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Behandlung von Morphiumkranken zu verteidigen (vgl. Felix, Dr. Wetterstrand und die Morphin­ omanie, in: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte 9, 1893, S. 347 – 349), worauf Binswanger mit einem Leserbrief reagierte (Rubrik „Cantonale Correspondenzen“, in: Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte 11, 1893, S. 411). Die Antwort des von Wetterstrand behandelten Arztes Landgren auf Binswangers Kritik wurde vom Correspondenz-Blatt abgelehnt, deshalb in der Zeitschrift für Hypnotismus abgedruckt („Offener Brief “ von Dr. S. Landgren, in: Zeitschrift für Hypnotismus 2, 1894, S. 23 – 26). Siehe auch Wetterstrands Brief an Forel vom 30. März 1891 (MHIZ PN 31.2:4519). Binswanger, von 1880 bis 1910 Leiter der Klinik Bellevue in Kreuzlingen, war dem Hypnotismus gegenüber kritisch eingestellt und bevorzugte im Bereich der psychischen Therapie das Traitement moral (vgl. Gnann, Binswangers Kuranstalt Bellevue 1906 – 1910, S. 91; Domeyer, Binswangers Privatklinik Bellevue 1886 – 1890, S. 102 – 108). Im Zusammenhang mit dieser Kontroverse ist anzumerken, dass ein Patient, der im Burghölzli von seiner Morphiumabhängigkeit begleitet mit Hypnosetherapie geheilt wurde, vorher auch bei Binswanger im Bellevue geweilt hatte, dort allerdings nicht geheilt werden konnte (StAZH Z 100, KA-Nr. 4790). Vgl. Binswanger, Über die Erfolge der Suggestiv-Therapie (1892), S. 13 f. 774 Im Rahmen seiner Hypnotismusvorlesung therapierte er auch sexualpathologische Störungen ambulanter Patienten, zum Beispiel einen Fall von Satyriasis (vgl. Forel, Zur suggestiven Therapie, 1890, S. 7). 775 Vgl. u. a. Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes (1892); Ringier, Gutachten (1894), S. 91. Auch Tuckey hebt die Anwendung in diesem Bereich hervor (Tuckey, Gutachten, 1894, S. 128). 776 Allerdings erwähnen sie die sexualtherapeutische Anwendung des Hypnotismus nicht in ihren Gutachten. Vgl. zu Eulenburg Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 56 f. und S. 234 – 246; Bock, Albert Eulenburg (1840 – 1917).

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Standardwerk der sich formierenden Sexualwissenschaften wurde, wandte Bernheims Hypnotisierungsmethode zur Therapierung seiner Patientinnen und Patienten an.777 Er gehörte nicht dem engen Kreis der Bernheim-Schüler an, die sich um die Zeitschrift für Hypnotismus scharten, war aber trotzdem gut eingebunden, wie die Rezeption seiner Werke in der Zeitschrift und sein Gutachten in Grossmanns Sammlung zeigen. Albert Moll, der zusammen mit Forel als wichtigster Propagator der Nancy-Schule im deutschsprachigen Raum auftrat, gelangte nach Manfred Herzers Einschätzung über den Hypnotismus zu den Sexualwissenschaften, da ihn viele Patienten mit Leiden im sexuellen Bereich aufsuchten, und wurde zum einflussreichen und angesehenen Sexualforscher und Psychotherapeuten.778 Die sexualtherapeutische Anwendung wurde in der Zeitschrift für Hypnotismus breiter thematisiert als die Alkoholismustherapie. Der Verfechter der suggestiven Therapie im Gebiet der Sexualpathologie und Mitherausgeber der Zeitschrift für Hypno­ tismus, Albert von Schrenck-Notzing, später vor allem wegen seiner Beschäftigung mit Parapsychologie bekannt, publizierte vier ausführ­liche Literaturzusammenstellungen zu „Psychologie und Psychotherapie der vita sexualis“. Ausführ­lichere Artikel widmeten sich den Perversionen. Weiter finden sich viele Besprechungen von Publikationen zu allgemeiner Sexualpathologie, Homosexualität, Masturbation, Impotenz und Perversionen.779 1892 erschien Schrenck-Notzings Buch Die Suggestions-Therapie 777 Vgl. Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 175 – 193; Oosterhuis, Stepchildren of nature; Ammerer, Am Anfang war die Perversion; Wettley, Von der „Psychopathia sexualis“ zur Sexualwissenschaft, S. 55 – 65. Zusätz­lich zu den „Beobachtungen“ in der Psychopathia sexualis, wo Krafft-Ebing ab der 5. Auflage ein Kapitel zur Therapie der konträren Sexualempfindung integrierte und mancherorts Hypnosetherapie erwähnte, veröffent­lichte er eine Studie zur hypnotischen Behandlung der Patientin Ilma S., die viel Beachtung fand (Krafft-Ebing, Eine experimentelle Studie auf dem Gebiete des Hypnotismus, 1888). Auch in der Zeitschrift für Hypnotismus publizierte er einen Artikel (ders., Zur Suggestivbehandlung der Hysteria gravis, 1896). Vgl. Hauser, Richard Krafft-Ebing. Gemäss Hauser spielte der Hypnotismus für KrafftEbing eine „Schlüsselrolle in der Erweiterung seines ursprüng­lich deskriptiv-forensischen Ansatzes zu einem therapeutischen Programm für sexuelle Störungen“ (ebd., S. 319). 778 Herzer, Albert Moll, S. 60. In seiner Indikationsliste für die hypnotische Behandlung wies Moll auf „allerlei Affektionen des Geschlechtstriebes“ hin (Perversionen, Homosexualität, Pädophilie, Masturbation). Vgl. Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 320 f. Gemäss Sigusch ist Moll in Vergessenheit geraten und sowohl inner- wie auch ausserhalb der Sexologie ein Unbekannter (vgl. Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 197 – 233, hier S. 209). Molls sexualwissenschaft­liche Hauptwerke sind Die conträre Sexualempfindung, Berlin 1891, Untersuchungen über die Libido sexualis, Berlin 1897, Das Sexualleben des Kindes, Leipzig 1908, Handbuch der Sexualwissenschaften, Leipzig 1912. 779 Tatzel, Die suggestive Behandlung einzelner Formen der Parästhesie der Geschlechtsempfindung (1898); Brügelmann, Zur Lehre vom perversen Sexualismus (1902); Grossmann, Referat von Schrenck-Notzing (1895).

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bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes, nach Gauld „the most influential work especially devoted to the hypnotherapeutic treatment of sexual problems“.780 Schrenck-Notzing behandelte darin Entstehung und Behandlung sexualpatholo­ gischer Erkrankungen und führte eine umfangreiche Kasuistik an. Gewidmet hatte er das Buch Forel, seinem „verehrten Führer und Lehrer auf dem Gebiete der Sugges­ tionstherapie“.781 Da Schrenck-Notzing gegenüber dem angeborenen das erworbene Moment in der Ätiologie betonte, war er von der Wirksamkeit des Hypnotismus überzeugt: „Man hat in der Suggestion […] ein vortreff­liches Mittel, die krankhafte psychosexuale Existenz zu vernichten und eine neue zu schaffen.“782 Auch Forel empfahl in seinem sexualwissenschaft­lichen Standardwerk Die sexu­ elle Frage die Hypnosetherapie zur Kurierung sexueller Störungen: „Man kann zu häufige Samenentleerungen, onanistische Gewohnheiten und perverse Triebe durch Suggestion fast immer bedeutend mildern und nicht so selten ganz beseitigen, was sehr nütz­lich ist.“783 In seiner Privatpraxis, die er nach seinem Rücktritt vom Burghölzli von 1898 bis 1911 in Chigny und Yvorne unterhielt, behandelte er nach seiner Statistik insgesamt 55 Patienten wegen sexueller Beschwerden.784 Die Hauptindikationen waren Impotenz (17 Fälle), Homosexualität (14 Fälle) und Onanie (neun Fälle).785 Forels Erfolgsquote war nach seinen eigenen Angaben hoch. Bei Impotenz wurden die meisten Fälle geheilt, bei Onanie geheilt oder gebessert, bei 780 Gauld, A history of hypnotism, S. 483. Vgl. zu Schrenck-Notzings okkultistischer Betätigung Kap. 4. In einem Brief an Forel berichtete Schrenck-Notzing über sexualpathologische Fälle (vgl. Brief vom 11. Dezember 1889, in: Walser, August Forel, S. 236). Forel schickte ihm auch Patienten zur hypnotischen Behandlung „perverser Sexualgelüste“ (vgl. den Brief Schrenck-­ Notzings an Forel vom 30. Januar 1888, MHIZ PN 31.2:3652). 781 Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. XIV. Von 1888 bis 1902 korrespondierten Schrenck-Notzing und Forel miteinander (MHIZ PN 31.2:3651 – 3707). Leider sind im Nachlass Schrenck-Notzings, der im Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg im Breisgau lagert, keine Briefe Forels erhalten, da praktisch alle wissenschaft­liche Korrespondenz Schrenck-Notzings nach dessen Tod vernichtet worden ist. 782 Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. 210. 783 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 509. Im Kapitel „Beispiele aus dem Leben“ wurden von 27 Fällen zwei Fälle von Pollutionen und unvollständiger Erektion sowie Satyriasis mit Hypnotismus behandelt (ebd., S. 136 und 138 f.). 784 Forel gibt das Geschlecht der behandelten Personen nicht an. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es hauptsäch­lich Männer waren (vgl. Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 205 – 210). Auch in der Schrift Ethische und recht­liche Konflikte im Sexualleben in und ausserhalb der Ehe (1909) erwähnt er wiederholt Hypnotismus als Therapie (so beispielsweise bei Erotismus der Jugend, bei sexueller Anästhesie, bei Impotenz, Hyperästhesie und bei Triebverschiebung). 785 Weitere Indikationen waren sexuelle Anästhesie (2 Fälle), sexuelle Hyperästhesie (4), Exhibitionismus (1), Päderose (1), profuse Pollutionen (1), Algolagnie (5) und Fetischismus (1). Den Begriff Algolagnie übernahm Forel von Schrenck-Notzing. Dieser bezeichnete mit aktiver

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„erworbener Homosexualität“ alle geheilt, bei „angeborener Homosexualität“ kein einziger geheilt, aber die Mehrheit „gebessert“.786 In Die sexuelle Frage propagierte er eine zweigleisige Strategie zur Bekämpfung der sexualpathologischen Misere. Neben der therapeutischen Suggestion sollten die Perversionen prophylaktisch durch „soziale Sanierung“ (v. a. Bordellschliessung und Alkoholprohibition) bekämpft werden.787 Er unterschied vehement zwischen erworbenen und angeborenen „sexuellen Perversionen“. Die erworbenen Perversionen seien häufig durch „mächtige Suggestion oder Autosuggestion“ entstanden und deshalb auch auf diesem Weg zu kurieren.788 Wenn er die hereditäre Diagnose stellte, war er zurückhaltender und behandelte symptomatisch. Er war zwar überzeugt, dass sich der „Hirndefekt und die krankhafte Disposition“ nicht aufheben liessen, aber „durch eine richtige suggestive Pädagogik, durch Angewöhnung an gute und gesunde Tätigkeiten, durch Anregung der gesunden Charakterzüge und durch Suggestion des Ekels und des Abscheus vor den krankhaften und perversen Trieben“ könne viel Gutes erzielt werden.789 Die zwei Anwendungen in den Krankenakten des Burghölzli zeigen, dass sich anders als in der späteren Privatpraxis in der Klinik der Erfolg nicht leicht einstellte. Der eine Fall betraf Otto T., einen 52-jährigen Oberrichter. Dieser kam am 9. April 1888 zur Konsultation in die Klinik. Beim anamnestischen Gespräch berichtete er von seinen masochistischen Neigungen: „So weit er sich zurückerinnert ganz sicher mit dem 6ten Lebensjahr habe er extra Haendel gesucht und ein eigenthüm­liches Wohlthun verspürt, wenn man ihm so recht den Hinderen verhauen hätte.“ Otto T. wurde an den folgenden drei Tagen zur Kurierung seines „perversen Sexualtriebes“ hypnotisiert, dann bestand er auf seiner Entlassung. Abschliessend wurde in der Kranken­geschichte vermerkt: „Hypnotische Beeinflussung gering“.790 Auch beim zweiten Patienten trug die Hypnosetherapie keine Früchte. Der 17-jährige Gymnasiast Albert P. trat am 15. Oktober 1888 wegen nächt­licher Unreinheit ins Burghölzli ein. Durch die konstante Überwachung im Wachsaal wurde die Unreinheit, ausgelöst durch Einführung des Fingers in den Anus, als Form der Onanie entlarvt. Forel hypnotisierte den Patienten hartnäckig jeden Tag, doch ohne Erfolg. Schliess­lich erhielt Albert P. Ende November zur „mechanischen Beschränkung“ Handschuhe. Mit Algolagnie den Sadismus Krafft-Ebings, mit passiver Algolagnie dessen Masochismus (vgl. Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie, 1892, S. 125). 786 Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 208 f. 787 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 280. 788 Ebd., S. 276. 789 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 187. 790 Die Austrittsdiagnose lautete „Hypochondrie auf der Basis eines perversen Sexualtriebes“ (StAZH Z 100, KA-Nr. 4654).

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Erfolg, wie der Vermerk in der Krankengeschichte bei der Entlassung vom 5. Dezember 1888 zeigt: „Rein­lichkeit mit Handschuhen constant. Pat. wird entlassen, mit dem Rathe, Handschuhe weiter zu tragen.“791 Auch über die sexuellen Beschwerden seiner Angestellten war Forel unterrichtet. So erwähnte er an einer Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte Wärter Z., den er wegen häufigen „Pollutionen“ und Verstopfung behandelt hatte. Im Wintersemester 1889/90 trat der Wärter in der Vorlesung auf, und die Studierenden konnten sich vom Erfolg der drei Hypnosesitzungen überzeugen. Der Wärter, vorher schwach und abgemagert ein Schatten seiner selbst, „wurde blühend, sein Körpergewicht nahm stark zu“.792 Die nächt­lichen Samenergüsse regulierte Forel auf eine Frequenz von zwei Monaten. Da der Wärter weiterhin im Burghölzli angestellt war, genoss er die Kontrolle über d­ essen Säftehaushalt und berichtete seinen Fachkollegen später über die termingerechten Samenentleerungen des Angestellten.793 Im Folgenden soll nun die Thematisierung und Anwendung der Hypnosetherapie bei den beiden damals vorherrschenden sexualpathologischen Diskursfiguren Onanie und Homosexualität untersucht werden. Diese sexuellen Perversionen prägten den medizinischen und sexualwissenschaft­lichen Diskurs im 19. Jahrhundert. War die Onanie anfäng­lich die beherrschende Diskursfigur, wurde sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von der „conträren Sexualempfindung“, dem „Urningtum“ oder der Homosexualität abgelöst.794 Am 21. April 1888 wurde der 20-jährige Seminarist Walter R. von der Zürcher Staatsanwaltschaft zur Beurteilung seines Geisteszustandes ins Burghölzli eingewiesen. Walter R. hatte einen Suizidversuch begangen, als Grund nannte er dem Arzt die viel praktizierte Onanie. In der Krankengeschichte wurde festgehalten: „Er habe bemerkt, dass er sich nicht von diesem Laster befreien könne, und sei dadurch in eine verzweifelte Stimmung gekommen.“795 Die Verzweiflung von Walter R. war Ausdruck einer tiefen Angst vor den psychischen und körper­lichen Folgen der Masturbation. Das Schreckbild ausgezehrter Körper und eingefallener Gesichter masturbierender Jugend­licher hatte eine über 100-jährige Tradition, als der Seminarist 1888 ins Burghölzli kam. Die Pathologisierung der Onanie wurde „in der Aufklärung zu einem zentralen Element der Erziehungsliteratur und des entstehenden bürger­lichen Diskurses über den Sex“.796 Walter 791 StAZH Z 100, KA-Nr. 4809. Sieben Jahre später vermerkte Forel handschrift­lich den weiteren Verlauf: „P. S. 5.X.1895. War geheilt bis Ende 1894 wo er wieder anfing nach Militärdienst.“ 792 Forel, Zur suggestiven Therapie (1890), S. 2. 793 Ebd., S. 2. 794 Sarasin, Die Erfindung der „Sexualität“, S. 41 f. 795 StAZH Z 100, KA-Nr. 4667. 796 Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 405. Vgl. zum Onaniediskurs und dessen Deutung ­Stolberg, Homo patiens, S. 261 – 281; Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 166 – 174, S. 184 – 188;

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R. war mit den Argumenten der Anti-Masturbations-Kampagne vertraut; wahrschein­ lich hatte er von den Horrorvisionen der krankmachenden Onanie gelesen, die seit der berühmten Onanie-Schrift des Lausanner Arztes Samuel Auguste Tissot kursierten.797 Der wissenschaft­liche Diskurs jedoch hatte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts geändert. Viele Psychiater und Neurologen waren nicht mehr der gleichen Ansicht wie Krafft-Ebing, der in einem populären Ratgeber von 1885 noch den alten Topos vertrat, Selbstbefriedigung schädige das Rückenmark: „Masturbators – in any case, those who read the most advanced thinkers – by some time around 1900 no longer had to fear the grave or the wheelchair.“798 Auch Forel betonte, dass die „Folgen der Onanie ins Unglaub­liche übertrieben“ worden seien.799 Viele Onanisten würden sich „unter Jammern“ anklagen, sich zugrunde gerichtet zu haben: „Sie haben […] sensationelle Schriften oder Schwindelbücher gelesen, die zugleich die Angst und die erotische Begierde schwacher Menschen ausbeuten, glauben sich für immer ruiniert.“ 800 Er deutete zwar die Onanie als eine sexualpathologische Erscheinung, unterschied aber verschiedene Formen. Der Grossteil der Onanisten seien „Notonanisten“, die sich aus Mangel an anderen Gelegenheiten selbst „Luft machten“ mit der Folge einer gewissen körper­lichen und geistigen Erschöpfung. Dramatischer war seine Prognose bei onanierenden Kindern. Ihr Geschlechtstrieb könne auf lange Zeit pervertiert ­werden, und „Impotenz und andere Abnormitäten“ würden begünstigt. Die grösste Gefahr witterte er jedoch anderswo. Nicht etwa träge und schlecht aussehende Kinder oder die „Jammerkategorie“ der Notonanisten seien die schlimmsten, sondern diejenigen Onanisten, die er zur Kategorie der „sexuellen Hyperästhetiker“ Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 404 – 417; ders., Die Erfindung der „Sexualität“; Eder, Kultur der Begierde, S. 91 – 127; Laqueur, Solitary Sex. 797 Samuel Auguste Tissot, De l’onanisme, ou dissertation physique sur les maladies, produites par la masturbation, Paris 1760; dt. Von der Onanie oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren, Eisenach 1770. Die Erstpublikation erschien 1758 in lateinischer Sprache. Siehe Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 405; Eder, Kultur der Begierde, S. 93. Vgl. zur Rezeption der Anti-Masturbationskampagne Stolberg, Homo patiens, S. 262 – 280. Heinrich Kaan bestärkte in seinem Werk Psychopathia Sexualis von 1844 nochmals die Horror­ visionen Tissots von der pathogenen Onanie. Vgl. dazu Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 166 – 174 und S. 184 – 188. 798 Laqueur, Solitary Sex, S. 364; vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 422. Dagegen ging Schrenck-Notzing gleich wie Krafft-Ebing davon aus, dass die „excessiv betriebene Automasturbation“ zu „spinaler und allgemeiner Neurasthenie“ führe (Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie, 1892, S. 26). 799 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 233; ders., Ethische und recht­liche Konflikte im Sexualleben (1909), S. 49 f. 800 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 236.

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rechnete.801 Der übersteigerte Geschlechtstrieb, den Forel häufig als angeboren betrachtete, äussere sich bei fehlendem Gegenüber in Form der Onanie.802 Hier brachte die Samenentleerung nur kurz Erleichterung, der unersätt­liche Drang stellte sich nach kurzer Zeit wieder ein. Die Onanie galt als Inbegriff der nicht kontrollierten, nicht aufgeschobenen Triebbefriedigung, „weil sie virtuell immer und überall mög­lich ist, während jeder Beischlaf, zumal jener in der Ehe, als Handlung von zwei Personen einen zumindest minimalen ‚Aufschub‘ und damit ein Minimum an Kontrolle und Selbstbeherrschung impliziert“.803 Das Gegenteil der Onanie war die „männ­liche Selbsttechnologie des aufgeschobenen Genusses“,804 die durch Kontrolle und Beherrschung gekennzeichnet war. Auch Forel deutete die Onanie in diesem Rahmen. Die Triebbefriedigung war zu leicht erreichbar: „[D]em Onanisten [ist] es gar zu leicht, seinen Trieb zu befriedigen, sodass er dadurch in eine übermässige, zu häufig sich wiederholende geschlecht­liche Erregung gerät.“805 Die böseste Folge davon sei die Willensschwäche, „die einer beständigen Wiederholung des Aktes gegenüber immer mehr erlahmt“.806 Dieser geschwächte Wille gefährdete das männ­liche bürger­liche Subjekt im Kern seiner Identität, wie Forel schrieb: „Die höchste Freiheit des Menschen besteht aber ferner in der Selbstbeherrschung. Nur der Mensch ist wahrhaftig frei, der über seine niederen Triebe Herr wird.“807 Den Gelüsten durfte nicht einfach nachgegeben werden, da diese ungezügelten Leidenschaften auf ausgeprägte Triebhaftigkeit und damit Naturnähe hindeuteten. Die gefürchtete Nähe zum unkontrollierten Naturwesen, das sich nicht im Griff hat, wird spürbar. Ungezügelte Leidenschaft war ein Stigma mit Geschichte.808 Die Onanie gefährdete die bürger­liche Geschlechterordnung ganz direkt. Wie die Sexualwissenschaftler befürchteten, wurde das heterosexuelle Liebespaar durch den egoistischen, unkontrollierten Onanisten substituiert, der keine höheren Liebesgefühle mehr empfand und ganz ohne Ehefrau auskommen konnte. Oder wie Krafft-Ebing ausführt: „Nichts ist geeigneter, die Quelle edler, idealer Gefühlsregungen, die aus einer normal sich entwickelnden geschlecht­lichen Empfindung ganz von selbst sich erheben, so zu trüben, ja nach Umständen ganz versiegen zu machen,

801 Ebd., S. 237 f. 802 Ebd., S. 230. 803 Sarasin, Die Erfindung der „Sexualität“, S. 40. 804 Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 419. 805 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 233. 806 Ebd., S. 233. Vgl. zu Forels Beurteilung der Onanie auch ders., Einige Worte über die reglementirte Prostitution (1889), S. 517 f. 807 Forel, Sexuelle Ethik (1906), S. 22. 808 Vgl. Mosse, Die Geschichte des Rassismus, S. 11; Poliakov, Der arische Mythos, S. 158 f. Vgl. dazu Kap. 9.

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als in frühem Alter getriebene Onanie.“809 Der Nukleus der Gesellschaft, das Ehepaar und dessen Nachkommen, war in Gefahr. Zusätz­lich garantierte die Ehe massvollen und geregelten Geschlechtsverkehr, der vor Exzess, perverser Triebbefriedigung und Bordellbesuch schützte. Die Onanie gefährdete die Vorstellung idealer bürger­licher Männ­lichkeit, die sich durch körper­liche Stärke – auch im sexuellen Sinn – und willent­liche Kontrolle auszeichnete. Die dramatische Folge „excessiver und frühzeitig betriebener“ Onanie war Impotenz, wie sich die Sexualwissenschaftler einig waren.810 Wie schon die Genussmittelerkrankungen wurde auch die Onanie von Forel geschlechtsspezifisch bewertet. Der Name „Notonanie“ deutete bereits an, dass sich die Männer in einer prekären Situation befanden. Die Ansammlung des Spermas und der stürmische männ­liche Geschlechtstrieb drängten zur Samenentleerung.811 War dies geschehen, kehrte wieder Ruhe ein. Anders stellte sich die Lage bei den Onanistinnen dar, da hier weder Sperma noch Trieb zu einer Entleerung drängten. Deshalb wurde diesen Frauen eine „pathologische sexuelle Reizbarkeit“ attestiert.812 Obwohl nicht durch Säfteverlust geschwächt, sei „dafür die Wiederholung und Intensität des Nervenreizes meist stärker und diese schaden im ganzen mehr, als der Säfteverlust“.813 Das Vergehen der onanierenden Frauen wog in den Augen Forels schwerer als jenes der Männer. Sie waren pathologisch veranlagt, und ihre Schädigung durch die Onanie war grösser. In die bürger­liche Geschlechterordnung übersetzt hiess dies, dass die „normale“ bürger­liche Frau sich diesem Laster nicht hingab, der „normale“ bürger­ liche Mann dagegen sich ab und zu einmal selbst abkühlen musste, wenn er nicht im Ehebett Gelegenheit dazu hatte. Zur andauernden Heilung der „Notonanie“ empfahl Forel denn auch „ein normales sexuelles Verhältnis, eine Ehe“.814 Im Rahmen des heterosexuellen ehe­lichen Geschlechtsverkehrs konnte der männ­liche Säftehaushalt kontrolliert reguliert werden. Um das „normale sexuelle Verhältnis“ der Ehe eingehen zu können, musste nach Forels Ansicht allerdings erst die Gehirntätigkeit der Onaniegeschädigten geregelt werden. Im vertrau­lichen Gespräch mit dem Patienten dürfe der Arzt die Folgen der 809 Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1903), S. 210; vgl. auch Schrenck-Notzing, Die Sugges­ tions-Therapie (1892), S. 16. 810 Vgl. Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. 17; Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 235. 811 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 233. Dass das angesammelte Sperma regelmässig abfliessen müsse, war gängiges Interpretationsmuster. Vgl. auch die Ansichten des französischen ­Arztes Alexandre Parent-Duchâtelet, der in diesem Kontext der Prostitution eine zentrale Funktion zusprach (Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 382; Corbin, Commercial Sexuality in Nineteenth-Century France, S. 211; Sabisch, Das Weib als Versuchsperson, S. 134 – 141). 812 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 233. 813 Ebd., S. 238. 814 Ebd., S. 238.

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Onanie nicht übertreiben, um die Patienten nicht zu erschrecken. Vielmehr solle der Arzt beratend und beruhigend wirken und bei „übermässigen Samenentleerungen“ und „sexueller Aufregung“ die Gehirntätigkeit durch hypnotische Suggestion „auf normale Bahnen“ lenken.815 Bei der Onanie solle die hypnotische Suggestion stets angewendet werden.816 Mit dieser Forderung stiess Forel auf offene Ohren bei den andern Hypnoseärzten. Viele schätzten die Onanie als geeignetes Einsatzgebiet der Hypnosetherapie ein. So setzten beispielsweise auch Ringier, Tuckey, Wetterstrand und Schrenck-Notzing auf die Hypnosetherapie, um die meist jugend­lichen Männer von ihrem Leiden zu heilen.817 Unter Forels Patienten im Burghölzli war die Onanie nur einmal Indikation zur Hypnosetherapie. Zur Kurierung der Selbstbefriedigung traten die Patienten normalerweise nicht in eine geschlossene psychiatrische Klinik ein. In der Privatpraxis, die er nach dem Rücktritt vom Burghölzli führte, präsentierte sich die Situation anders. Nach seiner Angabe erreichten ihn „Hunderte von Briefen“ von Patienten, die sich wegen Onanie „zugrunde gerichtet“ fühlten: „In manchen Fällen kann die Hypnose helfen.“818 Für die Patienten, die ihn tatsäch­lich zur Behandlung aufsuchten, zog er eine äusserst positive Bilanz. Von den neun behandelten Fällen wies er vier als geheilt und fünf als gebessert aus.819 Walter R., der als Grund seines Selbstmordversuchs die Onanie angab, wurde nicht hypnotisiert. Die Frage stellt sich, wieso er nicht hypnotisiert wurde. Sexualpathologie und Selbstmordversuch hätten gut in die Behandlungstopografie Forels gepasst. Die Nichtindikation einer Therapie wurde generell in den Krankenakten nicht angeführt oder gar begründet. Es könnten sich hier verschiedene Faktoren summiert haben, die Walter R. in den Augen Forels zum hoffnungslosen Fall machten. Dass er nicht als eigent­licher Patient, sondern zur Begutachtung eingewiesen wurde, bedeutete kein Ausschlusskriterium. In der Krankengeschichte deutet sich jedoch eine weitere Geschichte an, die m. E. den Ausschlag zur Nichtbehandlung von Walter R. gegeben 8 15 Ebd., S. 412. 816 Ebd., S. 434; ders., Der Hypnotismus (1919), S. 209. 817 Ringier, Gutachten (1894), S. 94; Tuckey, Gutachten (1894), S. 128; Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. 77; Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis. Wetterstrand erwähnte die Heilung der Onanie beispielsweise im Brief vom 14. April 1901 an Forel (MHIZ PN 31.2:4529). Besprechungen zu Wladimir von Bechterew, Die suggestive Behandlung des conträren Geschlechtstriebes und der Masturbation, in: Zeitschrift für Hypnotismus 8 (1899), S. 370; Straaten, Besprechung von Alfred Fuchs (1899). An seinen Arztkollegen Tatzel in St. Blasien schickte Forel wiederholt Patienten zur hypnotischen Behandlung der Onanie (vgl. Tatzel, Die suggestive Behandlung einzelner Formen der Parästhesie, 1898, S. 251 und S. 256). 818 Forel, Ethische und recht­liche Konflikte im Sexualleben (1909), S. 49 f. 819 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 209.

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hatte. Walter R. hatte eine gleichgeschlecht­liche, unglück­lich ausgegangene Liebesbeziehung gepflegt, wie er Forel zwei Tage nach seinem Klinikeintritt unter vier Augen gestand. Anfäng­lich sei es eine „überschwäng­liche platonische Liebe“ gewesen, danach hätten sie sich zusammen ins Bett gelegt, und sein Geliebter Kurt habe es auch „weiter treiben wollen, er habe ihn aber etwas weggestossen“. Eigent­liche „Päderastie“ habe er nie getrieben. Forels Urteil scheint in Richtung angeborene Ätiologie gegangen zu sein, da er mit Bleistift neben den Eintrag seines Assistenzarztes in die Kranken­ geschichte notiert hatte: „Unrichtig. Früher hat er zu andern jungen Männern schon Liebesregungen gehabt und ähn­liche ‚Freundschaften‘ gepflogen. Nur kam es nie so weit. Zu Weibern hatte er nie sexuelle Neigung, nie Liebe.“820 Auf Befehl der Justiz wurde Walter R. im Juli 1888 nach Basel in die psychiatrische Anstalt F ­ riedmatt transferiert, wo Ludwig Wille in seinem Gutachten analog zu Forel zum Schluss kam, dass er den „Stempel des ethisch Defecten“ trage und an einer „als cons­titutionell zu bezeichnenden krankhaften psychisch nervösen Anlage“ leide, die sich in „abnormer unnatür­licher Geschlechtsrichtung“ äussere.821 Indem Forel Walter R.s Krankheitsursache als angeborene Perversion diagnostizierte, schloss er ihn vom Zugang zur hypnotischen Behandlung aus. Homosexuelle Die Homosexualität löste im Zusammenhang mit der Konstituierung des neuen Wissensbereichs der Sexualwissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Onanie als die sexuelle Perversion ab. Zwar wurde die gleichgeschlecht­liche Sexualität unter dem Begriff Sodomie schon vorher thematisiert, doch die Homosexualität als neue Perversion erfuhr viel Aufmerksamkeit der Sexualpathologen.822 Wegweisend für die Bearbeitung der Homosexualität im sexualwissenschaft­lichen Diskurs wurde die Kodifizierung derselben in Krafft-Ebings Psychopathia sexualis, die ab der zweiten Auflage den Untertitel „mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung“ trug.823 Für Krafft-Ebing war die Homosexualität vor allem „eine angeborene Entwicklungsstörung bzw. eine Anomalie des Sexual­ triebes“, und die Homo­sexuellen bildeten für ihn „einen eigenen, anormalen und perversen Menschentyp“.824 Der „urnische Mitmensch“ war in den Worten Krafft8 20 StAZH Z 100, KA-Nr. 4667, Eintrag vom 23. April 1888. 821 StAZH Z 100, KA-Nr. 4667, Gutachten vom 5. Januar 1889, S. 3. 822 Vgl. zur Entwicklung des Homosexualitätsdiskurses Somerville, Scientific Racism and the Invention of the Homosexual Body; Nye, Sex Difference and Male Homosexuality; Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft; Eder, Kultur der Begierde, S. 151 – 169; Rosario (Hg.), Science and Homosexualities. 823 Vgl. zu Krafft-Ebing Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 175 – 196. 824 Eder, Kultur der Begierde, S. 163.

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Ebings „ein Unglück­licher, aber kein Verbrecher, kein Schänder mensch­licher Würde, sondern ein Stiefkind der Natur“.825 Er unterschied von der angeborenen eine scheinbar erworbene Variante der Homosexualität, die er tardiv nannte, da er auch bei dieser Form die Veranlagung betonte.826 Seine Deutung war in der Sexual­ pathologie wegweisend, und Homosexualität wurde in der Folge als angeborene und krankhafte Erscheinung beurteilt. Auch das Bild des Homosexuellen, das gezeichnet wurde, verdeut­lichte die Anormalie dieser Männer.827 Die Homosexuellen wurden als „Antipoden der wahren Männ­lichkeit“828 dargestellt, indem ihnen weib­liche Charakter- und Körperzüge zugeschrieben wurden und auch ihre reproduktive Sterilität der Definition des echten Mannes widersprach.829 Die Effeminierung der Homosexuellen sollte sich auch organisch im Gehirn zeigen, waren die Wissenschaftler überzeugt. Albert Moll berichtete von Obduktionen von Gehirnen Homosexueller, wo er jedoch nichts dem konträren Geschlechtstrieb Entsprechendes fand. Allerdings überzeugten ihn diese Befunde noch nicht: „Ich glaube, dass die Frage dennoch nicht endgiltig entschieden ist, ob wir beim Urning mitunter die Eigenschaften im Gehirn wieder finden, die gewöhn­ lich des Weibes Gehirn zeigt.“830 Auch für Forel waren die „Urninge“ – wie er sie nach der Terminologie Karl H ­ einrich Ulrichs’ nannte 831 – keine „normalen“ Männer. Er beschrieb sie mit typisch weib­lichen Geschlechtscharakteren wie passiv, schwärmerisch, sentimental, frömmelnd, putzsüchtig und kokett.832 Die „homosexuelle Liebe“ definierte er in Anlehnung an Krafft-Ebing als eine sexuelle Pathologie, die meist mit „tiefer Psychopathie“ verbunden sei.833 In der Mehrzahl der Fälle sah er die Homosexualität auf erb­licher Anlage 8 25 Krafft-Ebing, Vorwort (1893), S. V. 826 Vgl. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1903), S. 208 – 248. 827 Auch die homosexuellen Frauen wurden als anormal dargestellt, im sexualwissenschaft­lichen Diskurs wurden sie jedoch nur marginal besprochen. 828 Eder, Kultur der Begierde, S. 167. 829 Vgl. ebd., S. 167 – 168; Nye, Sex Difference and Male Homosexuality. 830 Moll, Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 245. 831 Vgl. zu Ulrichs Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 144 – 165. Forel nannte Ulrichs den „Anwalt der homosexuellen Liebe“ und übernahm zwar dessen Terminologie, sonst aber verurteilte er „Ulrich [sic!] und Seinesgleichen“ wegen ihres Versuches, „den absurden Beweis zu erbringen, dass die Urninge eine besondere normal-physiologische Art Menschen seien“ (Forel, Die sexuelle Frage, 1905, S. 247 f.). 832 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 248. 833 Ebd., S. 250. An der Herbstsitzung der Gesellschaft der Ärzte des Kantons Zürich, wo er zu „Übergangsformen zwischen Geistesstörung und geistiger Gesundheit“ referierte, zählte er auch die Homosexualität zu den „constitutionellen Psychopathien“. Vgl. Forel, Uebergangsformen zwischen Geistesstörungen und geistiger Gesundheit (1890), S. 238.

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beruhend, eine Ansicht, die er jedoch in den späten 1910er-Jahren revidierte.834 Er plädierte wie Krafft-Ebing, Magnus Hirschfeld und Moll dafür, dass die Homosexualität straffrei werden sollte. Solange die „Urninge“ sich „nur an Erwachsene wenden, und weder Verführung noch Gewalt vorliegt“, seien diese harmlos.835 Vor allem Minderjährige jedoch sollten vor homosexuellen Avancen geschützt werden.836 Die grösste Gefahr sah Forel darin, dass Homosexuelle heiraten und „sexuell pervertierte Kinder“ zeugen würden.837 Im Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie seines ehemaligen Schülers Ploetz folgte er einer eugenischen Argumentation und bedauerte: „Wir züchten leider und erhalten die Entarteten, die Homosexuellen wie die anderen. Diese zeugen näm­lich bekannt­lich Kinder, trotz ihrer Homosexualität.“838 Die Verhinderung dieser Nachkommen war sein Hauptziel, da sich dann die homosexuelle Liebe „selbst selektiv ausmerz[en]“ würde.839 Obwohl Forel die Homosexuellen als kranke Perverse einschätzte, betonte er zu deren Verteidigung wiederholt, dass es auch „anständige Urninge“ gebe.840 Seine Ausführungen verdeut­lichen, wie diese „Anständigen“ die dominanten sexual­ pathologischen Kategorisierungen zur Selbstbeschreibung übernommen hatten.841 Sie litten an ihrer „Perversion“ und kämpften gegen den mächtigen Trieb an. Nach der Publikation von Die sexuelle Frage, worin Forel für die straffreie Ausübung der Homosexualität unter „Gleichgesinnten“ plädierte, bekam er viele Zuschriften Betroffener, die sich in seinen Beschreibungen und Kategorisierungen wiederfanden. Ein Beispiel solcher kolonisierter Selbstwahrnehmung führte er in seinem Vortrag Sexuelle Ethik an. Im Brief schilderte der Schreibende seinen Konflikt zwischen „guter Erziehung“ und „unglückseliger perverser Neigung“: „Glauben Sie mir, geehrter Herr Professor, der beständige Kampf meiner Hemmungszentren gegen diesen Trieb ist entsetz­lich.“ Forels mildes Urteil über die Homosexualität habe ihn jedoch getröstet und beruhigt.842 834 Forel, Die Theorie Dr. Ammons (1909), S. 804. Vgl. zu Forels späterem Meinungsumschwung: „Herr Dr. Frank machte mich schon früher darauf aufmerksam, dass viele Fälle von Homosexualität, mehr als ich früher glaubte, nicht vererbt, sondern infolge von Onanie oder dergleichen erworben worden sind. Die Richtigkeit dieser Ansicht muss ich jetzt anerkennen.“ Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 237. 835 Forel, Sexuelle Ethik (1906), S. 28; ders., Die sexuelle Frage (1905), S. 435. 836 Forel, Ethische und recht­liche Konflikte im Sexualleben (1909), S. 55. 837 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 435. 838 Forel, Die Theorie Dr. Ammons (1909), S. 804. 839 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 251. 840 Ebd., S. 250. 841 Die Krankheitseinsicht war allgemein in den Krankenakten des Burghölzli ein wichtiger Topos auf dem Weg der Genesung. Ohne Krankheitseinsicht gab es keine Heilung. 842 Forel, Sexuelle Ethik (1906), S. 44 f. („Ethik und Qual eines anständigen Urnings“).

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Von der angeborenen Homosexualität unterschied Forel die erworbene Homosexualität, die allerdings oft auf einer „latenten oder larvierten erb­lichen Urningsanlage“ beruhe, aber auch durch Angewöhnung entstehen könne.843 Die Entscheidung, ob die „conträre Sexualempfindung“844 angeboren oder erworben sei, hatte grossen Einfluss auf Forels Therapiebemühungen, wie auch der erwähnte Fall von Walter R. zeigt. Patienten mit diagnostizierter erworbener Neigung zum gleichen Geschlecht behandelte er bevorzugt mit Suggestionstherapie, um „normale Libido mit entsprechenden Träumen wieder zu erzeugen“.845 Im Lehrbuch zog er bei der Behandlung dieser Fälle eine äusserst positive Bilanz und beurteilte die Therapierung der drei Fälle als „sehr guten Erfolg“.846 Wie Forel bezog sich auch Albert Moll in seiner Einschätzung der Homosexualität auf Krafft-Ebing und betitelte den „Geschlechtstrieb, der den Mann zum Manne führt“, als Perversion.847 Moll unterschied ebenfalls zwischen erworbener und angeborener – wie er sagte: eingeborener – Homosexualität und definierte die „gesunde“ Sexualität in sehr engem Rahmen. Jeg­liche Ausübung derselben, die nicht der Fortpflanzung diente, war seiner Ansicht nach pathologisch: „[W]ir dürfen ein damit [mit der Homosexualität, M. B.] behaftetes Individuum nie für gesund erklären.“848 Die Behandlung der Homosexualität mithilfe der Hypnosetherapie wurde neben Forel von vielen Hypnoseärzten propagiert. Krafft-Ebing, Schrenck-Notzing, Moll, Tuckey, Wladimir Bechterew und Wetterstrand wandten ebenfalls die Suggestiv­ behandlung an.849 Krafft-Ebing schrieb im Vorwort zu Molls Werk Die konträre Sexual­ empfindung: „Es mehren sich die Fälle, in welchen es der Heilkunst bereits gelungen 8 43 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 253 und S. 278. 844 Neben Ulrichs’ Begriff des Urnings resp. des Urningtums oder des Uranismus verwendete Forel häufig Westphals Begriff der „conträren Sexualempfindung“. Vgl. Westphal, Die con­ träre Sexualempfindung (1870). 845 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 208. 846 Ebd., S. 208. 847 Moll, Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 11. 848 Ebd., S. 268. Auch hier lehnte er sich an Krafft-Ebing an, der den Zweck mensch­licher Sexua­ lität nur in der Fortpflanzung sah und jede Abweichung davon als Zeichen funktioneller Degeneration definierte. Vgl. Hutter, Richard von Krafft-Ebing, S. 49. 849 Siehe Rezensionen von deren Publikationen in der Zeitschrift für Hypnotismus (Tuckey, ­Quelques cas d’inversion sexuelle traités par la suggestion, in: Zeitschrift für Hypnotismus 4, 1896, S. 329; Bespr. W. v. Bechterew, Die suggestive Behandlung des conträren Geschlechtstriebes und der Masturbation, in: Zeitschrift für Hypnotismus 8, 1899, S. 370); Moll, Die Behandlung der Homosexualität (1900); ders., Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 288 f.; Wetterstrand, Der Hypnotismus (1891), S. 52 f.; vgl. auch den Brief von Wetterstrand an Forel vom 28. 9. 1896 (MHIZ PN 31.2:4525). Schrenck-Notzing führte einige Fälle Wetterstrands an, wo dieser Homosexualität mit Suggestivbehandlung therapierte (Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie, 1892, S. 222 – 224); Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis.

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ist, auf dem Wege der (hypnotischen) suggestiven Behandlung solchen Unglück­ lichen die rettende Hand aus namenlosem Elend zu bieten und sogar die Natur zu korrigieren.“850 Für Krafft-Ebing hing es vom Schweregrad der Homosexualität ab, ob eine hypnotische Behandlung wirkungsvoll sein konnte. Besonders die Behandlung der erworbenen Homosexualität und leichterer Fälle angeborener Homosexualität hatte seiner Meinung nach Aussicht auf Erfolg.851 Auch Moll wandte die Suggestionstherapie in Kombination mit andern therapeutischen Mitteln an, um den homosexuellen Trieb zu hemmen und Gedanken an das eigene Geschlecht zu mindern.852 Bei der ursäch­lichen Triebumwandlung war er weniger optimistisch. Zwar könnten sich neben der Hemmung des Triebes auch „heterosexuelle Ideen“ entwickeln, doch nur eine beharr­liche Therapie könne gute Ergebnisse erzielen, und auch dies funktioniere nicht, wenn der „abnorme Geschlechtstrieb zu tief eingewurzelt ist und die ganze Persön­lichkeit beherrscht“.853 Später entwickelte er die Suggestionstherapie zur „Assoziationstherapie“ weiter. In Anlehnung an die zweiphasige Entwicklung der sexuellen Orientierung von Dessoir sah er in der ersten Phase den Geschlechtstrieb als undifferenziert, d. h. sowohl mit homo- wie auch heterosexuellen Elementen versehen. Daraus folgerte er, dass bei den Patienten ein heterosexuelles Element vorhanden sei, das unter ärzt­lichem Einfluss gestärkt werden konnte.854 Im Gegensatz zu den andern Hypnoseärzten war Albert von Schrenck-Notzing äusserst zuversicht­lich, was die suggestive Therapierung der Homosexualität anbelangte. In seiner Münchener Praxis behandelte er viele homosexuelle Patienten, die ihm von andern Ärzten, so auch von Forel und Krafft-Ebing, zur Therapie zugewiesen wurden.855 Seine publizierten Fälle sah er als Beweise, „dass die conträre Sexualempfindung in eminenter Weise der Suggestivbehandlung zugäng­lich ist“.856 Er bilanzierte, dass über ein Drittel der Fälle geheilt werde, ein Drittel „wesent­lich gebessert“ und nur in 15%

8 50 Krafft-Ebing, Vorwort (1893), S. VI. 851 Vgl. zum Beispiel Beobachtungen 160, 169 und 170 in: Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1903), S. 293 – 296 und S. 321. Schrenck-Notzing nahm auch einige Hypnosefälle KrafftEbings auf (Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie, 1892, S. 212 – 219, Fall 39 – 45, zu „psychosexualer Hermaphrodisie“, und S. 227 – 231 die Fälle 54 – 57 zu „conträrer Sexualempfindung“). 852 Vgl. Moll, Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 278 und S. 288. Moll empfahl Wasser­ therapie, Ablenkung durch Beschäftigung und verbot seinen Patienten die Onanie. 853 Moll, Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 288. 854 Moll, Die Behandlung sexueller Perversionen (1911). Vgl. Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 215 f.; Herzer, Albert Moll, S. 63. 855 Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. 270. 856 Ebd., S. 273.

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von einem Misserfolg gesprochen werden müsse.857 Moll kritisierte diese Bilanz, da sich Schrenck-Notzing auch auf veröffent­lichte Fälle anderer Autoren stützte und mutmasste, dass die ungeheilten Fälle wahrschein­lich nicht publiziert worden seien.858 Aufgrund seiner positiven Bilanz folgerte Schrenck-Notzing, dass der Anteil der angeborenen Elemente in der Ätiologie der Homosexualität und anderer Sexualpathologien zu stark gewichtet worden sei: „Je mehr sich die Zahl der Fälle häuft, in denen bleibende therapeutische Resultate erzielt worden sind, um so geringer erscheint nach unserer Meinung der Antheil, den die erb­liche Disposition in der Entstehung dieser Anomalie beanspruchen kann.“859 Er favorisierte die „occasionellen Momente“ und die Erziehung als Hauptverursacher der „Geschlechtsverirrungen“.860 Hydro-, Elektro- und medikamentöse Therapie waren mög­liche Mittel, aber als „Rettungsmittel in verzweifelten Fällen“ propagierte er die Suggestivbehandlung.861 In seinen Therapierungen versuchte er, zuerst auf der Vorstellungsebene die männ­lichen durch weib­liche Fantasien zu ersetzen und dadurch eine „heterosexuelle Gefühlsweise“ zu erzeugen.862 Nach wenigen Sitzungen ging er dazu über, den Patienten die Vollziehung des Geschlechtsaktes mit Frauen aufzutragen. Forel berichtete er über einen Patienten, den ihm dieser 1889 zur Behandlung der Homosexualität zugewiesen hatte. Der therapeutische Erfolg sei nach zweiwöchent­licher Behandlung frappant, der Patient habe „gestern zum ersten Mal in seinem Leben den Coïtus mit einem Weibe – und zwar ohne jede Schwierigkeit“ vollzogen.863 Den heterosexuellen Geschlechtsverkehr sah Schrenck-Notzing als wichtiges Mittel an, um „das Eis zu brechen“: „Der so trotz grösster Schwierigkeiten eingeleitete sexuelle Verkehr muss durch geregelte Fortsetzung dem Patienten als Gewohnheit angezüchtet werden.“864 Um den Geschlechtsverkehr zu vollziehen, waren nach seiner Ansicht auch Prostituierte geeignete Sexualpartnerinnen, da der heterosexuelle Geschlechtsverkehr zur Vermeidung von Rückfällen regelmässig ausgeübt werden musste; zusätz­lich konnte durch den Bordellbesuch eine „unliebsame Vaterschaft“ vermieden ­werden.865 Auch in diesem Punkt zog sich Schrenck-Notzing die Kritik seiner Kollegen zu. Einerseits kritisierten sie den therapeutischen Geschlechtsverkehr, 857 Ebd., S. 310. 858 Moll, Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 289. 859 Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. 149. 860 Ebd., S. XI. 861 Ebd., S. 210. Weiter empfahl er ausgedehnte Bergwanderungen zur Stärkung des Willens (S. 207). 862 Ebd., S. 278. 863 Brief Schrenck-Notzings vom 30. Januar 1889 an Forel (MHIZ PN 31.2:3652), Hervorhebung im Original. 864 Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. 209. Bei Fall 63 vermerkte er in seiner Beschreibung den Vollzug des Geschlechtsakts akribisch (S. 265). 865 Ebd., S. 273.

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anderseits warnte zum Beispiel Moll gleich wie Forel energisch vor Bordellbesuchen und hielt fest: „Ich muss gestehen, dass mir die Homosexualität immer noch ein geringeres Uebel zu sein scheint als eine Infektion mit Syphilis.“866 Die tatsäch­liche Ausführung der Suggestionsbefehle verlief nicht immer reibungslos. Patient H., der Schrenck-Notzing „tief unglück­lich und moralisch deprimiert“ aufgesucht hatte, litt an „conträrer Sexualempfindung auf der Grundlage angeborener neuropathischer Constitution“.867 In der neunten Sitzung suggerierte Schrenck-Notzing den erfolgreichen Vollzug des Geschlechtsverkehrs. In der Folge suchte der Patient mit seinem Bruder ein Bordell auf; der „Horror feminae“ verursachte ihm allerdings Brechreiz, er kehrte unverrichteter Dinge wieder um. Am Tag danach, „nach energischer Wiederholung der früheren Suggestionen, ist Patient trotz hochgradiger Erregung im Stande, das Bordell zu betreten“. Der Geschlechtsverkehr gelang jedoch erst ein paar Tage später, „vorbereitet durch Alkoholgenuss“.868 Nach 204 Therapiesitzungen sprach Schrenck-Notzing von einer „relativen Heilung“, die „conträre Empfindungsweise“ würde nun mit der Zeit der „Inactivitätsatrophie anheim fallen“, die „künst­liche Züchtung“ der heterosexuellen Geschlechtsempfindung habe den „Naturfehler compensiert“.869 Schrenck-Notzing ging noch weiter und definierte als weiteres Therapieziel die Eheschliessung, als „mög­liche Sicherung vor Recidiven durch Herstellung zweckentsprechender äusserer Bedingungen“.870 Den regelmässigen Geschlechtsverkehr in einer glück­lichen Ehe sah er als idealen Rahmen, um Rückfällen vorzubeugen. Forel war komplett anderer Ansicht, was die angestrebte Eheschliessung der Homosexuellen betraf. Wie bereits erwähnt, sah er die Verheiratung Homosexueller als „schlimmste Tat“, da kranke Nachkommen gezeugt würden und die Ehe unglück­lich enden würde.871 Bei angeborener Homosexualität war er äusserst zurückhaltend und verwendete „aus ethischen Gründen die Suggestion nur zur Linderung des Triebes“,

866 Moll, Die Behandlung der Homosexualität (1900), S. 21 f. Forel: „Wenn beide Individuen einverstanden sind, ist sie [die Ausübung der Homosexualität, M. B.] nicht schlimmer, sogar entschieden weniger schlimm als die gesetz­lich geschützte Prostitution.“ (Forel, Die sexuelle Frage, 1905, S. 251). 867 Vgl. Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. 273 – 286. 868 Ebd., S. 278. 869 Ebd., S. 286. 870 Ebd., S. 278 f. In seinen Fallbeschreibungen kam es auch häufig zu Rückfällen, zum Beispiel bei Fall 62. Den Patienten, dem er eine starke „hereditäre Belastung“ attestierte, entliess er nach 45 Sitzungen als relativ geheilt. Acht Monate nach Therapieende stellte er fest, dass noch „Residuen der conträrsexualen Naturanlage des Patienten“ vorhanden seien, die sich unter anderem im „Traumleben“ zeigten (S. 245). 871 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 251 und S. 435.

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alles andere sei „unstatthaft“, da von „Heilung“ keine Rede sein könne.872 Da er die Weitergabe der Homosexualität an die nächste Generation befürchtete, beschränkte er sich symptomatisch auf die therapeutischen Mittel Hypnotismus, Ablenkung und Beschäftigung. Die Perversion war angeboren, und in Forels Logik als degenerative Erscheinung darauf angelegt, das Erbgut der nächsten Generation in negativem Sinne zu beeinflussen. Auch Moll äusserte zur Therapierung der Homosexuellen einige Bedenken, die jenen Forels entsprachen.873 Immer müsse der Nutzen für den Betroffenen und auch für die Gesellschaft bedacht werden; die meist vorliegende nervöse und degenerative Disposition könnte den Nachkommen vererbt werden. „Soll man unter diesen Umständen den Urning überhaupt fähig machen, Nachkommen zu zeugen?“874 Für Moll, der in der Homosexualität meist ein „schweres Degenerationszeichen“ sah, war es eine Pf­licht, diese Frage sorgfältig abzuwägen: „[W]enn wir bedenken, dass durch die Fortpflanzung des Homosexuellen die weitere Vererbung, ja die Vermehrung der Belastung für die Nachkommenschaft zu befürchten ist, so werden wir uns immerhin die Frage vorzulegen haben, ob wir Aerzte dazu unsere Hilfe gewähren sollen.“875 Der Arzt habe bei schweren Fällen deshalb auch das Recht, die Behandlung abzulehnen. Für Schrenck-Notzing dagegen war es das kleinere Übel, wenn „mög­licherweise erb­lich belastete Kinder“ geboren würden, da das „physiologische Bedürfnis nach Befriedigung des Geschlechtstriebes“ stärker als die moralischen Absichten zur Enthaltsamkeit sei.876 Krafft-Ebing hatte bei der Kodifizierung der Homosexualität auch im Zusammenhang mit der Degeneration klare Aussagen gemacht, welche die andern Sexualpathologen wie beispielsweise Moll stark beeinflussten.877 Wie bereits erwähnt, war die Homosexualität für Krafft-Ebing hauptsäch­lich eine angeborene Erscheinung, 872 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 209. Wenn der homosexuelle Geschlechtsverkehr unter Alkoholeinwirkung geschehen war, wandte Forel nur Abstinenz an, um die seiner Ansicht nach heterosexuelle Normalität wiederherzustellen. Vgl. Forel, Die Rolle des Alkohols bei sexuellen Perversionen (1895), S. 179. 873 Vgl. Moll, Die Behandlung der Homosexualität (1900), S. 1 – 29. 874 Moll, Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 276. 875 Moll, Die Behandlung der Homosexualität (1900), S. 9. Später scheint Moll seine Meinung geändert zu haben, da er Hirschfelds Warnung vor der heterosexuellen Ehe Homosexueller wegen angeb­licher Gefahr von erbgeschädigten Nachkommen als Spekulation zurückwies. Vgl. Herzer, Albert Moll, S. 64. 876 Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie (1892), S. 273. 877 Wesent­liches ätiologisches Moment bei Homosexualität seien die „psychische oder nervöse Belastung und die Degeneration des Centralnervensystems“. Die degenerative Belastung ­breche als Homosexualität beim Geschlechtstrieb als „locus minoris resistentiae“ durch. Moll, Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 218 und S. 220 f.

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die immer krankhaft war. Für ihn trugen die Homosexuellen eine Belastung, die „in der Regel eine hereditäre“ war.878 Zwar hält Eder fest, dass die Homosexualität um 1900 immer seltener als eine Degenerationserscheinung beurteilt wurde.879 Doch Fachgrössen wie Krafft-Ebing und Moll betonten diesen Aspekt: „Da in fast allen bezüg­lichen Fällen der Träger der perversen Sexualempfindung eine neuropathische Belastung nach mehrfacher Hinsicht aufweist und da diese mit erb­lich degenerativen Bedingungen sich in Beziehung setzen lässt, darf jene Anomalie der psychosexualen Empfindungsweise als functionelles Degenerationszeichen klinisch angesprochen werden.“880 Im Gegensatz zu Forel oder Moll forderte Krafft-Ebing trotz diagnostizierter Degeneration aber kein eugenisches Fortpflanzungsverbot. Für ihn stand das Wohl des einzelnen Klienten über dem der Gesellschaft, und die „heilige Pf­licht des Arztes“ war, dem Patienten Rat und Hilfe zu gewähren.881 Nur kurz angetönt sei hier, dass sich bei Forels Auseinandersetzung mit der Homosexualität die verschiedenen damaligen Interpretationsangebote überlagerten. So las er einerseits die Homosexualität als Degenerationszeichen, das an die nächste Generation weitergegeben wurde, anderseits aber auch in Freud’scher Manier als Folge eines veränderten Sexualobjekts oder eines veränderten Sexualtriebes. Über diese neue, psychologische Lesart von sexuellen Störungen stellte er jedoch immer den Primat der Erb­lichkeit.882 Hysterikerinnen Die Hysterie machte mit Abstand den grössten Anteil der Hypnosediagnosen bei den Patientinnen aus und besetzte mit der Gruppe der Neurosen den zweiten Platz auf der allgemeinen Anwendungsrangliste. Gerade am Beispiel der Hysterie lässt sich die Heterogenität respektive das Unverfestigte der therapeutischen und diskursiven Anstrengungen Forels zeigen. Einerseits wagte er sich auch in diesem Bereich auf psycho­genes Terrain vor, andererseits griff er immer wieder auf den angeb­lich sicheren faktischen Grund der Hirnanatomie zurück. Von den 14 dokumentierten Hypnosefällen in der Diagnosegruppe der Neurosen stehen zwölf mit Hysterie in Zusammenhang. Zwei Fälle betrafen männ­liche Hysteriker, die andern Fälle waren Patientinnen, die im Burghölzli als hysterisch 878 Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1903), S. 249. 879 Eder, Kultur der Begierde, S. 164. 880 Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1903), S. 208. Vgl. zu weiteren Hinweisen auf die „neuro­ pathische Belastung“ der Homosexuellen ebd., S. 242 und Moll, Die konträre Sexualempfindung (1893), S. 298. 881 Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1903), S. 325. 882 Vgl. dazu beispielsweise Forel, Ethische und recht­liche Konflikte im Sexualleben (1909), S. 50 f. und S. 54; ders., Die Theorie Dr. Ammons (1909), S. 804 f.

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diagnostiziert wurden. Auch in seiner Privatpraxis behandelte Forel von 1898 bis 1911 viele Hysterikerinnen. Mit 56 Fällen stellten sie die grösste Gruppe der Behandelten, dicht gefolgt von 54 Fällen von Patienten, die an Schlaflosigkeit litten.883 Erfolg und Misserfolg hielten sich bei den Burghölzli-Fällen ungefähr die Waage, bei den ambulanten Fällen der Privatpraxis zog Forel eine äusserst positive Bilanz. In 31 Fällen sprach er von einer Heilung, in 15 Fällen von einer Besserung: „Darunter recht schwere Fälle, Männer und Frauen. Bei vielen kann nach Jahren die bleibende Heilung festgestellt werden.“884 So trat beispielsweise die 35-jährige Glätterin Elisabeth H. am 9. April 1888 ins Burghölzli ein. Sie litt an Anfällen, Schmerzen in Bauch und Rücken sowie Zuckungen in Armen und Beinen. Nach anfäng­lichen Schwierigkeiten wurde die Patientin nach wenigen Tagen „regelmässig und mit gutem Erfolg“ hypnotisiert, wie Volontärarzt Ludwig Frank in der Krankengeschichte vermerkte. Neben Forel selbst wurde Elisabeth H. von Sekundärarzt Ernst Laufer und Frank hypnotisiert. Nachdem der Austritt bereits geplant war, traten die Anfälle jedoch jede Nacht wieder auf. Die Patientin wurde trotzdem mit der Diagnose „Hysterie“ als „gebessert“ am 26. April 1888 entlassen. Elisabeth H. bewertete die Hypnosetherapie in ihren Notizen zur Behandlung – wahrschein­lich auf Geheiss Forels niedergeschrieben – sehr positiv: „Die Anfälle von denen ich leider schon seit Jahren heimgesucht wurde, sind nun mit Gottes und geehrten Herren Aerzte Hilfe gewichen und zwar in unglaub­lich kurzer Zeit und ich habe die feste Hoffnung, dass ich nun von meinem Leiden ganz befreit sein werde.“885 Weniger erfolgreich verlief dagegen die Behandlung von Theresa B.886 Die 22-jährige Hausfrau trat am 7. August 1895 ins Burghölzli ein. Sie litt seit einiger Zeit an nervösen Beschwerden und war überzeugt, unheilbar krank zu sein. Sie hatte von Forels Hypnosebehandlung gehört und wünschte beim Eintrittsgespräch, „dringend hypnotisiert zu werden, weil sie glaubt, darauf von ihren Leiden befreit zu werden“. Zwei Tage später vermerkte der behandelnde Arzt, dass die Patientin nur wenig beeinflussbar sei. Sie habe „zu mächtige Autosuggestionen“. Der nach Forel typisch hysterische Charakterzug wandte sich gegen die Hypnosebehandlung, und nach nur vier Tagen in der Klinik wurde Theresa B. am 11. August 1895 entlassen: „Nicht hypnotisabel; zu grosse Autosuggestionistin. Es fehlt ihr sehr an Geduld. […] Hysterie. Ungebessert.“ Vorweggenommen kann hier gesagt werden, dass ­Theresa B.s Nichtgenesung für Forel keine Überraschung war. Die übersteigerte 8 83 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 206. 884 Ebd., S. 206. Neun Fälle blieben ungeheilt, eine Patientin verweigerte die Behandlung. 885 StAZH Z 100, KA-Nr. 4655, „Mangelhafte Notizen über die Wirkung der Hypnose“, verfasst von der Patientin am 19. April 1888. 886 StAZH Z 100, KA-Nr. 6458.

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Autosuggestibilität und die in der Anamnese betonte hereditäre Belastung – Mutter schwermütig, Vater leichtsinnig – machten sie zur „echten Hysterikerin“, bei der die Hypnosetherapie versagen musste. Die Beurteilung der Hysterie und deren Zusammenhang mit dem Hypnotismus war zentraler Streitpunkt zwischen den konkurrierenden Hypnoseschulen von ­Charcot und Bernheim. Nach Charcots Ansicht konnten nur Hysterische hypnotisiert werden. Die Hypnose schätzte er als pathologischen Zustand ein, der eng mit der Hysterie verbunden und deshalb für die therapeutische Anwendung nicht geeignet war. Bernheim dagegen definierte die Hypnose als schlafähn­lichen Zustand, der bei allen Personen durch Suggestion hervorgerufen und zur Therapierung verschiedener Krankheiten angewandt werden konnte. Gerade die Hysterie aber wurde von vielen Anhängern Bernheims als schwieriges Gebiet für die Hypnosetherapie beurteilt. Auch Forel äusserte sich wiederholt skeptisch zur Therapierbarkeit der Hysterie, obwohl er viele Hysterikerinnen hypnotisierte.887 Viele seiner Fachkollegen standen der diesbezüg­lichen Anwendung des Hypnotismus ebenfalls skeptisch gegenüber.888 So meinte zum Beispiel Georg Ringier, dass „[d]ie suggestive Behandlung Hyste­ rischer […] wohl eine der schwierigsten und undankbarsten [Aufgaben sei], welche dem Hypnotiseur gestellt werden kann“.889 Trotz der Skepsis wurde die Hysterie in der Zeitschrift für Hypnotismus breit thematisiert. Die Buchbesprechungen, Fallbesprechungen und Artikel zu Ätiologie und Pathogenese füllen viele Seiten.890 Prominente

887 Vgl. zum Beispiel Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 5; ders., Der Hypnotismus (1919), S. 177; ders., Die Heilung der Stuhlverstopfung durch Suggestion (1894), S. 55. 888 Vgl. Moll, Der Hypnotismus (1889), S. 23. 889 Ringier, Erfolge des therapeutischen Hypnotismus (1891), S. 115. Ringier führte in Combremont-le-Grand, einem kleinen Dorf in der Westschweiz, eine Arztpraxis. Die Auswertung seiner Hypnosetherapien wurde von den Hypnoseärzten – und vor allem Forel – interessiert aufgenommen, da damit die Anwendung des Hypnotismus bei der länd­lichen Bevölkerung „abseits von den grossen Verkehrsadern der Welt“, bei Menschen ohne „überreiztem Nervensystem“ beleuchtet wurde. Vgl. Forel, Zur Einführung, in: Ringier, Erfolge des therapeutischen Hypnotismus (1891), S. IIIf., und Ringier, Erfolge des therapeutischen Hypnotismus (1891), S. VII. 890 Eine Auswahl: Ringier, Ein Fall von hysterischem Mutismus (1894); Krafft-Ebing, Zur Sugges­ tionsbehandlung der Hysteria gravis (1896); Loewenfeld, Ueber einen Fall von hysterischem Somnambulismus (1897); Sjöström, Ein Fall von spontanem Somnambulismus (1898); Vogt, Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie (1899); ders., Zur Kritik der psycho­ genetischen Erforschung der Hysterie (1899); Freuds Zur Aetiologie der Hysterie wurde von Brodmann besprochen (Zeitschrift für Hypnotismus 4, 1896, S. 387 – 389). Es erschienen in den Nummern 6 bis 9 auch Literaturzusammenstellungen zum Thema.

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Hypnoseanwender wie Bernheim, Janet, Krafft-Ebing, Schrenck-Notzing und Arthur Schnitzler behandelten Hysterie mit Hypnotismus.891 Auf den ersten Blick könnte man hier von einem Bruch zwischen dem medizinischem Diskurs respektive der Abwehrrhetorik gegenüber Charcots Schule und der ärzt­lichen Praxis sprechen, da die oft geäusserte Skepsis im Widerspruch zu der tatsäch­lichen Anwendung steht. Auf den zweiten Blick entpuppt sich der Diskurs jedoch heterogener. Die genauere Lektüre von Forels Hysterie-Hypnose-Thematisierungen zeigen ähn­liche Argumentationsstränge wie jene zur Behandlung der Homosexualität, die auf die unerschütter­liche Biologie, aber auch auf die Plastizität derselben verweisen. So unterschied Forel zwischen „echter Hysterie“, die ein konstitutionelles Leiden sei, und „erworbener Hysterie“, die durch „Misshandlungen und Erschöpfungen des Gehirns“ entstehen könne.892 Anders als die „echte“ Hysterie, die „als abnorme Charaktereigenschaft des Gehirnes nicht heilbar“ sei, schätzte er die erworbene Form als heilbar ein, ohne sich genauer über deren Ätiologie zu äussern. Die „Misshandlungen“ und „Erschöpfungen“ deuteten auf überreizte Nerven, andernorts schrieb er von „übermächtigen Gefühlen und Vorstellungen“, die hysterische Symptome hervorrufen könnten.893 Forels Hysterievorstellung oszillierte zwischen den verschiedenen zeitgenössischen Hysteriekonzepten, die von gynäkologischer, hirnanatomischer und psychogenetischer Ätiologie ausgingen.894 In den 1880er-Jahren beurteilte er die Behandlung der Hyste­ rie durch Kastration bereits kritisch, räumte jedoch noch ein, dass in jenen Fällen, wo ein Zusammenhang mit „Ovarialreizen“ vorhanden sei, die „Castration indicirt“ sei.895 Damit schloss er an die antike Uterusgenese der Hysterie an, die dank Pinel im Krankheitsbild der „Uterinneurose“ Anfang des 19. Jahrhunderts eine Renaissance erlebt hatte, sich jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts wieder verlor.896 1903 war Forels Diktum diesbezüg­lich eindeutig. Die Hysterie habe „mit der Gebärmutter nichts, mit der Gehirnanlage dagegen alles zu schaffen“.897 Die Hysterie beurteilte er als „funktionelle Abnormität der Gehirnanlage“, als eine „dissoziative 891 Zu Schnitzler und Janet Furst, Before Freud, S. 26; zu Janet Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 487 – 511; zu den andern siehe Ringier, Erfolge des therapeutischen Hypnotismus (1891), S. 121. 892 Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 177; ders., Der Unterschied zwischen der Suggestibilität und der Hysterie (1897). 893 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 150 f. 894 Ausführ­lich zum Forschungsstand im Bereich Historiografie der Hysterie: Nolte, Gelebte Hysterie, S. 12 – 17, und zu Hysteriekonzepten um 1900 ebd., S. 112 – 135; Schmersahl, Medizin und Geschlecht. Vgl. zu Hysterie und Hypnose Furst, Before Freud; zu männ­licher Hysterie Micale, Hysterical men. 895 Forel, Zur Heilung der Hysterie durch Castration (1886), S. 4. 896 Vgl. Nolte, Gelebte Hysterie, S. 113 f. 897 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 150.

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Schwäche des Gehirnes“, die mit „krankhafter Autosuggestibilität“ verbunden sei.898 Mit diesem Befund zeigt er sich weiterhin der hirnanatomisch und -physiologisch ausgerichteten Psychiatrie verhaftet, deren Schule er durchlaufen hatte, und von der er sich trotz grossem Interesse für psychologische Faktoren in der Ätiologie und der Therapie nicht verabschiedet hatte. Um 1900 gehörte Leopold Loewenfeld mit s­ einer hirnanatomischen Hysterielehre zu den Experten, und dessen Ideen wurden von Otto Binswanger weiter ausgeführt.899 Sie gingen von einem organischen Substrat der Hyste­rie aus, das sie in der Grosshirnrinde vermuteten. Forel selber äusserte sich nicht direkt zur Lokalisierung der Hysterie, sondern sprach lieber von der übersteigerten, pathologischen Autosuggestibilität.900 Die Hysterie machte er also an einer verqueren Vorstellungswelt fest, der ein organisches Substrat in der „Gehirnanlage“ entsprach. Auch das konkurrierende Konzept einer psychologischen Betrachtungsweise schlug sich in Forels Schriften und seiner therapeutischen Praxis nieder. Die Hysterielehre von Paul Julius Möbius, welche die psychogene Ursache der Hysterie betonte, also dass sie durch Vorstellungen verursacht sei, trug „wesent­lich dazu bei, dass die gynäkologische Hysterielehre […] in den 1880er Jahren erheb­lich an Bedeutung verlor“.901 Die krankhaften Vorstellungen der Hysterischen sah Möbius in einem „Nichtbewussten“ angesiedelt, welches den Kranken nicht direkt zugäng­lich war. Konsequent folgerte er, dass die psychisch bedingte Krankheit nur psychologisch behandelt werden konnte, und wandte die Hypnosetherapie an. Lose war Möbius mit der Hypnose-Community verbunden gewesen. So stand er in brief­lichem Kontakt mit Forel und war bei den ersten drei Nummern der Zeitschrift für Hypnotismus als Mitherausgeber beteiligt. Er veröffent­lichte allerdings keine Artikel, doch seine Arbeiten wurden in der Zeitschrift fleissig besprochen.902 Forel kannte Möbius’ Hysteriedefinition und pf­lichtete dieser auch bei. So erklärte er, dass Möbius „mit Recht betonte, wie bei Hysterischen die Symptome aus Vorstellungen zu

898 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 176 f. 899 Nolte, Gelebte Hysterie, S. 130. Vgl. Loewenfeld, Pathologie und Therapie der Neurasthenie (1894). Er war auch Sexualpathologe und wandte die Hypnosetherapie an. Sein Werk Der Hypnotismus, Handbuch der Lehre von der Hypnose und der Suggestion (Wiesbaden 1901) beschrieb Gauld als „substantial and commendably eclectic work which covers most aspects of the subject“ (Gauld, A history of hypnotism, S. 419). Loewenfeld publizierte 1897 auch zwei Artikel in der Zeitschrift für Hypnotismus. Mit Forel scheint er nicht näher bekannt gewesen zu sein, da keine Korrespondenz im Nachlass Forels existiert. Als Sexualpathologe ist Loewenfeld in Vergessenheit geraten, in Siguschs Geschichte der Sexualwissenschaft wird er nur am Rande erwähnt (Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 110 und 557). 900 Forel, Der Unterschied zwischen der Suggestibilität und der Hysterie (1897), S. 91. 901 Nolte, Gelebte Hysterie, S. 121. Vgl. zu Möbius ebd., S. 121 – 128. 902 Im Jahr 1890 besuchte Möbius Forel in Zürich und verschaffte sich einen Einblick in dessen Hypnosetherapie (vgl. Walser, August Forel, S. 262).

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entstehen pflegten“.903 Die pathologischen Vorstellungen eröffneten auch ihm das Tor zur Therapie. Man müsse bei der Hysterie gerade diese „pathologische Dissociabilität oder Suggestibilität zum Guten“ nutzen. Allerdings: „Unheilbar ist […] die Anlage selbst.“904 Wie die Psychiater aus Marburg, die Nolte untersucht hatte, nahm Forel Teile von Möbius’ Lehre auf und war überzeugt, dass „falsche Vorstellungen“ kurierbar seien, daneben blieb er der hirnanatomisch ausgerichteten Psychiatrie verpf­lichtet.905 Er unterschied zwar von der angeborenen Hysterie eine erworbene Form, die durch psychische Vorstellungen entstehe, konnte sich aber auch bei der erworbenen Hyste­ rie nicht von seiner naturwissenschaft­lichen Argumentation lösen, die ihn deut­lich innerhalb des medizinisch-psychiatrischen Diskurses situierte. So visierte er einen anatomischen Bezugspunkt an: Die „erworbene pathologische hysterische Reaction“ basierte gemäss seiner Logik auf einer konstitutionellen Prädisposition.906 Die Hypnosetherapie der Hysterie brach also nicht mit vorgängigen Wissensbeständen, sondern funktionierte parallel zu ihnen. Gerade bei Forel ist auch der Versuch erkennbar, diese miteinander zu kompatibilisieren. Ansatzweise störte noch die alte – und von Forel als überholt proklamierte – Verflechtung von Hysterie und Geschlechtsorganen respektive Sexualität den Diskurs. Bei Noltes Marburger Psychia­tern war die Wahrnehmung der Hysterikerinnen von „populären Vorstellungen der hypersexuellen […] Hysterikerin“ beeinflusst.907 Auch in den Krankenakten des Burghölzli war das erotische Verhalten der Patientinnen ein grosses Thema. Die Hysterikerinnen störten den Klinikalltag als übersexualisierte Wesen, und in den Jahresberichten schlug sich diese hysterische Hypersexualität in der Massnahme einer kalten Dusche nieder: „Wegen hysterischen Perversitäten, welche chronisch zu werden drohten, erhielten 3 hysterische Kranke je eine kurze kalte Dusche.“908 903 Forel, Der Unterschied zwischen der Suggestibilität und der Hysterie (1897), S. 91. 904 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 151. In der Auflage von 1922 betonte Forel dann, dass die Hysterie zum dankbarsten Gebiet „für Heilungen durch Psychanalyse“ gehöre. Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 191 f. 905 Vgl. Nolte, Gelebte Hysterie, S. 134. 906 Forel, Der Unterschied zwischen der Suggestibilität und der Hysterie (1897), S. 92. 907 Nolte, Gelebte Hysterie, S. 310. 908 Rechenschaftsbericht 1881, S. 8. Dito ein Jahr später: wegen „unausgesetzter perverser Handlungen“ wurden drei weitere Hysterische kalt geduscht (Rechenschaftsbericht 1882, S. 8). Vgl. auch StAZH Z 100, KA-Nr. 5846 (kein Hypnosefall, aber „hysterischer Wahnsinn“, „­ sexuell aufgeregt“). Bei den hypnotisierten Hysterikerinnen war deren Hypersexualität weniger ein Thema, aber im Zusammenhang mit der Hysterie wurde teilweise auf Genitalien und Gebärmutter verwiesen. So wurden bei einer Patientin vom einweisenden Arzt deren „in Entwicklung zurückgebliebene Genitalien“ erwähnt (KA-Nr. 4839), eine Patientin wurde nach erfolgloser Behandlung ihrer Ovarialneuralgie in der Zürcher Frauenklinik (durch Elektrizität und kalte Umschläge) zur hypnotischen Behandlung ins Burghölzli überwiesen

Hypnotisierte Männer und therapieresistente Frauen?

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7.4 Hypnotisierte Männer und therapieresistente Frauen? Forels anfäng­licher Optimismus für den Einsatz der Hypnosetherapie im Burghölzli hielt zwar nicht an, doch die Durchsicht der Krankenakten zeigt, dass die Hypnosetherapie nicht marginal angewendet wurde, wie in der Literatur bis anhin angenommen. Durchschnitt­lich wurden 11% der Patientinnen und Patienten der Hypnosetherapie unterzogen. Die jähr­lichen Prozentsätze schwanken leicht. 1888, im ersten Jahr nach der Erlernung des Hypnotisierens, lag er bei 15,5%, 1892 bei 8% und 1895 bei 8,6%. Man kann annehmen, dass sich in den 1890er-Jahren der Prozentsatz durchgängig um etwa 8% bewegte. Auffallend ist, dass mit einem Anteil von 65% viel mehr Männer hypnotisiert wurden, und im Vergleich mit der gesamten Patientenzahl die Oberschichtangehörigen unter den Hypnosefällen deut­lich übervertreten waren. Dieser Befund widerspricht der gängigen Ansicht, dass die soziale Distanz für die erfolgreiche Hypnotisierung besonders zentral gewesen sei. Vielmehr stützt dieses Ergebnis das Resultat der Studie zu den Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie, dass die Wahrschein­lichkeit für therapeutische Massnahmen bei den Oberschichtangehörigen grösser war als bei den Unterschichtangehörigen.909 Die Anwendung der Hypnosetherapie stand primär mit den Beschwerden und der Diagnose in Zusammenhang. Aus der Diagnosegruppe der organischen Psychosen und angeborenen Geisteskrankheiten wurde niemand hypnotisiert. Dagegen belegen Genussmittelerkrankungen – vor allem Alkoholismus – den Spitzenplatz unter den Hypnosediagnosen. Gefolgt werden sie von der Gruppe der neuro­ tischen Erkrankungen, wobei hier vor allem die Hysterikerinnen hypnotisiert wurden. ­Weiter wurden wenig Patientinnen und Patienten mit Diagnosen aus dem Bereich der manisch-­depressiven Erkrankungen, Epilepsie und marginal aus den moralischen Qualifikationen behandelt. Auch aus der Gruppe der schizophrenen Erkrankungen – wie Wahnsinn oder Paranoia – kamen vereinzelte in den Genuss der Hypnotisierung. Wiederholt ergänzte Forel die Hypnosetherapie mit zusätz­ lichen Beeinflussungsmitteln. So wurden beispielsweise dem Morphinisten bei der Entziehungskur „Pseudoinjektionen“ verabreicht, die Wasser enthielten, und einem Hysteriker wurde bei Schlafbeschwerden ein Glas „magnetisches Wasser“ als Einschlafhilfe vorgesetzt. Schwieriger ist es, quantitative Aussagen zu Erfolg oder Nichterfolg der Hypno­ setherapie zu machen. Als Erfolg kann gewertet werden, dass der Patient auf die Suggestionen ansprach und die Beschwerden verschwanden respektive sich besserten; bei (KA-Nr. 5732), und bei einer dritten Patientin vermerkte der Burghölzli-Arzt im Behandlungsjournal, dass die Patientin über „alle mög­lichen nervösen Beschwerden im Unterleib“ klagte (KA-Nr. 6458). 909 Meier, Zwang und Autonomie, S. 79.

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einem Misserfolg dagegen liessen sich die Patienten nicht hypnotisieren oder sprachen nicht auf die Suggestionen an. Nicht in jedem Fall standen die Heilung oder die Besserung mit der Hypnosetherapie in Zusammenhang, und nicht immer vermerkten die Ärzte den Therapieausgang. Meiner Einschätzung nach hielten sich Erfolg und Misserfolg in etwa die Waage. Bei 27 Fällen kann von einem Erfolg, bei ebenso vielen von einem Misserfolg ausgegangen werden.910 Mit der Fokussierung auf drei Diagnosegruppen konnten Forels Anwendungen im breiteren hypnotischen Diskurs eingebettet werden. Diese drei Gruppen wurden gewählt, da sie bei der Auswertung der Krankenakten quantitativ ins Gewicht fielen (Alkoholiker und Hysterikerinnen) oder einen gewichtigen Platz in der Privatpraxis und im damaligen Fachdiskurs einnahmen (Sexualpathologie). Zusätz­lich zeigte sich bei diesen drei Krankheitsbildern eine ausgeprägte geschlecht­liche Markierung, die bei der Interpretation von Forels Hypnoseanwendungen mitbedacht werden muss. Bei den drei Diagnosegruppen fiel ins Auge, dass die Demarkationslinie zwischen angeboren und erworben entscheidend für seine Therapiebemühungen war. Ob Alkoholiker, Homosexueller oder Hysterikerin, das ärzt­liche Urteil über erworben oder angeboren öffnete oder schloss die Tür zur Hypnosesitzung. In Forels Beurteilungen zeigt sich, dass sich verschiedene wissenschaft­liche Konzepte überlagerten und keine homogene Argumentationslinie dominierte. Seine Auseinandersetzung mit der Ätiologie bestimmter Krankheiten – und damit auch der Einsatzmög­ lichkeiten des Hypnotismus – changierte zwischen dem Primat eines organischen Substrats der Krankheit und einer psychologischen Lesart. Dies wird vor allem bei der Homosexualität und der Hysterie deut­lich. Forel blieb trotz seinem Bekenntnis zur Psychotherapie einer organisch ausgerichteten Psychiatrie verpf­lichtet. Auf den dritten Teil dieser Arbeit verweisend, kann hier bereits angemerkt werden, dass die Therapierung der Alkoholiker, der Homosexuellen und der Hysterikerinnen im breiteren Kontext der von Forel vehement diskutierten „Alkoholfrage“ und der „sexuellen Frage“ stand. Mit der Therapierung des Individuums hatte er immer auch den Volkskörper im Visier. Auffallend bei den Ergebnissen der quantitativen Auswertung ist der grosse Geschlechterunterschied. Gut zwei Drittel der Hypnotisierten waren Männer. Es ist offensicht­lich, dass dieser Unterschied mit den Diagnosen in Zusammenhang steht. In der Zürcher Studie zu Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie kamen die Autorinnen und Autoren zum Schluss, dass Frauen kränker und weniger heilbar eingeschätzt wurden.911 Das Übergewicht von Männern in der Heilanstalt und von Frauen in der Pflegeanstalt wird als Hinweis darauf gesehen. Die Frauen „wurden ‚härter‘

910 Neun Fälle lassen sich aufgrund der Einträge nicht klar zuordnen. 911 Tanner, Ordnungsstörungen, S. 289.

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diagnostiziert, sie waren weit häufiger und zugleich invasiveren Massnahmen ausgesetzt“.912 Dies fiel vor allem bei den Diagnosen Schizophrenie und Genussmittelmissbrauch auf, da fast die Hälfte aller Patientinnen im untersuchten Zeitraum von 1870 bis 1970 eine Diagnose aus dem Bereich der Schizophrenien erhielt, bei den Männern dagegen nur 30%. Diese erhielten häufiger Diagnosen wie Genussmittelmissbrauch und Psychopathie.913 Zusätz­lich galten die Frauen bei unangepasstem – respektive dem weib­lichen Geschlechtscharakter nicht entsprechendem – Verhalten als schwierig und wurden schnell als therapieresistent beurteilt.914 Mein Befund bestätigt diese Aussagen: Die Patientinnen und Patienten mit einer „harten“ Diagnose wurden praktisch nicht hypnotisiert. Da die Frauen bei den „härtes­ ten“ Diagnosen der schizophrenen Erkrankungen, die Männer dagegen bei den „weichsten“ Diagnosen der Genussmittelerkrankungen klar übervertreten waren, spiegelte sich dies auch in den Geschlechteranteilen der Hypnosebehandlung. Am ehesten hatten die Frauen eine Chance auf die Hypnosetherapie, wenn ihnen Hyste­ rie diagnostiziert wurde. Neben dem Zugang zur Therapie hatten die Männer auch bessere Heilungsaussichten. Zwei Drittel der hypnotisierten Patientinnen und Patienten verliessen das Burghölzli mit dem Entlassungsstatus „geheilt“ oder „gebessert“. Von den geheilten Patientinnen und Patienten waren 72% Männer und nur 28% Frauen.915 Die Frauen zeigten sich therapieresistenter: Unter den neun ungeheilten (inkl. zwei „ungebesserten“) Hypnosefällen waren acht Patientinnen und ein Patient. Die Aufenthaltsdauer der Kranken stützt diesen Befund, da die Hypnosepatienten im Durchschnitt 78 Tage, die Hypnosepatientinnen dagegen 302 Tage in der Klinik weilten. Auch innerhalb der einzelnen Kategorien wurden die Frauen kränker beurteilt. Dies zeigte sich beispielsweise bei den Alkoholikerinnen, die im Gegensatz zu den Männern, die schnell dem Alkoholgenuss erliegen würden und deren (mässiger) Alkoholkonsum auch toleriert wurde, als hochgradig „willens- oder charakterschwach“ und „mehrheit­lich auch sonst verkommen“ eingeschätzt wurden.916 Hier zeigt sich, dass die gesell­schaft­lichen Geschlechterverhältnisse, welche die Frauen in 912 Tanner, Schlusswort, S. 208. Vgl. zur Einteilung von „harten“ und „weichen“ Diagnosen Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 71. 913 Meier/Bernet, Grenzen der Selbstgestaltung, S. 41. 914 Meier, Psychochirurgie, S. 267; vgl. dies., Zwang und Autonomie, S. 84 – 87; Braslow, Mental Ills and Bodily Cures, S. 158 – 161. 915 Allerdings wurde der Entlassungsstatus nicht in allen Krankenakten festgehalten. Bei neun von 63 Hypnosefällen fehlt er. Auch sonst ist er nicht einheit­lich gefasst, oder je nachdem gaben die Ärzte ihrer Skepsis Ausdruck („geheilt [?]“). Vgl. zu den Schwierigkeiten bei der Erfassung des Entlassungsstatus über einen längeren Zeitraum Dörries, Akten und Computer, S. 214; Digby, Quantitative and qualitative perspectives on the asylum, S. 169. 916 Fünfter Jahresbericht der Trinkerheilstätte (1894), S. 14.

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entscheidenden Lebensbereichen diskriminierten, sich auch auf die Anstaltsordnung und den Therapiezugang der psychiatrisierten Frauen auswirkte.917 Diese Frauen wichen stark von der weib­lichen Norm ab und waren in den Augen der Psychiater nicht nur „abnormer“, sondern auch kränker und deshalb schwieriger oder gar nicht therapierbar. Die seltenere Hypnotisierung von Patientinnen könnte auch ganz direkt mit Forels Vorstellungen eines „vergeschlecht­lichten“ Gehirnes zusammenhängen, da er das weib­liche Gehirn als „weniger plastisch“ einschätzte.918 Dies steht allerdings im Widerspruch zu Forels ständigen Thematisierungen von hypnotisierten Frauen – Patientinnen und auch Wärterinnen – in seinen Texten. In seinem Lehrbuch machen die Frauen bei den Beispielen gegen zwei Drittel der Fälle aus.919 Wie die quantitative Auswertung der Krankenakten jedoch gezeigt hat, hiess dies nicht, dass tatsäch­ lich mehr Frauen hypnotisiert wurden. Weitere Kriterien bestimmten den Zugang zur Hypnosetherapie. So sagte die Abteilungsunterbringung etwas darüber aus, ob jemand Hypnosetherapie verordnet bekam oder nicht. Patientinnen und Patienten der unruhigen Abteilungen mussten erst auf die ruhige Abteilung versetzt werden, bevor sie hypnotisiert wurden.920 Weiter kann man sagen, dass die Hypnosepatientinnen und Hypnosepatienten von den Ärzten als interessante Fälle eingeschätzt und deshalb auch mehr beachtet wurden. Die Kadenzmuster dieser Krankengeschichten berichten für die Dauer der Hypnosetherapie von einem nahen Verhältnis von Arzt und Patient. In der Krankenakte der 56-jährigen Winderin Barbara K., die am 10. Juni 1895 wegen Angstgefühlen und schwächebedingtem Umfallen ins Burghölzli eintrat, notierte der behandelnde Arzt anfangs regelmässig über den Zustand und die Behandlung der Patientin.921 Fünf 917 Vgl. Tanner, Schlusswort, S. 209. 918 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 298. Vgl. dazu Kap. 9. 919 Vgl. seine Fallbeispiele in Der Hypnotismus (1919). In einem Artikel in der Münchener Medici­ nischen Wochenschrift schreibt Forel, er habe die Hypnose „besonders bei Frauen versucht“, und von den 13 näher besprochenen Fällen sind denn auch elf Frauen und zwei Männer (vgl. Forel, Einige Bemerkungen über Hypnotismus [Nachtrag], 1888, S. 1). In anderen Texten ist das Geschlechterverhältnis ausgeg­lichen, z. B. Einige therapeutische Versuche mit dem Hypno­tismus (1887) (41 Personen: 21 Männer, 20 Frauen), und in Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888) berichtet er, dass er in letzter Zeit Hypnose bei 58 neuen Personen versucht habe (27 Männer, 31 Frauen). Auch im Bericht von Bauer über Forels Hypnosevorlesung von 1896 ist der Geschlechteranteil ausgeg­lichen (vgl. Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik, 1897). 920 StAZH Z 100, KA-Nr. 4787, 4800 und 6434. Hier gibt es zwei Ausnahmen. Es wurden ein Patient aus der halbruhigen Männerabteilung B (KA-Nr. 5719) und eine Patientin aus der halbruhigen Frauenabteilung F (KA-Nr. 4677) hypnotisiert. 921 StAZH Z 100, KA-Nr. 6424. Vgl. dazu auch Bugmann, „Naturwissenschaft­liche Experimentalmethode“ und Psychotherapie, S. 58.

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Tage nach ihrem Eintritt wurde Barbara K. wegen ihrer Atembeschwerden vor der klinischen Vorstellung hypnotisiert. Der Arzt war zuversicht­lich und wagte eine Diagnose: „Die Krankheit scheint nicht sehr tief zu sitzen. […] [E]s wäre mög­lich, dass auch die anderen Beschwerden und Erscheinungen durch Suggestion heilbar wären, dann hätte man es mit einer Hysterie zu tun.“ Die Vermutung des Arztes bestätigte sich jedoch nicht. Der Erfolg der Hypnotisierungen war von kurzer Dauer, bald klagte die Patientin wieder über Atemnot, und ihr Zustand verschlechterte sich. Es folgten noch weitere Hypnotisierungen, aber „ohne sichern, jedenfalls ohne anhaltenden Erfolg“, wie in der Krankengeschichte festgehalten wurde. Allmäh­lich wurde Barbara K. in den Augen des Arztes zum hoffnungslosen Fall. Die Eintragungen wurden spär­licher, und am 28. Oktober 1896 wurde sie „ungeheilt“ mit der Diagnose „hypochondrische Paranoia“ in die Pflegeanstalt Rheinau verlegt. Das Kadenzmuster dieser Krankengeschichte zeigt das anfäng­liche Interesse an der Hypnosepatientin, das mit dem Nichterfolg der Therapie zusehends schwindet.922 Keinen Einfluss auf die Hypnosebehandlung hatte, ob die Personen als Patientinnen und Patienten oder zur Begutachtung ins Burghölzli eingewiesen wurden. Auch die zu Begutachtenden hatten die Mög­lichkeit, bei allfälligen Gebrechen hypnotisiert zu werden.923 Schwieriger ist es, den Einfluss der konstatierten erb­lichen Belastung zu beurteilen. Zwar mussten die einweisenden Ärzte auf dem „Formular für die ärzt­ lichen Krankengeschichten“ bei den ätiologischen Angaben unter dem ersten Punkt die „hereditäre Belastung“ angeben. Doch dieses Formular wurde nur selten vollständig ausgefüllt, und in den anamnestischen Angaben in der Krankengeschichte finden sich nicht immer eindeutige Aussagen. In sechs Hypnosefällen wurde nachweis­lich eine hereditäre Belastung vermerkt. Aufgrund der Aussagen der Hypnoseärzte muss allerdings vermutet werden, dass Patientinnen und Patienten mit konstatierter erb­ licher Veranlagung eher nicht hypnotisiert wurden. Zusammenfassend lässt sich der ideale Hypnosepatient wie folgt beschreiben. Er war männ­lich, mit einer „schwachen“ Diagnose nicht erb­licher Ätiologie versehen, sprach gut auf die Therapie an und wurde nach kurzer Zeit geheilt entlassen.

922 Im ersten Monat ihres Aufenthaltes in der Klinik finden sich fünf Einträge in der Kranken­ geschichte, danach nur noch neun Einträge bis zu ihrem Austritt anderthalb Jahre später (StAZH Z 100, KA-Nr. 6424). 923 Unter den 581 Patientinnen und Patienten waren 23 Exploranden und neun Explorandinnen, über deren Zustand die Burghölzli-Ärzte ein Gutachten auszustellen hatten. Auch einer d­ ieser Exploranden kam in den Genuss der Hypnosetherapie (KA-Nr. 5719). Unter den Begutachteten gab es weitere Hypnosefälle (vgl. Kölle [Hg.], Gericht­lich-psychiatrische Gutachten aus der Klinik von Herrn Professor Dr. Forel, 1896, S. 149 f., S. 238, S. 305). Vgl. zur Begutachtungspraxis Bernet, „Der bürger­liche Tod“, S. 133 – 136; Germann, Psychiatrie und Strafjustiz; Bleuler, Geschichte des Burghölzli, S. 388 f.

8. Hypnose als performatives Ritual Nach der quantitativen Auswertung der Hypnosebehandlungen stehen nun die Frage nach dem Wie, der dramaturgische Leitfaden und dessen Wirkung im Zentrum. Wie „funktionierten“ die Hypnosetherapien? Welche Faktoren beeinflussten Gelingen oder Scheitern der Therapie? In seinem Buch Der Hypnotismus strengte sich Forel an, seinen Schülerinnen und Schülern Wissen zu vermitteln, um erfolgreich hypnotisieren zu können. Er lieferte einen dramaturgischen Leitfaden inklusive Angaben zu Möblierung, zeit­licher Abfolge, Sprache und Gestik. Die Analyse der Hypnosetherapie orientiert sich hier an einem kulturwissenschaft­lichen Ritualbegriff, der neben der transformativen Kraft die Rahmensetzung und die Inszenierung betont. Die Hypnosetherapie war an spezifische Rahmenbedingungen und eine Inszenierungsstruktur gebunden, die deren Verlauf und Ergebnis bestimmten. So werden in diesem Kapitel zuerst Faktoren der Rahmung untersucht, welche die Hypnosetherapie unter Forel definierten. Danach wird der Verlauf der Hypnotisierungen, basierend auf den Angaben in Forels Skript, analysiert, orientiert an der Verlaufsanalyse Victor Turners. Zusätz­lich wird die Frage des subversiven Potenzials der rituellen Perfomance beleuchtet, das allen Beteiligten Handlungsspielräume eröffnete und Forels Skript immer wieder unterlief.

8.1 Die Rahmung der Therapie Zur spezifischen Rahmung der Hypnotisierungen Forels gehörten der klinisch bestimmte räum­liche und zeit­liche Kontext, die direkt Beteiligten und auch anwesendes Publikum.924 Die zu Hypnotisierenden übernahmen beim Eintritt in die Klinik eine ganz bestimmte Rolle und trafen innerhalb der spezifischen Arzt-Patienten-­ Beziehung auf Forel. Sie waren die Patientinnen und Patienten, die krank und behandlungsbedürftig waren und sich unter die Aufsicht von ärzt­lichen Experten begaben, um geheilt zu werden. Forel forderte von ihnen Krankheitseinsicht und damit die Übernahme der Kranken-Perspektive. Durch diese Einsicht bestätigte der Patient auch die Autorität des Arztes. Die Kranken brachten durch die Anrede Forels mit „Herr Direktor“ ihre Akzeptanz der hierarchischen Ordnung zum Ausdruck.925 Diese Perspektivierung fungierte als wichtiger Filter, um die folgenden Aktivitäten einem 9 24 Vgl. zu Bestandteilen der Rahmung Wulf/Zirfas, Performative Welten, S. 39. 925 Vgl. Forel, Einige therapeutische Versuche mit dem Hypnotismus (1887), S. 3; ders., Der Hypno­ tismus (1919), S. 138. Gleichzeitig konnten Patientinnen und Patienten mit der ausbleibenden Ehrerbietung die Anstaltsordnung gezielt missachten und Respektlosigkeit ausdrücken (vgl. Goffman, Interaktionsrituale, S. 330 f.).

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bestimmten Zusammenhang zuzuordnen. Gleichzeitig stand dieser Perspektivierung innerhalb der psychiatrischen Klinik manche Schwierigkeit im Weg, da viele Patientinnen und Patienten gegen ihren Willen ins Burghölzli kamen, nicht „einsichtig“ in ihre Krankheit waren oder der Therapie den Nutzen absprachen. Die starke Position, die Forel innerhalb des Arzt-Patienten-Verhältnisses innehatte, ermög­lichte ihm die Rahmensetzung in der Klinik. Er bestimmte die Situierung der Hypnosetherapie innerhalb eines klinischen Tagesablaufs. Gemäss Hinweisen in Krankengeschichten und Publikationen richtete er am Nachmittag, eingeordnet ins Tagesprogramm von Visiten, Mahlzeiten und Beschäftigung der Kranken, einen hypnotischen Kurs ein, wo er nach Wetterstrands Methode die Patientinnen und Patienten gleichzeitig in einem Raum empfing und in Gegenwart aller nacheinander hypnotisierte.926 Einen anderen Kontext bildeten die Referate und die Lehrveranstaltung zum Hypno­ tismus, wo Forel ausgewählte Patientinnen und Patienten vor Publikum hypnotisierte, so auch während seiner Hypnotismusvorlesungen ab 1887 in einem Hörsaal der Universität.927 Der praktische Kurs über Suggestion und Suggestivtherapie fand später im Konzert- und Kliniksaal des Burghölzli statt. Während des Sommersemesters wurden die Patientinnen und Patienten den Studierenden jeweils am Samstag von 14.30 bis 16 Uhr präsentiert und vor ihnen hypnotisiert.928 Auch in diesem Fall waren die Hypnotisierungen für alle Anwesenden ört­lich, zeit­lich und personell ganz deut­lich „gerahmt“. In Forels Lehrbuch finden sich wenige Hinweise auf die spezifischen Rahmenbedingungen der Hypnosetherapie. Ein wichtiger Faktor war die Verdeut­lichung der therapeutischen Situation, um den Erwartungshorizont der Patientinnen und Patien­ ten vorzuzeichnen. So liess Forel, angelehnt an Wetterstrands Methode der „kollektiven Hypnotisierung“, die Kranken auf ihre Behandlung warten, während andere bereits erfolgreich hypnotisiert wurden. Ihnen wurde die von ihnen erwartete Rolle vorgeführt, und wenn sie an die Reihe kamen, hatten sie das erwünschte Verhalten verinner­licht und schliefen rasch ein.929 Diese Strategie verfolgte Forel auch bei Präsen­ tationen ausserhalb der Klinik und in seiner späteren Privatpraxis.930 So berichtete er von einem Referat in Olten vor Ärzten, wo er nach der Hypnotisierung von zwei mitgebrachten Burghölzli-Patientinnen zwei Hypnose-unerfahrene Patienten aus dem Oltener Spital behandeln sollte. Er liess diese bei der Präsentation der geübten Zürcher Patientinnen zuschauen, „und das rasche und sichere Experimentieren mit 926 In welchen Abständen er diesen hypnotischen Kurs durchführte, ist nicht eruierbar. Bauer hält zum Sommersemester 1896 fest, dass Forel jeweils am Mittwoch in seiner Privatwohnung Patienten hypnotisierte. Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik (1897), S. 32. 927 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 138; StAZH Z 100, KA-Nr. 4601. 928 Vgl. zur Veranstaltung im Sommersemester 1896 Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik (1897). 929 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 201. 930 Ebd., S. 205 – 211.

Die Rahmung der Therapie

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Abb 16 Die hypnotisierte junge Frau ist von interessierten Ärzten umgeben. Holzstich von B. ­­ ­Falkenberg, München 1893, in: Moderne Kunst, Illustrirte Zeitschrift VIII (1894), Heft 22 (MHIZ BSa2 23:9.2).

denselben genügte, um sie dann auch zu beeinflussen“.931 Weiter wies er wiederholt darauf hin, dass neben Hypnotiseur und Hypnotisiertem zum Schutz der beiden Hauptakteure Zeugen anwesend sein müssten.932 Aspekte der Rahmung waren auch direkt mit der Inszenierung verflochten und nicht von dieser zu trennen. Räum­licher und zeit­licher Kontext und die Anwesenheit verschiedener Personen (andere Patienten oder Zuschauer) nutzte Forel, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen und den Verlauf der Hypnotisierungen in seinem Sinn zu beeinflussen. Die Rahmung der Hypnosetherapie kann m. E. weiter als Schutzmechanismus für alle Beteiligten gedeutet werden. Innerhalb des Rahmens, der den Beteiligten bekannt war, war bestimmtes Verhalten mög­lich, konnte innerhalb dieses Rahmens verstanden und interpretiert werden. Die klar definierte Grenze des Rahmens bestimmte das Mass an Autorität für den Hypnotiseur. Forels Grenze allerdings war durch seine

931 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 139. Es handelt sich um Forels Referat Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus von 1888. 932 Forel berief sich auf Bernheims Regeln. Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 196; Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 413.

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autoritäre Position ziem­lich weit gesteckt.933 Auch das Verhalten der Patientinnen und Patienten war eindeutig interpretierbar; jene, die sich nicht ihrer Rolle entsprechend verhielten, wichen von der Rahmung ab und akzeptierten so die Spielregeln nicht. Der an traumatischer Neurose leidende Patient beispielsweise, der Forel in seiner Privat­praxis aufsuchte und nicht hypnotisierbar war, wollte in dessen Logik denn auch „offenbar nicht geheilt“ werden und wurde „ungeheilt“ wieder entlassen.934

8.2 Die Inszenierung der Therapie Mit dem detaillierten Blick auf die Inszenierung werden die Elemente erkennbar, die Forel im klinischen Umfeld des Burghölzli einsetzte, damit die Hypnotisierungen seines Erachtens erfolgreich verlaufen würden. Der Begriff der Inszenierung bezieht sich direkt auf die Wahrnehmung, da es für die Inszenierung wichtig ist, wie sie resp. ob sie als solche wahrgenommen wird. Erika Fischer-Lichte merkt jedoch zu Recht an, dass dies nicht ohne Weiteres auf das soziale Leben übertragen werden könne, da die Inszenierung häufig besonders wirksam sei, wenn sie gerade nicht als solche erkannt werde.935 Diese Erkenntnis lässt sich m. E. auf die Hypnotisierungen Forels übertragen, da dort die Inszenierung besonders wirksam war, wenn der Patient die Hypnosesitzung als authentische Begegnung mit dem Arzt wahrnahm. Der Patient „glaubte“ an die Fähigkeiten des Arztes, die nicht von einer Inszenierung abhingen. Wenn man jedoch beachtet, wie viel Aufmerksamkeit die Hypnoseärzte der „richtigen“ Ausstattung und Durchführung der Hypnotisierung beimassen, wird deut­lich, dass sie sich der Inszenierung und deren Wirkung bewusst waren. So widmete Forel der Inszenierung und deren Fallstricken in seinem Lehrbuch unter dem Titel „Winke für die suggestive oder psychotherapeu­tische ärzt­liche Praxis“ ein eigenes Kapitel, und Bernheim begann sein bekanntes Werk De la suggestion et de ses applications à la thérapeutique mit methodischen Hinweisen.936 Die Inszenierung der Hypnotisierungen hing unmittelbar mit dem spezifischen Anwendungskontext zusammen. So war der hypnotische Kurs innerhalb des Burghölzli an den medizinisch-klinischen Kontext adaptiert, der durch Formalitäten und organisatorische Abläufe geprägt war.937 Die Rahmung der Hypnosetherapie innerhalb der 933 Vgl. Lachmund, Der abgehorchte Körper, S. 97. 934 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 210. 935 Fischer-Lichte, Performance, Inszenierung, Ritual, S. 44. 936 Vgl. Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 3 – 5. Auch Moll geht ­wiederholt auf Hypnotisierungsmethoden ein (Moll, Der Hypnotismus, 1907, z. B. S. 39 – 47 und S. 74). Seine Darstellung ist im Gegensatz zu jener Forels jedoch weniger als konkrete Anleitung angelegt. 937 Vgl. Peters, Macht im Kommunikationsgefälle, S. 42.

Die Inszenierung der Therapie

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Klinik gab ihr einen nicht zu hinterfragenden Sinn und wies den daran Beteiligten eine klare Rolle als Arzt, Patient oder Publikum zu, das aus Medizinstudierenden, Fachkollegen oder weiteren Patientinnen und Patienten bestand. Die Dramaturgie der Hypnosetherapie setzte sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Zentral war der verbale Aspekt, den Forel in Anlehnung an Bernheims Suggestionsmethode hervorhob. Liébeault, Bernheim und ihre Anhänger setzten hauptsäch­lich auf die suggestive Macht des Wortes und gingen von der Technik Abbé Farias aus, der die verbale Methode mit gebieterischen Befehlen propagiert hatte.938 Bernheim empfahl eine leise und monotone Sprechweise, je nach Situation bediente er sich auch des Befehlstons. Die Verbalsuggestion ergänzte er bei schwerer hypnotisierbaren Patientinnen und Patienten durch Gesten und materielle Hilfen und liess seine Finger oder Augen fixieren, strich ihnen als Einschlafhilfe über die Augen und setzte weiter auch Magnete ein, um die Suggestion zu unterstützen.939 Auch Forel ergänzte die Verbalsuggestionen mit körper­lichen Gesten,940 und der psychotherapeutisch versierte Ludwig Frank beispielsweise riet seinem ehemaligen Lehrer Forel, während der Hypnose auf neuralgische Schmerzpunkte zu drücken, um damit verbundene Emotionen zu wecken.941 Anders als Charcot, der den körper­lichen Aspekten eine direkte Wirkung zusprach, schrieb Forel diesen einen suggestiven Wirkmechanismus zu und setzte sie ein, um seinen Auftritt und die sprach­lichen Suggestionen zu unterstützen.942 So blickte er die Patientinnen und Patienten zur Einschläferung durchdringend an und führte mit seinen Händen bestimmte Gesten aus. Auch suggerierte er ihnen gewisse Bewegungen, um sie von der Effektivität der Hypnotisierungen zu überzeugen. Besonders häufig suggerierte er während der beginnenden Hypnose die Armkatalepsie, bei welcher der Arm in einer bestimmten Stellung verharrte und 938 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 167 f. Vgl. zu Abbé Faria auch Gauld, A history of hypnotism, S. 273 – 277, und Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 101 f. 939 Vgl. Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 3 f., S. 232 und S. 258. Bernheim zweifelte jedoch an einer direkten Wirkung des Magneten. Zum Einsatz von Magneten vgl. Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 44. 940 Beispielsweise befahl Forel den Patientinnen und Patienten zur Erhöhung der Suggestivwirkung, ihm in die Augen zu schauen oder zwei seiner Finger zu fixieren. Die eigent­liche Fixationsmethode wurde mit der Schule der Salpêtrière identifiziert, die von einer direkten mechanischen Wirkung der Fixierung ausging (vgl. Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 43 – 45). Zur Kritik Forels an der Fixationsmethode vgl. Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 2; ders., Zur Hypnose als Heilmittel (1894), S. 1 – 3. 941 Brief vom 25. Januar 1911 (MHIZ PN 35.2:101.2, S. 4). Frank geht darauf im Zusammenhang mit seiner Methode des „Abreagierens“ ein. Vgl. Frank, Die Psychanalyse (1910), S. 19 – 22. 942 Bernheim betonte, die mechanischen Reize Charcots seien unnötig (Bernheim, Die Sugges­ tion und ihre Heilwirkungen, 1888, S. 83). Auch Forel kritisierte Charcots Technik (Forel, Der Hypnotismus, 1888, S. 63).

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nicht mehr bewegt werden konnte.943 War der hypnotische Schlaf erreicht, berührte er jeweils die betroffenen Körperteile und erklärte gleichzeitig, dass die dortigen Schmerzen verschwinden würden. Zur körper­lich-materiellen Ebene der Inszenierung gehörte neben dem gestischen und mimischen Einsatz des Körpers die materielle Ausstattung des Raumes, wo Forel die Hypnotisierungen durchführte. Da die zu Hypnotisierenden mög­lichst schnell einschlafen sollten, beurteilten die Hypnoseärzte der 1890er-Jahre die geeignete Möblierung und Einrichtung des Behandlungszimmers als zentral für die erfolgreiche Hypnotisierung.944 Auch Forel gab in Der Hypnotismus Hinweise zur Einrichtung des Behandlungszimmers. Je nach Bedürfnis konnten die Patientinnen und Patienten auf einem „bequemen Lehnstuhl“ ohne oder mit gut gepolsterten Armlehnen Platz nehmen und bei Einschlafschwierigkeiten auf ein Sofa, eine Chaiselongue oder ein Bett wechseln.945 Auch die Positionierung der Möbel innerhalb des Raumes war wichtig, da Details den Erfolg zunichtemachen konnten, wie Schrenck-Notzing an Forel schrieb: „Ein Kissen, nicht ganz bequeme Rückenlage, kalte Füsse, geringe Unruhe verderben den Effekt ganz.“946 Der Lehnstuhl sollte, so Forel, mit einer Seite dicht an die Wand gerückt werden, um die erhöhte Haltung des Armes bei der Armkatalepsie zu unterstützen.947 Die normativen Vorgaben des Skripts unterscheiden sich von den Fallbeispielen, die Forel in seinen Publikationen anführte, da sich je nach Patientin oder Patient Abweichungen ergaben, auf die er reagieren musste. Diagnose, Geschlecht, Klasse und andere Faktoren modifizierten das Skript in nicht immer voraussehbarer Weise. Die Hypnoseärzte wiesen auf die notwendige Individualisierung hin, so zum Beispiel Bernheim: „Bei verschiedenen Personen führt verschiedenes Vorgehen zum Ziele. Bei den Einen genügt die milde Suggestion, bei Anderen bedarf es einer Art von Überwältigung, eines herrischen Gebarens, um die Neigung zum Lachen oder die unwillkür­liche Widerstandslust zu unterdrücken, welche bei derartigen hypnotischen Versuchen auftreten.“948 Forel warnte wiederholt vor einer Therapie nach „starrer Schablone“ und schärfte seinen Studierenden ein, zu individualisieren und den Patienten 9 43 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 192. 944 Vgl. Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 187. 945 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 189 f. Forel hatte ein ideal passendes Stuhl-Modell gefunden, für dessen Einsatz er auch bei Bernheim warb. Dieser bestellte in der Folge einen Patien­tenStuhl bei Forels Fabrikanten (vgl. Brief von Bernheim an Forel vom 30. Oktober 1887, MHIZ PN 31.2:121). 946 Schrenck-Notzing an Forel, 20. Dezember 1889, in: Walser, August Forel, S. 237; Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 187. 947 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 190. 948 Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkungen (1888), S. 5 und S. 281. Auch Moll weist auf die individuelle Methodenanpassung hin (Moll, Der Hypnotismus, 1907, S. 46).

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vor, während und nach der Hypnose genau zu beobachten.949 Christina Schröder weist jedoch darauf hin, dass die Hypnoseärzte immer wieder zu der symptomzen­ trierten Strategie zurückkehrten, „trotz des Vorsatzes, sich mit der Lebensgeschichte der Patienten vertraut zu machen“.950 Bevor mit der Hypnosetherapie begonnen werden konnte, mussten gewisse Bedingungen erfüllt werden. Die ritualisierten Hypnotisierungen unterlagen spezifischen Inszenierungsregeln, die eingehalten werden mussten, damit die Hypnotisierungen funktionierten. Damit jemand, nach Forels Ansicht ein Arzt, die Rolle des Hypnotiseurs übernehmen konnte, musste er sich das korrekte Verfahren aneignen. Der Arzt musste gewisse Fähigkeiten, Wissen und Taktik besitzen, um hypnotisieren zu können: „Zu einer richtigen und erfolgreichen therapeutischen Verwendung der Hypnose gehören: medicinisches Wissen und psychologische Kenntnisse, gehört vor Allem die Fähigkeit, Diagnosen […] zu machen, gehört auch Übung.“951 Forel betonte wiederholt, dass der Erfolg der Hypnosetherapie von den Fähigkeiten des Hypnotiseurs abhängt: „Bernheim hat vollständig Recht mit seinem Ausspruch, dass, wer nicht im Stande ist, 80 – 90% der geistig normal beanlagten Menschen […] zu hypnotisiren, sich sagen muss, dass er die Methode der Hypnotisation und Sugges­ tion noch nicht ganz beherrscht.“952 In seinem Lehrbuch, den Vorlesungen und den Vorträgen vor Fachkollegen bemühte er sich, das benötigte Wissen zu vermitteln.953 Die richtige Methode war auch notwendig, um Schädigungen des Hypnotisierten zu vermeiden.954 Dagegen waren die Hypnotisierungen gefahrlos, „wenn es nach richtig erfasster Suggestivmethode von einem darin geübten und einsichtigen Arzt besorgt […] wird“.955 Diese Argumentation Forels muss man auch als Verteidigungsstrategie im Zusammenhang mit den Kontroversen lesen, die über die Gefähr­lichkeit des Hypno­tismus und die Laienhypnose geführt wurden.956 949 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 197 und S. 123. Vgl. auch die Vorlesungsnotizen „Hypnotismus und suggestive Therapie“, undatiert (MHIZ PN 31.1:21.20). 950 Schröder, Der Fachstreit um das Seelenheil, S. 35. Forels Behandlung einer an Menstruationsbeschwerden leidenden Frau dient Schröder als Beispiel, um den Mangel an Kontakt und Intimität zwischen Arzt und Patientin zu verdeut­lichen (vgl. Forel, Der Hypnotismus, 1889, S. 65). 951 Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 4. 952 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 729. 953 Er forderte auch wiederholt, dass der Hypnotismus in das medizinische Curriculum aufgenommen werden sollte. Vgl. Forel, Der Hypnotismus in der Hochschule (1896). 954 Schädigungen konnten nach Ansicht Forels auftreten „durch Ungeschick­lichkeit des Hypno­ tiseurs, durch mangelhafte Uebung, Nachlässigkeit oder Leichtfertigkeit desselben, durch Anwendung fehlerhafter Methoden“. Forel, Zu den Gefahren und dem Nutzen des Hypnotismus (1889), S. 5. 955 Forel, Zu den Gefahren und dem Nutzen des Hypnotismus (1889), S. 6. 956 Vgl. Kap. 4 und 5.

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Nur am Rande sei erwähnt, dass dagegen Wissen oder zu viel Wissen der Patien­ tinnen und Patienten den Therapieerfolg gefährdete.957 Als Forel 1890 an der Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte die von ihm behandelten Fälle der Hypnotismusvorlesung des letzten Wintersemesters erläuterte, deutete er diesen Aspekt des Patienten-Wissens kurz an. Student V., der an neurasthenischen Beschwerden litt und den er in der Vorlesung behandelt hatte, war mit der Theorie der Suggestion vertraut: „Dennoch wird er sehr gut hypnotisirt und amnestisch.“958 Forel führte hier das Wissen des Patienten als mög­liches Hindernis an, das er jedoch umschiffen konnte. Wolfgang P., der zum Morphiumentzug ins Burghölzli eintreten wollte, richtete vor seinem Eintritt ins Burghölzli einen ausführ­lichen Fragenkatalog zur Hypnosetherapie an Forel. Unter anderem wollte er wissen, wie häufig die Hypnotisierung nötig sein werde, und ob „Unbehagen“ bei der „Vermeidung von Injectionen“ auftreten werde. Dann beschäftigten ihn auch noch Fragen, die mit der weitergehenden Wirkung der Therapie in Zusammenhang standen: „Kann ich durch die Hypnose auch die völlige Manneskraft wieder erhalten […]? Besteht durch Hypnose etwa auch die Mög­lichkeit, mich festen Willens zu machen, alle Opfer für meine Gesundheit zu bringen, meiner Familie die grösstmög­lichste Fürsorge zu schenken und im Geschäfte mit früherer Arbeitskraft vorzustehen?“ Zwar fehlt die Antwort Forels im Kopialbuch der Klinik, doch wird aus den späteren Aufzeichnungen des Patienten ersicht­lich, dass Forel ihn ermahnte, keine Fragen über die Hypnosetherapie zu stellen.959 Die eigent­liche Durchführung der Hypnotisierung begann mit der Vorbereitung der Patientinnen und Patienten. Claudia Stein schreibt über die exorzistischen Sitzungen des Wunderheilers Johann Joseph Gassner, dass der Erfolg der exorzistischen Sitzungen immer vom Funktionieren der Machthierarchie und Dynamik zwischen Exorzist, dem besessenen Opfer und den anwesenden Zeugen abhing.960 Diese Aussage lässt sich auf das Setting der Hypnosetherapie übertragen, da mit der spezifischen Rahmung innerhalb des hierarchischen Kliniksystems die verschiedenen Rollen mit ihren Kompetenzen und Handlungsräumen vorgegeben waren. Innerhalb der Inszenierung der Hypnosetherapie waren die Vergegenwärtigung und Aktualisierung dieser Rollen wichtig, um die Hypnotisierung erfolgreich durchführen zu können. Die Vorbereitung der Patientinnen und Patienten war der erste 957 Vgl. Bugmann, „Naturwissenschaft­liche Experimentalmethode“ und Psychotherapie, S. 59 f. 958 Forel, Zur suggestiven Therapie (1890), S. 3 (meine Hervorhebung). 959 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, Brief vom 21. April 1888, S. 4 (Hervorhebungen im Original). Zu Forels Antwort vom 23. April 1888 vgl. die Aufzeichnungen des Patienten vom 8. Juni 1888, S. 3. 960 Vgl. Stein, Johann Anton von Wolter (1711 – 1787), S. 180. Stein verweist auf die Arbeit von Caciola, Discerning spirits.

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Schritt im Skript der Hypnotisierungen, wie in verschiedenen Fachbüchern zum Thema deut­lich wird.961 Bei der Anamnese oder bei der Visite stimmten Forels Assistenten und er selber die Patientinnen und Patienten auf die vorgesehene Therapie ein. Das aufklärende Gespräch vor der Hypnotisierung sollte von der Therapiewahl überzeugen und war bereits Teil des suggestiven Verfahrens.962 Am 9. Mai 1895 wurde der 39-jährige Paul K. aus der Kaltwasserheilanstalt Buchenthal ins Burghölzli gebracht.963 Er litt an Wahnvorstellungen: Ein „Spirit“ liess ihn massenhaft schreiben und zwang ihn zu verschiedenen Handlungen. Oberarzt Delbrück empfahl Paul K. am Tag nach dem Klinikeintritt die Hypnotisierung: „Herr Direktor Forel hypnotisiere sehr viel und ich riet ihm, sich von ihm hypnotisieren zu lassen, um von der Macht seines ­Spirits befreit zu werden.“964 Der Patient liess sich nicht unmittelbar darauf ein, sondern musste überzeugt werden. Er teilte Delbrück mit, der „Spirit“ habe ihm schon gesagt, Herr Forel könne das nicht, er selber sei ein dummer Kerl, da er es ja schon mal bei einem Arzt probiert habe, der Raucher gewesen sei. Delbrück knüpfte an die Vorstellungswelt des Patienten an: Forel sei mächtiger als der „Spirit“ und sogar Nichtraucher. Er übernahm erneut die Themensteuerung im Gespräch und brachte den Patienten dazu, in die Hypnosetherapie einzuwilligen. Der Stellenwert dieses vorbereitenden Gesprächs wird deut­lich, wenn man berücksichtigt, dass Forel die entsprechende Eintragung der Krankengeschichte im Fachartikel, den er aus der Krankenakte des Patienten zusammenstellte, bereits unter dem Titel „Therapie“ einordnete. Am nächsten Morgen verkündete „Herr Direktor“ dem Patienten bei der Visite, „das sei eine ganz gewöhn­liche Geschichte. Solche Fälle habe er schon sehr viele gehabt und alle kuriert“.965 Geradezu exemplarisch setzte Forel seine propagierte Methode bei Paul K. um. In Der Hypnotismus hielt er Studierende und Arztkollegen dazu an, zuversicht­lich und zielbewusst die zu Hypnotisierenden auf die Therapie einzustimmen, um bestehende Zweifel an der Methode zu beseitigen und den Patienten zu beruhigen: „Dem zu Hypnotisierenden trete man […] ganz natür­lich und zielbewusst gegenüber, erkläre ihm, es sei nichts Unnatür­liches, nichts Zauberhaftes, sondern eine einfache, jedem 961 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 189; Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 346; Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 3. 962 Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 189. 963 Die St. Gallische Kaltwasserheilanstalt Buchenthal war eine der ältesten Wasserheilanstalten der Schweiz. Neben verschiedenen Badekuren wurden Elektrotherapie, Diätkuren, Inhala­tionen und „fleissige Bewegungen in den Tannenwaldungen“ angeboten (Flechsig, Bäder-Lexikon, 1889, S. 300 f.). 964 StAZH Z 100, KA-Nr. 6393; Forel, Durch Spiritismus erkrankt (1895), S. 233. 965 Forel, Durch Spiritismus erkrankt (1895), S. 233.

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Menschen zukommende Eigenschaft des Nervensystems und er werde ganz gut beeinflusst werden oder einschlummern. Man vermeide viele Worte und Erklärungen.“966 Forel unterliess Erklärungsversuche, da der Unterschied an Wissen, wie bereits erwähnt, seiner Ansicht nach der Effektivität der Therapie förder­lich war. Zentral war, dass der zu Hypnotisierende dem Arzt vertraute und ihn nicht ablehnte.967 Am Nachmittag besuchte Paul K. den hypnotischen Kurs. Wie Forel zum Kurs schrieb: „Man bringt ihn dann in eine Athmosphäre von suggestiven Heilerfolgen, und nun ist sein Gehirn vorbereitet, ergeben, überzeugt, d. h. von vorne herein veranlasst sich dissociiren zu lassen und keinen Widerstand zu leisten.“968 Auf die sugges­ tive Atmosphäre setzend, hypnotisierte er 14 andere Patientinnen und Patienten in der Gegenwart von Paul K. „Ich hatte ihn absicht­lich nahezu als Letzten vorgenommen und vorher beobachtet, mit welchem Interesse und mit welchem Erstaunen er die Beeinflussung aller Anderen […] verfolgt.“969 Dieses Ausnützen der gegenseitigen Beeinflussung hatte Forel in Nancy bei Liébeault und Bernheim und ganz besonders bei Wetterstrand in Stockholm erlernt.970 Forel berichtete im Lehrbuch von seinem Besuch 1890 in Stockholm: „Der neu angekommene Patient sah sich mit Erstaunen um, sah wie alle anderen auf das leiseste Zeichen einschliefen oder wieder erwachten, sah die günstigen Erfolge.“971 Das „psychische Kontagium“, wie Moll es nannte, konnte dadurch auf alle Anwesenden wirken.972 Beruhigt durch das vorgängige Gespräch und überzeugt durch die Hypnotisierungen anderer, war der Patient auf den bevorstehenden Akt der eigent­lichen Hypno­ tisierung eingestimmt.

966 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 189. Vgl. auch ders., Die Heilung der Stuhlverstopfung (1894), S. 61; ders., Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730; Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 3. 967 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 190. Albert Moll berichtete, in einer Untersuchung sei nachgewiesen worden, dass mit steigendem Vertrauen des Patienten zum Arzt und zur Behandlung auch die Hypnotisierbarkeit zunehme (Moll, Der Hypnotismus, 1907, S. 51). 968 Forel, Die Heilung der Stuhlverstopfung (1894), S. 61 f. 969 Forel, Durch Spiritismus erkrankt (1895), S. 234. 970 Vgl. Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 69 und S. 193; Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 3. 971 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 201. 972 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 349. Moll befürwortete die Methode der gemeinsamen Hypnosen nicht uneingeschränkt, sondern wies auf deren Schattenseiten hin. Besonders die Wahrung des Berufsgeheimnisses könne diese verbieten. Schrenck-Notzing führe weiter an, dass sich Leute aus höheren Gesellschaftskreisen gemeinsamen Hypnosen meist widersetzten. Zusätz­lich trete die Gefahr der „indirekten Suggestion“ auf, bei welcher sich ein Patient durch die Suggestion eines anderen Patienten beeinflussen lasse.

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Mit der Hypnotisierung begann die eigent­liche Schwellenphase. Die zu Hypnotisierenden erreichten im Idealfall den hypnotischen Schlaf, welcher Turners liminalem Zustand nahekam: Die Patientinnen und Patienten waren „ausser sich“ und verhielten sich nach einem Drehbuch, das ihrer sonstigen gesellschaft­lichen Position nicht entsprach. Sie lösten sich von ihren sozialen Normen, Rollen und Symbolen. Gewisse Zuschreibungen des liminalen Zustandes gemäss Turner wie demütig, selbstlos, gehorsam, schweigsam und unselbstständig passen sehr gut für den Hypnotisanden im Schwellenzustand.973 Doch anders als bei der starken Nivellierung in Turners liminaler Phase, wo die Ritualnovizen zu anonymen, besitzlosen, statuslosen Individuen werden und ihre Statusmarker bezüg­lich Geschlecht und sozialem Status verlieren, waren die Hypnotisierungen zwar stark formalisiert, mussten jedoch den einzelnen Patientinnen und Patienten angepasst werden. Wie bereits erwähnt, warnte Forel vor „schablonenmässiger“ Vorgehensweise und hielt seine Schüler zur Individualisierung an. Sozialer Status, Geschlecht, aber auch Diagnose modifizierten Inhalt und Vorgehen der Suggestion. Die Hypnotisierung selber begann mit der Platzierung des Patienten auf dem Lehnstuhl. Dieser wurde angehalten, Forel „einige Sekunden bis höchstens eine Minute in die Augen“ zu schauen.974 Danach wurde er mittels Verbalsuggestion eingeschläfert.975 Zusätz­lich liess Forel den Patienten, Bernheims Methode folgend, zwei Finger seiner linken Hand fixieren: „Schauen Sie mich an. Denken Sie nur ans Schlafen, Ihre Augen sind bereits feucht, die Lider schwer. Sie fühlen eine angenehme Wärme in den Beinen und Armen.“ Langsam senkte er die linke Hand: „Schliessen Sie die Augen!“ Der Patient schloss die Augen.976 Der Stimme kam im Rahmen von Bernheims Verfahren der Verbalsuggestion grosse Bedeutung zu. Auch Forel hob diesen Aspekt hervor und riet bei der Versammlung des ärzt­lichen Centralvereins in Olten: Die Stimme muss „allmälig langsamer, eintöniger, mit einem Wort schläfriger werden, um schon hiedurch das Individuum zum Schlaf zu bringen“.977 Bei besonders gut hypnotisierbaren Menschen und solchen, die das Prozedere schon gut kannten, reichte der Befehl „Sie schlafen!“ und eine kurze Bewegung der Hand gegen die Augen.978 Forels formelhafte Aussprüche verbanden sich mit Gesten, um maximale Wirkung zu erzielen. „Sie schlafen!“, ist 973 Turner, Liminalität und Communitas, S. 253 f. Vgl. zu den Eigenschaften des Schwellenzustandes weiter ders., Das Liminale und das Liminoide, S. 38 f. 974 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 191. 975 Vgl. Gauld, A history of hypnotism, S. 431 – 433. Gauld stützt sich hauptsäch­lich auf die Ausführungen von Leopold Loewenfelds Der Hypnotismus von 1901. 976 Nach Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 191, in direkte Rede umgewandelt. Bei Bernheim findet sich das nahezu identische Verfahren (vgl. Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung, 1888, S. 4; Gauld, A history of hypnotism, S. 324 f.). 977 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730. 978 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 192.

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als performativer Sprechakt zu deuten, bei dem Aussage und Gestik eine Zustands­ änderung herbeiführten. Auch Moll machte seine Leserschaft auf die Wirksamkeit von begleitenden Gesten aufmerksam.979 Um die Patientinnen und Patienten von der Wirksamkeit des Einschläferns zu überzeugen, wies Forel seine Arztkollegen auf diverse „Kniffe“ hin: „Man lässt den Arm über den Kopf halten und macht dem Patienten weis, derselbe könne gar nicht mehr herabsinken, sondern müsse vielmehr immer höher sich heben, wobei durch unbemerkte, durch künst­liche Haltung der Arme das Individuum irregeführt wird. Dabei muss auch auf die Phantasie des zu Hypnotisirenden mächtig eingewirkt werden, damit dieser zur Überzeugung komme, dass er ganz in der Gewalt des Hypnotiseurs ist.“980 Der kataleptische Arm war in diesem Zusammenhang ein bevorzugtes Mittel, um dem Hypnotisanden die Macht des Hypnotiseurs zu vergegenwärtigen.981 Wie bereits angeführt, unterstützte die Möblierung Forels Strategie, indem der Lehnstuhl extra dicht an der Wand stand, um den erhobenen starren Arm zu stützen. Weiter wies er auf „sensible Täuschungen“ hin, welche die Hypnose fördern sollten, beispielsweise „die Suggestion der Laus, die im Gesicht kratzt und andere mehr“.982 Kleine Erfolge sollte der Hypnotiseur ausnutzen und dem zu Hypnotisierenden gegenüber betonen: „Sehen Sie! Es wirkt ganz gut. Sie schlummern immer besser ein. Ihr Arm wird immer steifer, Sie können ihn nicht mehr herunterbringen.“983 Bei Paul K. nutzte Forel das Momentum der suggestiven Atmosphäre, das durch die Hypnotisierung anderer Patien­ ten entstanden war. „Er stand sicht­lich unter dem Bann meines Einflusses […] Als ich zu ihm kam, schaute ich ihm fest in die Augen, befahl ihm, sofort einzuschlafen.“984 Das Einschläfern von Paul K. war ein Leichtes, und er verfiel in sofortige Hypnose. Sobald der Patient eingeschlafen war, folgten die Suggestionen. Das Gehirn war nun „plastisch, für Eingebungen empfäng­lich“.985 Sprechtempo, -rhythmus und Intonation änderten sich, indem der langsame, schläfrige Tonfall der Stimme von einer ­lauten, sicheren und monotonen Stimme abgelöst wurde. Nach der Methode L ­ iébeaults und Bernheims wurde dem Patienten die Heilungsvorstellung suggeriert. Mit lauter 979 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 74 f. 980 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730. 981 Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 191 f. In der Vorlesung ging Forel ebenfalls auf diese Strategie ein (vgl. MHIZ PN 31.1:21.8). Auch Moll behandelte den „Muskelsinn“ als „Eingangsweg der Suggestionsvorstellung“: „Ich hebe den Arm eines Hypnotischen, halte ihn hoch und lasse ihn dann los; der Arm bleibt stehen, wie ich ihn gestellt habe, ohne dass ich etwas sage. Warum geschieht dies? Weil die Versuchsperson glaubt, dass er stehen bleiben soll.“ Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 75 f. (Hervorhebung im Original). 982 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730. 983 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 191. 984 Forel, Durch Spiritismus erkrankt (1895), S. 234. 985 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730.

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Stimme müsse man „das Aufhören der Symptome, welche er verspürt“ behaupten.986 Forel wies zusätz­lich darauf hin, man müsse „stets völliges Wohlsein, heitere Stimmung, guten Schlaf, guten Appetit und Kräftigung des Willens suggerieren“.987 Paul K. suggerierte er „mit grösster Bestimmtheit und scharfem, befehlendem Ton“, wies den „Spirit“ in die Schranken und meldete seinen Prioritäts-Anspruch an: „Ich bin viel mächtiger als der Spirit und breche vollständig seine Macht.“ Abschliessend sugge­ rierte er die Genesung: „Sie sind ganz geheilt!“988 Nicht nur beim Einschläfern, auch bei den therapeutischen Suggestionen selber verband er verbale mit körper­lichen Aspekten, um eine starke Wirkung zu erzielen. So setzte er zum Beispiel zur Therapierung von Schmerzen auf Körperkontakt, indem er bei gleichzeitiger Erklärung, dass die Schmerzen verschwinden, die schmerzende Stelle berührte.989 Bei einer jungen Frau, die an Verstopfung litt, berührte er während der Hypnose den Bauch – „durch die Kleider“, wie er betonte.990 Forel kam bei der Inszenierung der Therapie zugute, dass in der medizinischen Kultur der Klinik gewisse Normen und Tabus ausser Kraft gesetzt waren.991 Ihm war jedoch klar, dass ausserhalb der medizinischen Öffent­lichkeit Rechtfertigungsdruck bestand, wie seine wiederholten Kommentare belegen, dass die Berührungen der Patientinnen über die Kleider geschahen.992 Auch im Kontext der Hypnosevorlesung, die er seit dem Wintersemester 1887/88 im Lehrangebot führte, wurde der Inszenierungscharakter deut­lich. Im Sommer­ semester 1896 fand der Kurs über Suggestion und Suggestivtherapie jeweils am S­ amstag von 14.30 bis 16 Uhr im Konzert- und Kliniksaal des Burghölzli statt.993 Assistenzarzt Carl Bauer beschrieb das Setting wie folgt: „Dem Auditorium gegenüber sind in einem Halbkreis bequeme Fauteuils und Polsterbänke aufgestellt, auf welchen die zu hypnotisirenden Leute Platz nehmen. In ihrer Mitte sitzt der Vortragende; die Patienten kommen von beiden Seiten her durch Seitenthüren herein, von der einen Seite die Männer, von der anderen die Frauen, und werden im Nebenzimmer jeweils vor der Hypnose untersucht und befragt.“994 Er berichtete weiter, dass die Patienten 986 Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 190. 987 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 196 (Hervorhebung im Original). 988 Forel, Durch Spiritismus erkrankt (1895), S. 233 f., und StAZH Z 100, KA-Nr. 6393. Die Suggestionen sind aus indirekter Rede angepasst. 989 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 193. 990 Ebd., S. 279. 991 Vgl. Huerkamp, Ärzte und Patienten, S. 66; Lachmund, Der abgehorchte Körper, S. 97. 992 Besonders bei der Behandlung von Menstruationsbeschwerden erwähnte Forel, dass er die Uterus­ gegend über die Kleider berührte. Vgl. Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 11; ders., Einige Bemerkungen über Hypnotismus (Nachtrag) (1888), S. 2. 993 Vgl. Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik (1897); Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 205. 994 Bauer, Aus der hypnotischen Poliklinik (1897), S. 31.

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gemeinsam nach der Methode Wetterstrands behandelt wurden. Zuerst kamen die bereits hypnotisierten, danach die neuen Fälle an die Reihe. Forel strengte sich an, eine effektvolle Inszenierung zu bieten. Die Krankenvorstellungen beeindruckten das Publikum sehr, wie Fritz Brupbachers Kommentar zeigt: „Jede Krankenvorstellung Forels war ein unvergess­liches Ereignis. Vor ihm explodierten die Kranken. Alles brach aus ihnen heraus. Im Nu verstand er es, den ganzen Patienten alle Symptome agieren zu lassen.“995 Der 19-jährigen Patientin Bertha F., die er am 29. Januar 1888 in die Vorlesung mitnahm, suggerierte er eine „Suggestion à échéance“.996 Doch die Frau, die wegen Somnambulismus im Burghölzli weilte, befolgte sein Skript nicht, wie der Eintrag in ihrer Krankengeschichte zeigt: „29. I. Am 27ten wurde ihr die Suggestion à échéance gegeben sie würde heute im Hörsaal der Universität um 5 ¼ Uhr beim Beginn der Vorlesung über Hypn. des Herrn Professor aufstehen, dessen Hut holen und diesen ihm bringen. Sie that es nicht. Am Schluss der Vorlesung gefragt, was sie während der Vorlesung gedacht habe, lief sie wie von einer Feder getrieben zum Hut, holte ihn und brachte ihn dem Herrn Professor.“997 Auch bei der Vorführung von Patient Werner T., der gleich am Tag seines Klinik­ eintritts in die Vorlesung geführt wurde, lief nicht alles nach Drehbuch. Wie der Krankenakte zu entnehmen ist, entwischte er dem Wärter aus dem Nebenzimmer und „platzt mitten in’s versammelte Auditorium der Klinik hinein. Lässt sich aber ohne weiteren Widerstand wieder zurückführen“.998 Während seiner Vorstellung war Werner T. zwar verwirrt, doch die Suggestionen Forels taten ihre Wirkung. Der Patient liess sich in unterschied­liche Situationen versetzen. Als er Fische fangen sollte, warf er sich auf den Boden, als ihm ein Löwe suggeriert wurde, sprang er voller Schrecken auf einen Stuhl. Das in Hypnose durchlebte Wechselbad der Gefühle hinterliess beim Patienten grossen Eindruck, wie der Arzt in die Krankengeschichte notierte: „Bei der Abendvisite liegt er schweisstriefend im Bett; anscheinend ziem­lich ängst­lich.“999 Das Aufwecken der Patientinnen und Patienten konstituierte gewissermassen die Transition zur Angliederungsphase. Forels Lehrer Bernheim griff dafür auf die münd­liche Suggestion zurück: „Jetzt ist’s genug, wachen Sie auf !“1000 Bei besonders hartnäckigen Schläferinnen und Schläfern verband Bernheim die Verbalsuggestion mit einem körper­lichen Effekt und hauchte auf die Augen. Moll verwendete meistens 995 Brupbacher, 60 Jahre Ketzer, S. 60. Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 138 f.; ­Bugmann, Der „Hexenmeister“ vom Burghölzli. 996 StAZH Z 100, KA-Nr. 4601. Zum Thema der Termineingebung Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 131 – 133. 997 StAZH Z 100, KA-Nr. 4601, Eintrag vom 29. Januar 1888. 998 StAZH Z 100, KA-Nr. 5673, Eintrag vom 7. Mai 1892. 999 StAZH Z 100, KA-Nr. 5673, Eintrag vom 7. Mai 1892. 1000Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 18.

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ein „psychisch wirkendes Mittel“, aber anders als Bernheim wies er ebenfalls auf mechanische Weckmittel hin, wie „gewaltsames Öffnen der Augen, Anblasen mit Luft, Reizung mit dem faradischen Strom, Bespritzen mit Wasser, starkes Anschreien und dergleichen“.1001 Forel lehnte sich stärker als Moll an Bernheims Methode an. Er war der Ansicht, dass auch das Erwachen auf einem suggestiven Vorgang beruhte und daher jedes vorher in Hypnose suggerierte Element zum Aufwecken dienen konnte. Er kritisierte deshalb das nach Fixationsmethode propagierte Anblasen der Hypnotisierten, da auch dort das Aufwecken auf einer Suggestion beruhe. Den Medien sei „die Idee, frei­lich unbewusst, suggerirt worden, dass sie durch Anblasen aus der Hypnose erwachen würden, was dann jeweilen geschah“.1002 Er selber benutzte meistens die Verbalsuggestion des Zählens: „Ich sage ihm noch verschiedenes und schliess­lich: ‚Zählen Sie bis sechs und Sie werden wach.‘ Er zählt, und genau als er sechs zählt, ­öffnen sich die Augen.“1003 Zum Aufwecken von Paul K. wurde in der Krankengeschichte nichts festgehalten. Forel hielt im Artikel kurz fest: „Ich weckte ihn dann zusammen mit allen anderen Kranken.“1004 In der Angliederungsphase van Genneps und Turners werden die Subjekte in eine neue gesellschaft­liche Position aufgenommen. Beim rituellen Ablauf der Hypnose­ therapie steht die Phase nach Ende des hypnotischen Schlafes idealerweise auch für einen neuen Status des Individuums, da der vorher hypnotisierte Patient nun gesund sein sollte. Um sich selber, den Patienten und die Umgebung des Therapieerfolges zu versichern, unterzog Forel die erfolgte Hypnosetherapie nach dem Aufwachen einer Validierungsprozedur. So sollte einerseits Simulation der Patienten ausgeschlossen werden, anderseits seine Deutungshoheit des Geschehenen markiert und dessen „richtige“ Lektüre in die Wege geleitet werden.1005 Forel warnte seine Arztkollegen vor simulierenden Patienten. Nach erfolgter Hypnose könne Simulation durch genaues Befragen festgestellt oder ausgeschlossen werden, indem der Hypnotiseur die Erinnerung des Patienten an die Geschehnisse während der Hypnose prüfte. Falls sich der Patient an die Geschehnisse erinnern konnte, schloss er auf Simulation.1006 Weiter zerstreute er Zweifel an der Vorführung durch seine Kenntnis der Patientinnen und Patienten. Als er mit einer Probandin ein hypnotisches Experiment durchführte, ergänzte er: „Die absolute Zuverlässigkeit 1001 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 47 f. 1002 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730. 1003 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 124. Weitere Beispiele ebd., S. 106 und S. 138; ders., Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 12 und S. 125. 1004Forel, Durch Spiritismus erkrankt (1895), S. 234. 1005 Zum Thema Deutungs- und Definitionsmacht vgl. Kap. 8. 3. 1006 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730; ders., Der Hypnotismus (1919), S. 148 – 152.

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dieser Dame, die ich auch nicht vorher von dem vorzunehmenden Experimente in Kenntnis gesetzt hatte, ist Gewähr für die Fehlerlosigkeit desselben.“1007 Eine eindrück­ liche Erfolgskontrolle ermög­lichten die posthypnotischen Suggestionen, die Forel oft gab. Ob seine Befehle erfolgreich ankamen, konnte er nach dem Aufwecken verfolgen. So suggerierte er einem Hypnotisierten: „Nach dem Erwachen wird Ihnen die Idee kommen, den Stuhl da auf den Tisch zu stellen.“ Nachdem er den Mann aufgeweckt hatte, zeigte sich die Wirksamkeit der Suggestion: „Unser Hypnotisierter hat nun den Stuhl angestarrt; plötz­lich steht er auf, nimmt den Stuhl und stellt ihn auf den Tisch.“1008 Der Erfolg der vorgängigen Hypnotisierung manifestierte sich für alle Anwesenden in der Handlung des Mannes. Auch bei anderer Rahmung der Hypnotisierung, nicht im hypnotischen Kurs am Burghölzli, sondern bei Referaten und in der Vorlesung (und dort vor grösserem Publikum vielleicht noch viel mehr), schenkte Forel diesen Validierungsprozeduren Aufmerksamkeit. Eher skurril mutet seine Beweisführung an, die er vor dem ärzt­lichen Publikum in Olten zur Validierung der hypnotischen Anästhesie bei Zahnextrak­ tionen anwendete. So liess er durch die 300 Ärzte zwei Schächtelchen voller Zähne im Publikum zirkulieren, um diese von der schmerzlosen Zahnentnahme zu überzeugen.1009 Die Performance Forels kam beim Publikum gut an, wie der beeindruckte Protokollant im Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte berichtete. Die Zuschauer folgten dem „fesselnden Thema“ und belohnten den Redner mit heftigem Applaus: „Nachdem man fast athemlos diesen staunenerregenden wunderbaren Dingen zugehorcht und mit grossen Augen die zahlreichen Experimente verfolgt hatte, herrschte nur eine Stimme der Anerkennung und der Dankbarkeit gegenüber Herrn Prof. Forel, dass er uns auf so anregende Weise in jenes bis jetzt noch so dunkel gebliebene Gebiet der Medicin eingeführt hat.“1010 Auch bei Paul K. war Forels Inszenierung erfolgreich. Nach nur einer hypnotischen Sitzung wurde ihm vollständige Genesung beschieden, der „Spirit“ meldete sich nicht mehr zu Wort. Das Ritual war erfolgreich durchgeführt worden, Paul K. war geheilt. Delbrück berichtete vom Gespräch mit dem Patienten: „Bei der Abendvisite sagte mir Patient, es scheine in der That alles Einbildung gewesen zu sein; es sei alles verschwunden, er fühle sich ‚wie ein anderer Mensch‘.“1011 Ein anderer Mensch – ganz im Sinne eines Übergangsrituals hatte Paul K. eine neue gesellschaft­liche Position erreicht.

1007 Forel, Über unser mensch­liches Erkenntnisvermögen (1915), S. 14. 1008 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 124 f. 1009 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 732. 1010 Ebd., S. 733. 1011 Forel, Durch Spiritismus erkrankt (1895), S. 233.

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8.3 Störungen Obwohl der Ablauf der Hypnotisierungen stark formalisiert war, blieb ein Moment des Unvorhersehbaren, das direkt mit dem performativen Charakter der Hypnotisierungen zu tun hatte. Der Kontext performativer Akte sei „nie von vornherein vollständig determiniert“, wie Butler festhält.1012 Diese spezifischen Umstände bestimmten die Einzigartigkeit des therapeutischen Geschehens, auch hinter der Repetitivität einer sich wiederholenden Praktik wie dem Hypnotismus lauerte die Unberechenbarkeit.1013 Nicht alle Patientinnen und Patienten gehorchten wie Paul K., dessen Hypnotisierung als Meisterstück seinen Weg in die Zeitschrift für Hypnotismus fand. In Der Hypnotis­ mus wies Forel die Studierenden und Fachkollegen explizit auf vielfältige Probleme hin, die sich der Therapierung entgegenstellen konnten. So gab es Patientinnen und Patienten, die nicht oder nur teilweise beeinflusst wurden, andere widersetzten sich von Anfang an oder erzwangen den Therapieabbruch. Weitere fürchteten sich vor der Hypnotisierung und erschwerten dadurch deren Anwendung; daneben gab es Diskussionen um Simulation und Überanpassung. Auch in den Krankenakten finden sich mehr oder minder explizite Hinweise, dass die Hypnosetherapien häufig nicht erfolgreich verliefen. Sie versandeten kommentarlos oder wurden explizit wegen Schwierigkeiten abgebrochen.1014 Die nach Forels Meinung ideal ablaufende Hypnotisierung basierte auf einem asymmetrischen Dominanzverhältnis zwischen Arzt und Patienten, was dem damals vorherrschenden autoritären Ärztebild entsprach. Der Arzt befahl, das Gegenüber gehorchte. Diese starre Hierarchie hält der genaueren Betrachtung nicht stand, und die Patientinnen und Patienten traten auch als Handelnde in Erscheinung.1015 Doch die „ungleich verteilten strukturellen Machtressourcen zwischen Arzt und PatientInnen“1016 prägen auch die Quellen, was sich in der Anzahl der Selbstzeugnisse zeigt, aber auch in der medizinisch-administrativen Praxis, die sich in den Krankenakten spiegelt. Die Aussagen der Patientinnen und Patienten, die zwar in den Krankengeschichten oft wiedergegeben werden, sind mehrfach „gebrochen“.1017 Der Arzt wählte aus, welche Aussagen ihm bezüg­lich der Krankheit wichtig erschienen, um sie in der 1012 Butler, Hass spricht, S. 228. 1013 Reckwitz, Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken, S. 41. 1014 Vgl. beispielsweise StAZH Z 100, KA-Nr. 4618, 5839, 6424 und 6479. 1015 Vgl. zur medizinhistorischen Bearbeitung des Arzt-Patienten-Verhältnisses Huerkamp, Ärzte und Patienten. Kritik an diesem eindimensionalen Bild, das den Arzt als autoritären Experten zeigt, üben beispielsweise Wolff, Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung; Nolte, Gelebte Hysterie, S. 17 – 19; und Lafferton, Hysteria and hypnosis as ongoing processes of negotiation. 1016 Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 42. 1017 Vgl. Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 33 und S. 197; Nolte, Gelebte Hysterie, S. 26 – 28.

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Folge niederzuschreiben. Dennoch lohnt es sich, genauer hinzuschauen, wie die Patientinnen und Patienten während der Hypnotisierungen in Aktion traten und Forels Vorlage störten. Die Verläufe der Hypnotisierungen in den Krankengeschichten geben diesbezüg­lich Aufschluss, und auch in Forels Texten tauchen störende Patientinnen und Patienten auf, die zwar in seiner Argumentation nicht als Störfaktoren erscheinen, doch die Passagen verraten „gegen den Strich gelesen“, dass die Handlungsräume der Patienten seine eigenen wiederholt beschnitten. Das Arzt-Patienten-Verhältnis präsentiert sich nicht eindimensional, sondern facettenreich. Es gab Patientinnen und Patienten, die sich durch eine hohe Therapietreue auszeichneten.1018 Einsichtig in die Diagnose und überzeugt von der Wirksamkeit der Therapie, kooperierten sie und befolgten Forels Anweisungen. Vielleicht wagten sie einfach nicht, ihm zu widersprechen und seine Anweisungen nicht zu befolgen. Patientinnen und Patienten traten gelegent­lich auch als eigent­liche Konsumenten auf, indem sie dem Renommee Forels folgten und nach Zürich reisten, um von ihm behandelt zu werden. Sie wählten ihren Arzt selber aus und verliessen das Burghölzli nach eigenem Gutdünken wieder. Das Handlungsspektrum Richtung Widerstand war vielfältig: Manche liessen sich nur nach Verhandlungen auf die Hypnotisierung ein, andere erzwangen durch ihr Verhalten den Therapieabbruch, und es gab jene, die sich mehr oder minder offen widersetzten. Die spezifische Beziehungskonstellation von Forel und seinen Patientinnen und Patienten kann als asymmetrische Machtbeziehung im Sinn Michel Foucaults gedeutet werden, die per definitionem an Widerspenstigkeit gebunden ist. Innerhalb der Machtbeziehung findet sich als „ständige Existenzbedingung“ eine „störrische Freiheit“, deshalb „gibt es keine Machtbeziehung ohne Widerstand, ohne Ausweg oder Flucht, ohne mög­lichen Umschwung“.1019 Nein zu sagen, stellte gemäss Foucault die „Minimalform eines Widerstands“1020 dar. Nolte weist darauf hin, dass sich dank Foucaults Überlegungen zur Macht die Beziehungen zwischen Arzt und Patientin resp. Patient in ihrer Komplexität fassen lassen, „statt sie einfach nur als Macht-Ohnmacht-Verhältnis zu interpretieren“.1021 Der Machtfaktor ist auch innerhalb der performativen Analyse zu berücksichtigen, da sonst die unterschied­lichen Subversionsmög­lichkeiten von Arzt und Patient aus dem Blick geraten. Der Subversion der Patientinnen und Patienten waren durchaus Grenzen gesetzt, welche auch von Faktoren wie Klasse und Geschlecht abhängig waren. Forel kontrollierte die Situation nur vordergründig, da die Übereinkunft über den Rahmen und die Inszenierung bei den Hypnotisierungen nicht immer von allen getragen wurde. Die Folge solcher Störungen war stets die gleiche: Die Fähigkeiten 1 018 Zu Therapietreue respektive compliance vgl. Peters, Macht im Kommunikationsgefälle, S. 102. 1019 Foucault, Subjekt und Macht, S. 292. 1020 Foucault, Ein Interview, S. 917. 1021 Nolte, Gelebte Hysterie, S. 19.

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des Hypnotiseurs und die Effektivität der Hypnose wurden infrage gestellt. Zusätz­ lich war wegen des performativen Charakters der Hypnotisierungen das „Ergebnis nicht vorher [festschreibbar] – auch nicht von den Machthabern –, da das Resultat erst in der Performanz selber entsteht“.1022 Etwas Neues schien durch den performativen Charakter der Hypnotisierungen auf. Dieses Neue hatte Forel zwar in seinem Skript auf bestimmte Weise vorgesehen, doch durch den Handlungscharakter und die Präsenz anderer Akteurinnen und Akteure (der Hypnotisanden, des Publikums) tauchte es mög­licherweise auf eine andere, von ihm nicht beabsichtigte Weise auf. Dieses subversiven Potenzials der Auseinandersetzung während der Hypnotisierungen war sich Forel durchaus bewusst. Um seine Hypnotismus-Novizen auf die notwendige Beobachtung jedes einzelnen Patienten hinzuweisen, betonte er die Mehrdeutigkeit der Suggestionen: „[D]ie Suggestionswirkung [muss] stets Elemente enthalten […], die in der Suggestion des Hypnotiseurs nicht lagen, und [enthält] stets manches nicht, das der Hypnotiseur beabsichtigt hatte. Mit anderen Worten, jede Suggestion wird durch Autosuggestion des Hypnotisierten ergänzt und modifiziert.“ Zur mehrdeutigen Suggestion kam deren Unvollständigkeit: „[A]uch die unvermeid­ liche Unvollständigkeit jeder Suggestion erheischt notwendig autosuggestive Ergänzungen.“1023 Der polyseme Charakter der Sprache unterlief die eindeutigen Suggestionen. Um den Deutungshorizont der Patientinnen und Patienten besser zu verstehen, müssten diese genau psychologisch beobachtet werden, riet er seinen Schülern. Aus dieser Beobachtung folgerte er, dass die Suggestionen ganz anders sein müssten, „die man z. B. einem Bauer, einer gebildeten Dame und einem Gelehrten zu geben hat, um nur annähernd das gleiche zu erreichen“.1024 Aber auch die genaue psychologische Kenntnis der zu Hypnotisierenden brachte den Verlauf der Hypnosesitzungen nicht notwendigerweise in vorhersehbare ­Bahnen. Die Hypnotisierungen gestalteten sich in der Sprache Forels als dynamisches, umkämpftes Terrain. Er beschrieb die Hypnotisierungen als „eine Art Turnier zwischen den Dynamismen von zwei Gehirnen“1025 und riet seinen Schülern: „Will man hypnotisieren und vor allem damit therapeutische Erfolge erzielen, so muss man sich zunächst mit grosser Geduld, mit Begeisterung, mit Konsequenz, mit sicherem Auftreten und mit Erfindungsfähigkeit in Kunstgriffen und Einfällen bewaffnen.“1026 Der hypnotisierende Novize musste sich nach seiner Ansicht mit allerlei „bewaffnen“ – er zog sozusagen in den Krieg. Dieser diskursive Topos, wo sich Kampf und Spiel vermengen, tauchte in den Beschreibungen Forels immer wieder auf. Er sprach 1022 Rao/Köpping, Einleitung, S. 26. 1023 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 122. 1024 Ebd., S. 123. 1025 Forel, Der Hypnotismus (1895), S. 121. 1026 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 189.

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von Hirnkräften, die „beherrscht und gelenkt werden“, von „auseinandergesprengten Streitkräften“ und von „Angriffen“.1027 Diese Metaphern eröffnen bestimmte Assoziationen und verweisen auf die Dynamik der therapeutischen Auseinandersetzung. Der performative Charakter der Hypnotisierungen wird hier deut­lich: Die Auseinandersetzung war ein Hin und Her mit theoretisch offenem Ausgang. Es gab Raum für Strategien und Spielräume für die Patientinnen und Patienten. Nach Forels Ansicht bedeutete sein Sieg das Ende des „Turniers“. Innerhalb dieser dynamischen, hierarchisch geprägten Auseinandersetzung standen den Patientinnen und Patienten in begrenztem Ausmass Handlungsspielräume offen. Wie bereits angetönt, sah deren Einflussnahme unterschied­lich aus: Manche Patientinnen und Patienten weigerten sich gänz­lich, hypnotisiert zu werden, oder sie brachen die Therapie ab. Auch bei einer Weigerung konnte dies mehr oder weniger effektiv geschehen; in manchen Fällen war die Weigerung nicht standhaft genug, und die Patienten liessen sich von den Ärzten trotzdem zur Behandlung überreden. Eine besondere Strategie verfolgte der Münchner Fabrikant Wolfgang P., untergebracht in der ersten Verpflegungsklasse, der wegen seiner Morphiumabhängigkeit freiwillig ins Burghölzli gekommen war und wiederholt zur Unterstützung des Entzugs hypnotisiert wurde. In einem Brief an Forel gab er während des Klinikaufenthalts zu, dass er mehrmals simuliert hatte. Wie weiter unten ausführ­licher beschrieben wird, rechtfertigte er sein Verhalten damit, dass er befürchtete, eine „Widersetzung“ könnte als „ungebührend aufgefasst werden“ und den Abbruch der Therapie zur Folge haben.1028 Ihm war klar, wie er sich verhalten musste, um Forels Erwartungen zu erfüllen und seiner Rolle als Patient gerecht zu werden. Die meisten Patientinnen und Patienten wehrten sich jedoch nicht so eloquent und selbstbewusst wie dieser Oberschichtpatient. Die wenigen Frauen des Krankenakten-Samples, die sich wehrten, schrien, entwickelten hypnotische Wahnideen oder kamen den eingegebenen Befehlen nach mit der Einschränkung, „aber ich glaube es nicht“.1029 Die wenigen Fälle lassen keine quantitativen Aussagen zu Einfluss von Klasse und Geschlecht auf die Handlungsspielräume zu. Bei Wolfgang P. war die „Perspektivendifferenz“ zwischen dem gebildeten, männ­lichen Angehörigen des Bürgertums und dem ärzt­lichen Experten „am wenigsten ausgeprägt“,1030 und er konnte seine Forderungen selbstbewusst einbringen und sich gegenüber Forel auch verteidigen. 1027 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 729 und 731. 1028 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, Aufzeichnungen vom 8. Juni 1888. 1029 StAZH Z 100, KA-Nr. 4629, 4677. 1030 Lachmund, Der abgehorchte Körper, S. 43. Weiter zum Zusammenhang von Handlungsmög­ lichkeiten und Schichtzugehörigkeit Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychia­trie 1870 – 1970, S. 192.

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Ein interessantes Beispiel einer widerständigen Patientin ist Ilma S., die Richard von Krafft-Ebing am 20. Oktober 1887 in die neurologische Abteilung des ­Grazer Allgemeinen Krankenhauses aufnahm und in den folgenden sieben Monaten regelmässig, zeitweise fast täg­lich, hypnotisierte. Ilma S. hatte bereits eine Vorgeschichte mit dem Hypnotismus, als sie zu Krafft-Ebing kam. Weil sie das „ewige Hypnotisirtwerden unerträg­lich gefunden“ hatte, war sie vor Erno Jendrássiks Behandlung in Budapest geflohen.1031 Mit Krafft-Ebing traf sie die Übereinkunft „auf Ehrenwort“, dass er mit ihr keine Brandexperimente durchführen würde.1032 Widerwillig liess sie sich zur Behandlung überreden, darauf folgte eine Phase der Kooperation, doch im Lauf der Behandlung ging es ihr zusehends schlechter, und auf die Hypnotisierungen folgten jeweils „hysterische“ Anfälle. Wie Emese ­Lafferton darlegt, nutzte Ilma S. während der hypnotischen Behandlung durch Krafft-Ebing ihre Handlungsspielräume.1033 Lafferton zeigt in ihrer Analyse nicht das gewohnte Bild der ausgenutzten hypnotisierten Patientin, sondern beschreibt die Beziehung von Krafft-Ebing und Ilma S. als Aushandlungsprozess, wo beide Parteien aktiv auftraten.1034 Ilma S. war keine Marionette, die Krafft-Ebings Befehle widerstandslos ausführte, sondern griff wiederholt ins therapeutische Skript ein. Als ihr beispielsweise Krafft-Ebing am 18. März 1888 Philocarpin verabreichte mit der Suggestion, sie dürfe – entgegen der Wirkung des Arzneistoffes – nicht schwitzen, reagierte sie gereizt und herrschte ihn an: „Ich kann Ihnen nicht alle Tage folgen!“ 1035 Sie beeinflusste auch die Dauer der Hypnotisierungen, indem sie anläss­lich einer Hypnotisierung dem behandelnden Arzt Kornfeld befahl: „Sie sollen mich jetzt erwecken.“1036 Zusehends verlor sie das Vertrauen in Krafft-Ebing, da er ihre Übereinkunft gebrochen und im Winter 1887 Hautexperimente durchgeführt hatte, die Verletzungen gleich jenen bei Brandexperimenten nach sich zogen. Die Patientin begann darauf, eine aktivere Rolle einzunehmen, stellte eigene Regeln auf und befahl Krafft-Ebing, wie er die Experimente durchführen sollte.1037 So demütigte sie ihn geradezu, als sie ihm sagte, dass seine Hypnosemethode nicht funktionieren

1031 Krafft-Ebing, Eine experimentelle Studie (1888), S. 8. 1032 Ebd., S. 28. 1033 Vgl. Lafferton, Hysteria and hypnosis as ongoing processes of negotiation. Zu Ilma S. auch Oosterhuis, Stepchildren of Nature, S. 121 f.; Schmersahl, Medizin und Geschlecht, S. 282 – 287. 1034 Lafferton, Hysteria and hypnosis as ongoing processes of negotiation, S. 178. 1035 Krafft-Ebing, Eine experimentelle Studie (1888), S. 62. 1036 Ebd., S. 66. 1037 Nachdem ein suggerierter Kreis nicht auf der Haut erschienen war, sagte die Patientin beispielsweise: „Sie haben das nicht gut gemacht, Sie haben es auf die Jacke statt auf die Haut gemacht.“ Nachdem der Kreis direkt auf der Haut gezogen wurde, erschien er am folgenden Tag als rote Prägung (Krafft-Ebing, Eine experimentelle Studie, 1888, S. 58 f.).

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würde und er sie nach Art ihres ehemaligen Arztes hypnotisieren solle. 1038 Der eklatante Vertrauensverlust wurde gegen Ende der Behandlung offensicht­lich, als sie sich vor einer erneuten Hypnotisierung Papierstückchen zwischen Jacke und Unterkleid steckte, um nachweisen zu können, dass ihr während der Hypnose die Kleider geöffnet worden waren, wie sie wegen „ihrer oft derangirten Toilette nach der ärzt­lichen Visite“ gefolgert hatte.1039 Zusätz­lich nutzte sie ihre Kenntnisse der Hypnosemethode und zeigte, wie gut sie die Regeln der Dramaturgie Krafft-Ebings beherrschte, indem sie sich weigerte, den Arzt anzuschauen: „Ich kann Ihnen nicht folgen, weil ich Sie nicht angeschaut habe.“1040 Die Hypnotisierung gelang erst, als sie ihren Hypnotiseur wieder direkt anblickte. An solche Aushandlungsprozesse erinnert auch eine Passage in Albert Molls Lehrbuch, wo er berichtete, wie die Versuchspersonen angeben, wann sie für die Suggestionen bereit seien: „Einer öfter hypnotisierten dreissigjährigen Person sage ich, sie sei jetzt ein kleines Kind, ich erhalte aber die Antwort, es sei noch nicht so weit, ich müsste noch etwas warten. Auf meine Frage erklärt die Person nach einiger Zeit, dass es jetzt so weit sei.“1041 Moll deutete diese Aussage als Hinweis für die gute Selbstwahrnehmung der Patienten. Mit einem Fokus auf die Auseinandersetzung zwischen Arzt und Patient lässt sich diese Aussage als Einflussnahme des Patienten auf die Durchführung der Behandlung interpretieren. Es finden sich keine Hinweise auf solche direkten Aushandlungen wie zwischen Ilma S. und Krafft-Ebing im untersuchten Sample von Krankenakten. Aber auch Forels Patientinnen und Patienten nahmen Einfluss auf den Verlauf der Therapie. Der 20-jährige Kaufmannslehrling Heinrich K. trat am 5. Oktober 1892 auf eigenen Wunsch ins Burghölzli ein, um sich wegen seiner epileptischen Anfälle hypnotisieren zu lassen. Die Hypnosetherapie verlief wechselhaft. Zu Beginn wurde er alle zwei Tage hypnotisiert, bis ein Anfall während der Hypnose auftrat. Der Patient erster Verpflegungsklasse äusserte darauf Bedenken, wie der Assistenzarzt in der Krankengeschichte am 17. Oktober 1892 festhielt: „P. spricht zu viel von der Hypnose und grübelt zu sehr nach, er macht sich dabei offenbar allerlei Vorstellungen, denn in den letzten Wochen wo sie angewendet wurde ist die Hypno. nicht recht zu Stande gekommen, P. schläft immer kürzer darauf.“ Im Gespräch mit dem Arzt liess sich der Patient beruhigen: „P. sieht ein, dass die Anfälle kürzer, leichter sind und doch nicht so oft eintreten.“1042 In der Folge wurde die Frequenz der Hypnotisierungen auf alle 1038 Dies verlangte sie, nachdem sie unter ihrer Brust eine Brandwunde gefunden hatte (Lafferton, Hysteria and hypnosis as ongoing processes of negotiation, S. 312). 1039 Krafft-Ebing, Eine experimentelle Studie (1888), S. 72. 1040Ebd., S. 71; vgl. Lafferton, Hysteria and hypnosis as ongoing processes of negotiation, S. 313. 1041 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 146. 1042 StAZH Z 100, KA-Nr. 5785, Eintrag vom 19. Oktober 1892.

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drei bis vier Tage festgelegt. Anfang Dezember 1892 notierte der Assistenzarzt erneut Schwierigkeiten im Therapieverlauf: Der Patient schlief bei den Hypnoseversuchen nicht mehr ein, und die epileptischen Anfälle traten wieder auf. Die Hypnosetherapie wurde unterbrochen, kurz darauf mit zwei bis drei Sitzungen pro Woche bis Anfang Februar 1893 wieder aufgenommen. Der Patient war jedoch mit dem Verlauf unzufrieden und zweifelte an der Effektivität der Therapie, die neben der Hypnose auch aus medikamentöser Behandlung durch Brom bestand. Der Vertrauensverlust in die Ärzte wurde offensicht­lich, als der Patient während des Osterurlaubs zu Hause die Zusammensetzung der Medikamente analysieren liess. Der behandelnde Arzt hielt fest: „Traut offenbar unseren Angaben nicht es sei kein Bromkali in der Mixtur. P. ist überhaupt gereizter Stimmung […] P. äusserte sich dann ausserhalb der Anstalt sehr lebhaft gegen die Anstaltsordnung, die Direction etc.“1043 Zurück in der Klinik beklagte sich der Patient über den Guttemplerorden und warf Forel vor, er bevorzuge diejenigen, die dem Orden beitraten. Dieses für den Patienten ungebühr­liche Verhalten kann geradezu als zeremonielle Entweihung nach Goffman gelesen werden, indem die institutionelle Ordnung mit klarer Rollenzuteilung und entsprechendem Verhalten missachtet und dadurch Forel als Direktor und Arzt der Respekt verweigert wurde.1044 Die disziplinarische Retourkutsche folgte sogleich, um den Patienten in seine Schranken zu verweisen, indem ihm der freie Ausgang gestrichen wurde. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient war nun gänz­lich verfahren, der ­Patient kooperierte gar nicht mehr. Ein erneuter Hypnoseversuch kurz vor dem Austritt aus der Klinik schlug fehl: „Am 28. wollte der Arzt ihn noch hypnotisieren. P. weigerte aber sich einschlafen lassen zu wollen und gab an in letzter Zeit überhaupt nicht geschlafen zu haben während der Sitzungen, er habe sich nur so gestellt. Seine Besse­ rung sei den Bromsalzen nicht der Hypno. zuzurechnen.“1045 Verärgert über diese Entwicklung, schrieb Forel am selben Tag an die Eltern des Patienten, ihr Sohn sei seit seiner Rückkehr von zu Hause „gereizter Stimmung“ und erzähle, sie seien mit seiner baldigen Entlassung einverstanden: „Da wir bis jetzt nichts davon wissen bitten wir Sie uns mitzutheilen wie sich diese Sache verhält.“1046 Die Eltern waren mit dem Austritt einverstanden, und am 7. Mai 1893 verliess der Patient die Klinik. In der Krankengeschichte wird ersicht­lich, dass die Ärzte auf die Zweifel und das Misstrauen des Patienten reagieren und die Therapie anpassen mussten. Die immer w ­ ieder auftretenden Anfälle stellten die Effektivität der Behandlung und die Autorität der Ärzte direkt infrage. Wie Forrester festhält, war die Persistenz des Symptoms ein direktes Mittel, um die Autorität des hypnotisierenden Arztes zu hinterfragen. Der 1043 StAZH Z 100, KA-Nr. 5785, Eintrag vom 28. April 1893. 1044Goffman, Interaktionsrituale, S. 334. 1045 StAZH Z 100, KA-Nr. 5785, Eintrag vom 28. April 1893. 1046 StAZH Z 99.27, Kopierbuch, Briefkopie vom 28. April 1893.

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„Ungehorsam“ des Patienten – hier von Heinrich K., der trotz Hypnose immer wieder epileptische Anfälle hatte – zeigte, dass er den Befehl des Arztes nicht entgegennahm. Beim Hypnotismus, der explizit auf Autorität mittels Sprache setzte, war durch das Fehlschlagen des Befehls direkt die Autoritätsposition des Sprechers infrage gestellt: „It is the utterer, not the bare factual content […], which has been made to fail.“1047 Retrospektiv stellte der Patient die Hypnotisierungen – und damit die Kompetenz der Ärzte – gänz­lich infrage, indem er dem behandelnden Arzt gegenüber Simulation angab und die Besserung seines Zustandes den Medikamenten zuschrieb. Heinrich K. bestimmte selbstsicher seinen Aufenthalt im Burghölzli inklusive des Verlaufs der Therapie. Doch auch andere Patienten weigerten sich erfolgreich. Hermann T., 36-jähriger Schreiner, klagte ständig über Schmerzen in der Schulter, die Ärzte vermuteten Muskelrheumatismus und wollten ihn hypnotisieren.1048 Er weigerte sich jedoch beharr­lich, nachdem er gesehen hatte, wie ein anderer Patient hypnotisiert worden war. Die Ärzte wagten einige Tage später noch einmal einen Versuch, der jedoch auch erfolglos blieb. Andere liessen sich nach anfäng­licher Weigerung doch darauf ein, wie etwa der 62-jährige Buchdrucker Franz K., der wegen Melancholie im Burghölzli weilte. Der behandelnde Arzt vermerkte im Behandlungsjournal: „P. hat gewisse Angst vor dem Hypnotism. von dem er viel gesprochen haben soll und hörte. Etwas misstrauisch man könne ihn ohne seinen Willen hypnot.“1049 Nach zwei Wochen im Burghölzli wurde Franz K. wegen seinen Schlafstörungen hypnotisiert, doch, wie die Krankengeschichte verrät, nicht sehr erfolgreich: „P. ist etwas influencirt, schläft darauf hin aber nicht besser.“1050 Weitere Patientinnen und Patienten widersetzten sich nach anfäng­licher Einwilligung. Die 27-jährige Dienstmagd Rosa B. verweigerte auf Geheiss Gottes die Nahrung, wie sie angab.1051 Während zweier Wochen wurde sie hypnotisiert, aber „ohne Einfluss auf ihr Verhalten und ihre Wahnideen“, wie der zuständige Arzt in die Krankengeschichte notierte. Der Behandlungserfolg stellte sich erst ein, als ihr suggeriert wurde, „Gott sei an der Appetitlosigkeit nicht schuld“. Zwei Wochen später verweigerte die Patientin jedoch die hypnotische Behandlung. Sie begann während der Hypnotisierung zu ­weinen und zu schreien und konnte in der Folge nicht mehr hypnotisiert werden. Die 34-jährige Theresa U., eine wohlhabende Engländerin, trat am 13. Dezember 1888 ins Burghölzli ein, um mittels Hypnotismus ihre Alkoholabhängigkeit zu

1047 Forrester, Contracting the disease of love, S. 261. 1048 StAZH Z 100, KA-Nr. 5756. 1049 StAZH Z 100, KA-Nr. 5695; ebenso 4677. 1050 StAZH Z 100, KA-Nr. 5695, Eintrag vom 19. Juni 1892. Die Opiumkur, die danach versucht wurde, war erfolgreicher (KA-Nr. 5695, Eintrag vom 9. August 1892). 1051 StAZH Z 100, KA-Nr. 4633.

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heilen.1052 Sie wurde von Forel täg­lich hypnotisiert; der Erfolg schien mässig zu sein, da in der Krankengeschichte die geringe Suggestibilität vermerkt wurde. Der Patientin ging es im Burghölzli zusehends schlechter – sie entwickelte Halluzinationen und Verfolgungswahn und litt an Schlafstörungen. In der Folge wuchs bei ihr eine starke Abneigung gegen den Hypnotismus, die Therapie musste abgebrochen werden. Die Patientin verweigerte sich der Einschätzung der Ärzte und zeigte sich uneinsichtig, wie der behandelnde Arzt in der Krankengeschichte am 29. April 1889 vermerkte: „Einsicht lässt zu wünschen übrig.“ Die therapeutischen Bemühungen der Ärzte liessen nach der anfäng­lichen Anstrengung eklatant nach. Schliess­lich wurde sie am 10. August 1889 „ungeheilt“ entlassen.1053 Eine ganz eigene Widerstandstaktik entwickelte Lisette H., die Constantin von Monakow wegen Wahnideen am 11. März 1888 ins Burghölzli überwiesen hatte. Auslöser ihrer gesundheit­lichen Probleme waren „häus­liche Erregungen leichter Art“, wie Monakow auf dem Einweisungs-Formular angab: „Vor ca. 2 – 3 Wochen hatte der Mann der Pat. einige bis in die späte Nacht dauernde Commissionssitzungen, so dass er erst gegen zwei Uhr nach Hause kam. Dies scheint die Frau etwas aufgebracht zu haben, sie vermuthete dass derselbe in unsolider Gesellschaft sich so lange bewegt habe und schläft seither nicht gut.“1054 Ihre darauf folgenden Vorstellungen kreisten darum, nicht Lisette H. zu sein. Die Patientin liess sich leicht hypnotisieren, „aber trotz viermaliger Gegensuggestion und trotzdem sonst alle Suggestionen während der Hypnose leicht gelingen bleibt sie bei ihren Wahnideen“, wie der behandelnde Arzt in der Krankengeschichte festhielt.1055 Nach erneuten Suggestionen gab sie schliess­lich an, Lisette H. zu sein, doch einige Tage später zweifelte sie wieder an ihrer Identität. In der Hypnose wurde ihr darauf energisch suggeriert, sie heisse Frau H. und würde es nach der Hypnose selbst feststellen. Nach dem Erwachen sagte sie zum Arzt: „Ich heisse Frau H., aber ich glaube es nicht.“1056 In diesem Beispiel zeigt sich, dass die Patien­tin genau wusste, was von ihr erwartet wurde. Sie reproduzierte die Suggestionen zwar als Text, machte ihn durch ihre retrospektive Einschätzung jedoch zunichte. Am 3. September 1888 wurde sie „ungebessert“ nach Hause entlassen. Eine weitere Strategie, sich der Hypnotisierung zu widersetzen, war die Simulation. Simulierende Patientinnen und Patienten waren ein Thema, das die Gemüter von Hypnosebefürwortern und -gegnern gleichermassen erhitzte, wie untenstehend noch ausführ­licher beschrieben wird. Die Simulation setzte voraus, dass die Patientinnen 1052 StAZH Z 100, KA-Nr. 4853. 1053 Zwischen dem 29. April 1889 und dem Tag ihrer Entlassung am 10. August 1889 findet sich kein Eintrag mehr im Behandlungsjournal (StAZH Z 100, KA-Nr. 4853). 1054 StAZH Z 100, KA-Nr. 4629, Einweisungs-Formular. 1055 StAZH Z 100, KA-Nr. 4629, Eintrag vom 24. März 1888. 1056 StAZH Z 100, KA-Nr. 4629, Eintrag vom 28. März 1888.

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und Patienten präzis wussten, welches Verhalten von ihnen erwartet wurde. Im Rahmen der kollektiven Hypnotisierungen hatten die wartenden Hypnose-Kandidatinnen und -Kandidaten Gelegenheit, den Ablauf des Verfahrens und das Verhalten der Hypnotisierten zu beobachten. Im untersuchten Sample der Krankenakten treten aus unterschied­lichen Absichten simulierende Patienten auf. So gestaltete sich die Beziehung zwischen dem bereits erwähnten Patient Heinrich K. und Forel zusehends verfahrener.1057 Heinrich K. behauptete retrospektiv, nur simuliert zu haben. Hier kann die Simulation oder die Simulationsbehauptung als Strategie gedeutet werden, die Kompetenzen und damit den Ruf des Hypnotiseurs infrage zu stellen. Aus anderen Motiven simulierte Wolfgang P., der morphiumabhängige Münchener Fabrikant.1058 In einer Selbstbeschreibung legte er Forel vorgängig seinen Zustand dar. Wegen Schmerzmittelmissbrauch sei er vom Morphium abhängig geworden und bat, durch „Ihre renommierte und neueste Heilkraft des Hypnotismus mich von meinem Leiden zu heilen […] Geehrtester Herr Professor werden mir gewiss Ihr Beileid zu dem Uebel, das mir seit Jahren anhängt und mir eine trübe Zukunft erblicken lässt, nicht versagen.“1059 Er bat Forel, ihn für eine achttägige Kur aufzunehmen. Am 11. Mai 1888 trat Wolfgang P. ins Burghölzli ein und wurde in den folgenden Tagen einem sukzessiven Entzug des Morphiums unterworfen. Zur Unterstützung des Entzugs wurde er täg­lich hypnotisiert, und es wurde ihm guter Schlaf, Appetit, regelmässiger Stuhlgang, heitere Stimmung und der Vorsatz der Abgewöhnung suggeriert.1060 Nach einigen Tagen zeichneten sich gemäss der Krankengeschichte jedoch Schwierigkeiten ab, da sich Forel und der Patient über die Behandlung nicht einig waren: Forel setzte wie gewohnt auf zügige Reduktion der Morphiumdosis, nach Ansicht des Patienten geschah dies zu schnell. Der betreuende Arzt notierte, dass der Patient schlecht schlafe und um mehr Morphium bitte, „da er für Hypnose nicht geschaffen sei“.1061 Mit einer gewissen Unterwürfigkeit, aber dennoch selbstbewusst formulierte der ­Patient seine Bedenken und Abreisepläne in einem Brief an Forel: „Sowohl mit schwerem Herzen wie auch mit einer gewissen Beschämung wage ich es Ihnen geehrtester Herr Director die Mittheilung zu machen, dass ich die mir gestellte Aufgabe bis zu meiner vollen Genesung in Ihrer Heilanstalt zu verweilen leider nicht erfüllen kann.“ Das Eingesperrtsein beeinflusse seinen „Gemütsgang beträcht­lich“, und der fehlende Schlaf quäle ihn. Deshalb bat er den „geehrtesten Herr Director“, „gelegent­lich wenn es 1057 Vgl. StAZH Z 100, KA-Nr. 5785. 1058 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679. Vgl. zu diesem Fall auch Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 192 f. Die Autorinnen haben als Referenz die KA-Nr. des zweiten Aufenthaltes des Patienten angegeben (KA-Nr. 4943). 1059 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, Brief vom 21. April 1888. 1060 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, Eintrag vom 14. Mai 1888. 1061 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, Eintrag vom 18.–24. Mai 1888.

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Ihre so knappe Zeit erlaubt, noch einmal beratschlagen zu wollen, ob meine Cur so jäh wie bis jetzt, oder nicht mehr mit successiven Abstinenzen fortgesetzt werden könnte“.1062 Forel liess sich jedoch nicht vom eingeschlagenen Kurs abbringen und fuhr mit der kontinuier­lichen Reduktion der Dosierung fort, begleitet durch Hypno­ tisierungen. Wie der Patient in seinen Therapie-Aufzeichungen beschrieb, wurde der Konflikt zwischen ihm und Forel Ende Mai 1888 heftiger. Wolfgang P. erwähnte gegenüber dem Assistenzarzt, dass er simuliert habe, worauf Forel heftig reagierte und den Patienten absicht­lichen Lügens bezichtigte. Darauf rechtfertigte sich dieser in seinen Aufzeichnungen: „Indem ich trotz der täg­lichen hypnotischen Einschläferungen nicht den verheissenen sicheren, ruhigen und anhaltenden Schlaf noch die versprochene Stärkung und Kräftigung finden konnte – wurde mein Vertrauen zur hypnotischen Heilkunst erschüttert.“1063 Er begründete sein Verhalten dreifach: So hielt er sich erstens an Forels Zurechtweisung, keine Fragen über den Hypnotismus zu stellen; zweitens befürchtete er, dass eine Widersetzung als „ungebührend“ aufgefasst werden und den Abbruch der Therapie zur Folge haben könnte. Drittens war er der Ansicht, dass häufiges Hypnotisieren ihn suggestionsfähig machen würde. Er betonte, dass die Simulation „keineswegs in der Absicht [geschah,] dem Hypnotismus den Glauben oder seine gute Wirkung abzusprechen, sondern um in meiner Rathlosigkeit Verhaltungsregeln zu erfahren. Der Meinung des Herrn Director, dass ich mich unüberlegt dem Schwindel oder absicht­licher Belügung hingegeben habe, bin ich meiner Ehre und Gewissen zu widersprechen schuldig.“1064 Wolfgang P. verhielt sich geschickt, um seiner Rolle als guter Patient gerecht zu werden und die Therapie nicht zu gefährden. Forel liess sich von der ausführ­lichen Begründung des Patienten milde stimmen und führte die Therapie weiter.

8.4 Kontrollversuche Wolfgang P. war nicht der einzige Patient, der sich nicht so verhielt, wie Forel es von ihm erwartete. In Der Hypnotismus beschreibt Forel einen Fall, wo der Patient nachträg­lich ein „Simulationsgeständnis“ ablegte. Der Patient kam in Begleitung ­seines Hausarztes „in Tränen aufgelöst und gestand mir, er habe gar nie geschlafen, es sei alles Schwindel gewesen, er habe alle Nadelstiche empfunden, die posthypno­tischen Erscheinungen nur so gemacht, um mir zu gefallen usw.“.1065 Der Patient getraute sich nicht, Forels Hypnoseversuchen zu widersprechen und ihn dadurch scheitern zu 1062 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, Brief vom 22. Mai 1888. 1063 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, Aufzeichnungen vom 8. Juni 1888. 1064 StAZH Z 100, KA-Nr. 4679, Aufzeichnungen vom 8. Juni 1888. 1065 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 149.

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lassen. Interessant ist nun allerdings, wie Forel diesen Fall in seinem Lehrbuch aufnahm. Als Beispiel eines falschen Simulationsgeständnisses beschreibt er ihn im Kapitel zum Thema Simulation. Der misstrauische Hausarzt habe dem Patien­ten durch Suggestiv­fragen dieses Geständnis eingeredet. Er dagegen „wusste doch ganz genau, dass er nicht simuliert hatte, denn er war tief hypnotisiert gewesen, total somnambul; sein Gesichtsausdruck in der Hypnose und beim Erwachen gehörte zu denjenigen, welche nicht simuliert werden können“.1066 Forel unterzog den Patienten in Anwesenheit des Hausarztes einer weiteren Hypnotisierung, um beide von deren Wirkung zu überzeugen, und stach ihn mit Nadeln tief in die Hand. Seine Strategie ging auf: Der Patient war erneut amnestisch und hatte die Nadelstiche nicht gespürt: „Damit war der Hypnotisierte beruhigt und der Arzt belehrt.“1067 Dieser Fall zeigt beispielhaft den Umgang Forels mit dem Thema Simulation. Er blieb Herr der Lage, konnte die Situation einschätzen und den Patienten „überführen“. Er, der erfahrene Hypnotiseur, hatte Kriterien zur Hand, um den Zustand des Patienten einzuschätzen, und wurde nicht hinters Licht geführt. Die „Simulationsfrage“ war trotz der Bewältigungsstrategien ein akutes Problem für die Hypnoseärzte, da sie in wissenschaft­lichen Kreisen und in der Öffent­lichkeit kritisch diskutiert wurde. Wie Ellenberger schreibt, war die Simulation ein Faktor, der zum Niedergang des Hypnotismus Ende des 19. Jahrhunderts beigetragen hatte.1068 Einig waren sich die Anhänger des therapeutischen Hypnotismus, dass man sich vor übergefälligen Patienten hüten müsse, die es dem Arzt recht machen wollten. Bernheim schrieb dazu: „Es ist unglaub­lich, mit welchem Scharfsinn manche Hypnotisierte gewisser­massen die Idee entdecken, die sie zur Ausführung bringen sollen.“1069 Der belgische Arzt Jean Crocq warnte seine Kollegen am zweiten internationalen Hypnotismuskongress von 1900 in Paris: „Man sollte nicht vergessen, dass die hypnotisierte Versuchsperson mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, danach strebt, die Wünsche ihres Hypnotiseurs zu erfüllen und nicht nur seine Befehle, sondern auch seine Gedanken auszuführen.“1070 Moll wies in seinem Lehrbuch ebenfalls auf das Thema hin, grenzte diese Gefälligkeit allerdings von der Simulation ab.1071 Auch Forel kannte das Thema der gefälligen Pati 1066 Ebd., S. 150. 1067 Ebd., S. 150. 1068 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 251 f. 1069 Hippolyte Bernheim, De l’Action médicamenteuse à distance, in: Revue de l’Hypnotismue 1888, S. 164, zitiert in: Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 252. 1070 Jean Crocq, Discussion d’une communication de Félix Régneault, IIe Congrès International de l’Hypnotisme (Paris 1900), Paris 1902, S. 95 f., zitiert in: Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 253. 1071 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 22. Auch Eugen Bleuler, der von Wilhelm von Speyr hypno­ tisiert worden war, wies in der Beschreibung seiner eigenen Hypnoseerfahrung auf den Aspekt der Gefälligkeit hin (vgl. Forel, Der Hypnotismus, 1889, S. 84 f.).

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enten, wie er eingangs seines Abschnittes zum Thema Simulation festhält: „Zunächst ist jeder Hypnotisierte schwach, gefällig und sucht die Absichten des Hypnotiseurs zu erraten, um ihm zu folgen.“1072 Er verwendete eine geschickte Taktik, um das Thema in seiner Erzählung zu kontrollieren: Diese Gefälligkeit sei keine Simulation, sondern Suggestibilität. Damit kehrte er den negativen Aspekt zu einer benötigten Eigenschaft der erfolgreichen Suggestionsanwendung um. Ein grosser Kritiker des Hypnotismus war der Wiener Professor für Neurologie Moriz Benedikt. In seinem Buch Hypnotismus und Suggestion von 1894 griff das „Enfant terrible“1073 der Wiener Medizin die „Herren in Nancy“ an und kritisierte die „phantastischen Uebertreibungen, Albernheiten und Charlatanerien, die von Nancy aus über die civilisirte Welt tobten und besonders die Phantasie der Laien und Dilettanten anregten“.1074 Benedikt selber hatte im Jahr 1878 zusammen mit Rudolf Virchow Charcot in Paris besucht und anschliessend die „Kataleptisierung“ zur Therapierung von Hysterikerinnen angewendet. Wie Charcot vertrat er die Ansicht, dass Hysterie und Hypnose verwandte Zustände seien. Aus eigener Erfahrung warnte er vor der starken Abhängigkeit, welche die Hypnotisierten gegenüber dem Hypnotiseur ent­ wickelten: „Die Männer der Wissenschaft haben keine Ahnung von dem Mechanismus hypnotischer Wirkungen; es ist daher noch weniger Wunder, wenn diese Einwirkung auf Laien mystisch wirkt und ihnen das Gefühl einer vernichtenden Abhängigkeit gegenüber dem Arzte imprägnirt.“1075 Auch zum Thema der Simulation vertrat Benedikt eine dezidierte Meinung. Mindestens 90 Prozent der in der Fachliteratur beschriebenen Fälle von Hypnotisierungen seien zu eliminieren, weil die Patientinnen und Patienten simuliert hätten oder nicht mehr zum Arzt kämen, um ihre Ruhe zu haben. In seiner Praxis liess er junge Ärzte Patienten hypnotisieren und diese danach von „Unbefangenen“ befragen. Die Patien­ten erklärten, „sie hätten nicht geschlafen, und auf die Frage, warum sie es ­sagten, meinten sie, weil sie merkten, der Arzt wolle es haben. […] Die Patienten fügen sich der Autorität des Arztes, wagen es nicht zu widersprechen, und wenn sie ihn los sein wollen, so sagen sie ihm, sie seien gesund.“1076 Weiter berichtete Benedikt vom „berühmten Hypnotiseur, dem Professor für Psychia­trie F.“, dessen Namen er nicht nennen wollte, „da der Mann sonstige Verdienste 1072 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 148. 1073 Lesky, Die Wiener medizinische Schule, S. 392. Gemäss Lesky lag Benedikt auf dem „wissenschaft­ lichen Kampffeld der Wiener Medizin“ mit allen im Streit. Besonders heftig kritisierte er KrafftEbing, dessen Werk er als „Abschreibschraube ohne Ende“ betitelte (­Benedikt, Hypnotismus und Suggestion, 1894, S. 81). Vgl. Mayer, „Sicherheit ist nirgends“, S. 118 f. 1074 Benedikt, Hypnotismus und Suggestion (1894), S. 41 und S. 44. 1075 Ebd., S. 57. 1076 Ebd., S. 67 f.

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in der Wissenschaft hat“.1077 Benedikt korrespondierte mit F., dass er ihn besuchen wolle, um zu lernen, wie man Morphiumabhängige, Alkoholiker und „Leute mit perverser Geschlechtsempfindung“ mittels Hypnose kuriere. Die Antwort des berühmten Hypnotiseurs fiel jedoch nach Benedikt ernüchternd aus: Er könne ihm nur die Wärte­rinnnen zeigen. Benedikt unterliess deshalb die Reise und erzählte weiter, F. habe später an einer deutschen Universität eine Wärterin posthypnotisch einen ­Finger um den andern drehen lassen, und als F. in ein Gespräch verwickelt war, habe sie gefragt, ob sie schon aufhören könne. Damit war für Benedikt der Ruf F.s als Hypnotiseur vollends zerstört. Benedikt zielte mit dieser bissigen Kritik wohl direkt auf Forel, da Position, abgekürzter Familienname, Renommee, Behandlungsspektrum und hypno­ tisierte Wärterinnen auf ihn schliessen lassen.1078 Die „Herren in Nancy“ und deren Anhänger liessen sich von Benedikt jedoch nicht beeindrucken. Seine Werke wurden in der Zeitschrift für Hypnotismus ignoriert, in Forels Texten ebenfalls.1079 Für die Anhänger der Schule aus Nancy stellte die Simulation wohl ein Problem dar, aber eines, das gelöst werden konnte. B ­ ernheim hielt zwar fest: „Es ist oft sehr schwer, den psychischen Zustand der beeinflussten Personen zu durchblicken […] Simulation ist mög­lich und leicht durchzuführen.“1080 Im Unterschied zu Forel, der das Thema Simulation im Lehrbuch in einem Unterkapitel auf vier Seiten abhandelte, widmete Moll der Simulation ein 20-seitiges Hauptkapitel in seinem Werk über Hypnotismus.1081 Er betonte, dass die Simulation viel seltener als angenommen vorkomme, und diskutierte verschiedene somatische und psychische Symptome, um mög­liche Simulation zu beurteilen. Anders als Forel räumte er ein, dass das Urteil über Simulation nicht einfach zu fällen sei. Doch auch er vertraute auf die Erfahrung: „Im allgemeinen jedoch wird man durch Übung dazu gelangen, mit einer gewissen Sicherheit oder mindestens doch mit einer überaus grossen Wahrschein­lichkeit den seelischen Zustand der meisten Hypnotisierten richtig zu beurteilen.“1082 Zur Einschätzung des seelischen Zustandes hatten die Pariser Hypnotiseure um Charcot eine ganze Maschinerie entwickelt.1083 Bestimmte physische Ausprägungen entsprachen nach ihrer Ansicht spezifischen hypnotischen Zuständen. Mit den 1077 Ebd., S. 68. 1078 Leider ist der Brief Benedikts an Forel nicht im Nachlass im Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich erhalten. 1079 Dass sie ihn doch gelesen hatten, zeigt das Legat von Benedikts Hypnotismus und Suggestion durch Forels Kollege Georg Ringier an die Zentralbibliothek Zürich. 1080 Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 14. 1081 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 210 – 229. 1082 Ebd., S. 229. 1083 Vgl. Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 49 – 60.

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Muskel­schreibern, sogenannten Myografen, zeichneten sie die muskuläre Anspannung der hypnotischen Zustände auf. Diese Aufzeichnungen galten als objektive ­Zeichen für die hypnotischen Zustände, dank denen die Echtheit der Hypnose geprüft ­werden konnte.1084 Bernheim und seine Schüler grenzten sich von dieser Suche nach objektivierbaren somatischen Zeichen ab, wie die ausführ­liche Auseinandersetzung Molls mit diesem Thema zeigt. So diskutierte Moll verschiedene somatische Symptome wie Augenschluss, Gesichtsausdruck, Bewegungen oder Pupillenphänomene und wies immer wieder auf die notwendige Vorsicht hin, die man zur Entscheidung der Simulationsfrage walten lassen müsse.1085 Wie Forel, der den simulationsbekennenden Patienten mit einer Nadel in die Hand stach, bediente sich auch Bernheim zur Prüfung des hypnotischen Zustands bei suggerierter Anästhesie oft des Stechens mit einer Nadel. Hauptsäch­lich waren für Bernheim „die Kriterien für die Echtheit der hypnotischen Zustände moralischer Art und nicht, wie im Labor der Salpêtrière, durch ein mechanisiertes Kontrollsystem bestimmt“.1086 Forel hielt sich, wie bei Bernheim erlernt, zur Einschätzung der Hypnose an die moralischen Eigenschaften der Patienten. Er führte immer wieder die Charaktereigenschaften der Hypnotisierten als Garanten an, um Gefälligkeiten und Simulationen auszuschliessen. So begann er die Beschreibung eines Hypnoseexperiments mit der Angabe, dass der zu Hypnotisierende sich durch einen „ethisch sehr hoch angelegte[n] Charakter und exemplarische Wahrheitsliebe [auszeichne], sodass hier jede Spur von Uebertreibung aus Gefälligkeit mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen ist“.1087 Bei den als zuverlässig eingeschätzten Patientinnen und Patienten war die Beurteilung der Situation nach seiner Ansicht einfach. Der erwachte Patient wurde einer Kontrollprozedur unterworfen: „Das geschieht am besten durch genaues Befragen des Hypnotisirten nach der Hypnose. War das Individuum wirk­lich hypnotisirt, dann besteht vollständige Amnesie; bei Simulation natür­lich nicht.“1088 Im Briefwechsel zwischen Bernheim und Forel kam die Simulation anläss­lich von Forels Behandlung einer Hysterikerin zur Sprache. Bernheim schien an dessen Hypnose-Erfolg kurz nach dem Erlernen der Methode bei ihm in Nancy zu zweifeln und gab ihm Anweisungen zur Simulations-Prüfung: „Votre hystérique simule-t-elle? Comment s’assurer si les hallucinations post-hypnotiques sont vraies? C’est difficile: une comédienne peut tout simuler. Si elle est susceptible d’hallucinations négatives, dites-lui qu’à son réveil, elle ne vous verra ni n’entendra. Puis quand elle fait mine de 1 084 Ebd., S. 77. 1085 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 214 – 218. 1086 Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 80. 1087 Forel, Gehirn und Seele (1894), S. 24. 1088 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730 (Hervorhebung im Original).

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ne pas vous voir, faites-lui des grimaces, dites-lui qu’elle est une farçeuse ou cherchez quelque chose de très risible à dire! Encore si elle sourillait alors et se mettait à rire, cela ne prouverait pas la simulation.“1089 Die Beurteilung der Situation schien diesen Nachfragen Bernheims zufolge doch nicht so einfach zu sein, wie Forel in seinen Texten jeweils den Eindruck erweckte. Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Beurteilung des hypnotischen Zustands war die „Echtheit“ der Stimmung, welche die Hypnotisierten während der suggerierten Szenen vermittelten. Moll führte dies als wichtigen Punkt an, um Simulation auszuschliessen: „Noch schwieriger aber ist es, momentan die Stimmung zu ändern und sich innerhalb von einigen Sekunden aus einer Situation in die andre zu versetzen, während der Hypnotische dies oft zu leisten vermag.“1090 Auch Forel griff auf diese beeindruckenden Stimmungswechsel zurück, um sein Publikum von der Echtheit der Hypnose zu überzeugen. Der Alkoholiker Werner T. wurde am Tag seines Klinikeintritts im Auditorium den Studenten präsentiert. In der Krankengeschichte notierte der behandelnde Arzt, durch welches Wechselbad der Gefühle Forel den Patienten gejagt hatte: „[Er] glaubt bald in einem Hotel zu sein, bald auf einem Schiffe zu fahren. Bejaht die Frage, ob er denn Wasser sehe. Hierauf werden ihm mit grösster Leichtigkeit Fische in dieses hallucinierte Wasser hineinsuggeriert. Der Weisung einen dieser Fische zu fangen, leistet er sofort Folge und wirft sich bäuchlings vom Stuhl auf dem er sitzt, auf den Boden. – Hierauf wird ihm ein Löwe suggeriert, der auf ihn losstürze; voll Schrecken springt er vom Stuhl auf und sucht zu entfliehen; – lässt sich aber gleich wieder beruhigen, als man ihm suggeriert, der Löwe sei nun todt geschossen. Er sieht sein Blut fliessen, als man ihm diese Vorstellung eingibt.“1091 Der Gesichtsausdruck des Hypnotisierten während der Hypnose und dem Erwachen war für Forel ein Merkmal für die Echtheit des Zustandes. Bernheim bediente sich bei der Prüfung, ob Blindheit „echt oder geheuchelt“ sei, eines Apparates, der „zur Entlarvung simulirter Blindheit“ vom niederländischen Augenarzt Herman Snellen entwickelt worden war.1092 Obwohl er auf diesen Apparat zurückgriff, entschied sich die Frage der Simulation in Nancy letzt­lich durch die „moralische Integrität des Arztes, seine Erfahrung und seine Urteilsfähigkeit“.1093 Dies 1089 Bernheim an Forel, 25. Mai 1887 (MHIZ PN 31.2:118). 1090 Moll, Der Hypnotismus (1907), S. 215. 1091 StAZH Z 100, KA-Nr. 5673, Eintrag vom 7. Mai 1892. 1092 Vgl. Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888), S. 44 f. Bernheim ging es bei diesem Experiment vor allem darum, nachzuweisen, dass die Blindheit, die bei vielen seiner „hysterischen“ Patientinnen im Rahmen ihrer einseitigen Körperanästhesie auf einem Auge auftrat, auf psychischer und nicht auf organischer Grundlage beruhte. Vgl. dazu Ladame, L’Hypnotisme au Congrès de Nancy (1887), S. 26 f. 1093 Mayer, Mikroskopie der Psyche, S. 82.

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wird bei Forel besonders deut­lich. Er betonte immer wieder, dass seinem geschulten Auge nichts entgehen und er sich nicht täuschen lassen würde. Die verschiedenartigen Simulanten, ob „bornierte Menschen“, die aus Gefälligkeit simulierten, „schwacheitle Menschen“, die nachträg­lich behaupteten, simuliert zu haben, oder bewusste Simulanten, die einen bestimmten Zweck verfolgten, liessen sich alle durch genaue Beobachtung und präzise Befragung überführen.1094 Geradezu auffallend ist die Diskrepanz zwischen dem Gewicht des Simulationsthemas bei den andern Hypnoseärzten und jenem in Forels Hypnosetexten. In den Notizen zu seiner Vorlesung steht praktisch nichts zum Thema, in Der Hypnotismus ging er nur auf vier Seiten darauf ein. Als an der Jahresversammlung der Interna­ tionalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie im Jahr 1911 in München wieder einmal das Thema Simulation diskutiert wurde, mischte sich Forel gereizt in die Diskussion ein. Dupré hatte erklärt, dass es bei suggestiven Personen häufig genüge, vom Arzt geleitet zu werden, und dass sie danach dem Arzt gefallen wollten und nachgeben würden, „also mehr oder weniger Hypnose simulieren“.1095 Forel warf zur Entgegnung das Gewicht seiner langjährigen Erfahrung in die Waagschale und polemisierte: „Von den 2000 Kranken, die er behandelt habe, seien 98% beeinflusst worden; man könne doch nicht behaupten, dass das lauter Leute seien, die besonders suggestibel wären; ausserdem hätten diese keine Veranlassung zu simulieren und dafür dann zu bezahlen.“1096 Im Anschluss diskutierten die Ärzte über physische Kriterien zur Beurteilung des hypnotischen Zustandes. Frank erwähnte das nach oben rotierende Auge beim Einschlafen, Vogt propagierte den veränderten Muskeltonus, Preda den wechselnden Blutdruck.1097 Die Simulation höhlte die Therapiebemühungen aus und stellte die ärzt­liche Autorität und Fähigkeiten infrage. Neben der erfolglosen Behandlung des Kranken konnte die Täuschung durch den Patienten auf unmittelbare Weise den Ruf des Arztes gefährden.1098 Mit einer erfolgreichen, nicht durchschauten Simulation hätte der Patient den Sieg im „Turnier der Hirndynamiken“ davongetragen, sein Wille hätte über die hypnotische Macht des Arztes gesiegt. In seiner autoritären Position war Forel nicht gewohnt, dass man ihn hinters Licht führte, schon gar nicht durch hierarchisch tiefer gestellte Patientinnen und Patienten. Gleichzeitig muss man seine defensive Rhetorik im Zusammenhang mit den nicht abnehmenden Diskussionen um die Wirksamkeit des Hypnotismus lesen. Er stand in der ersten Reihe von dessen 1 094 Vgl. Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 149 und S. 151. 1095 Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie (1912), S. 279. 1096 Ebd., S. 279. 1097 Ebd., S. 280. 1098 Lachmund, Der abgehorchte Körper, S. 43.

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Verfechtern und konnte keine Schwächen zugeben, um die Etablierung der Hypnosetherapie nicht zu gefährden. Simulation war eines der Themen, wo Forel Strategien anwenden musste, um zu entlarven oder Vorwürfe zu entkräften. Aber der Widerstand der Patienten konnte in diversen Formen die Durchführung der Hypnotisierungen stören. In einem eigenen Paragrafen innerhalb des Kapitels zur Suggestion behandelt Forel in seinem Lehrbuch den „Widerstand der Hypnotisierten“.1099 Durch die Positionierung des Paragrafen im Text wird Widerstand zum normalen Phänomen des Suggestionsvorgangs, das auftreten konnte. In diesem Paragrafen beschrieb Forel, wie Widerstand von Hypnotisanden „gegenüber den fremden Übergriffen“ zustande kam und wie dieser gebrochen werden konnte. Der „blinde, automatische Gehorsam des Hypnotisierten [sei] nie ein vollständiger“, und der Hypnotisierte werde „kein vollständiger Automat“.1100 Das widerständige Verhalten der Patienten beunruhigte Forel nicht. Er erwähnte zwar, dass der Widerstand rasch besiegt werden müsse, damit er sich nicht festigte, und wies kurz auf die Wichtigkeit von Kniffen hin. Beispielsweise verabreichte er einem Patienten ein Glas Wasser mit dem Hinweis, „es sei ein Schlaftrunk“ – und der Patient, der sich vorher renitent zeigte, schlief nach dem Genuss des Wassers ein.1101 Ebenfalls betonte er wiederum das Vertrauen als zentralen Faktor, um erfolgreich hypnotisieren zu können. In Der Hypnotismus äusserte er sich im Rahmen seiner Hypnoseanleitungen für Studierende und Arztkollegen ausführ­lich zu mög­lichen Strategien, um sich durchzusetzen und auch mit „widerhaarigen“1102 Patienten umzugehen. Zur strategischen Grundausrüstung gehörte das sichere Auftreten des Hypnotiseurs und dessen Überzeugung bezüg­lich der Therapiewahl: „Darüber darf überhaupt kein Zweifel mög­lich sein, sonst kommt der Erfolg der Hypnose in Frage. Es gehört hiezu bei dem Hypno­tiseur eine gewisse Dosis Selbstvertrauen, ja geradezu Frechheit.“1103 Die Patienten sollten gar nicht wagen, dem selbstsicheren, autoritären Experten zu widersprechen. Forel bediente sich weiter einer Kampfrhetorik, um das Vorgehen bei der ersten Hypnotisierung zu beschreiben. Der Erfolg in der ersten Sitzung war für den Fortgang der Therapie grundlegend: „Man muss die ‚Festung‘ von allen Seiten geschickt belagern. Die erste Bresche ist entscheidend.“1104 War diese Bresche einmal geschlagen, konnte man von dieser „Eingangspforte“ die „Herrschaft über das ganze Seelenleben“ 1099 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 118 – 124. 1100 Ebd., S. 119 f. Zwischen den Zeilen bezieht sich der Autor auf zeitgenössische Kritiker des Hypnotismus, die hier Gefahren und Missbrauchspotenzial sahen (vgl. dazu Kap. 5). 1101 Ebd., S. 120. 1102 Ebd., S. 121. 1103 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730. 1104 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 266.

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erzwingen.1105 Wenn die Hypnose nicht gleich gelang, sollte man es immer wieder versuchen: „Dabei gehe man nicht immer auf die gleiche Weise vor, sondern bestrebe sich, mög­lichst abzuwechseln, um so durch mannigfaltige Angriffe Terrain zu gewinnen.“1106 Auf seine autoritäre Ausstrahlung setzte er bei jenen, die zögerten oder nur teilweise beeinflusst wurden. Sie hatten gar keine Wahl, sich zu widersetzen, wie er ihnen auseinandersetzte: „Sie sehen, dass Sie mir folgen müssen, dass Ihre Nerven mir ganz gehorchen müssen.“1107 Zweifelnde Patientinnen und Patienten landeten sozusagen im Beichtstuhl und mussten gestehen: „Sobald ich sehe, dass Jemand unbeeinflusst bleibt, oder nicht mehr gut parirt, frage ich jetzt: ‚Was regt Sie auf, was haben Sie auf dem Herzen, das Sie mir nicht sagen?‘ Und diese Frage, in freund­lichem Ton, aber bestimmt gehalten, bleibt fast nie ohne positive Antwort. Der Kranke merkt, dass ich die Ursache des Misslingens sofort erkannt habe, und giebt es auch fast immer zu. Dadurch kann ich ihn meistens beruhigen und zum Ziel gelangen.“1108 Der erfahrene Blick des Arztes durchschaute den Patienten und brachte ihn zum Geständnis.1109 Die Bresche war geschlagen, der Angriff konnte weitergehen. Das siegessichere, energische Auftreten empfahl Forel auch, wenn sich Patientinnen und Patienten wehrten. Er hielt sich nicht damit auf, deren Bedenken zu berücksichtigen. Bei Patient N. hatte seine Strategie der suggestiven Atmosphäre geradezu kontraproduktiv gewirkt. Dieser hatte den Hypnotisierungen anderer Patienten beigewohnt, und als er an die Reihe kam, „geriet er in lebhafte Aufregung, bekam ­starkes Angstgefühl und hochgradiges Herzklopfen und fing an, zappelige, hyste­rische Anfälle zu bekommen“.1110 Forel ging nicht darauf ein und trieb die Behandlung weiter: „Durch energische Suggestionen und dadurch, dass der Anfall als vorüber­gehende Bagatelle behandelt wurde, erholte er sich bald wieder, und es verliefen dann die weiteren Hypnosen ohne jeden Zwischenfall.“ Um die Leserschaft von der Legitimität seines Vorgehens zu überzeugen, vermeldete er noch den therapeutischen Erfolg: „Der Patient bestätigte selbst den wohltuenden Einfluss jeder Hypnose. Er […] fasste wieder Vertrauen in sich selbst und blickte zuversicht­licher in die Zukunft.“1111 Hier wird offensicht­lich, was an anderer Stelle bereits angetönt wurde: Forel verfolgte ganz 1105 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 729. 1106 Ebd., S. 731. 1107 Ebd., S. 730. 1108 Forel, Suggestibilität und Geistesstörung (1893), S. 337. 1109 Hier lässt sich Forels Technik des Sprechen-Machens in Verbindung bringen mit Foucaults Konzept einer Pastoralmacht, die ihre Macht nur ausüben kann, wenn sie weiss, „was in den Köpfen der Menschen vor sich geht“ und diese ihre „intimsten Geheimnisse“ preisgeben (Foucault, Subjekt und Macht, S. 277). Vgl. zur Prozedur des Geständnisses Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 61 – 76. 1110 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 292. 1111 Ebd., S. 292.

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dem Usus seiner Zeit entsprechend ein paternalistisches Modell der Arzt-Patienten-Beziehung. Er besass die alleinige Entscheidungssouveränität über die geeignete Therapie und ging auf Bedenken und Ängste der Patientinnen und Patienten nur mit Blick auf die Durchsetzung der Therapie ein. Die dezisionale Privatheit der Patientinnen und Patienten, die ihre Handlungs- und Entscheidungsspielräume betraf, war weitgehend ausser Kraft gesetzt.1112 Wie bei der Besprechung der Patienten-Strategien gezeigt wurde, konnten diese in einem gewissen Masse auch hier stören. So blieb Forel bei der schreienden Patientin nichts anderes übrig, als die Therapie abzubrechen.1113 Die Spannung zwischen den Therapieverläufen in den Krankengeschichten und den geschmeidigen Texten Forels ist offensicht­lich. Viele Hypnosetherapien, die in den Krankengeschichten dokumentiert sind, „versandeten“ oder wurden abgebrochen. Der sorgfältige Blick auf die Einflussnahme der Patientinnen und Patienten deckt ihre zugegeben beschränkten Handlungsspielräume auf. Zwar kamen wie beschrieben auch in Forels Publikationen „widerhaarige“ Patientinnen und Patienten vor. Sie schienen ihm aber dort keine grossen Probleme zu machen, sondern konnten kontrolliert werden. Widerstand und Simulation erscheinen in der Komposition des Lehrbuchs diskursiv geglättet als normale Phänomene des Suggestionsvorgangs. Anders als in der Klinik hatten die Patienten im Text Forels keine Mög­lichkeit mehr, ihre Strategien zu verfolgen und zu verteidigen. So wollte beispielsweise der an trauma­tischer Neurose leidende Patient, der nicht hypnotisierbar war, in Forels Logik „offenbar nicht geheilt“ werden.1114 Die Hypnosetherapie wurde von den Teilnehmenden unterschied­lich erlebt und wahrgenommen. Auch bei der Deutung der Hypnosetherapie als performatives Ritual ist diese divergierende Wahrnehmung ein zentraler Punkt. Rituale bleiben wegen der unterschied­lichen Perspektiven der Beteiligten ambivalent: „Rituale [schaffen], auch wenn deren Ablauf genau vorgeschrieben sein mag, keine einheit­liche Bedeutungsoder Erlebniswelt.“1115 Die verschiedenen Deutungen des Rituals können je nach Mög­ lichkeiten der Beteiligten jedoch mehr oder weniger wirkungsvoll durchgesetzt werden, was sich auch in den Quellen spiegelt, die der historischen Analyse zur Verfügung stehen. Sie erzählen praktisch nichts davon, wie die Patientinnen und Patienten die Hypnotisierungen erlebt und gedeutet haben. Die Durchsetzung der richtigen Lektüre des Rituals war mit diskursiven Ressourcen verbunden, die den Patienten nicht 1 112 Vgl. Nolte, Gelebte Hysterie, S. 66 f. 1113 StAZH Z 100, KA-Nr. 4633. 1114 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 210. Hier ist Forels gängige Verteidigungsrhetorik erkennbar: War die Hypnose nicht erfolgreich, war der Patient selber schuld. 1115 Rao/Köpping, Einleitung, S. 19. Jakob Tanner weist auf die unterschied­lichen ­Wahrnehmungen und Deutungen hin, welche die verschiedenen Akteure in der Klinik besitzen (Tanner, Der „fremde Blick“, S. 65).

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zugäng­lich waren, Forel dagegen durch seine institutionelle Position und Vernetzung zur Genüge zur Verfügung standen. Ihm stand die „hegemoniale Deutungsmacht“ zu, „welche auch die öffent­liche Meinung dominiert“.1116 Da die Hypnosetherapie sowohl in der Scientific Community wie auch in der Öffent­lichkeit umstritten war, kam der Deutung der Hypnotisierungen als therapeutischer Erfolg ein grosser Stellenwert zu. Forel verwendete viel Zeit und Mühe darauf, die Erfolge zu verbreiten und zu verteidigen. Die Fallgeschichten und Statistiken zu geheilten Patientinnen und Patienten waren ein Mittel, um die Effektivität der Therapie zu belegen, und in Fachzeitschriften schaltete er sich in Kontroversen ein, um energisch seine Meinung zu vertreten. Im Vorwort des Lehrbuchs sprach er Kritikern, die Hypnotismus für „Humbug und alle Hypnotisierten für Simulanten halten“, die Legitimation für ihr Urteil rundweg ab.1117 Er dagegen vertrat eine gewichtige Meinung und sah sich „durch eigene Prüfung der Sache“ berechtigt, seine Ansichten darzulegen.1118

8.5 Der Rapport zwischen Hypnosearzt und Patient Die Beziehung zwischen dem Hypnotiseur und dem zu Hypnotisierenden prägte die Performance der Hypnotisierung grundsätz­lich, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben. Der Begriff des Rapports zur Bezeichnung der Beziehung von Magne­ tiseur und Patient wurde bereits von Franz Anton Mesmer im 18. Jahrhundert verwendet. Er verstand darunter hauptsäch­lich eine physikalische Verbindung, wobei nach seiner Ansicht ein magnetisches Fluidum transferiert wurde. Der Begriff des Rapports wurde bis Anfang des 20. Jahrhunderts weiter gebraucht.1119 Die Hypnotiseure um Bernheim erkannten zwar, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient für die Durchführung der Hypnosetherapie zentral war. Sie erkannten jedoch nicht, in welchem Mass der Rapport die Beziehung bestimmte.1120 Bernheim wies wohl auf die notwendige Individualisierung der Behandlung hin, mass wie auch Charcot dem Rapport jedoch keine grosse Bedeutung bei. Albert Ruault und Pierre Janet schenkten dem Phänomen im Verlauf der 1880er-Jahre wieder mehr Aufmerksamkeit.1121 Ruault untersuchte in Le méchanisme de la suggestion hypnotique von 1886 die Beziehung zwischen Hypnotiseur und Versuchsperson und kam zum Schluss, dass die Versuchsperson ständig auf den Hypnotiseur fixiert sei und während der 1 116 Tanner, Der „fremde Blick“, S. 51. 1117 Forel, Der Hypnotismus (1919), Vorwort zur ersten Auflage, S. IIIf. 1118 Forel, Einige Bemerkungen über den gegenwärtigen Stand (1888), S. 1. 1119 Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 222 f. 1120 Ebd., S. 176. 1121 Ebd., S. 225 f.

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Hypnosen dermassen übersensibilisiert sei, dass sie die schwächsten Signale des Hypnotiseurs wahrnehmen würde, Signale, die dieser gar nicht bewusst aussendete. Janet ging in seiner berühmten Doktorarbeit L’automatisme psychologique von 1889 ebenfalls auf die Verbindung zwischen Hypnotiseur und Versuchsperson ein. In den Versuchen mit seiner Patientin Léonie hatte er herausgefunden, dass in der Hypnose den „Rollen“, welche die Versuchsperson spielte, um dem Hypnotiseur zu gefallen, eine wichtige Bedeutung zukam.1122 Die Rezeption von Ruaults und Janets Arbeiten durch die Hypnoseärzte im Umfeld der Zeitschrift für Hypnotismus war allerdings begrenzt. Ihre Arbeiten wurden in der Zeitschrift nicht besprochen, und Forel nahm ihre Erkenntnisse nicht in seinem Lehrbuch auf. Dagegen bewies Moll analog zu seiner Auseinandersetzung mit der Simulation mehr Fingerspitzengefühl, wenn es um die Beziehung zwischen Hypnotiseur und Versuchs­person ging. Er publizierte 1892 die Schrift Der Rapport in der Hypnose, die er auch an Forel schickte und die in der Zeitschrift für Hypnotismus besprochen wurde.1123 Forel benutzte zwar den Begriff Rapport in seinem Lehrbuch,1124 behandelte den Einfluss der Beziehung von Hypnotiseur und Hypnotisiertem auf den Thera­ pieverlauf aber oberfläch­lich, wie schon seine Thematisierung des Widerstands Hypno­tisierter gezeigt hat. Die Art und Weise, wie er Aspekte des Rapports trotzdem aufnahm, zeigt, dass der Rapport nicht nur als Störfaktor, sondern auch positiv auf die Thera­pie wirken konnte, indem die Nähe und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient Garanten für eine erfolgreiche Durchführung waren. Forel suggerierte häufig die alleinige Hypnotisierbarkeit der Patientinnen und Patienten durch ihn und setzte zur Stärkung dieser Suggestionen auch Amulette ein, die er mitgab. Einer „ungeheuer suggestiblen, sehr tief schlafenden“ Wärterin, die nach Übersee reiste, gab er beispielsweise ein Amulett mit seinem Konterfei mit, das sie bei erneuten Beschwerden betrachten solle: „Ich liess sie noch vor der Abreise die Probe der viertelstündigen Hypnose mit der Photographie machen.“1125 Sein explizi­tes Argument für diese Ausschliess­lichkeit war der Schutz der Patientin; implizit konnte er dadurch auch sein „Revier“ markieren und verteidigen. Die Exklusivität des Einflusses, die starke Bindung der Patientinnen und Patienten erfüllte die Hypnoseärzte mit Stolz, wie das Beispiel von Krafft-Ebing und Ilma S. zeigt. Krafft-Ebing notierte anläss­lich seiner Hypnotisierung bei der Monatsversammlung 1122 Vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, S. 488 und S. 510. Janet hielt im August 1896 auf dem Internationalen Kongress für Psychologie in München den Vortrag „Somnambuler Einfluss und das Bedürfnis nach Lenkung“, wo er das Phänomen des Rapports behandelte. 1123 Postkarte Molls an Forel vom 20. Dezember 1892 (MHIZ PN 31.2:2959). Vgl. Grossmann, Der Rapport in der Hypnose (1893); Moll, Der Hypnotismus (1889), S. 129. 1124 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 188. 1125 Forel, Der Hypnotismus (1888), S. 57 f.

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des ärzt­lichen Vereins: „Dieser Versuch gelingt nur dem Experimentator. Andere Herren bemühen sich vergebens.“1126 Die Hypnosepatientinnen und -patienten im Burghölzli erhielten vom Klinik­ direktor und den andern Ärzten viel Aufmerksamkeit. Sie traten bei ihrer Vorstellung in der Hypnosevorlesung vor einem grossen Publikum auf und reisten mit Forel an Kongresse, wo er sie im Rahmen seiner Referate als besonders interessante Fälle präsentierte. Dies zeigen auch die Kadenzmuster in den Krankengeschichten. Während der laufenden Hypnosetherapie häuften sich die Eintragungen, bei Nichterfolg schwand das Interesse, und die Notizen der Ärzte wurden spär­licher.1127 Diese ihnen zukommende Aufmerksamkeit genossen die Patientinnen und Patienten bestimmt auch (teilweise) – sie wurden aus der Menge der Kranken in der Klinik hervorgehoben. Anders als Forel und seine Kollegen erkannte Sigmund Freud die grosse Bedeutung des Rapports für die Hypnosetherapie und betonte bereits im Jahr 1890, dass der tiefe Einfluss des Hypnotiseurs durch die Haltung des hypnotischen Subjekts gegenüber dem Hypnotiseur bedingt sei.1128 In der Auseinandersetzung mit dem psychoanalytischen Begriff der Übertragung ging Freud auf spezifische Aspekte des Rapports ein. Als Übertragungen bezeichnete er „Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewusst gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes“.1129 Zunächst zählte er die Übertragung zu den „Haupthindernissen“ der Behandlung, „die sich dem Erinnern des verdrängten Materials widersetzen“.1130 Zunehmend deutete er den Mechanismus der Übertragung auch als Hilfsmittel der Behandlung, da dieser die Nähe des unbewussten Konfliktes anzeigte. Auch an der Jahresversammlung der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie im Jahr 1911 in München war der Rapport Gegenstand der Diskussion. Die unterschied­lichen Ansichten zwischen der Freud’schen Fraktion und den Anhängern der „alten Schule“ erschwerten die Verständigung. Die Freud-Schüler Leonhard Seif und Ernest Jones vertraten die Ansicht, dass die Beziehung zwischen dem 1126 Krafft-Ebing, Eine experimentelle Studie (1888), S. 41. Wie bereits erwähnt, nutzte Ilma S. diesen Aspekt auch, um Krafft-Ebing zu desavouieren, indem sie ihm sagte, seine Hypnotisiermethode sei wirkungslos, er müsse nach der Art ihres ehemaligen Hypnosearztes vorgehen (Lafferton, Hysteria and hypnosis as ongoing processes of negotiation, S. 312). 1127 Beispielsweise StAZH Z 100, KA-Nr. 6424. 1128 Vgl. Forrester, Contracting the disease of love, S. 258 f. Freud sah einen Zusammenhang z­ wischen der Suggestibilität und der Neigung zu positiver Übertragung (vgl. Walter und Martin, Zur Geschichte der Hypnose in Österreich, S. 187). 1129 Sigmund Freud, Bruchstücke einer Hysterie-Analyse (1905), zitiert in: Laplanche und Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 553. 1130 Laplanche und Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 554.

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Hypnosearzt und dem Hypnotisierten ein „ganz bedeutungsvolles Moment“ sei und einen zentralen sexuellen Aspekt besitze.1131 Jones machte auch deut­lich, dass sie sich wegen diesbezüg­licher Schwierigkeiten vom Hypnotismus abgewandt hätten. Seiner Ansicht nach könne die Hypnose schäd­lich sein, weil sie anstelle der Krankheitssymptome „die psychisch-sexuelle Abhängigkeit des Hypnotisierten von dem Hypnotiseur treten lässt, indem der Vaterkomplex auf den Hypnotiseur übertragen wird“.1132 Nach Jones ergriffen Ludwig Frank und Ernst Trömner das Wort und verneinten die Schäd­ lichkeit der Hypnose, Forel pf­lichtete ihnen bei. In Der Hypnotismus beschrieb Forel keine Fälle, wo das Thema Sexualität die Hypnotisierungen negativ beeinflusst hätte. Und doch blieb der Diskurs nicht homogen. In Die sexuelle Frage widmete er ein Kapitel der „Rolle der Suggestion im Sexualleben“. Darin behandelte er die hypnotische Behandlung von Liebesgefühlen und deren Schwierigkeiten, die Richtung Übertragung weisen: „Der hypnotisierende Arzt muss […] Sympathiegefühle des Hypnotisierten wecken, um von ihnen unterstützt, das zu beseitigende Uebel zu bekämpfen.“1133 Dies sei ungefähr­lich, wenn keine sexuelle Anziehung bestünde. Sonst „birgt es die Gefahr, sexuelle Gefühle hervorzurufen“.1134 Forel weiter: „Zum Glück können die meisten Kranken, soweit natür­lich sie heilbar sind, recht gut durch Weckung eines leichteren Grades von Sympathiegefühlen und durch das vereinte Bestreben des Hypnotiseurs und des Hypnotisierten, der Krankheitserscheinung Herr zu werden, Heilung finden, ohne dass etwas anderes als ein gewisses Gefühl von Freundschaft und Dankbarkeit des Hypnotisierten für den Hypnotiseur entsteht.“1135 Anders als bei Seif und Jones stellten diese Übertragungsmechanismen Forels Hypnoseanwendungen nicht infrage.1136 Durch die Betrachtung der Hypnotisierungen als performatives Ritual konnten die spezifische Rahmung, die Inszenierungsstruktur und die Transformationskraft der Hypnose erfasst werden. Forel vertraute auf die performative Kraft der Hypnotisierungen und setzte verschiedene Inszenierungsebenen ein, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. Idealerweise machten die Patientinnen und Patienten durch die Hypnotisierung eine Veränderung von krank zu gesund durch. Deren vorgängige Krankheitseinsicht war ein notwendiger Schritt, um ihre Rolle und damit die therapeutische Rahmung zu akzeptieren. Im Sinn eines Übergangsrituals regelte die 1131 Verhandlungen der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie (1912), S. 288. 1132 Ebd., S. 293. 1133 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 502. 1134 Ebd., S. 502. 1135 Ebd., S. 504. 1136 Henriette Walter und Marianne Martin mutmassen, dass einer der mög­lichen Gründe, weshalb sich Freud vom Hypnotismus abgewendet hatte, die Angst vor Übertragungsgefühlen gewesen sei (Walter und Martin, Zur Geschichte der Hypnose in Österreich, S. 186).

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Hypnosetherapie die Transition von krank zu gesund und wirkte, wie in Kapitel 10 gezeigt wird, für Forel im Sinne einer „performativen sozialen Wunschmaschine“1137 gesellschaft­lich integrierend. Gleichzeitig besass das Hypnoseritual gerade durch seine Performativität subversives Potenzial. Die Patientinnen und Patienten traten als Handelnde in Erscheinung und kamen Forels Skript in die Quere, indem sie sich weigerten, auf die Therapie einzutreten, deren Abbruch erzwangen oder retrospektiv behaupteten, sie hätten simuliert. Diese Optionen dürfen jedoch nicht überbewertet werden, da sich nicht viele Patientinnen und Patienten erfolgreich gegen Forels Therapiebestrebungen wehrten. Die wenigen Fälle lassen keine quantitativen Aussagen zum Einfluss von Klasse und Geschlecht auf die Widerstandsmög­lichkeiten zu. Deut­lich wird jedoch, dass die Perspektiven zwischen gebildetem Bürgertum und ärzt­lichem Experten am wenigsten divergierten und diese Patientinnen und Patienten ihre Forderungen gegenüber Forel selbstbewusster einbringen und auch verteidigen konnten. Neben dem subversiven Element der Hypnotisierungen entzog sich auch die nachträg­liche Deutung der Geschehnisse Forels Kontrolle. Doch anders als die Patientinnen und Patienten konnte er seine Lesart der Hypnosetherapie durchsetzen, da ihm durch seine institutionelle Position und Vernetzung diskursive Ressourcen zur Verfügung standen, die den Patientinnen und Patienten nicht zugäng­lich waren.

1137 Wulf/Zirfas, Performative Welten, S. 15.

9. Cerebrale Ordnungen In einem Vortrag 1880 hielt Forel fest, dass das Gehirn noch vor wenigen Jahren als „Terra incognita“ gegolten habe. Nun werde in den Gebieten der Anatomie und Physiologie am meisten gearbeitet.1138 20 Jahre später stellte er die Bedeutung des Gehirns in einen grösseren soziokulturellen Zusammenhang: Die „Kenntnis unseres Hirnlebens“ sollte nun zu verschiedenen brennenden Problemen der Gesellschaft im Fin de Siècle die Lösungen bergen.1139 Auch die Charakterisierungen des Gehirns verweisen auf einen breiteren Zusammenhang. Neben gängigen Metaphern wie dem Gehirn als „Denkmaschine“,1140 „Dynamomaschine“1141 oder „Energieakkumulator“1142 wurde das Gehirn zum „Generalstab des mensch­lichen Körpers“,1143 das Grosshirn zum „Herrn und Meister“1144 und zum eigent­lichen Substrat des Menschen, wenn er von dem Gehirn als den „mikroskopischen Werkstätten unseres Ich“1145 schrieb oder festhielt, dass das Gehirn der „Mensch im Menschen“1146 sei. Verschiedene Wissensräume bestimmten Forels Beschäftigung mit Gehirn und Gesellschaft, befrachteten das Gehirn mit kultureller Bedeutung und instrumentalisierten es „als Chiffre für bestimmte Leitvorstellungen“1147. Das Gehirn taucht in seinen Texten zu Degeneration und Zivilisationskritik, Kriminalanthropologie und forensischer Psychiatrie auf, wird aber auch im Zusammenhang von Emanzipationsbestrebungen der Frauen und der „Kolonialfrage“ erörtert. Das Gehirn wurde als Leitobjekt in eugenischer Argumentation, als Kristallisationspunkt des „Volkskörpers“ – eben als „Werkstätte“ des Menschen, als Inbegriff des Menschen – verhandelt.

1138 Forel, Vortrag über die Resultate und die Bedeutung der Gudden’schen Exstirpationsmethode (1907), S. 142. 1139 Forel, Zur Frage der neurologischen (hirnanatomischen und psychologischen) Centralstationen (1902), S. 222. 1140 Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908), S. 7. 1141 Forel, Rasches Weisswerden der Haare (1898), S. 141. 1142 Forel, Schreitet die Kultur vorwärts? (1924), S. 13. Die Nerven beschrieb er als „Telegraphendrähte“ (ders., Die Gehirnhygiene der Schüler, 1908, S. 4). 1143 Bericht über August Forels Vortrag Über das Gehirn des Menschen in sozialer Beziehung und seine Verderber, in: Züricher Post, 16. November 1897, S. 2. 1144 Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908), S. 4. 1145 Forel, Einige Worte zur Neuronenlehre (1905), S. 236. 1146 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 155. Dagegen sind die Muskeln „die letzten Diener des Gehirns“ (ebd.). 1147 Hagner, Moderne Gehirne, S. 9.

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Abb 17 Hirnskizze Forels aus seinen Notizen zu einer Psychiatrie-Vorlesung (MHIZ PN 31.1:16).

Wie bereits früher erwähnt, hatten auch andere Hirnforscher wie Meynert, Flechsig oder Monakow das Gehirn mit kultureller Signifikanz versehen und Analogien von Gehirn und Staat formuliert. Als sich Forel gegen Ende seiner Zürcher Amtszeit in einem Vortrag an die lokale Jugend wandte, war die direkte Verbindung von Gehirn und gesellschaft­licher Relevanz in seinem Ideengebäude schon weit gediehen. Im Restaurant Eintracht referierte er am 14. November 1897 vor „mehreren Hundert jungen Arbeitern, Studenten und Studentinnen“ über „das Gehirn des Menschen in sozialer Beziehung und seine Verderber“ und wies die Zuhörer auf die grosse Bedeutung eines gesunden Gehirns für die Fortpflanzung hin.1148 Für „gesunde Gehirne“ sei „gesundes Menschenmaterial“ erforder­lich, als „Verderber“ identifizierte er Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten. „De nihilo nihil fit“, war seine Ansicht.1149 Weiter prägte das Gehirn als zentrales Merkmal auch Forels taxonomische Logik, nach der er die Gesellschaft unterteilte. Der vergleichenden Anatomie und Histologie des zentralen Nervensystems, dessen Entwicklungsgeschichte wie auch der vergleichenden Psychologie kam eine wichtige Rolle innerhalb seines umfassenden neurobiologischen Programmes zu. Als „moderner Antagonismus“1150, der als privilegierte Differenz den Körper respektive die Gesellschaft segmentiert, prägte erstens die Geschlechterdifferenz seine cerebralen Taxonomien. Als zweiter starker Antagonismus 1148 Bericht über Forels Vortrag (1897), S. 2. 1149 Forel, Ein wichtiges Verhältniss des Genies zur Geistesstörung (1902), S. 9. 1150 Zu Differenzen im Hygienediskurs vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 174 f. und S. 187 – 211.

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zeigte sich die „rassische“ Differenz in seinen Ordnungen des Gehirns. Im Zusammenhang mit der „Kolonialfrage“ konstatierte er ab der Jahrhundertwende, nach ausgedehnten Reisen nach Süd- und Nordamerika, eine „rassische“ Gehirndifferenz und rechtfertigte damit eine bestimmte Weltordnung. Drittens prägte der Antagonismus der „Abnormität“ sein System. Geisteskranke, Verbrecher, aber auch Genies hatten nach seiner Ansicht „abnorme“ Gehirne. Wie Forels adjektivische Zuschreibungen – schwache, minderwertige, kranke, abnormale, verbrecherische, vergiftete Gehirne, „überreizte Grossstadtgehirne“ und „überladene Schülergehirne“ – nahelegen, war diese Demarkationslinie weniger leicht zu fassen als jene, die sich an Geschlecht und „Rasse“ orientierte, und schien ständig Befestigungsbedarf zu haben.

9.1 Degenerationsängste, Zivilisationskritik und das Gehirn Schon 1880 hatte Forel in der Generalversammlung des Zürcher Hilfsvereins für Geisteskranke den Vereinsmitgliedern das Schreckensszenario einer degenerierenden „Nation“ gezeichnet.1151 Vererbung, Schnaps und Geschlechtskrankheiten waren nach seiner Ansicht die Verursacher dieser deplorablen Entwicklung, wobei vor allem die direkte Keimschädigung durch Alkohol für ihn im Zentrum stand.1152 Damit rückte für Forel schon früh der Volkskörper in den Blick. Zwar sprach er 1880 noch nicht von „Rasse“ und deren „Hygiene“, aber die erb­lichen Anlagen, die „Keime des Irrsinns“, standen schon klar in seinem Visier. Vor dem Zürcher Hilfsverein plädierte er dafür, die „erb­lich belastete Nachkommenschaft“ zu vermeiden, indem dank guter Kontrolle und Unterbringung die „armen, unzurechnungsfähigen Irren“ von der Fortpflanzung abgehalten würden.1153 Gegen Ende des Jahrhunderts bezogen sich Forels Befürchtungen immer deut­ licher auf den Volkskörper und die „Rasse“, so etwa 1899 in der Zukunft von Maximilian Harden.1154 Unter dem Titel Über Ethik schrieb er von entartenden Kulturvölkern, die sich in einem Überlebenskampf mit „Chinesen und Negern“ befänden. 1151 Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 6. Zum Hilfsverein vgl. Dinkelkamp, Der Zürcher Hülfsverein für Geisteskranke, S. 84 f. 1152 Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 48. Forel war nicht der Einzige, der im Alkohol die grosse Gefahr sah. Bereits Morel hatte in seiner Degenerationstheorie den Alkohol als zentralen Verursacher identifiziert (vgl. Kap. 2). 1153 Vgl. Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880). Die konzeptuellen Termini wurden erst später definiert, so 1883 der Begriff Eugenik durch Francis Galton und 1895 der Begriff Rassenhygiene durch Alfred Ploetz (vgl. Schmuhl, Sozialdarwinismus, S. 369 und S. 371). 1154 Vgl. Forel, Ueber Ethik (1899). Für die Eugeniker ergab sich aus der Theorie des Genetikers August Weismann von 1892, der die Unveränder­lichkeit der Keimzellen postulierte, eine

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Bezugspunkt war nun explizit die „Rasse“, die durch die „entartenden Sitten“ ihrem Untergang entgegengeht. Die Aufgaben, die Forel zur Rettung aus dieser Misere formulierte, lassen keine Zweifel an seiner Motivation. Neben der „Hintanhaltung gefähr­licher Menschenrassen“ stand die „Züchtung der eigenen Rasse“ im Zentrum. Die gesunde Bevölkerung sollte über hygienische Massnahmen belehrt, daneben sollten die entartenden Ursachen wie etwa Alkohol beseitigt und die Fortpflanzung von Unerwünschten verhindert werden. Im folgenden Jahrzehnt strengte sich Forel wortreich an, den Zusammenhang von Lebenswandel und Entartungserscheinungen respektive Vererbungsmechanismen zu erklären, und führte für diese bedroh­liche Negativspirale, die direkt in die Vererbung eingriff, den Begriff „Blastophthorie“ ein.1155 Dieser besagte, dass wegen Alkoholkonsum oder Krankheiten (Syphilis, Typhus) die Entwicklung der elter­lichen Keime und des Embryos gestört werde; die Auswirkungen davon waren Entwicklungshemmungen, „Abnormitäten“, „Minderwertigkeiten“.1156 Das Gehirn war dadurch ganz besonders gefährdet: „Beim Menschen ist dies ganz besonders am hochorganisierten Zentralnervensystem, am Gehirn, und infolgedessen am Nerven und Geistesleben in Form von Idiotismus, Geistesstörung, Nervenkrankheiten, Epilepsie usw. bemerkbar.“1157 Auch den Geschlechtskrankheiten attestierte er ein grosses schädigendes Potenzial, und seine Unterstützung für die Zürcher Sitt­ lichkeitsbewegung in den 1890er-Jahren ist im Zusammenhang dieser degenerativen Ängste zu sehen. So identifizierte er die Prostitution primär als „Herd“, wo sich der Mann mit Geschlechtskrankheiten infizierte und dadurch nicht nur seine Ehefrau, sondern auch die Nachkommen ins Verderben zog.1158

„erheb­liche Zuspitzung des Selektionsprinzips“ (Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 84). Vgl. dazu auch Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 444; Schmuhl, Sozialdarwinismus, S. 369. 1155 Vgl. u. a. Forel, Hygiene der Nerven (1903); ders., Alkohol und Geschlechtsleben (1905); ders., Rassenentartung und Rassenhebung, in: Die Umschau 5 (1909), S. 89 – 93; ders., Alkohol und Keimzellen (1911). 1156 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 102 f. 1157 Forel, Rassenentartung und Rassenhebung (1909), S. 91. 1158 Sarasin, Prostitution im bürger­lichen Zeitalter, S. 16. Allerdings schockierte er seine sitt­lichen Weggefährten nur ein paar Jahre später, als er in Die sexuelle Frage 1905 einer „freien sexuellen Betätigung das Wort redete“ (ebd.). Für den Siebten Internationalen Congress gegen den Alko­ holismus in Wien von 1901 war Forel vom Verein zur Bekämpfung der staat­lich organisierten Prostitution gebeten worden, den Zusammenhang von Alkoholkonsum und der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten darzulegen (vgl. Forel, Alkohol und venerische Krankheiten, 1901). Zum Zusammenhang von Alkoholkonsum und Sexualität referierte er auch vier Jahre später auf einem weiteren internationalen Kongress gegen den Alkoholismus in Budapest, wobei er nun die Problematik in den Zusammenhang eines Überlebenskampfes der „arischen Rasse“ und eines eugenischen Programmes stellte (ders., Alkohol und Geschlechtsleben, 1905). Vgl. Puenzieux und Ruckstuhl, Medizin, Moral und Sexualität.

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Die degenerative Argumentation war meistens zivilisationskritisch gefärbt, wobei die negativen Auswirkungen des Grossstadtlebens biologisch interpretiert wurden.1159 So sah beispielsweise Emil Kraepelin den „Lebenskampf “ in der industriellen Gesellschaft als Quelle der Überbeanspruchung.1160 Auch Forel interpretierte die sozialen Folgen der Industrialisierung und Urbanisierung primär auf biologischer Basis. Diese Probleme seien „mehr als eine Geld- und Magenfrage“: „[Die soziale Frage] ist auch eine Frage des Gehirns, der Qualität der erb­lichen Anlagen und der sozialen Ethik.“1161 Diese Argumentation vermengte sich bei ihm mit einer Kritik an der gesellschaft­ lichen, hauptsäch­lich urbanen Lebensführung. Bereits 1880 vertrat er vor dem Zür­ cher Hilfsverein die Ansicht, dass die Zunahme der Geisteskrankheiten die „Kehrseite der modernen Civilisation“ sei. In sozialdarwinistischer Manier sah er neben Vererbung und Alkohol einen „Kampf ums Dasein“ toben, „den das Gehirn heut zu Tage in den grossen Städten und in den Industriecentren fast allein zu führen hat. […] Das Gehirn wird dabei überreizt, während der übrige Körper verkümmert.“1162 Das „gegenwärtige Menschengehirn“ wurde mit den konstanten Überreizungen der Stadt nicht fertig. Kümmer­liches Fabrikleben, sexuelle Ausschweifungen bei gleichzeitiger Ehelosigkeit, Alkoholkonsum, kulturelle Ablenkungen des Stadtlebens durch Kino, Presse und „krankhafte Kunst“ sowie ein rastloser Lebenswandel wegen der zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel überforderten das Gehirn des Stadtmenschen und machten es krank.1163 Die vom amerikanischen Arzt George Miller Beard 1880 als eigenständige Krankheitseinheit beschriebene Neurasthenie wurde, im deutschen Sprachraum begeistert rezipiert, als eigent­liche Zivilisationskrankheit geradezu zur „Signatur der Epoche“.1164 Forel selber stand dem Begriff der Neurasthenie kritisch gegenüber und bemängelte die Unschärfe des Konzepts: „Die sog. Nervosität und alles, was man heute z. B. unter dem Namen Neurasthenie zusammenwirft, ist ausschliess­lich Grosshirnstörung und mit Geisteskrankheiten viel näher verwandt als mit den Krankheiten aller Nervenzentren, die nicht Grosshirn sind.“1165 Es erstaunt nicht, dass er die 1 159 Vgl. Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 49 – 57. 1160 Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 49. 1161 Forel, Über die Stellung der Sozialisten (1908), S. 1275. 1162 Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 7 f. 1163 Vgl. u. a. Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 7; ders., Nervenhygiene und Glück, Separatabdruck aus der Internationalen Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten 2 (1892); ders., Die sexuelle Frage (1905), S. 317 – 320. 1164 Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 423. Die Neurasthenie zeichnete sich nach Beard durch eine Schwäche des Nervensystems aus (vgl. Roelcke, Krankheit und Kulturkritik, S. 112 – 121). ­Radkau weist darauf hin, dass die Neurasthenie nicht nur negativ bewertet, sondern teilweise auch als kulturelle Errungenschaft gedeutet wurde (Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 284 f.). 1165 Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 150 f. (Hervorhebung im Original).

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hereditäre Disposition bei der Ätiologie dieser Krankheiten hervorhob und Beards „neue Entdeckung“ als „Neubenennung altbekannter Krankheitsbilder“ wie etwa der Hypochondrien darstellte.1166 Die hereditäre „reizbare Schwäche“ des Gehirns benannte Forel mit der eigenen Wortschöpfung „Cerebrosität“.1167 Die Gehirnorganisation des Menschen könne mit den Anforderungen der Kultur nicht Schritt halten und erkranke: „Kein Wunder, wenn durch zwei so gewaltige Faktoren (Entartung des Gehirns und zunehmende Anforderungen an dasselbe) ein häufiges Versagen der Hirnkräfte bewirkt wird!“1168 Diesem Umstand konnte, so Forel, jedoch durch eine einfachere Lebensweise in länd­ licher Umgebung begegnet werden, wie in seinem Therapieplan für psychisch Kranke und in seinem reformpädagogischen Konzept vorgesehen.1169

9.2 Das Verbrechergehirn: Kriminalanthropologie und forensische Psychiatrie In einem Text von 1877 verg­lich Forel das kranke Gehirn eines an Tollwut verstorbenen Patienten mit dem „normalen Menschenhirn“ eines Verbrechers.1170 Ein paar Jahre später, als er 1884 vor dem Zürcher Hilfsverein für Geisteskranke referierte, hatte er das Vokabular grundsätz­lich geändert, und nun stand die „angeboren verfehlte, abnorme Hirnorganisation“ von „missrathenen Söhnen und Töchtern, Vagabunden, Gewohnheitsverbrechern“ im Zentrum.1171 Der anatomische Vergleich von 1877 war unter veränderten wissenschaft­lichen Argumentationsbedingungen nicht mehr denkbar. Die kriminologische Diskussion hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren Fokus von den Handlungsweisen und Biografien der Kriminellen auf deren körper­liche und psychische Verfasstheit verlagert, wodurch wichtige und allgemeingültige Merkmale 1 166 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 179. 1167 Forel, Alkohol und Geistesstörung (1891), S. 15. 1168 Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 336. 1169 Vgl. Kap. 2. Die Lage der Trinkerheilstätte Ellikon in länd­licher Umgebung war wegen ihrer Stadtferne und wegen der positiven Wirkung der landwirtschaft­lichen Tätigkeit gewählt. Vgl. Forel, Die Errichtung von Trinker-Asylen (1892), S. 33; ders., Hygiene der Nerven (1922), S. 335 – 338. Eine gewisse Ambivalenz wird jedoch sichtbar, wenn er argumentiert, dass er nicht „sämt­liche Psychopathen zu einer Art Gorillaleben zurückführen“ wolle – man müsse jeden Fall genau anschauen (ebd., S. 340). 1170 Forel, damals Assistent bei Gudden in München, erhielt das Gehirn eines „ganz gesunden hingerichteten Verbrechers“ zur Sektion. Vgl. Forel, Ueber die Hirnveränderung bei Lyssa (1877). 1171 Forel, Warum, wann und wie (1885), S. 3. Vgl. zu diesem Vortrag ders., Rückblick auf mein Leben (1935), S. 123.

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der kriminellen Persön­lichkeit erkennbar werden sollten.1172 Der italienische Mediziner Cesare Lombroso, der als Begründer der Kriminalanthropologie gilt, vertrat eine besonders radikale Ansicht.1173 Nach seiner Theorie war der „homo delinquens“ wegen angeborener Defizite eine spezielle kriminelle Varietät der mensch­lichen Art. Diese Defizite interpretierte Lombroso als Atavismen. Die Rückfälle in frühere Entwicklungsstufen versuchten er und seine Schüler am Körper festzumachen; Merkmale an Haut, Schädel und anderen Körperteilen verrieten ihnen die atavistische Natur resp. die angeborene Kriminalität des Delinquenten. In seinen Aussagen über die Gehirne von Verbrechern war Lombroso in seinem bekannten Buch L’uomo delin­ quente allerdings zurückhaltend. Gestützt auf Befunde anderer Forscher, beurteilte er unterschied­liche Gehirngewichte als wenig entscheidend und spezifische Anomalien bei den Hirnwindungen als unsicher.1174 Dagegen seien Klein- und Mittelhirn bei Verbrechern schwerer, und pathologische Bildungen würden bei „fast jeder gericht­lichen Autopsie“ gefunden.1175 Wegen der biologischen Determiniertheit aller Charakterzüge bestritt er auch die Existenz der Willensfreiheit.1176 Nicht alle Kriminologen vertraten L ­ ombrosos radikale Theorie, doch sie stimmten überein, dass der „Verbrecher aufgrund seiner physischen, psychischen und sozialen Determiniertheit den Anforderungen der Gesellschaft nicht gerecht werden“ könne.1177 Lombrosos Theorie hinterliess bei Forel einen ambivalenten Eindruck.1178 So anerkannte er zwar 1890, dass Lombroso das Interesse des Rechts von der Tat auf den Täter, vom Verbrechen auf den Verbrecher 1172 Becker, Die Rezeption der Physiologie in Kriminalistik und Kriminologie, S. 453; ders., Verderbnis und Entartung; Hagner, Der Hauslehrer, S. 187 – 199; Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat; Wetzell, Inventing the Criminal. 1173 Vgl. zu Lombroso Becker, Verderbnis und Entartung, S. 291 – 316; ders., Physiognomie des Bösen. 1174 Lombroso, Der Verbrecher (1887), S. 184 und 191. Seine Argumentation scheint diesbezüg­ lich jedoch inkonsistent gewesen zu sein, da Bau und Grösse des Gehirns für ihn doch anato­ mische Merkmale waren, um den Verbrechertypus zu definieren (vgl. Becker, Verderbnis und Entartung, S. 293). 1175 Lombroso, Der Verbrecher (1887), S. 184 und 192. 1176 Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 89. 1177 Becker, Die Rezeption der Physiologie, S. 454. Zur Rezeption Lombrosos im französischen und deutschen Sprachraum Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 80 – 82; Wetzell, Inventing the Criminal, S. 40 – 71. 1178 Neben dessen Werk war Forel mit Lombroso auch persön­lich bekannt. Er besuchte Forel im Sommer 1892 in Zürich, und sie trafen sich im August 1896 am internationalen Kongress für Anthropologie in Genf (Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 160 und S. 188). Daneben standen sie auch in brief­lichem Kontakt (vgl. die Briefe Lombrosos an Forel im Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich). Forel habe sich, so Germann, mit anderen Schweizer Psychiatern nach dem Tod Lombrosos für die Errichtung eines Denkmals zu Ehren des Begründers der Kriminalanthropologie eingesetzt (Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 123).

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gelenkt habe.1179 Doch im Gegensatz zu Lombrosos atavistischem Verbrechertypus hob er das generell „pathologische, abnorme Element“ hervor und betonte, dass der „geborene Verbrecher“ Lombrosos „nichts anderes als der ethisch Schwachsinnige in seinen verschiedenen Varianten“ sei.1180 Im Konzept des „ethisch Schwachsinnigen“ zeigte sich, wie der psychiatrische Diskurs von der Degenerationstheorie beeinflusst wurde. Deutungsmuster von psychischen Störungen, welche die Affekte und den Willen betrafen, hatten Eingang in die forensisch-psychiatrische Praxis gefunden.1181 Neue Krankheitsbilder wie moralischer Schwachsinn und Psychopathie waren für die Forderung nach der Medikalisierung von Delinquenz zentral.1182 Auch Forel nahm diese Krankheitsbilder auf. An der Herbstsitzung der Gesellschaft der Ärzte des Kantons Zürich 1889 räsonnierte er über die Frage, was man mit den Menschen tun solle, „von welchen man nicht recht weiss, sind sie geisteskrank, geistesschwach, geistig abnorm oder boshaft, einfältig oder gar Verbrecher?“.1183 Diese „Charakterabnormitäten“ seien „Abnormitäten der ererbten Gehirnanlagen“, und in der Folge definierte er verschiedene Eigenschaften als „ethische Defecte“. Dazu zählte er unter anderen das „böse Weib“, den impulsiven, willensschwachen Mann, den Homosexuellen und das „leichtsinnig coquette, gefallsüchtige“ Mädchen.1184 Auf die erb­lichen Anlagen legte Forel besonderen Wert; daneben betonte er die Einwirkungen auf das Gehirn während des Lebens, zum Beispiel durch „Gehirnintoxicationen“. Auch in der Zeit­ schrift für Schweizer Strafrecht machte er sich für die medikalisierte Deutung von Delinquenz stark und betonte, dass „verbrecherische Irre […] eine eigene Kategorie 1179 Forel, Uebergangsformen zwischen Geistesstörungen und geistiger Gesundheit (1890), S. 242. Forel stimmte in der Dominanz der Erb­lichkeit mit Lombroso überein (vgl. Forel, Quelques suggestions, 1892, S. 355 f.). 1180 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 174 (Hervorhebung im Original). Vgl. Forel, Verbrechen und konstitutionelle Seelenabnormitäten (1907), S. 11. Auch Eugen Bleuler identifizierte den „geborenen Verbrecher“ als „moralischen Idioten“ (Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 123). 1181 Vgl. Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 73 – 88 und S. 120 – 124. Vor allem Krafft-Ebing hatte im deutschsprachigen Raum zur Verbreitung des Degenerationskonzepts in der foren­ sischen Psychiatrie beigetragen. Sein 1872 erschienenes Werk Grundzüge der Criminalpsychologie diente lange als gerichtspsychiatrisches Referenzwerk (Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 75). Vgl. zu diesen neuen Krankheitsbildern auch Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 219. 1182 Der Psychiater Julius August Koch hatte mit seinem Leitfaden der Psychiatrie 1888 das Konzept der Psychopathie in die Psychiatrie eingeführt. Vgl. Germann, „Psychopathen“ und „Hysterikerinnen“, S. 121 f.; ders., Psychiatrie und Strafjustiz, S. 82 – 87. Forel nahm den Begriff der Psychopathie zur Beschreibung von diversen „Abnormitäten des Charakters“ auf, bezog sich jedoch nicht explizit auf Koch (vgl. Forel, Uebergangsformen zwischen Geistesstörung und geistiger Gesundheit, 1890). 1183 Forel, Uebergangsformen zwischen Geistesstörungen und geistiger Gesundheit (1890), S. 234. 1184 Ebd., S. 236 – 238.

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von Menschen“ seien, und zwar „konstitutionell geistig gestörte oder abnorme Men­ schen mit verbrecherischen Neigungen und Trieben“.1185 1896 räumte er ein, dass auch äussere Begleitumstände Faktoren für Delinquenz seien, diese jedoch nicht in seine Fachkompetenz als Psychiater fielen.1186 Wie Germann festhält, kam neben der Formulierung neuer Krankheitsbilder vor allem der Kriminalanthropologie in juristischer Hinsicht grosses Gewicht zu, da diese konsequent die Grenze zwischen Verbrechen und Geisteskrankheit aufhob und dadurch das gängige Schuldstrafrecht mit der Vorstellung eines freien Willens infrage stellte.1187 Dass auch die Strafbehörden für das Potenzial psychiatrischer Begutachtung sensibilisiert waren, hat Germann in seiner umfassenden Untersuchung zur forensisch-psychiatrischen Praxis in Bern für den Zeitraum von 1880 bis 1920 nachgewiesen.1188 Auch im Zürcher Burghölzli nahmen die psychiatrischen Begutachtungen in dieser Phase stark zu. In den 1880er-Jahren wurden etwa zehn strafrecht­liche Gutachten pro Jahr erstellt, gegen Ende von Forels Amtszeit waren es bereits um die 40.1189 Das forensisch-psychiatrische Praxisfeld geriet nach 1890 in den Sog der Auseinandersetzungen um die Vereinheit­lichung und Reform des Strafrechts.1190 Die interna­ tionalen Debatten um die Reform des Strafrechts, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts intensiv geführt wurden, färbten direkt auf die Entwicklung in der Schweiz ab. Die Schweiz „wurde in den 1890er-Jahren sogar zum international beachteten Experimentierfeld einer neuen Kriminalpolitik, die sich eine teilweise Medikalisierung des Strafrechts auf das Banner geschrieben hatte“.1191 Die in den 1890er-Jahren anlaufende eidgenössische Strafrechtsreform stiess bei den Schweizer Psychiatern auf grosses Interesse, und sie versuchten mit ihren Aktivitäten im Verein schweizerischer Irrenärzte 1 185 Forel, Zwei kriminalpsychologische Fälle (1889), S. 3 (Hervorhebung im Original). 1186 Forel, Vorwort (1896), S. IV. Es gab auch deutschsprachige Gefängnisärzte und Psychia­ter wie Abraham Baer und Paul Näcke, die um die Jahrhundertwende zum Schluss kamen, dass die sozialen Umstände entscheidend seien (Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 81; Wetzell, Inventing the Criminal, S. 50 f.). 1187 Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 78. 1188 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts und verstärkt seit den 1880er-Jahren intensivierte sich europaweit die Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden und Ärzten. Neue Perspektiven für diese Zusammenarbeit habe vor allem die entstehende institutionelle Psychiatrie geboten (Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 16). 1189 Vgl. zur Begutachtungspraxis in Zürich Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 133 – 136. Mit der publizierten Gutachtensammlung von 1896 wollten Forel und Kölle die „neue Richtung“ in der Beurteilung der „Criminal-Psychologie und Psychopathologie“ dem Publikum näherbringen (Forel, Vorwort, 1896, S. III). 1190 Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 15, zur internationalen Strafrechtsreform S. 88 – 100. 1191 Ebd., S. 101. Ausführ­lich zur Reform des Schweizer Strafrechts und der Involvierung der Psychiatrie S. 101 – 163.

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Einfluss zu nehmen.1192 Auch Forel, damaliger Präsident des Vereins, schaltete sich in die Diskussionen um das Strafrecht und dessen Reform ein.1193 Er war Mitglied der Schweizer Gruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung und publizierte auf Anregung seines Universitätskollegen Karl von Lilienthal in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft des bekannten deutschen Strafrechtlers Franz von Liszt seine erste grundlegende Arbeit zum Hypnotismus.1194 Auch in der interdisziplinär ausgerichteten Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht brachte Forel seine forensisch-­ psychiatrischen Anliegen ein und beteiligte sich an Kontroversen.1195 Seine Hauptforderungen basierten auf seiner Rückweisung des freien Willens: „Der Wille des Menschen ist nur für unser Bewusstsein (subjektiv) frei, in Wahrheit aber ursäch­lich bedingt, wie alle übrigen Hirnfunktionen.“1196 Nur vier Jahre nachdem Kraepelin die Änderung des Strafrechts zu einem „Schutzmittel“ für die Gesellschaft gefordert hatte, plädierte Forel 1884 ebenso für die Abkehr vom Schuldrecht hin zu einem Schutzrecht.1197 Die Strafgesetzgebung beruhe auf falschen Voraussetzungen: „Statt der Begriffe Strafmass und Sühne, sollen die Begriffe Unschäd­lichmachung und moralische Erziehung oder Uebung, 1192 Vgl. zum Engagement der Schweizer Psychiater im Kontext der Arbeiten zu einem Vorentwurf eines Schweizerischen Strafgesetzbuches Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 117 – 162. 1193 Vgl. zu Forels kriminalpolitischem Engagement Bomio, Auguste Forel et le droit pénal; Preiswerk, Auguste Forel (1848 – 1931), S. 38 – 42. 1194 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 139. Lilienthal war von 1882 bis 1889 Professor für Strafrecht in Zürich. Ein Artikel von Rieger (Einige irrenärzt­liche Bemerkungen über die strafrecht­liche Bedeutung des sogenannten Hypnotismus) in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft veranlasste Forel zu seinem Hypnotismusartikel. Rieger vertrat die Ansicht Charcots, dass der Hypnotismus ein krankhafter Zustand sei und nur hysterische Menschen hypnotisierbar seien (vgl. Forel, Der Hypnotismus 1888, S. 3). Forel nahm weiter an den Kongressen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung teil (Petersburg 1902, Budapest 1905). Vgl. zur IKV Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 96 – 98. 1195 Forel äusserte sich mehrmals in der Zeitschrift für Schweizer Strafrecht, die unter der Leitung von Carl Stooss seit 1888 erschien. Vgl. zu Forels Disput mit dem Luzerner Richter Meyer von Schauensee, Anhänger des klassischen Schuldstrafrechts, über Fachkompetenzen von Psychiatern und Juristen Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 127 – 129; Forel, Das Recht im Irrenwesen (1891). Die Herausbildung kommunikativer Netzwerke im Umkreis der Schwei­ zerischen Zeitschrift für Strafrecht trug, so Germann, zentral dazu bei, dass in der Schweiz seit den 1890er-Jahren psychiatrische Deutungsmuster kriminellen Verhaltens und medizinische Behandlungs- und Versorgungskonzepte auch ausserhalb der Psychiatergemeinde anschlussfähig wurden (Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 131). 1196 Forel, Warum, wann und wie (1885), S. 8. 1197 Vgl. zu Kraepelin Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 88 und S. 93. Es handelt sich um Kraepelins Text Die Abschaffung des Strafmasses, Ein Vorschlag zur Reform der heutigen Straf­ rechtspflege (Stuttgart 1880). Bereits in den 1870er-Jahren hatten sich Psychiater wie KrafftEbing und Julius August Koch für die Einführung einer verminderten Zurechnungsfähigkeit eingesetzt (Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 88).

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resp. Angewöhnung eintreten.“1198 Die Strafe müsse zur „Korrektion des Thäters und zum Schutz der Gesellschaft, nicht mehr als Sühne der That“ eingerichtet werden.1199 Analog zu den Forderungen anderer Psychiater plädierte Forel für die Einführung der Kategorie verminderte Zurechnungsfähigkeit und für ein Strafen- und Massnahmensystem, das den Geisteszustand des Delinquenten berücksichtigte. Ebenso forderte er die Einrichtung von Verwahrungs- und Beschäftigungsanstalten für gemeingefähr­liche Personen.1200 1889 argumentierte er vor der Gesellschaft der Ärzte des Kantons Zürich, den Begriff verminderte Zurechnungsfähigkeit ins Gesetz aufzunehmen und verschiedene Massnahmen je nach „Verbrechernatur“ – von der Unschäd­lichmachung durch Verwahrung bis zum vorübergehenden Aufenthalt in der psychiatrischen Anstalt – vorzusehen. Weiter sollten heilbare Trinker in eine Trinkerheilanstalt eingewiesen und Verbrecher an der Fortpflanzung gehindert werden.1201 Die Psychiater waren sich bewusst, dass sie die Strafrechtler mit ihren Forderungen nicht aufscheuchen durften. So bemerkte Forel 1887 in einem Brief an Carl Stooss, dass seine Bemerkung über die „Beseitigung der abscheu­lichsten Exemplare mensch­ licher Gehirne“ viele Juristen von einer Zusammenarbeit abschrecken würde.1202 Dementsprechend setzte sich Forels kriminalpolitischer Radikalismus mit dem Ziel eines umfassenden Schutzrechts nicht durch. Doch die Psychiater erreichten, einige ihrer zentralen Forderungen im Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch von 1893 unterzubringen. Die Verankerung der verminderten Zurechnungsfähigkeit, mit der die „Übergangszustände“ zwischen gesund und krank gefasst werden sollten, war nicht umstritten, da diese Abstufung bereits in vielen kantonalen Strafgesetzbüchern vorgesehen war.1203 Neu war die rein medizinische Definition der Zurechnungsfähigkeit, die Stooss auf Vorschlag der Psychiater in den Vorentwurf von 1893 aufnahm.1204 Gemäss Germann konnten die Psychiater im Bereich der sichernden Massnahmen wie etwa der Verwahrung Innovationen einbringen. Ihr Vorschlag, die vermindert zurechnungsfähigen Straftäterinnen und Straftäter ebenfalls unter Massnahmenrecht zu stellen, nahm Stooss praktisch unverändert in seinen Vorentwurf auf.1205 1 198 Forel, Warum, wann und wie (1885), S. 8 f. 1199 Forel, Zwei kriminalpsychologische Fälle (1889), S. 3. 1200 Forel, Warum, wann und wie (1885), S. 9. 1201 Forel, Uebergangsformen zwischen Geistesstörungen und geistiger Gesundheit (1890), S. 240 f. Vgl. dazu auch den viel beachteten Vortrag Forels Über die Zurechnungsfähigkeit des normalen Menschen, München 1918 (orig. 1901); ders., Zur Beurtheilung der moralischen Idiotie (1897). 1202 Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 137. 1203 Ebd., S. 141. 1204 Allerdings wurde diese Definition 1912 in einen Kompromiss zwischen medizinischer und psychologischer Bewertung umformuliert (vgl. Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 148 f.). 1205 Die Expertenkommission diskutierte diesen Vorschlag später kontrovers, da konservative Strafrechtler eine Unterwanderung des Schuldprinzips befürchteten. Die Expertenkommission,

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Forel zeigte sich denn auch sehr zufrieden über den Entwurf von Stooss, der „einen wesent­lichen inneren Fortschritt in der psychologischen Behandlung zweifelhafter Geisteszustände und überhaupt in der wissenschaft­lichen Auffassung des Wesens des Verbrechers“ sei.1206

9.3 Das Geschlecht im Gehirn Heute erfreut sich das Thema Gehirn und Geschlecht grosser Beliebtheit, ob als populäre Bestseller wie Louann Brizendines The female brain respektive The male brain oder auch in neurowissenschaft­lichen Untersuchungen.1207 Spezifische Themen wie Sprachverarbeitung (mit weib­lichem Vorteil), Raumorientierung (mit männ­lichem Vorteil) und Ausgestaltung von Hirnstrukturen wie etwa des Corpus callosum werden in der neurologischen Geschlechterdifferenzforschung diskutiert, wie die Biologin und Geschlechterforscherin Sigrid Schmitz schreibt.1208 Auch die Neurowissenschaftlerin Cordelia Fine analysiert aktuelle Erkenntnisse aus der Hirnforschung, welche die Unterschiede der Geschlechter neurologisch untermauern sollten.1209 Schmitz und Fine sind sich einig: Die neurologischen Studien, die sich auf „dünne Faktenlage“ stützen, würden überinterpretiert oder basierten auf ungenauer Versuchsanordnung.1210 Doch Autorinnen und Autoren wie die von Fine kritisierte Brizendine knüpfen an Argumente an, die weit zurückgehen. Schädelform und -volumen, Grösse und Gewicht des Gehirns waren lange Zeit robuste Kategorien,

die 1912 nochmals darüber beriet, hielt jedoch am Primat Massnahme vor Strafe fest (vgl. Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 152 – 155). 1206 Forel, Besprechung des Vorentwurfs (1893). 1207 Brizendine, The female brain; dies., The male brain. Vgl. Hinweise auf wissenschaft­liche Studien bei Lautenbacher, Güntürkün und Hausmann (Hg.), Gehirn und Geschlecht, S. 121 – 123. 1208 Schmitz, Über den Geschlechterdeterminismus in der Hirnforschung, http://www.bdwi.de/ forum/archiv/archiv/97754.html (eingesehen 12. August 2014). Vgl. Hausmann, Kognitive Geschlechtsunterschiede; ders. und Güntürkün, Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht. 1209 Fine, Delusions of Gender; vgl. auch Jordan-Young, Brain Storm; Karafyllis und Ulshöfer, Sexualized brains. 1210 Weber, Mann und Frau ticken gar nicht so verschieden; Schmitz, Über den Geschlechterdeterminismus. Schmitz kommt zum Schluss, dass innerhalb der Neurowissenschaften die Geschlechterzuschreibungen aufgrund der Plastizitätsforschung und der vielen Befundwidersprüche inzwischen verworfen würden. Das Fazit bei Hausmann bezüg­lich der kognitiven Geschlechtsunterschiede sieht allerdings anders aus (Hausmann, Kognitive Geschlechtsunterschiede, S. 121). Auch für Güntürkün und Hausmann zeigen sich die geschlecht­lichen Unterschiede vom Neocortex bis zum Rückenmark auf allen Ebenen (Güntürkün und Hausmann, Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht, S. 100).

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um die Geschlechterdifferenz zu untermauern. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts waren sich die Hirnforscher einig, dass weib­liche Gehirne ein geringeres Gewicht hätten und anders organisiert ­seien.1211 Paul Broca, der bekannte französische Anthro­ pologe und Arzt, postulierte in den 1860er-Jahren einen qualitativen Unterschied des Denkens, der in Beziehung zur Gehirn- und Schädelgrösse und dem Gehirngewicht stand. Allerdings wies er darauf hin, dass das „als niedriger anzusehende Gewicht des weib­lichen Gehirns unbedingt in Relation zur Körpergrösse von Frauen gebracht werden müsse“.1212 Wie sah denn nun Forels Inventar der geschlecht­lich markierten Gehirne aus? Der erste Befund nach der Lektüre seiner hirnanatomischen Untersuchungen ist über­ raschend: Das Thema Geschlecht ist nicht präsent. Sowohl in seiner Dissertation, wo er das Pulvinar, als Thalamuskern ein Teil des Zwischengehirns, untersuchte, als auch in seiner Habilitationsschrift, in der er die Haubenregion und deren Faserverläufe beim Menschen und bei einigen Säugetieren erforschte, ist Geschlecht kein Thema. Die Untersuchungsgrösse neben den Säugetieren ist „der Mensch“.1213 An der Sitzung des Vereins Schweizer Irrenärzte in Préfargier im Jahr 1884 berichtete er über die Sektion der Gehirne von zwei Patienten und einer Patientin, die alle an Lähmungserscheinungen gelitten hatten. Auch hier wies er dem Geschlecht keine Relevanz hinsicht­lich der Befunde zu.1214 Dagegen sprechen die Texte, die sich an eine breitere Öffent­lichkeit wandten, eine andere Sprache. In der Monografie Hygiene der Nerven und des Geistes aus dem Jahr 1903 stellte Forel nach eigenen Wägungen von Gehirnen „ziem­lich normaler Menschen“ fest: „Man sieht, dass das weib­liche Gehirn absolut um mehr als 100 Gramm kleiner ist als das männ­liche und sogar auch im Verhältnis zu den andern Zentren eher kleiner als grösser ist. Nach den grösseren, von Mercier angeführten Statistiken beträgt das normale Mittelgewicht des Gehirnes des Mannes 1353 Gramm, dasjenige 1211 Hagner, Homo cerebralis, S. 263 f. Dagegen war im späten 17. und im 18. Jahrhundert die geschlechtsspezifische Untersuchung des Gehirns noch kein Thema (ebd., S. 40). Anfang des 19. Jahrhunderts vertrat Franz Joseph Gall die Ansicht, dass das Kleinhirn bei Frauen w ­ eniger ausgeprägt, dagegen der corticale Hinterlappen im Verhältnis zum Gesamtcortex stärker entwickelt sei. Dies machte im Kontext geschlechtsspezifisch ausgeprägter Funktionen für ihn Sinn, da er im Kleinhirn den Geschlechtstrieb und im corticalen Hinterlappen das Organ für Gemütseigenschaften lokalisierte (ebd., S. 104 f.). Carl Gustav Carus formulierte 1843 das Konzept eines dreigeteilten Gehirns, das je nach Geschlecht und „Rasse“ unterschied­lich ausgebildet war (ebd., S. 218 f.). 1212 Stahnisch, Über die neuronale Natur des Weib­lichen, S. 221 f. Zu Broca auch Gould, The Mismeasure of Man, S. 103 – 107. 1213 Forel, Beiträge zur Kenntniss des Thalamus opticus (1872); ders., Untersuchungen über die Haubenregion (1877). 1214 Vgl. Forel, Trois cerveaux de paralytiques (1884).

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des Gehirnes des Weibes 1200 und ist der Unterschied somit im Durchschnitt noch grösser.“1215 Auch in der sexualwissenschaft­lichen Studie Die sexuelle Frage von 1905 betonte er diesen Unterschied und differenzierte weiter innerhalb des Gehirns. Der Stirnlappen als „Hauptsitz der intellektuellen Tätigkeit“ mache beim Mann 42% des Grosshirns, „beim Weibe dagegen kaum 41.3% desselben“ aus: „Der Unterschied ist zwar nicht gross, aber in Anbetracht der grossen Zahl der Hirnwägungen wohl feststehend.“1216 Die unterschied­liche Ausprägung der verschiedenen Hirnteile schien ihn in jenen Jahren beschäftigt zu haben, denn nur zwei Jahre später hielt er bei der Aufzählung der verschiedenen neurobiologischen Forschungsgebiete bei der Nennung der Morpho­ logie fest, dass „[d]as Relativgewicht der einzelnen Hirnteile beim Weib und beim Mann, beim Kind und beim Erwachsenen, beim Gescheiten und beim Dummen […] ferner eine Rolle [spielt], der man bis jetzt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat“.1217 Als er einige Jahre später die Einführung des Frauenstimmrechts forderte, relativierte er die Bedeutung des kleineren Gehirns der Frau wieder. Diese sei auch kleiner und schwächer, und „der nur relative Unterschied ist zu gering, um etwas zu beweisen“.1218 Dass Männer- und Frauengehirne jedoch anders funktionierten, stand für Forel fest. In Die sexuelle Frage untersuchte er geschlechtsspezifische psychologische Eigenschaften und berichtete später, dass er anhand dieser Studie zum Schluss gekommen sei, dass „der Intellekt und vor allem der Erfindungsgeist der Frau durchschnitt­lich schwächer, ihr Wille dagegen, das heisst ihre Ausdauer, stärker ist als derjenige des Mannes. Das Weib glänzt ferner durch Intuitionsfähigkeit, durch Takt und durch höheres ethisches Sehnen.“1219 Damit bewegte er sich innerhalb des Interpretationsrahmens der weib­lichen Geschlechtscharaktere des 19. Jahrhunderts.1220 In seiner sexologischen Beschreibung zeigt sich jedoch ein neues, beunruhigendes Element, wo die Frau nicht mehr als ethisch-moralisch überlegenes Wesen erscheint, sondern durch und durch über ihre Sexualität bestimmt war. Im Gegensatz zum Mann, dessen Sexualtrieb in „untergeordneten Hirnzentren“ wohne, sei derjenige der Frau im Grosshirn verankert.1221 Die Sexualität spiele eine „ungeheure Rolle“ im

1215 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 56 f. Vgl. die Dissertation seines ehemaligen Assistenz­ arztes Aimé Mercier (La Diminution de poids du Cerveau dans la Paralysie Générale, Basel/ Leipzig 1895). 1216 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 56 f. Forel bezieht sich auf Material von Meynert, weiter auch auf „Hirnsektionen der Anstalt Burghölzli“ von Sekundararzt Mercier und ihm. 1217 Forel, Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 5. 1218 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 135. 1219 Ebd., S. 135. 1220 Vgl. Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. 1221 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 263.

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weib­lichen Gehirn und beherrsche dieses viel mehr als das männ­liche.1222 Mit dieser Ansicht befand sich Forel in guter Gesellschaft. Die Sexualwissenschaftler waren sich einig, dass das weib­liche Gehirn unter dem Diktat des Sexual­triebes stand. So folgerte Krafft-Ebing, dass sich „in dem Bewusstsein des Weibes das sexuelle Gebiet mehr geltend [macht] als in dem des Mannes“, obwohl die Frau ein geringeres „sinn­ liches Verlangen“ als der Mann besitze.1223 Auch Iwan Bloch, der ein Jahr nach Forel seine grosse sexualwissenschaft­liche Monografie Das Sexualleben unserer Zeit in sei­ nen Beziehungen zur modernen Kultur veröffent­lichte, hielt fest, dass das „Durchtränktsein mit Geschlecht­lichkeit“ das Wesensmerkmal der weib­lichen Psyche sei.1224 Forel unterschied allerdings zwischen „sexueller Liebe“ und „Libido sexualis“, wobei der im Grosshirn verarbeitete Sexualtrieb die „Liebe im eigent­lichen engeren Sinn des Wortes“ bezeichne.1225 Beim „normalen Durchschnittsweib“ sei die Libido sexualis dieser höheren psychischen Liebe untergeordnet.1226 Diese strahle ins Grosshirn und habe in Verbindung mit der sexuell passiven Rolle der Frau zur Folge, dass der Widerstand des Willens und der Vernunft gebrochen werde. Der Mann dagegen habe sich meist unter Kontrolle: „Wenn auch der Mann in seiner Verliebtheit gewalttätiger und stürmischer ist, so verliert er trotzdem durchschnitt­lich viel weniger die Besinnung als das Weib.“1227 Der Intellekt der Frau werde denn auch stärker als der des Mannes durch Gefühle beherrscht.1228 Die Männer konnten folg­lich im Gegensatz zu den Frauen ihre Libido sexualis „dank ihrer überlegenen Geisteskräfte im Banne der Sitt­lichkeit und im Rahmen der Ehe halten“.1229 Die Intelligenz der Frauen dagegen war ganz ihren Gefühlen und ihrem Sexualtrieb ausgeliefert, die sie nicht in Schach halten konnte. Die Sexualisierung des weib­lichen Grosshirns prägte sich aus, wenn das Gehirn krank war. So ist in Hygiene der Nerven und des Geistes auffällig, dass Geschlecht

1222 Ebd., S. 88. 1223 Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1903), S. 13. 1224 Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit (1906), S. 92, zitiert in: Eder, Kultur der Begierde, S. 149. Eder hält fest, dass auch Freuds Hysterie-Konzept sich auf die Sexualität als zentrales Merkmal des weib­lichen Wesens konzentrierte (ebd., S. 149 f.). 1225 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 94 (Hervorhebung im Original). 1226 Ebd., S. 118. Bei der Frau nennt er als weitere „Ausstrahlung“ die Mutterliebe (ebd., S. 126); eine Hauptschwäche der Frau dagegen sei der Mangel an intellektueller Vertiefung; porno­grafische Sinnesart dagegen sei „normaler weib­licher Natur durch und durch zuwider“ (ebd., S. 130). 1227 Ebd., S. 120. Als weitere „psychische Ausstrahlungen“ nennt er die Eifersucht, die sich beim Mann „oft in krankhafter Weise bis zur vollendeten Verrücktheit“ steigere (ebd., S. 107), Heuchelei, Zeugungstrieb und Schamgefühl (ebd., S. 120). 1228 Ebd., S. 127 f. 1229 Sarasin, Die Erfindung der „Sexualität“, S. 40. Vgl. auch ders., Reizbare Maschinen, S. 417 f.

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erst zur Sprache kommt, wenn es um die „sexuellen Abnormitäten“ geht.1230 Bei den pathologischen Formen weib­licher Sexualität wird die schwache Libido sexualis von einem gesteigerten Sexualtrieb abgelöst und die psychische Liebe der „normalen“ Frau diesem untergeordnet. Die „hochgradige Libido sexualis“, die „überhaupt nicht zur sexuellen Normalität des Weibes“ gehört, wird zur pathologischen Form.1231 Bei der Nymphomanie, dem Höhepunkt der sexuellen Überempfind­lichkeit, gehe dann „in echt weib­licher Art […] das ganze Hirn mit dem Trieb zusammen“.1232 Auch in der Beurteilung der Prostituierten war Forel sicher, dass die meisten von ihnen „pathologische Geschöpfe“ seien, mit angeboren schlechten Eigenschaften, die sie zur Prosti­ tution führten.1233 Der Gang durch die Abteilungen des Burghölzli erbrachte ihm den Beweis, wie stark der weib­liche Sexualtrieb das Grosshirn bestimmte. In der Frauenabteilung seien viele Insassinnen „hochgradig sexuell erregt“, die Insassen der Männer­abteilungen dagegen zeichneten sich durch „blöde Gleichgültigkeit“ und „tiefe sexuelle Indifferenz“ aus. Geistesstörung, die auf der Reizung des Grosshirns beruhe, würde bei Frauen häufig „eine derart gewaltige Erregung sexueller Vorstellungen hervorrufen, was bei Männern umgekehrt so viel weniger der Fall ist“.1234 1230 Bei den andern Geistes- und Nervenkrankheiten ist die geschlecht­liche Differenzierung in Forels Systematik kein Thema. Im ersten Teil zu „Seele, Gehirn und Nerven im Normal­zustand“ geht es um den „vernünftigen“ und „verständigen Menschen“ (Forel, Hygiene der Nerven, 1922, S. 42 und 44). Im dritten Teil zur Hygiene findet sich allerdings ein Zusatz die Frauen betreffend, das Menstruation, Schwangerschaft, Wochenbett und Klimakterium behandelt (ebd., S. 329). 1231 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 229. Dagegen sei die „sexuelle Anästhesie oder Fehlen des Triebes“ beim Mann „sehr selten“, bei der Frau aber „ausserordent­lich häufig“ (ebd., S. 228 f.). Bei den Frauen sei das Fehlen des Triebes „kaum als wesent­lich abnorm zu taxieren“ (Forel, Hygiene der Nerven, 1922, S. 184). 1232 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 231. 1233 Ebd., S. 88 und S. 299. Als Zeiger, wie sich das noch während des 19. Jahrhunderts dominierende Bild der harmlosen Frau unter dem Eindruck von Emanzipa­tionsforderungen und zunehmender Prostitution in den durch die Industrialisierung geprägten Grossstädten veränderte, kann auch Lombrosos Werk La donna delinquente, la prostituta e la donna normale (erschienen 1893 in Turin) gelten. Lombroso verfolgte darin ein umfassenderes Projekt zur Abgrenzung der übersexualisierten Prostituierten von der „donna normale“. Vgl. Gibson, The „Female Offender“; dies., On the Insensitivity of Women. 1234 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 262 f. Joel Braslow, der die psychiatrische Behandlung in US-amerikanischen Kliniken untersuchte, schreibt, dass die „schlechte“ Sprache geradezu epidemisch aus den Mündern der Patientinnen zu kommen schien. Die Ärzte beschrieben deren Sprache oft als „vile“, „obscene“ oder „perverse“. Er weist darauf hin, dass die Betonung dieses Verhaltens in den Krankengeschichten der Patientinnen damit zusammenhing, dass die Frauen durch ihre lasterhafte Sprache „a whole host of culturally acceptable roles and behaviors for women“ verletzt hätten (Braslow, Mental Ills and Bodily Cures, S. 158).

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Zur Einordnung und daraus folgenden Hierarchisierung griff Forel den Begriff der Plastizität auf, der in den heutigen Neurowissenschaften ein zentrales Konzept ist, um die Regenerations- und Lernfähigkeit des Gehirns zu beschreiben.1235 Allerdings ist Forels Gebrauch des Begriffs unscharf. So benutzte er ihn in erster Linie als evolutionären Terminus, um auf phylogenetischer Skala im Gegensatz zur „activité automatique“ die cerebrale Höherentwicklung zu betonen.1236 In Die sexuelle Frage hielt er fest, dass das weib­liche Gehirn weniger plastisch als dasjenige der Männer sei.1237 Die Nervenfasern der Frauen verliefen lieber in gewohnten Bahnen. Die Frauen­gehirne schienen dadurch im Vergleich mit den Männergehirnen weniger weit entwickelt zu sein. Die Mög­lichkeit des weib­lichen Gehirns, auf neue Gegebenheiten lernfähig zu reagieren respektive sich anzupassen, die in Forels Argumentation ebenfalls angetönt wird, lässt das heute aktuelle neurobiologische Konzept der Plastizität erkennen, das Santiago Ramòn y Cajal bereits während der 1890er-Jahre in seinen Arbeiten über die Regenerationsfähigkeit des Nervensystems behandelt hatte.1238 Wie bereits beschrieben, wählte Forel jedoch als epistemologischen Rahmen zur Beschreibung von Regeneration und Lernfähigkeit Semons Konzept der Mneme.

9.4 Das Gehirn als Rassenmerkmal Die Kulturalisierung des Gehirns prägte sich auch innerhalb des Organs unter­ schied­lich aus. So schrieben Hirnforscher die höheren geistigen Fähigkeiten dem entwicklungs­geschicht­lich jüngsten Teil, dem Cortex, zu. Wie Hagner festhält, „zog sich die Denkfigur eines hierarchischen Verhältnisses von höheren und niederen Hirnregionen mit polarisierenden Begriffspaaren wie bewusst-unbewusst, zweckmässig-automatisch, gesund-krank, Vernunft-Unvernunft oder Zivilisation-Wildheit durch das gesamte Jahrhundert“.1239 Auch in Forels Schriften findet sich diese Polari­ sierung wieder. Phylogenetisch ältere Teile des Gehirns waren von Automatismen 1235 Vgl. Ansermet und Magistretti, Die Individualität des Gehirns; Droz Mendelzweig, La plasticité cérébrale; Rees, Plastic Reason. 1236 Forel, Activité cérébrale et conscience (1895), S. 474. Im Bereich der vergleichenden Psychologie befasste sich Forel ausgiebig mit Automatismen respektive plastischen Fähigkeiten. Vgl. zum Beispiel ders., Die Psychologie der Tiere (1910), S. 2; ders., Über unser mensch­liches Erkenntnisvermögen (1915), S. 8. 1237 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 298. 1238 Droz Mendelzweig macht darauf aufmerksam, dass Cajal den Begriff der Plastizität nur beiläufig verwendete, dafür vor allem von der Regenerationsfähigkeit der Nerven im Zusammenhang mit ihrer vorgängigen Verletzung sprach (Droz Mendelzweig, La plasticité cérébrale, S. 348 und S. 354). 1239 Hagner, Gehirnführung, S. 187.

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und „niedrigeren tierischen Trieben und Instinkten“ dominiert, währenddem das Grosshirn des Menschen – vor allem des weissen Mannes – diese Automatismen beherrschte und sich wie gesagt durch Plastizität auszeichnete.1240 Die Grösse der zivilisierten respektive wilden Hirnregionen korrespondierte mit der unterschied­ lichen Gehirnentwicklung verschiedener „Rassen“. Schon 1899 beschäftigte Forel nach ausgedehnter „Feldforschung“ in Kolumbien, Jamaika und Nordamerika die attestierte Kulturunfähigkeit der Schwarzen.1241 Er und seine Fachkollegen konnten auf nahe Traditionslinien zurückgreifen, um den Rassismus wissenschaft­lich zu legitimieren. So wucherten zwischen 1860 und 1940 die somatischen Klassifizierungen intensiv, um die verschiedenen „Rassen“ voneinander abzugrenzen.1242 Neben Hautfarbe, Haarwuchs und dem Knochenbau im Allgemeinen stand der Kopf speziell im Fokus.1243 Es überrascht nicht, dass Forel und andere die Schädeldecke öffneten, um den Rassenunterschied auch mittels Hirnanlage zu begründen. In Forels Reden taucht das Gehirn als zentrales Thema auf, wenn es um die „Kolonialfrage“ geht.1244 Die Kulturmenschheit erschien zweigestaltig von „aussen“ bedroht. Einerseits mussten die kultivierten europäischen Gehirne sich vor „Vermischung“ mit den „geistig minderwertigen“ Gehirnen der Schwarzen fürchten.1245 Andererseits befanden sie sich in einem kolonialen Wettstreit. Die Niederlage, die Russland im Krieg gegen Japan 1904/05 erlitten hatte, stand für Forel im Zeichen der alkoholverursachten Degeneration. Das „nüchterne Japan“ habe dem „trinkenden Russland“ eine Lektion erteilt, der „Bestand der Rasse“ sei alles andere als gesichert.1246 Die Durchsetzung gehirnhygienischer Postulate war für die Zukunft der Kulturmenschheit elementar, wie Forel im Vorwort der sechsten Auflage von Hygiene der Nerven und des Geistes im Jahr 1919 klarstellte. Nur so „werden wir imstande sein, unsere europäischen Rassen zu regenerieren und den Chinesen und Japanern die Stange zu halten“.1247 Neben der geschlecht­lichen Zäsur wurde die Ordnung der Gehirne folg­lich durch den starken Antagonismus der „rassischen“ Differenz befestigt. Diese biolo­ gisierte – wie die Geschlechterdifferenz – die Trennungen und garantierte „die 1 240 Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 134. 1241 Forel, Ueber Ethik (1899), S. 580. 1896 unternahm Forel eine mehrmonatige Reise nach Kolumbien, die ihn auf seiner Schiffsreise durch die Karibik führte (vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 184 f.). Im Jahr 1899 reiste er für drei Monate nach Kanada und in die USA (ebd., S. 206; ders., In Nordamerika, 1900). 1242 Guillaumin, RASSE, S. 164. 1243 Vgl. Gould, The Mismeasure of Man, S. 73 – 112; Mosse, Die Geschichte des Rassismus, S. 47 f. 1244 Vgl. Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 80 – 91. 1245 Forel, Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 6. 1246 Forel, Alkohol und Geschlechtsleben (1905), S. 13 und S. 15. 1247 Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 8. Im Vorwort der ersten Auflage von 1903 findet sich der koloniale Bezug noch nicht.

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Unüberschreitbarkeit der Grenze“.1248 In Forels hirnanatomischen Arbeiten, die hauptsäch­lich in die 1870er- und 1880er-Jahre fallen, war die „rassische“ Differenz der Gehirne keine Referenzgrösse.1249 Erst Ende der 1890er-Jahre thematisierte er „Rasse“ respektive den angenommenen Unterschied verschiedener „Rassen“ im Kontext seines zunehmenden Interesses für gesellschaft­liche Reformen der „Kulturmenschheit“.1250 Dies zeigt sich in seiner Bibliografie um die Jahrhundertwende vermehrt in Titeln, die sich der „Kultur“ widmen oder auf das „Rassenproblem“ verweisen.1251 Dem Vergleich der Gehirne von „Urvölkern“ mit jenen von Europäern und Menschenaffen schrieb er eine grosse Bedeutung zu, um die Verbindung zwischen den Menschen und „unseren nächsten lebenden Tierverwandten, den anthropoiden Affen“, zu erforschen.1252 Vielleicht gaben diese Urvölker ja Aufschluss über den missing link, der die Herkunft des Menschen lückenlos nachzeichnen liesse? Forel beschäftigte sich jedoch in seiner praktischen Arbeit hauptsäch­lich auf einer synchronen Skalierung mit den „andersrassischen“ Gehirnen. Das Inventar, das er zur „rassischen“ Bestimmung der Gehirne aufbot, entsprach weitgehend demjenigen, das die geschlecht­liche Signatur im vorhergehenden Kapitel bestimmt hatte. So griff er auf hirnanatomische Befunde anderer Forscher zurück.1253 Im Sammelband Der Weg zur Kultur, welcher zu „den brennendsten Fragen unserer heute so arg gefährdeten 1 248 Titzmann, Aspekte der Fremdheitserfahrung, S. 108. 1249 Dies kann einen ganz praktischen Grund gehabt haben. So standen ihm bei seiner Arbeit in Wien, München und Zürich wohl keine Gehirne „andersrassischer“ Menschen zur Verfügung. 1250 Zum Beispiel Forel, Ueber Ethik (1899). 1251 So u. a. The alcohol question as a cultural and race problem (1901, in deutscher Übersetzung 1902), Der soziale Fortschritt unserer Rasse und der Guttemplerorden (nicht datiert, etwa 1902), Gelbe und weisse Rasse (1908), Rassenentartung und Rassenhebung (1909). Nicht viele Publikationen führen den Begriff „Rasse“ im Titel. Thema ist „Rasse“ vor allem in Texten, die sich mit kulturellen Fragen, Sexualwissenschaft und Eugenik befassen. 1252 Forel, Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 10. Allerdings beklagte er einen Mangel an Gehirnen von „Urvölkern“. Wegen des „religiösen Aberglaubens“ sei es schwierig, ihre Gehirne für eine Sektion zu erhalten (ebd.). 1253 Meist fehlen in seinen Texten Angaben zur Herkunft der Daten. Seine Gewährsmänner in anthropologischen Fragen waren der finnische Soziologe und Anthropologe Edvard ­Westermarck, der Mediziner und Völkerkundler Otto Stoll und der Anthropologe Rudolf Martin. In Die Vereinigten Staaten der Erde (S. 117) verweist Forel auf Martins Lehrbuch der Anthropologie ( Jena 1914). Martin (1864 – 1925) war Inhaber des ersten Lehrstuhls für Anthropologie an der Universität Zürich und leitete das 1899 gegründete anthropologische Institut bis 1911. Mit seinem mehrfach aufgelegten Lehrbuch prägte er den Forschungsstil ganzer Anthropologen-Generationen. Ausführ­lich bespricht er im Lehrbuch im umfangreichen Teil zur Kranio­logie „Rassenunterschiede“ der Messungen und schliesst von der Schädelkapazität auch auf Gehirngrösse respektive auf Intelligenz (Martin, Lehrbuch der Anthropologie in systematischer Darstellung, 1914, S. 647).

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Kultur“1254 Stellung nehmen sollte, schrieb er, dass bei den „höchsten Rassen“ das Gehirn der Männer „über 1450 gr“ wiege, dagegen bei den Weddas „nur 1277 gr“. Das Gewicht der „Negergehirne“ liege dazwischen.1255 Dies war eine Aussage mit Tradition. Schon Samuel Thomas Soemmerring hatte gegen Ende des 18. Jahrhunderts, basierend auf Ergebnissen eigener Sektionen, vermeldet, dass Schwarze allgemein kleinere Gehirne hätten.1256 Im 19. Jahrhundert war dies ein gängiger Topos, da sich die Hirnforscher über die „rassischen“ Unterschiede des Gehirns einig waren.1257 Auch einige der bekanntesten deutschen Hygieniker sprachen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Rassenunterschieden, die an „angeb­lichen Differenzen des Gehirns und des Schädels“ festgemacht wurden.1258 Die Anatomie erklärte für Forel auch „rassische“ Charaktereigenschaften. Die Schwarzen waren nach seiner Ansicht impulsiv und willenlos, deswegen schrankenlos allen Lastern ergeben.1259 Vor allem ihre „heftige, ungezügelte sexuelle Leidenschaft“ und die „kaninchenmässige“ Vermehrung beschäftigten ihn.1260 Die angeb­lich exzessive Sexualität der Schwarzen war ein Bild, das sich über Jahrhunderte festgeschrieben hatte.1261 Nun wurde dieser rassistische Befund an der Gehirnentwicklung festgemacht. Die Europäer dagegen waren dank ihres weiter entwickelten Gehirns intelligenter, vernünftiger und hatten ihre Triebe (normalerweise) unter Kontrolle.1262 1 254 Forel, Vorwort (1924), S. 7. 1255 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 81. 1256 Hagner, Homo cerebralis, S. 65. Die Schrift Ueber die körper­liche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer, erschienen 1784, ist gemäss Hagner Soemmerrings „wohl wichtigster Beitrag zu einer anatomischen Begründung von Rassenunterschieden“ (ebd.). Es gab jedoch auch andere Stimmen. So vertrat der Göttinger Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach zu Soemmerrings Zeit die Ansicht, dass die „verschiedenen Rassen als gleichwertige Varietäten“ zu betrachten seien und es keine intellektuellen und moralischen Wesensunterschiede gebe (ebd., S. 67 f.). Gall, der Begründer der Phrenologie, war anders als viele seiner Zeit­genossen nicht der Ansicht, dass der negroide Schädel besonders eng sei und deswegen weniger Gehirnkapazität als der weisse Europäer habe (Mosse, Die Geschichte des Rassismus, S. 52). 1257 Hagner, Homo cerebralis, S. 263. 1258 Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 205. 1259 Forel, Zur Rassenfrage (1910), S. 1. 1260 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 193; ders., Zur Rassenfrage (1910), S. 1. 1261 Schon im klassischen Altertum wurde die angeb­liche Sinn­lichkeit und Schamlosigkeit der Schwarzen betont (Poliakov, Der arische Mythos, S. 158 f., der sich auf die Studie von Winthrop D. Jordan, White over Black, American Attitudes Toward the Negro, 1550 – 1812, University of North Carolina Press 1968 bezieht). Vgl. zur diskursiven Verknüpfung von Rassismus und Sexualität Mosse, Die Geschichte des Rassismus, S. 11; Somerville, Scientific Racism and the Invention of the Homosexual Body. 1262 Die Kopplung von Intelligenz und Hirngrösse war im 18. Jahrhundert gängig (Hagner, Homo cerebralis, S. 100). Auch im 19. Jahrhundert war die Mehrheit der Forscher dieser Ansicht

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Die Folgerungen aus diesen Befunden überraschen nicht. Mit der anatomischen Ordnung ging eine hierarchisierende Wertung einher. Die Schwarzen waren nach Forels Ansicht „geistig minderwertig“, ein Status, den sie „trotz aller Bildungsbemühungen“ nicht ablegen konnten: „der Neger [bleibt] stets ein inferiorer Mensch“.1263 Dagegen sei der Europäer „gewöhn­lich mehrwertig, […] auf Grund seines durch evolu­tive Vervollkommnung grösser gewordenen Gehirnes“.1264 Diese Kluft war unüberbrückbar, da konnte auch der verfluchte Alkohol nicht genug Schaden anrichten. Sogar ein „trinkender tüchtiger Europäer“ konnte in den Augen Forels immer noch mehr leisten „als ein nüchterner Neger“.1265 Untypisch für Forels Rhetorik erscheint seine Bemerkung aus dem Jahr 1914, als er im Zusammenhang mit der „Kolonialfrage“ zugab, dass die Frage nach der „Rasse“ die heikelste sei: „Es ist näm­lich gar nicht leicht, mit Sicherheit diejenigen, die einfach noch barbarisch oder wild, im übrigen aber mit Hilfe einer methodischen Erziehung kulturfähig sind, von denjenigen zu unterscheiden, die durch Vererbung an und für sich minderwertig und daher nur zu einer mehr oder weniger rudimentären Kultur zu bringen sind.“1266 Doch er hielt sich nicht lange mit dieser Frage auf. Als erfahrener Wissenschaftler konnte er auch Einteilungen der heiklen Art vornehmen. So war er in diesem Fall überzeugt, dass das Hirngewicht – und damit die geistige Minder- und Mehrwertigkeit respektive Gehirnentwicklung – ein „ziem­lich sicheres Kriterium der Kulturfähigkeit einer mensch­lichen Rasse“ sei.1267 Die Kultur war direkt an die Ausbildung eines grösseren Gehirns gekoppelt: „Die Kultur entstand bei Menschen, die offenbar hauptsäch­lich durch Zuchtwahl ein grösseres Gehirn bekommen hatten.“1268 Auch die unkontrollierte Triebhaftigkeit und die dominanten Instinkte wiesen auf (vgl. zum Beispiel zu Paul Broca Gould, The Mismeasure of Man, S. 83). Doch wie im 18. Jahrhundert Blumenbach gab es auch im 19. Jahrhundert Wissenschaftler, die sich gegen diese Ansicht aussprachen. So zum Beispiel Friedrich Tiedemann, der in den 1830er-Jahren aufgrund seiner Messungen überzeugt war, dass Weisse „keinen cerebralen Vorteil gegenüber anderen Rassen“ hätten (Hagner, Homo cerebralis, S. 200; vgl. zu ­Tiedemann auch Gould, The Mismeasure of Man, S. 84). In Frankreich widersprach Louis Pierre Gratiolet der Ansicht Brocas, dass ein grösseres Hirn mit höherer Intelligenz gleichzusetzen sei (Gould, The Mismeasure of Man, S. 83 und S. 89). 1263 Forel, Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 6 und 8. 1264 Forel, Schreitet die Kultur vorwärts? (orig. 1915), S. 12 (Hervorhebung im Original). 1265 Forel, Alkohol und Geschlechtsleben (1905), S. 12. 1266 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 81. 1267 Ebd., S. 81. Vgl. zu verschiedenen „Rassen“ und deren Kulturgrad ders., Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 6 f. Mit dem Parameter des Hirngewichts befand sich Forel 1914 nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Hirnforschung, die sich inzwischen am Windungsreichtum als Merkmal der Höherentwicklung orientiert hatte (vgl. Hagner, Geniale Gehirne, S. 230 – 234). 1268 Forel, Rassenentartung und Rassenhebung (1909), S. 92.

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die entwicklungsgeschicht­liche Zurückgebliebenheit der Schwarzen hin, da diese Eigenschaften an phylogenetisch ältere Teile des Gehirns gebunden waren. Dagegen war die Intelligenz der Weissen im höher entwickelten Grosshirn angelegt. Ebenso häufig wie die Schwarzen tauchten die „gelbe Rasse“ und ihre cerebrale Konstitution in Forels Texten auf. Im Unterschied zu den Schwarzen konnten deren Kultur und Gehirn „mit den unsrigen recht wohl konkurrieren“.1269 Vor allem die Japaner hätten ein kluges und grosses Gehirn.1270 An „Charakterenergie, Arbeit, Ausdauer, respektive Intelligenz und Genügsamkeit“ sei die „gelbe Rasse“ den Europäern entschieden überlegen, konstatierte er.1271 Weiter attestierte er ihnen grosse Fruchtbarkeit und „grössere Zeugungskraft“ – ein Umstand, den er dem eugenischen Deutungshorizont entsprechend für das degenerierende Europa mit dessen differentieller Geburtenrate als grosse Bedrohung sah.1272 Unter dem Eindruck der russischen Niederlage von 1905 steigerte sich Forels Bedrohungsrhetorik beträcht­lich: „Werden wir uns überhaupt in der Zukunft gegen die gelbe Rasse wehren können? Diese Frage muss sich jeder denkende arische Mensch heute mit Bangigkeit stellen.“1273 In Die sexuelle Frage zeigte er sich überzeugt, dass die Gefahr nicht von der kriegerischen Auseinandersetzung, sondern von der Rassenmischung und der differentiellen Geburtenrate ausging: „Wir haben jedenfalls ihr Blut viel mehr noch als ihre Waffen für uns zu befürchten.“1274 Die hirnanatomische Differenz der „andersrassischen“ Gehirne war unumstritten. Doch erst im Rahmen von Forels kulturpolitischen Schriften nach der Jahrhundertwende und zunehmend in den 1910er-Jahren wurden die fremden Gehirne und ihre Verfasstheit zum brennenden Thema. Besonders im Text Die Vereinigten Staaten der Erde aus dem Jahr 1914 zeigen sich die thematischen Verflechtungen. So ging es um die „Kolonialfrage“, die sich für Forel durch die imperialistische Besetzung afrika­nischer Länder, aufgrund seiner Eindrücke nach Reisen in die USA und durch koloniale 1 269 Forel, Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 7. 1270 Forel, Rassenentartung und Rassenhebung (1909), S. 92. 1271 Forel, Alkohol und Geschlechtsleben (1905), S. 15. 1272 Forel, Ueber Ethik (1899), S. 579 f. Forel empfahl als Lektüre das „vorzüg­liche“ Buch Das kommende China des amerikanischen Soziologen Edward Alsworth Ross (August Forel, Sexuelle Grundlagen der Ehe, Ms., undat., S. 16, MHIZ PN 31.1:186). Ross vertrat die race-­ suicide-Doktrin und sprach sich gegen die Immigration von chinesischen Arbeitern aus (Coser, Edward Alsworth Ross). 1273 Forel, Alkohol und Geschlechtsleben (1905), S. 15. 1274 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 520. Diese Befürchtung formulierte er im Kontext der Frage, wie die „Kulturmenschheit“ mit der Gefahr umgehen müsse, „durch inferiore Menschenrassen infolge deren grosser Fruchtbarkeit überwuchert zu werden“ (ebd., S. 519). In seiner Argumentation zeigt sich geradezu exemplarisch eine zentrale Verschiebung des Rassismus des 19. Jahrhunderts: „Es geht nicht mehr um die Schlacht im kriegerischen Sinn, sondern um den Kampf im biologischen Sinn.“ Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 100.

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Streitereien zwischen den europäischen Mächten immer dring­licher stellte. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges formulierte er die Idee eines Friedensbundes aller „Kulturnationen“, um ihre gegenseitigen Hegemonieansprüche zu beenden.1275 Die Grenze schien durch das Gefahrenpotenzial des Blutes doch nicht so naturgegeben unüberschreitbar, wie Forels diskursive Anstrengungen inklusive Handlungsanleitungen zur Grenzsicherung zeigen. Seine Thematisierung der „Kolonialfrage“ war eng mit der „Rassenfrage“ verbunden. Ohne koloniale Kontrolle – er schrieb von „humaner Vormundschaft“ – könnten die barbarischen Sitten der kulturunfähigen „Rassen“ nicht abgewehrt werden und Menschenfresserei würde sich ausbreiten.1276 Daneben musste das kultivierte europäische Gehirn rein gehalten und nicht durch „Rassenmischung“ beeinträchtigt werden.1277 Die Einwanderung solcher „Rassen, deren Minderwertigkeit wissenschaft­lich feststeht“, dürfe deshalb verhindert werden.1278 Die biopolitische Argumentationslogik bestimmte Forels weitergehenden Forderungen. Zusätz­lich sei die Frage der Sterilisierung der schlechten „Rassen“ sehr wichtig.1279 Es stelle sich die „ausserordent­lich schwierige und heikle Frage“, „wie die Kulturmenschheit der Gefahr zu begegnen habe, durch inferiore Menschenrassen infolge derer grosser Fruchtbarkeit überwuchert zu werden“.1280 Deshalb müssten die Grenzen der Kulturmenschheit klar definiert werden, und nur innerhalb dieser Grenzen erstreckten sich die moralischen Pf­lichten der Gesellschaft. Die Wahloptionen für die zivilisierte Menschheit waren für Forel klar: Entweder „diese niederen Rassen oder unsere eigene Rasse samt ihrer Kultur dem Untergang preisgeben“.1281 Forels Fazit, das er zur Kulturunfähigkeit der ungleichen „rassischen“ Gehirne zog, fiel in der Autobiografie aus dem Jahr 1935 unverhohlen rassistisch aus: „Welche Rassen sind für die Weiterentwicklung der Menschheit brauchbar, welche nicht? Und wenn die niedrigsten Rassen unbrauchbar sind, wie soll man sie allmäh­lich 1275 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 76 und 120. 1276 Forel, Der Supranationale Friede (1916), S. 22. Edward Said hält fest, dass zur Zeit des Hochimperialismus Einstimmigkeit herrschte, dass mindere „Rassen“ beherrscht werden sollten (Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 203; Said, Kultur und Imperialismus, S. 94). Forel konnten die blutigen Auseinandersetzungen in den Kolonien nicht entgangen sein. Sein Freund Otto Stoll, der einen seiner Texte zum Thema der Kolonien gelesen hatte, wies ihn darauf hin, dass die Indianer nicht etwa freiwillig in ihre „Reservationen“ gegangen seien und die Ureinwohner von Tasmanien von weissen Farmern „wie die wilden Tiere gejagt und erschossen“ worden waren (Brief von Stoll an Forel vom 21. Dezember 1917, in: Walser, August Forel, S. 450 – 453). 1277 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 127. 1278 Forel, Der Supranationale Friede (1916), S. 27. 1279 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 127. 1280 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 519. 1281 Ebd., S. 352.

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ausmerzen?“1282 Die Kulturmenschheit musste geschützt und ihr Fortleben gesichert werden. Hier zeigt sich der Rassismus nach der Foucault’schen Formel: Der Tod der „bösen Rasse, der niederen […] Rasse wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; gesünder und reiner“.1283 Von diesem zukünftigen Leben waren die „niedrigsten Rassen“ – wissenschaft­lich sanktioniert – ausgeschlossen. Forels Aussagen fügen sich hier „nahtlos ein in die dunkelsten Diskurse des exterminatorischen Rassismus“.1284

9.5 Abnormale Gehirne Solch krude Schlussfolgerung wie bei den „andersrassischen“ Gehirnen zog Forel bei den geschlecht­lich unterschiedenen Gehirnen nicht. Trotz der Ungleichheit, die sich vor allem in der Sexualisierung des weib­lichen Gehirns zeigte, konnte auf die (bürger­ lichen weissen) Frauen nicht verzichtet werden. Neben den geschlecht­lich und „rassisch“ bestimmten Gehirnen ist in Forels Texten noch eine heterogene Gruppe von Gehirnen anzutreffen, welche von der Norm abweichen. Sie sind krank, abnormal, irgendwie „minderwertig“. Das europäische Gehirn stand im Fokus der „Entartung“ wegen angeborener Geisteskrankheit oder „entartenden Sitten“. Welche gehörten nun zu den „abnormen“ Gehirnen? Und welches Fazit zog Forel in diesem Fall? Anders als die geschlecht­lich und „rassisch“ unterschiedenen waren die „kranken“ Gehirne ein grosses Thema in der hirnanatomischen Arbeit Forels. Die pathologische Anatomie bestimmte allgemein die psychiatrische Forschung bis in die 1890er-Jahre hinein.1285 Dieser Umstand zeigte sich auch in Forels Arbeit. In der Festschrift für den Botaniker Karl Wilhelm von Nägeli und den Anatomen und Physiologen Albert von Kölliker von 1891 betonte Forel, dass das Studium der Abnormitäten von Gehirn und Rückenmark sowie „pathologischer Fälle überhaupt“ eine der Hauptmethoden der Untersuchung des zentralen Nervensystems sei.1286 Auch Jahre später plädierte er dafür, dass die Nervenpathologie, die „krankhaften Veränderungen des Nervensystems“, ein wichtiges Gebiet für die gesamte Neurobiologie sei. Die Nervenpathologie werfe grösstes Licht auf die Neurobiologie: „Viele normale Funktionen werden durch ihre Störungen am besten verstanden; ich erwähne nur die Lähmungen, die Aphasie und die Hallucinationen als Beispiele.“1287 In mehreren hirnanatomischen Arbeiten setzte er sich mit diesen krankhaften Veränderungen auseinander. So berichtete 1 282 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 158. 1283 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 302. 1284 Bugmann und Sarasin, Forel mit Foucault, S. 66. 1285 Vgl. Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 88 – 120. 1286 Forel, Ueber das Verhältnis der experimentellen Atrophie (orig. 1891), S. 207. 1287 Forel, Die Aufgaben der Neurobiologie (1907), S. 11.

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er an der Salzburger Naturforscher-Versammlung 1881, wie er das „sehr kleine und windungsarme“ Gehirn eines „Idioten“ aus der psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau untersucht hatte,1288 und an der Sitzung des Vereins der Schweizer Irrenärzte berichtete er 1884 über die Atrophie, die er bei der Sektion der Gehirne zweier gelähmter Patienten und einer dementen älteren Patientin festgestellt hatte.1289 Auch in den späteren Texten, die sich mit Gehirnhygiene und Gesellschaftsreform befassten, nahm die psychiatrische Klientel grossen Raum ein. Im zweiten Teil von Hygiene der Nerven und des Geistes entwarf Forel eine Systematik der „Geistes- und Nervenkrankheiten oder Abnormitäten“. Von den Entwicklungskrankheiten wie „Idiotismus“ oder „Schwachsinn“ unterschied er als zweite Gruppe erb­liche Krankheiten, die ein breites (und schwammiges) Spektrum wie „sexuelle Abnormitäten“, Hysterie, „pathologische Schwindlerei“ und „moralischer Schwachsinn“ umfassten. Auf „abnormer Gehirnorganisation“ basierte, so Forel, auch die Gemeingefähr­lichkeit von Gewohnheitsverbrechern, „moralischen Idioten“ und „anderen constitutionellen Psychopathen“.1290 Als dritte Gruppe definierte er erworbene Krankheiten, die sich in der Regel auf „einer erb­lichen Grundlage“ entwickeln würden.1291 Darunter verstand er Epilepsie, Paranoia, „Querulantentum“, akute „Verblödungsprozesse“, funktionelle Neurosen, aber auch durch Alkohol erworbene Geistesstörung.1292 Neben dem gängigen Idiotismus und Schwachsinn wurde diverses Verhalten als auf „abnormer Gehirn­ organisation“ basierend als Krankheit definiert. Wie bereits früher im Kontext von Krimi­nalanthropologie und forensischer Psychiatrie beschrieben, hatten in den letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts neue Krankheitsbilder Eingang in die psychiatrische Praxis gefunden, die verschiedene „Charakterabnormitäten“ definierten. Das Gehirn zeigte sich in diesem Kontext als Ort, wo sozial abweichendes Verhalten eingeschrieben wurde. 1288 Forel, Einige hirnanatomische Untersuchungen (1881), S. 466. Ebenfalls untersuchte er die Veränderungen im Gehirn eines an Tollwut erkrankten Mannes (Forel, Ueber die Hirnveränderungen bei Lyssa, 1877). 1289 Forel, Trois cerveaux de paralytiques (1884). 1887 kommentierte er die unter seiner Leitung entstandene Dissertation von Wladislaus Onufrowicz, Das balkenlose Mikrocephalengehirn Hofmann, Ein Beitrag zur pathologischen und normalen Anatomie des mensch­lichen Grosshirnes (Berlin 1887). Vgl. Forel, Balkendefekte (1907), S. 225 – 234 (orig. 1887 als „Kritische Erklärung“ der Arbeit Onufrowicz’ beigefügt). 1290 Forel, Zur Beurtheilung der moralischen Idiotie (1897), S. 2. Charakterabnormitäten seien „sammt und sonders nichts anderes als Abnormitäten der ererbten Gehirnanlagen“ (Forel, Uebergangsformen zwischen Geistesstörungen und geistiger Gesundheit, 1890, S. 236). 1291 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 152. 1292 Weiter zählte er auch Infektionen des Nervensystems (z. B. Syphilis), Stoffwechselkrankheiten und Erschöpfungszustände zur Gruppe der erworbenen Krankheiten. Als vierte Gruppe unterschied er die Geistes- und Nervenstörungen durch Rückbildung, wozu der „Altersblödsinn“ zählte (Forel, Hygiene der Nerven, 1903, S. 166).

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Dominant für die Zäsierung der „minderwertigen“ Gehirne war die biologische Grundlage der „Gehirnverfehlungen“, die sich durch ihre Erb­lichkeit auszeichneten. So betonte Forel wiederholt die „krankhaften Vorgänge“ im Gehirn als Ursache von Geisteskrankheit und die „angeboren verfehlte, abnorme Hirnorganisation“ der Patien­ tinnen und Patienten psychiatrischer Kliniken.1293 Daneben war die ungenügende Stärke der Gehirne ein grosses Thema, wie bereits im Abschnitt zu Degeneration und Zivilisationskritik dargelegt wurde. Reiz respektive Überreizung standen im Zentrum der Sorge um das „gegenwärtige Menschengehirn“.1294 In sozialdarwinistischer Lesart waren für Forel die „abnormen und schwachen“ Gehirne dem „geistigen Kampf ums Dasein von heute nicht gewachsen“.1295 „Abnorme oder kranke Reize“ würden beim Geisteskranken den „Damm“ bersten lassen, der durch den Willen des „normalen“ Menschen befestigt werden konnte. Gemütswallungen, Leidenschaften und Schwächen wurden dadurch entfesselt.1296 Ein weiteres Merkmal der cerebralen Verfasstheit der Anormalen waren nach Forels Argumentation die ungenügend ausgebildeten plastischen Fähigkeiten. Bei den als „minderwertig“ Beschriebenen standen die triebhaften Automatismen im Vordergrund. So beschrieb er starke Triebe, geringe Intelligenz, schwachen Willen und Mangel an ethischen Gefühlen als Faktoren, welche die Zurechnungsfähigkeit einschränkten.1297 Dominierende Automatismen wurden innerhalb der eigenen Gesellschaft zur Chiffre für eine „niedrigere Gehirnentwicklung“, wenn er vergleichend mit den seelischen Eigenschaften der Tiere beispielsweise sagte, dass die Automatismen bei Geisteskranken vorherrschend werden könnten.1298 Die Triebhaftigkeit zeigte sich auch im sexuellen Bereich. So taxierte er die Anormalen als „krankhaft leidenschaft­ lich“ und impulsiv, als „ungemein erotisch“ und haltlos.1299 Die Diskursstrategie der Biologisierung war jedoch nur scheinbar überlegen, wie die exzessive Anstrengung Forels verrät, die Anormalen auszugrenzen.1300 Die Zuschreibungen jagten sich geradezu. So beschrieb er sie als rachitisch, tuberkulös, siech, dumm, moralisch defekt, willensschwach, impulsiv, boshaft, streitsüchtig, haltlos, krankhaft leidenschaft­lich, verlogen, faul, eitel.1301 Ihr Identitätskern war nicht 1293 Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 2; ders., Warum, wann und wie (1885), S. 3. 1294 Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 7. 1295 Forel, Zur Behandlung der Psychopathen (1894). 1296 Forel, Warum, wann und wie (1885), S. 4 (Hervorhebung im Original). 1297 Forel, Über die Zurechnungsfähigkeit des normalen Menschen (1918), S. 14. 1298 Forel, Gehirn und Seele (1894), S. 28. 1299 Forel, Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 9; ders., Ethische und recht­liche Konflikte im Sexualleben (1909), S. 36; ders., Sexuelle Ethik (1906), S. 18. 1300 Vgl. Bugmann und Sarasin, Forel mit Foucault, S. 61. 1301 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 523; ders., Sexuelle Ethik (1906), S. 18.

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präzise zu fassen und widerstand einer Fixierung. Dieses diffuse und beunruhigende Element zeigte sich auch, als Forel darauf hinwies, dass es „keine absolute Grenze zwischen Geistesstörung, Verbrechen und Geistesnormalität“ gäbe.1302 Die Kategorie der verminderten Zurechnungsfähigkeit, für deren Einführung er im Rahmen der Strafrechtsreform plädierte, konnte hier als stützender Faktor dienen. Daneben wirkte auch das Krankheitsbild des Psychopathen stabilisierend, zu dessen diskursiver Matrix, wie Germann sagt, dieses Übergangsgebiet zwischen Krankheit und Gesundheit gehörte.1303 Das Fazit, welches Forel zu den abnormen Gehirnen zog, war meist eindeutig. Zweifelsfälle ergaben sich nur selten. Der Irrenarzt müsse „unter 100 verfehlten, an Grössenwahn und Geistesschwäche leidenden Gehirnen die wenigen herausfinden, welche ‚doch nicht an und für sich verfehlt sind‘, sondern umgekehrt einen Schatz hoher Begabungen enthalten, welche nur durch gewisse Störungen in ihrer Entwicklung gehemmt und gelähmt werden“.1304 Bei diesen „missgeleiteten Gehirnen“ konnte das „Neurocym des Gehirnes“ wieder „ins Geleise kommen“.1305 Auch die Genialität, die zwischen Normalität und Pathologie oszillierte, musste sich entfalten können, da ihr sonst pathologische Abwege drohten.1306 Doch bei den meisten abnormen Gehirnen kam das Neurokym nicht „ins Geleise“. Wegen der Weitergabe der erb­lichen Defekte bedrohten diese die „überwertigen“ Gehirne. Bei Forel zeigt sich besonders pointiert die Veränderung, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Selbstverständnis der Schweizer Anstaltspsychiater vollzog. Nicht mehr Mitleid mit den Geisteskranken, sondern der Dienst des Psychiaters am Gesellschaftskörper und für die öffent­liche Sicherheit trat in den Vordergrund.1307 Die Rede Forels über Geisteskranke verschärfte sich merk­lich. Im 1302 Forel, Schreitet die Kultur vorwärts? (orig. 1915), S. 13; ders., Zwei kriminalpsychologische Fälle (1889), S. 6. 1303 Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 85 f. Weitere Elemente der diskursiven Matrix des Krankheitsbildes Psychopathie seien der Primat der Vererbung, der Fokus auf Störungen der Affekte und des Willens und die zentrale Funktion des Konzeptes der Pathologisierung sozialer Devianz. 1304 Forel, Bemerkungen zu der Behandlung der Nervenkranken (1902), S. 2 (Hervorhebung im Original). 1305 Ebd., S. 5. 1306 Vgl. Forel, Ein wichtiges Verhältniss des Genies (1902); ders., Ueber Talent und Genie (1902). Vgl. zu den Diskussionen über die Natur des Genies um die Jahrhundertwende Hagner, Geniale Gehirne. 1307 Germann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 136. Man könne, so Germann, doch von einer merk­ lichen diskursiven Verschiebung sprechen. Allerdings müsse man sich vor falscher Diskontinui­ tät hüten, auch frühere Anstaltspsychiater wollten „gefähr­liche Geisteskranke“ aus Gründen „öffent­licher Sicherheit“ verwahren.

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Vortrag an der ersten Generalversammlung des Zürcher Hilfsvereins für Geisteskranke von 1880 hob er die Fortschritte der Wissenschaft und „Civilisation“ gegenüber dem grausamen Mittelalter in der Behandlung der Geisteskranken hervor und betonte, dass die „armen Kranken […] immer mehr unsere Freunde werden“ sollten.1308 Doch eugenische Forderungen lagen in der Luft. Die Erb­lichkeit vieler Geistesstörungen würde bei Eheschliessungen leichtsinnig übergangen; weiter beklagte er die „erb­lich belastete Nachkommenschaft“ und hob hervor, dass die „humane und sorgfältige Pflege“, die den Kranken zuteil würde, „mittelst Vererbung zur Vermehrung des Irreseins“ beitrage.1309 Wie bereits erwähnt, war seine Sprache nur vier Jahre später vor dem gleichen Publikum viel kälter geworden. Alkoholiker nannte er „Pestmenschen“, Schwerstbehinderte wurden zu „abscheu­lichsten Exemplaren mensch­licher Gehirne“, deren „Beseitigung“ eventuell das „Beste und Humanste“ wäre.1310 Konjunktiv und „even­ tuell“ fielen nach der Jahrhundertwende ganz weg. Die Anormalen durften sich nicht vermehren und wurden gleichzeitig diskursiv als „Untermenschen“, „Schmarotzer“ und „Schädlinge“ entmensch­licht, welche die Gesellschaft „verpesteten“.1311 „Defekte Untermenschen“ mussten beseitigt werden.1312 Dass Eugen Bleuler Forel in einer Werbeanzeige für Die sexuelle Frage als „warmen Menschenfreund“ bezeichnete, ist aus heutiger Perspektive nicht nachvollziehbar.1313

9.6 Automatismen, Triebe, Leidenschaft Die Inventarisierung der Reden über vergeschlecht­lichte, „rassisch“ markierte und „abnorme“ Gehirne hat gezeigt, dass sich Forels Ordnungslogik gleicher Parameter bediente. Ein zentrales Merkmal, ganz in der Tradition der Hirnpsychiatrie des 19. Jahrhunderts, war die Hirnanatomie. Hirngewicht, Hirnvolumen und auch das Verhältnis der verschiedenen Hirnteile zueinander, in hierarchischer Relation stehend, wurden angeführt. Die unterschied­liche Hirnanlage bedeutete für „andersrassische“, „abnormale“ und in beschränkterem Masse auch für die Frauen, dass sie eine niedri­ gere Gehirnentwicklung als der weisse, gut gebildete, europäische Mann besassen. Diese niedrigere Gehirnentwicklung zeichnete sich durch mangelhafte Plastizität 1 308 Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 14. 1309 Ebd., S. 3, S. 13 und S. 14. 1310 Forel, Warum, wann und wie (1885), S. 11 f. 1311 Z. B. Forel, Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 14 und S. 27; ders., Sexuelle Ethik (1906), S. 19. 1312 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 522. 1313 Prospekt für Die sexuelle Frage, Verlag Ernst Reinhardt (Hg.), „Urteile der Presse“, S. 2.

Automatismen, Triebe, Leidenschaft

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und vorherrschende Automatismen aus und äusserte sich in Impulsivität, Triebhaftigkeit und Leidenschaft­lichkeit. Die „Schreckbilder von sexuell exzessiven und kulturunfähigen Schwarzen“ waren auch innerhalb der „Kulturmenschheit“ präsent, wenn Forel dieselben Zuschreibungen anfügt, um die als „minderwertig“ qualifizierten Anormalen auszuschliessen.1314 Mit den triebhaften Schwarzen teilten „Geisteskranke, Homosexuelle und Gewohnheitsver­ brecher das Stigma, ihre Leidenschaften – von sexueller Begierde bis hin zu mörderischer Wut – nicht zügeln zu können“.1315 Auch die Frauen konnten ihre libidinösen Leidenschaften nicht immer kontrollieren, wie Forel überzeugt war. Nancy Leys Stepan weist auf die Wichtigkeit dieser Analogieschlüsse hin: „By analogy with the so-called lower races, women, the sexually deviate, the criminal, the urban poor, and the insane were in one way or another constructed as biological ‚races apart‘ whose differences from the white male, and likeness to each other, ‚explained‘ their different and lower position in the social hierarchy.“1316 Diese tiefere Position in der sozialen Hierarchie bedeutete für Forel – und für viele seiner Zeitgenossen –, dass diese Gruppen in der Kulturanpassung versagt hätten. Sie waren weniger intelligent, „minderwertig“ und „kultur­unfähig“. Dieses Urteil stützte sich auf die oben genannten anatomischen Parameter.1317 Die biolo­gischen Zäsuren garantierten ihre Unüberschreitbarkeit. Und die Frauen, respektive die vergeschlecht­lichten weib­lichen Gehirne? Anders als die „rassisch“ Anderen oder „Anormalen“ wurden sie von Forel nicht mit dem Verdikt kulturunfähig versehen. Zur Ehrenrettung der von Sexualität bestimmten weib­lichen Gehirne führte er die „psychische Liebe“ ein, welche die Libido sexualis zu überstrahlen vermochte. Abweichende Formen weib­licher Sexualität dagegen waren nach seiner Einschätzung klar pathologisch. Antimoderne Hirnforscher und Neurologen begegneten den Forderungen der Frauenbewegung mit Verweisen auf die angeb­lich mindere Entwicklung des weib­lichen Gehirns.1318 Bei Forel war das anders. Er beschrieb die Entwicklung des weib­lichen Gehirns zwar auch als verschieden, aber seine Folgerungen gingen in eine andere Richtung. Er plädierte für die Öffnung der Hochschulen für die Frauen, die Einführung des Frauenstimmrechts und die Gleichberechtigung der Geschlechter.1319 Allerdings lassen sich auch diese F ­ orderungen 1314 Bugmann und Sarasin, Forel mit Foucault, S. 66 f. 1315 Mosse, Die Geschichte des Rassismus, S. 11. 1316 Leys Stepan, Race and Gender, S. 264. Eine solche Analogie findet sich beispielsweise, als Forel bemerkte, dass sich Menschen „in belgischen […] Industrie-Bezirken begatten […] nicht viel feiner, als betrunkene Kaffern in Süd-Afrika“. Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 318. 1317 Vgl. Hagner, Homo cerebralis, S. 264. 1318 Hagner, Gehirnführung, S. 181. 1319 Eine seiner Thesen der Praelectio inauguralis (Antrittsvorlesung der Doktorpromotion) lautete: „Alle Hochschulen sollten den Frauen eröffnet werden.“ (MHIZ PN 31.1:276). Vgl. auch

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Forels innerhalb seines biopolitischen Denkrahmens interpretieren. Von den Frauen versprach er sich, strategisch-politisch denkend, Verständnis für eugenische Postulate und Engagement gegen kontraselektorische Faktoren: „Als gegenwärtige und zukünftige Mutter ist die Frau instinktiv Gegnerin des Krieges. […] Sobald sie die Frage der Eugenik verstanden haben wird, wird sie auch aus ähn­lichen Gründen die erste sein, von ganzem Herzen an ihrer Förderung zu arbeiten.“1320 Auf seine cerebralen Ordnungen konnte Forel seine sozialtechnologischen Handlungsanleitungen abstützen. Er formulierte eine Stufenleiter der Ethik, an der sich das nach seiner Ansicht richtige Handeln orientieren konnte. Das Glück der Nachkommen war als oberste Stufe die höchste Aufgabe der Ethik. Auf der zweiten Stufe folgte die Erfüllung der Pf­lichten gegenüber lebenden Kindern. Und erst auf der dritten Stufe folgten die Pf­lichten lebenden erwachsenen Mitmenschen gegenüber: „Welche sind aber unsere Mitmenschen? Wo sollen im wilden Kampf der Meinungen und Leidenschaften Grenzen gesetzt werden? […] Hier müssen stets und konsequent die Interessen des Ganzen den Interessen des Einzelnen übergeordnet werden.“1321 Rheto­risch mutet dann die Frage an, die er danach stellte und die er auch nicht explizit beantwortete: „Müssen wir im Interesse der Menschheit unseren Gefühlen für Neger oder Chinesen Schranken und Grenzen ziehen, Geisteskranke, Idioten, Verbrecher usw. einschränken […]?“1322

Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 68; ders., Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 134 – 137; ders., Hygiene der Nerven (1922), S. 235. 1320 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 136; vgl. ders., Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 28. In Die sexuelle Frage postulierte er die Mutterschaft als „übergeord­netes Ziel der Frauen“ und war überzeugt, dass die Kinderpflege „zum weib­lichen Lebensglück“ gehöre (ders., Die sexuelle Frage, 1905, S. 125 f.). 1321 Forel, Ueber Ethik (1899), S. 583 f. 1322 Ebd., S. 584.

10. Biopolitische Interventionen Forels degenerative Bestandsaufnahme der Gesellschaft war düster. Trotzdem stellte er der Zukunft eine optimistische Prognose: „Die Vergangenheit ist unabänder­lich, die Zukunft dagegen plastisch.“1323 Wie Jakob Tanner schreibt, verkörpert Forel die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auftretenden Spannungen zwischen Degenerationsbefürchtungen und Fortschrittshoffnungen. Er konnte beides in einen kohärenten Zusammenhang bringen: „Es gelang ihm, den düsteren Hintergrund scheinbar unvermeid­licher Dekadenz zu nutzen, um selbstbewusst und optimistisch über Projekte einer sozialtechnologischen Intervention in der Gesellschaft nachzudenken und sich in die praktische Umsetzung dieser Methoden einzuschalten.“1324 Forels Wissen war Orientierungswissen, um konkretes Handeln anzuleiten. Wie Fritz ­Brupbacher, der 1897 als Unterassistent am Burghölzli tätig war, in seiner Autobiografie schrieb: „Er war ein Mensch, für den nur Wissen Bedeutung hatte, das verwendbar war, die Menschen glück­lich zu machen.“1325 Forel war überzeugt, dass die „vertiefte klarere Kenntniss unseres Hirnlebens“ mächtig beitragen werde zu „einer gesunden Nerven- und Gehirnhygiene, zur Verhütung und Heilung von Nerven- und Geistesstörungen, zur Aufklärung über das Wesen vieler socialen Schäden (Verbrecherthum, Alcoholismus etc.), zum Verständniss des gerade in diesem Gebiet so hochwichtigen Wesens der Vererbung“.1326 Seine szientistische Grundhaltung zeigte sich deut­lich: Die Hirnforschung stellte das Wissen zur Verfügung, um das Schlechte abzuwenden und das Gute respektive Gesunde durchzusetzen. Dank den Erkenntnissen der Wissen­schaft müsse man nun im anbrechenden 20. Jahrhundert „mit frischem Mut“ die Konsequenzen ziehen und „die Früchte ernten“, plädierte er 1899 in der Zukunft Hardens.1327 Der sozialen Hygiene falle, so Forel, die Aufgabe zu, die „Kulturentwicklung und Gesundheit des Gehirns miteinander in Einklang zu bringen“.1328 Er betonte die Bedeutung der hereditären Anlagen des Gehirns und zeigte sich überzeugt, dass die Nachkommen „ausgesprochen minderwertiger und pathologischer Gehirne in

1 323 Forel, Rassenentartung und Rassenhebung (1909), S. 121. 1324 Tanner, „Keimgifte“ und „Rassendegeneration“, S. 249 f. Die Autorinnen und Autoren von Zwang zur Ordnung sprechen von einem sozialinterventionistischen Rollenverständnis der „Zürcher Schule“ unter Forel und Bleuler (Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 63 f. und S. 66 – 68). 1325 Brupbacher, 60 Jahre Ketzer, S. 62. 1326 Forel, Zur Frage der neurologischen (hirnanatomischen und psychologischen) Centralstationen (1902), S. 222. 1327 Forel, Ueber Ethik (1899), S. 586. 1328 Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 342.

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Biopolitische Interventionen

der Mehrzahl minderwertig und pathologisch werden“.1329 In nuce war in den Keim­ anlagen des Gehirns der Mensch mit seiner cerebralen Charakterologie angelegt, die ihn zum Kulturmenschen oder eben auch zum „Kulturbarbaren“ m ­ achte.1330 Dass sich der biopolitische Zugriff des Eugenikers Forel auch auf das Gehirn erstreckte, war nur die logische Folge dieser Priorisierung. Die Dominanz der Degenerationstheorie hiess nicht etwa, dass sich therapeu­ tischer Pessimismus ausbreitete, sondern dass sich die Psychiater vermehrt der Sphäre der Prävention – der „Hygiene“ in der damaligen Terminologie – zuwandten. Wenn die angeborenen Defekte schon nicht zu heilen waren, dann sollten sie wenigstens kontrolliert und sogar verhindert werden.1331 Diese Verschiebung in Richtung Prävention lässt sich auch bei Forel beobachten. Während der Burghölzli-Zeit kämpfte er bereits fanatisch für Alkoholabstinenz und gegen Prostitution, und nach seinem Rücktritt von Direktorenamt und Professur widmete er sich neben dem Kampf für die Abstinenz den Sexualwissenschaften und der Eugenik, um die soziale Reform der Gesellschaft zu fördern. Eng mit eugenischen Forderungen verknüpft, beschäftigte er sich je länger, je mehr mit der Sexualität, und mit der Publikation von Die sexuelle Frage im Jahr 1905 schliess­lich rückte das Thema in den Hauptfokus seiner Interessen.1332 Auch der eugenische Resonanzraum klingt an, wenn Forel im obigen Zitat von 1902 Geistesstörungen und „sociale Schäden“ mit dem Thema Vererbung verknüpft und von deren Verhütung spricht. Brupbacher schrieb in seiner Autobiografie weiter über Forels soziobiologisches Engagement: „Er wollte der Menschheit gesunde, produktive und altruistische Hirne schaffen.“1333 Gesund, produktiv, altruistisch – dank sozialtechnologischen Interventionen ist das für Forel in den Bereich des Realisierbaren gerückt.1334 Seine sozialtechnologischen Interventionstechniken, 1 329 Ebd., S. 213. 1330 Vgl. Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 92 – 94. 1331 Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 176 und S. 194 – 198. Sarasin hält fest, dass dagegen die Hygie­ niker des 19. Jahrhunderts nicht viel zur Prävention im Bereich von Gehirn und Nervensystem zu sagen hatten. Vielmehr finden sich diskursive Gemeinplätze wie die Notwendigkeit der Übung, genügend Schlaf und Skepsis gegenüber Reizüberflutung. Ebenso schätzten sie ein Übermass an geistigen Tätigkeiten als schäd­lich ein (Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 354 f.). 1332 Dies entspricht auch der Einschätzung Germanns (Germann, „Alkoholfrage“ und Eugenik, S. 149). Wie Forel in der Autobiografie schrieb, war die Tatsache, dass ihn zunehmend Patien­ ten mit „nervösen Leiden der sexuellen Sphäre“ zur Behandlung aufsuchten, Auslöser für die Niederschrift von Die sexuelle Frage, die 1905 erstmals erschien (Forel, Rückblick auf mein Leben, 1935, S. 215). Vgl. die Titel verschiedener Publikationen Forels (Die Rolle des Alkohols bei sexuellen Perversionen, 1895; Alkohol und venerische Krankheiten, 1901; Alkohol und Geschlechtsleben, 1905). 1333 Brupbacher, 60 Jahre Ketzer, S. 59 f. 1334 Forel, Mensch und Ameise (1922), S. 69.

Gehirnhygiene und Reformpädagogik

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die sich in der Mehrzahl auf die Kenntnis des „Hirnlebens“ stützten, verdeut­lichen seine Überzeugung, korrigierend und normierend eingreifen zu können. Folgend werden diese Eingriffe Forels beschrieben, die eng mit dem Gehirn als Interventionsort verbunden waren. Dies betraf erstens den Bereich der Gehirnhy­giene, dem sich Forel um die Jahrhundertwende zuwendete und für den er sich unter anderem im Hinblick auf eine Neuausrichtung der Pädagogik stark machte. Zweitens lässt sich auch der Hypnotismus als sozialtechnologisches Instrument deuten, um die Prägungen im Gehirn des Individuums umzuschreiben. Abschliessend wird die Eugenik als Instrument beschrieben, um via Keimbahnen das Gehirn ins Visier zu nehmen.

10.1 Gehirnhygiene und Reformpädagogik Die Frage, wie Geisteskrankheiten vermieden werden könnten, beschäftigte Forel seit seinem Amtsantritt im Burghölzli. In einem Vortrag anläss­lich der ersten Generalversammlung des Zürcher Hilfsvereins forderte er die frühzeitige Unterbringung der Kranken in Anstalten, die staat­liche Kontrolle über privat Versorgte, die Verbesserung der Kindererziehung und der Fabrikverhältnisse und wies weiter auf die Bedeutung der Vererbung und des Alkoholismus hin.1335 Den gesellschaft­lichen Kontext seiner hygienischen Bestrebungen thematisierte er damals noch in gemässigter Weise. So bedauerte er, dass das Vorhandensein von Geistesstörungen bei „Eheschliessungen leichtsinnig ausser Acht gelassen“ werde, und beschrieb daraus folgernd das Schreckensszenario einer „geistigen Entartung“ der „Nation“.1336 Je länger, desto eindeutiger verschob sich sein hygienischer Fokus vom Individuum zum „Volkskörper“. So machte er 1903 deut­lich, dass es ihm um die individuelle Hygiene, aber auch um die öffent­liche Hygiene ging, und formulierte den Primat der Gesellschaft gegenüber dem Individuum als leitenden Grundsatz für alle hygie­ nischen Bestrebungen: „Die öffent­liche oder besser gesagt die soziale Hygiene soll überall der individuellen gegenüber massgebend sein, sobald ein Konflikt entsteht; und es gibt deren viele.“1337 Forels gehirnhygienische Anliegen bzw. sein eigent­liches gehirnhygienisches Programm werden anhand seines Standardwerks in diesem Bereich, Hygiene der N ­ erven und des Geistes im gesunden und kranken Zustand, erläutert. Danach wird seine Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik erörtert. Als Forel vom Verlag Ernst Heinrich Moritz aus Stuttgart angefragt wurde, ob er in der populären Reihe Büche­ rei der Gesundheitspflege ein „volkstüm­liches Buch über die Hygiene der Nerven und 1335 Vgl. Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 11 – 14. 1336 Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 3 und 6. Vgl. Kap. 2. 1. 1337 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 191.

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des Geistes“ verfassen würde, sagte er zu. Zwar eine schwierige Aufgabe, wie er in der Autobiografie einräumte, aber auch eine äusserst wirksame, um seine diesbezüg­lichen Ansichten unter die Leute zu bringen. Als er im Jahr 1903 mit seinem Buch Hygiene der Nerven und des Geistes an die Öffent­lichkeit trat, betonte er, er habe wegen der Dring­lichkeit der Thematik gewagt, eine „populäre Darstellung“ des „ungeheuren Gegenstandes“ zu schreiben.1338 Im ersten Teil widmete er sich der Beschreibung von Gehirn und Nerven im „Normalzustand“, im zweiten Teil der „Pathologie des Nervenlebens“, wo er nach einem systematischen Beschrieb der Geisteskrankheiten die Ursachen für Nervenkrankheiten identifizierte. Den wichtigsten Grund für Nervenkrankheiten sah er in der erb­lichen Anlage, deren Keimplasma hauptsäch­lich durch Alkohol vergiftet werde. Weiter spielten Alter, Geschlecht und verschiedene Ursachen wie „abnorme Lebensweise“ oder „verkehrte Pädagogik“ eine Rolle. Er verwies auf negative Faktoren wie den psychisch verursachten Schlafmangel, einseitige „Misshandlung des Gehirns“, die „psychische Aufregung“ und die Erschöpfung durch sexuelle Übertreibung und Onanie.1339 Sarasin hält fest, dass im Vergleich mit den Hygienikern des 19. Jahrhunderts der Wandel in Forels Argumentation signifikant sei: „Hier ist der Sex nicht mehr gefähr­lich, weil er die Nerven der Einzelnen schädigt, sondern weil durch ihn schlechte Erbanlagen weitergegeben werden.“1340 Bereits ein paar Jahre zuvor hatte Forel in der Zürcher Eintracht seinen jugend­lichen Zuhörern die Bedeutung der hereditären Ausstattung für ein „gesundes Gehirn“ ans Herz gelegt: „[D]ie Kinder erzeugenden Generationen sollten […] darauf achten, dass die Väter und Mütter mög­lichst gesunde Personen sind.“1341 Das Gehirn war durch das „schlechte Material“ seiner Erzeuger bedroht. Im dritten Teil von Hygiene der Nerven und des Geistes schliess­lich entwarf er ein gehirnhygienisches Programm, welches das Individuum befolgen sollte. Ausführ­lich beschrieb er die 1338 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 211; ders., Hygiene der Nerven (1903), S. 8. In der beliebten Reihe erschienen von 1904 bis 1928 im Verlag Ernst Heinrich Moritz total 24 Bände. Max von Gruber schrieb beispielsweise über Hygiene des Geschlechtslebens (Bd. 13, 1903), ­Hermann Eichhorst, Direktor der medizinischen Klinik der Universität Zürich, über Hygiene des Herzens und der Blutgefässe im gesunden und kranken Zustand (Bd. 11, 1904), Fritz Lange und Joseph Trumpp über Entstehung und Verhütung der mensch­lichen Missgestalt (Bd. 14, 1905) und Sigmund Gottschalk über Gesundheitspflege für Frauen und Mütter (Bd. 16, 1913). Forels Buch richtete sich im Untertitel späterer Auflagen an „gebildete Laien und Studierende“ und erschien bis 1922 in sieben Auflagen, 1906 auch in Französisch (L’âme et le système nerveux, hygiène et pathologie), 1907 in Englisch (Hygiene of nerves and mind in health and disease) und 1909 in Schwedisch (vgl. Weber, Bibliographie der Werke, S. 155 – 192). 1339 Vgl. Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 166 – 184. 1340 Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 445. 1341 Bericht über Forels Vortrag (1897), S. 2.

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Gehirnhygiene des Einzelnen, die sich aus der Alkoholabstinenz, genügend Schlaf, richtiger Ernährung und harmonischer Übung aller Gebiete des Nervenlebens zusammensetzte.1342 Er betonte besonders die Bedeutung korrekter, nütz­licher Arbeit, da neben der Vermeidung der „Gehirn- und Rassengifte“ diese, „das heisst die harmonisch abwechselnde, aber konsequente Einübung nütz­licher, guter und gesunder Tätigkeiten, die Grundlage der Gehirnhygiene“ bilde.1343 Weiter widmete er der „Nerven­hygiene der Zeugung oder der Vererbung“ ein eigenes Kapitel, wo er sein eugenisches Programm beschrieb. Viel Raum nahm auch ein Kapitel zur „Nerven­hygiene des Kindes­alters“ ein, wo er an hygienische und pädagogische Diskurse zur „Überbürdung“ der Schulkinder anknüpfte. Schon während des ganzen 19. Jahrhunderts wurde über die schulische Unterrichts­ praxis geklagt. In den 1880er- und 1890er-Jahren erlebte die Kritik an der „Paukschule“ und an der „Überbürdung“ der Schulkinder eine wirkungsvolle Unterstützung durch Ärzte wie Forel, da diese nun vor den gesundheitsschädigenden Auswirkungen des übermässigen Lernens warnten. Die Schule verkenne die „physiologische Eigenart“ des Kindes, ebenso wurde auf das bereits bekannte Argument der einseitigen intellektuellen Bildung zurückgegriffen.1344 So kamen beispielsweise in der Kritik des Physiologen und Kinderpsychologen William Preyer 1887 an der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte medizinische, psychologische und pädagogische Bedenken zusammen.1345 Carl Westphal und Rudolf Virchow behandelten die Frage 1884 in einem Bericht an die wissenschaft­liche Kommission für das Medizinalwesen, und in den 1890er-Jahren wurde das Thema an verschiedenen Treffen der Gesell­ schaft Deutscher Naturforscher und Ärzte besprochen.1346 Auch in der Zeitschrift für Hypnotismus kam die Überanstrengung der Schülerinnen und Schüler durch zu viel einseitigen Lernstoff zur Sprache.1347 Auf seiner Suche nach den Ursachen der Geisteskrankheiten identifizierte auch Forel 1880 die geistige Überanstrengung der Schüler als krankmachenden Faktor: 1 342 Vgl. Forel, Hygiene der Nerven (1922), S. 239 – 274. 1343 Forel, Lehrer und Schüler (1924, orig. 1908), S. 72 (Hervorhebung im Original). 1344 Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform, S. 252 f. 1345 Oelkers, Reformpädagogik, S. 61 f.; ders., Physiologie, Pädagogik und Schulreform, S. 263 – 269. Preyers Buch Die Seele des Kindes (1882) wurde zu einem Basistext der Entwicklungspsychologie. Ab 1889 gab er zusammen mit Hugo Göring die Zeitschrift Die Neue Deutsche Schule heraus, die bis März 1892 erschien. Zur ärzt­lichen Diskussion des Themas vgl. Petrat, Curriculum und Gesundheitsgefährdung. 1346 Engstrom, Clinical Psychiatry, S. 194. 1347 Plettenberg, Die neuesten Abhandlungen und Untersuchungen über die Ermüdung der Schuljugend (1899). Nach einer kurzen Vorstellung der Verfahren zur Untersuchung der geistigen Ermüdung der Schüler referiert Plettenberg die aktuellste Forschungsliteratur zum Thema.

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„Zu frühzeitige geistige Ueberanstrengung der Kinder […] setzt in’s junge Gehirn schäd­liche Reize, die es zum Irrsinn veranlagen.“1348 Zehn Jahre später äusserte er sich in der Neuen Zürcher Zeitung über die Schulbildung und kritisierte, dass die „Art, wie unsere Jugend überladen wird, in grellem Widerspruch mit den Gesetzen der physiologischen Gehirnentwicklung“ stehe. Die Kinder dürften nicht mit abstrakten Begriffen und fertigen Theorien „vollgepaukt“ werden, da sie so zu „frühreifen Pedanten und grössenwahnsinnigen Schwätzern“ würden. Die kind­liche Hirnentwicklung erfordere Anschauungsunterricht, damit die intuitive Beobachtungsgabe und die Freude an der Natur wachsen könnten.1349 Die Überbürdungsdiskussion dauerte auch nach der Jahrhundertwende an, verstärkt durch medizinische Thesen zum Verhältnis von Nervenhygiene und Schule.1350 Auch Forel sah sich als Mediziner und Psychologe befugt, sich zur Belastung der Schulkinder zu äussern. Seine schulpolitischen Schlussfolgerungen untermauerte er beispielsweise in einem Referat vor dem deutschen Verein für Schulreform zur kind­lichen Hirnentwicklung und mit seinem psychophysiologischen Wissen.1351 Vor den deutschen Schulreformern bemängelte er, dass die Schule häufig einem Zuchthaus oder einer Strafanstalt für Kinder gleiche, und kritisierte die Behandlung des Kindergehirns in der Schule, „wie wenn es eine kleine enzyklopädische Bibliothek, eine Art Konversationslexikon werden sollte“.1352 Der Drill tue den Kindern Gewalt an und mache sie zu „blind gehorchenden Automaten“ und „gedankenlosen Nachbetern fertiger Dogmen“.1353 Gleichzeitig sei die „Auslese der tüchtigen Gehirne“ im gängigen Schulsystem nicht gewährleistet, wo der Erfolg von untergeordneten geistigen Fähigkeiten wie Gedächtnis und rascher Auffassung abhänge.1354 Die Kritik stand im Kontext der Reformpädagogik, die ab 1890 international, theoretisch uneinheit­lich und auch politisch sich verschieden artikulierend Fuss 1348 Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 6 (Hervorhebungen im Original). 1349 Forel, Zur Schulbildung (1890). 1350 Oelkers, Reformpädagogik, S. 63. Oelkers nennt Nervenhygiene und Schule von Theodor Benda (Berlin 1900) als einschlägige Publikation dazu. Bis 1914 hatte sich die Überbürdungsdiskussion weitgehend aufgelöst, mit medizinischen Fragen befassten sich im Deutschen Reich fortan spezialisierte Schulärzte (Oelkers, Physiologie, Pädagogik und Schulreform, S. 276). 1351 Vgl. Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908). 1352 Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908), S. 14 und S. 17. 1353 Forel, Autorität und Erziehung (1909), S. 676. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass sich hinter dem grausamen Drill oft Sadismus verstecke, und erwähnte den Fall des Hauslehrers Andreas Dippold (ebd., S. 677). Dippold fügte er als Beispiel eines Homosexuellen an, dessen „Urningtum“ sich mit Sadismus verbunden habe (ders., Die sexuelle Frage, 1905, S. 252). Vgl. zu Forels versuchter Ehrenrettung Oskar Vogts Hagner, Der Hauslehrer, S. 205 – 210. 1354 Forel, Die Schule der Zukunft (1902), S. 2.

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fasste.1355 Oelkers spricht nicht von einer Epoche der Reformpädagogik (die häufig von 1890 bis 1933 angesetzt wird), sondern betont, dass die Themen und Forderungen der Reformpädagogen bereits früher im 19. Jahrhundert angelegt waren. Gemeinsamer Nenner der heterogenen Reformpädagogik am Anfang des 20. Jahrhunderts war, dass sich alle gegen die intellektuelle „Lernschule“ wandten und eine „harmonische“ Erziehung forderten, die praktisch ausgerichtet werden sollte.1356 Die drei pädago­ gischen Themen, welche die Diskussion hauptsäch­lich bestimmten, waren Entwicklung, „natür­liche Erziehung“ und Pädagogik „vom Kinde aus“.1357 Wie eine Befreiung muteten Forel die Strömungen der Reformpädagogik an, die ihn besonders in der Ausrichtung der Landeserziehungsheimbewegung begeisterten.1358 Beeinflusst von einem Aufenthalt in Cecil Reddies englischer Internatsschule Abbotsholme, begründete der deutsche Pädagoge Hermann Lietz die deutsche Landerziehungsheimbewegung. Die Benennung Deutsches Landerziehungsheim sollte gemäss Lietz den „nationalpädagogischen Grundsatz der Konzeption zum Ausdruck bringen und zugleich entschiedene Abwendung von der Grossstadt signalisieren“.1359 Die Distanz zur urbanen Umgebung sollte die Jugend von den dekadenten Verführungen der Stadt fernhalten und „ihnen im Geiste Rousseaus die Vorteile eines einfachen Lebens […] vermitteln“.1360 Das pädagogische Konzept von Lietz betonte die ganzheit­liche Ausbildung, indem es wissenschaft­liche mit kreativer und körper­licher Arbeit kombinierte. Der Rhythmus des Tages war vom „Wechsel zwischen theoretischer und praktischer Beschäftigung, zwischen Spiel, freier ungehemmter Betätigung und pf­lichtmässiger Arbeit“ gekennzeichnet.1361 Das Familien- und Gemeinschaftsprinzip von Schülern und Lehrern war ein weiteres pädagogisches Merkmal. 1898 gründete Lietz in Ilsenburg die erste Schule, weitere folgten 1901 in Haubinda und 1904 in Schloss Bieberstein. 1355 Vgl. Oelkers, Reformpädagogik; Herrmann, Pädagogisches Denken und die Anfänge der Reformpädagogik. 1356 Oelkers, Reformpädagogik, S. 41. 1357 Ebd., S. 13. 1358 Die Schulreform war für Forel zentrales Element der Nervenhygiene, wie deren Erwähnung im Vorwort zur sechsten und siebten Auflage der Hygiene der Nerven und des Geistes zeigt (Forel, Hygiene der Nerven, 1922, S. 7). 1359 Oelkers, Reformpädagogik, S. 108. Die Forderung nach der Abwendung von der Grossstadt zog sich wie ein roter Faden durch die reformpädagogische Diskussion. 1360 Hagner, Der Hauslehrer, S. 10. 1361 Lietz, Das fünfzehnte Jahr in Deutschen Land-Erziehungs-Heimen (1913), S. 18 (Hervorhebungen im Original), zitiert in: Oelkers, Reformpädagogik, S. 110. Reddies und Lietz’ Ideen waren bereits in Görings Konzept der Neuen Deutschen Schule von 1887 vorhanden. Falls diese mit dem Konzept Görings bekannt gewesen waren, müsse man, so Oelkers, bei deren Konzeption geradezu von einem Plagiat sprechen (Oelkers, Reformpädagogik, S. 52). Vgl. zur Landerziehungsheimbewegung ebd., S. 106 – 111; Hagner, Der Hauslehrer, S. 10 f.

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Forel war von diesen „Schulen der Zukunft“ begeistert.1362 Sein Sohn Edouard besuchte Lietz’ Schule in Ilsenburg und zog 1901 ins neue Landerziehungsheim Haubinda um, dem Vater Forel im Jahr der Eröffnung einen Besuch abstattete.1363 Begeistert berichtete er danach in Zeitungsartikeln über den Besuch: „Als ich zum Besuche nach Haubinda kam, traf ich auf dem Felde Dr. Lietz und seine Schüler, nur mit Strohhüten, Badehosen und Sandalen bekleidet, mit der Getreideernte beschäftigt. Im gleichen Costüm wird auch Fussball gespielt. Alle erlernen ein Handwerk; jeder Schüler erhält ein Stückchen Landboden, das er bebaut, wie er will, und dessen Producte ihm gehören. Die Nahrung ist reich­lich und vorzüg­lich und die Zeit ausgezeichnet eingetheilt in diesem Schulstaate mit seinen patriarchalischen und brüder­ lichen Sitten.“1364 Mit Paul Geheeb, der anfäng­lich mit Lietz zusammenarbeitete und sich nach Streitigkeiten von ihm trennte, stand Forel ebenfalls in Kontakt.1365 Auch in der Schweiz fand das Programm der Landerziehungsheime breite Resonanz. Die Schweiz, seit Johann Heinrich Pestalozzis ganzheit­lichem pädagogischen Ansatz und dessen Gründung eines Erziehungsinstituts auf Schloss Burgdorf im Jahr 1800 Zentrum pädagogischer Lehren, erwies sich als fruchtbarer Boden, wo die Saat der Landerziehungsheime gut gedieh. Huldreich Looser nahm als Erster den Ansatz auf und wandelte die Privatschule Grünau in Bern 1899 in ein Landerziehungsheim um. Zwei „alte abstinente Freunde“ Forels, Werner Zuberbühler und Wilhelm Frei, die vorgängig bei Lietz in Haubinda geweilt hatten, eröffneten 1902 als Erste ein neues Landerziehungsheim, das Schloss Glarisegg bei Steckborn.1366 Wie bei Lietz 1362 Vgl. den gleichnamigen Zeitungsartikel Forels (Die Schule der Zukunft, in: Neues Wiener Tagblatt, 2. Dezember 1902, S. 1 – 3). Auch an der Vereinstätigkeit der Reformpädagogik nahm Forel teil. Vgl. Beitrittserklärung der Internationalen Liga für rationelle Erziehung der Jugend, Paris 1908 (MHIZ PN 31.1:255). Es ist unklar, ob Forel dieser beitrat. Im Nachlass findet sich eine Broschüre, welche die Grundsätze und die Statuten der Liga enthält. Der Anmeldecoupon haftet unausgefüllt an der Broschüre dran. Wie bereits erwähnt, referierte er an der Vereinsversammlung am 20. März 1908 des Vereins für Schulreform über Die Gehirnhygiene der Schüler. 1363 Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 210; ders., Hygiene der Nerven (1903), S. 237. Vgl. auch die Korrespondenz von Lietz an Forel im Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich. 1364 Forel, Die Schule der Zukunft (1902), S. 3. 1365 Geheeb gründete zusammen mit seiner Frau Edith Geheeb-Cassirer 1910 die Odenwaldschule. Vgl. Näf, Paul und Edith Geheeb-Cassirer. Siehe die Korrespondenz Geheebs an Forel im Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich. Dass Lietz als Mitglied des Alkoholgegnerbundes in Berlin (Forel, Hygiene der Nerven, 1922, S. 299) und Geheeb als Mitglied der Guttempler auch die Forderung nach Abstinenz vertraten, war Wasser auf Forels Mühlen. Vgl. auch Oelkers, Eros und Herrschaft. 1366 Weitere Neugründungen der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts waren Schloss Kefikon in Islikon, Hof Oberkirch in Kaltbrunn, die Ecole nouvelle de la Suisse romande in Chailly und La Châtaigneraie in Coppet (Hans-Ulrich Grunder, Landerziehungsheime, in: Historisches

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und Geheeb findet sich auch bei den Schweizer Reformpädagogen der Zusammenhang von Abstinenz und Reformpädagogik: Zuberbühler und Frei waren bereits zu Studienzeiten überzeugte Abstinenten und Mitglieder im abstinenten Akademikerverein Libertas, wo sie mit Forel in engem Kontakt standen.1367 Mit gewohntem Eifer setzte sich Forel für die Bekanntmachung der Glarisegger Schule ein und rühmte die beiden Begründer: „Mit Idealen den praktischen Sinn des Deutschschweizers verbindend, haben sie es unternommen, der Schweiz dasjenige zu geben, was die […] grossen Länder bereits besitzen, näm­lich eine von der uns bedrückenden Routine befreite und der Hygiene einer harmonischen Entwicklung des Kindergehirnes angepasste Schule.“1368 Seinen jüngeren Sohn Oscar schickte er nicht mehr zu Lietz nach Deutschland, sondern ins nähere Landerziehungsheim am Bodensee. Forel geriet nach der Jahrhundertwende regelrecht in Aufbruchstimmung ob der pädagogischen Entwicklungen: „Überall regt es sich, und man empfindet die reinigende Luft der Landerziehungsheime wie die Befreiung unserer Jugend aus einer seelischen Zwangsjacke.“1369 Die Kombination von intellektuellen, körper­lichen und musischen Tätigkeiten, die das Grundkonzept der Landeserziehungsheime bildete, war seiner Meinung nach, „mit Alkoholabstinenz verbunden, geradezu das Ideal der Gehirnhygiene der Jugend“. „Vergiftungen und Gemütswunden“ konnten dadurch vermieden werden, das Schülergehirn konnte „ungemein viel leisten und dabei elastisch, gesund und lebensfroh bleiben“.1370 Seine reformpädagogischen Ziele hingen wie bei vielen Reformpädagogen mit einer angestrebten übergeordneten Veränderung der Gesellschaft zusammen.1371 In Hygiene der Nerven und des Geistes, wo sich Forel ausführ­lich über Pädagogik äusserte, wird deut­lich, um was es ihm ging. Der Mensch musste seine niederen Triebe und Affekte in den Griff bekommen, um ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Deshalb sollten durch dauernde Übung Lexikon der Schweiz [HLS], Version vom 4. 8. 2011, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D10413.php). Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben (1935), S. 210; ders., Hygiene der Nerven (1922), S. 306; Frei, Landerziehungsheime (1902); ders. und Zuberbühler, Landerziehungsheime (1902). 1980 wurde der Schulbetrieb auf Schloss Glarisegg eingestellt. Vgl. Grunder, Das schweizerische Landerziehungsheim; Bieg, Abstinenzbewegung und Reformpädagogik. 1367 Bieg, Antialkoholbewegung, S. 61. 1368 Forel, Die Schule der Zukunft (1902), S. 1; vgl. ders., Une nouvelle Ecole modèle, in: La Suisse, 28. Februar 1902, S. 1; ders., Ecoles nouvelles, in: Libre Pensée, 19. September 1906. Zuberbühler gratulierte Forel zum 70. Geburtstag und schrieb, dass die Landerziehungsheime, besonders Glarisegg, „einen grossen Teil ihres Blühens und Gedeihens, guten Rufes und Vertrauens“ Forels Wort und Tat verdankten (Brief von Hélène und Werner Zuberbühler an Forel vom 30. August 1918, MHIZ PN 31.2:4755). 1369 Forel, Die Schule der Zukunft (1902), S. 3. 1370 Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908), S. 25 f. 1371 Vgl. Oelkers, Reformpädagogik, S. 157 – 169.

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zahlreiche Engramme eingeschrieben werden, die für ihn ein „tüchtiges Grosshirn“ auszeichneten: „Es handelt sich darum, in das zarte, wachsende, weiche und so empfängnisfähige Kindergehirn die richtigen Engrammkomplexe zu setzen, die den Wert des späteren Menschen ausmachen werden.“1372 Anders als bei national orientierten Schulreformern wie Lietz war bei Forel die gemeinschaft­liche Bezugsgrösse nicht die Nation, sondern ein breiteres Konzept von individueller und sozialer Hygiene.1373 In seinem Fokus stand der Wert des Individuums für die biopolitische Grösse der „Kulturmenschheit“ oder der „Rasse“. Vor dem Verein für Schulreform betonte er einerseits den individuellen Zweck der Bildung, näm­lich „den Menschen glück­lich, gesund und lebensfroh zu machen“, und andererseits den sozialen Zweck. Der „soziale Wert eines Individuums“ musste „mög­lichst hoch“ gestaltet werden, „damit es ein nütz­liches Glied der Menschheit wird, und ihr mehr gibt, als es von ihr nimmt“.1374 Die Erziehung von „vollen und ganzen brauchbaren Menschen“ musste die höchste Aufgabe des Staates sein, und der Einzelne hatte mittels Gehirnhygiene das Gehirn gesund und leistungsfähig zu erhalten. Wie weiter unten noch ausgeführt wird, kombinierte Forel sein gehirnhygienisches Programm mit rassenhygienischen Massnahmen, da nach seiner Ansicht nicht alle die „vollwertigen Keimanlagen“ zum „brauchbaren Menschen“ besassen.1375 Nur wenn sich gesunde Menschen fortpflanzten, konnten auch die Gehirne der Nachkommen gesund sein.

10.2 Hypnotismus als Gesellschaftstherapie Forel war überzeugt, wie er vor seinen Ärztekollegen postulierte, dass durch die Suggestion „eine Beeinflussung des gesammten Denkens, der Gewohnheiten eines Individuums, kurz eine totale Veränderung der Person zu erzielen“ sei.1376 Der Hypnotismus lässt sich im gesellschaftspolitischen Zusammenhang als sozialinterventionistisches Werkzeug deuten, um die Individuen – die „Kranken“ – hinsicht­lich einer gesellschaft­ lichen Norm zu korrigieren und dadurch einem bestimmten Gesellschaftsentwurf zu dienen. Das Gebiet „sozial erwünschter und medizinisch zulässiger medizinischer 1372 Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908), S. 28; vgl. ders., Hygiene der Nerven (1922), S. 290. 1373 Die deutschnationale Ausrichtung Lietz’ musste Forel gestört haben, er schwieg sich jedoch darüber aus. Ebenfalls unterschied sich seine pazifistische Einstellung von der Begeisterung der meisten deutschen Pädagogen, die 1914 den Ersten Weltkrieg als erzieherische Kraft begrüssten (vgl. Oelkers, Reformpädagogik, S. 203). 1374 Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908), S. 13. 1375 Ebd., S. 28. 1376 Forel, Die practische ärzt­liche Seite des Hypnotismus (1888), S. 730.

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Intervention“1377 war durch die Taxierung als krank oder abnorm festgelegt. Ob die Interventionen „medizinisch zulässig“ waren, war für Forel keine Frage, da er sich wissenschaft­lich abgestützt wähnte. Seine Interventionen lassen sich aber auch als „sozial erwünscht“ einstufen, da Krankheit sich nicht als rein biologischer Sachverhalt darstellte, sondern als Abweichung von einer bestimmten „gesunden Normalität“.1378 Die Hypnotisierungen können so als Normalisierungs-Praktik gelesen werden, als Therapieform, bei der sich wie bei allen Therapien die Frage nach den Massstäben der Heilung – der „gesunden Normalität“ – stellt.1379 An diese Normabweichungen kann man sich über das von Forel propagierte Indikationsspektrum annähern. In Der Hypnotismus empfahl er die Hypnotismustherapie bei nervösen Funktionsstörungen, bei Alkoholismus und zur Anästhesie bei kleineren Operationen, bei Menstruations- und Verdauungsbeschwerden, „hyste­rischen Störungen“, im Bereich der Sexualpathologie und, wie er schrieb, bei „schlechten Gewohnheiten aller Art“.1380 Nicht überall zeigt sich der Normalisierungsgehalt gleich stark. Aber es gab aus heutiger Sicht Anwendungen, die auf gesellschaft­lich Erwünschtes abzielten. Dies ist augenfällig beim Alkoholismus, bei der Hysterie, bei Sexualstörungen und den diversen „schlechten Gewohnheiten“. Diese Einsatzgebiete entsprachen jenen, die sich quantitativ in Forels Praxis (Alkoholismus und Hysterie) und der Diskurs-Kadenz (Sexualpathologien) niederschlugen. Forel hob in diesem Zusammenhang auch den erzieherischen Aspekt der Hypnosetherapie hervor. Die pädagogische Bedeutung sei „sozusagen ärzt­lich, um schlechte, verderb­liche Gewohnheiten, perverse Charaktereigenschaften zu bekämpfen“.1381 Henri Monnier, der unter Forels Leitung über die Arbeitstherapie bei Nervenkranken und „Psychopathen“ in der Beschäftigungsanstalt von Adolf Grohmann dissertiert hatte, äusserte sich deut­licher über die schlechten Gewohnheiten.1382 Zu jenen Gewohnheiten, die bei Grohmanns Patienten hypnotisch behandelt wurden, zählte er „spätes Aufstehen, unregelmässiges Leben, Ungehorsam gegen die selbstverständ­lichsten Hausregeln, Onanie und andere sexuelle Perversitäten, Trunksucht, Unhöf­lichkeit und – im Hinblick auf die speciellen Ziele des Herrn Grohmann – vielfach Arbeitsunlust“.1383 Forel hatte sich in der Therapierung von unerwünschtem Verhalten einen Namen gemacht. So fragte beispielsweise im Frühling 1908 Dumeng Bezzola, in 1 377 Paul und Sch­lich, Einführung, S. 18. 1378 Meier und Bernet, Grenzen der Selbstgestaltung, S. 40. 1379 Waldenfels, Grenzen der Normalisierung, S. 116. 1380 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 200. 1381 Ebd., S. 155. Zum erzieherischen Aspekt Gauld, A history of hypnotism, S. 492 – 494. 1382 Monnier, Über die Behandlung von Nervenkranken und Psychopathen (1898). 1383 Ebd., S. 11. Grohmanns Patienten wurden meist von Georg Ringier hypnotisiert (Forel, Der Hypnotismus, 1919, S. 200).

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der Trinkerheilstätte Schloss Hard in Ermatingen tätig, ob er Forel eine hysterische Patientin zur hypnotischen Behandlung nach Yvorne schicken könne: „Ihr Leben ist leider vollständig ziellos und ich glaube, dass eine Ihrer grossen sozialen Zielsugges­ tionen der Hauptfaktor einer Heilung sein könnte.“1384 Die Patientin war vorgängig von einem andern Arzt hypnotisch behandelt worden, und es ging nun hauptsäch­lich darum, die hypnosefeind­liche Suggestion dieses Arztes aufzuheben. Bezzola wollte die Chance gleichzeitig nutzen, der älteren, unverheirateten Frau „einen Weg für die Zukunft anzugeben“.1385 Nach Forels Zusage reiste die Patientin nach Yvorne und wurde in einer nahen Pension untergebracht. Doch der therapeutische Erfolg liess auf sich warten. Am 21. Juli 1908 berichtete Forel seinem Kollegen: „Es geht ihr leider nicht viel besser. Sie steht immer noch unter dem suggestiven Bann dieses unseligen T. […] Ich gebe die Sache aber noch nicht auf.“1386 Doch die Situation besserte sich nicht. Fräulein B. „passt absolut nicht hier“, schrieb er wenig später an Bezzolas Adresse. Seine sozialen Suggestionen stiessen bei der Patientin auf kein Gehör. Vielmehr „tut sie doch ziem­lich genau das Gegenteil von dem was ich ihr verordne“, ärgerte er sich. B. „schwätzt bis tief in der Nacht“, hindere die andern Pensionärinnen am Schlaf, trinke massenhaft schwarzen Kaffee und nehme Schlafpulver – „also alles was ich ihr verboten habe und am Vormittag ist sie natür­lich ganz kaput, während ich ihr streng suggeriere und befehle früh ins Bett zu gehen und am Vormittag regelmässige Spaziergänge zu machen“. Sein Fazit: „Sie bedarf einer konsequenten Trainierung in richtiger Disziplin des Sanatoriums, durch richtige Regelung ihrer Tagesbeschäftigung.“1387 Schwatzerei, Kaffeekonsum und Einnahme des Schlafpulvers bekam er mit ambulanter hypnotischer Behandlung nicht in den Griff. Bei Fräulein B. war nicht zu denken an die Richtlinien für ein nütz­liches „steriles Leben“, die er andernorts zur Nervenhygiene von Unverheirateten anpries.1388 Immerhin attestierte er ihr, dass 1384 Brief von Dumeng Bezzola an Forel vom 9. April 1908, in: Müller, August Forel und Dumeng Bezzola, S. 68. Bezzola leitete von 1901 bis 1908 die Trinkerheilstätte Schloss Hard in Ermatingen. 1385 Brief von Dumeng Bezzola an Forel vom 9. April 1908, in: Müller, August Forel und Dumeng Bezzola, S. 68. Bezzola schrieb weiter, dass die Patientin vermut­lich von diesem Arzt unter Hypnose sexuell missbraucht worden sei und er deswegen nicht recht wage, sie zu hypnotisieren. Der sexuelle Missbrauch und die dadurch erwachsenden Schwierigkeiten für die erneute Anwendung von Hypnose waren jedoch kein Thema im Behandlungsauftrag an Forel. 1386 Postkarte Forels an Bezzola vom 21. Juli 1908, Institut für Medizingeschichte der Universität Bern, Nachlass Dumeng Bezzola. 1387 Brief Forels an Bezzola vom 10. VOOO [wahrschein­lich Tippfehler für VIII] 1908, Institut für Medizingeschichte der Universität Bern, Nachlass Dumeng Bezzola. Ich danke dem Nachlassgeber Bezzolas für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in diese beiden Dokumente. 1388 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 265 f. Jeder alleinstehende Mensch müsse für einen idealen Zweck arbeiten, „wenn er sich nicht an der Hygiene seines eigenen Gehirnes sowie an seinen Mitmenschen versündigen will“ (ebd., S. 266).

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sie sich eifrig in der hiesigen Guttemplerloge bemüht habe. Doch das genügte nicht. Forel brach die Therapie ab und schickte B. zurück nach Ermatingen. Hier zeigt sich, wie die Massstäbe der Heilung durch die Kategorie Geschlecht geprägt waren. Fräulein B. war faul, gab sich unkontrolliertem Kaffeegenuss hin und tratschte bis tief in die Nacht. Zwischen Gesundheit und Geschlechterrollenkonformität bestand ein Zusammenhang.1389 Auch bei der ärzt­lichen Beurteilung der Nählehrtochter Luise T., die wegen Somnambulismus ins Burghölzli eingetreten war, zeigte sich dieser Zusammenhang. Das Verhalten der 19-Jährigen, die in der Klinik zwischenzeit­lich als Wärterin gearbeitet hatte, bevor sie wegen „Anfällen“ wieder in den Status der Patientin versetzt wurde, wurde kurz vor der Entlassung als „vollständig ruhig und tagsüber sehr fleissig – und stets freund­lich“ beschrieben.1390 Damit hoben die Ärzte typische Merkmale des weib­lichen Geschlechtscharakters hervor, um die Genesung der Patientin zu betonen. Die geschlechtsspezifischen Massstäbe der Heilung betrafen auch die Patienten, wie ein Blick auf deren sozial markierte Diagnosen zeigt. Die Patienten waren vor allem von Behandlungen im Bereich Alkoholismus und Sexualpathologie betroffen, wo Forel Impotenz, Onanie, Homosexualität und „zu häufige Samenentleerungen“ als häufigste Indikationen beschrieb.1391 Am Beispiel der Onanie kann Forels sozialtechnologische Absicht gezeigt werden, da von der Heilung dieser seines Erachtens pathologischen Sexualität die psychische und – weniger dominant in seiner Argumentation – auch die körper­liche Gesundheit des Mannes abhing. Wie bereits detaillierter erläutert, beurteilte er den geschwächten Willen als hauptsäch­liche Folge der Onanie. Damit stand gewissermassen das männ­liche, bürger­liche, vernünftige Selbst zur Debatte. Nur der Mensch sei frei, „der über seine niederen Triebe Herr wird […]“.1392 Diese Triebe hatten im männ­lichen bürger­lichen Gehirnhaushalt unter der Kontrolle des Grosshirns zu stehen. Weiter gefährdete die Onanie die bürger­liche Geschlechterordnung, da sie die Institution der Ehe mit ihrem massvollen, geregelten Geschlechtsverkehr unterlief und die Entstehung von Impotenz begünstigte. Doch die Hypnosetherapie konnte helfen, indem sie einen Vorstellungsaustausch im Gehirn vornahm, den übermässigen sexuellen Trieb dämpfen und in heterosexuelle Erfüllung übersetzen sollte. Als Rezept zur andauernden Heilung empfahl Forel zusätz­lich zur Hypnosetherapie denn auch die Eheschliessung als „normales sexuelles Verhältnis“.1393 Sein Referenzpunkt war die biopolitisch geordnete bürger­liche 1389 Meier und Bernet, Grenzen der Selbstgestaltung, S. 40; Braslow, Mental Ills and Bodily Cures, S. 161; Meier, Zwang und Autonomie, S. 86. 1390 StAZH Z 100, KA-Nr. 4601, Eintrag vom 25. Juli 1888. 1391 Vgl. Kap. 7. 1392 Forel, Sexuelle Ethik (1906), S. 22. 1393 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 238.

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Familie. Als Anhänger dieser Ordnung beurteilte er das Sexualverhalten am Massstab legitimer reproduktiver Fruchtbarkeit.1394 Auch bei der Therapierung der Alkoholiker traten die sozial motivierten Verflechtungen zutage. Wie bereits beschrieben, war der Alkohol für Forel die erste Ursache der Degeneration. So war bei der Therapierung der Alkoholiker sein erklärtes Ziel, den Familien und der ganzen Gesellschaft gesunde Glieder zurückzugeben.1395 Weiter gefährdete der Alkohol den Verstand des Mannes, da wie bei der übermässigen sexuellen Betätigung durch Onanie die Selbstbeherrschung ausser Kraft gesetzt wurde. Gesundheit, Produktivität und Altruismus waren auch hier die therapeutischen Maximen. Der Hypnosetherapie waren gemäss Forel jedoch Grenzen gesetzt. Die Hypno­ setechnik basierte wie die pädagogischen Anstrengungen auf Beeinflussung, die ein materielles Substrat, die Bahnungen des Gehirns, verändern sollte. Doch gerade dieses materielle Substrat, die ererbten Anlagen des Gehirns, schränkten die Thera­ piebemühungen ein. Entscheidend war die Frage, ob das erworbene oder das angeborene Moment in der Ätiologie vorherrschend war. Dies konnte auch Forels neolamarckistische Anschauung von Semons Mnemetheorie nicht aushebeln. Bei weniger tiefer Fixierung der ererbten Anlagen konnten sie durch „konsequente erzieherische (anpassende) Einwirkungen, d. h. durch angemessene Engraphie und Ekphorie [bekämpft werden], die durch Wiederholung zu Gewohnheiten oder sekundären Automatismen werden“.1396 Durch die mnemischen Prägungen konnten die vorgängig erworbenen Anlagen dauerhaft umgeschrieben werden. Gerade bei der Behandlung der Homosexualität zeigte sich die Demarkationslinie deut­lich. Forel unterschied eine „erworbene“ von der „angeborenen“ Form der Homosexualität. Nur bei der „erworbenen“ Form war die Hypnosetherapie erlaubt, bei der „angeborenen“ Form war es, milde gesagt, „unstatthaft“, den „Trieb auf das andere Geschlecht“ zu lenken.1397 Bei den „pathologischen“ Fällen, wo er die „Perversion“ als angeboren einschätzte, behandelte er die Symptome mittels Hypnose, d. h., er versuchte durch Suggestion den Sexualtrieb zu dämpfen. So wollte er verhindern, dass die Betroffenen unter gesellschaft­lichem Druck eine sexuelle Beziehung mit einer Frau eingingen und Kinder zeugten.1398 Bei den „schlechten Gewohnheiten aller Art“ war Forels Einschätzung etwas diffuser. Einerseits beurteilte er sie als der Hypnosetherapie zugäng­lich ein, andererseits schrieb er, dass „Charakterfehler“ „relativ ungünstige Objekte“ für die Suggestion seien, da die „pathologischen 1 394 Nye, Sex Difference and Male Homosexuality, S. 51. 1395 Erster Jahresbericht der Trinkerheilstätte (1890), S. 4. Siehe z. B. StAZH Z 100, KA-Nr. 4742. 1396 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 156. 1397 Ebd., S. 209. Vgl. ders., Die Rolle des Alkohols (1895), S. 180. 1398 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 435.

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Vorgänge im Vorstellungsleben“ schwierig zu entfernen seien – „obwohl man mit Suggestion dabei noch am ehesten etwas erreicht“.1399 Hier kann man annehmen, dass ein Zuviel der „schlechten Gewohnheiten“ die Diagnose in Richtung des neuen Krankheitsbildes „moralischer Schwachsinn“ verschob. Die Grenze zwischen Diagnose und sozialer Wertung war dort vollends aufgelöst. Neben der Zäsur erworben/angeboren wirkte auch die Kategorie Geschlecht eingrenzend auf die Therapiemög­lichkeiten, wie die Analyse der Krankenakten und auch vorherrschende Aussagen im wissenschaft­lichen Diskurs gezeigt haben.1400 Die bürger­liche Geschlechterordnung wirkte sich direkt auf den Therapiezugang der Frauen aus, indem Forel diese oft als kränker beurteilte als Männer, welche die ­gleiche Diagnose erhalten hatten.

10.3 Cerebrale Eugenik Das Gehirn stand direkt im Bann des biopolitisch zentralen Komplexes der Sexualität. Michel Foucault beschrieb die Sexualität als bevorzugten Einwirkungspunkt für biopolitische Interventionen, da neben dem bedrohten Volkskörper auch das Individuum reguliert werden konnte.1401 Mit Verweis auf Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis klassifizierte Forel in Die sexuelle Frage „sexuelle Pathologien“, die meist direkt mit dem Gehirn in Verbindung standen. Es lassen sich drei Brennpunkte ausmachen, wo sich der Zusammenhang von Sexualität und Gehirn deut­lich zeigte. Erstens war dies die Onanie. Wie bereits erläutert, attestierte ihr Forel neben einer gewissen körper­ lichen Schwächung vor allem das Potenzial, den Willen zu schwächen. Zweitens ging es um „pathologische“ Formen von Sexualität, die im Gehirn angelegt und erb­lich waren. Dazu gehörte die Homosexualität, bei der Forel jedoch so lange keinen Grund zur Intervention sah, wie sie nachkommenstechnisch keine „Folgen“ hatte und keine Unbeteiligten verführt wurden.1402 Neben den einzelnen von ihm als pathologisch eingestuften Krankheitsbildern ging es um den sexuellen Exzess. Krafft-Ebing hatte in den 1880er-Jahren den Zusammenhang von übermässiger sexueller Betätigung und „Gehirnerweichung“ betont. Auch Iwan Bloch sah einen kausalen Zusammenhang zwischen der „abnormen Steigerung des Geschlechtstriebes“ und der Aufhebung 1 399 Forel, Die Heilung der Stuhlverstopfung (1893), S. 55. 1400Vgl. Kap. 7. 1401 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 141. 1402 Die sexualtherapeutischen Bemühungen Forels lassen sich deshalb weitgehend im biopoli­ tischen Rahmen des „gesunden Volkskörpers“ situieren. Neben der Homosexualität zeigt sich diese Logik auch in Forels Beurteilung der Sodomie. Vgl. Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 251 und S. 261.

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der Zurechnungsfähigkeit.1403 Zwar hatte Forel schon 1880 betont, dass der Einfluss von geschlecht­lichen „Ausschweifungen und Verirrungen“ auf die Entstehung von Geisteskrankheiten sehr übertrieben worden sei.1404 Doch auch er nahm den Begriff der „Hirnerweichung“ auf, wenn es um die Folgen von „gehirnreizenden Excessen“ durch sexuelle Betätigung oder durch Alkoholkonsum ging.1405 Drittens ging es beim Zusammenhang von Sexualität und Gehirn um Geschlechtskrankheiten, wobei mit zunehmender Kenntnis über die Spätfolgen der Syphilis die „im Volk fälsch­lich Gehirnerweichung genannt[e]“ Krankheit – auch von Forel in den 1880er-Jahren noch vage als „Hirnerweichung“ tituliert – zur progressiven Paralyse wurde.1406 Mit dieser war Forel bei seinen Patienten in München und auch in Zürich oft konfrontiert gewesen, und die Syphilitiker wurden zum Sinnbild des verfehlten Sexes und dessen Auswirkung auf das Gehirn. Er beklagte den Zerfall der Betroffenen über Grössenwahn und Geistesstörung hin zur „denkbar traurigsten Ruine“.1407 Das Gehirn erschien auch in anderer Kausalität als Brennpunkt für patholo­gischen Sex. Geistesstörungen waren nach Forels Ansicht die Ursache für viele sexuelle Störungen. Wie Forel aus seiner Zeit in der Klinik Burghölzli berichtete, zeigten sich vor allem die Patientinnen oft „hochgradig sexuell erregt“. Alle Varianten des weib­ lichen Geschlechtslebens kämen in der „widerwärtigsten Verzerrung und Entartung“ zum Ausdruck.1408 Pathologischer Sex konnte folg­lich auf verschiedene Arten mit dem Gehirn in Verbindung stehen. Gemeinsam war ihm nach Ansicht Forels jedoch, dass er auf einem organischen Substrat basierte und dieses Substrat den Mechanismen der Vererbung unterworfen war. Daraus folgerte er, dass der pathologische Sex kontrolliert und reguliert werden musste, um unerwünschte Auswirkungen – sprich Nachwuchs – zu vermeiden. Forel war überzeugt, dass auch das Gehirn wie alle Organe des Körpers „in Potenz […] im Keimplasma der zwei zeugenden Zellkerne vorhanden“ war.1409 Der Heredität der cerebralen Eigenschaften räumte er grosse Bedeutung ein. Daneben standen diese Anlagen in der Hierarchie der Erbsubstanz ganz oben – die Keimanlagen des Gehirns waren die wichtigsten. 1403 Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 410 und S. 415. 1404Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 10. 1405 Ebd., S. 8. 1406Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 162. Erst 1913 konnte die Verbindung der bakteriellen Infektion der Syphilis mit den Krankheiten der progressiven Paralyse sowie Tabes dorsalis als drittem Stadium der Syphilis nachgewiesen werden. Dass die beiden Krankheiten Folgen der Syphilis waren, war jedoch schon früher bekannt (vgl. Forel, Die sexuelle Frage, 1905, S. 219). Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 411. 1407 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 219. 1408 Ebd., S. 262. 1409 Forel, Die Alkoholfrage als Kultur- und Rassenproblem (1902), S. 5.

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Mit dem Zustand des Gehirns stand und fiel die Zukunft der Menschheit: „Zur Förderung unserer Kultur brauchen wir gesunde, tätige und arbeitsame Gehirne“, zeigte sich Forel am Vorabend des Ersten Weltkrieges überzeugt.1410 Gesund, tätig, arbeitsam – damit ist der Horizont des erwünschten Verhaltens abgedeckt. Er äusserte sich noch detaillierter, was er unter den nütz­lichen cerebralen Eigenschaften verstand. So forderte er Kraft, Gesundheit, Lebensfreude und gute soziale, ethische und intellektuelle Erb­lichkeit.1411 Die Förderung der Kultur wurde jedoch nicht dem Zufall überlassen. Mittels „mensch­licher Zuchtwahl“ sollten erwünschte Eigenschaften herangezüchtet respektive unerwünschte vermieden werden. So war für Forel klar: Wer einen wertvollen „Erbwert der Gehirneigenschaften“ mitbrachte und deshalb ein „Vollmensch“ war, hatte die „soziale Pf­licht sich kräftig zu vermehren“.1412 Aus „minderwertigen oder ‚untermensch­lichen‘ Gehirnen“ müsse dagegen das „Bestmög­lichste“ gewonnen werden.1413 Zwar würden auch durch die Eugenik nicht alle Faktoren der Gehirnentwicklung beherrscht, doch könne man schlechte Keime „ausmerzen“ und gute züchten.1414 Es erscheint euphemistisch, wenn Forel schreibt, aus den „minderwertigen Gehirnen“ sei das „Bestmög­lichste“ zu gewinnen. Es wird schnell klar, dass sich dies nicht etwa auf das Leben der Geisteskranken selber bezog, sondern sich gemäss seiner Stufenleiter der Ethik am „Glück“ des Volkskörpers orien­ tierte. Die Behandlung der Geisteskranken fiel ganz in den Bereich der negativen Eugenik. Schon 1880 forderte er, dass die „Ehen zwischen geistig gestörten Menschen als leichtsinnige, und als gefähr­liche Quellen des Unglückes für die Eheleute und für ihre unschuldige Nachkommenschaft mit Nachdruck zu kennzeichnen“ seien. Die explizite Forderung, die Fortpflanzung dieser Menschen zu verbieten, fehlte allerdings bei seinen Forderungen zur Bekämpfung der „Ursachen des Irrsinns“.1415 Nur vier Jahre später öffnete er den Denkhorizont Richtung Euthanasie und äusserte weiter, dass die Frage der Verhinderung der Fortpflanzung verbrecherischer Menschen zu stellen sei. Dies seien jedoch „noch ganz unreife, obwohl sehr beachtungswerthe Fragen“.1416 Die thematische Anschlussfähigkeit dieser Überlegungen war Mitte der 1880er-Jahre noch nicht gegeben. Gut zehn Jahre später präsentierte sich die Situation 1410 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 113. 1411 Ebd., S. 128. 1412 Forel, Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 23. 1413 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 113. 1414 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 113. 1415 Forel, Ueber die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten (1880), S. 13. 1416 Forel, Warum, wann und wie (1885), S. 12. Vgl. zur Verhinderung der Fortpflanzung von Verbrechern ders., Hygiene der Nerven (1903), S. 174. Forel verweist auf das gerichtspsychia­ trische Lehrbuch Gericht­liche Psychopathologie (Leipzig 1897) seines ehemaligen Sekundararztes Anton Delbrück.

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anders. Inzwischen hatten Wilhelm Schallmayer und der Forel-Schüler Alfred Ploetz in Deutschland grundlegende Texte zur sich formierenden „Rassenhygiene“ vorgelegt.1417 Forels „Pestmenschen“ von 1884 konturierten sich um die Jahrhundertwende auch in seinen Texten in neuer Schärfe. Die Verheiratung von „Schwachsinnigen leichteren Grades“ war nun zum „Verbrechen an ihren Kindern und an der Gesellschaft“ und zur „Monstrosität“ geworden.1418 Zwar gehe es „ohne Barbarei“, da dank antikonzeptionellen Mitteln „die Sache“ leicht reguliert werden könne.1419 Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, die er in Die sexuelle Frage forderte, war ein zentrales Postulat des eugenischen Diskurses.1420 So räumte Forel ein, dass auch Menschen, die nach seiner Ansicht keine Kinder haben sollten, unter Anwendung von Verhütungsmitteln ihre Sexualität ausleben dürften – „ohne fürchten zu müssen, dass sie damit die Welt mit unglück­lichen, unbrauchbaren Krüppeln bereichern helfen“.1421 In Die sexuelle Frage nahm das Thema, wer sich fortpflanzen dürfe und wer nicht, einen grossen Stellenwert ein, und seine Sprache verschärfte sich weiter. Diejenigen mit „minderwertiger“ Gehirnanlage bildeten den „Überschuss an siechen, verbildeten, blöden, geistig verschrobenen, verbrecherisch angelegten, faulen, verlogenen, eitlen, verschmitzten, geizigen, leidenschaft­lichen, impulsiven, haltlosen Menschen“.1422 Ihre Minderwertigkeit beruhte, so Forel, teils auf dem Gehirn, teils auf dem übrigen Körper. Doch die „vererbten Seelenminderwertigen“ seien in „sozialer Beziehung schlimmer […] als die körper­lich Minderwertigen“.1423 Wie bereits erwähnt, wurden sie als „Pest“ und „Schädlinge“ bezeichnet, die „unglück­liche, elende Würmer“ in die Welt setzten und sich durch ihre „schlechten Keime“ ausbreiteten. Ihre Fortpflanzung wurde zur unethischen Tat, da sie „Rasse“ und Mitmenschen schadete.1424 Hans-Walter Schmuhl hält fest, dass diese Verschärfung im eugenischen Diskurs allgemein zu erkennen war. Stigmatisierte Minderheiten konnten durch diese Benennungen von der mensch­lichen Gattung ausgeschlossen werden.1425 Die „minderwertig“ Taxierten gehörten in Forels rhetorischer Geisterbahnfahrt nicht mehr der Kulturmenschheit an. 1417 Schallmayer, Über die drohende körper­liche Entartung der Culturmenschheit (1891); Ploetz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen (1895). Vgl. Schmuhl, Sozial­ darwinismus, S. 370 f.; Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 36 – 42. 1418 Forel, Ueber Ethik (1899), S. 583. 1419 Ebd., S. 582. 1420 Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 139. 1421 Forel, Die sexuelle Frage (1905), S. 419. 1422 Forel, Sexuelle Ethik (1906), S. 18. 1423 Forel, Malthusianismus oder Eugenik? (1911), S. 8 f. 1424 Forel, Sexuelle Ethik (1906), S. 17. 1425 Schmuhl, „Rassen“ als soziale Konstrukte, S. 175. Jansen schreibt, dass Forel den Begriff „Sozial­ parasitismus“ sowie die prekäre Gleichsetzung von degenerierten Insekten und Menschen geprägt und damit die Perspektive zur rassen- und sozialhygienischen Ausmerzung von mit

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Aber sie wurden nicht nur rhetorisch, sondern auch in der Praxis ausgeschlossen. Dies deutete Forel in diesen frühen Jahren des 20. Jahrhunderts an: „[W]en soll man nicht züchten (ausmerzen)?“1426 Bereits viel früher hatte er angewandte Wissenschaft betrieben. So brüstete er sich wiederholt damit, dass er schon 1884 auf künst­liche Zuchtwahl hingewiesen und die Kastration „Mitte der 1890er Jahre […] bei zwei schwer erb­lich belasteten Ungeheuern unter medizinischen Vorwänden“ angeordnet habe.1427 Wie viele Sterilisationen und Kastrationen er während seiner gut 20-jährigen Karriere am Burghölzli angeordnet hatte, ist gemäss Quellenlage und bisheriger Forschungsergebnisse nicht deut­lich eruierbar. Dubach kommt aufgrund zeitgenössischer Studien und einer Stichprobe von Burghölzli-Akten zum Schluss, dass in der Phase bis 1924 im Burghölzli wenig eugenisch motivierte Sterilisationen respektive Kastrationen als indiziert erachtet worden waren. Für Forels Amtszeit geht sie von den beiden Fällen aus, die er selber jeweils erwähnte.1428 Es ist aber offensicht­lich, dass sich seine menschenverachtende Rhetorik und die propagierte Praxis als erfolgreiches Instrument und Wissenskomplex in der Schweizer Psychiatrie und Fürsorgepolitik durchsetzten.1429 So gilt Forel als Wegbereiter neuer Insekten gleichgesetzten Menschen miteröffnet habe ( Jansen, Ameisenhügel, Irrenhaus und Bordell, S. 171). 1426 Forel, Rassenentartung (1909), S. 122. 1427 Forel, Schreitet die Kultur vorwärts? (orig. 1915), S. 13; vgl. ders., Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 126; ders., Fortschritt oder Rückschritt der Kultur? (1915), S. 8; ders., Die sexuelle Frage (1905), S. 381 f. In der Forschungsliteratur besteht Unklarheit darüber, wann dieser Vorfall tatsäch­lich stattgefunden hatte. Gossenreiter und Aeschbacher übernehmen die Datierung Forels, Keller dagegen datiert den Vorfall auf 1886. Dubach bestätigt aufgrund von Recherchen mit Burghölzli-Akten die Datierung der 1890er-Jahre. Vgl. Gossenreiter, Die Sterilisation in den 1920er- und 1930er-Jahren, S. 233; Aeschbacher, Psychiatrie und „Rassen­ hygiene“, S. 286; Keller, Der Schädelvermesser, S. 89; Dubach, Verhütungspolitik, S. 41 – 46. 1428 Dubach, Verhütungspolitik, S. 45 f. Auch die Stichproben, die im Rahmen der Studie zu den Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie durchgeführt wurden, ergaben für Forels Amtszeit keine Fälle (vgl. Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 147 – 160). Emil Oberholzer beispielsweise erwähnt in seiner medizinischen Dissertation von 1910 für den Zeitraum vor 1911 elf empfohlene Sterilisationen (Oberholzer, Kastration und Sterilisation, 1910). 1429 Vgl. Huonker, Anstaltseinweisungen. Regina Wecker weist auf die lange Kontinuität hin, die eugenische Ideen und Sterilisationen respektive Kastrationen in der Schweiz hatten. Bis weit in die 1970er-Jahre hinein sei die Tradition der Zwischenkriegszeit nachweisbar (Wecker, Frauenkörper, S. 216). Dubach kommt in ihrer Analyse der Krankenakten der psychiatrischen universitären Poliklinik Zürich für die 1930er-Jahre allerdings zum Schluss, dass Eugenik nicht das dominante Motiv der Sterilisationspraxis war und die Ärzte in der Mehrheit der Fälle den Eingriff sozialpsychologisch begründeten (vgl. Dubach, Verhütungspolitik; dies., Abtreibungspolitik und Sterilisationspraxis).

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Technologien im Gebiet der Eugenik, der seine Nachfolger am Burghölzli wie Eugen Bleuler und Hans W. Maier stark prägte.1430 Dazu kam, dass das Burghölzli eine eigent­ liche Kaderschmiede von zukünftigen Direktoren anderer psychiatrischer Kliniken in der Schweiz war.1431 Zur Vorbildfunktion, die Forel für die Schweizer Psychiatrie zukam, gesellt sich eine direkte Verbindungslinie zur deutschen Eugenik. Die Schweizer Psychiatrie war gemäss Wecker geradezu „Vorreiterin deutscher Massnahmen“, da Alfred Ploetz und Ernst Rüdin direkt von Forel beeinflusst waren.1432 Ploetz stand einige Jahre in brief­lichem Kontakt mit Forel und berichtete ihm während seines Aufenthaltes in den USA, dass er der ärzt­lichen Praxis überdrüssig sei und Trost finde in der Forschungsarbeit, die er über Kindersterb­lichkeit anstelle: „[I]ch bin davon überzeugt […], dass es hauptsäch­lich darauf ankommt, die Gründe für progressive und degenerative Variationen herauszufinden, um daraus eine Zeugungs-Hygiene zu basiren. Überall merke ich jetzt, besonders auch in der Kinderpraxis, wie viel auf angeborene Anlagen ankommt.“1433 Indem er die Wichtigkeit der Vererbung betonte, lag er ganz auf der Linie seines Lehrers Forel. Später versuchte er, Forel von seinem Begriff „Rassenhygiene“ zu überzeugen, den dieser erst später zusätz­lich zu „sozialer Hygiene“ übernahm.1434 Auch bei Rüdin lässt sich die Beeinflussung durch Forel nicht leugnen, obwohl die beiden keinen nahen Kontakt pflegten. Bereits überzeugt von seiner rassenhygienischen Mission, orientierte der 24-jährige Rüdin 1898 Forel über seine Zukunftspläne und hob dessen Einfluss auf ihn hervor: „Speciell bin ich der Überzeugung, dass, sich mit der Aetiologie (Heredität etc.) und prophylaktischen Abhilfe der Geistes- und Nervenkrankheiten zu beschäftigen, meiner Natur und meiner Schaffenslust am Meisten zusagen würde. Ich bin in dieser Beziehung von Ihnen, Herr Professor, dann von Bunge, Kraepelin und meinem Schwager Ploetz so 1430 Vgl. Wecker, Frauenkörper, S. 213; Jansen, Ameisenhügel, Irrenhaus und Bordell, S. 143; ­Aeschbacher, Psychiatrie und „Rassenhygiene“, S. 288; Meier et al., Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870 – 1970, S. 143. 1431 So arbeiteten beispielsweise Ernst Laufer und Viktor Häberlin nach ihrer Zeit im Burghölzli als Chefärzte in der Klinik St. Pirminsberg (von 1888 bis 1898, resp. von 1898 bis 1931); Wilhelm von Speyr war ab 1882 Sekundärarzt in der psychiatrischen Klinik Waldau in Bern und von 1890 bis 1933 deren Vorsteher; Ludwig Frank amtete von 1890 bis 1905 als Direktor der psychiatrischen Anstalt in Münsterlingen, Ernst Rüdin von 1925 bis 1928 als Direktor der Basler Klinik ­Friedmatt. Vgl. zum Beziehungsnetz für die Zeit nach Forel Meier et al., Zwang zur Ordnung, S. 69 f. 1432 Wecker, Frauenkörper, S. 215; Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 189 – 191; Jansen, Ameisen­hügel, Irrenhaus und Bordell, S. 169; Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 444. 1433 Ploetz an Forel, 16. Januar 1892 (MHIZ PN 31.2:3198). 1434 Ploetz an Forel, 12. Dezember 1905 (MHIZ PN 31.2:3211). Forel bevorzugte den Begriff ­Eugenik. In Die sexuelle Frage von 1905 taucht der Begriff Rassenhygiene nicht auf, ebenfalls nicht in Hygiene der Nerven und des Geistes von 1903, in späteren Auflagen ergänzte er „soziale Hygiene“ damit (Forel, Hygiene der Nerven, 1922, S. 238).

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Abb 18 Ernst Rüdin orientierte Forel im November 1898 über seine Zukunftspläne (MHIZ PN 31.2:3592).

sehr beeinflusst worden, dass ich grosse Lust verspüre in der Erforschung der Krankheitsursachen und in ihrer prophylaktischen Abwehr weiter und weiter zu gehen. Der Beruf eines Arztes, der nur den Augenblick lebt, der zu restauriren sucht, was eben gerade schon kaput ist, ohne sich darüber klar zu sein, was getan werden sollte, um überhaupt Krankheiten, und speciell Irresein zu vermeiden, würde mir, des bin ich sicher, in keiner Weise zusagen. […] Ich fühle einen tiefen Drang, Unglück und Krankheit an ihrer Wurzel auszurotten, den Drang, der mich seiner Zeit auch zum Abstinenten und Socialisten werden liess und noch macht.“1435 Auf politischer Ebene engagierte sich Forel für die Legalisierung von Sterilisationen. In Europa wurde die Sterilisation von Geisteskranken erstmals im ­Kanton Waadt gesetz­lich geregelt, wobei sich Forel innerhalb der Société de pat­ ronage des aliénés du canton de Vaud für diese Regelung eingesetzt hatte.1436 Auch 1435 Rüdin an Forel, 11. November 1898 (MHIZ PN 31.2:3592), Hervorhebung im Original. Rüdin war später in München an der Forschungsanstalt für Psychiatrie tätig, verfasste den Kommentar zum nationalsozialistischen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 mit und präsidierte ab 1934 die International Federation of Eugenic Organisations (vgl. Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 464 – 480; Roelcke, Psychiatrische Wissenschaft im Kontext nationalsozialistischer Politik). 1436 Keller, Der Schädelvermesser, S. 153. Im September 1928 wurde das Gesetz über die Behandlung der Geisteskranken von 1901 mit dem betreffenden Artikel ergänzt und blieb bis 1985

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in ­Deutschland schaltete er sich in sozialpolitische Diskussionen ein. So unterstützte er nach dem Ersten Weltkrieg den deutschen Arzt Gerhard Boeters in dessen Bestreben, weitergehende ärzt­liche Vollmachten zur Zwangssterilisation gesetz­lich zu verankern.1437 Die Normierung von krank und gesund, von nicht züchten und züchten orientierte sich, wie bereits beschrieben, hauptsäch­lich an den Eigenschaften des Gehirns. Wie in Schallmayers Konzept der generativen Ethik wurde auch bei Forels sozialer Ethik das Individuum zugunsten der Gattung benachteiligt.1438 Referenzpunkt bei Forel wie auch bei den übrigen Eugenikern war der Volkskörper. Im Gegensatz zu Ploetz, der sich an der „westarischen Rasse“ orientierte,1439 ging Forels Konzept der Eugenik jedoch nicht von Rassenreinheit aus. Rassenmischung war nach seiner Ansicht nicht per se schlecht, und unter dem Eindruck der sich verschärfenden politischen Situation in Europa und des Ersten Weltkriegs bezeichnete er den „Kampf gegen die Rassenmischungen unserer europäischen Subvarietäten“ als „vollendeten Unsinn“ und sprach sich gegen jede „nationale Tendenz“ aus.1440 Von den „höheren Menschenrassen“, zu denen er Arier, Semiten und Mongolen zählte, grenzte er die „wirk­lich niedrigeren Rassen“ ab, vor deren negativem Einfluss auf die Erbmasse man sich dringend schützen müsse.1441 Forels Referenzgrösse war die „Kulturfähigkeit“, die direkt an die Entwicklung des Gehirns gekoppelt war.

in Kraft. Sterilisation und Kastration gingen in der übrigen Schweiz in einer gesetz­lich nicht geregelten Grauzone vor sich (Huonker, Anstaltseinweisungen, S. 71). 1437 Die Lex Zwickau wurde 1925 von Boeters zusammen mit Fritz Dehnow und Forel an den deutschen Reichstag eingegeben. Sie wurde jedoch vom deutschen Reichsgesundheitsamt abgelehnt (Aeschbacher, Psychiatrie und „Rassenhygiene“, S. 287; Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 291 f.). 1438 Zu Schallmayers generativer Ethik vgl. Weingart et al., Rasse, Blut und Gene, S. 142. 1439 Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 446. 1440Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 116 und S. 118; vgl. ders., Fortschritt oder Rückschritt der Kultur? (1915), S. 8; ders., Der Supranationale Friede (1916). 1922 betonte er, dass alle „Mischblut“ seien (ders., Mensch und Ameise, 1922, S. 34). Interessant ist die Verschiebung, die in seinem Urteil über die Mischung mit der „jüdischen Rasse“ zu erkennen ist. So war er in Die sexuelle Frage von 1905 noch überzeugt, dass die Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden „wenig fruchtbar“ seien, und zeigte sich unentschlossen, ob sich die Juden den „indogermanischen Kulturvölkern“ beimischen oder diese „verdrängen“ und „vernichten“ würden (ders., Die sexuelle Frage, 1905, S. 168 und S. 520). Neun Jahre später stellte er fest, dass die Verbindung von jüdischen Menschen mit Nichtjuden „vorzüg­liche Produkte“ ergebe (ders., Die Vereinigten Staaten der Erde, orig. 1914, S. 119). 1441 Forel, Mensch und Ameise (1922), S. 64; ders., Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 119.

Schluss: Das rechte Leben Als Forel mit seinem schon mehrfach erwähnten Vortrag im Zürcher Restaurant Eintracht zu Ende war, richtete jemand aus dem Publikum eine zukunftsweisende Frage an ihn: „Kann die Wissenschaft in Zukunft die Schwächen des Gehirns mittels Röntgenstrahlen aufdecken?“1442 Die Frage löste beim Referenten ein Lächeln aus: „Es wäre sehr schön, wenn das einmal geschehen könnte, leider ist aber die Wahrschein­ lichkeit hiefür nur gering.“ Was für eine Zukunftsmusik, damals, im Jahr 1897. Heute scheint dieser diagnostische Blick ins Gehirn näher als je zuvor. Zwar sind es nicht die Röntgenstrahlen, die das Gehirn des Menschen durchleuchten, sondern die bildgebenden Verfahren der Neuroforschung wie beispielsweise Magnetresonanztomografie oder Elektroenzephalografie. Forel beliess es nicht beim Blick ins Gehirn. Seine Beschäftigung mit dem mensch­ lichen Gehirn war vielgestaltig, wie in dieser Untersuchung dargelegt wird. Gewissermassen als Scharnier verband die Chiffre Gehirn seine verschiedenen Arbeitsgebiete miteinander. Chiffre deshalb, weil der Begriff Gehirn nicht nur für das anatomische Objekt stand, sondern je nach Redezusammenhang mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen wurde. Einer klassischen Psychiaterkarriere entsprechend, führte die Beschäftigung mit dem Gehirn Forel zuerst ins Labor an den Schneidetisch. Seine hirnanatomische Habilitation trug zwar wenig Neues zur Kenntnis der Hauben­ region bei, aber seine zahlreichen Beobachtungen zu histologischen Details und seine umfassende Besprechung vorgängiger Befunde hatten einigen Einfluss. Wie Forel zu dieser Arbeit festhielt, liess der „rein anatomische Weg“ keine neuen Erkenntnisse zur Hirnorganisation mehr zu. Stattdessen betonte er, dass physiologische Experimente erfolgversprechender seien, und hob die Gudden’sche Methode hervor – den Ansatz, den er in seiner weiteren Laufbahn als Hirnforscher gewinnbringend anwandte. In seiner Habilitationsarbeit prägte er zusätz­lich einige hirnanatomische Termini. Als Hirnforscher wurde er vor allem für seinen Beitrag zur Neuronentheorie ausgezeichnet und die Formulierung seiner These dazu als „Sternstunde der Hirnforschung“ gefeiert.1443 Doch nach unzähligen Hirnschnitten stellte sich bei Forel Ernüchterung ein. Eine Ernüchterung, die mit hirnanatomischen Fachdiskussionen zusammenhing, die aber auch seine klinische Arbeit im Burghölzli ausgelöst hatte. In Hirnschnitten konnte man wohl Gewebeveränderungen nachweisen, doch davon wurden die Patientinnen und Patienten nicht gesund. Die hirnpsychiatrischen Ansätze von Meynert, Gudden und Flechsig gerieten bei ihm wie bei andern Psychiatern seiner

1 442Vgl. den Bericht über Forels Vortrag (1897). 1443 Meier, August Forel, S. 57.

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Generation allmäh­lich ins Wanken. Forels Antwort auf die „therapeutische Ratlosigkeit“1444 war die Einführung von Abstinenz, Arbeitstherapie und Hypnotismus in seine klinische Arbeit. 1886 fiel ihm das Buch De la suggestion et de ses applications à la thérapeutique von Hippolyte Bernheim in die Hände. Die Lektüre deutete er retrospektiv als eigent­lichen Erleuchtungsmoment, da ihm der Hypnotismus die Beziehung zwischen Gehirn und Seele, Gehirnphysiologie und Psychologie zu erklären schien. Nach dem Besuch in Nancy bei Bernheim und Liébeault, den Begründern des therapeutisch ausgerichteten Hypnotismus, wandte Forel die neue Methode begeistert bei seinen Patientinnen und Patienten im Burghölzli an. Gleichzeitig wurde er zu einer zentralen Figur in der deutschsprachigen ärzt­lichen Hypnose-Community, warb an Tagungen und in Zeitschriften, gründete die Zeitschrift für Hypnotismus und schrieb das mehrfach aufgelegte Lehrbuch Der Hypnotismus, das die zukünftigen Ärzte­generationen anleiten sollte. Neben der therapeutischen Anwendung sah er im Hypnotismus auch eine naturwissenschaft­liche Experimentalmethode, die Erkenntnisse über das Bewusstsein liefern konnte. Forel schien die Methode besonders geeignet zur Anästhesie bei kleineren Operationen, zur Therapierung nervöser Funktionsstörungen, des Alkoholismus, von Menstruations- und Verdauungsbeschwerden oder sexualpathologischen Störungen. Wie die Analyse der Krankenakten dreier Jahrgänge (1888, 1892 und 1895) neu eintretender Patientinnen und Patienten gezeigt hat, hielt sein anfäng­licher thera­peutischer Optimismus zwar nicht an, dennoch verwendete er die Methode nicht marginal. 1888 wurden 15,5, 1892 noch acht und 1895 8,6 Prozent der neu eintretenden Patientinnen und Patienten hypnotisiert. Man kann annehmen, dass sich in den 1890er-Jahren der Prozentsatz durchgängig um etwa acht Prozent bewegte. Die Anwendung der Hypnosetherapie hing primär mit der Krankheits­diagnose zusammen. Bei der Gruppe der organischen Psychosen und bei angeborener Geistesschwäche kam die Hypnosetherapie nicht zum Einsatz. Das „senile“ oder „paralytische“ Gehirn war nach Forels Ansicht zu krank, um Suggestionen überhaupt fassen zu können. Bei Paranoia oder sonstigen Wahnvorstellungen, so warnte er, sei der Hypnotismus ein „sinnloser, eventuell sogar schäd­licher Versuch“.1445 Die Genussmittelerkrankungen, hauptsäch­lich der Alkoholismus, belegten hingegen den Spitzenplatz der Hypnosediagnosen. An zweiter Stelle folgte die Gruppe der neurotischen Erkrankungen, als solche hauptsäch­lich Hysterie. Nur wenige Patientinnen und Patienten mit Diagnosen aus dem Bereich der manisch-depressiven Erkrankungen, der Epilepsie und selten auch aus der Gruppe der sogenannten moralischen Qualifikationen wurden hypnotisiert. Bei den Diagnosen stellte sich „angeboren oder erworben?“ als die entscheidende Frage, wenn es um den Zugang zur Therapie ging. Auffallend ist, dass mit 1 444Germann, „Alkoholfrage“ und Eugenik, S. 146. 1445 Forel, Der Hypnotismus (1919), S. 186.

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einem Anteil von 65 Prozent deut­lich mehr Männer als Frauen hypnotisiert wurden. Dieser Anteil steht offensicht­lich im Zusammenhang mit den Hypnosediagnosen, hauptsäch­lich der Diagnose Alkoholismus, die ungleich viel häufiger bei Männern festgestellt wurde. Meine Analyse bestätigt im Weiteren die Aussage der Zürcher Studie zu den Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie, dass Frauen als kränker und weniger heilbar eingeschätzt wurden. Auch in meinem Sample waren die Frauen bei den „härtesten“ Diagnosen – damals als „Blödsinn“, „Irresein“ oder „Wahnsinn“, heute als schizophrene Erkrankungen bezeichnet – klar übervertreten. Am ehesten hatten jene Frauen Zugang zur Hypnosetherapie, die von den Ärzten als hysterisch beurteilt wurden. Gleichzeitig weisen Forels Aussagen darauf hin, dass er der cerebralen Ausstattung der Frauen weniger Heilungspotenzial attestierte. Das weib­liche Gehirn sei weniger plastisch und könne sich deshalb weniger gut als das männ­liche an neue Gegebenheiten anpassen. Neben dem Geschlecht beeinflusste die Schichtzugehörigkeit die Therapiemög­ lichkeiten. Die Auswertung der Krankenakten widerspricht der gängigen Aussage von Forel und seinen Arztkollegen, dass grössere soziale Distanz für die erfolgreiche Hypnosetherapie wichtig gewesen sei. Die Oberschichtangehörigen waren unter den Hypnosepatientinnen und Hypnosepatienten deut­lich übervertreten, die Unter- und Mittelschichtangehörigen dagegen leicht untervertreten. Wie bei der Studie zu den Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie gezeigt, kamen die Oberschichtangehörigen eher in den Genuss therapeutischer Massnahmen. War die Hypnosetherapie erfolgreich? Diese Frage ist aufgrund der Eintragungen in den Krankenakten schwer zu beantworten. Das Scheitern der Therapie wurde selten dokumentiert, ledig­lich fehlende Eintragungen oder Bemerkungen über widerspenstiges Verhalten weisen in diese Richtung. Zwei Drittel der hypnotisierten Patientinnen und Patienten verliessen das Burghölzli allerdings mit dem Entlassungsstatus „geheilt“ oder „gebessert“. Der Grossteil davon waren Männer. Die Anwendung der Hypnosetherapie wies auf jeden Fall darauf hin, dass die Situation nicht als aussichtslos beurteilt wurde und der Weg zur Genesung mög­lich schien. In seinen Texten beschrieb Forel den Hypnotismus als erfolgreiche Methode, die dem geübten Fachmann zur Verfügung stand. Ausgestattet mit Fachwissen und geeigneter Technik, so das Aussageschema, konnte nichts schiefgehen. Um die Dynamik der therapeutischen Situation besser erfassen zu können, wurden die Hypnoseanwendungen mittels des Konzepts des performativen Rituals analysiert. Die Fokussierung auf die Rahmung und die Inszenierung erschliesst dramaturgische Faktoren, die den Verlauf der Therapie grundsätz­lich beeinflussten. Ebenfalls werden dank dieser Methode Handlungsspielräume der Patientinnen und Patienten offengelegt. Das unkontrollierbare, subversive Moment der Performance brachte Forel in Bedrängnis und modifizierte sein Skript in nicht vorhersehbarer Weise. Entgegen der eindimensionalen Quellenlage, welche die Perspektive des Arztes privilegiert, werden so

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Reaktionen der Patientinnen und Patienten ersicht­lich, die von offenem Widerstand bis zu nachträg­licher Negierung des hypnotischen Zustandes reichten. Diese Handlungsspielräume dürfen jedoch nicht überschätzt werden. Forel standen ungleich viel mehr Ressourcen zur Verfügung, um seine Sichtweise zu vertreten und Widerspruch zum Schweigen zu bringen. Eher skurril muten aus heutiger Warte Forels Hypnoseanwendungen beim Personal an. Neben den Patientinnen und Patienten hypnotisierte er im Burghölzli ausgiebig Mitglieder des Pflegepersonals. Bei ihnen konnte er gleichzeitig praktisch uneingeschränkt experimentieren und gesundheit­liche Beschwerden kurieren. Von seinen hypnotischen Allmachts- und Kontrollfantasien der ferngesteuerten Klinik zeugt, wie er mit den „schlafenden Wachen“ die Effizienz der Überwachung und auch den Personaleinsatz steigern wollte. Doch die medizinische Hypnosetherapie stiess auf heftige Kritik. Mit seiner Pro­ gnose, dass sich diese im medizinischen Curriculum durchsetzen würde, lag Forel völlig falsch. Ein Faktor, der die Rezeption des therapeutischen Hypnotismus erschwerte, war dessen praktische und teilweise auch personelle Nähe zu Heilmagnetismus und Okkultismus. Die Hypnoseärzte profitierten von dieser Nähe, indem der Hypnotismus einer breiteren Öffent­lichkeit bekannt wurde und sie auf performative Elemente dieser Tradition zurückgreifen konnten. Für die Hypnoseärzte stand jedoch die Abgrenzung im Vordergrund, da sie ihre wissenschaft­lichen Einbettungsbemühungen gefährdet sahen. Die Nähe zu diesen als unseriös und gefähr­lich geltenden Praktiken war für die Gegner des Hypnotismus ein willkommener Anlass, ihn zu verunglimpfen. Dr. Mabuse trat zwar erst nach dem Ersten Weltkrieg auf die öffent­liche Bühne, aber das Bild des skrupellosen Hypnotiseurs, der die Hypnotisierten manipulierte, beflügelte die Fantasie vieler seit den 1880er-Jahren. Die Anhänger Charcots verschrien den Hypnotismus als Verursacher von Hysterie und Nervenkrankheiten, andere beklagten aus ethischer Warte den Verlust der Selbstkontrolle, weitere übten grundsätz­liche Kritik an der Besonderheit des hypnotischen Zustands. Viele Ärzte wandten sich um die Jahrhundertwende von der Hypnosetherapie ab und neuen psychotherapeutischen Methoden zu. Der Hypnotismus wurde aber teilweise im Rahmen neuer psychotherapeutischer Verfahren weitergeführt und erlebte während des Ersten Weltkrieges in der Behandlung der „Kriegszitterer“ ein Revival, was Forel mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Er selber blieb zeitlebens ein treuer Verfechter der Methode und behandelte nach seinem Rücktritt vom Burghölzli noch bis 1912 ambulant Patientinnen und Patienten mittels Hypnose. Neben Therapie und Forschung wird in der Thematisierung des Hypnotismus bei Forel noch ein anderer Aspekt deut­lich. Bei einigen der propagierten Anwendungsgebiete des Hypnotismus verschränkten sich medizinische Diagnosen und sozial wertende Kategorien. Besonders bei der Therapierung des Alkoholismus, der Hysterie, verschiedener Sexualpathologien oder „schlechter Gewohnheiten“ wurde

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der soziale Aspekt deut­lich. Mittels Hypnotismus wollte Forel direkt ins Gehirn des Individuums eingreifen, um dieses nach seinen Massstäben zu korrigieren und zu steuern. Die hypnotische Beeinflussung des individuellen Gehirns machte nicht beim Individuum halt, sondern schrieb sich nach seiner Vorstellung langsam, aber stetig engrafisch in die Vererbungsbahnen ein. Die transformative Kraft des Hypnotismus blieb nicht ohne Eindruck auf die Beteiligten. Paul K., jahrelang von einem „Spirit“ verfolgt, fühlte sich nach nur einer Hypnosesitzung „als anderer Mensch“. Daneben verbreitete sich die Kunde von den Wundern, die Forel im Burghölzli vollbrachte, auch ausserhalb der Klinikmauern, was sogar einige Patientinnen und Patienten aus dem Ausland zu ihm führte. Die hypnotischen Interventionen basierten auf einem bestimmten Korpus von Wissen, das Forels Handeln legitimierte. Wie im dritten Teil der Untersuchung gezeigt wurde, stand das Gehirn im Brennpunkt verschiedener zeitgenössischer Diskurse. In das Gehirn wurden verschiedene Bedeutungen hineinprojiziert; es verkörperte degenerativen Untergang oder Höherentwicklung, war je nach Behandlung Verderben oder glorioser Zukunft geweiht. Das Gehirn war das Organ aller Organe und lenkte als „Generalstab“ die Geschicke des Körpers. „Das Gehirn ist der Mensch“, zeigte sich Forel überzeugt.1446 Gleichzeitig oszillierte in seinem Konzept das Gehirn zwischen plastischen Mög­lichkeiten und unverrückbaren biologischen Tatsachen. Die Keimanlagen des Gehirns waren die wichtigsten; so konnte sich mancher noch so anstrengen, bei ungenügender cerebraler Ausstattung blieb ihm die Weiterentwicklung verwehrt. Die erb­lichen Anlagen begrenzten die Mög­lichkeiten, da die beste Erziehung aus schlechten Keimen keine guten machen konnte. Wie Forel zur Übermächtigkeit der erb­lichen Ausstattung festhielt: „[D]ie Macht der erb­lichen Anlagen des Gehirnes [ist aber] so gross, dass aus einem tüchtigen Keime selbst bei schlechter Erziehung viel mehr wird, als aus einem schlechten Keim durch die beste Erziehung.“ 1447 Die Gehirnentwicklung und die Gehirnfähigkeiten verrieten auch etwas über phylogenetische Hierarchiestufen. So war nach Forels Ansicht das „höhere“ Gehirn im Gegensatz zu „niedriger“ entwickelten Gehirnen fähig, die „niedrigeren, gröberen […] Nervenzentren, mittelst der feineren, verwickelteren Überlegungen ihrer Rinde“ zu beherrschen: „[D]as anpassbarere Gehirn [handelt] weniger unmittelbar, weniger brutal, weniger mechanisch, weniger automatisch, somit berechneter […] als dasjenige, das unter der Herrschaft der Instinkte und Leidenschaften seiner Urahnen steht.“1448 Die Plastizität wurde zum Index der Kulturfähigkeit des Gehirns, eine Eigenschaft, die den „mehrwertigen“ Menschen ausmachte.

1 446Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 96. 1447Forel, Die Gehirnhygiene der Schüler (1908), S. 12. 1448 Forel, Die Moral an sich (orig. 1910), S. 58.

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Forels Gesellschaftsdiagnose, die auf dem Zustand der Gehirne basierte, war düster. Das höher entwickelte Gehirn war durch Mischung mit „niedrigeren Rassen“, Geisteskrankheit und eine nicht der Gehirnhygiene entsprechende Lebensweise gefährdet. 1909 kam er zum Schluss: „Entartet sind wir, und zwar bedenk­lich.“1449 Die Kenntnis des „Hirnlebens“ sollte den Weg zu Handlungsanleitungen weisen und wissenschaft­liche Legitimation bieten. Durch das Studium des Gehirns, der „funktionellen Winkelzüge und Windungen des Gehirns“, sei einerseits der „erb­lich ­soziale Wert des Einzelmenschen“ feststellbar und anderseits der „moralische Wert der Lehrgegenstände, die dem jungen Gehirn eingeprägt werden müssen“.1450 Für Forels gehirnhygienische, hypnotische und eugenische Bestrebungen bot das Hirnleben die wissenschaft­liche Grundlage und war mehr oder weniger unmittelbarer Interventionsort. Bei Gehirnhygiene und Hypnotismus gestalteten sich diese biopolitischen Interventionen viel weniger invasiv als im Rahmen eugenischer Massnahmen, wo er schon früh den Denkhorizont in Richtung Euthanasie öffnete. So propagierte Forel bei „minderwertigen“ Gehirnen keine Fortpflanzung, sondern Sterilisation oder Kastration, sogar „Beseitigung der abscheu­lichsten Gehirne“. Retrospektiv können diese Forderungen geradezu als Vorhersagen für Praktiken gelten, die in der Schweizer Psychiatrie breit Fuss fassten und in ihrer exterminatorischen Form im Nationalsozialismus ihre grausamste Ausprägung erfuhren. Massstab der Heilung bildete für ihn die Gesellschaft, die „Rasse“, die „Kulturmenschheit“. Gesund, produktiv und altruistisch war das ideale Gehirn von Forels „Vollmensch“. Die hereditären Anlagen des Gehirns waren für den „Wert“ zukünftiger Generationen besonders bedeutsam. Derart ausgestattet, sollten sich diese mög­lichst fleissig mit anderen „Vollmenschen“ fortpflanzen. Legitimiert durch seine naturwissenschaft­lich-medizinischen Forschungen, formulierte Forel konkrete Anleitungen zum rechten Leben. Die vergleichende Anatomie beispielsweise zeigte ihm, wie die Entwicklung des Grosshirns kulturelle Vielfalt ermög­lichte, und die Nervenpathologie wies nach, wie gesellschaft­liche Faktoren – etwa Alkoholkonsum – über Generationen irreparablen neurologischen Schaden verursachten. Dank Semons Mnemetheorie gelang es ihm auch, Weismanns neuere Erkenntnisse der Vererbungsforschung mit der lamarckistischen Vererbung erworbener Eigenschaften zu amalgamieren. Der kontinuier­lichen Einschreibung von positi­ven Engrammen stand also nichts im Wege – es sei denn, die Matrix, in welche die Einschreibung erfolgen sollte, war ungenügend ausgestattet. Forels Anleitungen orien­tierten sich deut­lich an einem gesellschaft­lichen Rahmen, wie er verschiedent­lich anhand seines Konzepts einer sozialen Ethik darlegte. Über allem standen die Pf­lichten gegenüber der zukünftigen Menschheit. Sein Programm setzte sich zusammen aus rassenhygienischer Zuchtwahl und eugenischen Massnahmen, die oberstes Prinzip 1 449Forel, Rassenentartung und Rassenhebung (1909), S. 120. 1450 Forel, Die Moral an sich (orig. 1910), S. 60.

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der Familienplanung sein sollten. Sexuelle Liebe und Familiengründung waren nach Forel Teil der „Erfüllung unserer Lebensevolution“.1451 Der Alleinstehende müsse statt Nachkommen „soziale Arbeit liefern, um seinem Dasein einen Zweck zu verleihen“.1452 Ebenfalls an der Gesellschaft orientierte sich seine Forderung nach einem Schutzrecht, welches das klassische Schuldrecht ersetzen sollte. Auch seine Idee, dass ein internatio­ naler Bund der „Kultur- und kulturfähigen Rassen“ eine „humane Vormundschaft“ über die „niederen Rassen“ ausüben sollte, sowie die geforderte Gleichstellung der Geschlechter dienten in Forels Programm dem Wohl der Kulturmenschheit.1453 Seine scheinbar fortschritt­lichen Positionen, die sich aus heutiger Warte nur schwer in einen kohärenten Zusammenhang mit der menschenverachtenden Eugenik bringen lassen, wie etwa die Forderung nach Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, die Toleranz gegenüber der Homosexualität, die Antwort auf die „Frauenfrage“ und das pazifis­ tische Engagement, fügen sich in eine biopolitische Argumentationslogik ein, die das Wohl der „Kulturmenschheit“ über alles stellt. Das Individuum schliess­lich sollte sich anstrengen, seinen „sozialen Wert“ zu erhöhen. Ein asketisches Ideal schwebte ihm hier vor. Strenge Selbsterziehung, Arbeit, Fleiss, Altruismus, Enthaltsamkeit von allen „Genussgiften“ und sexuellen Ausschweifungen zeichneten den idealen Menschen aus, der dank seiner Geisteskräfte alle „niederen Triebe“ in Schach zu halten vermag. Dechiffrieren lässt sich die Dauerthematisierung des Gehirns bei Forel und einigen anderen prominenten Ärzten jener Zeit auch als Strategie, sich als unverzichtbare Experten in diversen Problemlagen zu empfehlen. Hirnforscher und Psychiater trafen immer wieder auf Widerstand, der ihre Deutungshoheit bedrohte. Dazu gehörten etwa psychotherapeutische Abwendungen, welche die Relevanz der Hirnanatomie bezweifelten, aber auch antipsychiatrische Bewegungen, welche die Internierungspraxis und die psychiatrischen Diagnosestellungen kritisierten. Daneben beäugten die Psychiater die eigenständige Entwicklung der Neurologie mit Skepsis. Obwohl Forel die Relevanz der Psychologie beteuerte, hatte er sich nie von der hirnanato­ mischen und -physiologischen Fundierung verabschiedet. In seiner eigenen praktischen Arbeit hatte er dem Labor zwar den Rücken gekehrt, beauftragte aber bis zu seinem Rücktritt vom Burghölzli weiterhin Doktorierende mit hirnanatomischen Untersuchungen. Zudem fanden Anatomie und Histologie immer einen festen Platz in seinem neurobiologischen Forschungskanon. Forels Fragen und Ambitionen erscheinen im Licht des aktuellen Neuropop von erstaun­licher Aktualität. Die Faszinationskraft des Gehirns ist ungebremst, und das Neuroimaging schafft eine visuelle Evidenz, die allzu oft unkritisch für sich selber zu sprechen scheint. Auch heute wird die Veränderbarkeit des Gehirns, auf die schon 1451 Forel, Hygiene der Nerven (1903), S. 258. 1452 Ebd., S. 266. 1453 Forel, Die Vereinigten Staaten der Erde (orig. 1914), S. 156 f.

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Forel setzte, in der Vorstellung der Plastizität hervorgehoben. Jede Behandlung, die das Denken und Handeln einer Person neu ausrichte, so der amerikanische Neurobiologe Eric Kandel, bringe auch Anpassungen des Gehirns mit sich. Inzwischen hat die Forschung auch dank bildgebenden Verfahren diese Annahme bestätigt.1454 Der Siegeszug des Neuroimaging hat auch die Hypnoseforschung erfasst. Mittels Magnetreso­ nanztomografie werden beispielsweise Gehirnmechanismen in Hypnose erforscht.1455 Die Cerebralisierung des Menschen damals wie auch heute darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der historische Kontext die Fragen stark geprägt hatte respektive prägt. Die Chiffrierung des Gehirns hat sich in Forels wissenschaft­licher Praxis deut­lich gezeigt. Das Gehirn konnte, mit unterschied­lichen Bedeutungen versehen, zur Beweisführung und zur Legitimierung bestimmter Handlungen angeführt werden, die eine starke kulturelle Resonanz hatten. Die Themen und deren Bearbeitung hingen von aktuellen gesellschaft­lichen Fragen ab. Auch die Massstäbe der Heilung, an denen sich die ärzt­liche Beeinflussung orientierte, sind in höchstem Masse historisierbar. Ein allzu mechanistisches Verständnis von Krankheit und Thera­pie, fokussiert auf eine Anzahl Symptome, wurde Forel wohl in seiner Hypnosethera­ pie zum Verhängnis. Die psychosozialen Lebensumstände, das Verhältnis von Arzt und Patient sowie die Persön­lichkeit und die Lebensgeschichte des Kranken blieben meist im Hintergrund. Forel bezog sich auch bei seiner Selbstbeurteilung auf die Referenzgrösse des Gehirns. Nach einem Hirnschlag im Mai 1912 unterzog er sich „postapoplektisch“ einer Selbstanalyse, die er als „lokal hirnkranker Psychiater“ besonders gut vornehmen könne, wie er gewohnt unbescheiden feststellte. Post mortem, so sein Wunsch, solle dann sofort eine Sektion seines Gehirns vorgenommen werden, um dem wissenschaft­ lichen Nutzen zu entsprechen. Doch seinen Idealen konnte er in diesem Zustand nicht mehr nachleben, wie sein Schlusskommentar in der Selbstanalyse zeigt: „Das Allerschlimmste für ein altes Gehirn ist das freiwillige oder das unfreiwillige Aufgeben seiner Arbeitsgewohnheiten. […] Ein bisschen länger zu leben, um nichts zu tun, ist wahrhaftig kein Gewinn, nicht einmal für das Individuum selbst, geschweige denn für das soziale Ganze.“1456 Er tat sich schwer, geistig eingeschränkt zu sein und sein gewohntes hohes Arbeitstempo nicht aufrechterhalten zu können.

1454 Flor, Bilder für eine gesunde Psyche, S. 50 f. 1455 Vgl. Cojan et al., The Brain under Self-Control; Raz und Shapiro, Hypnosis and Neuroscience. 1456 Forel, Subjektive und induktive Selbstbeobachtung (1915), S. 437.

Dank Die vorliegende Arbeit wurde im Herbstsemester 2011 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Dissertation angenommen. An erster Stelle danke ich meinem Betreuer Philipp Sarasin für seine engagierte Unterstützung und wichtige fach­liche und methodische Anregungen. Auch Michael Hagner, der mir als Zweitgutachter während des Forschungsprozesses wichtige inhalt­liche Hinweise gab, danke ich sehr. Die Arbeit hätte ich ohne die finanzielle Unterstützung des Forschungskredits der Universität Zürich nicht in Angriff genommen. Zudem ermög­lichte mir ein Marie Heim-Vögtlin-Beitrag des Schweizerischen Nationalfonds, die wissenschaft­ liche Arbeit mit familiären Verpf­lichtungen zu vereinbaren. Für die Unterstützung bin ich diesen beiden Institutionen zu grossem Dank verpf­lichtet. Weiter danke ich meinen Ansprechpersonen in verschiedenen Archiven, die ich für die Quellenarbeit aufgesucht hatte. Hier ist zuerst der Lehrstuhl für Medizingeschichte und das Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich zu nennen, das den Nachlass von August Forel beherbergt. Iris Ritzmann unterstützte mich fach­lich kompetent; auch die Mitarbeitenden des Archivs halfen tatkräftig bei der Quellensuche. Weiter danke ich Hans Ulrich Pfister vom Staatsarchiv des Kantons Zürich und seinen Mitarbeitenden für ihren quellenkundigen Rat bei der Analyse der Krankenakten des Burghölzli und meiner Lektorin Ingrid Kunz Graf für ihre fachkundige und behutsame Arbeit am Text. Grossen Dank schulde ich auch der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich und der Direktion der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, die mir die Ein­sichtnahme in die Krankenakten der Patientinnen und Patienten von August Forel gewährten. Die Arbeitsumgebung an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich bot ein kreatives und tragendes Umfeld für wissenschaft­ lichen Austausch. Ich danke Sara Bernasconi, Roswitha Dubach, M ­ arianne Hänseler, Marietta Meier, Marlen Oehler Brunnschweiler, Myriam Spörri, Cécile Stehrenberger, Magaly ­Tornay und Annika Wellmann, die mir in verschiedenen Phasen der Erarbeitung dieser Dissertation kritische inhalt­liche Rückmeldungen gaben, einzelne Kapitel der Arbeit korrekturlasen und mich zur Weiterarbeit motivierten. Schliess­lich danke ich meinen Eltern, Christa und Hans Bugmann, die mich auf diesem Weg stets unterstützt haben und meinen Freundinnen Claudia Meier Waldvogel und Lucia Schönenberger für ihre wichtige emotionale Unterstützung. Ein besonderer Dank gilt meinem Mann Tobias Jung und meinen beiden Kindern.

Bibliographie

Ungedruckte Quellen und übrige Archivquellen Institut für Medizingeschichte der Universität Bern Nachlass Dumeng Bezzola. Forel an Bezzola. Postkarte vom 21. Juli 1908. Nachlass Dumeng Bezzola. Forel an Bezzola. Brief vom 10. VOOO [wahrsch. Tippfehler für VIII] 1908. Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich (MHIZ) AM 03.02.004 Alternativmedizin-Sammlung. AM 03.02.006 Alternativmedizin-Sammlung. PN 31.1:16 Nachlass August Forel. Notizen zu einer Psychiatrie-Vorlesung, undatiert. PN 31.1:19 – 21 Nachlass August Forel. Vorlesungsnotizen „Hypnotismus und suggestive Therapie“, undatiert. PN 31.1:33 Nachlass August Forel. Verzeichnis der Ärzte, die unter Prof. Forel in der Anstalt tätig waren. PN 31.1:186 Nachlass August Forel. Forel, August. Sexuelle Grundlagen der Ehe (Ms. undat.). PN 31.1:230 – 239 Nachlass August Forel. Verlag Ernst Reinhardt in München (Hg.). Prospekt für Die sexuelle Frage. „Urteile der Presse“. PN 31.1:248 Nachlass August Forel. Forel, August. Une nouvelle Ecole modèle. In: La Suisse, 28. Februar 1902. S. 1. PN 31.1:255 Nachlass August Forel. Beitrittserklärung der Internationalen Liga für rationelle Erziehung der Jugend. Paris 1908. PN 31.1:259 Nachlass August Forel. Forel, August. Die Schule der Zukunft. In: Neues Wiener Tagblatt, 2. Dezember 1902. S. 1 – 3. PN 31.1:260 Nachlass August Forel. Forel, August. Ecoles nouvelles. In: Libre Pensée, 19. September 1906. PN 31.1:276 Nachlass August Forel. Praelectio inauguralis. PN 31.1:304 Nachlass August Forel. Liste der Gründungsmitglieder der Internationalen Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psy­ chotherapie. PN 31.1:1064 – 1066 Nachlass August Forel. Fotoalben. PN 31.1:1071 Nachlass August Forel. Urkunde Ehrenmitglied British Hyp­ notic Society, 23. September 1889.

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Ungedruckte Quellen und übrige Archivquellen

Nachlass August Forel. „Diplôme de participation“ vom Con­ grès International de Psychologie Physiologique, Paris 6. November 1889. Nachlass August Forel. Frank, Ludwig. Forel als Lehrer. Nachlass August Forel. Frank, Ludwig. Forel als Mensch. Nachlass August Forel. Korrespondenz Hippolyte Bernheim an AF 1887 – 1910. Nachlass August Forel. Korrespondenz Max Dessoir an AF 1888 – 1892. Nachlass August Forel. Korrespondenz Paul Geheeb an AF 1923 und 1928. Nachlass August Forel. Korrespondenz Pierre Janet an AF 1910. Nachlass August Forel. Korrespondenz Cesare Lombroso an AF 1888 – 1907. Nachlass August Forel. Korrespondenz Hermann Lietz an AF 1903 – 1916. Nachlass August Forel. Korrespondenz Albert Moll an AF 1888 – 1895. Nachlass August Forel. Korrespondenz Albert von Schrenck-Notzing an AF 1888 – 1902. Nachlass August Forel. Korrespondenz Otto Wetterstrand an AF 1891 – 1901. Nachlass August Forel. Korrespondenz Hélène und Werner Zuberbühler an AF 30. 8. 1918. Nachlass August Forel. Bericht über Forels Vortrag Über das Gehirn des Menschen in sozialer Beziehung und seine Verderber. In: Züricher Post, 16. November 1897. S. 2. Nachlass August Forel. Hypnotisirte Krankenwärter. In: Hannoverscher Courier, 23. Mai 1898. Nachlass August Forel. Thesen zur Erlangung der Venia legendi in der medicinischen Facultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2. März 1877. Nachlass August Forel. Zusätze und Erläuterungen zur Instruktion für das Wartpersonal der Irrenanstalt Burghölzli (gutgeheissen von der Aufsichtskommission der Irrenheilanstalt Burghölzli am 20. Mai 1880). Nachlass August Forel. XII. Versammlung der schweizer. Irrenärzte, abgehalten in St. Urban am 2. und 3. September 1881. Vortrag von Herrn Prof. Forel. Separatabdruck aus dem Cor­ respondenz-Blatt für Schweizer Aerzte (1882).

Ungedruckte Quellen und übrige Archivquellen

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Nachlass August Forel. Forel, August. Eine Beobachtung von Autohypnose. Originalnotiz vom 15. Januar 1878. Separatabdruck aus der Münchener Medicinischen Wochenschrift 3 (1889). Nachlass August Forel. Forel, August. Der soziale Fortschritt unserer Rasse und der Guttemplerorden. Zeitungsartikel ohne Angaben. Nachlass August Forel. Übersichten zu den Arbeiten, die unter Forels Leitung in den Jahren 1883 – 1887, 1892 – 96 und 1897 – 99 entstanden sind. Nachlass Ludwig Frank. Brief Forels an Ludwig Frank vom 16. Januar 1912. Nachlass Ludwig Frank. Brief Franks an August Forel vom 25. Januar 1911.

Neue Zürcher Zeitung Redaktionsarchiv Zürich Rubrik Lokales. Neue Zürcher Zeitung, 4. Juli 1886. S. 2. Rubrik Lokales. Neue Zürcher Zeitung, 7. Juli 1886. S. 2. Leserbrief. Neue Zürcher Zeitung, 11. Juli 1886. S. 2. Rubrik Kantone. Neue Zürcher Zeitung, 9. Februar 1887. S. 2. Rubrik Ausland. Neue Zürcher Zeitung, 25. Mai 1887. S. 2. Verhandlungen des zürcherischen Kantonsrathes. Neue Zürcher Zeitung, 12. Januar 1892. S. 1. Forel, August. Erklärung. Neue Zürcher Zeitung, 4. Februar 1892. S. 2. o. A. Der Verein zur Bekämpfung der Vivisektion. Neue Zürcher Zeitung, 7. August 1894. S. 2. Staatsarchiv des Kantons Zürich (StAZH) III Go 1. Fasz. 2 Instruktion für das Oberwartpersonal der Irren-Heilanstalt Burghölzli (vom 14. Juni 1879). III Go 1. Fasz. 2 Instruktion für das Wartpersonal der Irren-Heilanstalt Burg­ hölzli (vom 14. Juni 1879). III Go 1. Fasz. 3 Reglement für die kantonale Irrenanstalt Burghölzli bei Zürich (2. April 1870). Zürich 1870. III Go 2:1 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Jahresberichte 1879 – 1899. S 320:1, Fasz. 2 Bericht der Untersuchungskommission an den Regierungsrat, 16. Juli 1897. S 321.1 Speise-Regulativ für die Irrenheilanstalt Burghölzli von 1907. S 326.1, Fasz. 1 Brief Forels an den Sanitätsdirektor des Kantons Zürich vom 13. März 1888.

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Amtsdruckschriften und Periodika

Gesetz betreffend die kantonalen Kranken- und Versorgungsanstalten (vom 29. Wintermonat 1874). In: Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich. 18. Band. Zürich 1876. S. 47 f. Reglement für die kantonale Irrenheilanstalt „Burghölzli“ bei Zürich (vom 22. November 1879). In: Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich. 20. Band. Zürich 1883. S. 104 – 113. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Kopierbuch (28. Februar 1893 – 8. September 1893). Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Krankenakten der Jahre 1888, 1892 und 1895.

Universitätsarchiv Zürich (UAZ) AB.1.0265 Dozentendossier August Forel.

Amtsdruckschriften und Periodika Erster Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1889. Zürich 1890. Zweiter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1890. Zürich 1891. Fünfter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1893. Zürich 1894. Siebenter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1895. Zürich 1896. Achter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1896. Zürich 1897.

Gedruckte Quellen Bauer, Carl. Aus der hypnotischen Poliklinik des Herrn Prof. Forel in Zürich. Sommersemester 1896. In: Zeitschrift für Hypnotismus 5 (1897). S. 31 – 45. Benedikt, Moriz. Hypnotismus und Suggestion. Eine klinisch-psychologische Studie. Leipzig/Wien 1894.

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Amtsdruckschriften und Periodika

Gesetz betreffend die kantonalen Kranken- und Versorgungsanstalten (vom 29. Wintermonat 1874). In: Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich. 18. Band. Zürich 1876. S. 47 f. Reglement für die kantonale Irrenheilanstalt „Burghölzli“ bei Zürich (vom 22. November 1879). In: Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich. 20. Band. Zürich 1883. S. 104 – 113. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Kopierbuch (28. Februar 1893 – 8. September 1893). Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Krankenakten der Jahre 1888, 1892 und 1895.

Universitätsarchiv Zürich (UAZ) AB.1.0265 Dozentendossier August Forel.

Amtsdruckschriften und Periodika Erster Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1889. Zürich 1890. Zweiter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1890. Zürich 1891. Fünfter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1893. Zürich 1894. Siebenter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1895. Zürich 1896. Achter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1896. Zürich 1897.

Gedruckte Quellen Bauer, Carl. Aus der hypnotischen Poliklinik des Herrn Prof. Forel in Zürich. Sommersemester 1896. In: Zeitschrift für Hypnotismus 5 (1897). S. 31 – 45. Benedikt, Moriz. Hypnotismus und Suggestion. Eine klinisch-psychologische Studie. Leipzig/Wien 1894.

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Amtsdruckschriften und Periodika

Gesetz betreffend die kantonalen Kranken- und Versorgungsanstalten (vom 29. Wintermonat 1874). In: Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich. 18. Band. Zürich 1876. S. 47 f. Reglement für die kantonale Irrenheilanstalt „Burghölzli“ bei Zürich (vom 22. November 1879). In: Offizielle Sammlung der seit 10. März 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich. 20. Band. Zürich 1883. S. 104 – 113. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Kopierbuch (28. Februar 1893 – 8. September 1893). Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Krankenakten der Jahre 1888, 1892 und 1895.

Universitätsarchiv Zürich (UAZ) AB.1.0265 Dozentendossier August Forel.

Amtsdruckschriften und Periodika Erster Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1889. Zürich 1890. Zweiter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1890. Zürich 1891. Fünfter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1893. Zürich 1894. Siebenter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1895. Zürich 1896. Achter Jahresbericht der Trinkerheilstätte zu Ellikon an der Thur über das Jahr 1896. Zürich 1897.

Gedruckte Quellen Bauer, Carl. Aus der hypnotischen Poliklinik des Herrn Prof. Forel in Zürich. Sommersemester 1896. In: Zeitschrift für Hypnotismus 5 (1897). S. 31 – 45. Benedikt, Moriz. Hypnotismus und Suggestion. Eine klinisch-psychologische Studie. Leipzig/Wien 1894.

Gedruckte Quellen

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Personenregister Folgende Personen werden im Text sehr häufig genannt, so dass sie im Register nicht aufgeführt werden: Hippolyte Bernheim, August Forel, Richard v. Krafft-Ebing, Albert Moll, Albert v. Schrenck-Notzing.

A Abderhalden, Emil  51 Abraham, Karl  114 B Bauer, Carl  134, 135, 149, 199 Beard, George Miller  235, 236 Bechterew, Wladimir  170 Benedikt, Moriz  98, 99, 215, 216 Bezzola, Dumeng  73, 75, 110, 111, 271, 272 Binswanger, Otto  98, 100, 104, 105, 113, 179 Binswanger, Robert  147, 157 Bircher, Max  49 Bleuler, Eugen  12, 37, 45 – 47, 49, 50, 73, 108, 111, 258, 280 Bloch, Iwan  245, 275 Blumenbach, Johann Friedrich  250, 251 Bompard, Gabrielle  103, 105 Bosshardt, Jakob  48, 50 Braid, James  61, 63 Breuer, Josef  45, 99, 106, 110, 111 Broca, Paul  243 Brodmann, Karl  107 Brupbacher, Fritz  43, 122, 200, 261, 262 Bunge, Gustav v.  51, 280 Burdach, Karl Friedrich  55 C Carus, Carl Gustav  243 Charcot, Jean-Martin  15, 45, 61 – 64, 98 – 100, 103, 104, 148, 177, 178, 191, 215, 216, 223, 286 Coué, Emile  111 Crocq, Jean  214 Czynski  103, 106

D Dejerine, Joseph Jules  39 Delboeuf, Joseph  104, 105 Dessoir, Max  15, 62, 73, 76, 77, 87 – 89, 93, 171 Donato  80, 81 Dubois, Paul  98, 101, 112 E Ebbinghaus, Hermann  90 Eeden, Frederik v.  109, 148 Eulenburg, Albert  73, 104, 158 Eva C.  91 – 93 Ewald, Carl Anton  98, 99 Exner, Sigmund  55 F Faria, Abbé  191 Fechner, Gustav Theodor  44 Ferenczi, Sándor  110 Flechsig, Paul  34, 232, 283 Forrer, Ludwig  140 Frank, Ludwig  67, 70, 73, 75, 108, 110, 111, 122, 176, 191, 219, 226 Franzos, Karl Emil  101, 104 Frei, Wilhelm  268, 269 Freud, Sigmund  14, 34, 45, 59, 63, 71, 75, 76, 99, 105, 106, 108 – 111, 115, 175, 225 G Gall, Franz Joseph  243, 250 Galton, Francis  233 Gassner, Johann Joseph  194 Geheeb-Cassirer, Edith  268 Geheeb, Paul  268, 269 Golgi, Camillo  37 Griesinger, Wilhelm  44, 45, 121

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Grohmann, Adolf  47, 271 Grossmann, Jonas  15, 64, 72 – 74, 145, 146, 158, 159 Gruber, Max v.  264 Gudden, Bernhard v.  31 – 33, 36, 37, 39, 44, 119, 283 Gulat-Wellenburg, Walter v.  92 H Hägi, Gottlieb  133 Hansen, Carl  80 – 82 Harden, Maximilian  233, 261 Hattingberg, Hans v.  107 Hauptmann, Gerhart  61, 79, 134 Héricourt, J.  91 Hering, Ewald  53, 54, 56 Hirschfeld, Magnus  169 His, Wilhelm  38, 39 Hitzig, Eduard  119 Huguenin, Gustav  119 I Ilma S.  25, 207, 208, 224 Inhelder, Walter  137 – 141 J Janet, Pierre  45, 59, 60, 64, 72, 73, 76, 87, 106, 107, 111, 178, 223, 224 Jendrássik, Erno  207 Jolly, Friedrich  104 Jones, Ernest  108, 225, 226 K Kaufmann, Fritz  113 Kemnitz, Mathilde v.  93 Koch, Julius August  238, 240 Kölle, Theodor  185, 239 Kölliker, Albert v.  36, 38, 39, 254 Kraepelin, Emil  39, 45, 51, 235, 240, 280 L Ladame, Paul-Louis  100 Lafontaine  81 Lamarck, Jean-Baptiste de  54, 57 Laufer, Ernst  176

Personenregister

Lévy, Paul  102 Liébeault, Ambroise-Auguste  62, 63, 71, 73, 74, 111, 191, 196, 198, 284 Liégeois, Jules  103 – 105 Lietz, Hermann  267 – 270 Lilienthal, Karl v.  65, 157, 240 Lipps, Theodor  72 Liszt, Franz v.  240 Loewenfeld, Leopold  101, 179 Lombroso, Cesare  87, 237, 238 Looser, Huldreich  268 M Mann, Thomas  92, 94 Martin, Rudolf  249 Mendel, Emanuel  56, 57, 73, 98, 100 Mercier, Aimé  137, 243 Mesmer, Franz Anton  61, 84, 223 Meyer von Schauensee  240 Meynert, Theodor  31, 34 – 36, 39, 41, 44, 98, 99, 232, 283 Möbius, Paul Julius  179, 180 Monakow, Constantin v.  70, 211, 232 Monnier, Henri  271 Morel, Benedict  52 Moser, Fanny  75 Münsterberg, Hugo  90 Myers, Frederic  87, 91 N Nägeli, Karl Wilhelm v.  36, 254 Nonne, Max  113 – 115 O Oberdieck, Friederike  48 Ochorowicz, Julian  90 Onufrowicz, Bronislaus  31 Orelli, Susanne  49 P Pestalozzi, Johann Heinrich  268 Ploetz, Alfred  49, 169, 278, 280, 282 Prel, Carl du  87 Preyer, William  265

Personenregister

R Ramón y Cajal, Santiago  38 Reddie, Cecil  267 Reichel, Willy  85, 86 Ribot, Théodule  53, 54, 56 Richet, Charles  87, 89 Ringier, Georg  70, 166, 177 Rochat, Louis-Lucien  49 Ross, Edward Alsworth  252 Rothe, Anna  89 Ruault, Albert  223, 224 Rüdin, Ernst  280, 281 S Salamon, Ella  101 Schallmayer, Wilhelm  278, 282 Schiller, Heinrich  46 Schneider, Rudi  94 Schneider, Willi  94 Schnitzler, Arthur  99, 178 Seif, Leonhard  107, 108, 225, 226 Semon, Richard  14, 56 – 59, 78, 247, 274, 288 Sidgwick, Eleanor  90 Sidgwick, Henry  72 Simmel, Ernst  114 Simon, Hermann  46 Slade, Henry  86 Soemmerring, Samuel Thomas  250 Speyr, Wilhelm v.  214, 280 Stoll, Otto  88 Stooss, Carl  241, 242 Strümpell, Adolf v.  115 Stumpf, Carl  72

335

T Tissot, Samuel Auguste  163 Tourette, Gilles de la  64, 80, 104, 105 Trömner, Ernst  226 Tuckey, Charles Lloyd  153, 155, 166, 170 U Ulrichs, Karl Heinrich  168 V Virchow, Rudolf  215, 265 Vogt, Cécile  107 Vogt, Oskar  16, 27, 41, 67, 73, 78, 90, 97, 106 – 108, 110, 219 W Wagner-Jauregg, Julius  113 Waldeyer, Wilhelm v.  38 Waller, Augustus  90 Weismann, August  56 – 58, 288 Wernicke, Carl  34 Westermarck, Edvard  249 Westphal, Carl  265 Wetterstrand, Otto  72, 73, 75, 134, 153, 157, 166, 170, 188, 196, 200 Wille, Ludwig  167 Wundt, Wilhelm  44, 87 Z Ziegler, Ernst  39 Ziemssen, Hugo v.  100 Zöllner, Karl Friedrich  86, 87 Zuberbühler, Werner  268, 269

ZÜRCHER BEITR ÄGE ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAF T HERAUSGEGEBEN VOM HISTORISCHEN SEMINAR DER UNIVERSITÄT ZÜRICH

BD. 1 | ROLAND ZINGG DIE BRIEFSAMMLUNGEN DER ERZBISCHÖFE VON CANTERBURY, 1070–1170 KOMMUNIKATION UND ARGUMENTATION IM ZEITALTER DER INVESTITURKONFLIKTE 2012. 343 S. GB. | ISBN 978-3-412-20846-2 BD. 2 | SILVAN FREDDI ST. URSUS IN SOLOTHURN VOM KÖNIGLICHEN CHORHERRENSTIFT ZUM STADTSTIFT (870–1527) 2013. 788 S. 13 S/W- UND 4 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-21112-7

BD. 3 | SABINE JENZER DIE »DIRNE«, DER BÜRGER UND DER STAAT PRIVATE ERZIEHUNGSHEIME FÜR JUNGE FRAUEN UND DIE ANFÄNGE DES SOZIALSTAATES IN DER DEUTSCHSCHWEIZ, 1870ER BIS 1930ER JAHRE 2014. 449 S. 37 S/W-ABB. GB.

BD. 4 | SEBASTIAN SCHOLZ, GERALD SCHWEDLER, KAI-MICHAEL SPRENGER (HG.) DAMNATIO IN MEMORIA DEFORMATION UND GEGENKONSTRUKTIONEN IN DER GESCHICHTE 2014. 284 S. 9 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-22283-3

BD. 5 | MIRJAM BUGMANN HYPNOSEPOLITIK DER PSYCHIATER AUGUST FOREL, DAS GEHIRN UND DIE GESELLSCHAFT (1870 –1920) 2015. 335 S. 18 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-22446-2

RO140

ISBN 978-3-412-22238-3

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